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Hermann F.-H. Schmitz

- „Leib ohne Seele“ -

Johann Sebastian Bach, Leipzig
Leipzig ist die erste Heimatstadt von Hermann Schmitz.
Johann Sebastian Bach, Leipzig
Bonn ist die zweite Heimatstadt von Hermann Schmitz.
Johann Sebastian Bach, Leipzig
Kiel ist die dritte Heimatstadt von Hermann Schmitz.
„Nun ist ein Standpunkt erreicht, auf dem die in der zweiten Stunde (gemeint ist der Vortrag: „Die geschichtlichen Prägungen des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses in Europa“; HB) beschriebene und wegen Verkürzung der unwillkürlichen Lebenserfahrung gerügte psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung an der Seite des Psychologismus, ihrer Grundlage, aufgerollt werden kann. Psychologismus ist die Vorstellung, daß das gesamte Erleben eines Bewußthabers in eine ihm zugehörige, meist als Seele bezeichnete private Innenwelt eingeschlossen sei. Eine sehr entschiedene Formulierung, zugleich ein Hinweis auf die daraus sich ergebende Problematik, stammt von Kant: »Wenn wir äußere Gegenstände für Dinge an sich gelten lassen, so ist schlechthin unmöglich zu begreifen, wie wir zur Erkenntnis ihrer Wirklichkeit außer uns kommen sollten, indem wir uns bloß auf die Vorstellung stützen, die in uns ist. Denn man kann doch außer sich nicht empfinden, sondern nur in sich selbst, und das ganze Selbstbewußtsein liefert daher nichts, als lediglich unsere eigenen Bestimmungen.« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernuft, 1781, S. 378). Zu der Innenwelt gehört ein Inhaber, ein Subjekt oder Bewußthaber, dessen Innenwelt sie ist. Die nächste, als Folge der Abgeschlossenheit der Innenwelt unmittelbar ersichtliche, Schwierigkeit besteht darin, daß er, wenn er darin steckt, nicht mehr herauskommt, um das Zeugnis der Sinne, seine einzige Informationsquelle über die Außenwelt, draußen zu kontrollieren. Das hat schon Demokrit, der erste Psychologist, gemerkt, und Kant will deswegen gar alle Gegenstände, von deren Wirklichkeit jemand sich überzeugen kann, in dessen Innenwelt verlegen. (Vgl. Immanuel Kant, ebd.).“ (Hermann F.-H. Schmitz, Leib ohne Seele, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 42-43).

„Auf diese Schwierigkeit will ich jetzt keinen Wert legen und statt dessen den Psychologismus mit dem Einwand angreifen, daß er das Verhältnis des Bewußthabers zu seiner Innenwelt nicht bestimmen kann. Dafür sind in der psychologistischen Tradition vier Vorschläge gemacht worden. Der rigoroseste besteht darin, den Inhaber in den Inhalten seiner Innenwelt aufgehen zu lassen, also mit einem Bündel von Perzeptionen (Hume) oder Empfindungen (Mach) zu identifizieren; so dachte auch der frühe Husserl. Diese Auflösung des Bewußthabers läßt sich nur halten, solange man ruhig am Schreibtisch sitzt; sobald es ernst wird, indem man z. B. buchstäblich brennt oder von brennender Scham befallen wird, merkt man sofort, daß man selber leidet und nicht nur ein gewisser Haufen von Vorstellungen einige Modifikationen durchmacht. Platon identifiziert den Bewußthaber mit seiner Seele, der ganzen Innenwelt, und siedelt ihn zugleich in dieser an, was zu dem paradoxen Ergebnis führt, daß er das Denken als Selbstgespräch der Seele mit sich in der Seele ausgibt, als sei der Bewohner eines Hauses das Haus, in dem er wohnt. (vgl. Platon, Gesetze, 959a.b; Sophistes, 263e, 3-5, 264a, 8f). Aristoteles identifiziert einen jeden, also den Bewußthaber, mit dem Geist als dem Göttlichen in ihm, das über Menschen maß hinausgehe (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1178a, 2-4, mit 1177b, 26-28); diese Überspanntheit, die an Nietzsches Übermenschen erinnert, vermeidet zwar Platons Kontamination, ist aber als einseitige Parteinahme unglaubwürdig. Schließlich kann man den Bewußthaber auf die reine Inhaberfunktion beschränken, so Kant das Ich als Subjekt ohne alle erkennbaren Bestimmungen gegenüber seiner Innenwelt, dem Ich als Objekt, und Husserl (der spätere) das reine Ich, das »reines Ich und nichts weiter«, aber »für jeden Bewußtseinsstrom ein prinzipiell verschiedenes« sei (vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, 1913, S. 109, 160); so löst man den Bewußthaber durch Abmagerung (zur Leerform) auf, wie Hume durch Verdickung zu einer Vorstellungsmasse.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Leib ohne Seele, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 43-44).

„Diese Vorschläge sind je für sich schon fragwürdig, aber alle zusammen und weitere der Art haben einen prinzipiellen Fehler: Sie kommen zu spät. Sie bieten dem Bewußthaber vermeintliche objektive Tatsachen zur Selbstzuschreibung an und sehen darüber hinweg, daß er schon mit sich bekannt sein muß, um sich etwas zuschreiben zu können. Damit ich - jeder denke an sich - und nicht irgend jemand es bin, der z. B. ein Bündel von Vorstellungen, eine Seele, ein göttlicher Geist oder ein reines Ich ist, muß ich erst einmal der sein, als den ich mich vor jeder Selbstzuschreibung kenne, so daß ich diese durch Bereitstellung des Relats möglich mache. An diesem reden alle Philosophen der Tradition vorbei, wenn sie mir sagen wollen, wer ich bin; daher verfehlen sie das Thema. Wenn man das Gesuchte treffen will, muß man bei dem Bekannten der Vorkenntnis, die für die Selbstzuschreibung mitgebracht werden muß, ansetzen, und dann kommt man, wie sich herausgestellt hat, zunächst auf die subjektiven Tatsachen des immer leiblichen affektiven Betroffenseins und weiter, um den zu finden, für den sie subjektiv sind, auf die leibliche Dynamik in Gestalt der primitiven Gegenwart und des vitalen Antriebs. Die Grundlage des Personseins ist demnach nicht seelisch, sondern leiblich (natürlich auch nicht körperlich wie das Gehirn, das neuerdings von neurologischen Usurpatoren der philosophie an Stelle der Seele angeboten wird). Die leibliche Dynamik entfaltet sich zur leiblichen Kommunikation; daraus ergibt sich die Grundschicht des Personseins, das Leben aus primitiver Gegenwart. In ihm kommt keine Abgeschlossenheit vor, vielmehr Empfänglichkeit für den Einbruch des Neuen in primitiver Gegenwart und ein Dialog, der sich zum Spiel mit verteilten Rollen aufspreizt, im Kanal des vitalen Antriebs. Mit dem Überschreiten der Schwelle zum Personsein bildet sich dann allerdings eine Sphäre des Eigenen im Gegensatz zum Fremden, in Gestalt von persönlicher Situation und persönlicher Eigenwelt. Davon wird in der sechsten Stunde die Rede sein. Diese Eigensphäre reicht aber nicht zu einer alles Erleben des Bewußthabers einschließenden privaten Innenwelt, allein schon deshalb nicht, weil dieses Erleben einschließlich der Selbstzuschreibung nur möglich ist, indem der Bewußthaber unter das spezifisch Personale bis hin zur primitiven Gegenwart gleichsam abtaucht.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Leib ohne Seele, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 44-45).

 

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