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Hermann F.-H. Schmitz

- „Vierte Stunde: Situationen; Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt als dem Feld möglicher Vereinzelung in fünf Dimensionen: Raum, Zeit, Sein und Nichtsein, relative Identität, das Eigene und das Fremde; die Rätsel der Zeit“ -

Johann Sebastian Bach, Leipzig
Leipzig ist die erste Heimatstadt von Hermann Schmitz.
Johann Sebastian Bach, Leipzig
Bonn ist die zweite Heimatstadt von Hermann Schmitz.
Johann Sebastian Bach, Leipzig
Kiel ist die dritte Heimatstadt von Hermann Schmitz.
„Leibliche Dynamik und leibliche Kommunikation sind die wichtigsten Quellen von Situationen. Eine Situation, wie ich das Wort verstehe, wird durch drei Merkmale definiert:
1. Sie ist ganzheitlich, d. h. nach außen abgehoben und in sich zusammengehalten.
2. Sie wird zusammengehalten durch eine Bedeutsamkeit, die aus Bedeutungen besteht. Bedeutungen im hier gemeinten Sinn sind Sachverhalte (daß etwas ist), Programme (daß etwas sein soll [als Norm] oder sein möge [als Wunsch]) oder Probleme (ob etwas ist). (Mit »ist« meine ich hier, die Einfachheit halber, auch das Nichtsein, das Sosein und das Nichtsosein. Sachverhalte können auch untatsächlich sein, wie im Fall der illusorischen Furcht davor, daß etwas Schreckliches geschieht, während es tatsächlich nicht geschieht.)
3. Die Bedeutsamkeit ist binnendiffus, in dem Sinn, daß in ihr nicht alles ( eventuell gar nichts) einzeln ist, d. h. eine Anzahl um 1 vermehrt.
Situationen in diesem Sinn sind beispielshalber alle motorischen Kompetenzen und ihre Ausübung, also jede zweckmäßig, unwillkürlich oder willkürlich, geführte freie Gliederbewegung, z. B. beim Kauen fester Nahrung, beim Sprechen oder bei der Abwehr von Gefahren. In allen solchen Fällen wird vieles verstanden (Sachverhalte ), vorgenommen (Programme) und bewältigt (Probleme), ohne daß mehr als weniges davon einzeln bewußt wird (gar nichts bei ganz unwillkürlichem Tun). Wer z. B. auf regennasser, dicht befahrener Straße durch geschicktes Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen des Autos einem drohenden Unfall entkommt, hat die relevanten Sachverhalte, die Probleme des zunächst drohenden Zusammenstoßes und der bei Ausweichen eventuell hinzukommenden Bedrohungen ähnlicher Art und die Programme möglicher Rettung mit einem Schlag (in antagonistischer Einleibung) erfaßt und auch schon zweckmäßig beantwortet, ohne zur Vereinzelung dieser Bedeutungen Zeit zu haben, außer allenfalls bei einem schmalen Teil davon. In solchen Fällen präsentiert sich die ganze Bedeutsamkeit der Situation auf einen Schlag; dann nenne ich die Situation impressiv, sonst (wenn immer nur Ausschnitte der Bedeutsamkeit zum Vorschein kommen) segmentiert. Die impressiven Situationen bezeichne ich auch als vielsagende Eindrücke. Eine andere wichtige Einteilung der Situationen ist die in aktuelle ( die in beliebig kurzen Zeitabschnitten auf mögliche Veränderungen hin beobachtet werden können) und zuständliche (bei denen die Suche nach Veränderungen erst nach längeren Fristen sinnvoll ist). Alle motorischen Kompetenzen sind zuständliche Situationen, ihre Ausübungen aktuelle.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 47-48).

„Die Bedeutsamkeit aktueller Situationen wird besonders reich, wenn jemand in antagonistischer oder solidarischer Einleibung mit leiblichen Wesen (Tieren oder Menschen) zu tun hat. Im Sprechen der Menschen miteinander - dabei handelt es sich um aktuelle Situationen - bilden und wandeln sich die Sprachen. Sprachen sind zuständliche Situationen; sie bestehen ganz und gar aus einer ganzheitlich-binnendiffusen Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Programme sind, nämlich Sätze, d. h. Regeln dafür, wie gesprochen werden kann, um Sachverhalte, Programme und/oder Probleme darzustellen. Der Könner, der die Sprache erlernt hat, greift in ihren Vorrat an Sätzen hinein und holt die zu seiner Darstellungsabsicht passenden Muster blind, aber treffsicher heraus, nicht wählerisch vor dem Sprechen, sondern erst durch seinen sprechenden Gehorsam, sein Regelfolgen, selbst; erst danach werden sie ihm als einzelne zugänglich, es sei denn, daß er einen vorbereiteten Text nachspricht. Ebenso wie bei Ausübung motorischer Kompetenzen, z. B. dem unter (III) besprochenen glatten Kauen fester Nahrung, handelt es sich beim Sprechen also um einen durch (absolute) Identität und Verschiedenheit vor Verwechslungen geschützten Umgang (hier mit der Sprache) im Leben aus primitiver Gegenwart. Dabei werden von der ganzheitlich innegehabten Sprache immer nur Ausschnitte zugänglich; sie ist also eine segmentierte Situation, während die Gespräche, in denen die Sprache gebraucht wird, häufig impressive Situationen sind, manchmal aber auch segmentierte, wenn nur in Ausschnitten deutlich wird, worum sich das Gespräch »dreht« (welche Bedeutsamkeit darin zum Besprechen oder Beschweigen ansteht).“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 48-49).

„Als Spreizungen der dialogischen Konkurrenz von Spannung und Schwellung im gemeinsamen vitalen Antrieb sind Situationen der Einleibung unter Bewußthabern, z. B. im Gespräch, voll von Nuancen der Dominanz und Unterwerfung, wodurch ihre Bedeutsamkeit beträchtlich aufgeladen wird. Besonders wichtig ist dabei der Blickwechsel, wobei es aber keineswegs auf Beherrschungs- oder Unterwerfungsabsichten ankommt, sondern auf den Automatismus im vitalen Antrieb. Die dominantesten Blicke sind, solange sie naiv und nicht manipulatorisch eingesetzt werden, von Beherrschungsabsicht so weit wie möglich entfernt: der liebevolle und der demütige Blick; sie rühren und entwaffnen dadurch, weil der Gerührte den Boden seines Standpunktes unter den Füßen seines Stehens darauf verliert, und ohne festen Boden unter den Füßen kann man sich nicht wehren.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 49).

„Das Leben aus primitiver Gegenwart ist erfüllt von Situationen, aus deren Bedeutsamkeit keine einzelnen Bedeutungen abgerufen werden können. Statt dessen werden in diesem Leben ganze Situationen durch Rufe und Schreie (z.B. Alarm-, Lock- und Klagerufe) heraufbeschworen, modifiziert oder beantwortet. Diese Lebensform wird erst überschritten, wenn satzförmige Rede zur Verfügung steht. Ich verstehe diesen Ausdruck nicht syntaktisch, als müsse solche Rede grammatisch gegliedert sein, sondern semantisch: Eine Rede ist satzfärmig, wenn sie einzelne Sachverhalte, einzelne Programme, einzelne Probleme aus der Bedeutsamkeit von Situationen herauszuholen und/oder diese Explikate zu kombinieren vermag. Satzförmige Rede ist ein doppelseitiges Zwischending, ein Schritt, der beim Leben aus primitiver Gegenwart ansetzt und zu dem hinüberführt, was ich gleich als Leben in entfalteter Gegenwart bestimmen werde. Im Verhältnis zu der Sprache, die sie verwendet, lebt sie aus primitiver Gegenwart, wie ich gerade gezeigt habe, im Verhältnis zu den Bedeutungen, die sie durch Gebrauch der Sprache aus Situationen expliziert und dann kombiniert, aber in entfalteter Gegenwart, im Umgang mit Einzelnem.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 49-50).

„Auf dem Vermögen satzförmiger Rede beruht die Überlegenheit des (personalen) Menschen über die Tiere. Der Mensch kann die Sachverhalte, Programme und Probleme, auf die es ihm ankommt, als einzelne beliebig isolieren und kombinieren, dadurch die Situationen, aus denen er sie schöpft, in den Griff nehmen und so übersichtlich rekonstruieren, daß er die Lage beherrscht. Er kann durch Kombination der explizierten Bedeutungen die vorgegebenen Situationen überholen, die durch Kombination entstehenden Konstellationen umordnen und durch solche Sandkastenspiele ausfindig machen, was sich aus der Situation machen läßt und worauf man gefaßt sein muß. Der Mensch behauptet sich in seiner Umgebung, indem er Situationen als Konstellationen einzelner Faktoren rekonstruiert, ohne die Bedeutsamkeit der Situationen dadurch ausschöpfen zu können; die Rekonstruktion bleibt ein probierendes Anpassen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 50).

„Aus der Freisetzung einzelner Bedeutungen in satzförmiger Rede ergibt sich folgendermaßen die Einzelheit beliebiger Sachen (für die genaue Ausarbeitung des hier kurz zusammengefaßten Gedankenganges verweise ich auf Hermann Schmitz, Logische Untersuchungen, 2007, Kapitel 2 [Zahl] und 3 [Einzelheit]): Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt (oder, was man leicht als logisch gleichwertig erkennt: was Element einer endlichen Menge ist). Anzahlen sind Eigenschaften von Mengen, Mengen Umfänge von Gattungen in so weitem Sinn des Wortes, daß alles, wovon etwas ein Fall sein kann, Gattung ist. (Den Begriff, Fall von etwas zu sein, habe ich a. a. 0. S. 33 f. mit rein logischen Mitteln analysiert. Dort gebe ich auch meinen Begriff der Gattung an.) Demnach kann etwas einzeln sein nur als Element einer Menge und Fall einer Gattung. Gattungen sind Sachverhalte, die als einzelne nur in satzförmiger Rede identifiziert werden können; denn nur dadurch kann man festlegen, welcher bestimmte Sachverhalt gemeint ist. Dies genügt schon, um die These des Singularismus (II) zu widerlegen, daß alles ohne weiteres einzeln ist. (Das Weitere besteht im Element- und Fallsein.) Höchstens könnte noch die Teilthese wahr sein, daß alles einzeln ist, aber auch sie läßt sich widerlegen, und zwar nicht nur empirisch, etwa durch Hinweis auf die durchdöste Frist (III), sondern auch rein logisch. (Vgl.Hermann Schmitz, Logische Untersuchungen, S. 36 f.; Hermann Schmitz, Freiheit, 2007, S. 89-92.) Jede Gattung ist eine Bestimmung, wodurch etwas als Fall von etwas bestimmt wird, und jede Bestimmung eine Gattung in diesem ganz weiten Sinn. Die Bestimmung muß dem Bestimmten zukommen, in der Weise, daß das Bestimmte die Bestimmung bekommt; beides, das Zukommen und das Bekommen, ist dasselbe Verhältnis, von der anderen Seite angesehen. Nun ist aber das Zukommen wieder eine Bestimmung der zukommenden Bestimmung. Daraus folgt zunächst, daß das Verhältnis durch Zwischenglieder kompliziert wird. Diese wachsen sich aber sogar zu einer Kette ohne Ende, einem progressus in infinitum, aus; denn das Zukommen hat wiederum die Bestimmung, der zukommenden Bestimmung zuzukommen, so daß sich an das erste Zukommen ein zweites hängt, aus gleichem Grund an das zweite ein drittes usw. ad infinitum. Damit entfällt die Möglichkeit des Bekommens einer Bestimmung; denn das Bekommende müßte erstes Glied der Kette sein, die zu der zukommenden Bestimmung aufsteigt, also letztes Glied derselben Kette im Abstieg, aber eine ins Unendliche weiterlaufende Kette hat kein letztes Glied. Demnach wäre alles unbestimmt. Das ist natürlich falsch, wie das ganze Raisonnement. Der Fehler liegt in der Voraussetzung, daß jede Bestimmung einzeln sei, als Glied einer Kette also die Anzahl der Glieder um 1 vermehren würde. Daraus folgt: Es kann keinen Gegenstand geben, dessen Bestimmungen (des Zukommens oder Bekommens von Bestimmungen) sämtlich einzeln sind. Alle einzelnen Bestimmungen sind in einen Nebel nicht vereinzelter eingebettet. Die singularistische Voraussetzung, daß alles einzeln sei, ist für die Bestimmtheit keines einzelnen Gegenstandes haltbar.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 50-52).

„Etwas kann also nur einzeln sein, wenn seine absolute Identität, es selbst zu sein, ergänzt wird durch die Bestimmtheit als Fall einer (einzelnen) Gattung (*), und eine einzelne Gattung oder Bestimmung ist nur möglich als hervortretend aus einer diffusen, d. h. nicht aus lauter Einzelnen bestehenden Mannigfaltigkeit von Bestimmungen, die Bedeutungen Sachverhalte, Programme, Probleme -sind oder enthalten. (* Die Konsequenz, daß jede Gattung, um einzeln zu sein, eine andere, deren Fall sie ist, benötige, usw. ad infinitum, trifft nicht zu, siehe Logische Untersuchungen, S. 42.) Dieses Mannigfaltige könnte formlos sein, wie es sich in Zuständen starker Benommenheit gibt; für Tiere und Menschen wird es für den Umgang handhabbar nur als binnendiffus-ganzheitliche Bedeutsamkeit von Situationen. Die Ganzheit der Situationen bringt aber nicht immer Einzelheit mit sich. Jeder Mensch geht unablässig durch Situationen hindurch, auf die er sich in flüssiger Anpassung einstellt, aber zu einzelnen, die eine Anzahl um 1 vermehren, werden sie meist erst im Rückblick, wenn man sich z. B. überlegt, ob man so etwas oder etwas dergleichen schon einmal erlebt hat. Viele Menschen, z. B. Kinder im Vorschulalter, sprechen geläufig eine Sprache, ohne zu merken, daß das eine einzelne Sprache ist. Noch deutlicher ist die Ganzheit ohne Einzelheit bei den Situationen flüssiger Gliederbewegung. Die Ganzheit der Situationen geht also der Einzelheit oder numerischen Einheit grundsätzlich vor, wenn auch viele Situationen einzeln sind oder wenigstens vereinzelt werden können.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 52-53).

„Einzelne Bedeutungen sind nur möglich, indem sie durch satzförmige Rede aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden werden. Sachverhalte, die meist Programme und/oder Probleme enthalten, sind Gattungen oder Bestimmungen von etwas, das ihr Fall ist. Einzeln müssen sie sein, um eine Menge als den Umfang einer bestimmten, einzelnen Gattung bestimmen zu können, so daß der Fall als Element der Menge einzeln sein, d. h. eine Anzahl um 1 vermehren kann. Daraus folgt: Satzförmige Rede ist eine Bedingung der Möglichkeit einzelner Sachen. Einzelheit ist die Ergänzung absoluter Identität durch die Bestimmtheit als Fall einer einzelnen Gattung (Bestimmung), die als Umfang eine Menge hat, d. h. einen Umfang, der eine Anzahl besitzt. Für diese Rolle kommen aber immer viele, oft unübersehbar oder unendlich viele, Gattungen in Betracht. Dadurch erweitert sich die absolute Identität, dieses und nichts anderes, also selbst zu sein, zur relativen Identität von etwas mit etwas: Einzelnes ist als Fall von A identisch mit ihm als Fall von B usw. Der triviale Grenzfall relativer Identität ist die Identität mit sich in derselben Hinsicht, die Tautologie.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 53).

„Nachdem die Einzelheit als eine die absolute Identität ergänzende und zur relativen Identität fortbildende Form entbunden ist, kann ein Rahmen ausgespannt werden, in dem Platz für alles ist, das aus Situationen hervortritt oder hervorgeholt werden kann. Dieser Rahmen ist die Welt als das Feld der freien Einzelheit, d. h. der möglichen Vereinzelung von etwas. Dabei geht es aber nicht darum, daß tatsächlich alles vereinzelt, der Hintergrund der Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit also durch Konstellationen einzelner Faktoren ausgeschöpft werden könnte. Das wäre der Irrtum des Singularismus (II) und Konstellationismus, der zwar im neuzeitlichen technizistischen Denken sehr beliebt ist, aber, wie sich gezeigt hat, den Ast absägt, auf dem er sitzt. Der Mensch ist berufen, Situationen näherungsweise als Konstellationen zu rekonstruieren; das ist sein Lebensrecht, denn anders kann er sich nicht behaupten und durchsetzen. Er tut aber gut daran, dabei die Situationen, aus denen er schöpft, in ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit im Auge zu behalten und zu respektieren. Diesen Respekt zu einer besonderen Gestalt der Explikation in satzförmiger Rede auszubilden, ist Aufgabe und Leistung der Poesie. Während die prosaische Explikation mit dem Prototyp der Problemlösung aus problematisch zugespitzten Situationen nur eine Tatsache oder ein als geltend einleuchtendes Programm als die Lösung herauszieht und den ganzen Rest vergißt, webt der Dichter aus den Sachverhalten, Programmen und Problemen, die er in seiner Rede zur Sprache bringt, mit geschickter Sparsamkeit gleichsam ein so dünnes Netz, daß die von ihm heraufbeschworene Situation, bei ausgedehnten und komplizierten Dichtungen das Situationengeflecht, in unversehrter Ganzheit durchscheinen kann. Dichtung wird als Überfliegen der rauen Wirklichkeit oft nicht ganz ernst genommen, und im Zeichen des grassierenden Konstellationismus weniger denn je, aber die Sicht- und Arbeitsweise des Dichters, die Ganzheit der Situationen und ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit durch die redend gewonnenen Explikate durchscheinen und wirken zu lassen, ist zugleich Grundstein der Meisterschaft des geschickten Praktikers und Menschenbehandlers, sei er Politiker, Manager, Kaufmann, Arzt, Offizier, Hausfrau, Erzieher oder in einem anderen Beruf mit Zuwendung zu Menschen oder Menschengruppen. Wenn er dann diese hermeneutische Intelligenz, die mit wenig Explikation an kritischen Punkten auskommt, der analytischen opfert, die sich mit den Explikaten und ihrer Kombination begnügt, wird er Schiffbruch erleiden.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 53-55).

„Mit dem Eintritt in die Welt wird der Horizont des Lebens aus primitiver Gegenwart gesprengt. Dabei wird aber kein Neuland betreten, dessen Ordnung von Grund auf anders wäre, denn der Rahmen, den die Welt um die Möglichkeiten des Einzelnseins spannt, kann als Entfaltung der fünf Momente verstanden werden, die in der primitiven Gegenwart ununterscheidbar verschmolzen sind: hier, jetzt, Sein, dieses, ich. Der Übertritt in die Welt, der für Subjektivität, Sein und Identität auf das Leben aus primitiver Gegenwart angewiesen und daher darin festgehalten ist, ist also zugleich eine Entfaltung dieser (primitiven) Gegenwart, und das Leben in der Welt ein Leben in entfalteter Gegenwart. Ich will diese Entfaltung an den fünf Momenten der Reihe nach genauer verfolgen.
1. Das Hier der primitiven Gegenwart, der absolute Ort als die leibliche Enge der Bedrängnis durch den plötzlichen Einbruch des Neuen, entfaltet sich zu einem System relativer Orte, die sich gegenseitig durch Lage- und Abstandsbeziehungen zueinander in der Weise eines Koordinatennetzes bestimmen. Dieses System kann beliebig über die Weite, aus der diese Enge durch Engung abgedrängt ist, ausgespannt werden, als der Rahmen, in dem durch Verortung alles, was sich im Raum zur Vereinzelung eignet, auf örtlich bestimmte Einzelheit festgelegt wird.
2. Das Jetzt der primitiven Gegenwart, der absolute Augenblick des Plötzlichen im Einbruch des Neuen, entfaltet sich entsprechend durch eine Serie relativer Augenblicke, die teils in das Neue, verstanden als Ankündigung des Bevorstehenden, von der Erwartung hineingelegt werden, teils in die vom Einbruch des Neuen zerrissene Dauer des Dahinlebens, die durch den zerreißenden Abschied vorbei und nicht mehr ist, von der Erinnerung. So entsteht eine Lagezeit als Anordnung von Ereignissen durch die Beziehung des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen (d. h. im selben Augenblick Untergebrachten); in dieser Anordnung ist der absolute Augenblick nivelliert zu einem bloßen Glied der Serie, einem relativen Augenblick unter anderen. Diese Anordnung von Ereignissen (oder einzelnen Sachen anderer Art) durch die Beziehung des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen bezeichne ich als reine Lagezeit; sie dient zur Vereinzelung durch Datierung ebenso wie die Verortung in räumlicher Hinsicht. Die Lagezeit bleibt aber nicht rein, sondern wird kontaminiert durch die Vermischung mit der Einteilung von Ereignissen (und sonstigen Sachen) in künftige (die noch nicht sind), gegenwärtige (die sind in der Weise, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein) und vergangene (die nicht mehr sind). Diese Einteilung ist die Spur des Geschehens der primitiven Gegenwart in der Zeit. Dieses Geschehen, die plötzliche Ankunft des Neuen, hält im Übergang Gegenwart und Zukunft zusammen: Gegenwart, in die hinein das Neue, sie aus der Dauer abreißend, sich ereignet, und Zukunft, durch die das Neue neu ist, indem es das Künftige einläßt, das erst noch dabei ist, sich in Gegenwart zu ereignen. Unvermischt ist dagegen im Geschehen der primitiven Gegenwart die Vergangenheit mit der Gegenwart, denn sie ist das Schicksal der vom Einbruch des Neuen zerrissenen Dauer, die im Vorbeisein ins Nichtmehrsein entgleitet und durch diesen Abschied von der Gegenwart getrennt ist. Diese nach der einen Seite gemengte, nach der anderen getrennte Struktur wird bei Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt geglättet als gleichmäßige Einteilung der Ereignisse in die drei Massen der zukünftigen, gegenwärtigen und vergangenen. Dadurch tritt neben die reine Lagezeit eine Modalzeit, d. h. eine Zeit, die durch modale Unterschiede von Sein, Nochnichtsein und Nichtmehrsein bestimmt ist. Diese Modalzeit verschmilzt mit der reinen Lagezeit zu einer modalen Lagezeit, indem das Gegenwärtige in einem der relativen Augenblicke der reinen Lagezeit untergebracht wird, von wo aus das Zukünftige später, das Vergangene früher ist. Dieser modalen Lagezeit ist der Fluß der Zeit aufgeprägt, der darin besteht, daß die Vergangenheit (verstanden als die Masse alles Vergangenen) ununterbrochen wächst, die Zukunft (die Masse alles Künftigen) ununterbrochen schrumpft (selbst wenn sie unendlich und unausschöpflich sein sollte) und die Gegenwart (im Sinne der Masse alles Gegenwärtigen) sich unaufhörlich verschiebt. Die modalen Merkmale des Nochnichtseins und Nichtmehrseins würden von sich aus Unterbrechungen beim Übergang ins Sein bzw. ins Nichtsein zulassen; daß dieser Übergang ununterbrochen ist, macht ihn zum Fluß. - Die Vermengung von Lagezeit mit Modalzeit zur modalen Lagezeit mit Fluß der Zeit ist mit so großen Schwierigkeiten und Aporien beladen, daß ich nach der Musterung der fünf Entfaltungsweisen in einer ausführlichen Anmerkung darauf zurückkommen werde (**).
3. Das Sein der primitiven Gegenwart entfaltet sich zum Glied eines auf alles ohne Unterschied beziehbaren Gegensatzes, indem es dem Nichtsein in dessen ganzer Breite gegenübertritt, während es als Moment der primitiven Gegenwart nur das Nichtmehrsein der zerrissenen Dauer sich gegenüber hat. Die Form der Einzelheit überschreitet die Schwelle vom Sein zum Nichtsein; dadurch wird es möglich, auch im Nichtseienden Einzelnes zu finden. Deswegen können Personen, die in entfalteter Gegenwart leben, planen, erwarten, sich erinnern, hoffen, fürchten, phantasieren, sich spielerisch mit etwas identifizieren. Die vorhin als wesentliche Auszeichnung des Menschen erwähnte Fähigkeit, Situationen durch probierendes Umknüpfen der Netze sie rekonstruierender Konstellationen strategisch planend zu überholen, beruht auf diesem Übertritt der Einzelheit ins Nichtseiende. Die Welt als das Feld der freien Einzelheit endet also nicht an der Grenze zum Nichtseienden. - Obwohl das Sein in entfalteter Gegenwart ein anderes Format hat als in primitiver Gegenwart, ist es von dieser keineswegs emanzipiert. Die Menschen wären ratlos, wie sie mit dem Unterschied von Sein und Nichtsein umgehen sollten, wenn sie für das Sein nicht auf die Zugänglichkeit der primitiven Gegenwart zurückgreifen könnten. Das ergibt sich daraus, daß sich das Sein nicht wie Farbe oder Klang an den einzelnen Gegenständen in der Welt als etwas, das zu ihnen gehört, ablesen läßt und auch nicht durch ein begriffliches Merkmal, die Angabe einer notwendigen und zureichenden Bedingung, eingeführt werden kann. Das ergibt sich aus den beiden Sätzen (A) und (B), die ich nun beweisen werde.
(A) Sein ist kein Attribut von etwas, d. h. nichts, das für die Identität einer Sache wesentlich ist, indem es darüber mitentscheidet, daß sie diese Sache und keine andere ist.
(B) Es gibt kein Kriterium des Seins, d. h. keine zirkelfrei angebbare notwendige und zureichende Bedingung dafür, daß etwas ist.
Beweis von (A): Jeder Sache kommen ihre Attribute notwendig zu, denn sie ist notwendig identisch mit sich, diese und keine andere. Keine Sache kann durch andere Attribute bestimmt sein als durch die, die in der Tat die ihrigen sind; das gilt allerdings nicht unbeschränkt im Bereich der subjektiven Tatsachen (zu dieser Ausnahme: Logische Untersuchungen, S. 90 f.), doch genügt es, (A) für objektive Tatsachen zu beweisen. Wenn Existenz Attribut einer Sache wäre, müßte diese also existieren. Leicht läßt sich aber zeigen, daß nichts mit Notwendigkeit existiert. Dann wäre nämlich unmöglich, daß gar nichts existiert. Das könnte nur unmöglich sein, wenn damit ein Widerspruch verbunden wäre. Dieser müßte sich daran zeigen, daß es nicht widerspruchsfrei möglich wäre, alles in Gedanken mit Nichtsein zu belegen. Ein Widerspruch könnte dabei nur eintreten, wenn etwas doppelt, mit Sein und mit Nichtsein, belegt würde. Das ist aber nicht der Fall, wenn alles mit Nichtsein und nur mit Nichtsein belegt wird. Diese Belegung ist also widerspruchsfrei. Dann ist es aber möglich, daß nichts existiert. Dann kann Sein kein Attribut sein. Daraus folgt, daß auch kein Existenz-Inductivum ein Attribut sein kann. Existenz-Inductiva sind Bestimmungen, für die im Fall, daß sie Attribute einer Sache wären, notwendig wäre, daß eine Sache (diese oder eine andere) existiert (einschließlich vergangener und zukünftiger Existenz). Existenz-Inductiva sind außer dem Sein selbst Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Wahrheit von Existenzsätzen, Tatsächlichkeit von Sachverhalten der Existenz, Erzeugerschaft. Aus (A) folgt, daß man an keinem einzelnen Gegenstand das Sein finden kann, denn finden kann man an ihm nur, was zu ihm gehört, d. h. für seine Identität als dieser ins Gewicht fällt.
Beweis von (B): (B) ergibt sich aus (A). Ein Kriterium des Seins wäre ein Merkmal, wodurch sich eine seiende Sache von jeder nichtseienden Sache unterschiede. Da aber Sein kein Attribut ist, hat jede seiende Sache mindestens ein nichtseiendes Gegenstück, das sich mit ihr in allen Attributen deckt, also in allem, was dazu gehört, daß sie diese und keine andere Sache ist. Dann kann es kein Merkmal der geforderten Art geben. (Ich habe Satz (B) seit 1964 mit einer Begründung vertreten, deren Unzulänglichkeit mir erst kürzlich auffiel, als ich einen wohlwollenden Zuhörer nur mühsam überzeugen konnte. Zwei Tage später fiel mir beim Aufwachen der hier mitgeteilte Beweis ein; nach einer Viertelstunde hatte ich ihn mir zurechtgelegt.) Ich werde gleich, bei Erörterung der Aporien der Zeit, ein anschauliches Beispiel für ein solches Gegenstück geben: eine vergangene Sache, verglichen mit ihr als gegenwärtiger.
Aus (A) und (B) ergibt sich, daß die Menschen mit Sein im Gegensatz zu Nichtsein nur durch die Engungskomponente des vitalen Antriebs, die ihnen die primitive Gegenwart zugänglich macht, vertraut sind. Andernfalls würden sie über den Unterschied hinweggleiten, wie es in Träumereien geschieht, oder, wenn man in der Beschäftigung mit reiner Mathematik aufgeht, wo für die Existenz einer Sache genügt, daß sie aus willkürlichen, aber widerspruchsfreien Annahmen folgt (*), also möglich ist. (* Hilbert an Frege, 29.12.1899: »Wenn sich die willkürlich gesetzten Axiome nicht einander widersprechen, mit sämtlichen Folgen, so sind sie wahr, so existieren die durch die Axiome gesetzten Dinge.« [Gottlob Frege, Wissenschaftlicher Briefwechsel, S. 66].) Aber nicht einmal an der primitiven Gegenwart als einzelner Sache kann man das Sein ablesen, denn sie ist keine einzelne Sache, sondern wird erst im Rückblick aus dem Leben in entfalteter Gegenwart dazu gemacht, mit ausgleichender Korrektur durch das Wissen, was an dieser Sicht unangemessen ist.
4. Das Dieses der primitiven Gegenwart, das absolut Identische, entfaltet sich durch die Ergänzung der absoluten Identität zur relativen Identität von etwas mit etwas, d. h. dadurch, daß jeweils viele Gattungen, Bestimmungen, Hinsichten zur Verfügung stehen, unter denen etwas als Fall von etwas aufgefaßt werden kann, so daß es als Fall von diesem mit sich als Fall von jenem identisch ist. Dadurch gewinnt das Leben in entfalteter Gegenwart eine Wendigkeit, die der strategischen Kompetenz des Menschen, über Situationen rekonstruierend geworfene Netze von Konstellationen umzuknüpfen, zugute kommt.
5. Das Ich der primitiven Gegenwart, der sich in die Tatsachen des affektiven Betroffenseins verstrickende Bewußthaber, für den sie subjektiv sind, der vom plötzlichen Einbruch des Neuen erschüttert und herausgefordert wird, entfaltet sich, indem er seine absolute Identität durch Selbstzuschreibung als Fall von Bestimmungen zur Einzelheit ergänzt, und wird zum einzelnen Subjekt, um das sich durch den Gegensatz zum Fremden eine Sphäre des Eigenen bildet. Das Fremde entsteht auf dem Weg über die Neutralisierung von Bedeutungen, die Abschälung der Subjektivität von Sachverhalten, Programmen und Problemen. Das Nähere werde ich in der sechsten Stunde erörtern (**).
“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 55-61).

„Jetzt will ich auf den zweiten Punkt (**) zurückkommen, die Entfaltung des Jetzt der primitiven Gegenwart und die damit verbundenen besonderen Schwierigkeiten. Von den vier anderen Entfaltungsrichtungen darf man sagen, daß der Prozeß glatt und bruchlos gelungen ist. Die primitive Gegenwart kann dann in Unscheinbarkeit zurücktreten, bis sie einmal in plötzlichem Betroffensein wieder hervortritt. Im Ortsraum kann man sich orientieren, wo etwas ist, wohin es sich bewegt usw., ohne nach dem absoluten Ort der primitiven Gegenwart zu fragen. Mit dem Sein kann man geläufig umgehen, planend das Nichtseiende gegen das Seiende und umgekehrt ausspielen, ohne nach der Quelle des Kennens von Sein zu fragen und an sie zurückzudenken. Es ist üblich, das Einzelne mit seiner relativen Identität als selbstverständlich hinzunehmen, ohne daran zu denken, daß es zusammenbräche, wenn nicht die primitive Gegenwart absolute Identität in Dauer und Weite einschlagen ließe. Auf der subjektiven Seite der Entfaltung benimmt sich das personale Subjekt so selbstsicher, daß es seine Angebundenheit als Selbstzuschreiber an primitive Gegenwart vergißt und verleugnet; niemand vor mir hat sich für leibliche Dynamik interessiert. Nach diesen vier Richtungen gelingt die Entfaltung der primitiven Gegenwart so gut, daß man diese vergessen kann. Nur die zeitliche Entfaltung ist verunglückt und sozusagen auf halber Strecke liegen geblieben. Dem Ortsraum entspräche die Lagezeit, aber diese wird durch die Belastung mit der Modalzeit mit Fluß der Zeit an der glatten Überdeckung (gar Verdeckung) der primitiven Gegenwart gehindert. Dadurch ergeben sich die tragischen Züge, mit denen der Fluß der Zeit dem Leben Gebrochenheit und Labilität einträgt: die Ungewissheit des Künftigen, der flüchtige Wechsel der Gegenwart, die Grausamkeit des Abschieds von dem, was nicht mehr ist. Störender für das Denken sind die Widersprüche, die dem Fluß der Zeit den Geruch des Unmöglichen geben.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 61-62).

„Widersprüche hat man der Zeit längst nachgesagt, wenn auch ohne stichhaltige Begründung. Augustinus malt mit dramatischer Rhetorik das Argument der Skeptiker aus, es könne keine Zeit geben, da in der Zeit allein die Gegenwart das Wirkliche, aber ein dauerloser Punkt sei. Die Skeptiker tun so, als stünde ein einziger gegenwärtiger Augenblick zwischen nichtseiender Zukunft und nichtseiender Vergangenheit. Sobald man aber berücksichtigt, daß die Gegenwart immerzu wechselt und eine jeweils andere Masse des Gegenwärtigen den Augenblick füllt, erweist sich dieser Wechsel selbst als das Dauernde, gegen das das Argument nichts ausrichtet. Es verleugnet die Dynamik des Flusses der Zeit für eine statische Abstraktion. Berühmt wurde im 20. Jahrhundert der Einwand von McTaggart, der die Wirklichkeit der Zeit wegen des vermeintlichen Widerspruchs bestritt, daß jedes Ereignis in der Zeit vergangen, gegenwärtig und zukünftig sei, obwohl diese drei Prädikate sich ausschlössen. Mit diesem Einwand verwechselte er »und« mit »oder«. (Vgl. Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand - Grundzüge der Philosophie, 1990, S. 251-254.) Es gibt aber Widersprüche, die den Fluß der Zeit ernstlicher in Frage stellen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 62).

„Sicherlich ist Caesar ermordet worden. In der Geschichte ist aber alles unsicher; es könnte z. B. der Fall sein, daß er kurz vor den Dolchstichen unbemerkt einem Herzschlag erlegen wäre, auch könnten die Quellen trügen. Es ist also sinnvoll, hypothetisch Caesars wirkliche Ermordung von seiner irrig angenommenen Ermordung zu unterscheiden, obwohl kein vernünftiger Grund zum Zweifel an seiner Ermordung vorliegt. Beide Ereignisse, das wirkliche und das irrig angenommene, decken sich in allen Attributen. Caesars wirkliche Ermordung ist vergangen. Seine wirkliche Ermordung ist also identisch mit seiner vergangenen Ermordung, jedoch ist seine wirkliche Ermordung wirklich, seine vergangene Ermordung aber nicht, weil nicht mehr, wirklich. Das Leibniz-Prinzip, wonach identische Gegenstände in allen Bestimmungen übereinstimmen, bricht an diesem Beispiel zusammen. Es gilt nur für Attribute, nicht für Existenz-Inductiva, und Vergangenheit ist ein Existenz-Inductivum. (Ich gebrauche die Ausdrücke »Sein«, »Wirklichsein« und »Existenz« als Synonyme.) Dieses Paradox läßt sich in verschiedenen Fassungen darbieten. Wir erinnern uns an das, was gewesen ist. Dazu gehört seine Gegenwart. Insbesondere für alles praktische Tun, z. B. die Ermordung Caesars, ist die Einwirkung auf Gegenwärtiges unerläßlich, während das theoretische Betrachten ebenso dem Vergangenen, dem Zukünftigen oder dem Zeitlosen (etwa mathematischer Verhältnisse) zugewandt sein kann. Ein Ereignis, das vorbei ist, ist aber nicht mehr gegenwärtig und ist überhaupt nicht mehr. Gleiches gilt für ein vergangenes Zeitalter. Wir können uns also an nichts dergleichen erinnern, denn wenn wir es in seiner Gegenwart aufnehmen, verleugnen wir die Vergangenheit, und wenn wir die Vergangenheit annehmen, setzen wir uns in Gegensatz zur Gegenwart als unentbehrlichem Zubehör dessen, woran wir uns erinnern. (Kaum brauche ich zu sagen, daß man gegen die Schwierigkeit nichts ausrichtet, wenn man die Wirklichkeit zeitlich relativiert, indem man etwa sagt, Caesars Ermordung sei 44 v. Chr. wirklich gewesen, 2008 n. Chr. aber nicht mehr wirklich, denn die Wirklichkeit zu einer Zeit hat nichts mit Wirklichkeit, sondern nur mit Datierung in der Lagezeit zu tun, wie sich daran zeigt, daß auch die betreffende Zeit, z. B. das Zeitalter Caesars, und mit ihr die Wirklichkeit zu dieser Zeit nicht mehr wirklich ist.) Wieder eine andere Fassung besagt, daß sich nichts durch sein Vergehen ändert, da genau dasselbe, das vergangen ist, gegenwärtig war, obwohl etwas durch sein Vergehen die Gegenwart abstreift und die Vergangenheit annimmt. Schließlich kann man den Widerspruch so ausdrücken, daß vergangene Gegenwart unmöglich ist, weil Vergangenheit und Gegenwart, Nichtmehrsein und Sein, sich ausschließen, andererseits aber Vergangenes ohne vergangene Gegenwart nicht möglich ist. Was ich hier für Vergangenheit und Erinnerung ausgeführt habe, gilt entsprechend ebenso für Zukunft und Erwartung.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 62-64).

„Eine andere Paradoxie betrifft direkt den Fluß der Zeit, daß die Masse alles Vergangenen ununterbrochen wächst, die Masse alles Zukünftigen ununterbrochen schrumpft und die Masse alles Gegenwärtigen ununterbrochen wechselt, indem die wechselnd besetzte Gegenwart sich gleichsam an der Spitze des Vergangenen in die Zukunft hineinfrißt. Das ist ein Prozeß. Jeder Prozeß hat einen Stand, den er, solange er läuft, jeweils erreicht. Was ist der Stand des Flusses der Zeit? Wann kommt die Gegenwart an? Die Antwort ist auf zwei Weisen möglich. Man kann sagen, daß die Gegenwart z. B. den 1. Januar 2000 am 1. Januar 2000 erreicht, und entsprechend für alle anderen Daten, aber das ist eine nichtssagende Tautologie, die nur ausdrückt, daß die Gegenwart jeweils in dem Augenblick der Lagezeit stattfindet, in dem sie stattfindet. Die andere Ankunft ist belangvoller: Die wechselnde Gegenwart kommt jetzt an, in der Gegenwart. Dann kann sie aber nicht mit dieser identisch sein, denn das wäre kein Prozeß, bei sich selbst anzukommen. Andererseits kann die wechselnde Gegenwart aber auch von der, bei der sie ankommt, nicht verschieden sein, denn dann wäre sie nicht jetzt, nicht Gegenwart.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 64).

„Der nächstliegende Ausweg aus diesen Verlegenheiten könnte sein, der modalen Lagezeit das Sein zu bestreiten, sie als Illusion abzutun. Dieser Weg ist oft beschritten worden - in unserer Zeit besonders von Physikern im Gefolge der Allgemeinen Relativitätstheorie -, aber das Opfer wäre zu groß. Ohne modale Lagezeit gibt es kein Lernen, denn Lernen besteht darin, etwas zu erfahren, das man noch nicht wußte, so daß der Wissensstand dann nicht mehr der frühere, nun vergangene ist. Ohne Bereitschaft zum Lernen ist aber kein wissenschaftler möglich, denn er muß mindestens bereit sein, aus der Prüfung durch sich oder Andere zu lernen, ob seine Aufstellungen der Kritik standhalten; sonst ist er kein Wissenschaftler, sondern ein Dogmatiker mit Anspruch auf unbedingte Richtigkeit dessen, was er für richtig hält. Ganz besonders die Naturwissenschaft ist abhängig von der modalen Lagezeit, denn sie bestätigt ihre Theorien durch das Experiment, und das Experiment ist nur dadurch möglich, daß man bei seiner Einleitung noch nicht weiß, ob sich die theoretische Vorhersage bestätigen wird. Aber nicht nur das wissenschaftliche Denken, sondern menschliches Denken überhaupt bedarf der modalen Lagezeit. Die Zeit, die ihm nach Abzug der modalen Züge und des Flusses bliebe, wäre eine reine Lagezeit. In dieser gibt es statt gerichteter Beziehungen von etwas zu etwas nur komplexe Verhältnisse, die sich gleich gut von zwei Seiten ablesen lassen, vom Früheren zum Späteren und vom Späteren zum Früheren hin. Wenn die Gleichzeitigkeit hinzugenommen wird, steigt die Zweiseitigkeit zu einer unabsehbar komplexen Vielseitigkeit. Das Auffassen komplexer Verhältnisse ohne Aufspaltung in Beziehungen wäre die Leistung eines intuitiven Verstandes, wie Kant ihn Gott zuschrieb; der Mensch kann nur diskursiv denken, indem er gerichtete Beziehungen von etwas zu etwas in das Verhältnis hineinträgt. Das ist leichter gesagt als getan. Eine Richtung kann man nur finden, indem man sich vom Ausgangsort auf den Weg zum Ziel macht, sei es körperlich oder in Gedanken; um den Weg zu finden, muß aber schon eine Richtung gegeben sein. Sonst steht man ratlos vor einer Wahl, zu der das komplexe Verhältnis keine Gelegenheit bietet. Diese Ratlosigkeit kann nur aufgebrochen werden, wenn eine Richtung durch eine Führung ohne eigenes Zutun vorgegeben wird. Dafür steht dem Denken angesichts komplexer Verhältnisse nichts zur Verfügung als der Fluß der Zeit, in Gestalt der wenn auch nur kurzen Zeit, die verfließt, wenn der Denkende sich von einem Beziehungsglied zu einem zweiten führen läßt. Übrigens würde jeder gerichtete Prozeß denselben Dienst tun, aber Prozesse sind nur möglich im Fluß der Zeit; ohne diesen bleiben nur komplexe Verhältnisse, allenfalls monotone Funktionen nach Art der mathematischen Potenz, bei denen größeren Werten der unabhängigen Variablen stets größere Werte der abhängigen entsprechen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 64-66).

„Man wird sich also mit der modalen Lagezeit abfinden müssen. Das kann aber nicht dadurch geschehen, daß man den Widerspruch stehen läßt; denn ein widerspruchsvoller Satz - ein Satz, der einen Widerspruch zur logischen Folge hat (*) - nimmt alles zurück, was er aufstellt, und behauptet im Ergebnis nichts. (* Zum Begriff der logischen Folge vgl. Hermann Schmitzt, Logische Untersuchungen, S. 98.) Der rettende Ausweg aus dem unabweisbaren Widerspruch bei Beschreibung einer unbestreitbaren Gegebenheit besteht darin, den Widerspruch aus der Beschreibung auf eine Zwiespältigkeit in der Sachlage abzuwälzen und für diese eine widerspruchsfreie Beschreibung zu finden. Um zu veranschaulichen, was ich unter Zwiespalt verstehe, greife ich gern auf eine Begebenheit zurück, die dem Studenten Edmund Husserl widerfuhr und ihn offenbar, weil er in verschiedenen Lebensaltern darauf zurückkommt, nicht losgelassen hat. Im Wachsfigurenkabinett sah er mindestens für Sekundenbruchteile einen Zwitter von Dame und Puppe. Zwei unverträgliche Erscheinungen konkurrierten um Identität mit einer dritten. Nach kurzer Zeit löste sich der Zwiespalt auf; Husserl merkte, daß es sich um eine Puppe handelt. Solche verwirrenden Überschneidungen - ich spreche von der Husserl'schen Puppe - werden auch von anderen Zeugen berichtet. In unserer Erfahrung handelt es sich dann um kurzfristige Illusionen; man kann sich aber eine mögliche Welt vorstellen, die durchzogen wäre von lauter Rätseln solcher Art, die sich prinzipiell nicht lösen lassen, weil die Rätselhaftigkeit die Natur der Sache ist, eine Zwiespältigkeit, die auch zur n-Spältigkeit für n > 2 erweitert sein könnte. Die Attribute, alle oder einige, aller Sachen wären prinzipiell unentscheidbare Alternativen (um beim einfachsten Fall n = 2 zu bleiben), die sich wie in Husserls Erlebnis verdrängen, indem sie um Identität konkurrieren. Diesen Konflikt kann man nicht mit »entweder - oder« auflösen, denn dann wäre die Entscheidung für eine Seite richtig, wie bei Husserl, als er die Illusion durchschaute. Vielmehr ist die Beschaffenheit einer solchen Sache ein Schwebezustand, in dem unverträgliche Bestimmungen sich durchkreuzen, aber kein Zustand bloßer Unbestimmtheit, sondern ein mit Bestimmungen, von denen keine sich durchsetzen kann, überladener Zustand.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 66-67).

„Ich habe dieses Gedankenexperiment vorgeführt, um einen Ausweg aus der Einräumung eines Widerspruchs bei der richtigen Beschreibung einer Sachlage, hier bezüglich der Zeit, zu weisen. Der Widerspruch wird auf die beschriebene Sache als Verwirrung, die ihr Wesen ist, abgewälzt. Solche Verwirrung ist widerspruchsfrei. Wenn nämlich ein echter Widerspruch, ein Satz der Form »A und nicht A« (für beliebige Sätze A), vorliegt, folgt aus dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten, daß eine der beiden Seiten wahr ist; bei der Beschreibung eines Zwiespaltes der angegebenen Art folgt das nicht, weil beide Seiten der Alternative um Identität konkurrieren, wobei aber keine den Triumph der Tatsächlichkeit oder Wahrheit feiern kann. Es fragt sich nur, wie sich eine solche zwiespältige, aber widerspruchsfreie Sachlage beschreiben läßt. Mit einfacher Unentschiedenheit ist es nicht getan, denn die könnte bloße Unbestimmtheit sein, wie bei einer durchdösten Frist, wenn keine Phase des Gleitens sich als diese oder jene, schon gar nicht als einzelne, herausschält, weil es an der dazu erforderlichen bestimmten Gliederung fehlt. Man kann nun die Unentschiedenheit iterieren zur Unentschiedenheit, ob unentschieden ist, ob es sich so oder so verhält (z. B., ob eine Dame oder eine Puppe vorliegt). Damit hat man die einfache Unentschiedenheit ausgeschlossen, denn, wenn diese vorläge, brauchte man nicht zur zweifachen aufzusteigen, erst recht aber die zwiespaltlose Entschiedenheit, daß es sich entweder um eine Dame oder um eine Puppe handelt; dann wäre in dieser Hinsicht sachlich gar nichts unentschieden. So viel Ausgeschlossenheit genügt aber nicht, denn durch sie wäre der Spielraum der offenen Unbestimmtheit erweitert, während er durch die Konkurrenz im Wirrwarr vielmehr verengt ist. Der Fortgang zu höheren Stufen endlichfacher Unentschiedenheit hilft nicht weiter. Er wird der Konkurrenz um Identität, dem vom Wirrwarr vereitelten Zusammenfallohne Möglichkeit des Auseinandertretens, nicht gerecht. Eine befriedigende Beschreibung ergibt sich erst, wenn zu unendlichfacher Unentschiedenheit übergegangen wird. Da vom Unendlichen nicht subtrahiert werden kann, läßt unendlichfache Unentschiedenheit alles offen, was zwiespaltlose Entschiedenheit, einfache Unentschiedenheit, Unentschiedenheit, ob unentschieden ist, weiter, ob unentschieden ist, ob unentschieden ist, ob unentschieden ist, usw. ad infinitum, angeht. Immer ist hier Unentschiedenheit als Beschaffenheit des Gegenstandes, nicht des Urteils gemeint. Wenn das alles offen bleibt, ist weder über Entschiedenheit (d.h. Abwesenheit von Zwiespalt) noch über eine darauf durch aufsteigende Schritte bezogene Unentschiedenheit etwas festgelegt, und für die Konkurrenz der unverträglichen Seiten des Zwiespaltes bleibt ein unbeschränkter Spielraum, der nicht eingeengt werden kann, aber nicht, weil ihr Verhältnis zu locker wäre, sondern weil es in der Konkurrenz zu eng ist, um noch von Unentschiedenheit (irgend einer endlichen Stufe) im Gegensatz zu Entschiedenheit sprechen zu lassen. Unendlichfache Unentschiedenheit ist unendlich schwache Unentschiedenheit, weil mit jedem Schritt zu einer höheren Stufe der Unentschiedenheit diese unentschiedener, also, gemessen an der Entschiedenheit, schwächer wird. In der Grauzone der Konkurrenz versagt jede Skala zur Einstellung des Grades der Unentschiedenheit, und zur Beschreibung dieser verworrenen Sachlage hilft nur der Übergang zu unendlichfacher Unentschiedenheit. Mit meiner Logik der iterierten Unentschiedenheit (*) habe ich ein Verfahren entwickelt, das es gestattet, Widersprüche in Zwiespälte einer an sich selbst verworrenen Sachlage umzudeuten und als solche widerspruchsfrei zu beschreiben. (* Vgl. Hermann Schmitzt, Logische Untersuchungen, S. 125-133.) Angewendet auf die am Fluß der Zeit abgelesenen Widersprüche besagt die Anwendung dieses Verfahrens, daß es unendlich schwach unentschieden ist, ob Caesars wirkliche Ermordung ist oder nicht ist, ob wir uns an sie erinnern können, ob Gegenwart vergangen sein kann, ob die wechselnde Gegenwart identisch ist mit der Gegenwart, die jetzt ist. Zu dieser letzten Frage drängt sich mir eine Reflexion Schopenhauers auf, die den Zwiespalt zwischen der wechselnden Gegenwart, die jetzt ankommt, und der Gegenwart, bei der sie jetzt ankommt, ahnungsvoll beleuchtet: »Bisweilen drängt sich mir ein Verwundem über die Gegenwart auf und die Frage: warum ist dieses Jetzt denn gerade jetzt?« (Arthur Schopenhauer, Briefe und Nachlaßstücke, S. 731.) Durch ein Unglück bei der Entfaltung der primitiven Gegenwart auf der zeitlichen Seite des absoluten Augenblicks zur Lagezeit ist die Entfaltung bei der modalen Lagezeit in einem zwiespältigen Wirrwarr stecken geblieben, der die widerspruchsfreie Beschreibung unmöglich macht, solange man nicht den Zwiespalt als die wirkliche Natur der Sache gelten läßt. Von gleicher Art ist die Schwierigkeit bei den logischen Antinomien (z. B. der Mengenlehre, des Lügners), die ich in den leichteren Fällen mit einfacher Unentschiedenheit, in schwierigeren Fällen mit unendlichfacher Unentschiedenheit entschärft habe, so daß die von Cantor erfundene naive Mengenlehre in vollem Umfang, ohne Einschränkung durch die zur Abwehr der Widersprüche errichtete Schutzwehr der Axiomensysteme, wieder aufgenommen werden kann. (Vgl. Hermann Schmitzt, Logische Untersuchungen, S. 115-124 und 134-143.)“ (Hermann F.-H. Schmitz, Vierte Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 67-69).

 

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