Schrumpfende Gesellschaft - Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen
(2005)
1) Wachsen ist leichter als Schrumpfen (S. 13-37)
1.1) Überblick
Nicht das Altern, sondern der absehbare
und sich voraussichtlich beschleunigende Rückgang unserer Bevölkerung
ist das zentrale demographische Problem. (Ebd., S. 41).
1.3) Bevölkerung als politischer Begriff, der einen Solidaritätshorizont
voraussetzt
Die praktische Bedeutung unseres Themas läßt
sich zunächst mit dem mittlerweile populären Begriff der Nachhaltigkeit
plausibilisieren. Nachhaltigkeit wurde zuerst im Bereich der Forstwirtschaft als
das Prinzip formuliert, es sei in einem Zeitraum nur so viel Holz zu schlagen,
wie durch Neupflanzung von Bäumen nachwachsen kann. So zuerst die »Sylvicultura
oeconomica« (1713) des Hans Carl von Carlowitz, welcher eine »nachhaltende
Nutzung« des Waldes forderte, nämlich nur so viel Holz einzuschlagen,
als im gleichen Zeitraum wieder nachwächst. (Vgl. Jörg Tremmel, Generationengerechtigkeit
- Versuch einer Definition, 2003, S. 62). Das entspricht der Forderung nach
einem stationären Gleichgewicht. (Ebd., S. 24-25).Solange
die Prozesse der Besteuerung und Umverteilung nicht auf die europäische Ebene
hochgezont werden - eine für alle absehbare Zukunft sehr unwahrscheinliche
Entwicklung -, kommt es für menschliche Wohlfahrt auf den herkömmlichen
Raum der Nationalstaaten an (außerdem wäre ja
ein europäischer Einheitsstaat auch so etwas wie ein Nationalstaat; HB), auf die produktiven Kapazitäten ihrer Bevölkerung, und zwar
sowohl hinsichtlich der Höhe des Sozialprodukts als auch im Hinblick auf
seine Verteilung, Vor allem die Sozialversicherungen machen das politisch konstituierte
wechselseitige Aufeinander-angewiesen-Sein deutlich. (Ebd., S. 27).Kollektive
Identität konstituiert sich auf der nationalen Ebene nach wie vor folgenreicher
als auf der supra- oder infranationalen Ebene. (Ebd., S. 27-28).Nach
wie vor bildet der Nationalstaat den dominierenden Horizont rechtlichen Schutzes,
politischer Solidaritätserwartungen und demokratischer Mitbestimmungsmöglichkeiten
der Bevölkerung. (Ebd., S. 28).
1.4) Sozialstaat und Humanvermögen
»Humanvermögen«
bezeichnet die Summe der individuellen Kompetenzen, welche sich in einer »Gesellschaft«
zum eigenen und zum Nutzen Dritter entfalten können. Dabei impliziert auch
der hier verwendete Gesellschaftsbegriff politische Konnotationen - wie der Begriff
»Bevölkerung«. Wir heben in unseren Argumentationen aber nicht
auf die schiere Zahl der statistisch erfaßbaren Bevölkerung, sondern
auf deren - auch unterschiedliche! - Motive und Fähigkeiten ab. »Humanvermögen«
steht dem schon besser ausgearbeiteten Begriff »Humankapital« nahe,
beschränkt sich aber nicht auf die wirtschaftlich verwertbaren Fähigkeiten,
sondern bezieht auch die übrigen Gesellschaftsbereiche in die Betrachtung
ein. Wie zu zeigen sein wird, ist es eine zentrale Aufgabe des Sozialstaats, die
Reproduktion der Humanvermögen, d.h. den Nachwuchs oder die Rekrutierungspotentiale
für die verschiedenen Gesellschaftsbereiche sicherzustellen. (Ebd.,
S. 29).
2) Demographische Perspektiven (S. 38-62)
2.1) Das Altern der Bevölkerung
In Europa begann mit
der Verbesserung der allgemeinen Ernährungsgrundlage im 18. Jahrhundert vor
allem die Kindersterblichkeit zu sinken, woraus im 19. Jahrhundert ein starkes
Bevölkerungswachstum unde ine tendenzielle Verjüngung der Bevölkerung
resultierten. Zunächst in Frankreich verbreitete sich sodann in Rektion auf
die wachsende Zahl überlebender Kinder allmählich eine auf die Beschränkung
der Geburten zielende Einstellung und Praxis, so daß die französische
Bevölkerung bereits ab 1830 deutlich geringer zunahm (bzw.
sogar abnahm! HB) als die übrigen Bevölkerungen Europas.
... Um 1900 betrug der Anteil der 65-und-mehr-Jährigen in Frankreich bereits
8,2%, im Deutschen Reich nur 4,9%; hier begann die demographische Alterung erst
um 1910. (Ebd., S. 39-40).In dem Maße, wie sich die
Geburtenkontrolle auch in der Dritten Welt verbreitet, beginnt auch dort die Geburtenhäufigkeit
zu sinken und der Anteil der älteren Menschen zuzunehmen. Der sogenannte
»demographische
Übergang« vollzieht sich heute in groißen Teilen der Weltbevölkerung
weit rasanter als seinerzeit in Europa. Bevölkerungsprognosen der Vereinten
Nationen lassen erwarten, daß um 2050 die Fertilität der Welt unter
das Reproduktionsniveau sink und um 2070 das Bevölkerungsmaximum in einer
Größenordnung von 9 Milliarden Menschen erreicht wird. Daß die
Weltbevölkerung zwischen 2050 und 2070 noch weiter wächst, obwohl die
Fertilität bereits unter dem Reproduktionsniveau angesetzt wird, ist auf
die zunächst überproportionale Besetzung der jugendlichen Jahrgänge
zurückzuführen, so daß die absoluten Geburtenzahlen erst nach
einer Generation sinken. Auch ist der Anteil der alten Menschen zunächst
noch niedrig, so daß auch die Sterblichkeit unter den langfristig zu erwartenden
Werten bleibt. Dieser Verzögerungseffekt ist typisch und läßt
sich auch an der deutschen Bevölkerungsgeschichte nachweisen. (Ebd.,
S. 40).Die
großen Altersgruppen in Deutschland von 1950 bis 2050 |
| | 1950 | 1960 | 1970 | 1980 | 1990 | 2000 | 2010 | 2020 | 2030 | 2040 | 2050 | |
0-20 Jahre | | 30,9% | 28,6% | 30,0% | 26,7% | 21,8% | 21,1% | 18,7% | 17,6% | 17,1% | 16,4% | 16,1% | 20-60
Jahre | | 54,5% | 53,8% | 50,1% | 54,0% | 57,8% | 55,3% | 55,7% | 53,2% | 48,5% | 48,4% | 47,2% | 60
Jahre und mehr | | 14,6% | 17,6% | 19,9% | 19,3% | 20,4% | 23,6% | 25,6% | 29,2% | 34,4% | 35,2% | 36,7% |
Quellen:
Statistische Jahrbücher, ab 2010: 10. koordinierte bevölkerungsvorausberechnung,
Variante 5. Wie die Tabelle zeigt, steigt in der Bundesrepublik
der Anteil der 60-und-mehr-Jährigen über den ganzen Beobachtungszeitraum
mehr oder weniger kontinuierlich an, von 14,6% auf 36,7%. Ebenso reduziert sich
der Anteil der Kinder und Jugendlichen über die ganze Periode hinweg von
30,9% auf 16,1%. Wenig Beachtung findet in der regel die Entwicklung des Anteils
der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, die hier mit 20-60 Jahren angenommen
wird. Beachtlich ist hier zum einen der eine starke Zunahme um 1970 (50,1%) und
1990 (57,8%), gefolgt von einer langfristigen Abnahme bis zum Jahr 2050 (47,2%).
Hierin kommt eine oft übersehene regelhaftigkeit zum Ausdruck (dasselbe Phänomen
ließ sich als Folge des »ersten Geburtenrückgangs« ...
beobachten; vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Die Überalterung - Ursachen, Verlauf,
wirtschaftliche und soziale Auswirkungen des demographischen Alterungsprozesses,
1960, S. 126ff.): Nach dem Einsetzen eines säkularen Geburtenrückgangs
nimmt der Anteil der mittleren Altersgruppen zunächst während etwa drei
Jahrzehnten zu, weil der Jugendquotient sinkt, der Altenquotient jedoch nioch
nicht entsprechend steigt. In dem Maße, wie in Zukunft die (noch) geburtenstarken
Jahrgänge ins Rentenalter kommen, vergrößert sich der Anteil der
alten Menschen und reduziert sich derjenige der mittleren ... überproportional.
(Ebd., S. 41).Im mathematischen Modell handelt
es sich bei Wachstums- wie bei Schrumpfungsprozessen um exponentielle und nicht
um lineare Funktionen. Wie eine unkontrollierte Fertilität in Entwicklungsländern
zu einem sich selbst beschleunigenden Bevölkerungswachstum führen kann,
ist im falle eines kontinuierlichen Geburtenrückgangs mit einer Bevölkerungsimplosion
zu rechnen. Wenn ... sich eine Frauengeneration über die Generationen hinweg
nur noch zu etwa zwei Dritteln ersetzt, so bedeutet dies, daß 1000 Frauen
nur noch 667 Töchter und 444 Enkelinnen und 296 Urenkelinnen bekommen. ....
Die Wucht des demographischen Faktors ist um so größer, je weiter
und je länger sich die Fertilität vom reproduktiven Gleichgewicht entfernt.
(Ebd., S. 52-53).
2.3) Gibt es normative Maßstäbe zur Beurteilung der Bevölkerungsentwicklung
?
Schon Platon und Aristoteles machten sich Gedanken über
die optimale Größe einer Polis, und die Frage nach der optimalen Bevölkerungsentwicklung
war für die entstehende Bevölkerungswissenschaft zentral. Zwie Hauptströmungen
standen sich gegenüber: Die »Populationisten«, welche zumeist
im Horizont der absolutistischen Staatsauffassung des 17. und 18. Jahrhunderts
standen, befürworteten das Bevölkerungswachstum: »Es gibt weder
Wohlstand noch Macht außer durch Menschen« (Jean Bodin). Demgegenüber
forderte Thomas R. Malthus eine Beschränkung der Geburten, vor allem in den
armen Bevölkerungsschichten; demzufolge werden Gegner des Bevölkerungswachstums
als »Malthusianisten« bezeichnet. (Ebd., S. 57).»Je
größer die Möglichkeiten eines Landes sind, durch Handel und Investitionen
auch außerhalb der politischen Grenzen seinen Wohlstand zu mehren, um so
kleiner darf es sein bezogen auf Einwohner und Fläche.« (Rainer Hank,
Eine ökonomische Theorie des Staates, Merkur Nr. 662, Bd. 58, S. 519-525).
Es besteht auch Einigkeit darüber, daß kurz- und mittelfristige Veränderungen
von Größe und Zusammensetzung einer Bevölkerung zwar praktische
Probleme heraufbeschwören können, aber kein grundsätzliches wissenschaftlich
zu behandelndes Problem darstellen. Die zentrale Frage bezieht sich auf die
Beurteilung unterschiedlicher langfristiger Trends der Bevölkerungsentwicklung,
wobei grundsätzlich drei Tendenzen zur Auswahl stehen: Wachstum, quasistationäre
Entwicklung und Bevölkerungsrückgang. (Ebd., S. 57).Unter
Machtgesichtspunkten ist somit - von Situationen manifester und verelendender
Überbevölkerung (und/oder Überfremdung; HB) abgesehen - ein langfristiges Bevölkerungswachstum grundsätzlich
erwünscht. Allerdings kann - ausgehend von einer anderen Prämisse, nämlich
der Friedenserhaltung - das Bevölkerungswachstum problematisiert werden:
bevölkerungsdruck scheint die wahrscheinlichkeit von kriegen zu erhöhen.
Alles in allem ear der Zusammenhang zwischen Bevölkerung und politischer
Macht in jüngerer Zeit kein Thema mehr. Alois Wenig (Übervölkerung
- eine Kriegsursache?, 1985) vermutet, daß die Reduzierung eines partiellen
Bevölkerungsdrucks der Unterschichten bzw. des überschüssigen Adels
vor allem zwischen absolutistisch regierten Staaten ein Motiv der Kriegführung
gewesen sei. Demokratien haben sich derartigen bevölkrungspolitischen Machtkalkülen
gegenüber als bemerkenswert resistent erwiesen. Allerdings ist nicht von
der hand zu weisen, daß Länder mit schrumpfenden und stark alternden
Bevölkerungen, wie sie für Europa im 21. Jahrhundert charakteristisch
zu werden scheinen, in der Auseinandersetzung mit »jüngeren«
Ländern und Bevölkerungen unter Herausforderungen geraten, denen sie
bestenfalls mittels besonderer Anstrengungen gewachsen sein können. Besondere
Spannungen sind zu erwarten, wo junge migrationsbereite Bevölkerungen andere
kulturelle und religiöse Orientierungen mitbringen. (Ebd., S. 57-58).Ohne
Zweifel ist für die Umwelt nichts schädlicher als extreme Armut der
Bevölkerung, welche nahezu zwangsläufig zu einem Raubbau an der Natur
führt. .... Es spricht viel für die These, daß extrem hohe demographische
Wachstumsraten (über 2% jährlich) die ökonomische Entwicklung eher
beeinträchtigen, während mäßige Wachstumsraten ihr eher förderlich
sind. Einerseits ist das Wirtschaftswachstum, soweit es mit steigender Umweltbelastung
einhergeht, nicht unproblematisch, andererseits werden umwelt- und ressourcenschonende
Technologien eher in wachsnenden als in stagnierenden Wirtschaften entwickelt.
(Ebd., S. 59-60).Der Bevölkerungsrückgang beeinträchtigt
das Wirtschaftswachstum, und ein Stagnieren der Wirtschaft verschärft die
lohnpolitischen und sozialpolitischen Verteilungskonflikte. Berücksichtigt
man ferner, daß der bevölkerungsrückgang auch die strukturelle
Anpassungsfähigkeit moderner Gesellschaften tendenziell beeinträchtigt,
so ist zum mindetsen zu prüfen, ob nicht auch grundlegende Bedingungen des
sozialen Zusammenhaltes durch die demographischen Entwicklungen in Frage gestellt
werden. (Ebd., S. 61).
2.4) Zur Gewichtung demographischer Argumentationen
Schließlich
ist auch die Frage nach dem relativen Gewicht demographischer entwicklungen im
Verhältnis zu anderen ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungen
zu diskutieren. .... Schon hier sei darauf hingewiesen, daß nach der hier
zu begründenden Auffassung der Einfluß des Bevölkerungsrückgangs
als gravierender zu veranschlagen ist, als die Untersuchung einzelner Zusammenhänge
nahelegt. (Ebd., S. 61-62).
3) Gefährdet der Bevölkerungsrückgang die Wirtschaftsentwicklung
? (S. 63-94)
3.2) Ermöglicht ein Rückgang der Bevölkerung die Steigerung
der Pro-Kopf-Einkommen?
Felderer und Sauga (Bevölkerung
und Wirtschaftsentwicklung, 1988, S. 210ff.) fassen ihre Überlegungen
dahingehen dzusammen, daß in kurzfristiger (d.h. »der Zeitraum von
etwa zwei Generationen«) Perspektive die ökonomischen Vorteile eines
Geburtenrückgangs überwiegen, während in langfristiger Perspektive
eines »säkularen Trends« die negativen Folgen einer Bevölkerungsstagnation
oder Bevölkerungsschrämpfung dominieren. Der erste Teil dieser These
wurde durch die Empirie bestätigt: bekanntlich hat die Bundesrepublik seit
dem Beginn des Geburtenrückgangs um 1965 bis zur Wiedervereinigung (1990)
eine historisch einmalige Wohlstandssteigerung erlebt: Das Pro-Kopf-Einkommen
der Bevölkerung hat erheblich zugenommen, während die volkswirtschaftlichen
Wachstumsraten im Vergleich zur Nachkriegszeit zurückgingen. Vom Wirtschaftswachstum
profitiert haben breite Bevölkerungskreise, und ein erheblicher Teil des
Wachstums floß in öffentliche Investitionen, vor allem in den 1970er
Jahren. Die außerhäusliche Erwerbsbeteiligung der Frauen nahm stark
zu und ermöglichte den Frauen eine bis dahin nie dagewesene Unabhängigkeit,
die sich familiensoziologisch in zunehmenden Scheidungsraten und sinkender Heiratsneigung
manifestierte. Die starke Zunahme der Kinderlosigkeit, welche für Männer
nicht weniger zutrifft als für Frauen, ist ebenfalls Ausdruck der gestiegenen
Unabhängigkeit. Mit Felderer und Sauga steht zu befürchten, daß
in den kommenden Jahrzehnten dagegen die Nachteile des andauernden Geburtenrückgangs
dominieren werden. (Ebd., S. 68-69).
3.3) Die zunehmende Relevanz der Humanvermögen für die Produktivitätsentwicklung
Die
ältere Theorie langfristiger Wirtschaftsentwicklung berücksichtigte
drei Faktoren: die Bevölkerungsentwicklung, die Kapitalbildung und den technischen
Fortschritt. Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität war dabei von der
Bevölkerungsentwicklung unabhängig. Sie resultierte aus einer von der
zugrunde gelegten Produktionsfunktion abhängigen Kombination von Kapitalbildung
und technischem Fortschritt. In empirischen Studien zeigte sich jedoch immer deutlicher,
daß gesteigerte Kapitalintensität nur einen Bruchteil des technischen
Fortschritts zu erklären vermag, so daß nunmehr »autonomer technischer
Fortschritt« als »dritter Produktionsfaktor« neben Kapital und
Arbeit eingeführt wurde (vgl. Gottfried Bombach, Wirtschaftswachstum,
1965, S. 790ff.; Günter Clar / Julia Doré, Die Bedeutung von Humankapital,
1997, S. 289ff.). Allerdings blieb dessen Zustandekommen unklar. Erst die Humankapitaltheorie
hat hier brauchbare Erklärungen gebracht: »Technischer Fortschritt
in Form neuer Güter und Prozesse wird endogenisiert und hängt in entscheidendem
Maße von den Investitionen in Humankapital ab.« (Friedhelm Pfeiffer
/ Martin Falk, Der Faktor Humankapital in der Volkswirtschaft, 1999, S.
24). (Ebd., S. 72).Bereits der Vorkämpfer für den
deutschen Zollverein und autodidaktische Nationalökonom Friedrich List hatte
in seiner Auseinandersetzung mit Adam Smith darauf hingewiesen, daß dieser
zwar die Ursachen des Volkswohlstandes zu Recht in der Produktivität der
Arbeit sehe, daß er aber die Produktivität der Arbeit selbst nicht
zu erklären vermöge. »Die Kraft, Reichtümer zu schaffen,
ist .... unendlich wichtiger als der Reichtum selbst.« (Friedrich List,
Das nationale System der politischen Ökonomie, 1841, S. 173). Arbeitsproduktivität
ist für List keine natürliche Gegebenheit, sondern das Zentralproblem
der Entwicklung eines Landes, und er nennt in seiner »Theorie der produktiven
Kräfte« hierfür im wesentlichen vier Faktoren, nämlich (1)
natürliche Gegebenheiten wie Klima oder Bodenschätze, (2) institutionelle
Bedingungen im Sinne der kulturellen, rechtlichen und organisatorischen Bedingungen
eines Landes, (3) die Summe aller individuellen Kräfte, welche in Form von
Erziehung, Bildung und Erfahrung der Bevölkerung als »Nationalproduktivkraft«
ihren Begriff finden, und schließlich (4) die »Agrikulturkraft«
und »Manufakturkraft«, worunter er den Entwicklungsstand von Landwirtschaft
und Industrie verstand, also moderner gesprochen: den erreichten Stand an Technologie
und Wissen. (Ebd., S. 72).Anscheinend ohne Kenntnis des Werkes
von List wurden die zwei letzten Sachverhalte in der neueren Humankapitaltheorie
(für den Faktor 3) und in der aktuellen soziologischen Theorie der Wissensgesellschaft
(für den Faktor 4) erneut entdeckt. (Ebd., S. 73).Schon
für List gehörte es zu den Einseitigkeiten der ökonomischen Theorie,
daß sie sich ausschließlich mit marktvermittelten Prozessen der Produktion
auseinandersetzt und den gesamten Bereich der Haushaltsproduktion aus dem ökonomischen
Geschehen ausklammert: »Ein Vater, der seine Ersparnisse opfert, um seinen
Kindern eine ausgezeichnete Erziehung zu geben, opfert Werte; aber er vermehrt
beträchtlich die produktiven Kräfte der nächsten Generation. Dagegen
ein Vater, der seine Ersparnisse auf Zinsen legt unter Vernachlässigung der
Erziehung seiner Kinder, vermehrt um ebensoviel seine Tauschwerte, aber auf Kosten
der produktiven Kräfte der Nation.« (Friedrich List, Das natürliche
System der politischen Ökonomie, 1837, S. 193) Hier wird das Dilemma
zwischen individueller und volkswirtschaftlicher Rationalität bereits klar
angesprochen, das heute den Kern des Problems der Nachwuchssicherung ausmacht.
(Ebd., S. 73).Im vorliegenden Zusammenhang interessiert vor allem
die Humankapitaltheorie (»Für den größlen Teil der
Diskussion wird Humankapital als die eine oder andere Variante der
in der Erwerbsbevölkerung verkörperten formalen Bildung
definiert.« [L. Alex / G. Weißhuhn, Ökonomie der Bildung und
des Arbeitsmarktes, 1980, S. 17]. Damit wird »Humankapital« auf
einen Begriff der Bildungsökonomie reduziert. Wir gehen demgegenüber
mit Friedrich List und Theodore W. Schultz von einem realitätsnäheren
Konzept aus, das grundsätzlich die gesamten Kosten für das Aufbringen
der nachwachsenden Generation als Investition in das Humankapital begreift. Zur
Ausarbeitung des Begriffs vgl. Günter Clar / Julia Doré, Die Bedeutung
von Humankapital, 1997.), welche Theodore W. Schultz 1979 den Nobelpreis für
Wirtschaftswissenschaften eingebracht hat (wenigstens erwähnt sei ein längst
vergessener Vorläufer der Humankapitaltheorie: Rudolf Goldscheid (1870-1931),
vgl. insbesondere Rudolf Goldscheid, Entwicklungswerttheorie, Entwicklungsökonomie,
Menschenökonomie [Eine Programmschrift], 1908). Das zusammenfassende
Werk von Schultz trägt den sprechenden Titel: »In Menschen investieren.
Die Ökonomik der Bevölkerungsqualität« (1981). Versteht man
unter Humankapital mit Friedrich List die Gesamtheit der in einer Volkswirtschaft
eingesetzten Kompetenzen der Arbeitskräfte, so folgt daraus, daß Humankapital
»von endlicher Lebensdauer und an Menschen gebunden« ist, so daß
die Zahl der Erwerbstätigen als erster Bestimmungsfaktor für die Größe
des Humankapitals einer Volkswirtschaft gelten kann (Stefan Homburg, Humankapital
und endogenes Wachstum, 1995, S. 341). Die zweite Bestimmungsgröße
betrifft die Qualifikation, Gesundheit und Motivation der Arbeitskräfte,
wie sie durch familiale und außerfamiliale Sozialisation, durch Schul-,
Berufs- und Weiterbildung, durch Berufserfahrung sowie die zahlreichen Maßnamhen
des betrieblichen, privaten und öffentlichen Gesundheitswesen beeinflußt
werden. (Ebd., S. 73-74).Humankapital meint präzise
»das in ausgebildeten und lernfähigen Individuen repräsentierte
Leistungspotential einer Bevölkerung. Es ist eine personengebundene Größe,
deren Wert sich über Zeit verändern kann, auch in Abhängigkeit
von Veränderungen im Umfeld des Humankapitaleinsatzes« (Günter
Clar, Julia Doré / Hans Mohr, Humankapital und Wissen, 1997, S.
VI). Hiervon wird unterschieden das »Sozialkapital« und das »Wissenskapital«,
nämlich das »nicht an Personen gebundene, ökonomisch relevante
Wissen«, wie es entweder allgemein zugänglich in Bibliotheken, Datenbanken
u.ä. oder aber in Organisationen als spezifische Ressource (»Organisationswissen«)
vorhanden ist (ebd., S. VIf.). Die Rede vom »Humankapital«, das durch
»Investitionen« in die Quantität und Qualität der Bevölkerung,
insbesondere des Bevölkerungsnachwuchses, entsteht, ist ein kognitiver Durchbruch
im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften, um sowohl den technischen Fortschritt
zu entmystifizieren als auch der Bevölkerungsentwicklung den ihr zukommenden
Platz in der Theorie zu ermöglichen. (Ebd., S. 74).Ein
entscheidender Grund, weshalb die bisher vorherrschenden wirtschaftspolitischen
Auffassungen die Rolle der Familie für die Volkswirtschaft unterschätzen,
ist in der Auffassung zu suchen, daß die Aufwendungen für Kinder eine
Frage des privaten Konsums seien. Wenn man ... vorschlägt, die Aufwendungen
der Eltern für ihrer Kinder wie auch die staatlichen Familienbeihilfen und
die Aufwendungen für die Bildungspolitik nicht mehr als Konsumausgaben, sondern
als Investitionen, als Bildung von Humankapital begreift, wird die enorme
Investitionslücke sichtbar, die sich die Bundesrepublik durch ihre
niedrige Fertilität in den letzten ... Jahrzehnten geleistet hat. (Vgl. Abschnitt
3.4)
(Ebd., S. 75).Das Wachstum des Humankapitals ist ... gerade in
fortgeschritten modernisierten Gesellschaften der Schlüsselfaktor auch für
weiteren technischen Fortschritt. .... Der Zusammenhang zur Bevölkerungsentwicklung
ist ... durch die Humankapitalbildung vermittelt. (Ebd., S. 75).Die
Kommission für den Fünften Familienbericht der Bundesregierung
hat daher den Begriff des Humanvermögens vorgezogen, um auf die Leistungen
der Familien und des Bildungswesens aufmerksam zu machen. Damit sind gegenüber
dem Kapitalbegriff drei Umakzentuierungen verbunden. Erstens: In der Sprache wirtschaftlicher
Bilanzen fällt »Vermögen« in den Bereich der Aktiva, »Kapital«
dagegen in den Bereich der Passiva, also der Verbindlichkeiten eines Unternehmens;
die Handlungskompetenzen der Mitarbeiter gehören jedoch wie die Sachinvestitionen
auf die Seite der Aktiva, der Ressourcen einer Unternehmung bzw. einer Volkswirtschaft
... Zum zweiten läßt sich statt von Handlungskompetenzen auch im Sinne
von »Handlungsvermögen« eines Menschen sprechen, so daß
der Vermögensbegriff sich sowohl für die mikrotheoretische Bezeichnung
der individuellen Kompetenzen als auch für die makrotheoretische Bezeichnung
der Summe aller Kompetenzen eignet. (Vgl. Hans-Günter Krüsselberg, Ökonomische
Analyse der werteschaffenden Leistungen von Familie im Kontext von Wirtschaft
und Gesellschaft, 2002, S. 95). Schließlich und vor allem soll mit dieser
Umbenennung der ökonomische Reduktionismus vermeiden werden, welcher mit
der Humankapitaltheorie verbunden ist. Denn der gesellschaftliche Fortschritt
braucht nicht nur Arbeitskräfte, sondern ebenso kompetente Konsumenten, verantwortliche
Eltern, partizipationsfähige Bürger und aktive Mitglieder einer Zivilgesellschaft.
Zu berücksichtigen sind also nicht nur die Fachkompetenzen (Arbeitsvermögen)
einer Bevölkerung, sondern ebenso deren Daseinskompetenzen (Vitalvermögen).
(Ebd., S. 76).»Die Bildung von Humankapital umfaßt
vor allem die Vermittlung von Befähigungen zur Bewältigung des Alltagslebens,
das heißt: den Aufbau von Handlungsorientierungen und Werthaltungen in der
Welt zwischenmenschlicher Beziehungen. gefordert ist sowohl der Aufbau sozialer
Daseinskompetenz (Vitalvermögen) als auch die Vermittlung von Befähigungen
zur Lösung qualifizierter gesellschaftlicher Aufgaben in einer arbeitsteiligen
Wirtschaftsgesellschaft, der Aufbau von Fachkompetenz (Arbeitsvermögen
im weiten Sinne).« (Bundesministerium für Familie [Hrsg.], Familien
und Familienpolitik, 1994, S. 28). Diese Unterscheidung ist breiter als die
von Gary S. Becker (Humankapital, 1975) eingeführte zwischen allgemeinem
und spezifischem Huamnkapital; Becker unterscheidet nur zwischen transferierbarem
und nicht tranferierbarem, d.h. an bestimmte Tätigkeiten oder Firmen gebundenen
Wissen. (Ebd., S. 76).Wissenskapital ist ... nur durch hochqualifizierte
Arbeitskräfte zu entwickeln, ja selbst seine Nutzung setzt spezifische Qualifikationen
voraus. (Ebd., S. 77).Neben ihrem wachstumstheoretischen
Aspekt ist die Humankapitaltheorie in unserem Zusammenhang in zweierlei Hinsicht
von Belang: Sie erklärt zum einen die Tendenz zu einer immer deutlicheren
Kinderarmut: Eltern interessieren sich stärker für die Qualität
als für die Quantität ihrer Kinder, und zwar um so eher, je höher
ihr eigenes Humankapital ist. (Vgl. Marc Nerlove, Towards a New Theory of Population
and Economic Growth, 1974). Kulturell läßt sich dies mit der aufkommenden
Norm »verantworteter Elternschaft« in Zusammenhang bringen. (Vgl.
Abschnitt 5.5).
Zugleich steigt mit dem individuellen Humankapital der Wert der eigenen Zeit.
Da das Erziehen sehr zeitintensiv ist, steigen die Opportunitätskosten des
Kinderhabens, d.h. der Wert des Verzichtes auf andere Möglichkeiten. (Vgl.
T. W. Schultz, In Menschen investieren - Die Ökonomik der Bevölkerungsqualität,
1981, S. 69ff.). Ob und inwieweit der gesteigerte Aufwand für Erziehung und
Bildung die Reduktion der Geburtenzahlen mit Bezug auf die Humankapitalbildung
in Vergangenheit und Zukunft kompensiert, läßt sich mangels einschlägiger
Modelle nur für einzelne Zeitpunkte schätzen. (Ebd., S. 77).
3.4) Geburtenrückgang als Investitionslücke
In
diesem Sinne sei hier versucht, den wirtschaftlichen Wert der unterlassenen
Investitionen in das Humanvermögen der Bundesrepublik durch die Geburtenausfälle
zwischen 1972 und 2000 zu schätzen. Die wesentlichen Vorarbeiten hierzu haben
Heinz Lampert (vgl. Priorität für die Familie, 1996) für
den Anteil der familialen Aufwendungen und Georg Ewerhard (vgl. Humankapital
in Deutschland, Bildungsinvestitionen, Bildungsvermögen und Abschreibungen
auf Bildung, 2001; Bildungsinvestition, brutto und netto, 2002) für
die Bildungsaufwendungen geleistet. (Ebd., S. 77-78). |
»Geburtendefizit«
oder ... »Geburtenlücke« .... Aufgrund der Überlegungen
in Abschnitt 2.3
bietet sich als Standard das demographische Gleichgewicht an, also eine Nettoreproduktionsrate
von 1,0. Da für ganz Deutschland (einschließlich DDR) nur die allgemiene
Geburtenziffer (TFR) als vollständige Zeitreihe verfügbar ist, sei statt
dessen dieser Annäherungsindex mit dem Standardwert 2,0 verwendet. (In der
Nettoreproduktionsrate wird im Gegensatz zu TFR die weibliche Sterblichkeit bis
zum mittleren Gebäralter mit berücksichtigt. Nach der Sterbetafel von
1997/'99 sterben noch 1,3% aller geborenen Mädchen vor Erreichung des 30.
Lebensjahres [entspricht annähernd dem mittleren Gebäralter]. Der genaue
Gleichgewichtswert wäre demnach eine TFR von 2,026, soch wird hier auf diese
[die Investitionslücke vergrößernde] Korerktur verzichtet.). Auf
der Basis dieser Annahme stellt sich die Geburtenlücke zwischen 1972 und
2000 gemäß Abbildung 3.2 dar. Addiert man die Jahreswerte, so gelangt
man zu einer Geburtenlücke von insgesamt 9,6 Mio. Geburten. Im Jahresdurchschnitt
entspricht dies einer Geburtenlücke von 28,8%; betrachtet man dagegen nur
das Jahrzehnt 1991-2000, so beträgt die Geburtenlücke 33,8%, also ein
Drittel. Diese 9,6 Mio. nicht geborenen und nicht qualifizierten Menschen fehlen
uns in den kommenden Jahren nicht nur als Arbeitskräfte, sondern auch als
potentielle Mütter und Väter. (Ebd., S. 80-81).Legt
man die Ergebnisse von Heinz Lampert (Priorität für die Familie,
1996, S. 30ff.) zugrunde, denen zufolge die durchschnittliche Aufbringungskosten
eines Kindes bis zum 18. Lebensjahr, soweit sie von den Eltern getragen werden,
bei bescheidener Bewertung des unentgeltlichen Zeitaufwands für Pflege und
Erziehung ca. 306000 DM betragen, so entspricht dies - auf die konstatierte Geburtenlücke
hochgerechnet - einem Betrag von 3 Bio. DM (Wert 1992). Dazu kommen im Anschluß
an Ewerhard noch einmal 1,8 Bio. DM an unterlassenen Bildungsaufwendungen, insgesamt
als 4,8 Bio. DM. Die »Investitionslücke« in das deutsche Humankapital
infolge der unter dem Reproduktionsniveau liegenden Fertilität während
der letzten dreieinhalb Jahrzehnte darf also in erster Annäherung auf mindestens
4800 Milliarden DM oder 2500 Milliarden Euro geschätzt werden.
(Ebd., S. 81-82).Da alle verfügbaren Daten darauf hinweisen,
daß auch die Investitionsquote mit Bezug auf auf das Sachkapital in den
letzten dreieinhalb Jahrzehnten einem rückläufigen Trend folgt (erstmals
war die staatliche Sachvermögensbildung im Jahre 2003 sogar negativ; vgl.
FAZ, 23.06.2004), muß die These gewagt werden, daß die deutsche
Bevölkerung seit mindestens einer Generation über ihre Verhältnisse
lebt. In der deutschen Volkswirtschaft wurde zu viel konsumiert und zu wenig
gespart und investiert. Die Arbeitszeiten wurden stärker gekürzt, als
für eine nachhaltige Entwicklung tunlich ist. Ebenso wurde von einem erheblichen
Anteil der Bevölkerung auf Zeit für das Aufbringen von Kindern verzichtet
- vorzugsweise zugunsten von Freizeit. Es liegt nahe, hier philosophische oder
kulturkritische Gedanken bezüglich der Neigung der menschlichen Gattung zum
Luxurieren und zum Verdrängen anzuschließen, doch sei dies anderen
(z.B. Meinhard Miegel, Die deformierte Gesellschaft, 2002) überlassen.
(Ebd., S. 82).Es liegt auf der Hand, daß das Stagnieren der
Investitionen auch dem Wirtschaftswachstum und der Beschäftigung abträglich
ist. (Ebd., S. 82).
3.5) Der wirtschaftliche Wert der Zuwanderung (= negativ!
HB)
Man könnte gegen die vorangehenden Befunde
einwenden, daß die Bevölkerung der Bundesrepublik im gleichen Zeitraum
um ca. 4 Millionen Einwohner zu gut 40% kompensiert worden ist. Mag das in Köpfen
gerechnet auch stimmen, so stimmt es nicht mehr in der Perspektive des Humankapitalansatzes.
Wie Untersuchungen des Ifo-Instituts München zeigen, ist die Bilanz der bisherigen
Zuwanderung sehr ambivalent, insbesondere infolge der geringen Durchschnittsqualifikation
und der wesentlich höheren Arbeitslosigkeit. Diese beiden Faktoren erklären,
weshalb die Bilanz der Zuwanderung für die öffentlichen Haushalte ...
negativ ist. (Ebd., S. 83).Nach
allem, was wir über die Wirklichkeit der Zuwanderung nach Deutschland wissen,
erscheinen die Sozialisationsbedingungen und Bildungsverläufe bei den Kindern
der einheimischen Bevölkerung im Durchschnitt deutlich günstiger als
zum mindesten bei der ersten Einwanderungsgeneration und ihren Kindern. Was aus
der zweiten Generation wird, hängt essentiell von Integrationsleistungen
der ersten Generation und ihrer deutschen Umgebung ab. Hierfür wird in Deutschland
zumindest von staatlicher Seite bisher nur wenig getan. Das wird auch durch die
Ergebnisse des internationalen Vergleichs von Bildungs- bzw. Schulleistungen (TIMS,
PISA) unterstrichen. Man muß deshalb den Beitrag, den die Zuwanderung
zur Minderung der skizzierten Investitionslücke in Humankapital bisher geleistet
hat, als deutlich unterproportional zur Zahl der Zuwanderer einschätzen.
Für eine genaue Gewichtung fehlen allerdings Methoden und verläßliche
Daten. (Ebd., S. 85-86).
3.6) Demographischer Wandel und Produktivitätsentwicklung
Es
sind vor allem die Jüngeren, welche sich neuere Technologien rasch aneignen
und sich für neue Tätigkeitsfelder interessieren. (Ebd., S. 87).Eine
Stagnation und erst recht ein langfristiges Schrumpfen der Bevölkerung beeinträchtigt
die Produktivitätsentwicklung jedoch zusätzlich auf mittelbare Weise.
(Ebd., S. 89).Die Nachfrage nach Luxusgütern und erst recht
die exportabhängige Nachfrage werden von einem Bevölkerungsrückgang
im Inland dagegen unmittelbar weniger betroffen (Ebd., S. 89).»The
most important difference between short-run and long-run comparisions of productivity
is that changes in populations size and total demand are not very important influences
on prductivity in the short run, though they are overwhelmingly important in the
long run.« (Julian L. Simon, Research on Population and Productivity
Growth in the Westerrn World, 1984). (Ebd., S. 89).
3.7) Zusammenfassung: Mutmaßliche wirtschaftliche Folgen eines langfristigen
Bevölkerungsrückgangs
Nimmt man die Einsicht ernst,
daß die zukünftige Wirtschaftsentwicklung in den bereits hoch entwickelten
Ländern wesentlich von der Zunahme des Humankapitals und des Wissenskapitals
abhängt, so gewinnen der Umfang und die Qualifikation des Nachwuchses ein
ökonomisches Gewicht, das ihnen in der herkömmlichen Ökonomie verwehrt
wird. Während es auf der Seite der Binnennachfrage eher auf die Veränderung
der Gesamtbevölkerung, also die Zahl (und natürlich auch die Kaufkraft)
der Konsumenten ankommt, ist auf der Angebotsseite vor allem Quantität und
Qualität des Nachwuchses entscheidend für die Innovationsfähigkeit
und fortgesetzte Produktiviätssteigerung der Wirtschaft. Es geht hier also
nicht um die schlichte Quantität des Nachwuchses, wie die demographische
Betrachtungsweise suggeriert. Es kommt vielmehr auf die Entwicklung des Humanvermögens
an. Insofern kann grundsätzlich eine Fertilitätslücke durch bessere
Qualifikation vorhandener und zuwandernder Kinder (woher
denn? Zuwanderer mit Qualifikation gibt es nicht! HB) bis zu
einem gewissen Grade kompensiert werden. Allerdings ist das Kompensieren ungünstiger
Sozialisationsbedingungen keineswegs einfach. (Ein Riesenproblem!
HB). Außerdem ist die behauptete Annahme der Leistungsfähigkeit
älterer Menschen keine Naturkonstante. Fähigkeiten, welche gebraucht
werden, nehmen mit dem Alter meist nur geringfügig ab. Daß langdauernde
Arbeitslosigkeit zu einem Leistungsabfall führt, ist deswegen schwer zu bestreiten.
Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, wie sie aufgrund der demographischen
Persepektiven dringend zu wünschen wäre, kann nur gelingen, insoweit
eine eingermaßen kontinuierliche Beschäftigung gerade älterer
Arbeitskräfte ermöglicht wird. Das ist nicht nur eine Aufgabe staatlicher
Beschäftigungspolitik. (Der
Staat muß sich sowieso viel mehr heraushalten! HB). Vielmehr
geht es hier auch um Mentalitätsänderungen - bei Arbeitgebern und Arnbeitnehmern.
Die Perspektive lebenslangen Lernens gewinnt unter den Bedingungen einer
alternden Bevölkerung zusätzliche Dringlichkeit. (Ebd., S. 90-91).Vor
allem in regionaler Hinsicht ist mit einer Ausbreitung schrumpfender Städte
zu rechnen .... Das Schrumpfen stellt dabei einen interdependenten Prozeß
von sinkender Wirtschaftskraft, Abwanderung und Abbau bzw. Veralten öffentlicher
Einrichtungen dar. In ökonomischer Hinsicht dürfte vor allem der Preisverfall
von Grundstücken und Immobilien sowie sinkende Kreditwürdigkeit schrumpfender
Gebietskörperschaften und der lokalen Wirtschaft ein verschärfendes
Moment darstellen. (Ebd., S. 91).Wenn ein Hochlohnland
wie Deutschland mit der Produktivitätssteigerung und der Innovativität
seiner Produkte nicht mehr mithalten kann, wenn also sein Humanvermögen nicht
mindestens ebenso rasch zunimmt wie in Ländern mit einer nachholenden Entwicklung,
muß mit Beschäftigungs- und Wohlstandsverlusten und erbitterten Verteilungskämpfen
gerechnet werden. (Ebd., S. 77).Weiteres Produktivitätswachstum
setzt ja vor allem weitere technische und organisatorische Innovationen voraus,
die mit weiter sinkenden Arbeitskräftenachwuchs sich weniger leicht realisieren
lassen als in der Vergangenheit. (Ebd., S. 90-91).Die meisten
Beiträge ... unterscheiden ... nicht, ob das demographische Altern sich bei
einer wachsenden, stationären oder schrumpfenden Bevölkerung vollzieht.
Eben hierauf kommt es jedoch nach der hier vertretenen Position an: Ein Altern,
das mit einem weiteren Zuwachs an Produzenten und Konsumenten einhergeht, bietet
neue Investitionsanreize auch in konventionellen Wirtschaftssektoren und damit
generell eine günstigere Wirtschaftsperspektive als eine schrumpfende Bevölkerung.
Und ein Nachwuchspotential, das das Erwerbspersonenpotential zumindest ersetzt,
bildet günstigere Voraussetzungen für die Innovationsfähigkeit
der Wirtschaft wie auch für die Stabilisierung der Beitragsbasis der Sozialversicherungssysteme
als eine schrumpfende Nachwuchsbasis. Das zentrale Problem unserer demographischen
Entwicklung ist nicht die Zunahme alter, sondern die Abnahme junger Menschen.
Wir koexisteiren, um es mit Ursula Lehr (Die Jugend von gestern - und die Senioren
von morgen, 2003, S. 3) zu sagen, nicht mit einer »Überalterung«,
sondern mit einer »Unterjüngung« der Bevölkerung.
(Ebd., S. 94).
4) Soziale Folgen des Bevölkerungsrückgangs (S. 95-115)
4.1) Schwierigkeiten der Integration demographischer Sachverhalte in die Soziologie
»Bevölkerung«
ist kein gesellschaftliches Funktionssystem, sondern lediglich ein statistischer
Begriff für die Menge an »natürlichen« (im Unterschied zu
»juristischen«) Personen, die mit bestimmten sozialen Einrichtungen
(z.B. Nationalstaat, Stadt, Kirche, Unternehmung, Sozialversicherung) durch Mitgliedschaft
oder anderer Beziehungen (z.B. als Publikum oder Klientel) verbunden sind.
(Ebd., S. 97).Natürliche Personen sind i.d.R. zugleich Mitglieder
in zahlreichen Organisationen; und es gehört zum Ethos der Menschenrechte,
daß allen Menschen ein Recht auf Inklusion in alle gesellschaftlichen Teilbereiche
zugesprochen wird. Man kann also nicht etwa die Mitglieder unterscheidlicher Organisationen
eines Landes addieren und daraus auf die Gesamtbevölkerung schließen.
Selbst eine Addition der Einwohner aller politischen Einheiten eines Staates führt
nur dann zu in etwa korrekten Ergebnissen, wenn es gelingt, mehrfache Wohnsitze
(multiple Mitgliedschaft) und Nichtseßhaftigkeit (Exklusion) zu berücksichtigen.
Dennoch ist nicht zu bezweifeln, daß die Zahl der für bestimmte Sozialsysteme
relevanten Personen und ihre Veränderung eine wichtige Dimension sozialen
Handelns und soziologischer Erklärung darstellt. (Ebd., S. 97-98).Die
meisten modernen Organisationen sehen ein Wachstum ihrer Mitgliederzahlen als
Erfolg an. Mitgliederzahlen symbolisieren Macht, und soweit sie sich aktivieren
lassen, können sie auch zu einem realen Machtfaktor werden. Auch die Menge
an Nichtmitgliedern, die sich für die Leistungen einer Organisation interessiert,
ist für dieselbe relevant: beispielsweise als Nachfrager ihrer Leistungen
oder als Unterstützer ihrer politischen Ziele. Wie aber hängen diese
Größeninteressen mit der Bevölkerungsentwicklung zusammen?
(Ebd., S. 98).Soziologisch relevant sind demographische Veränderungen
unmittelbar, insoweit sie Veränderungen der Humanpotentiale mit sich
bringen. Nur natürliche Personen verfügen auf elementare Weise über
Motive und Fähigkeiten, um sozial relevante Prozesse in Gang zu bringen.
Sie werden dazu durch Sozialisation und eigenes Lernen auf der Basis von Zugehörigkeit
zu Organisationen in unterschiedlicher Weise befähigt. Es besteht also
stets eine Wechselwirkung zwischen dem jeweils erreichten Stand gesellschaftlicher
Entwicklungen und den Humanvermögen in einer Gesellschaft. Diese Humanvermögen
werden zu Humanpotentialen für bestimmte gesellschaftliche Leistungszusammenhänge,
insoweit es auf die Zahl ihrer Träger ankommt. (Ebd., S. 98).Mit
der Unterscheidung von »Humanvermögen« und »Humanpotential«
wird auf zwei Differenzen hingewiesen: zum einen auf die System-/Umweltdifferenz:
»Humanvermögen« bezieht sich auf die in einem sozialen System
abrufbaren menschlichen Fähigkeiten, also auf dessen personelle Ressourcen.
»Humanpotential« auf die in der Umwelt eines sozialen Systems
kontingent vorhandenen Personen, deren Fähigkeiten nur durch Akte der Selektion
seitens eines sozialen Systems in Anspruch genommen werden können. Zum anderen
ist der Humanvermögensbegriff primär fähigkeitsbezogen;
Humanvermögen als Aggregatbegriff kann entweder durch vermehrte Qualifikation
vorhandener Personen oder durch Heranziehung zusätzlicher Personen gesteigert
werden. Der Begriff des Humanpotentials dagegen ist ausschließlich auf die
Zahl der Personen bezogen und damit unmittelbar an demographische Begrifflichkeiten
anschlußfähig. Von Humanpotential wird hier in analogem Sinne zum Erwerbspersonenpotential
in der Theorie des Arbeitsmarkts gesprochen. Der Humanvermögensbegriff stellt
dagegen eine soziologische Erweiterung des ökonomischen Humankapitalbegriffs
dar (vgl. »Sozialstaat
und Humanvermögen« und »Die
zunehmende Relevanz der Humanvermögen für die Produktivitätsentwicklung«).
(Ebd., S. 98-99).Bezogen auf bestimmte gesellschaftliche Teilsysteme
lassen sich folgende Arten von Humanpotentialen unterscheiden:1.
| Erwerbspotential: |
sein demographisches Korrelat ist die Bevölkerung im erwerbsfähigen
Alter; | 2. | Fortpflanzungspotential: | sein
demographisches Korrelat ist die weibliche Bevölkerung im fortpflanzungsfähigen
Alter; | 3. | Zielgruppenpotentiale: | d.h.
die Gesamtheit derjenigen, die grundsätzlich für bestimmte öffentliche
Leistungen in Frage, kommen, z. B. die Bevölkerung im Rentenalter oder Jugendliche
im schulpflichtigen Alter; | 4. | Politische
Potentiale: | d.h. insbesondere
die Gesamtheit der durch Nationalität und Alter zur Beteiligung an politischen
Entscheidungen qualifizierten Bevölkerung, aber auch die Menge an Personen,
die aufgrund bestimmter gemeinsamer Merkmale wie regionaler, religiöser oder
ethnischer Zugehörigkeit bzw. eines bestimmten sozialen Status ein Mobilisierungspotential
für bestimmte Interessen darstellen. | Die unmittelbare
Wirkungsweise demographischer Veränderungen auf gesellschaftliche Zusammenhänge
besteht somit in der quantitativen Verschiebung bestimmter Humanpotentiale.
Dabei können sich Humanpotentiale entweder nach ihrer Größe oder
nach ihrer Struktur verändern. Strukturveränderungen sind beispielsweise
die Zunahme von Ausländern am Erwerbspotential oder das Altern der politischen
Potentiale. Alle Folgewirkungen sind als durch diese Verschiebungen vermittelt
anzusehen. Nur insoweit, als die Vermutung begründet werden kann, daß
Struktur- und Dimensionsveränderungen von Humanpotentialen nachhaltige Wirkungen
für bestimmte Gesellschaftsbereiche zeitigen, kann von einer soziologischen
Relevanz demographischer Veränderungen die Rede sein. (Ebd., S. 98-99).Derartige
Beweisführungen leiden unter der Schwierigkeit, daß demographische
Veränderungen stets nur ein Moment des Wandels unter anderen sind und sich
zudem sehr langsam entwickeln. Für nahezu alle beobachtbaren wirtschaftlichen
und sozialen Veränderungen lassen sich deshalb auch andere Erklärungen
plausibel machen; die Effekte demographischer Veränderungen verstecken
sich sozusagen hinter kurzfristigeren Wirkungsketten. Das spricht allerdings
nicht gegen ihre langfristig um so nachhaltigere Wirksamkeit. (Ebd., S.
99-100).
4.2) Die Wechselwirkung von demographischer und sozialer Entwicklung
»Schrumpfende
Städte« .... Für entwickelte Industrieländer erscheinen ...
vor allem drei Transformationsprozesse charakteristisch: Deindustrialisierung,
Suburbanisierung, demographischer Wandel. In den Krisenregionen Ostdeutschlands
treffen diese Tendenzen zusammen. Eine niedrige Fertilität spielt außer
in Ostdeutschland vor allem in Japan eine erhebliche Rolle, wo die Insellage und
kulturelle Eigenarten zudem eine kompensierende Zuwanderung bisher weitgehend
verhindert haben. Selbst in Tokio leben lediglich 2,7% registrierte Ausländer.
(Vgl. Yasuyuki Fujii, Schrumpfung in Japan, in: Schrumpfende Städte,
Hrsg.: Philipp Oswalt, 2004, S. 96-100). Japan weist jedoch eine intensive Binnenwanderung
auf, so daß sich die Bevölkerung vor allem in drei metropolitanen Regionen
der Hauptinsel konzentriert und das flache Land sowie marginal gelgene, häufig
früh industrialisierte Städte sich entvölkern und überaltern.
Im Vergleich zu Deutschland spielt eine kompensierende Regionalpolitik kaum eine
Rolle, so daß die Verhältnisse dort schon heute gravierender sind und
die Zukunftsperspektiven aus demographischer Sicht ungünstiger. .... Einigen
Städten ist es gelungen, den Schrumpfungsprozeß aufzuhalten und zu
attraktiven Kulturzentren in einem zersiedelten Umland zu werden (z.B. Liverpool).
In anderen Fällen dominiert soziale Desorganisation, die sich im Verfall
der Bauten und der sozialen Infrastruktur, teilweiser Verelendung - vor allem
von alten Menschen und Kindern -, zunehmenen sozialen Konflikten und wachsender
Kriminalität äußert. (Ebd., S. 100-101).Im
Vergleich zu Entwicklungen im Ausland vollziehen sich die regionalen Schrumpfungen
in Deutschland bisher noch kleinräumiger und weniger dramatisch. (Ebd.,
S. 101).
4.3) Mentalität und Konkurrenz
... Mentalität als
»malthusianisch«, weil sie entsprechens dem Pessimismus von Malthus
hinsichtlich der Folgen des Bevölkerungswachstums stets die größere
und dynamischere Größe (z.B. Geburten) der kleineren oder statischeren
Größe (z.B. Nahrungsspielraum) anpassen will, und nicht umgekehrt.
(Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Die Überalterung - Ursachen, Verlauf, wirtschaftliche
und soziale Auswirkungen des demographischen Alterungsprozesses, 1960, S.
486ff.). Es geht ... also weder um eine Fortschrittsfeindlichkeit noch um bloße
Bequemlichkeit oder Egoismus, wie moralisiernede Zeitgenpossen urteilen nmöchten,
sondern um eine »Weise der Existenzdeutung, des Fürchtens, Hoffens
und denkens, des Rechthabens und noch häufiger des Sich-Täuschens«
(Alfred Sauvy, Théorie génerale de la population, vol II: Biologie
sociale, 1954, S. 158; meine Übersetzung). In Deutschland würde
man von »Bedenkenträgern« oder »Besitzstandswahrern«
sprechen .... (Ebd., S. 106).Inwieweit aber lassen sich aus
der französischen Parallelität zwischen demographischer Stagnation und
sozialer Erstarrung verallgemeinernde Schlußfolgerungen ziehen? Schon
die französische Revolution hatte die bis dahin herrschenden traditionalistischen
Strukturen erst durch Gewalt beseitigt, während in England, Deutschland und
anderswo die Modernisierung allmählich und ohne dauerhafte Konflikte in Gang
kam. Mentalitätsgeschichtlich müssen wir also tiefer in die Geschichte
zurückreichenden Gründen für den französischen Traditionalismus
und seinen Einfluß bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ausgehen. Seine Delegitimierung
durch das Regime von Vichy hat ebenfalls den Durchbruch Frankreichs zur bis dahin
»verschlafenen Modernisierung« gefördert. Ist Frankreich also
ein Sonerfall, der uns wenig lehren kann? (Ebd., S. 107).Auch
in Deutschland mehren sich die Stimmen einsichtiger Publizisten, welche ähnliche
Diagnosen vorbringen. Neben Meinhard Miegel, einem schon länger engagierten,
gelegentlich etwas grobschlächtigen Mahner (z.B. Meinhard Miegel, Die
deformierte Gesellschaft, 2002), seien hier zwei Stimmen erwähnt, die
vor allem den Zusammenhang zwischen Mentalität und demographischer Entwicklung
hervorheben: Friedberg Pflüger (Ein neuer Weltkrieg? Die islamische
Herausforderung des Westens, 2004) erinnert nicht nur an die historische Tradition
einer in Aufstiegs- und Niedergangsmetaphern denkenden Kulturtheorie, sondern
bringt auch bedenkenswerte Beobachtungen hinsichtlich des gegenwärtigen Zustands
Europas und insbesondere Deutschlands angesichts der islamischen Herausforderung
vor. Seine Diagnose trifft sich bis in Details mit derjenigen Sauvys vor einem
halben Jahrhundert:»Europa
ist meilenweit davon entfernt, die politische, kulturelle und philosophische Bedeutung
zu haben, die es in früheren Jahrhunderten besaß. Die demographischen
Daten zeigen nach unten, ebenso der Anteil Europas am Welt-Bruttosozialprodukt.
Wer es nicht vermag, die ökonomische Basis herzustellen, der
verliert zunehmend auch den Einfluss auf den ideellen Überbau
in der Welt. Wissenschaftlich und technisch mag der Westen, vor allem die USA,
noch für lange Zeit eine enorm starke Stellung einnehmen. Was Freizeit, Wohlstand
und soziale Sicherheit angeht, wird es im Westen noch lange bessere Verhältnisse
geben als in den meisten anderen Regionen der Welt. Aber gleichzeitig breitet
sich in den älter werdenden Gesellschaften des Westens - vor allem in Westeuropa
- Bequemlichkeit aus. Man lebt nicht mehr für die Zukunft, sondern in den
Tag hinein.« | In ähnlicher Weise sprach Peter
Graf Kielmannsegg kürzlich mit Bezug auf Deutschland von »Zukunftsverweigerung«
(Peter Graf Kielmannsegg, Zukunftsverweigerung, in: FAZ, 23.05.2003, S.
11). Er erwähnte die demographische Krise, die Zuwanderung und die genetische
Revolution als die drei Problemkreise, an denen sich die Zukunftsverweigerung
besonders deutlich manifestiere. Alle drei passen nicht in die traditionellen
Fronten deutscher Politik, und dies trägt gewiß zu den Schwierigkeiten
bei. Doch erscheint die Haltung allgemeiner: Es fällt auf, daß in Deutschland
keine Diskussion darüber stattfindet, was die Aufgaben der kommenden Jahrzehnte
sind und was sich ändern müßte, um ihnen gewachsen zu sein. Es
gibt kaum Visionen für Deutschland im Jahre 2020, und wenn schon, so sind
sie düsterer Art. Vor allem die Osterweiterung der EU stellt keineswegs nur
eine Bedrohung, sondern auch eine Chance für den »Standort Deutschland«
dar, sofern es gelingt, das gegenwärtige Lohngefälle durch kurz- und
mittelfristig wirksame Maßnahmen abzufedern. Die Vorstellung, daß
eine Verlängerung der Arbeitszeiten zu einer Verfestigung der Arbeitslosigkeit
und nicht zu einer Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft
und damit zu längerfristigem Wachstum führe, entspricht der von Sauvy
als »malthusianisch« qualifizierten Mentalität. (Ebd.,
S. 107-109).Der Einfluß des demographischen Wandels auf fortschrittshemmende
Mentalitäten läßt sich nur indirekt plausibel machen, nämlich
durch den Wegfall des Bevölkerungswachstums als Stimulans für wirtschaftlichen
und sozialen Wandel. Die geringe wirtschaftliche Dynamik und die besitzstandsorientierte
Mentalität in Frankreich ließen sich durch das Fehlen »stimulierender
Ungleichgewichte« (vgl. Eugène Dupréel, Deux essais sur
les progrés, 1928, S. 336ff.) erklären, also durch den geringeren
Anpassungsdruck, durch das Fehlen größerer Mengen von mit Arbeitsplätzen
unversorgten jungen Menschen, die auf den Arbeitsmarkt drängen und auch bereit
sind, größere Risiken einzugehen. Konkurrenz und Wandel werden meist
nur von denen begrüßt, die dadurch zu gewinnen hoffen. Das sind in
der Regel eher die »Außenseiter« als die »Eingesessenen«.
Wenn es an Außenseitern fehlt - und die Beschränkung von Geburten wie
diejenige von Zuwanderung sind hochwirksame Formen der Prävention von Außenseitern
-, dann dominieren die »Eingesessenen«, welche wenig Interesse an
Veränderung haben. (Ebd., S. 109).Aus soziologischer
Sicht lassen sich also öffentlich dominante Mentalitäten eher auf die
Opportunitätsstrukturen und ihre Veränderung als auf psychische Einstellungen
zurückführen. Unkontrollierte Konkurrenz ist kein natürliches Bedürfnis
des Menschen, sondern allenfalls unumgängliche Herausforderung, deren Intensität
vom Gewicht der Konkurrenten und den erwartbaren Gewinnen oder Verlusten abhängt.
Fehlt es an Konkurrenz, so ist das Überhandnehmen von Gewohnheiten und ihre
normative Verfestigung, im Grenzfall also strukturelle Sklerose, ein erwartbares
Ergebnis. (Um nicht »neoliberal« mißverstanden zu werden, sei
betont, daß Konkurrenz ebenso ambivalent ist wie Sicherheit. Ein Übermaß
an Konkurrenz führt nicht nur zum Ausschluß der Schwächsten, sondern
vielfach auch zur Anomie. Doch dies ist ein anderes Kapitel.). Die gegenwärtigen
Globalisierungstendenzen wirken allerdings einer Sklerotisierung im deutschen
Fall entgegen. (Ebd., S. 109).
4.4) Zwischenbetrachtung
Es sei zum Abschluß des ersten
Teils unserer Untersuchung versucht, die vielfältigen Indizien, die sich
aus den Analysen in Kapitel
3 und Kapitel
4 ergeben, in einen verallgemeinernden Zusammenhang zu stellen. (Ebd.,
S. 110).Es liegt im Horizont des die westliche Kultur ... prägenden
aufklärerischen Fortschrittsglaubens daher nahe, regressive Entwicklungen
negativ zu bewerten. Aber bereits die Beobachtung, das Wachstum stets mit Strukturwandel
verbunden ist, der auch regressive Teilprozesse aufweist, zeigt, daß dieses
eindimensionale Bewertungsraster nicht weit trägt. Zudem lassen sich aus
anderen weltanschaulichen (z.B. traditionalistischen oder ökologischen) Perspektiven
andere, z.B. zirkuläre, stationäre oder regressive Entwicklungsverläufe
durchaus positiv bewerten. (Ebd., S. 110).Die soziologische
Betrachtung von Prozessen gesellschaftlichen Wachstums und Schrumpfens hat derartige
Wertungen nur als Elemente ihres Erfahrungsobejektes zu berücksichtigen.
Aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht sind Pprozesse des Wachstums und des
Schrumpfens sachlich und zeitlich stets begrenzt. Das zeigt nicht nur der
Aufstieg und Zerfall von Kulturen und politischen Machtzentren, auch für
die Weltbevölkerung sind heute bereits Grenzen ihres bis vor kurzem sich
beschleunigenden Wachstums erkennbar. So sehr gegenüber einem optimistischen
Fortschrittsglauben auf Begrenzungen und Folgeproblemen zu insistieren ist, so
muß auch umgekehrt das Konzept des Schrumpfens von kulturkritischen Verfallsdiagnosen
deutlich abgesetzt werden. (Dies ist zunächst ein Gebot der wissenschaftlichen
Seriosität ...). (Ebd., S. 110).Der Umstand, daß
demographische Veränderungen in der Regel nicht ein einzelnes, sondern mehrere
gesellschaftliche Teilsysteme in ihrer raum-zeitlichen Lagerung einigermaßen
gleichzeitig betreffen, legt die Frage nach mittelbaren gesellschaftlichen
Wirkungen des demographischen Wandels nahe. Es liegen zahlreiche Partialanalysen
zu den unmittelbaren Folgen des demographischen Wandels für bestimmte Teilbereiche
vor, deren wichtigste hier nur stichwortartig zusammengefaßt seien:- | |
Der Wegfall des Bevölkerungswachstums und erst recht ein Bevölkerungsrückgang
senkt die Investitionschancen innerhalb eines Wirtschaftsraums und vermindert
das Wirtschaftswachstum. (Vgl. Kapitel
3). | - | | Der
Mangel an beruflichem Nachwuchs und eine verlangsamte Erneuerungsgeschwindigkeit
der erwerbstätigen Bevölkerung beeinträchtigen die Durchsetzung
von Innovationen und die Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktivität.
(Vgl. Kapitel
3). | - | | Ein
dauerhafter Bevölkerungsrückgang führt zum Rückgang der Binnennachfrage,
vor allem hinsichtlich der Deckung von Grundbedürfnissen, und zu Wertverlusten,
vor allem auf den Immobilienmärkten; das Altern der Bevölkerung führt
zu erhöhter Nachfrage nach personenbezogenen Dienstleistungen, deren steigende
Preise die potentielle Nachfrage nach anderen Gütern reduzieren. (Vgl. Kapitel
3). | - | | Die
Verschiebung des Verhältnisses zwischen dem Bevölkerungsanteil der Erwerbstätigen
und demjenigen der Nicht-mehr-Erwerbstätigen intensiviert Verteilungskonflikte
um Anteile des Volkseinkommens. | - | | Das
Altern der Wählerschaft veranlaßt Politiker, die Bedürfnisse älterer
Generationen ernster zu nehmen als diejenigen der nachwachsenden Generationen. | - | | Der
Rückgang der Frauen im gebärfähigen Alter beschleunigt den Geburtenrückgang
exponentiell. (Das gilt nur, wenn die Fertilität dauerhaft unter dem Reproduktionsniveau
liegt.). | - | | Die
Zunahme der Kinderlosigkeit in einem wachsenden Teil der Bevölkerung dünnt
die Verwandtschaftsnetze aus und läßt eine zunehmende Vereinzelung
im Alter erwarten. | - | | Es
entsteht massenhaft eine Lebensphase zwischen dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben
und dem »gebrechlichen Alter«, die bisher institutionell und kulturell
kaum strukturiert ist (»drittes Lebensalter«). | Aus
jedem dieser Befunde, welche bis auf den letzten unmittelbar an die Häufigkeitsverschiebung
von Humanpotentialen anschließen, lassen sich weiterreichende Konsequenzen
ableiten, die in der Regel umstritten bleiben. Denn fast in allen Fällen
lassen sich mögliche oder tatsächliche Gegentendenzen namhaft machen:
Das Wirtschaftswachstum kann durch Innovationen und durch Export stimuliert werden;
Produktivitätssteigerungen erscheinen weit stärker von unternehmerischen
Maßnahmen als von der Personalwirtschaft abhängig; Nachfrageausfälle
im basalen Bereich lassen sich durch Verschiebung der Nachfrage in den Bereich
superiorer Güter und Dienstleistungen kompensieren; Geburtenausfälle
lassen sich durch Zuwanderung kompensieren u.s.w.. Auch wenn somit die skizzierten
Befunde nicht geleugnet werden, so behaupten die verharmlosenden Diskurse, daß
die demographischen Effekte im Vergleich zu anderen Wirkungsgrößen
bescheiden bleiben und angesichts der Langsamkeit ihrer Entfaltung unschwer
durch Anpassungsmaßnahmen kompensiert werden können. Dieser
Verharmlosungs-Diskurs mag mit Bezug auf jede einzelne Partialanalyse plausibel
klingen, wenngleich die Argumente auch hier jeweils im einzelnen zu prüfen
wären. Die hier vertretene Gegenthese hebt aber auf die gleichsinnige
Wirkungsrichtung des demographischen Wandels mit Bezug auf nahezu alle Gesellschaftsbereiche
ab. Alle genannten Folgen des demographischen Wandels erscheinen als tendenziell
problemerzeugend, und es muß damit gerechnet werden, daß sich mehrere
dieser Veränderungen gegenseitig verstärken. Beispielsweise wird
zur Begründung der demographisch prognostizierten und mittlerweile in Deutschland
auch gesetzlich beschlossenen Verschiebungen im Beitrags-/Leistungsverhältnis
der Gesetzlichen Rentenversicherung darauf verwiesen, daß die absehbare
Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktivität ein derartiges Wachstum
des Volkseinkommens bewirken werde, daß trotz der Senkung des Rentensatzes
im Verhältnis zu den Löhnen die Realeinkommen der Rentner weiter ansteigen
können. Unsere Argumentation macht dagegen darauf aufmerksam, daß es
unter den Bedingungen einer stagnierenden und alternden Bevölkerung wesentlich
schwerer fallen werde, die volkswirtschaftliche Produktivität entsprechend
zu erhöhen (vgl. Abschnitt 3.6).
Wenn aber die These einer wirtschaftlichen »Wachstumsbremse« zutrifft,
dann verschärfen sich auch die Verteilungskonflikte; eine Umwidmung öffentlicher
Mittel für die dringend unterstützungsbedürftige Nachwuchssicherung
wird zusätzlich erschwert u.s.w.. Der Umstand, daß die Veränderung
der Humanpotentiale sich mit Bezug auf unterschiedliche gesellschaftliche
Teilbereiche gleichzeitig auswirkt, verstärkt ihre soziale und politische
Relevanz. (Ebd., S. 111-113).Nicht nur die Wirtschaftswissenschaft,
auch die Soziologie betont, daß die zunehmende Komplexität moderner
Gesellschaften mit einer Erhöhung ihrer Anpassungspotentiale einhergeht.
Die tiefgreifenden Transformationsprozesse seit Mitte des 18. J ahrhunderts lassen
sich überhaupt nur als Dynamisierung durch fortgesetzte Anpassungszwänge
begreifen, und das mit dem Rückgang der Kindersterblichkeit einsetzende säkulare
Bevölkerungswachstum spielte hier eine herausragende Rolle. Industrialisierung
und Verstädterung waren allerdings oft mit unerwünschten Nebenfolgen
verbunden, welche sich häufig zu Lasten der sozial Schwächsten auswirkten.
Diese Nebenfolgen wurden in Deutschland und Frankreich als »soziale Frage«
thematisiert und und bildeten den Ausgangspunkt für soziale Aktionen und
die staatliche Sozialpolitik. Im Kontext der beiden Weltkriege und der zwischenzeitlichen
Weltwirtschaftskrise wurden die Folgeprobleme der Dynamik durch nationalistische
Abschließung zu bewältigen gesucht. Nach dem Zweiten Weltkrieg versprach
das Projekt des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates, die Verlierer des sozioökonomischen
Wandels aufzufangen und ihnen entweder eine berufliche Umorientierung oder eine
ökonomische Sicherung außerhalb des Arbeitsmarktes zu ermöglichen.
Die ziemlich reibungslose Modernisierung wie auch die außenwirtschaftliche
Öffnung der europäischen Volkswirtschaften beruhte auf dem Bewußtsein
dieser erweiterten Reziprozität ebenso wie der sogenannte Generationenvertrag.
(Ebd., S. 113-114).Das heute in Europa der Vergangenheit angehörende
rasche Bevölkerungswachstum in den sich industrialisierenden Ländern
hat den Anpassungsdruck erhöht, aber gleichzeitig auch die Anpassungspotentiale.
Das Bevölkerungswachstum erscheint als ein relativ unspezifischer Faktor
der Schaffung und Verschärfung sozialer Konflikte, es begünstigte aber
gleichzeitig sozialen Wandel, d.h. produktive Konfliktlösungen; es handelte
sich um »stimulierende Ungleichgewichte«. In wachsenden Bevölkerungen
offener Gesellschaften sind Aufstiegschancen unter Wachstumsbedingungen größer,
die Gefahr der klassenmäßigen Verfestigung sozialer Unterschiede geringer.
Hölderlins hoffnungsvolle Sentenz »Wo die Gefahr wächst - wächst
das Rettende auch« trifft hier wie überhaupt für die krisenreichen
Modernisierungsprozesse der Neuzeit weitgehend zu. Wie aber steht es mit der drohenden
demographischen Schrumpfung und ihren Folgen? Wo deutet sich hier das Rettende
an? (Ebd., S. 114).Die gegenwärtigen Finanzierungsschwierigkeiten
der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland haben noch kaum demographische Ursachen,
doch wird die Notwendigkeit von Leistungskürzungen schon heute mit den absehbaren
demographischen Risiken begründet. Deren wachsende Wirkung ist unbestreitbar,
und zwar ist sie um so wuchtiger, je stärker der Nachwuchs zurückgeht.
Diese demographische Herausforderung trifft die deutsche, aber auch vergleichbare
Volkswirtschaften in einer Situation wachsenden Anpassungsdruckes unter dem Einfluß
der sogenannten Globalisierung. Die grundsätzlich hohen Anpassungspotentiale
moderner Gesellschaften sind am Ende der nationalstaatlichen Ära mit einem
steigenden Anpassungsdruck konfrontiert, der durch den demographischen Wandel
verstärkt wird. Zugleich reduziert jedoch der demographische Wandel die Anpassungspotentiale.
Darin liegt ein historisch neues Moment. (Ebd., S. 114-115).Die
zentrale Herausforderung moderner Gesellschaften durch die Bevölkerungsschrumpfung
besteht darin, daß Schrumpfungsprozesse in ihnen sozusagen strukturell nicht
vorgesehen sind, sondern daß bisher alle Probleme durch Wachstum gelöst
wurden. Wachsende Anpassungszwänge stoßen im Falle schrumpfender
Bevölkerungen auf sinkende Anpassungsfähigkeit. (In diesem Sinne:
Franz-Xaver Kaufmann, Makro-soziologische Überlegungen zu den Folgen eines
Bevölkerungsrückgangs in industriellen Gesellschaften, in: Bevölkerungsbewegung
zwischen Quantität und Qualität, Hrsg.: Franz-Xaver Kaufmann, 1975,
S. 59ff.). Ein Bevölkerungsrückgang, insbesondere ein Rückgang
der jüngeren Erwachsenen, wirkt sich als Restriktion für alle gesellschaftlichen
Teilsysteme aus. Während das Bevölkerungswachstum zu stimulierenden
Ungleichheiten führt, scheint ein Bevölkerungsrückgang in Verbindung
mit der Verschärfung sozialstaatlicher Verteilungskonflikte der Verschärfung
sozialer Ungleichheit und der Verfestigung sozialer Gegensätze Vorschub zu
leisten. Dabei ist weniger an unmittelbare Generationenkonflikte denn an regionale
und soziale Ungleichheiten und Konflikte zu denken. Was sich heute erst ansatzweise
im Verhältnis von Ost- und Westdeutschland zeigt, kann im Fortgang der demographischen
Ausdünnung des Ostens dramatische Formen annehmen. Die Verschärfung
sozialer Konflikte dürfte allerdings nur mittelbar durch demographische Entwicklungen
stimuliert werden, da hier politische Kräfte und ökonomische Gegebenheiten
die Form und Intensität der Konflikte bestimmen. (Ebd., S. 115).Vielleicht
kann eine musikalische Metapher den Einfluß des demographischen Faktors
auf die Gesellschaftsentwicklung abschließend verdeutlichen: Im Klang des
großen Symphonieorchesters hört man die Kontrabässe kaum. Aber
wenn sie fehlen, klingt alles dünn. (Ebd., S. 115).
5) Die Nachwuchsschwäche, ihre Bedingungen und Motive (S. 116-158)
Das
Hauptargument gegen eine politische Auseinandersetzung mit der Nachwuchskrise
ist die Annahem, dagegen lasse sich nicht viel tun. Demographische Entwicklungen
werden wie Naturtatsachen behandelt, an die man sich nur anpassen, die man aber
nicht politisch beeinflussen kann (vgl. Abschnitt 6.1).
Die Frage nach politischen Handlungsmöglichkeiten der Nachwuchsförderung
kann vernünftigerweise erst behandelt werden, nachdem Bedingungen und Motive
des Nachwuchsmangels verständlich geworden sind. Das ist das Ziel dieses
Kapitels. Zunächst seien die demographischen Sachverhalte skizziert, daran
anschließend ihre sozialwissenschaftliche Erklärung. (Ebd., S.
116).
5.1) Der säkulare Rückgang der Fertilität im Zuge der Modernisierung
Unter
»generatives Verhalten« versteht die Bevölkerungswissenschaft
nicht nur das Fortpflanzungsverhalten im engern Sinne, sondern den von ihr in
Form von statistischen Makrogrößen erfaßten Gesamtkomplexes der
Verhaltensweisen, welche für die Erklärung beobachtbarer Variationen
der Geburtenhäufigkeit von Belang sind: Partnerwahl und Eheschluß,
Geburtenkontrolle durch Empfängnisverhütung oder Abtreibung, eheliche
und außereheliche Fertilität, Gebäralter und Geburtsabstände,
Kinderwünsche und beobachtbare Kinderzahl pro Frau, um nur die wichtigsten
Größen zu nennen. Das demographische Erkenntnisinteresse bleibt eng
an den statistisch erfaßbaren Tatbeständen und vermag mit den heutigen
Analysenmethoden sowohl das Gebärverhalten zu bestimmten Zeitpunkten (Querschnittsnalyse)
als auch dasjenigen bestimmter Kohorten von Frauen (Längsschnittanalyse)
differenziert darzustellen. (Ebd., S. 116).Abbildung 5.1.
zeigt die Veränderung der jährlichen Geburtenzahlen in Deutschland sowohl
im Querschnitt als auch im Längsschnitt. Der allgemienen Geburtenziffer als
Querschnittsmaß wird hier das Längsschnittmaß der Completed
Fertility Rate (CFR) gegenübergestellt. .... Die CFR ist grundsätzlich
der verläßlichste Indikator langfristiger Veränderungen des generativen
Verhaltens, weil hier kurzfristige Schwankungen der Fertilität, wie sie durch
die unterschiedliche Generationsstärke oder Veränderungen des mittleren
Gebäralters der Frauen verursacht werden, keine Rolle spielen. (Ebd.,
S. 118).Eine umfassende Erklärung des säkularen Geburtenrückgangs
in Europa hat Linde vorgelegt. (Vgl. Hans Linde, Theorie der säkularen
Nachwuchsbeschränkung 1800-2000, 1984.). In sozioökonomischer Hinsicht
betont er drei sukzessiv wirksame Innovationen: Am Anfang steht die Ausgliederung
der Erwerbstätigkeit aus dem Familienhaushalt als Voraussetzung der Industrialisierung,
wodurch in Verbindung mit dem Verbot der Kinderarbeit der wirtschaftliche Wert
der kindlichen Arbeitskraft entfällt. Es folgt die Entstehung und der Ausbau
eines staatlich organisierten sozialen Sicherungssystems als Reaktion auf die
Industrialisierung, wodurch die Angewiesenheit der Menschen auf familiale Hilfe
im Notfall reduziert wird, und es folgt schließlich - als Ergebnis der kapitalintensiven
Massenproduktion und des unternehmerischen Gewinninteresses - eine »systemadäquate
Überflutung mit neuen Konsumofferten«, welche die Attraktivität
alternativer verwendungen von Geld und Zeit stärken, also die »Opportunitätskosten«
des Kinderhabens erhöhen. (Vgl. Hans Linde, ebd., 1984, S. 148, 164).
Insofern argumentiert auch Linde mit instititionellen Veränderungen der Kosten-Nutzen-Balance
des Kinderhabens. Er fügt jedoch noch eine zweite soziokulturelle Erklärung
der europäischen Tendenz zu niedriger Fertitlität hinzu, begründet
durch die moralische Aufwertung der Konsensualehe und der Familie im Christentum.
Im Gefolge von Reformation und Gegenreformation entwickelte sich vor allem im
Bürgertum eine Intimisierung des Familienlebens und in diesem Zusammenhang
eine wachsende Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Mütter und Erziehung
der Kinder. »Bei
der europäischen Nachwuchsbeschränkung handelt es sich um die familiale
Dimension der glaubensbegründeten Maxime radikaler Personalisierung der jenseitigen
Heilserwartung, der diesseitigen Lebensführung und der nach Welterhellung
strebenden Wissenschaften im Dienste der Naturbeherrschung - und zwar um ein Phänomen
der bereits säkularisierten Spätphase dieses Prozesses in der Epoche
aufgeklärter Empfindsamkeit.« Hans Linde, ebd., 1984, S. 183) | Kulturelle
und sozioökonomische Faktoren wirkten also zusammen, um einen planvollen
Umgang mit dem Nachwuchs zu legitimieren. Dies alles bietet die Bedingungskostellation,
in der die Fortschritte von Methoden der Geburtenkontrolle sich rasch verbreiten
konnten, denen in dieser Theorie keine eigenständige Bedeutung zu gemessen
wird. Für Linde wirken die Bedingungen für eine weitere Nachwuchsbeschränkung
bis in die Gegenwart, so daß er die hier als erster und zweiter Geburtenrückgang
unterschiedenen Phasen als einheitlichen säkularen Prozeß im Zeitarum
zwischen 1800 und 2000 auffaßt. (Ebd., S. 120-122).
5.2) Der zweite Geburtenrückgang seit 1965
In
die 1960er Jahre fallen zwei Ereignisse, die gerade in ihrer Wechselwirkung geeignet
erscheinen, den Beginn des europaweiten neuen Geburtenrückgangs zu erklären:
zum einen die von den Vereinigten Staaten ausgehende und sich in Westeuropa verbreitende
emanzipative soziale Bewegung, welche vor allem hinsichtlich der weiblichen Lebensverhältnisse
dauerhafte Wirkungen gezeitigt hat. Und zum anderen die Verbreitung der »Pille«,
welche erstmals eine vom sexuellen Kontakt völlig unabhängige Empfängnisregelung
ermöglichte, und zwar durch die Frau. Beides hat zu einer wesentlichen Verschiebung
der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern beigetragen und gleichzeitig
eine bis dahin unbekannte Liberalisierung der privaten Lebensformen ermöglicht.
(Ebd., S. 122).Betrachtet man die Entwicklung des generativen Verhaltens
in Deutschland seit 1965, so fällt zunächst der Rückgang der
kinderreichen Familien ins Gewicht. Ein erneuter Rückgang von geburten
höherer Ordnung (über 3 Kinder) setzte mit dem Geburtenjahrgang 1935
ein, gefolgt von einem regelrechten Einbruch bie den zwischen 1940 und 1950 geborenen
Frauen. Weil bei zwischen 1940 und 1950 geborenen Frauen auch die Geburten niedriger
Ordnung zurückgingen (vgl, Herwig Birg und Ernst-Jürgen Flöthmann,
Entwicklung der Familienstrukturen ..., 1996, S. 13ff.), kam es infolge
von Überlagerungen zu dem extremen Geburtenrückgang um fast 50% zwischen
1965 und 1970. Hinzu kam eine Verzögerung des heirats- und damit des durchschnittlichen
Gebäralters. Das Zusammentreffen dieser Entwicklungen erklärt den brüsken
Geburtenrückgang zwischen 1965 und 1970. in der Folge ging jedoch die Geburtenhäufigkeit
bei den verheirateten Frauen nur noch unwesentlich zurück und stieg zuletzt
sogar wieder etwas an. (Vgl. Tabelle).
Die Fortsetzung des Geburtenrückgangs bei den jüngeren Kohorten ist
ausschließlich auf die Zunahme der lebenslang kinderlosen Frauen zurückzuführen.
(Vgl. Tabelle).
Während vom Jahrgang 1940 nur jede zehnte Frau kinderlos blieb, ist es beim
Jahrgang 1970 voraussichtlich jede dritte. Diese Verbreitung der Kinderlosigkeit
ist die wichtigste Ursache für den Nachwuchsmangel in Deutschland.
(Ebd., S. 123-124).Von
1000 Frauen eines Jahrgangs haben im Laufe ihres Lebens ... Geburten | Geburtsjahrgang | 0 | 1 | 2 | 3 | 4
und mehr | Summe | 1940 | 106 | 264 | 341 | 185 | 104 | 1000 | 1945 | 130 | 304 | 346 | 140 |
80 | 1000 | 1950 | 158 | 294 | 343 | 131 |
74 | 1000 | 1955 | 219 | 249 | 335 | 125 |
73 | 1000 | 1960 | 260 | 216 | 324 | 124 |
77 | 1000 | 1965 | 321 | 176 | 312 | 111 |
81 | 1000 | 1970 | 326 | 154 | 321 | 119 |
80 | 1000 |
Von
1000 Müttern desselben Jahrgangs haben im Laufe ihres Lebens ... Geburten | Geburtsjahrgang | | 1 | 2 | 3 | 4
und mehr* | Kinder pro Mutter | 1940 | | 295 | 381 | 207 | 116 | 2,203 | 1945 | | 349 | 398 | 161 |
92 | 2,042 | 1950 | | 349 | 407 | 155 |
88 | 2,027 | 1955 | | 319 | 429 | 160 |
93 | 2,073 | 1960 | | 291 | 437 | 168 | 104 | 2,136 | 1965 | | 259 | 459 | 163 | 119 | 2,202 | 1970 | | 228 | 477 | 177 | 118 | 2,245 |
*
Zur Berechnung des Durchschnitts wurde in dieser Spalte mit 4,5 Kindern gerechnet. |
Bezogen
auf unsere einleitenden Überlegungen zur Verbreitung der »Pille«
wird aufgrund dieser Zahlen deutlich, daß bei den älteren Geburtsjahrgängen
die Empfängnisverhütung vor allem der Reduktion unerwünschter Geburten
in der Ehe dientem während in etwa ab dem Jahrgang 1950 die Empfängnisverhütung
zunehmend auch einer Liberalisierung der Geschlechtsbeziehungen außerhalb
der Ehe Vorschub leistete. Denn bei den Geburtsjahrgängen nach 1950 veränderten
sich vor allem die Formen der Partnerschaft. (Ebd., S. 124).Um
1970 waren in der Bundesrepublik rund 90% aller Männer und 85% aller Frauen
zwischen 35 und 45 Jahren verheiratet, und die Zahl der lebenslang unverheiratet
Bleibenden lag unter 10% für beide Geschlechter. Zu heiraten gehörte
damals zum selbstverständlichen Lebensentwurf jedes gesunden erwachsenen
Menschen. Die Heiratswahrscheinlichkeit ging nach 1970 rasant zurück und
erreichte um 1997 lediglich noch Werte um 70%für die 49-Jährigen beiderlei
Geschlechts. (Vgl. Karl Schwarz, 2003, S. 424f.). Eine starke Zunahme war auch
bei den Scheidungen zu beobachten: Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Ehe
wieder geschieden wird, hat sich zwischen 1970 (15,9%) und 1985 (30,2%) nahezu
verdoppelt und ist bis 2000 weiter auf 38,5% gestiegen. Gleichzeitig sank der
Anteil wieder heiratender Geschiedener von 80% (Männer) beziehungsweise 75%
(Frauen) auf ca. 67% in 1989, seither ist ein moderater weiterer Rückgang
zu verzeichnen. Parallel dazu nahmen nichteheliche Lebensgemeinschaften erheblich
zu: von ca. 137.000 (1972) auf 963000 (1990) und 1727000 (2002, nur alte Bundesländer).
(Ebd., S. 124-126).
5.3) Deutschland im internationalen Vergleich
Der »zweite
Geburtenrückgang« setzte überraschend gleichzeitig in den meisten
Ländern Nord- und Westeuropas ein, nämlich zwischen 1965 und 1970. Er
setzte sich mit unterschiedlicher Intensität fort und hat bis heute zu von
Land zu Land unterschiedlich hohen Fertilitätsniveaus geführt, die jedoch
sämtliche unterhalb der für eine vollständige Reproduktion der
Bevölkerung notwendigen Fertilität liegen. . .... »Vorläufer
waren wie beim Geburtenrückgang in aller Regel die Länder Nord- und
Westeuropas (bei der Nichtehelichenquote: Nordeuropa; bei der Kinderlosigkeit:
Westeuropa), denen Südeuropa (und Osteuropa; Anm HB)
folgte.« (Jürgen Dorbritz, Europäische Fertilitätsmuster,
2000, S. 235). Im Vergeich zu anderen europäischen Ländern ist die deutsche
Entwicklung wie folgt zu charakterisieren:1. | |
Bezogen auf die Veränderungen in der Partnerschaftsdimension (Ehealter, Eheschließungen,
Ehescheidungen, nichteheliche Lebensgemeinschaften), liegt die Bundesrepublik
im Mittelfeld einer Entwicklung zwischen z.T. weit zurückreichender Liberalisierung
(Skandinavien) und der Persistenz traditionaler Muster (Italien, Irland). | 2. | | Bezogen
auf die Fertilität liegt die Bundesrepublik am unteren Ende, und zwar bereits
seit 1950. Die niedrigen Fertilitätswerte kamen also nicht erst durch den
»emanzipativen Schub« der 1960er Jahre zustande. | 3. | | Der
Geburtenrückgang ist in Deutschland besonders ausgeprägt durch zunehmende
Ehe- und Kinderlosigkeit junger Frauen bedingt, während in anderen Ländern
eher eine Tendenz zur Einkindfamilie vorherrscht, bei sehr variabler Heiratshäufigkeit.
Außereheliche Geburten spielen in der (alten) Bundesrepublik wie in Italien,
den Niederlanden und der Schweiz nur eine geringe Rolle und nehmen nur bescheiden
zu. | 4. | | Die
Erwerbsbeteiligung der Mütter jüngerer Kinder bleibt gering; es dominieren
die »Hausfrauen«, ggf. mit geringfügiger oder Teilzeitbeschäftigung. | 5. | | Die
Fertilität ausländischer Frauen spielt bereits heute in Deutschland
eine größere Rolle als in den anderen EU-Staaten, weil hier der Ausländeranteil
besonders hoch ist (vor allem England, Frankreich, Belgien,
Luxemburg und Holland haben prozentual viel mehr Ausländer als Deutschland;
HB). Auch wenn die Zuwanderer aus Ländern der Massenemigration
sich in ihrem generativen Verhalten vergleichsweise rasch den deutschen Standards
anpassen, bleiben charakteristische Unterschiede. Insbesondere ist der Anteil
der kinderreichen Familien unter den Ausländern höher und der Anteil
der kinderlos Bleibenden niedriger (vgl. Herwig Birg und Ernst-Jürgen Flöthmann,
Entwicklung der Familienstrukturen ..., 1996, S. 42f..). Daraus resultiert
eine höhere durchschnittliche Kinderzahl von ca. 1,8 Kindern pro Frau, im
Vergleich zu ca. 1,2 Kindern bei den Einheimischen. (Bei sehr erheblichen regionalen
Schwankungen.). Bezogen auf die einheimische Bevölkerung erscheint also die
Fertilität in Deutschland etwa gleich niedrig wie in den südeuropäischen
Ländern, obwohl dort die staatlichen Leistungen für die Familie weit
geringer sind. | 6. | | Besonders
auffallend ist die starke Bildungsabhängigkeit der Kinderlosigkeit in den
alten Bundesländern: Über vierzig Prozent der 35-39-jährigen Frauen
mit Hochschulabschluß, jedoch nur knapp ein Viertel derjenigen mit oder
ohne Lehrabschluß waren laut Mikrozensus 2000 kinderlos; in den neuen Bundesländern
besteht ein derartiger Zusammenhang in dieser, noch von den Umständen der
DDR geprägten Alterskohorte (noch?) nicht. Die erscheint in der Perspektive
der Entwicklung von Humanvermögen als problematisch, weil ein »enge(r)
Zusammenhang zwischen der Bildung der Eltern und den Kompetenzen der Kinder«
besteht und »die Studierneigung der jungen Menschen nicht unabhängig
von den Bildungsinvestitionen ihrer Eltern ist«. (Axel Plünnecke /
Susanna Seyda, Bildung, 2004, S. 130.). | Als
Gesamttrend läßt sich für Deutschland eine zunehmende Polarisierung
der privaten Lebensformen in durch Ehe legitimierte Familien einerseits und in
alternative, in der Regel kinderarme oder kinderlose Lebensformen diagnostizieren.
Diese Diagnose gilt voll für die alten Bundesländer. In den neuen Bundesländern
fallen dagegen die nach wie vor extrem niedrige Fertilität und der skandinavische
Größenordnungen erreichende Anteil der außerehelichen Geburten
auf. Die Rolle der Ehe ist also in beiden Teilen Deutschlands sehr verschieden
und hängt mutmaßlich mit der unterschiedlichen Bedeutung religiöser
Bindungen zusammen. Es ist deshalb möglich, daß hier Differenzen hinsichtlich
des generativen Verhaltens auch längerfristig bestehenbleiben; allerdings
scheint auch eine allmähliche Konvergenz der Familienauffassungen in Ost
und West nicht ausgeschlossen. Unsere Analyse orientiert sich am dominierenden
westdeutschen Modell. Im Unterschied zu Skandinavien scheint in der Bundesrepublik
(West) die soziale Norm ungebrochen, daß Kinder in ehelich legitimierten
Beziehungen aufwachsen sollen. Insoweit alternative Lebensformen mit Elternschaft
verbunden sind, handelt es sich ganz überwiegend um Kinder aus einer früheren
Ehe. Diese Polarisierungstendenz läßt sich nur in wenigen anderen Ländern
Westeuropas feststellen. (Vgl. Abschnitt 5.6).
Erklärungsversuche dieser Veränderungen haben sowohl die hohe Parallelität
der Trends als auch deren unterschiedliche Niveaus zu berücksichtigen, doch
zeigt der vielfältige Befund auch, daß nur komplexe, multikausale Erklärungen
Plausibilität beanspruchen können. Das spricht sowohl gegen eine rein
ökonomische wie auch gegen eine nur biographietheoretische Erklärung
... (Ebd., S. 127-130).
5.4) Soziologische Interpretaionen
Die sozialwissenschaftliche
Betrachtungsweise orientiert sich an den Feststellungen der Demographie hinsichtlich
des generativen Verhaltens, interpretiert dieses aber nicht behavioristisch, sondern
als sinnhaft verstehbares Handeln. (Ebd., S. 130).Natürlich
ist das generative Verhalten von Menschen seit jeher eine kulturell überformte
bio-soziale Tatsache. (Vgl. Andreas Miller, Kultur und menschliche Fruchtbarkeit,
1962). Insofern greift ein behavioristischer Ansatz, der vom bloß biologischen
Zusammenhang zwischen Sexualität und Fortpflanzung ausgeht, auch für
vormoderne Gesellschaften zu kurz. Eine soziale Regulierung der Fortpflanzung
durch Kindstötung oder -aussetzung hat es auch in Kulturen gegeben, denen
Methoden der Geburtenkontrolle unbekannt waren. Vor allem aber haben die uns bekannten
vormodernen Kulturen durch Tabus und Regeln der Partnerwahl die sexuellen Beziehungen
in allerdings sehr unterschiedlicher Weise reguliert und angesichts der stets
drohenden Übersterblichkeit Motive zur Gewährleistung ausreichender
Nachkommenschaft gesetzt. (Ebd., S. 131).Die
Erklärung der Nachwuchsschwäche als Mehr-Ebenen-Problem |
Erklärungsebene | Kulturelle
Ebene | Instititionelle Ebene | Paarebene
| Individualebene | |
Erklärungsfaktoren | Enttraditionalisierung,
»Wertewandel« Kulturelle Selbstverständlichkeite der
Geburtenkontrolle | Familie: Liberalisierung
des Ehe- und Scheidungsrechts; Stärkung der Rechte der KinderWirtschaft:
Indifferenz gegenüber Elternschaft; wachsende DynamikSozialstaat:
Lesitungsansprüche folgen aus der Erwerbsbeteiligung; keine Anerkennung der
Erziehungsleistungen | Erschwerung der »Nestbildung«Veränderung
der MachtbalancenGefährdete Verläßlichkeit der Beziehungen | Zunehmende
Opportunitätskosten von ElternschaftZurückhaltung gegenüber
langfristigen Festlegungen | Folgen | Ehe
und Elternschaft werden biographisch unverbindlichPluralisierung der
privaten Lebensformen | Verstärkte
Verantwortung der ElternÖkonomische Benachteiligung der Eltern;
familialer StreßTransferausbeutung der Familien |
Unfreiwillige KinderlosigkeitErhöhtes Scheidungsrisiko | Präferenz
für ehe- und kinderlose Lebensformen |
Wenn wir
den Übergang zu einer dauerhaft unterhalb des Reproduktionsniveaus liegenden
Fertilität seit den 1960er Jahren erklären wollen, ist es zweckmäßig,
auf zeitgenössische und nicht auf historische Umstände zurückzugreifen.
Der Geburtenrückgang ab 1965 erschien besonders dramatisch vor dem Hintergrund
der Nachkriegsentwicklung, welche gerade in Deutschland eine Rückbesinnung
auf religiöse und familiale Traditionen mit sich brachte und zu einer »Hochzeit
der Hochzeiten«, also zu einer extrem hohen Heiratshäufigkeit, führte.
Der Umbruch wird vielfach mit einem die zu jener Zeit nachwachsenden Generationen
prägenden» Wertewandel« in Verbindung gebracht, welcher eine
Ablösung »materialistischer« durch »postmaterialistische«
Werte (Ronald lnglehart, Kultureller Umbruch, 1990) odervon »Pflicht-
und Akzeptanzwerten« durch »Selbstentfaltungswerte« (Helmut
Klages, Wertedynamik, 1988) mit sich bringe. Mit Bezug auf die Familie
erscheint der Gegensatz vor allem in der Spannung zwischen einer Orientierung
an der hergebrachten Form der durch Ehe begründeten Familie und alternativen
Lebensformen mit und ohne Kinder. Je »alternativer« die persönlichen
Orientierungen, desto häufiger leben die Befragten in kinderlosen Lebensformen.
(Vgl. hierzu zuletzt die umfangreiche Auswertung der European Value Study
durch Johan Surkyn und Ron Lesthaeghe [2004], welche für mehrere Länder
Europas einen stabilen Zusammenhang zwischen religiösen und traditionalen
Orientierungen hinsichtlich der Ehe feststellt.). Die faktische Ausbreitung alternativer
Lebensformen macht diese in Verbindung mit dem Aufstieg der Selbstentfaltungswerte
auch normativ zunehmend akzeptabel und leistet damit ihrer weiteren Verbreitung
Vorschub. (Ebd., S. 132-133).Diese brüske Umorientierung
fällt zeitlich mit der raschen Verbreitung von Ovulationshemmern und anderen
»sicheren« Verhütungsmethoden zusammen, und wir neigen dazu,
diesem Faktor entgegen der vorherrschenden wissenschaftlicher Meinung eine eigenständige
und nachhaltige Wirkung zuzusprechen. Die modernen Methoden der Empfängnisverhütung
verändern den generativen Erklärungszusammenhang grundsätzlich,
denn erstens wird damit die Trennbarkeit von Sexualität und Fortpflanzung
kulturell selbstverständlich. Sie ermöglicht erst den Monopolverlust
der Ehe mit Bezug auf die sexuellen Kontakte und die aktuelle Pluralisierung der
privaten Lebensformen. Entsprechend dem allgemeinen Differenzierungs- und Entkoppelungstrend
in der Moderne folgte der Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung die
Entkoppelung von Liebe und Ehe und vielerorts auch von Ehe und Elternschaft; und
weitere Fortschritte der Fortpflanzungstechnologie ermöglichen heute bereits
die Entkoppelung von biologischer und sozialer Elternschaft. (Vgl. Franz-Xaver
Kaufmann, Zukunft der Familie im vereinten Deutschland, 1990, S. 96ff.).
Diese Optionserweiterung fördert in starkem Maße die Pluarlisierung
privater Lebensformen. Auf der Basis dieser neuen kulturellen Selbstverständlichkeit
ist zweitens die Ankunft von Kindern nicht mehr das erwartbare Ergebnis heterosexueller
Kontakte, sondern im Regelfalle das Ergebnis einer mehr oder weniger bewußten
Entscheidung der Eltern, zumindest aber der Mutter. Diese Entscheidung wird drittens
kulturell überformt durch die Norm »verantworteter Elternschaft«,
d.h., es wird heute von Eltern sozial erwartet, daß sie für von ihnen
geborene Kinder die Erziehungsverantwortung übernehmen. Als Konsequenz
dieser Entwicklungen ist heute nicht mehr die Geburtenbeschränkung (wie in
der älteren Forschung), sondern die Entscheidung für die Übernahme
von Elternverantwortung der zentrale erklärungsbedürftige Tatbestand.
In diesem Sinne halten auch die Herausgeber eines neueren Überblicks über
die familiensoziologische Theoriebildung fest:»Die
populäre Verfallsrhetorik, auch wenn sie immer noch eher Randerscheinungen
und Variationen des Familienlebens in einer insgesamt wenig veränderten sozialen
Welt beschreibt, macht aber eines deutlich: Die Tatsachen, daß Familien
mehrheitlich faktisch ihrer Aufgabe gerecht werden und zusammenhalten, daß
Frauen und Männer Familienbindungen eingehen, auch unter widrigen Umständen,
die ihnen u.U. den Verzicht auf andere Formen der Lebensführung und Selbstverwirklichung
abfordern ... sind alles andere als selbstverständlich und müssen erklärt
werden. Insofern hat sich in den mehr als vierzig Jahren seit Schelskys Wandlungen
der Familie in der Gegenwart tatsächlich ein erheblicher sozialer Wandel
vollzogen. Familie (einschließlich der nach wie vor unbezweifelt an sie
geknüpften Solidaritätserwartungen) ist heute unter Individualisierungsbedingungen
zwar immer noch die wahrscheinlichste Option der Lebensführung, aber sie
ist keine selbstverständliche Institution mehr.« (Johannes Huinink
/ Klaus Peter Strohmeier / Michael Wagner, Solidarität in Partnerschaft
und Familie, 2001, S. 12). | Die kulturellen Faktoren
wirken in die Richtung einer normativen Erweiterung des Möglichkeitsraums
individueller Biographien in der familialen Dimension. Aber sie ermöglichen
gleichermaßen die Entscheidung für oder gegen Kinder. In dieselbe Richtung
wirkt grundsätzlich die Entwicklung des Familienrechts, allerdings mit einer
die Kinderlosigkeit eher fördernden Nebenwirkung: Der Liberalisierung des
Rechts in der Dimension von Ehe und Partnerschaft steht nämlich aufgrund
der Aufwertung der Rechte des Kindes im Horizont der Selbstentfaltungswerte eine
verstärkte Inanspruchnahme der Eltern für die Erziehung der Kinder gegenüber.
Vor allem posttraditionalistische Paare entscheiden sich deshalb bewußt
für oder gegen Kinder und scheinen gegebenenfalls bereit zu sein, für
die angestrebte Elternrolle einen »biographischen Preis« zu zahlen.
(Vgl. Johann August Schülein, Die Geburt der Eltern, 1990, S. 219).
(Ebd., S. 133-135).Neben diesen grundsätzlichen Orientierungen
spielen für die Entscheidung für oder gegen Kinder die absehbaren Folgen
der Geburt eines (zusätzlichen) Kindes eine erhebliche Rolle. Zunehmende
Bedeutung dürfte dabei die Einschätzung der Folgen für die Partnerschaft
der potentiellen Eltern spielen, und vieles spricht dafür, daß Kinder
Partnerschaften nicht nur stabilisieren, sondern auch labilisieren können:
Partnerschaft und Elternschaft scheinen unter den Bedingungen entfalteter Modernität
sich tendenziell zu verselbständigen und oft in Spannung zueinander zu geraten
(vgl. Alois Herlth u.a., 1994). Zentral sind die wirtschaftlichen Folgen des Kinderhabens,
und sie sind vom Zusammenspiel zwischen marktwirtschaftlichen und sozialstaatlichen
Bedingungen abhängig. Hierauf wird im folgenden ausführlicher einzugehen
sein (vgl. Abschnitte 5.6
und 5.7).
(Ebd., S. 135).Die Folgen der bisher skizzierten Einflüsse
der kulturellen und institutionellen Veränderungen auf die Paarebene äußern
sich vor allem in drei Dimensionen: Die mangelnde Anerkennung von Elternverpflichtungen
durch Unternehmungen und Sozialstaat erschwert die Familiengründung. Unter
den vorherrschenden Bedingungen der Freiwilligkeit kommen Kinder nur im Zuge der
Verfestigung partnerschaftlicher Beziehungen zur Welt. Erst wenn eine ausreichende
Wohnung in Sicht und berufliche Aspirationen in etwa befriedigt sind, tritt die
Erfüllung von Kinderwünschen ins Zentrum einer Paarbeziehung. Zuerst
muß also das »Nest gebaut« sein, bevor Kinder angestrebt werden;
das ist zum mindesten die vorherrschende Einstellung. Nicht weniger wichtig erscheint
allerdings die Verläßlichkeit der Beziehung unter den Partnern als
Gegengewicht gegen die Ambivalenz, welche durch die Vielfalt der Alternativen
und den Streß beruflicher Beanspruchungen beider Partner oftmals entsteht.
(Vgl. Kurt Lüscher, Soziologische Annäherungen an die Familie,
2001). Und schließlich werden viele junge Menschen mit den sich wandelnden
Geschlechtsrollenmustern schwer fertig: Offensichtlich hat sich in der Praxis
die Machtbalance häufig bereits zugunsten der Frauen verschoben, während
die Männer noch weiterhin an hergebrachten Rollenvorstellungen festhalten.
(Ebd., S. 135-136).Alles in allem bietet sich heute das Bild einer
»widersprüchlichen Vielfalt« der privaten Lebensformen, und die
Widersprüche äußern sich gleichermaßen auf der Ebene individueller
Erfahrungen, der Ebene institutioneller Gegebenheiten und in der öffentlichen
Rhetorik über Familie (Kurt Lüscher, ebd., 2001). Daß dies
zu Orientierungsschwierigkeiten der jungen Menschen und zu einer Zurückhaltung
gegenüber langfristigen Festlegungen führt, ist leicht verständlich.
Birg begründet demzufolge in seiner biographietheoretischen Erklärung
den Geburtenrückgang mit der »These, daß der säkulare Abnahmetrend
der Fertilität auf einer Zunahme des Risikos langfristiger biographischer
Festlegungen beruht« (Herwig Birg / Helmut Koch, Der Bevölkerungsrückgang
in der Bundesrepublik Deutschland, 1988, S. 44). (Ebd., S. 136).
5.5) Warum noch Kinder?
Von seiten der Wirtschaftswissenschaften
wird die Übernahme von Elternverantwortung als rationaler Entscheidungsprozeß
zwischen »Kosten« und »Nutzen« des Kinderhabens konstruiert,
wobei ursprünglich Kinder vor allem in Konkurrenz zu anderen Konsumgütern
gesehen wurden. Hier stehen also die direkten Kosten des Kinderhabens in
Konkurrenz zu anderen Ausgaben des Haushaltsbudgets. Zunehmend rücken außerdem
die indirekten Kosten oder Opportunitätskosten des Kinderhabens in
den Vordergrund der Erklärungen, die sich am ehesten als Verzicht auf andere
Zeitverwendungen operationalisieren lassen. (Ebd., S. 136).Geht
man von einem im engeren Sinne ökonomischen Kalkül aus, so ist aus der
Sicht eines »rationalen Wirtschaftssubjektes« nicht zu erklären,
warum überhaupt noch Kinder in die Welt gesetzt werden. Denn im Regelfalle
ist das Aufbringen von Kindern seit dem Verbot der Kinderarbeit und angesichts
einer weitreichenden Kollektivierung der sozialen Sicherung ohne jeden materiellen
Ertrag. Und es bringt um so größere Kosten mit sich, je höhere
Ansprüche an deren Ausbildung und Lebensführung gestellt werden, und
beide Anspruchsarten nehmen mit der Entfaltung des Wohlstandes und der »systemadäquaten
Überflutung mit Konsumofferten« (Hans Linde) offensichtlich zu. Unter
dem Gesichtspunkt der Opportunitätskosten ergibt sich vor allem für
Frauen eine negative Bilanz, beispielsweise durch Verzicht auf Erwerbsarbeit oder
auf eine berufliche Karriere. (Ebd., S. 136-137).Wie bereits
Samuelson (1958) gezeigt hat, wird das Aufziehen eigener Kinder in dem Maße
ökonomisch irrational, als die Kosten für den Unterhalt der Nicht-mehr-Erwerbstätigen
kollektiviert, diejenigen der Noch-nicht-Erwerbstätigen dagegen privatisiert
werden. Ebendas ist in den meisten europäischen Staaten nach dem Zweiten
Weltkrieg mit dem Ausbau kollektiver Alterssicherungssysteme geschehen, während
die Aufbringungskosten der nachwachsenden Generation überwiegend den Eltern
überlassen blieben. Auch empirisch zeigt sich im internationalen Vergleich
ein zeitlich robuster positiver statistischer Zusammenhang zwischen der Höhe
der Geburtenraten eines Landes einerseits und dem Anteil der öffentlichen
Aufwendungen für die nachwachsende Generation am gesamten Sozialaufwand andererseits
sowie eine negative Korrelation zum Anteil der Aufwendungen zugunsten der alten
Generation. (Ebd., S. 137).Es müssen also Motive und
Interessen nichtökonomischer Art namhaft gemacht werden, um die Vernünftigkeit
des Kinderhabens zu begründen. Die »Nutzen« von Kindern sind
heute nahezu ausschließlich immaterieller Art. Die internationale Forschung
hat diese Zusammenhänge vor allem mit dem Konzept des »Value of Children«
zu operationalisieren versucht (zusammenfassend F. Höpflinger, 1997, S. 80ff.).
Aber offensichtlich sind die individuellen Motivationen in der Regel sehr komplex,
so daß sich gerade für hochindividualisierte Gesellschaften nur schwer
eindeutige Regelhaftigkeiten herauskristallisieren lassen. Als wichtige erfaßbare
Momente eines immateriellen Wertes von Kindern sind zu nennen:- | |
die Anerkennung, welche Vaterschaft und Mutterschaft in relevanten Sozialzusammenhängen
zuteil wird; | - | | kollektive,
insbesondere religiöse oder verwandtschaftliche Traditionen; | - | | persönliche
Konstruktionen von Lebenssinn durch die Übernahme von Verantwortung für
Kinder; | - | | positive
emotionale Erfahrungen im Kontext von Partnerschaft und Elternschaft | - | | Hoffnung
auf reziproke Anerkennung und Unterstützung seitens eigener Kinder in späteren
Lebensjahren. | Neuere empirische Untersuchungen lassen
erkennen, daß traditionale Motive der Familienbildung weiterhin an Einfluß
verlieren, während ein »intrinsischer Wert« von Kindern, also
ihre Eigenwertigkeit, an Bedeutung gewinnt. Das ist insofern bemerkenswert, als
hierin ein mutmaßlich »modernisierungsresistentes« Motiv zu
sehen ist. (Ebd., S. 137-138).Zwar läßt sich der
»Wert von Kindern« im Rahmen eines ökonomischen Kalküls
als »Nutzen« interpretieren, der den mutmaßlichen »Kosten«
gegenübergestellt wird. Aber damit wird man der realen Entscheidungssituation
junger Menschen nur wenig gerecht,. Die Übernahme von Elternverantwortung
wird vor allem als langfristige biographische Festlegung verstanden: »Elternschaft
und Ehe in der moderenen Gesellschaft sind ... als Strategien zur Reduktion von
Planungs- und Gestaltungsunsicherheiten in bezug auf den weiteren Lebenslauf anzusehen«
(Johannes Huinink, Elternschaft in der moderen Gesellschaft, 1997, S. 85).
Diese Festlegung erfolgt zudem im Regelfalle nicht individuell, sondern paarweise
.... (Ebd., S. 138-139).Huinink (1997, S. 86ff.) systematisiert
die Bedingungen für die »Realisierung von Kinderwünschen«
als die Lösung von drei Probelemen: 1. Die Koordination der Lebenspläne
beider Partner (»Persepektivenproblem«); 2. die Sicherung ausreichender
Ressourcen für eine Elternschaft ohne das Risiko sozialen Abstiegs (»Ressourcenproblem«);
3. die Gwährleistung der Vereinbarkeit von familialer Verantwortung und außerfamilialem
Engagement auf der Basis prinzipiell gleicher Rechte beider Partner (»Vereinbarkeitsproblem«).
(Ebd., S. 139).Betrachtet man die Kinderhäufigkeit verheirateter
Paare in Deutschland unter dem Gesichtspunkt ihrer Bildungs- und Einkommensverhältnisse
(vgl. Karl Schwarz, 1999), so fällt auf, daß Familien mit drei oder
mehr Kindern vor allem bei Paaren häufig sind, bei denen beide Partner keinen
Ausbildungsabschluß besitzen; das dürfte für Zugewanderte besonders
charakteristisch sein. Zum zweiten finden sich kinderreiche Familien häufig
bei Paaren, wo der Mann einen Hochschulabschluß, die Frau aber einen anderen
oder keinen Abschluß besitzt; hier dürften traditionale Rollenverhältnisse
recht verbreitet sein. Den höchsten Anteil der Kinderlosen findet man bei
Paaren, wo beide Partner über einen Hochschulabschluß und ein monatliches
Haushaltseinkommen von über 7000 DM (Stand: 1997) verfügen; hier dürfte
die Berufsorientierung beider Partner den Ausschalg für den Verzicht auf
Kinder geben. Generell zeigt sich eine häufigere Kinderlosigkeit in den oberen
Einkommensgruppen, was auf die stärkere Erwerbstätigkeit beider Partner
zurückzuführen sein dürfte. (Ebd., S. 141).
5.6) Pluralisierung oder Polarisierung privater Lebensformen
Entscheidend
ist jedoch die Legitimität und Akzeptanz dieser Entwicklungen im Horizont
einer individualistischen und überwiegend liberalen Kultur, der zufolge Individualisierung
als Möglichkeit der Selbstverwirklichung positiv beurteilt wird (Ebd.,
S. 142).Hier entwickelt sich eine Polarisierung
zwischen einem eher traditionell verfaßten »Familiensektor«
und einem neuen pluralen Bereich überwiegend kinderloser privater
Lebensformen, die sich zunehmend auch in einer sozialräumlichen Segregation
niederschlägt (vgl. Klaus Peter Strohmeier, Die Polarisierung der Lebensfromen
in der Bundesrepublik Deutschland, 1991, S. 64): Posttraditionale Lebensformen
finden sich vor allem in Großstädten und städtischen Zentren,
während Familien vorzugsweise im Stadtumland wohnen, soweit sie nicht ohnehin
in einem eher traditionalen ländlichen Umfeld siedeln. Und es ist ebendiese
Polarisierungstendenz, welche das besondere Ausmaß des Geburtenrückgangs
in Deutschland mit erklärt. Es bilden sich hier zunehmend »kinderlose
Milieus«, in denen das Fehlen von Kindern auch nicht mehr wahrgenommen wird.
Kinderlose finden hier also Bestätigung unter ihresgleichen. Sie haben sich
den Umgang mit Kindern buchstäblich abgewöhnt. (Ebd., S. 143).Das
Junktim »Kinder und Ehe« ist hier weitgehdn intakt. Dementsprechend
polarisieren sich auch traditionelle und »alternative« Orientierungen
stärker und hängen enger mit der Entscheidung für oder gegen Kinder
zusammen. (Ebd., S. 143-144).Die Polarisierung auf der Bewußtseinsebene
wird auch durch eine aktuelle Studie im Auftrage der baden-württernbergischen
Landesregierung bestätigt. Ihr zufolge ist ein Teil der deutschen Bevölkerung
dabei, sich von Kindern zu entfremden. »Der Anteil der Bevölkerung,
der kaum Kontakte zu Kindern und Jugendlichen hat, wächst kontinuierlich
und damit die Gefahr, daß die Interessen der nächsten Generation bei
der gesellschaftlichen Meinungsbildung und den Entscheidungen in Politik und Gesellschaft
zu wenig berücksichtigt werden.« (Institut für Demoskopie, Einflußfaktoren
auf die Geburtenrate, 2004, S. 1). »Eine Folge der Entfremdung vieler
Kinderloser von Kindern ist, daß die Nachteile, die mit Kindern verbunden
sind oder sein können, Kinderlosen besonders plastisch vor Augen stehen,
während die Gratifikationen der Elternschaft wesentlich weniger gesehen werden
als von Eltern.« (Ebda., S. 83) Zweitens erscheint das »subjektive
Zeitfenster« für die Geburt von Kindern bei den Befragten wesentlich
enger als die biologischen Möglichkeiten. »lm Durchschnitt beziffern
die Frauen das optimale Alter, um Kinder zu bekommen, in der engen Spanne zwischen
dem 24. und 31. Lebensjah.r« (Ebd., S. 18). Berücksichtigt man den
gleichzeitigen Wunsch, zunächst eine Ausbildung abzuschließen und berufstätig
zu sein, so zeigt sich, daß insbesondere für die qualifizierteren Frauen
ein Konflikt zwischen Kinderwunsch und Berufsperspektive entsteht, zumal die Mehrheit
der Frauen keine kontinuierliche Berufstätigkeit, sondern das »Dreiphasen-Modell«
- Beruf, Mutterschaft, Beruf - bevorzugt. (Ebd., S. 145).Alles
in allem dürfte die zunehmende Polarisierung der privaten Lebensformen in
Deutschland, das Auseinanderdriften zwischen Eltern und Kinderlosen in ideeller,
räumlicher und praktischer Hinsicht und die tendenzielle Verfestigung eines
»kinderfreien Lebensraums« in erheblichem Maße auf die Spannung
zwischen den vorherrschenden Familienvorstellungen einerseits und den praktischen
Möglichkeiten der Lebensgestaltung vor allem junger Frauen zurückzuführen
sein. Kinderlosigkeit erscheint nicht mehr als Makel, sondern als freie Lebensentscheidung,
der im Falle von »Karrierefrauen« zunehmend Leitbildcharakter zukommt.
Das Fernsehen, in dessen meistgesehenen Sendungen Kinder kaum vorkommen, trägt
das Seine dazu bei. (Ebd., S. 144-145).
5.7) Paternalismus und Familienpolitik
Anscheinend
werden in Deutschland vor allem Frauen vor eine härtere Wahl zwischen Beruf
und Familie gestellt. Wie läßt sich das erklären? Auch wenn
die nationalen Fertilitätsniveaus in Europa im Weltvergleich ähnlich
sind - sie liegen heute überall unterhalb des Reproduktionsniveaus von 2,1
Kindern pro Frau -, so lassen sich doch auch nationale Unterschiede feststellen
und erklären, und zwar sowohl in kultureller wie in struktureller Hinsicht.
Im Rahmen einer internationalen Kooperation haben wir in der kulturellen Dimension
die Bedeutung des Paternalismus und in der strukturellen Dimension den differentiellen
Einfluß sozialpolitischer Maßnahmen zugunsten von Kindern untersucht.
(Vgl. Franz-Xaver Kaufmann u.a., 1997). (Ebd., S. 146).Skandinavien
... weist - bei kurzfristigen Schwankungen - über die Zeit ein deutlich höheres
Fertilitätsniveau auf als Deutschland und neuerdings erst recht als die südeuropäischen
Staaten Griechenland, Italien und Spanien. Unter den außereueropäischen
OECD-Staaten fällt vor allem Japan durch seine niedrige Fertilität auf.
Gemeinsam ist diesen geburtenarmen Ländern ein ausgeprägter Traditionalismus
in den Geschlechterbeziehungen, d.h. eine starke Betonung der Geschlechter-Ungleichheit
zugunsten des Mannes, sie sei als Paternalismus bezeichnet. (Ebd.,
S. 146). Mir scheint die (auch in den Geschichtswissenschaften
eingeführte) Bezeichnung »Paternalismus« am präzisetsen,
da sie auf die Verknüpfung von familialen, ökonomoschen und politischen
Leitbildern männlicher Dominanz verweist, welche in Europa vor allem seit
der Barockzeit kulturell kodiert wurden. (Ebd., S. 146).Man
mag angesichts der deutlichen Artikulation feministischer Anliegen in der Bundesrepublik
Deutschland und einer offiziellen Gleichstellungspolitik bezweifeln, ob hier noch
ein ausgeprägter Paternalismus zu finden sei. Aber die Virulenz des Themas
wie auch überdurchschnittlich häufige Verurteilungen der Bundesrepublik
durch den Europäischen Gerichtshof wegen Verstößen gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz
deuten eher auf ein Fortbestehen der grundlegenden Problematik hin. Mit Bezug
auf die zentrale Frage, ob Frauen grundsätzlich ihre Erwerbstätigkeit
neben ihren Familienaufgaben fortsetzen (»Kontinuitätsmodell«)
oder aber die Erwerbstätigkeit zugunsten der Kindererziehung unterbrechen
(»Dreiphasenmodell«) oder ganz aufgeben sollten (»Traditionales
Modell«), zeigen international vergleichende Umfragen:»In
neun der elf untersuchten Länder vertreten mehr als die Hälfte der Befragten
das Kontinuitätsmodell. .... Nur in zwei Ländern, in den alten Bundesländern
(sc. Deutschlands) und in Großbritannien findet das Dreiphasenmodell größere
Zustimmung; ... Frauen vertreten das Kontinuitätsmodell häufiger und
traditionale Modelle seltener als Männer .... In allen Ländern ist die
Zustimmung zu traditionalen Modellen in der jüngsten Altersgruppe am geringsten
und in der ältesten Altersgruppe am stärksten ..., deutlich tritt auf
der anderen Seite der restaurative Sonderweg Westdeutschlands zutage.« (Hans-Joachim
Schulze / Jan Künzler, Familie und Modernisierung: kein Widerspruch,
1997, S. 96-99). | Deutschland ist in dieser Frage zwischen
Ost und West grundsätzlich gespalten: Die Befürwortung der Frauenerwerbstätigkeit
übertrifft in den neuen Bundesländern skandinavische Dimensionen, während
in den alten Bundesländern die Mehrheit auch der Frauen noch für das
Dreiphasenmodell votiert. Als Hinterlassenschaft aus DDR-Zeiten finden sich in
Ostdeutschland auch wesentlich mehr Ganztagseinrichtungen für Kinder und
Kinderkrippen. (Ebd., S. 147).Daß sich bis heute im
Deutschen keine der angelsächsischen Unterscheidung zwischen »Sex«
und »Gender« vergleichbare Terminologie entwikkelt hat, zeigt, wie
schwer es hierzulande ist, den nach wie vor vorhandenen Paternalismus - insbesondere
bei Unternehmern, Gewerkschaftern und Kinderärzten! - zur Rechenschaft
zu ziehen.Die gründlichsten international vergleichenden Untersuchungen
zum Zusammenhang von »Gender-Verhältnissen« und generativem Verhalten
hat Künzler (2002) für die Staaten der OECD vorgelegt. Das Ausmaß
an geschlechtsspezifischen Ungleichheiten wird in dieser Studie insbesondere durch
folgende Indikatoren gemessen:- | |
geschlechtsspezifische Rollenorientierungen; | - | | geschlechtsspezifische
Beteiligung an bezahlter Arbeit; | - | | persönliche
Konstruktionen von Lebenssinn durch die Übernahme von Verantwortung für
Kinder; | - | | geschlechtsspezifische
Beteiligung an unbezahlter Haus- und Erziehungsarbeit; | - | | geschlechtsspezifische
Beteiligung an höherer Bildung. | Angaben zu diesen
vier Dimensionen wurden von Künzler zu einem Indikator »Modernität
der Geschlechterverhältnisse« zusammengefaßt und die Werte am
Median geteilt (vgl. Tabelle,
letzte Spalte). (Ebd., S. 147-148).Seinen politischen Ausdruck
findet der Paternalismus auch in der Form sozialstaatlicher Politik, insbesondere
mit Bezug auf Frauen und Kinder. Die Maßnahmen können der Vereinbarkeit
von Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit von Frauen förderlich
oder hinderlich sein. In der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung
wurden in diesem Zusammenhang verschiedene Typologien entwickelt. Die Typologie
von Künzler unterscheidet »ökonomische« (direkte Geldleistungen)
und »ökologische« (die Umwelt von Familien gestaltende) staatliche
Interventionen (Künzler bezieht sich dabei auf Schulze (1993); ich übersetze
die auf englisch formulierte Typologie in Anlehnung an Kaufmann / Herlth / Strohmeier,
1980, S. 118ff.) und gewinnt durch Kombination dieser Dimensionen vier Typen sozialstaatlicher
Politikmuster mit Bezug auf Familien. Dabei wird angenommen, daß die Dominanz
von Geldleistungen für Familien eher das Dreiphasenmodell oder das traditionale
Modell, die Dominanz sozialer Dienstleistungen für Kinder eher das Kontinuitätsmodell
fördert.1. | |
Politische Vernachlässigung der Familie (indolence): Hier sind weder
die öffentlichen Geldleistungen noch die Dienstleistungen für Familien
entwickelt. Dieses Politikmuster findet sich in Kanada, Griechenland, Irland,
Italien, Niederlande, Portugal, Schweiz und Spanien | 2. | | Behinderung
weiblicher Erwerbstätigkeit (inhibition): Hier finden sich erhebliche
Geldleistungen für Mütter und/oder Kinder, aber kein ausgebautes System
ganztägiger Kinderbetreuung. Dieser Politiktypus findet sich in Österreich,
(West-)Deutschland, Luxemburg und Großbritannien. | 3. | | Förderung
weiblicher Erwerbstätigkeit (intensification):
In diesen Ländern sind die Einrichtungen zur Kinderbetreuung stark ausgebaut,
während nur wenige Geldleistungen an Familien gezahlt werden. Dieser Politiktypus
findet sich in Japan, Neuseeland und den Vereinigten Staaten. | 4. | | Erwerbsbeteiligungsneutrale
Familienunterstützung (neutrality): In diesen Ländern sind sowohl
die Geldleistungen wie die Dienstleistungen für Mütter und Kinder gut
ausgebaut. Dieser Politiktypus findet sich in Australien, Belgien, Dänemark,
(Ost-)Deutschland, Finnland, Frankreich, Norwegen und Schweden. | (Vgl.
Jan Künzler, 2002, Tabelle 8.8, S. 280). (Ebd., S. 148-149).Fertilität
in den OECD-Staaten (1994), Muster der Familienpolitik und Modernität der
Geschlechterverhältnisse | Land | Zusammengefaßte
Geburtenziffer | Politikmuster
(nach Schulze) | Modernität
der Geschlechterverhältnisse | Neuseeland | 2,10 | fördernd
(3) | + | Vereinigte
Staaten | 2,08 | fördernd
(3) | + | Kanada | 1,93 | vernachlässigend
(1) | + | Schweden | 1,88 | neutral
unterstützend (4) | + | Australien | 1,87 | neutral
unterstützend (4) | + | Norwegen | 1,86 | neutral
unterstützend (4) | + | Finnland | 1,85 | neutral
unterstützend | + | Irland | 1,85 | vernachlässigend
(1) | | Dänemark | 1,80 | neutral
unterstützend (4) | + | Großbritannien | 1,74 | behindernd
(2) | + | Luxemburg | 1,72 | behindernd
(2) | | Frankreich | 1,65 | neutral
unterstützend (4) | + | Niederlande | 1,57 | vernachlässigend
(1) | | Belgien | 1,55 | neutral
unterstützend (4) | | Japan | 1,50 | fördernd
(3) | | Schweiz | 1,49 | vernachlässigend
(1) | | Portugal | 1,44 | vernachlässigend
(1) | + | Österreich | 1,44 | behindernd
(2) | | Deutschland | 1,36 | behindernd
(2)
in West-D. und neutral unterstützend (4)
in Ost-D. | | Griechenland | 1,35 | vernachlässigend
(1) | | Italien | 1,21 | vernachlässigend
(1) | | Spanien | 1,21 | vernachlässigend
(1) | |
Bezogen auf die Politikmuster seien die
Auswirkungen auf die Fertilität: sehr negativ ( 1),
negativ ( 2),
positiv ( 3),
sehr positiv ( 4). Bezogen
auf die Modernität der Geschlechterverhältnisse seien die
Auswirkungen auf die Fertilität: negativ (), positiv (+). Unter
Berücksichtigung multivariater Analysen läßt sich das Ergebnis
dieser Untersuchung wie folgt zusammenfassen:
1. | |
Je geringer die Differenz in der Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen,
desto höher die Fertilität. | 2. | | Je
»moderner« die Geschlechterverhältnisse, desto höher die
Fertilität. | 3. | | Je
besser ausgebaut die öffentlichen Dienstleistungen für Kinder (Krippen,
Kindergärten Ganztagsschulen), desto höher die Fertilität. | 4. | | Der
Anteil der Geldleistungen für Familien am Volkseinkommen korreliert dagegen
kaum mit der Fertilität. | (Vgl.
Jan Künzler, 2002, S. 284). Einen ähnlichen Befund stellt
Karl Schwarz (1999, S. 368f.) auf der Indi.vidualebene fest: »Im übrigen
hat sich eine erstaunliche, fast alle BevÖlkerungsgruppen übergreifende
Einheitlichk~it der Kinderzahl und der Struktur der Familien nach der Kinderzahl
durchgesetzt, die von der Einkommenslage fast ganz unabhängig ist.«
(Ebd., S. 150).Man kann daraus schließen, daß unter
den gegenwärtigen Umständen die Schwierigkeiten einer Vereinbarkeit
von Elternverantwortung und Erwerbstätigkeit besonders wirksame Ursachen
niedriger Fertilität darstellen, zumindest für die Frauen der Mittelschicht.
Die niedrige Fertilität in der Bundesrepublik kommt bei im OECD-Vergleich
nur wenig über dem Durchschnitt liegenden Geldleistungen für Familien
(die Aufwendungen werden von der OECD mit 1,31% des Bruttosozialprodukts für
Deutschland und mit 1,28% für den OECD-Durchschnitt ausgewiesen; vgl. Jan
Künzler, 2002, S. 280) und einer eklatanten Unterversorgung mit Krippenplätzen
in den alten Bundesländern sowie dem allein für die deutschsprachigen
Länder charakteristischen Halbtagsschulsystem zustande. Man wird also von
einer wenig großzügigen Unterstützung der Familie sprechen dürfen.
Für den hohen Anteil kinderloser Frauen scheint jedoch der normative Konflikt
von nicht geringerer Bedeutung: Junge Frauen, die eine kontinuierliche Berufstätigkeit
und Kinder verbinden wollen, sind in Deutschland eine Minderheit, die gegen Vorurteile
über »berufstätige Mütter« anzukämpfen hat und
in den alten Bundesländern zudem auf erhebliche Schwierigkeiten der Kinderbetreuung
stoßen. (Nach mehreren Untersuchungen zu schließen, sind die Großmütter
immer noch das verläßlichste Betreuuungsarrangement!). In den neuen
Bundesländern dürften Mütter angesichts der allgemeinen Arbeitslosigkeit
ohnehin schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. In dieser Konstellation
wird der Konflikt von einem zunehmenden Anteil der Frauen durch Verschiebung an
sich gewünschter Geburten - bis es zu spät scheint - oder aber durch
entschlossene Kinderlosigkeit gelöst. (Ebd., S. 150-151).Daß
Kinder und Karriere in Deutschland nicht zu verbinden sind, scheint sich unter
qualifizierten jungen Frauen zunehmend auch als Vorurteil zu verfestigen. Während
bis in die jüngste Vergangenheit Meinungsumfragen zum sogenannten »Kinderwunsch«
mit schöner Regelmäßigkeit einen die Reproduktion theoretisch
gewährleistenden Durchschnittswert von 2,1 Kindern pro Frau zutage förderten,
zeigt eine neue Studie des Allensbacher Instituts für Demoskopie (2004, S.
7ff.) nunmehr ein deutlich ambivalenteres Bild, vor allem bei den Kinderlosen,
bei Männern noch stärker als bei Frauen. Dieselbe Tendenz ist aus der
Umfrage 1999/2000 des »Eurobarometers« zu entnehmen: Österreich
und Deutschland erscheinen dabei als die Länder, in denen sowohl die gewünschte
Kinderzahl als auch die ideale Kinderzahl unter den 18-bis-39-Jährigen besonders
niedrig sind. »In Westdeutschland wünschen sich mit 57,6% der Befragten,
noch etwas mehr als die Hälfte, 2 und mehr Kinder. In Ostdeutschland sind
es mit 46,5% schon weniger als die Hälfte«; der durchschnittliche Kinderwunsch
beträgt nach dieser Befragung in Deutschland noch 1,52 Kinder. Zum Vergleich:
In ... Dänemark 2,14 und in Schweden 1,96. Vgl. Kinderwünsche in
Europa: Keine Kinder mehr gewünscht, BiB-Mitteilungen 03/2004, S. 10-17.
- Einschränkend muß hinzugefügt werden, daß die ausländische
Wohnbevölkerung in die Studie des Instituts für Demoskopie ausdrücklich
nicht einbezogen wurde und möglicherweise auch beim »Eurobarometer«
ausgeschlossen blieb. »Nur 59 Prozent der 18-bis-44-jährigen Bevölkerung
sind überzeugt, daß Lebensglück das Zusammenleben in einer Familie
voraussetzt. .... Nur 42 Prozent der Kinderlosen wollen »bestimmt«
Kinder haben, 35 Prozent eventuell. 23 Prozent schließen die Elternschaft
für sich persönlich kategorisch aus.« (Institut für Demoskopie
in Allensbach, Einflußfaktoren auf die Geburtenrate - Ergebnisse einer
Repräsentativumfrage der 18-bis-44-jährigen Bevölkerung, 2004,
S. 7ff.). Und je entschiedener die Übernahme von Elternverantwortung abgelehnt
wird, desto stärker wird auch die kollektive Bedeutung generativer Entscheidungen
verneint. (Ebd., S. 151).
5.8) Strukturelle Rücksichtslosigkeiten
Solchen
Polarisierungen ist mit Plakataktionen und sonstigen »Aufklärungsschriften«,
wie sie von Zeit zu Zeit von Familienministerien verbreitet werden, kaum beizukommen.
Selbst wo Rechtsansprüche bestehen, beispielsweise auf Elternurlaub oder
Teilzeitarbeit, sind die Verhältnisse außerhalb des öffentlichen
Dienstes oft so beschaffen, daß sie sich praktisch nicht durchsetzen lassen
- von Männern noch weniger als von Frauen! Es sind ja nicht so sehr die Vorurteile
und Willkürlichkeiten einzelner Personen dem hinderlich, sondern strukturelle
Eigenarten unseres Wirtschaftssystems, welche keine Rücksicht darauf nehmen,
ob Erwerbstätige Elternverantwortung übernehmen oder nicht.
(Ebd., S. 152).Wir müssen tief in die Selbstverständlichkeiten
unseres gesellschaftlichen Lebens blicken, um die strukturelle Benachteiligung
von Menschen zu verstehen, die heute Elternverantwortung übernehmen. Moderne,
funktional ausdifferenzierte Gesellschaften entwickeln Teilsysteme mit eigensinnigen
»Funktionslogiken«, die sich indifferent gegenüber Umständen
und Entwicklungen verhalten, die für ihr eigenes Funktionieren nicht unmittelbar
relevant sind. Diese zuerst von Georg Simmel (»Sociale Differenzierung«,
1890) und Emile Durkheim (»Gesellschaftliche Teilung der Arbeit«,
1893) in ihrer Bedeutung erkannten Transformationen der Modernisierung sind die
eigentliche Ursache der allgemeinen Leistungssteigerung, welche wir nicht nur
in der Wirtschaft, sondern ebenso in Wissenschaft, Staat und nicht zuletzt Familie
beobachten können. Während nämlich die familialen Beziehungen in
vormoderner Zeit in den Lebenszusammenhang von Produktion und Herrschaft »eingebettet«
waren, haben sie sich heute ebenso verselbständigt wie diejenigen von Produktion
und Herrschaft und sind aufgrund verstärkter kultureller Codierung zu einem
gesellschaftlichen Teilsystem eigener Art geworden. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann,
Läßt sich Familie als gesellschaftliches Teilsystem begreifen?,
1994). (Ebd., S. 152).Auch die Anforderungen an Familie sind
gestiegen. Familien sind aus gesellschaftlicher Sicht auf Reproduktion und Regeneration
von Humanvermögen sowie auf Stabilisierung Cier Solidarität zwischen
Generationen spezialisierten Funktionseinheiten geworden. Das entspricht natürlich
nicht dem Selbstverständnis der Beteiligten, die eher von Kindererziehung,
wechselseitiger Hilfe, Freizeitgestaltung und Haushaltstätigkeiten sprechen.
Zum Verhältnis von Aufgaben und Leistungen von Familie einerseits und von
gesellschaftlichen Funktionen andererseits. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Zukunft
der Familie, 1990, S. 34-81). Aber Familien können sich nicht der typischen
Methoden der Leistungssteigerung bedienen, welche andere gesellschaftliche Teilsysteme
kennzeichnen: Organisation, Größenwachstum und Arbeitsteilung. Wenn
Modernisierung »Entbettung« bedeutet, nämlich »das »Herausheben«
sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Ineraktionszusammenhängen und ihre
unbegrenzte Raum-Zeit-Spannen übergreifende Umstrukturierung« (Anthony
Giddens, Konsequenzen der Moderne, 1995, S. 33), so bleiben Familien, zumindest
die haushaltzentrierten des westeuropäischen Typus, zwangsläufig unvollständig
modernisierbare Gebilde. (Bemerkenswerterweise entwickeln sich im Zuge zeitgenössischer
Migration transnationale Verwandtennetzwerke von z. T. beachtlicher Leistungsfähigkeit;
vgl. Matthias Bös, Migration als Problem offener Gesellschaften, 1997).
In Westeuropa kam jedoch schon im Mittelalter feudalen Bindungen größere
Bedeutung als verwandtschaftlichen Bindungen zu.). Auch in ökonomischer Hinsicht
sind Familien »unmodern«, denn in ihnen gelten nach wie vor naturalwirtschaftliche
Prinzipien der Sorge und Reziprozität unter Angehörigen. Sieht man vom
Taschengeld ab, endet der Geldverkehr an der Haustüre. Allerdings ist Familien
heute im Regelfall die Selbstversorgung unmöglich geworden; sie sind für
nahezu alle Güter auf Marktversorgung und damit auch auf Gelderwerb angewiesen.
Dafür sind heute allein die Eltern da, und sie müssen auf dem Arbeitsmarkt
mit den disponibleren Kinderlosen konkurrieren. (Ebd., S. 152-153).Wir
können deshalb von einer strukturellen gesellschaftlichen Rücksichtslosigkeit
gegenüber Familien sprechen. (Hierzu ausführlicher Franz-Xaver Kaufmann,
Zukunft der Familie im vereinten Deutschland, 1990, S. 169ff. sowie Bundesministerium
für Familie und Senioren, Familien und Familienpolitik ..., 1994,
S. 21 ff.). Sie resultiert aus dem Sachverhalt, daß jedes Funktionssystem
nur die für es relevanten Gesichtspunkte seiner Umwelt in Rechnung stellt
und deshalb die Erfüllung familialer Aufgaben wie Elternschaft oder Pflege
kranker oder behinderter Angehöriger in der Regel keine Anerkennung außerhalb
der Familien selbst findet. Der moderne Individualismus im Wirtschaftsleben wie
in der Rechtsordnung bleibt nicht ohne Folgen für die Bildung und Stabilität
familialer Lebenszusammenhänge. Auch die kulturellen Leitvorstellungen orientieren
sich am erwachsenen Individuum; Kinder sind nur als Privatsache vorgesehen, deren
Lebensraum in Familien, Bildungseinrichtungen und Zentren der Jugendkultur insular
isoliert wird und die Kinder zu »Außenseitern der Gesellschaft«
macht. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Kinder als Außenseiter der Gesellschaft,
1980). (Ebd., S. 153-154).Ein zentrales Moment der strukturellen
Benachteiligung von Familien läßt sich nicht ohne Schaden für
Wirtschaft und Gesellschaft beseitigen, nämlich die individuelle Entlohnung
nach Leistungskriterien, wobei als Leistung ausschließlich die Erwerbsarbeit
gilt. (Mit dieser Einschätzung bleibe ich auf dem Boden »kapitalistischer
Tatsachen«. Daß die noch zu besprechende »Transferausbeutung«
ihren konstitutiven Grund in der am Kapitalzins orientierten Wirtschaftsordnung
hat, zeigt Dieter Suhr: Transferrechtliche Ausbeutung und verfassungsrechtlicher
Schutz von Familien, Müttern und Kindern, 1990, S. 81.ff.). Nicht mehr
der produzierende Familienhaushalt, sondern der erwerbstätige einzelne stellt
die für die Lebensführung relevante Wirtschaftseinheit dar. Für
ein Unternehmen und erst recht für die Funktionsprinzipien der Marktwirtschaft
ist es grundsätzlich irrelevant, ob jemand Elternverantwortung übernimmt
oder nicht. Und dasselbe gilt für das liberale Staatsverständnis. (Vgl.
John ONeill, The Missing Child in Liberal Theory, 1994). Zwar entwickeln
alle gesellschaftlichen Teilsysteme wechselseitige strukturelle Rücksichtslosigkeiten,
aber wo organisierte Arbeitsteilung herrscht, ist mit solchen komplexen Herausforderungen
leichter umzugehen als in dem Kleingebilde Familie. Es ist deshalb eine zentrale
Aufgabe von familienbezogener Politik, derartige Rücksichtslosigkeiten abzubauen
oder zu kompensieren. Allerdings ist dies weniger einfach, als es auf den ersten
Blick scheint: Da die meisten sozialrechtlichen Regelungen dem individualistischen
Paradigma des Wirtschaftslebens folgen, ist es strukturell erschwert, durch Familienpolitik
eine nachhaltige Verbesserung familialer Lebenslagen zu erzeugen. (Ebd.,
S. 154).Wird die individualistische Orientierung von Wirtschaft
und Politik nicht korrigiert, so führt dies in der Konsequenz zu verschiedenen
Formen der Benachteiligung von Familien, welche ihrerseits unentgeltlich Vorteile
(»positive Externalitäten«) für die übrigen gesellschaftlichen
Teilbereiche produzieren: Sie bestehen in erster Linie in der grundsätzlich
unentgeltlichen Reproduktion und Regeneration der Humanvermögen, auf deren
Nutzung die übrigen Gesellschaftsbereiche angewiesen sind. Man kann diesen
Sachverhalt polemisch als » Transferausbeutung der Familie« bezeichnen.
(Grundlegend Dieter Suhr: Transferrechtliche Ausbeutung und verfassungsrechtlicher
Schutz von Familien, Müttern und Kindern, 1990; ferner mit besonderem
Nachdruck Jürgen Borchert, Innenweltzerstörung - Sozialreform in
die Katastrophe, 1989; ders., Renten vor dem Absturz - Ist der Sozialstaat
am Ende?, 1993). Unabhängig von diesem rhetorischen Kunstgriff
bleibt der Tatbestand schwerwiegender Asymmetrien zwischen Leistungen des Familiensystems
und Gegenleistungen von Wirtschaft und Staat bestehen. Diese Asymmetrien führen
zu einer Begünstigung der Kinderlosen im Vergleich zu den Eltern. (Ebd.,
S. 154-155).Eine erste Asymmetrie ergibt sich aus der Abhängigkelt
des Familienhaushalts von den Bedingungen des Arbeitsmarktes. Personen, welche
Elternverantwortung übernehmen, stehen nicht in gleichem Umfange dem Arbeitsmarkt
zur Verfügung, es sei denn, es gelingt ihnen dank besonderer Arrangements,
das Problem der Vereinbarkeit von Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit
befriedigend zu lösen. Das Vereinbarkeitsproblem ist jedoch nur ein Teilaspekt
der strukturellen Benachteiligung von Familien; seine Lösung reduziert nur
die Opportunitätskosten des Kinderhabens. (Ebd., S. 155).Daneben
schlagen auch die direkten Kosten des Aufbringens von Kindern zu Buche.
Hierbei handelt es sich um zwangsläufig anfallende konsumtive Aufwendungen.
Diese sind in jedem Falle von den Eltern zu tragen, werden aber zusätzlich
auch noch vielfach mit Steuern belastet. Das gilt für die Einkommenssteuer,
insoweit die dort anerkannten Freibeträge unterhalb der tatsächlichen
Aufwendungen der Eltern bleiben. Erst auf Druck des Bundesverfassungsgerichts
werden seit 2002 diese Aufwendungen in realistischer Höhe anerkannt. (Das
anerkannte steuerliche Existenzminimum eines Kindes [einschließlich Freibetrag
für Betreuung, Erziehung und Ausbildung] beträgt seit dem Jahre 2002
5808 EUR pro Jahr. In Anlehnung an die Sozialhilfesätze beträgt das
anerkannte Existenzminimum je nach Alter des Kindes zwischen 2834 und 4474 EUR
im Jahr 2002. [Vgl. Rüdiger Parsche u.a., Steuerlich induzierte Kinderlasten:
Empirische Entwicklung in Deutschland, 2003, S. 38.]. Die tatsächlichen
Aufwendungen der Eltern sind i.d.R. höher, sofern das Einkommen der Eltern
dies gestattet.). Ferner: Auch wenn sich das Familieneinkommen durch die Erwerbsbeteiligung
beider Eltern unter sonst gleichen Bedingungen auf das Niveau eines kinderlosen
Paares erhöht, bleibt die Fähigkeit, Ersparnisse zu bilden, hinter derjenigen
der Kinderlosen erheblich zurück. Dies schränkt nicht nur die Möglichkeiten
der Eigenvorsorge ein. Vielmehr werden wegen der unterschiedlichen Besteuerung
von Konsumausgaben und Ersparnissen die Familienhaushalte auch steuerlich stärker
belastet. (Das Ausmaß dieser zusätzlichen Belastungen, hier als »Kinderstrafsteuer«
apostrophiert, wurde vom ifo-Institut für die Zeit von 1990 bis 2002 auf
33 Mrd. EUR im Bereich der Einkommenssteuer und für 1998-2002 auf 7.5 Mrd.
im Bereich der Verbrauchssteuern geschätzt. Vgl. Rüdiger Parsche u.a.,
ebd., 2003, S. 85). Unter dem Gesichtspunkt der verfügbaren Einkommen fallen
schließlich neben den Steuern auch die Sozialversicherungsbeiträge
stark ins Gewicht, welche die Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen
ungeschoren lassen. All diese staatlichen Abgaben führen in ihrer kumulierten
Wirkung trotz eines progressiven Einkommenssteuertarifs zu einer deutlich degressiven
Belastung der höheren Einkommen, welche eine Hauptursache für die relative
Verarmung der Familien darstellt. (Vgl. Hessische Staatskanzlei [Hg.], Die
Familienpolitik muß neue Wege gehen! Der »Wiesbadener Entwurf«
zur Familienpolitik, 2003, S. 60ff.). (Ebd., S. 155-156).Eine
besonders gravierende Ungerechtigkeit entsteht im Bereich der Gesetzlichen Rentenversicherung.
Alleinstehende und Ehepaare mit nur einem Verdiener erhalten trotz offenkundig
ungleicher Bedürfnisse grundsätzlich dieselbe Rente, berechnet auf der
Basis der bezahlten Beiträge. Dementsprechend steht einem kinderlosen Doppelverdienerehepaar
bei gleicher Einkommensbiographie die doppelte Rente eines Einverdienerehepaares
zu. Diese Betonung des sogenannten Äquivalenzprinzips bedeutet eine im internationalen
Vergleich der gesetzlichen Alterssicherungen ziemlich einmalige Vernachlässigung
des Bedarfsaspektes, die auch durch die jüngst verbesserte Anerkennung von
Erziehungszeiten nicht aus der Welt geschafft wird. (Vgl. Hessische Staatskanzlei
[Hg.], ebd., 2003, S. 79ff.) Auch im Hinterbliebenenrecht stellen sich
Doppelverdienerpaare günstiger. (Ebd., S. 156).Die gravierendste
»Ausbeutung« - oder weniger polemisch: ein parasitäres Verhältnis
- ergibt sich aus dem Umstand, daß an Kindern mit guten Gründen keine
Eigentumsrechte bestehen können. Das Umlageverfahren in der Gesetzlichen
Renten- und Pflegeversicherung finanziert den Unterhalt nur der vorangehenden,
nicht der nachwachsenden Generation (hierzu ausführlicher Abschnitt 7.6).
Der Unterhalt der gegenwärtigen Erwachsenen- oder Elterngenerationen wird
einst von den Kindern dieser Generation gesichert werden müssen. Zum Aufbringen
der nachwachsenden Generation tragen aber kinderlos Bleibende nur wenig bei, da
selbst der Familienlastenausgleich zu einem hohen Maße von den Eltern mitfinanziert
wird. (Vgl. Bundesministerium für Familie und Senioren, Familien und Familienpolitik
..., 1994, ebd., S. 294f.). (Ebd., S. 156-157).Die
tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse der Familien entsprechen
weitgehend den Erwartungen, die sich aus der Analyse ihrer institutionellen Benachteiligungen
ergeben. So zeigen wiederholte Untersuchungen der Familienwissenschaftlichen Forschungsstelle
des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg, daß der Lebensstandard
eines kinderlosen Ehepaares zumindest in der Familienaufbauphase nahezu doppelt
so hoch ist wie derjenige eines Ehepaares mit zwei Kindern. Gravierend ist der
hohe Anteil von Familien an den Sozialhilfeempfängern, wobei hier vor allem
Alleinerziehende und kinderreiche Familien überproportional vertreten sind.
Jedes zehnte Kleinkind unter drei Jahren erhielt im Jahre 2001 Hilfe zum Lebensunterhalt,
und der Anteil hat im letzten Jahrzehnt überproportional zugenommen. (Vgl.
Statistisches Bundesamt, Kinder in der Sozialhilfe 2001, 2003, S. 6). Im
Jahre 2003 erhielten 1,08 Millionen Kinder und Jugendliche Hilfe zum Lebensunterhalt,
eine Zunahme um 6,2% gegenüber dem Vorjahr (Pressemitteilung 01.08.2004).
Dazu kommen 184000 Jugendliche, welche »erzieherische Hilfen« erhalten.
(Ebd., S. 157).Im vorangehenden ist nur von allgemein wirksamen
Faktoren die Rede gewesen, welche die Nachwuchsschwäche erklären können.
(Hinzu kommen die spezifischen Umstände einzelner BevÖlkerungsgruppen,
welche diese allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen als mehr oder weniger
beeinträchtigend erfahren lassen.). Kurz gesagt, tendieren moderne okzidentale
Gesellschaften zur Kinderarmut, weil sie kulturell die individuelle Entscheidung
im Rahmen der vom Recht gezogenen Grenzen an die Spitze aller Maximen gesetzt
haben und strukturell Personen ökonomische Vorteile nach dem Maße zukommen
lassen, als sie ihre Kompetenzen in den Dienst von direkten oder indirekten Kapitalinteressen
stellen. »Wer Schweine erzieht, ist ihr ein produktives, wer Menschen erzieht,
ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft.« (Friedrich List, Das nationale
System der politischen Ökonomie, 1841, S. 231.). Das Aufziehen von Kindern
gilt als ökonomisch irrelevant, als konsumtive Tätigkeit, als »Privatvergnügen«.
(Johannes Huinink [Elternschaft in der modernen Gesellschaft, 1997, S.
88f.] vermutet angesichts der ökonomischen Schwierigkeiten von Elternschaft,
daß sich Kinder zu einem »Luxusgut« entwickeln.). Die marktwirtschaftliche
Ökonomie verhält sich parasitär mit Bezug auf die Erziehungsleistungen
der Eltern. (Ebd., S. 157).Dieses »Privatvergnügen«
ist jedoch von größter öffentlicher Bedeutung, und wenn es allzusehr
durch andere Vergnügungen verdrängt wird, wozu die mit der Wohlstandssteigerung
einhergehende Optionserweiterung reiche Angebote enthält, so gefährdet
sich dieser Wohlstand selbst. Auf andere Weise, als Karl Marx vermutet hat, könnte
der Kapitalismus an seinen Erfolgen zugrunde gehen, wenn ihm der Nachwuchs ausgeht.
Im Sinne der ökonomischen Theorie sind Kinder zu einem »öffentlichen
Gut« geworden, an dessen Produktion alle ein Interesse haben, die einzelnen
jedoch keine oder ungenügende Anreize erhalten, sich an der Produktion zu
beteiligen. (Ebd., S. 158).In der Theorie öffentlicher
Güter formuliert, bedeutet der Verzicht auf die Übernahme von Elternverantwortung
»Free-Riding«. Kinderlose als »Trittbrettfahrer«, das
klingt häßlich. Es ist auch ungerecht aus der Sicht der Betroffenen.
Der Vorwurf ist nicht an die zu richten, die ihre knappen Ressourcen nach ihren
Präferenzen verwenden, sondern an eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung,
die die Kinderlosigkeit prämiiert und die übernahme von Elternverantwortung
mit ungebührlichen Nachteilen verbindet. So bemerkt zu Recht Norbert F. Schneider
(Bewußt kinderlose Ehepaare, 1996, S. 136): »Die zunehmende
Verbreitung bewußter Kinderlosigkeit ... spiegelt einen modernen Lebensstil
wider, der von immer mehr jungen Menschen angestrebt wird und nicht zuletzt Folge
der skizzierten Eltem- und Kinderunfreundlichkeit unserer Gesellschaft ist. Hier,
und nicht an einer spaltenden Stigmatisierung, sind die Hebel zur Veränderung
anzusetzen.« (Ebd., S. 158).
6) Politische Perspektiven (S. 159-197)
In
den beiden folgenden Kapiteln stehen politikbezogene überlegungen im Vordergrund.
Was läßt sich seitens der Politik aus den vorangehenden Analysen lernen
? Was kann aus sozialwissenschaftlicher Sicht angesichts der Problemlage
empfohlen werden? Nach Einschätzung des Verfassers ist der diskursive
Weg von sozialwissenschaftlichen Einsichten zu praktisch brauchbaren politischen
Schlußfolgerungen recht weit, und er setzt auf jeder Stufe der Argumentation
Zusatzannahmen voraus, die für die ursprüngliche Problembeschreibung
entbehrlich sind. Es gibt somit gute Gründe, das Geschäft der Politikberatung
von der wissenschaftlichen Analyse institutionell zu trennen. (Ebd., S.
159).Der praktische Nutzen sozialwissenschaftlicher Überlegungen
bezieht sich vor allem auf die Art und Weise der Problembestimmung und auf die
grundsätzlichen Perspektiven möglicher Problemlösungen. Eine für
die praktische Wirksamkeit der Sozialwissenschaften grundlegende Einsicht stammt
von dem us-amerikanischen Sozialpsychologen William I. Thomas: »If men define
situations as real, they are real in their consequences.« In eine ähnliche
Richtung weist ein bekanntes Diktum von Karl Marx: »Man muß diesen
versteinerten Verhältnissen ihre Melodie vorsingen, dann fangen sie an, zu
tanzen.« Es ist uns Menschen nicht vergönnt, die Welt in kollektiv
eindeutiger Weise zu erkennen. Was wir als Wirklichkeit bezeichnen, ist zum einen
das Ergebnis unserer eigenen, durch gedeutete Erfahrungen zustande gekommenen
Vorstellungen, und zum anderen ein Vorrat von in unseren sozialen Bezugkreisen
geteilten, in der Regel öffentlich verbreitete Deutungen, mit denen wir uns
mit Bezug auf das sich Ereignende vor allem dann verhalten, wenn es sich nicht
in unserem unmittelbaren Erfahrungsraum ereignet, wenn es sich also nur um »Erfahrungen
zweiter Hand« handelt, die uns heute vorzugsweise durch Massenmedien, aber
natürlich auch durch Gespräche oder individuelle Lektüre nahegebracht
werden. Inwieweit es sich hierbei um »richtiges« oder »falsches
Bewußtsein« handelt, ist oft nicht eindeutig zu entscheiden. Die Sozialwissenschaften
sind das fortgesetzte bemühen, unsere öffentlich geteilten Vorstellungen
mit auf systematischem Wege gewonnenem Wissen zu konfrontieren und diese in, wie
Sozialwissenschaftler hoffen, erfahrungstauglicher und lebensdienlicher Weise
zu verändern. (Ebd., S. 159-160).Diese Schrift ist der
bescheidenen Versuch eines Sozialwissenschaftlers, andere Menschen durch individuelle
Lektüre davon zu überzeugen, daß ein Bevölkerungsrückgang,
wie er sich aufgrund der in Deutschland seit 1970
bzw. 1971/'72
herrschenden Fertilität für das 21. Jahrhundert abzeichnet, zu schwerwiegenden
ökonomischen, sozialen und politischen Problemen für ein Gemeinwesen
führen würde. Wer so argumentiert, stellt sich in den Horizont praktischer
Solidarzusammenhänge, deren Existenz vorausgesetzt wird. (Vgl. Abschnitt
1.3).
(Ebd., S. 160).Die skizzierten demographischen Regressionstendenzen
sind real - in Deutschland, in Europa, in absehbarer Zukunft auch global -, und
es sind keine spontan entgegenwirkenden faktoren erkennbar. (Ebd., S. 160).
6.1) Zwischen Bevölkerungspolitik und demographischem
Fatalismus
Bevölkerungsfragen erwecken bei vielen
Menschen ein schwer zu formulierendes Unbehagen. Und dies Unbehagen steigert sich,
sobald von »Bevölkerungspolitik« die Rede ist. Die Bevölkerungswissenschaft
oder Demographie hat das Ihre dazu beigetragen, solchem Unbehagen Nahrung zu geben.
(Ebd., S. 161).Geburt und Sterben erscheinen nur als nüchterne
Statistiken biologisch, und Menschen werden auf zählbare Einheiten reduziert.
Die Bevölkerungsstatistik hat sich aus der »Politischen Arithmetik«
des 17. und 18. jahrhunderts entwickelt, welche sich selbst als Handlungswissenschaft
für die regierenden Fürsten verstand, denen die Vermehrung ihres Volkes
einen Zuwachs an Macht versprach. Erkenntnis - Voraussicht - Handeln, diese Trias
des rationalen Politikentwurfs prägt bis heut das Konzept einer Bevölkerungspolitik.
(Ebd., S. 161-162).Wingen (= Max Wingen;
HB) ... befürwortet eine »bevölkerungsbewußte
Familienpolitik«. (Ebd., S. 163).Die Begründung
familienpolitischer Maßnahmen mit bevölkerungspolitischen Intentionen
stößt auf der symbolisch-kulturellen Ebene in Deutschland und der Schweiz
bisher mehrheitlich auf Ablehnung, während z.B. in Frankreich in einem Haut
Conceil de la Population et de la Famille kein Geringerer als der Präsident
der Republik den Vorsitz führt. Auf der pragmaitsch-instrumentellen Ebene
dagegen ist von einer hochgradigen Kontingenz zwischen politischen und individuellen
Motiven auszugehen. (Ebd., S. 164-165).In dieser Schrift
wurde ... der Begriff des Humanvermögens stark gemacht. (Vgl. Kapitel
3). In politischer Hinsicht entspricht ihm die im folgenden zu begründende
politische Zielsetzung der Nachwuchssicherung. (Ebd., S. 165).Aber
es ist auch vor dem umgekehrten Fehlschluß zu warnen, nämlich einem
demographischen Fatalismus. Die unter konstant bleibenden Bedingungen prognostizierte
niedrige Fertilität und regressive Bevölkerungsentwicklung werden hier
als vorgegebene Tatsachen verstanden, die man nicht wesentlich beeinflussen
könne. Die demographischen Perspektiven werden allerdings auch nicht als
besonders gravierend eingeschätzt, wahrscheinlich um kognitive Dissonanzen
zu reduzieren. Von Fatalismus mit Bezug auf die Bevölkerungsentwicklung hat
zuerst Mayer (vgl. Tilman Mayer, Die demographische Krise - Eine integrative
Theorie der Bevölkerungsentwicklung, 1999, S. 412) gesprochen. Mayers
grundsätzliche Kritik an Bevölkerungspolitik, bei gleichzeitig
positiver Einschätzung der Steuerungspotentiale moderner Gemeinwesen hinsichtlich
demographischer Prozesse, trifft sich weitgehend mit der hier vertretenen Position.
(Ebd., S. 165).Der demographische Fatalismus ist eine kollektive
Situationsdefinition, die erkennbar nicht aus der demographischen Sackgasse hinausführt,
sondern Konsequenzen zeitigt, die man mit Alfred Sauvy als »malthusianisch«
bezeichnen kann (vgl. Abschnitt 4.3):
Man sieht sich dann gezwungen, die übrigen Gesellschaftsbereiche an die regressive
Bevölkerungsentwicklung anzupassen, was allerdings in Konflikt mit wirtschafts-
wie mit sozialpolitischen Zielen gerät. (Ebd., S. 165-166).Der
demographische Fatalismus faßt die Bevölkerungsentwicklung wie ein
Naturereignis auf, das man nicht ändern, dem man sich politisch nur anpassen
kann. .... Gegen eine Biologisierung der Bevölkerungsfrage wird hier für
ihre Ökonomisierung und Soziologisierung plädiert. Die Bevölkerungsentwicklung
ist kein unaufhaltsames Schicksal (und wenn doch?
HB), sondern durch institutionelle Reformen grundsätzlich in
zukunftstauglicher Weise zu beeinflussen. Hierfür müßten allerdings
andere Prioritäten als bisher gesetzt werden. (Ebd., S. 167).
6.2) Sozialstaat und Wohlfahrtsproduktion
Um hier weiter
zu denken, müssen wir eine übergreifende Zwischenüberlegung einschalten.
Wie bereits in Abschnitt 1.3
angedeutet, bildet der Nationalstaat, hier also konkret die Bundesrepublik Deutschland,
nach wie vor den wichtigsten politischen Solidaritätshorizont. Neben kulturellen
Identitätsmustern bestimmen vor allem die politischen Institutionen der Rechts-
und Sozialstaatlichkeit die Realität eines gemeinsamen Schicksalsraums.
(Ebd., S. 167-168).Neben kulturellen (Legitimation) und politischen
(Pazifizierung sozialer Gegensätze) Funktionen lassen sich dem Sozialstaat
auch wirtschaftliche und soziale Funktionen zuschreiben, die in unmittelbarem
Zusammenhang mit unserem Thema stehen, nämlich die Stützung der Humankapitalbildung
und die Stabilisierung privater Lebensformen, in denen die von den übrigen
Gesellschaftsbereichen beanspruchten Humanvermögen regeneriert und reproduziert
werden. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaats,
1997, S. 34ff.). (Ebd., S. 170).Seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs und im Horizont der internationalen Menschenrechtsdoktrin haben sozialstaatliche
Legitimationen die älteren machtstaatlichen Legitimationen nationaler Vergesellschaftung
überlagert. Das kulturelle Leitbild des Sozialstaates beinhaltet ein politisches
Gemeinwesen, das auf Freiheit, rechtlicher Gleichheit, Marktwirtschaft und zugleich
demokratisch und sozialstaatlich vermittelter Solidarität seiner Bürger
beruht. Politisch verwirklicht wird es in dem Maße, wie es einem Staate
gelingt, Freiheitsrechte, politische Mitbestimmungsrechte und soziale Teilhaberechte
gleichgewichtig zu entfalten und zu gewährleisten. Je stärker im Zuge
von Globalisierung und Europäisierung die nationalen Grenzen an Bedeutung
verlieren, desto wichtiger wird die Synergie (d.h. das gelingende Zusammenwirken)
von Wirtschafts- und Sozialpolitik für den Erfolg nationaler Politik.
(Ebd., S. 170).Die Vorstellung einer »Standortkonkurrenz«
zwischen ganzen Volkswirtschaften bezieht sich nicht etwa nur auf Löhne und
Abgaben, sondern auf den Zusammenhang zwischen politischen (z.B. Rechtssicherheit,
sozialer Friede), ökonomischen und soziokulturellen Standortfaktoren; zu
letzteren zählen insbesondere die Arbeitskräfte mit ihren Motivationen
und Fähigkeiten, also das sogenannte Humanvermögen, aber auch die infrastrukturellen
Voraussetzungen der Produktivität wie Forschung, Kommunikation oder Lebensqualität.
Wie ernst in den Vereinigten Staaten diese Standortschwächen Deutschlands
genommen werden, zeigt Christian Schwägerl: Das Exodus-Dossier - Wohin
es die akademische Elite-zieht. Kinderarmut wird durch falsche Forschungspolitik
gesteigert, FAZ, 16.02.2005, S. 44. (Ebd., S. 170).Angesichts
der disziplinären Spezialisierung der Sozialwissenschaften fehlt es noch
weithin an einer Begrifflichkeit, um diese komplexen Zusammenhänge zur Sprache
zu bringen. Nach wie vor dominiert ein öffentliches Bewußtsein, das
die wohlfahrtsbedingungen moderner Gemeinwesen auf die Dichotomie »Markt«
versus »Staat« reduziert. Diese Dichotomie wird durch die disziplinäre
Spezialisierung auf eine marktzentrierte Wirtschaftswissenschaft und eine staatszentrierte
Politikwissenschaft sowie durch den herkömmlichen politischen Gegensatz zwischen
»Links« und »Rechts« stabilisiert. Es sei nachdrücklich
darauf hingewiesen, daß diese politisch polarisierende Sichtweise der Komplexität
unserer gegenwärtigen wohlfahrtspolitischen Probleme nicht mehr angemessen
ist und selbst eine kognitive Schranke für zukunftstaugliche Perspektiven
darstellt. Um über diese oft sogar als antagonistisch verstandene Dichotomie
hinauszukommen, muß nach gemeinsamen Bezugspunkten beider Begriffe gefragt
werden. Ein solcher Bezugspunkt ist beispielsweise »Steuerung«, also
die Frage nach unterschiedlichen Prinzipien institutionalisierter Handlungskoordination.
Wenn Steuerung als ein übergeordneter Bezugspunkt akzeptiert ist, fällt
es nicht mehr schwer zu zeigen, daß »Markt« und »Staat«
allein keine zureichende Explikation gesellschaftlicher Steuerungsprozesse darstellen.
(Ebd., S. 171).In wohlfahrtstheoretischer Perspektive bietet sich
als übergreifender Bezugspunkt der Begriff der Wohlfahrtsproduktion
an. Hierunter sei die Gesamtheit der Nutzen für Dritte stiftenden
Transaktionen verstanden, seien sie öffentlicher oder privater Artentgeltlich
oder unentgeltlich, formell oder informell. Der Begriff wird jedoch nur durch
seine Spezifizierung analytisch fruchtbar. Neuere »wohlfahrtspluralistische«
Ansätze arbeiten meist mit einer vierfachen Unterscheidung, nämlich
zwischen marktlicher, staatlicher, assoziativer und familialer Wohlfahrtsproduktion.
Marktliche Wohlfahrtsproduktion orientiert sich primär an Kosten und Preisen,
staatliche Wohlfahrtsproduktion an Rechtsnormen, familiale Wohlfahrtsproduktion
an Solidarität und assoziative Wohlfahrtsproduktion, bald an korporativen,
bald an professionellen, bald an Solidaritätsnormen. Der Typus assoziativer
Wohlfahrtsproduktion bezieht sich zentral auf den sogenannten »Dritten«
oder »Non-profit«-Sektor-von kollektiver Selbsthilfe bis zu den Wohlfahrtsverbänden
und ihren Einrichtungen. (Ebd., S. 171-172).Will der Staat
die familiale Wohlfahrtsproduktion unterstützen, so kann er dies erfolgreich
nur durch die Beeinflussung der Lebenslage von Familien und ihren Mitgliedern
tun. »Lebenslage« ist ein Zentralbegriff der Theorie der Sozialpolitik,
dessen ursprüngliche Definition durch Gerhard Weisser unübertroffen
ist: »Als Lebenslage gilt der Spielraum, den die äußeren Umstände
dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die er bei
unbehinderter und gründlicher Selbstbesinnung für den Sinn seines Lebens
ansieht.« (Gerhard Weisser, Distribution II - Politik, in: Handwörterbuch
der Sozialwissenschaften, Band 2, 1956, S. 635). Daß Kinder gerade unter
säkularisierten, modernen Verhältnissen als sinnstiftend erfahren werden,
wurde bereits dargelegt. (Vgl. Abschnitt 5.5).
Die neuere Diskussion betont das relationale Moment von Person und Umwelt am Begriff
der Lebenslage und spricht auch von »sozialer Teilhabe«. Vier zentrale
analytische Dimensionen der Lebenslage lassen sich unterscheiden, nämlich
Status, Ressourcen, Gelegenheiten und erworbene Kompetenzen. (Vgl. Franz-Xaver
Kaufmann, Sozialpolitik zwischen Gemeinwohl und Solidarität, in: Herfried
Münkler und Karsten Fischer [Hg.], Gemeinwohl und Gemeinsinn, 2002,
S. 87ff.). Sie werden typischerweise durch unterschiedliche politische Maßnahmen
gefördert: Der Status ist vor allem von der Zuweisung von Rechten abhängig.
Unter den Ressourcen dominiert in sozialpolitischer Perspektive das Einkommen,
das staatlicherseits vorzugsweise durch Steuern und Sozialleistungen beeinflußt
wird. Unter »Gelegenheiten« ist hier vor allem die Chance der Inanspruchnahme
von Infrastruktur und sozialen Diensten zu verstehen, deren ortsnahe Bereitstellung
eine öffentliche, oftmals regionale oder kommunale Aufgabe darstellt; aber
natürlich gehören auch Arbeitsplätze zu den zentralen »Gelegenheiten«.
Erworbene Kompetenzen resultieren vor allem aus formellen und informellen Lernprozessen,
deren politische Förderung vor allem mittels des allgemeinen oder beruflichen
Bildungswesens erfolgt. Politische Familienförderung kann nur erfolgreich
sein, wenn sie diese vier Dimensionen gemeinsam berücksichtigt.
(Ebd., S. 172-173).
6.3) Nachwuchssicherung als prioritäre Aufgabe des Sozialstaats
Der
langfristige Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung und der potentiellen
Eltern ist die Konsequenz vielfältiger individueller Entscheidungen unter
bestimmten kulturellen Voraussetzungen sowie politisch und ökonomisch gesetzten
Bedingungen. Er ist vor allem die Konsequenz der Kinderlosigkeit eines
in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten (also ungefähr
seit 1970; HB) stark zunehmenden Teiles der Bevölkerung. Offensichtlich
wirkt ein Leben ohne Kinder per saldo auf wachsende Bevölkerungsgruppen attraktiver
als ein Leben mit Kindern. Und hierfür lassen sich plausible Gründe
anführen. (Vgl. Abschnitte 5.4
und 5.8).
(Ebd., S. 173-174). Daß die sich ankündigenden Schwierigkeiten
kollektiv verdrängt werden, hat auch mit dem Umstand zu tun, daß die
... Öffentlichkeit bisher keine Begriffe gefunden hat, um die »Problematik«
- d.h. das Problem und seine Lösungsperspektiven - in für »Links«
und »Rechts« bzw. für »Frau« und »Mann«
akzeptabler Weise zu formulieren. In der Bundesrepublik fehlt es an einer akzeptablen
Sprache, um die Probleme demographischer Nachhaltigkeit politisch zu artikulieren.
Denn die herkömmlichen Begriffe wie Bevölkerungs- oder Familienpolitik
beinhalten tiefliegende Ambivalenzen. In der Bundesrepublik fehlt es an einer
akzeptablen Sprache, um die Probleme demographischer Nachhaltigkeit politisch
zu artikulieren. Denn die herkömmlichen Begriffe wie Bevölkerungs-
oder Familienpolitik beinhalten tiefliegende Ambivalenzen. (Ebd., S. 174).Das
ist offenkundig für den naheliegenden Begriff der Bevölkerungspolitik.
... Er trifft aber auch das Problem nicht genau genug. (Vgl. Abschnitt 6.1).
Es kommt ja für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Nachhaltigkeit
nicht primär auf die Zahl und das Alter der in Deutschland Lebenden an, sondern
auf den Umfang und die Art der vorhandenen Fähigkeiten sowie auf die
Motive und Bedingungen ihrer Nutzung. Nicht demographische Quantitäten, sondern
soziale Qualitäten in ausreichendem Umfange - als Bürger, Kulturträger,
Produzenten, Konsumenten und, last but not least, als Eltern - sind das Entscheidende
für die Zukunft einer Gesellschaft. (Ebd., S. 174).Der
Begriff Familienpolitik kommt unserer Problematik bereits näher. Offensichtlich
geschieht in der Gemeinschaft von Eltern und Kindern Entscheidendes für die
Entfaltung der Anlagen von Kindern, wie wir aufgrund neuerer Erkenntnisse der
Hirnforschung nun auch in naturwissenschaftlich belegter Weise wissen. Intelligenz
entfaltet sich nicht ohne persönliche Zuwendung; Leistungsbereitschaft entsteht
nicht ohne emotionale Anerkennung. Zudem gibt es kein anderes soziales Arrangement,
in dem Fortpflanzung und Sozialisation in so selbstverständlicher Weise miteinander
zu koppeln sind wie die Familie. Und vor allem: Jedermann glaubt an den Wert von
Familie, wie auch immer er sie im einzelnen verstehen mag. Die unzureichende Häufigkeit
von Familiengründungen ist der offensichtlichste Engpaß der Humanvermögensbildung
in der Bundesrepublik. (Ebd., S. 174-175).Nicht zuletzt wegen
des verbreiteten Paternalismus ist auch die Bezeichnung »Familienpolitik«
ambivalent geworden, vor allem durch die Frauenbewegung. (Vgl. Karin Gottschall,
Soziale Ungleichheit und Geschlecht, 2000). Manche plädieren statt
dessen für eine Kinderpolitik, was insoweit problemaufschließend
ist, als es ja nicht nur darauf ankommt, jungen Menschen die Elternschaft zu erleichtern,
sondern, sind die Kinder einmal da, deren spezifische Belange als Kinder in den
politischen Blick zu nehmen. Und dabei wird offenkundig, daß die entwicklungsförderliche
Lebenswelt der Kinder in der Familie nicht aufgeht, sondern daß die politische
Verantwortung für Kinder z. B. auch die Schulpolitik, die kommunale Raumplanungspolitik,
die sozialen Dienste und nicht zuletzt die wohlfahrtsförderliche Abstimmung
zwischen den verschiedenen Leistungsbereichen einbeziehen muß. (Ebd.,
S. 175).Die Bezeichnungen »Familienpolitik« wie »Kinderpolitik«
haben als politische Leitbegriffe jedoch schlechte Karten. Sie suggerieren nur
ein weiteres Feld der Klientelpolitik, ohne zu verdeutlichen, wie vital
notwendig für die gesamte Gesellschaft die Erfolge einer solchen Politik
sind. Familien und Kinder sind keine organisierbaren Interessengruppen, die es
zu befriedigen gilt, sondern die Grundlage der Zukunft aller Gesellschaftsbereiche,
welche angesichts des nicht zu beseitigenden Alterns und Sterbens des Menschen
zwangsläufig auf Nachwuchs angewiesen sind. (Vgl. Abschnitt 4.4).
Wenn Kinder nicht zur Welt kommen, wenn sie sich ungünstig entwickeln, wenn
sie die für die gesellschaftliche Teilhabe notwendigen Kompetenzen nicht
erwerben, wenn also die erforderlichen Humanvermögen nicht im für die
Nachwuchssicherung notwendigen Umfange gebildet werden, so trifft das den gesellschaftlichen
Zusammenhang als ganzen. Es reduziert die Standortqualitäten Deutschlands
in jeder Hinsicht und leistet im Extremfall sozialer Desorganisation Vorschub.
Der Hinweis ist nicht hilfreich, daß auch andere europäische Länder
vor ähnlichen Problemen stehen. Einige gehen mit ihnen erfolgreicher um als
die Bundesrepublik, und anderen stehen vergleichbare, ja, vielleicht noch gravierendere
Probleme bevor. (Ebd., S. 175).Deshalb wird hier der Programmbegriff
Nachwuchssicherung zur Kennzeichnung unserer Problematik vorgeschlagen.
Nachwuchssicherung ist unschwer als eine Ausprägung von Nachhaltigkeit zu
erkennen, so daß sich auch die Brücke zu diesem Diskurs schlagen läßt.
Das dem Begriff nahestehende Wort »Nachwuchsförderung« ist zudem
ein eingeführter Begriff auf der Ebene von Organisationen. Nachwuchssicherung
wird postuliert als ein Politikfelder übergreifendes Ziel von Regierungspolitik,
wie öffentliche Sicherheit, Geldwertstabilität, Vollbeschäftigung
oder gesunde Umwelt. (Ebd., S. 175-176).Wir können
zwischen dem quantitativen und dem qualitativen Aspekt von Nachwuchssicherung
unterscheiden. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Alois Herlth und Klaus Peter Strohmeier,
Sozialpolitik und familiale Sozialisation, 1980, S. 27ff.). Solange man
von einzelnen Politikfeldern her denkt, kann man beide Aspekte auch verschiedenen
Politikfeldern zuordnen, beispielsweise quantitative Nachwuchssicherung als Aufgabe
der Familienpolitik - insbesondere einer »bevölkerungsbewußten
Familienpolitik« (vgl. Max Wingen, Bevölkeungsbewußte Familienpolitik,
2003) - und die qualitative Nachwuchssicherung als Aufgabe der Bildungspolitik
postulieren. Aber wie auch Wingen hervorhebt, geht es bei der Familienpolitik
natürlich nicht allein um die Förderung der Fortpflanzung, sondern stets
gleichermaßen um die Verbesserung der familialen Sozialisation. Und ebenso
geht es bei der Bildungspolitik nicht allein um die Förderung der Qualifikation
der Schüler, sondern auch um die Zahl oder den Anteil derjenigen, die einen
höheren Qualifikationsgrad erreichen. Gerade hinsichtlich dieses integrativen
Gedankens unterscheidet sich der Programmbegriff »Nachwuchssicherung«
von den erörterten konkurrierenden Bezeichnungen. (Ebd., S. 176).Nachwuchssicherung
ist keine Aufgabe eines einzelnen Politikfeldes, sondern auf Beiträge aus
verschiedenen Politikfeldern angewiesen, nämlich zentral auf Familienpolitik,
Bildungspolitik und Zuwanderungspolitik; ferner sind auch die Frauenpolitik, die
Jugendpolitik, die Berufsbildungspolitik und die Arbeitsmarktpolitik direkt betroffen.
Es würde offensichtlich zu weit führen und auch die Kompetenzen des
Verfassers übersteigen, all diese Zusammenhänge aufzuzeigen. Einige
grundsätzliche Überlegungen zu den drei zentralen Feldern müssen
genügen. (Vgl. Abschn.: 6.4, 6.5, 6.6; HB).
(Ebd., S. 176).
6.4) Zuwanderung ist nur ein bescheidener Beitrag zur Problemlösung
Diese
demographische Betrachtungsweise reicht aber nicht hin, denn es kommt für
die Zukunft eines Landes nicht auf die Menschenzahl an sich an, sondern auf deren
Motive und Fähigkeiten, also auf das oder die Humanvermägen.
(Mit dieser ungewöhnlichen Formulierung sei ausgedrückt, daß »
Vermögen« sowohl auf der Ebene des Individuums als Summe seiner Fähigkeiten
als auch auf der Ebene sozialer Systeme als Summe der dort mobilisierbaren Fähigkeiten
operationalisiert werden kann; vgl. auch Abschnitt 3.3).
Die Knappheit des Nachwuchses vor allem in Ost- und Südeuropa macht die Hoffnung
einer Problemlösung durch Zuwanderung kulturell ähnlicher Bevölkerungsgruppen
trügerisch; wir müssen damit rechnen, daß die Humanvermögen
der Zuwanderungswilligen in Zukunft immer weniger zu unseren Aufnahmebedingungen
passen. Daß dies neben ungünstigen Wirkungen auf den Arbeitsmarkt auch
zu größeren sozialen und politischen Spannungen führen würde,
liegt auf der Hand. (Ebd., S. 177).Bereits eine ökonomische
Betrachtungsweise allein macht das Dilemma sichtbar: Das Humankapital einer Volkswirtschaft
ist sowohl von der Zahl als auch von der Qualifikation der Erwerbstätigen
abhängig, und die beiden Größen lassen sich nur in bescheidenem
Imfang einander substituieren. (Ebd., S. 177-178).Qualifikationen
werden vornehmlich in der Ausbildungsphase erworben, wobei Zuwanderer meist über
eine geringere Ausbildung und zudem über einen auf die Bedürfnisse des
Aufnahmelandes weniger abgestimmten Sozialisationshintergrund verfügen. Sie
dürften deshalb auch noch weniger als die einheimische Bevölkerung auf
jene Prozesse »lebenslangen Lernens« vorbereitet sein, deren Institutionalisierung
sich angesichts des fortschreitenden Alterns der Bevölkerung für die
kommenden Jahrzehnte aufdrängt. (Ebd., S. 178).Sobald
im übrigen die Zuwanderer einmal im Lande sind und eigene Familien gründen,
geraten sie in dieselben Schwierigkeiten wie die Einheimischen in ungünstiger
Soziallage, allerdings oft potenziert durch die Fremdheit der Eltern. Einer Studie
der Bertelsmann-Stiftung in elf norddeutschen Städten zufolge gingen im Jahre
2003 22,6% aller ausländischen Schüler ohne Abschluß von der Schule;
im Jahr zuvor waren es noch 15,1 %. Dieser Anteil ist etwa dreimal so hoch wie
derjenige der einheimischen Jugendlichen. (Mitteilung in der »Neuen Westfälischen«
vom 13.08.2004). Eine neuere Untersuchung zeigt, daß es in der Schweiz nur
sehr ungenügend gelingt, die zweite Generation der Zuwanderer aus Italien
und der Türkei zu integrieren. (Vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny / Oliver
Häming / Jörg Stolz, Desintegration, Anomie und Anpassungsmuster
von Zuwanderern der zweiten Generation in der Schweiz, 2001). Mit Ausnahme
einer noch in Gang befindlichen europäischen Studie (vgl. Friedrich Heckmann,
Integrationsforschung aus europäischer Perspektive, 2001) fehlen m.W.
für Deutschland vergleichbare Untersuchungen der Integration der zweiten
und dritten Generation von Zuwanderern, doch spricht nichts für ein günstigeres
Ergebnis. Hans-Dietrich von Loeffelholz und Dietrich Thränhardt (Kosten
der Nichtintegration ausländischer Zuwanderer, 1996, S. III) schätzen
allein den »fiskalischen Verlust bei Nichtintegration von Ausländern
auf 7-12 Mrd. DM für die alten Bundesländer und auf 1,5- 3 Mrd. DM für
Nordrhein-Westfalen« (Ebd., S. 178).Eine gezielte Zuwanderungspolitik
kann zwar dazu beitragen, den absehbaren Mangel an jüngeren Arbeitskräften
zu lindern, aber fortgesetzte Zuwanderung ist keine gleichwertige Alternative
zur Nachwuchssicherung in der Form des Aufbringens ausreichenden Nachwuchses in
den Erziehungs- und Bildungskontexten des eigenen Landes (im
Gegenteil: sie bringt nur Nachteile! HB). Allerdings ließe sich
durch eine deutlich auf Integration und Qualifikation der Zugewanderten und ihrer
Kinder ausgerichtete Politik wahrscheinlich der »Umsatz« der Wanderungsströme
reduzieren und damit auch die Zuwanderungsbilanz (vgl. Schader Stiftung u.a. (Hg.)
2005) verbessern. Das wäre durchaus ein willkommener Beitrag auch zur Nachwuchssicherung.
(Ebd., S. 178-179).
6.5) Bildungspolitik: Kompensation statt Selektion
Der Bildungspolitik,
welche auch wesentliche Beiträge zur Integration der zweiten Generation der
Zuwanderer zu leisten hätte, wird in der deutschen Öffentlichkeit bei
weitem nicht die Beachtung zuteil, die sie verdient. Der »PISA-Schock«
scheint schon wieder abzuklingen, und die Ministerpräsidenten der (Bundes-)Länder
machten sich im Dezember 2004 nichts daraus, die Föderalismusreform an der
Frage nach den Zuständigkeiten in der Bildungspolitik scheitern zu lassen,
obwohl sich die Länder in den letzten Jahrzehnten hier keinesfalls »mit
Ruhm bekleckert haben«. Auch für die Zukunft verspricht ein Rückbau
der zentralstaatlichen Bildungspolitik nichts Gutes, denn wenn die Einschätzungen
dieser Schrift zutreffen, so bedarf es einermassiven Umverteilung öffentlicher
Mittel zu Gunsten des Bildungswesens. Es sind aber schon heute die Bundesländer,
welche über die größte Knappheit ihrer Mittel klagen und deshalb
sogar aus dem bisherigen tarifvertraglichen Verbund mit Bund und Ländern
auszuscheren erwägen. (Ebd., S. 179).Wegen der Zuständigkeit
der (Bundes-)Länder gehört »Bildungspolitik«
in Deutschland konzeptionell nicht zur Sozialpolitik, obwohl fehlende schulische
Qualifikationen ein zentrales Armutsrisiko darstellen. (Vgl. Jutta Allmendinger,
Bildungsarmut, 1999). Man vergleiche dies mit der us-amerikanischen Auffassung,
daß Bildungspolitik den Kern der Sozialpolitik ausmache. Die im deutschen
Sprachraum einzigartige Halbtagsschule stellt auch ein wesentliches Hindernis
für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und damit einen Aspekt
der strukturellen Rücksichtslosigkeit unserer Verhältnisse gegenüber
Familien dar. (Vgl. Karin Gottschall / Karen Hagemann, Die Halbtagsschule in
Deutschland: Ein Sonerfall in Europa?, 2002). Bildungstheorie, Bildungsökonomie
und Bildungspolitik sind konzeptionell breit entwickelte Gebiete, die mir jedoch
nicht im einzelnen vertraut sind. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, daß
insbesondere die Hochschullehre und -forschung in Deutschland dem Gewicht der
problematik für die gesellschaftliche Zukunft entspricht. Anstöße
kommen in neuerer Zeit vor allem von privaten Stiftungen. (Vgl. insbesondere Hans-Peter
Klös / Reinhold Weiß [Hg.], Bildungs-Benchmarking Deutschland -
Was macht ein effizientes Bildungssystem aus?, 2003.). Ich beschränke
mich daher auf eine skizzenhafte Argumentation. (Ebd., S. 179-180).Herkömmlicherweise
ist das Bildungswesen an den Prinzipien der Vermittlung von Bildungsinhalten und
der Selektion nach Begabung und Leistung orientiert, und zwar in Deutschland besonders
ausgeprägt. Die PISA-Studien lassen erkennen, daß es dem deutschen
Bildungswesens besonders schlecht gelingt, den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit
und Leistungsunterschieden der Schüler zu durchbrechen. (Vgl. Jürgen
Baumert / Gundel Schümer, Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung
und Kompetenzerwerb, 2001). Vier plausible Erklärungen seien angeführt,
die auf unser Argument hinführen:- | |
Am folgenreichsten ist wohl die Vernachlässigung der (entgeltlichen!)
Frühförderung und der Grundschule zugunsten der (unentgeltlichen!)
Gymnasial- und Hochschulbildung. Die deutsche Bildungspolitik hat auf neuere Einsichten
der Hirnforschung über den Zusammenhang von Gehirnentwicklung und Intelligenzentwicklung
noch kaum reagiert: Das Wichtigste passiert vor Schulbeginn; und ab der Pubertät
ist das Entwicklungsfenster im wesentlichen geschlossen. (Vgl. Wolf Singer, Was
kann ein Mensch wann lernen?, 2002). | - | | Die
deutsche Schule versteht sich ausschließlich als Bildungseinrichtung, aber
weder als Erziehungseinrichtung noch als Erfahrungs- und Lebensraum für Kinder
und Jugendliche. Das hängt nicht zuletzt mit dem Halbtagsschulsystem zusammen.
Die Erziehungsaufgabe (einschließlich der schulunterstützenden Leistungen
wie Aufgabenhilfe) wird grundsätzlich den Eltern überlassen, die damit
je nach Kompetenz und eingesetzter Zeit unterschiedlich fertig werden. | - | | Der
Anteil schwieriger und aus unterschiedlichen Gründen lernbehinderter Kinder
nimmt zu. Schulsozialarbeit und die zusammenarbeit von Lehrern und Psychologen
finden sich in deutschen Schulen im Gegensatz zu im Bildungswesen erfolgreicheren
europäischen Ländern aber nur ausnahmsweise. | - | | Der
zunehmende Anteil von Kindern mit fremdkulturellem Hintergrund verschärft
die Problematik in strukturbildender Weise. Lernschwache Kinder werden gerne in
Sonderschulen abgeschoben; darauf weist der überproportionale Anteil von
Ausländerkindern in den Sonderschulen hin. (Vgl. Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Familien ausländischer Herkunft
in Deutschland: Leistungen - Belastungen - Herausfoderungen, 2000, S. 180f.)
Soweit es nicht gelingt, die zweite Generation der Zuwanderer zu akkulturieren
und zu integrieren, muß damit gerechnet werden, daß sie neue verfestigte
Unterschichtmilieus bilden, deren Kinder erneut von sozialer Exklusion bedroht
sind. | Diesen vier Punkten ist gemeinsam, daß
sie offensichtliche Hindernisse für eine an sich mögliche Entwicklung
von Humanvermögen darstellen. Derartige Hindernisse sind an sich nicht
neu, und es läßt sich darüber streiten, ob und wo diese Voraussetzungen
in den letzten Jahrzehnten günstiger oder ungünstiger geworden sind.
Neu ist jedoch der Umstand, daß wir dauerhaft mit einem quantitativen
Rückgang des Nachwuchses rechnen müssen, der sich durch eine bessere
Qualifikation des vorhandenen Nachwuchses in etwa kompensieren ließe. Dabei
ist nicht nur an Berufsqualifikation zu denken; auch Lebensbewältigung und
soziale Teilhabe hängen in der heraufkommenden »Wissensgesellschaft«
immer stärker von Kompetenzen ab, die typischerweise in der Schule gelernt
werden können. (Ebd., S. 180-181).Von besonders erfolgreichen
Bildungssystemen wie dem finnischen wird als Prinzip berichtet, daß jedes
Kind als gleich wertvoll und förderungswürdig betrachtet wird. Der
Schule wird hier also nicht primär eine Selektions-, sondern eine Kompensationsfunktion
vorhandener Schwächen angesonnen. Das heißt nicht, daß auf
die Feststellung und Dokumentation von Leistungsunterschieden verzichtet werden
könnte oder daß hier für eine möglichste Nivellierung der
Ergebnisse plädiert werden soll. Aber die Chancen zur schulischen Förderung
sollten nicht vom Leistungsstand abhängig gemacht werden. Kompensierende
Förderung ist besonders wirksam im Vor- und Grundschulalter; aber gerade
auf diesen Bildungsstufen liegt Deutschland im internationalen Vergleich zurück
(wegen der Ausländer! HB). Auch eine spätere
Verzweigung der Schultypen dürfte der Angleichung der Lebenschancen förderlich
sein. Vor allem im Bereich der bisherigen Hauptschule besteht dringender Reformbedarf,
um den Zusammenhang von Schule und Leben zu verdichten. Im Hinblick sowohl auf
die bessere Vereinbarkeit von Familienaufgaben und beruflichen Aufgaben als auch
im Hinblick auf eine verbesserte Sozialisationssituation vor allem der Kinder
aus benachteiligten Sozialschichten ist der Ausbau ganztägiger Schulangebote
dringlich. (Vgl. Kerstin Wessig, Die Ganztagsschule, 2003). (Ebd.,
S. 181-182).Vor allem aber gilt es konzeptionell umzudenken. Es
gibt eine »Bildungsarmut im (sc. deutschen) Sozialstaat« (Jutta Allmendinger
/ Stephan Leibfried, Bildungsarmut im Sozialstaat, 2002), welche eine wesentliche
Voraussetzung für sowohl individuelle als auch kollektive Verarmungsrisiken
darstellt. Nicht zuletzt infolge des zunehmenden Einflusses der sogenannten Globalisierung
läßt sich der Sozialstaat nicht mehr primär als gigantische Umverteilungsmaschinerie
begreifen. Er muß sich vielmehr seiner Verantwortung auch für die Bedingungen
von Produktion und Reproduktion bewußt werden. Wenn es an Nachwuchs fehlt,
kann sich eine Gesellschaft »Bildungsverlierer« um so weniger leisten.
Daß dies zudem ein Gebot der Menschlichkeit ist, wissen zwar die meisten,
doch schlägt leider die Sittlichkeit weniger als die Ökonomie politisch
zu Buche. (Ebd., S. 182).
6.6) Familienpolitik: Politik für Eltern und Kinder
Die
Familienpolitik ist kein Ruhmesblatt deutscher Politik. Trotz ihrer Institutionalisierung
auf Ministerebene und erheblicher Bemühungen der hierfür jeweils Veraßtwortlichen
ist sie stets im Windschatten der »großen Politik« geblieben
und hat kaum je eine nachhaltige Unterstützung der politischen Eliten erfahren.
Das kontrastiert auffällig vor allem mit Frankreich, dem Musterland europäischer
Familienpolitik. Aber auch in Ländern wie Schweden oder Großbritannien,
welche keine explizite Familienpolitik kennen, ist die Unterstützung von
Familien bzw. von Frauen und Kindern vergleichsweise gut ausgebaut. Im internationalen
Vergleich erscheint Deutschland als ein Land, das auf der deklamatorischen Ebene
der Familie und ihrer Förderung große Bedeutung zumißt, während
die Implementation einer an den Belangen von Eltern und ihren Kindern orientierten
Politik zu wünschen übrig läßt. (Ebd., S. 182).Ein
wesentlicher Grund hierfür dürfte im Umstand zu suchen sein, daß
die Bereitstellung sozialer Dienste zur Zeit verläßlichen Kinderbetreuung,
welche die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit erleichtern,
nicht Bundes-, sondern Ländersache, wenn nicht gar eine kommunale Angelegenheit
ist. Ähnliches gilt für die Wohnungs- und Wohnumfeldpolitik. So bleibt
dem Familienministerium im wesentlichen nur die monetäre Familienförderung
überlassen, und selbst in dieser Hinsicht wurde es amputiert. Denn seit der
letzten Reform des Familienlastenausgleichs ressortiert das Kindergeld beim Finanzminister,
womit man den Bock zum Gärtner gemacht haben dürfte. Die Zersplitterung
der familienpolitischen Kompetenzen ist ein weiterer, vielleicht der heute
wichtigste Grund für die Schwäche der Familienpolitik in Deutschland.
(Ebd., S. 182-183).Was den herkömmlicherweise als »Familienpolitik«
bezeichneten Bereichbetrifft, so schwingt in der deutschen Diskussion ein traditionelles
Familienverständnis im Sinne des bürgerlichen Familienideals der Ernährer-Hausfrauen-Ehe
mit, worin der bereits erwähnte Paternalismus zum Ausdruck kommt. Lange Zeit
blieben die familienpolitischen Vorstellungen der großen Parteien in frauenpolitischer
Hinsicht kontrovers. (Vgl. Christiane Kuller, Familienpolitik im föderativen
Sozialstaat, 2004). Immerhin ist in jüngster Zeit - nicht zuletzt unter
dem Eindruck der ins öffentliche Bewußtsein rückenden demographischen
Problematik - eine Konvergenz der parteipolitischen Auffassungen und ein gewisser
Relevanzgewinn des Politikfeldes zu verzeichnen. (Ebd., S. 183).Dadurch
werden die in der Bevölkerung verbreiteten Ambivalenzen allerdings noch nicht
aus der Welt geschafft. Die lassen sich knapp in sechs Punkten zusammenfassen:- | |
die Spannung zwischen dem herkömmlichen Leitbild der »bürgerlichen
Kernfamilie« und alternativen privaten Lebensformen; | - | | die
Spannung zwischen den Anforderungen seitens der Partnerschaft und seitens der
Elternschaft; | - | | die
Spannung zwischen emanzipativen Fraueninteressen und herkömmlichen Erwartungen
an Mutterschaft; | - | | die
Spannung zwischen Anforderungen des Berufslebens und des Familienlebens; | - | | die
Spannung zwischen der Auffassung, daß Familie »Privatsache«
sei, und den Erwartungen der Öffentlichkeit an die Leistungen von Familien; | - | | die
Spannung zwischenfamilialer und außerfamilialer Wahrnehmung von Erziehungsverantwortung
für die Kinder. | Diese auch öffentlich artikulierten
Ambivalenzen werden in verschiedenen Milieus unterschiedlich akzentuiert und von
jungen Menschen in unterschiedlichem Maße empfunden. Aber alles deutet darauf
hin, daß diese Spannungen sich in den letztenJahrzehnten zumindest in Deutschland
verstärkt haben und zu einer Verunsicherung in den jüngeren Generationen
hinsichtlich ihrer Entscheidung für oder gegen Kinder beitragen. Das führt
nicht selten zum Aufschieben der Entscheidung und damit entweder zu »später
Mutterschaft« oder zu bedauerndem Verzicht auf Kinder. (Ebd., S. 183-184).Es
liegt auf der Hand, daß sich diese Ambivalenzen direkt nicht durch familienpolitische
Maßnahmen aus der Welt schaffen lassen. Der Wert von Kindern wird ja von
den jüngeren Generationen nicht in Frage gestellt, wohl aber seine Realisierbarkeit
in Konkurrenz zu anderen Wertorientierungen. Will Politik die tatsächliche
Übernahme von Elternverantwortung und damit auch die Zahl der Geburten fördern,
so kann sie entweder versuchen, die Priorität des »Wertes Kinder«
zu unterstützen oder die Nachteile zu mindern, die mit der Übernahme
von Elternverantwortung im Vergleich zu Kinderlosen in vergleichbaren sozialen
Verhältnissen verbunden sind. (Ebd., S. 184).Die Wirksamkeit
familienpolitischer Maßnahmen im Hinblick auf eine Erhöhung der Geburtenrate
ist umstritten. Der Hauptgrund, weshalb die Wirksamkeit in Frage gestellt werden
kann, besteht in der methodischen Unmöglichkeit der Isolierung einzelner
Effekte sowie in der Unschärfe des Begriffes der Wirksamkeit selbst. Aus
festzustellenden Korrelationen zwischen Aufwendungen für die nachwachsenden
Generationen und Geburtenraten läßt sich nicht auf eine eindeutige
Kausalität schließen. Wissenschaftlich praktikabel ist jedoch die Entwicklung
von Wirkungsmodellen oder Theorien für die Wirkungsweise familienpolitischer
Maßnahmen. Einerseits zeigt insbesondere das Beispiel Frankreichs, daß
es grundsätzlich möglich ist, den Trend der Geburtenentwicklung zu ändern,
solange ein nachhaltiger familienpolitischer Wille dahintersteht. Die Wirksamkeit
einer expliziten Bevölkerungspolitik in anderen, vor allem sozialistischen
Ländern blieb vorübergehend; und man darfhinzufügen, daß
die Geburtenraten dort nach dem Ende des Ostblocks besonders drastisch zurückgegangen
sind und sich bis heute nicht erholt haben. Die meisten Länder haben bisher
eine konsequente »bevölkerungsbewußte Familienpolitik«
(Max Wingen, Bevölkerungsbewußte Familienpolitik, 2003) überhaupt
noch nicht versucht. Und was vorhandene familienpolitische Maßnahmen betrifft,
so wird man bis zum Beweis des Gegenteiles davon ausgehen dürfen, daß
sie den Familien in der einen oder anderen Weise zugute gekommen sind. Möglicherweise
wäre ohne diese Maßnahmen das Geburtenniveau noch tiefer; das legt
zum mindesten die mittlerweile extrem niedrige Fertilität in Griechenland,
Italien und Spanien nahe, wo es bisher an staatlichen Hilfen für Eltern und
Kinder nahezu vollständig fehlt. Grundsätzlich ist die Annahme in Frage
zu stellen, politische Maßnahmen könnten sozusagen deterministisch
Geburten »bewirken«. Eine flächendeckende Wirksamkeit staatlicher
Maßnahmen ist nur im Falle von mit Strafe bewehrten Verboten, nicht jedoch
im Falle von Fördermaßnahmen plausibel. jedes eingeräumte Recht
und jede Geld- oder Sachleistung wird im Einzelfalle nur wirksam durch eine Mitwirkung
der Adressaten. Die Entscheidung für ein (weiteres) Kind ist so einschneidend,
daß es sehr naiv wäre, dies als typische Wirkung von staatlichen Maßnahmen
zu erwarten. Eine direkte Wirkung ist nur dort plausibel, wo bestimmte Maßnahen
den »Engpaßfaktor« von grundsätzlich kinderwilligen Paaren
treffen. Wenn dieser Engpaßfaktor z.B. in fehlenden Möglichkeiten der
Betreuung von Kleinkindern besteht, was bei berufsorientierten Frauen häufig
sein dürfte, kann der Ausbau von Betreuungseinrichtungen auch den Nebeneffekt
einer bescheidenen Geburtensteigerung haben; aber die Hauptwirkung ist und bleibt
die Förderung der Kinder (hoffentlich!) und die offensichtliche Zeitersparnis
der Mütter. Für wenig berufsorientierte Frauen in materiell beengten
Verhältnissen wäre dagegen eine bessere finanzielle Unterstützung
hilfreicher; und vor allem in großstädtischen Verhältnissen dürfte
der Engpaßfaktor nicht selten im Fehlen einer geeigneten Wohnung liegen
- oder gar schon eines geeigneten Partners! Angesichts der Vielfalt der Motivationen
und Problemlagen im einzelnen wird Familienpolitik in demographischer Hinsicht
um so eher erfolgreich sein, je mehr sie sich daran orientiert, die Wahlfreiheit
von Eltern in verschiedenen Dimensionen zu vergrößern. (Ebd.,
S. 184-185).Junge Menschen, die vor der Entscheidung stehen, ob
sie sich auf das »Abenteuer Familie« einlassen sollen, haben - entscheidungstheoretisch
gesprochen - eine »Entscheidung unter Ungewißheit« zu treffen.
Dennoch werden sie versuchen, sich ein Bild über die Folgen der Entscheidung
zu machen, und hierfür bietet es sich an, Personen aus ihren »Bezugsgruppen«,
also nahestehende Menschen und Paare in ähnlicher Situation, zu beobachten.
Die soziale Wirkung familienpolitischer Maßnahmen resultiert nicht aus ihrer
Veröffentlichung in Gesetzesblättern, sondern aus ihrer praktischen
Diffusion in der Bevölkerung. Ihre Wirksamkeit wird deshalb auch nicht isoliert,
sondern eingebettet in lebenspraktische Zusammenhänge wahrgenommen. Soll
jungen Familien wirksam geholfen und der Verbreitung kinderloser Milieus (vgl.
Abschnitt 5.6)
entgegengewirkt werden, so bedarf es nicht bloßer Einzelmaßnahmen,
sondern einer langfristigen Strategie der Verbesserungfamilialer Lebenslagen.
(Ebd., S. 185-186).Allerdings: Die Möglichkeiten staatlicher
Politik zur Hebung der Geburtenraten bleiben sehr begrenzt, vor allem, wenn es
an gleichzeitiger gesellschaftlicher Unterstützung fehlt. Im Fernsehen kommen
»normale« Familien und fröhliche Kinder kaum vor, sondern - wenn
überhaupt - Problemsituationen! (Dies wird auch durch eine Langzeitstudie
[Juli 2001 bis März 2004] belegt: »Eine Konzentration der Medien auf
straffällig gewordene Jugendliche prägt die öffentliche Wahrnehmung.
Das Bild vom Kind als Täterdominiert, kein gutes Zeichen für die Zukunftsfähigkeit
des Landes.« (Medien Tenor Newsticker, 11.05.2004.). Vielleicht könnte
die regelmäßige Prämierung entsprechender Sendungen hier zu einem
Bewußtseinswandel beitragen, wie ja auch die in jüngerer Zeit sich
mehrenden Preise meist privater Stiftungen für gelungene Lösungen im
Bereich von Familienförderung und lebensnaher Schulbildung bewußtseinsbildend
wirken. (Ebd., S. 186).Staatliche Familienpolitik kann lediglich
die Rahmenbedingungen beeinflussen, unter denen individuelle und paarweise Entscheidungen
fallen. Und sie täte gut daran, die mutmaßlichen Auswirkungen ihrer
Maßnahmen auch unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, inwieweit sie geeignet
sind, die einleitend genannten Ambivalenzen zu reduzieren. Zur Familienpolitik
gibt es eine mittlerweile breite Diskussion und vielfältige Vorschläge,
für die hier nicht im einzelnen eingetreten sei. Wichtiger scheint es, im
vorliegenden Zusammenhang einige systematische Unterscheidungen zu begründen,
um die familienpolitischen Argumentationen treffsicherer zu machen. (Ebd.,
S. 186-187).Zunächst ist zwischen Maßnahmen zugunsten
von Eltern und von Kindern zu unterscheiden, die Rede von »Familienpolitik«
verwischt hier die Bezüge. Die Lebenslage beider Gruppen ist von unterschiedlichen
Maßnahmen abhängig, und es ist keineswegs zwingend, daß Maßnahmen,
die den Eltern nützen, auch den Kindern zugute kommen - und umgekehrt.
(Ebd., S. 187).Bei den Maßnahmen zugunsten von Eltern
ist zu unterscheiden, ob sie die direkten Kosten (monetäre Aufwendungen)
für Kinder reduzieren, oder ob sie in erster Linie die Opportunitätskosten
des Kinderhabens reduzieren, also den Eltern die Vereinbarkeit familiärer
und außerfamiliärer Zielsetzungen erleichtern. (Ebd., S. 187).Beide
Arten von Maßnahmen dienen primär dem Familienlastenausgleich,
d.h., sie wollen die Belastungen reduzieren, welche Eltern im Vergleich zu Kinderlosen
auf sich nehmen. Hiervon zu unterscheiden ist der Familienleistungsausgleich;
hier geht es darum, die positiven »externen Effekte«, also Leistungen
der Eltern für andere Gesellschaftsbereiche, anzuerkennen. Zentral ist hier
an die oben dargestellten investiven Leistungen der Humanvermögensbildung
für die Volkswirtschaft zu erinnern. Die beiden Begriffe werden bisher meist
alternativ und nicht trennscharf verwendet. Genaugenommen handelt es sich um unterschiedliche
Begründungen für familienpolitische Maßnahmen. De facto
ist bisher ein »Familienleistungsausgleich« im genannten Sinne in
der deutschen Familienpolitik kaum existent. So auch Irene Gerlach (Familienpolitik,
2004, S. 211): »Ein Leistungsausgleich könnte sich aber erst ergeben,
wenn es tatsächlich zum Ausgleich der externen Effekte käme, die durch
Familienarbeit für die Gesellschaft zustande kommen.« Unsere Argumentation
in Abschnitt 6.7
geht dahin, daß aus dem Fehlen dieses Ausgleichs die entscheidende Benachteiligung
der Eltern gegenüber den Kinderlosen resultiert. (Ebd., S. 187).Was
die staatlichen Leistungen für Kinder betrifft, so sind sie nicht
zwangsläufig mit Familienpolitik verbunden. Das Verhältnis zwischen
familienunterstützenden, familienergänzenden und familienersetzenden
Maßnahmen zugunsten von Kindern blieb lange Zeit umstritten. (Vgl. Wissenschaftlicher
Beirat für Familienfragen, Leistungen für die nachwachsende Generation
in der Bundesrepublik Deutschland, 1979, S. 145 ff.). Allein schon diese Systematik
ist allerdings fragwürdig, weil sie die Familie und nicht das Kind ins Zentrum
der Betrachtung stellt. Aus der Sicht kindlicher Sozialisation kommt es gerade
auf das Zusammenwirken von elterlicher Zuwendung und Unterstützung einerseits
und außerfamilialer Förderung andererseits an. (Vgl. Urie Bronfenbrenner,
Die Ökologie der menschlichen Entwicklung, 1981; Wissenschaftlicher
Beirat für Familienfragen, Gerechtigkeit für Familien, 1998;
Angelika Engelbert / Franz-Xaver Kaufmann, Der Wohlfahrtsstaat und seine Kinder
- Bedingungen der Produktion von Humanvermögen, 2003.). (Ebd.,
S. 187-188).Bei der Skizzierung einer Politik für Eltern einerseits
und Kinder andererseits können wir uns grundsätzlich der gleichen, bereits
in Abschnitt 6.2
eingeführten Dimensionierung der Lebenslage bedienen. Beide Gruppen brauchen
Rechte, Ressourcen, Gelegenheiten und Kompetenzen.1. | |
Die Ausgestaltung der Rechte von Eltern stellt eine wesentliche Form des
Abbaus struktureller Rücksichtslosigkeiten gegenüber der Familie dar.
Es geht darum, Eltern als Eltern Anerkennung auch in anderen gesellschaftlichen
Teilsystemen als der Familie zu verschaffen. (In der Bundesrepublik ergeben sich
entsprechende staatliche Verpflichtungen bereits aus Artikel 6 des Grundgesetzes.
Allerdings: »Trotz hehrer Formelakrobatik ist es bislang ... nicht gerungen,
durchgängig die Umsetzung gesetzgeberischer Schutzpflichten sicherzustellen.«
(Peter J. Tettinger, Der grundgesetzlich gewährleistete besondere Schutz
von Ehe und Familie, 2001, S. 156]). Ein klares Beispiel stellt die Befreiung
alleinerziehender Väter vom Wehrdienst dar. Aber auch gesetzlicher Elternschaftsurlaub
oder Anrechte auf Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit weisen in diese
Richtung. (Am Rande sei vermerkt, daß der Ausbau gesetzlicher Elternrechte
im Wirtschaftsleben unter den gegebenen Umständen auch zu einer Benachteiligung
führen kann, insbesondere hinsichtlich der Inanspruchnahme durch die besonders
»verdächtigen« Frauen! Gegenüber Betriebsleitern wirkungsvoller
erscheinen »sanfte« Uberzeugungsstrategien hinsichtlich der Vorteilhaftigkeit
der Beschäftigung von Müttern und dazu nützlicher betrieblicher
Strategien.). Dagegen fehlt es noch weitgehend an einer Anerkennung der Erziehungsleistungen
im Kontext der Renten- und Pflegeversicherungen. Daneben spielt natürlich
auch die Ausgestaltung der Rechtsbeziehungen in der Partnerschaftsbeziehung eine
Rolle, ein Thema, das allerdings weit größere öffentliche Beachtung
findet als das erstgenannte. Daß auch Kinder Träger eigenständiger
Rechte sind, tritt erst allmählich ins öffentliche Bewußtsein,
ausgelöst vor allem durch die Anerkennung von Kinderrechten seitens der Vereinten
Nationen. (Es sei daran erinnert, daß der Deutsche Bundestag die Konvention
über Kinderrechte der Vereinten Nationen [1989] erst nach sehr kontroverser
Diskussion und unter ausdrücklichem Ausschluß einer unmittelbaren Verbindlichkeit
für die deutsche Rechtsordnung angenommen hat.). Die Durchsetzung der Rechte
von Kindern ist allerdings aufgrund ihrer beschränkten Handlungsfähigkeit
und Unterlegenheit gegenüber Erwachsenen ein dauerhaftes Problem, dem die
jugendhilfe meist nur in extremen Fällen Abhilfe schaffen kann. Das neuerdings
in die Diskussion gebrachte Wahlrecht für Kinder, welches bis zur Wahlmündigkeit
von ihren Eltern wahrgenommen werden soll, ist unter dem Gesichtspunkt der Bewußtseinsbildung
zu begrüßen. | 2. | | Bei
der politischen Gewährleistung von Ressourcen geht es in erster Linie
darum, die sehr erheblichen »Kosten« der Übernahme von Elternverantwortung
in Grenzen zu halten. Das klassische ökonomische Mittel der Familienpolitik
ist seit seiner Einführung im Jahre 1955 das Kindergeld, wobei bis zum Jahre
1996 ein parteipolitisch kontroverses Verhältnis zu kindbedingten Steuerfreibeträgen
bestand. (Vgl. Dagmar Nellesen-Strauch, Der Kampf um das Kindergeld, 2003).
Aber zum einen hinkte die Entwicklung des Kindergeldes stets hinter der allgemeinen
Einkommensentwicklung hinterher; und zum anderen resultiert die ökonomische
Benachteiligung der Familien auch aus der strukturellen Rücksichtslosigkeit
unseres Abgabensystems: Während in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik
der Einkommensbesteuerung zentrale Bedeutung zukam, hat sich zwischenzeitlich
das Schwergewicht der Besteuerung auf indirekte Abgaben wie Mehrwertsteuer und
Sozialversicherungsbeiträge verschoben, wodurch eine mit dem Einkommen »regressive
Belastungsstruktur des Abgabensystems« entstanden ist. (Vgl. Hessische Staatskanzlei
[Hg.], Die Familienpolitik muß neue Wege gehen! - Der »Wiesbadener
Entwurf« zur Familienpolitik, 2003, S. 60ff.). Das heißt: Eltern
müssen auch für die Einkommensbestandteile, die ausschließlich
dem Aufbringen der Kinder zukommen, Sozialversicherungsbeiträge und Mehrwertsteuer
zahlen. (Die Kommission für den 5. Familienbericht hat geschätzt, daß
die Eltern etwa ein Drittel des ihnen zukommenden Familienlastenausgleichs durch
ihre Abgaben selbst finanzieren [Bundesministerium für Familie und Senioren,
Familien und Familienpolitik, 1994, S. 294]; brutto entlastet der Familienlastenausgleich
die Familien im Durchschnitt um etwa ein Viertel der direkten Aufbringungskosten
ihrer Kinder, wobei die Effekte jedoch je nach Familienkonstellation sehr unterschiedlich
sind: »Der Deckungsanteil des Familienlastenausgleichs stieg mit steigender
Kinderzahl, jedoch nicht mit sinkendem Einkommen« [ebda., S. 290f.]). Nicht
belastet mit den mittlerweile über 20 Prozent erreichenden Arbeitnehmerbeiträgen
zur Sozialversicherung werden einerseits Arbeitseinkünfte oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze,
andererseits andere Einkünfte, insbesondere Kapitalerträge. Nicht belastet
mit der Mehrwertsteuer werden alle Arten von Ersparnissen. Beides ist Eltern im
Vergleich zu Kinderlosen ähnlicher Soziallage nicht oder in weit geringerem
Umfange zugänglich, und zwar sowohl wegen der höheren Konsumausgaben
als auch wegen der geringeren Erwerbsbeteiligung. Insofern ist eine »Familienpolitische
Strukturreform des Sozialstaats« (Jürgen Borchert, Der »Wiesbadener
Entwurf« einer familienpolitischen Strukturreform des Soziakstaats,
2003) ein konstitutives Moment der Nachwuchssicherungspolitik. Hier geht es im
wesentlichen darum, die staatlich vermittelten Umverteilungen so umzugestalten,
daß die Familien effektiv (d.h. netto) bessergestellt werden. Eine Konsequenz
des Zusammenspiels von geringerer Erwerbsbeteiligung von Eltern und benachteiligender
Abgabenstruktur ist nicht nur eine zunehmende Armut an Kindern in Deutschland,
sondern auch eine zunehmende Armut von Kindern, genauer der Haushalte, in denen
Kinder aufwachsen. Die Armutsquoten von Kindern und Jugendlichen sind zwischen
1973 und 1998 deutlich stärker gestiegen als diejenigen der Gesamtbevölkerung
und haben sich in diesem Zeitraum je nach Alter verdoppelt oder verdreifacht.
(Vgl. Irene Becker / Richard Hauser, Zur Entwicklung von Armut und Wohlstand
in der Bundesrepublik Deutschland - eine Bestandsaufnahme, 2002, S. 34). Insgesamt
ist eine deutliche Wohlstandsverschiebung zu Lasten der Jüngeren und zu Gunsten
der Älteren festzustellen. (Vgl. Richard Hauser, Generationengerechtigkeit
als Facette der sozialen Gerechtigkeit, 2005, Tabelle 1). Betrachtet man nicht
nationale Durchschnitte, sondern großstädtische Verhältnisse,
So werden die Benachteiligungen nach Familienstand und Kinderzahl noch weit dramatischer:
So hat Diether Döring (Niedrigeinkommen von Kindern und Kindererziehenden
in Frankfurt a.M., 2003, S. 224) für Frankfurt a.M. die Anteile derjenigen
Haushalte errechnet, deren Haushaltäquivalenzeinkommen weniger als die Hälfte
des durchschnittlichen Haushaltsäquivalenzeinkommens der Frankfurter Bevölkerung
beträgt (Bei der Berechnung von Haushaltäquivalenzeinkommen wird die
Summe der Haushaltseinkünfte durch einen von der Personenzahl und ihrer Stellung
im Haushalt abhängigen Quotienten geteilt. Nach einer Definition der OECD
»hat die erste Person im Haushalt das Bedarfsgewicht 1, jede weitere Person
über 14 Jahren 0,7 und Kinder bis 14 Jahren eines von 0,5« (Diether
Döring, ebd., 2003, 219.): Es sind dies 9,9% bei kinderlosen Haushalten,
24,7 % bei Einkinderhaushalten, 39,4% bei Zwei-Kinder-Haushalten, 73,3% bei Drei-Kinder-Haushalten
und 76,9% bei Haushalten mit vier Kindern. Gemäß allen einschlägigen
Untersuchungen sind neben den kinderreichen Haushalten die Haushalte Alleinerziehender
in der Armutsbevölkerung überrepräsentiert. Die Alleinerziehenden
stellen jedoch eine sozial sehr heterogene Gruppe dar. | 3. | | Gelegenheiten:
Wie in Abschnitt 5.7
dargestellt, gehört Deutschland im internationalen Vergleich zu den Staaten,
die die Familien zwar finanziell entlasten, aber hinsichtlich der Versorgung mit
sozialen Diensten weit hinter Skandinavien und den meisten angelsächsischen
Staaten zurückbleiben. So fehlt es in den alten Bundesländern nahezu
vollständig an Angeboten zur frühkindlichen Betreuung. Im Vorschul-
und Schulalter dominiert das Halbtagssystem, und vielfach ist nicht einmal hier
eine zuverlässige Betreuung zu feststehenden werktäglichen Zeiten sichergestellt.
Zudem sind, wie bereits in Abschnitt 6.5
erwähnt, die Schulen keineswegs darauf vorbereitet, Kindern aus benachteiligenden
Familienverhältnissen kompensierende Hilfe zu geben. Diese Mängel treffen
Eltern und Kinder gleichermaßen, aber auf verschiedene Weise. Auf der Seite
der Eltern beeinträchtigen die eingeschränkten außerfamilialen
Betreuungszeiten die Beteiligung am Erwerbsleben, vor allem der Mütter. Auf
der Seite der Kinder werden die Bildungsmöglichkeiten eingeschränkt
und ihnen kompensierende Erziehungsmöglichkeiten vorenthalten. Die Wirkungen
unterschiedlicher Betreuungsarrangements sind allerdings noch wenigerforscht.
Die Ergebnisse der PISA-Studien können immerhin einen gewissen, Wirkungsverdacht«
begründen. | 4. | | Kompetenzen:
Kompetenzentwicklung und Lernen sind aus der Sicht von uns Erwachsenen die wichtigsten
Aufgaben von Kindheit und Jugend, und die Sozialisationsforschung lehrt uns, daß
dies keineswegs nur durch formale Bildungsprozesse und absichtsvolle Erziehung
geschieht. Insofern spielt hier die gesamte Sozialisationssituation der Kinder
eine entwicklungsförderliche oder die Entwicklung beeinträchtigende
Rolle. Neben den materiellen Umständen ist das Maß an persönlicher
Zuwendung, in erster Linie seitens der Eltern, von ganz entscheidender Bedeutung
für die Kompetenzentwicklung, ja sogar bereits für die Entwicklung des
Gehirns! Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist der Anregungsgehalt der Erfahrungswelt.
Bildschirme vermitteln Erfahrung nur mit Bildschirmen! Wie wir spätestens
seit dem bekannten Bild einer Pfeife mit der Umschrift »Ceci n'est pas une
pipe« des belgischen Surrealisten René Magritte auch reflexiv wissen
können, sind Bilder nur die Wirklichkeit der Bilder, nicht der Dinge oder
des Lebens. Auf die Erfahrung der Dinge und des Lebens kommt es aber bei Kindern
an. (Vgl. z.B. Hartmut von Hentig, Die Schule neu denken: eine Übung in
pädagogischer Vernunft, 2003). | Auch zur Entwicklung
der Elternkompetenzen wird in der Bundesrepublik wenig getan. Sie erfolgt fast
ausscWießlich informell, nämlich durch persönliche Bezugspersonen
aus Verwandtschaft und Bekanntschaft sowie durch einen florierenden Markt an Elternzeitschriften
und schriftlichen Ratgebern. Das Eltern- und Erziehungsberatungswesen ist wenig
ausgebaut. Die Beteiligung von Eltern am pädagogischen Geschehen des Kindergartens
hängt weitgehend von örtlichen Initiativen ab. Die Beteiligung der Eltern
am Schulwesen ist z.T. auf Länderebene gesetzlich geregelt, hat aber - soweit
ersichtlich - wenig praktische Wirkungen. (Ebd., S. 188-192).Diese
Skizze unterschiedlicher Dimensionen einer Politik der Nachwuchssicherung beansprucht
keine Vollständigkeit. Sie soll lediglich die Komplexität der Aufgabe
veranschaulichen und auf Defizite in der öffentlichen Erfüllung dieser
Aufgabe in Deutschland hinweisen. Es ist nicht zu übersehen, daß die
föderale Aufgabenteilung (oder das Kompetenzgerangel) zwischen Bund und Ländern
einen wesentlichen Hinderungsgrund für eine größere Priorität
der Nachwuchssicherung und für ein koordiniertes langfristiges Vorgehen darstellt.
(Ebd., S. 192).
6.7) Eltern und Kinderlose - Zukunftsvorsorge durch Kinder oder Sparen
Die
bisherigen Überlegungen haben im wesentlichen die prekäre Position der
Eltern im Verhältnis zu den Kinderlosen thematisiert. Diese Überlegungen
sind wichtig, weil ohne eine wieder zunehmende Bereitschaft zur Übernahme
von Elternverantwortung die Nachwuchsproblematik nicht gelöst werden kann
und weil die Eltern auch für die Lebensperspektiven der Kinder von entscheidender
Bedeutung bleiben. (Ebd., S. 193).Völlig aus dem Rahmen
der bisherigen politischen Erörterungen fallen unsere abschließenden
Überlegungen, denn sie betreffen den bisher tabuisierten Bereich der strukturellen
Bevorzugung Kinderloser im deutschen Sozialsystem. Die hier zu beantwortende Frage
wurde schon 1996 von Jürgen Krüger gestellt:».
..die heute verbreiteten politischen Formeln vom Abbau oder Umbau des Wohlfahrtsstaates
sind ja qualitativ wie quantitativ unspezifiziert .... Für eine im Kern sozialpolitisch-hilfeorientierte
Handlungsperspektive wäre dagegen erforderlich, einen gesellschaftlichen
wie politischen Diskurs darüber zu führen, welche wohlfahrtspolitischen
Standards sozioökonomischer Existenz unaufgebbar zu sichern oder herzustellen
sind, - auch wenn dies in ökonomisch-fiskalischen und demographischen Drucksituationen
nur zu Lasten überkommener - und dann auch: welcher?- Privilegien,
also relativer Vorteile anderer gesellschaftlicher Gruppen realisierbar ist. Eine
solche wohlfahrtspolitische Reformperspektive ist politisch risikovoll und gesellschaftlich
konfliktreich.« (Jürgen Krüger, Generationensolidarität
oder Altenmacht - Was trägt [künftig] den Generationenvertrag, 1996,
S. 652). | Wie gezeigt wurde, gibt es viele Bedingungen
und Gründe, welche die Kinderarmut moderner Gesellschaften plausibel machen.
Grundlegend sind Errungenschaften der Moderne, welche die Menschen, insbesondere
die Frauen, von den Zwängen des naturhaften Gebärens und von männlicher
Dominanz befreit haben und auch ein wesentlich längeres individuelles Leben
und damit eine langsamere Erneuerung der Bevölkerung auf der Basis einer
geringeren Geburtenzahl pro Frau ermöglichen. Wie auch viele andere Freiheiten
ist die dadurch gewonnene Freiheit riskant. (Vgl. Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim,
Riskante Freiheiten - Individualisierung in modernen Gesellschaften, 1994).
Es bedarf nun spezifischer gesellschaftlicher Vorkehrungen, um Individualinteressen
und Kollektivinteressen in einem Gleichgewicht zu halten. (Ebd., S. 193).Im
Rahmen der skizzierten gesellschaftlichen Bedingungen operieren politisch beeinflußbare
Gründe, die wir als strukturelle Rücksichtslosigkeiten namhaft gemacht
haben: institutionelle Vorgaben, welche das Kinder-Haben mehr oder weniger attraktiv
bzw. mehr oder weniger belastend machen. (Vgl. Abschnitt 5.8).
Ein wesentlicher Teil davon ist ökonomischer Natur: Die Entlohnungssysteme,
die Bedingungen des beruflichen Aufstiegs und die bisherigen sozialstaatlichen
Arrangements sind so ausgestaltet, daß es für junge Menschen ökonomisch
vorteilhaft ist, keine Kinder zu haben. So erleben wir in Deutschland seit etwa
dreieinhalb Jahrzehnten eine zunehmende Polarisierung der nachwachsenden Generationen
in einerseits Eltern, welche »in Kinder investieren« und in der Regel
die Verantwortung für das Aufbringen von mehr als einem Kind übernehmen,
und andererseits einen von Jahrgang zu Jahrgang zunehmenden Anteil lebenslang
Kinderloser, deren private Lebensformen eine größere Pluralität
aufweisen. (Vgl. Abschnitt 5.6).
Wir finden hier eine große Zahl beruflich erfolgreicher Alleinstehender,
lose Verbundener und fester Paare, denen ihre Karrierebedingungen mit der Übernahme
von Elternverantwortung nicht vereinbar erscheinen; wir finden manche, denen ein
Familienleben aus unterschiedlichen Gründen wenig bedeutet; wir finden Paare,
die sich ihren intensivem Kinderwunsch nie zu erfüllen vermochten; und es
gibt auch benachteiligte Menschen, denen persönliche Eigenarten oder ungünstige
Lebensbedingungen das Eingehen einer festen Partnerschaft und die Gründung
einer Familie trotz entsprechender Wünsche unmöglich gemacht haben.
(Ebd., S. 193-194).Kann es trotz dieser Vielfalt gute Gründe
geben, aus der Unterscheidung von Eltern und Kinderlosen einen politisch relevanten
Sachverhalt zu machen? Während über die Notwendigkeit öffentlicher
Hilfen »für Familien« heute weithin grundsätzliche Einigkeit
besteht, gibt es erhebliche Vorbehalte gegen eine politische Thematisierung von
Kinderlosigkeit. Selbst wenn anerkannt wird, daß die Kinderlosen in Deutschland
privilegiert und die Eltern ungebührlich benachteiligt sind, so kümmert
sich die Politik doch bestenfalls um eine Milderung der Benachteiligungen der
Eltern und nicht um eine Beseitigung der Privilegien der Kinderlosen. Allerdings:
Wenn die Lebensentscheidung, Elternverantwortung zu übernehmen, zu Recht
als Privatsache gilt, so müßte auch das Prinzip gelten, daß die
Konsequenzen privater Entscheidungen privat und nicht öffentlich zu tragen
sind. (Ebd., S. 194).Es ist gar nicht einfach, diese
Privilegien im Rahmen üblicher Verteilungsdiskurse aufzuzeigen. Zwar ist
nicht zu bestreiten, daß kinderlose Paare im Durchschnitt über einen
etwa doppelt so hohes Pro-Kopf-Nettoeinkommen verfügen wie ein Paar mit zwei
unmündigen Kindern, auch wenn man die Kinder nur mit einer halben Vollperson
rechnet. Und es ist auch nicht zu bestreiten, daß Doppelverdienerpaare wesentlich
höhere Rentenanwartschaften aufzubauen vermögen als ein Einverdienerhaushalt,
der drei Kinder aufzieht. Aber Kinderlose können zu Recht darauf verweisen,
daß sie schon jetzt wesentlich höhere Einkommenssteuern zahlen (wobei
sie allerdings die im vorangehenden skizzierte regressive Belastungsstruktur des
gesamten Abgabensystems übersehen). Und man kann darüber streiten, inwieweit
das Ehegattensplitting unabhängig von der Übernahme von Elternverantwortung
noch gerechtfertigt ist. (Ebd., S. 195).Die
wirtschaftliche Leistung von Eltern und deren strukturelle Benachteiligung werden
im Rahmen einer synchronen Wirtschaftsbetrachtung, wie sie nahezu allen Verteilungsdiskursen
und unseren geläufigen marktwirtschaftlichen Argumentationen zugrunde liegt,
überhaupt nicht sichtbar. (Vgl. Hans-Günter Krüsselberg, Ökonomische
Analyse der werteschaffenden lesitungen von Familie im Kontext von Wirtschaft
und Gesellschaft, 2002). Erst die diachronen Diskurse über Zukunftsverantwortung
und Generationengerechtigkeit bringen den entscheidenden Unterschied in den Blick:
Menschen, die Elternverantwortung übernehmen, leisten unentgeltlich Investitionen
in das zukünftige Humankapital oder Humanvermögen, Menschen ohne Elternverantwortung
nicht. Diese unentgeltlichen Investitionen - in Form unmittelbarer Kosten
und von Zeitaufwand - belaufen sich, wie die Schätzungen von Heinz Lampert
(Priorität für die Familie - Plädoyer für eine rationale
Familienpolitik, 1996, S. 30ff.) für das Jahr 1992 gezeigt haben, auf
ca. 17000 DM pro Kind und Jahr. Die infolge des Geburtenrückgangs »unterlassenen
Investitionen« in das volkswirtschaftliche Humankapital zwischen 1972 und
2000 belaufen sich (unter Einschluß der »eingesparten« Bildungsinvestitionen
der öffentlichen Hand), auf ca. 4800 Milliarden DM oder 2500 Milliarden Euro.
(Vgl. Abschnitt 3.4).
(Ebd., S. 195).Die zweite Form volkswirtschaftlicher Zukunftsvorsorge
- und die einzige, welche die herrschende Nationalökonomie kennt - besteht
in der Bildung von Sachkapital, und sie setzt nach herrschender Lehre die Bildung
von Ersparnissen voraus. Die Spar- und Investitionsquote hat jedoch in den vergangenen
dreieinhalb Jahrzehnten nicht etwa zugenommen, sondern ist, bezogen auf die Zeit
von 1950 bis 1970, sogar deutlich gesunken. Man kann spekulieren, wohin der dem
Aufbringen von Kindern entzogene Zeit- und Geldaufwand verschwunden ist: Wahrscheinlich
wäre die Verkürzung der Arbeitszeiten geringer ausgefallen; wahrscheinlich
hätte der Freizeitkonsum weniger expandiert, und es wäre mehr Geld in
das Bildungswesen geflossen. Doch darauf kommt es nicht an. Als Tatsache bleibt
eine volkswirtschaftliche Investitionslücke, von der anzunehmen ist, daß
sie sich beim Fortgang der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Dinge wie bisher
ständig vergrößern wird. Die Konsequenz ist eine Stagnation
des Wirtschaftswachstums und wachsende Schwierigkeiten bei der Erfüllung
öffentlicher Aufgaben sowie sich fortsetzende Kürzungen der kulturellen,
sozialen und vielleicht sogar rechtsstaatlichen Leistungen der öffentlichen
Körperschaften, mit entsprechenden Frustrationen der Bevölkerung - ohne
begründbare Hoffnung auf Besserung. (Ebd., S. 195-196).Eine
wirkliche Veränderung der Verhältnisse setzt ein öffentliches Umdenken
in diesem zentralen Punkt voraus: Diejenigen, welche nicht in das Humankapital
der nachwachsenden Generationen investieren, müssen in äquivalenter
Weise zur kollektiven Zukunftsvorsorge beitragen, nämlich durch zusätzlichen
Konsumverzicht und die Bildung von Ersparnissen. Jeder und jede, die aus persönlichen
und wirtschaftlichen Gründen dazu in der Lage sind, vorzusorgen, haben dies
entweder in der Form von Kindererziehung oder in der Form der langfristigen Ersparnisbildung
zu leisten. Für dieses Gleichgewicht zu sorgen ist die zentrale sozialpolitische
Aufgabe des kommenden Jahrzehnts. (Ebd., S. 196).Die hier
verlangte Umorientierung ist in erster Linie konzeptioneller Natur. Es geht zunächst
um die Einsicht, daß wir auch in Deutschland volkswirtschaftlich über
unsere Verhältnisse gelebt haben, was wir seinerzeit anderen EG-Ländern
mit höheren Inflationsraten ja immer wieder vorgeworfen haben. Es geht sodann
um die Einsicht in die zentrale Bedeutung der Humanvermögen für die
Zukunft einer »Wissensgesellschaft« und die Anerkennung des investiven
Charakters der Erziehung und Sozialisation von Kindern. Es geht schließlich
darum, unserer kollektiven Zukunft im Rahmen unserer gegenwärtigen politischen
Entscheidungen größeres Gewicht einzuräumen: Bisher stützen
wir uns nur auf die noch vagen Konzepte von »Nachhaltigkeit« und »Generationengerechtigkeit«.
Es geht nicht primär darum, Verteilungspolitik zu treiben, wenngleich
die Verteilungswirkungen gravierend sein werden. Nur wer bereit ist, das übliche
politische Treiben und die »politischen Unmöglichkeiten« für
einen kreativen Moment zu vergessen, wird die Unumgänglichkeit des skizzierten
Grundgedankens einsehen. Und nur insoweit sich dieser durchsetzt, können
auch konkrete Sozialreformen in die »richtige« Richtung wirken. Hierzu
sollen im folgenden Kapitel Anregungen gegeben werden. (Vgl. Abschnitt 7.6).
(Ebd., S. 196-197).
7) Generationenverhältnisse und Sozialstaat (S. 198-231)
»So
wie Ihr heute an uns spart, werden wir uns morgen um Euch kümmern!« (Protesttransparent
Berliner Schüler, 1996) |
Abschließend soll
der Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung
näher ins Auge gefaßt werden. Hierbei sind vielfältige Wechselwirkungen
am Werk, die hier analytisch auf zwei kausaltheoretische Perspektiven reduziert
werden müssen, nämlich (1) den Einfluß wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen
auf die Determinanten der Bevölkerungsentwicklung und (2) die Rückwirkungen
der Bevölkerungsentwicklung auf die entfalteten Institutionen des Sozial-
oder Wohlfahrtsstaates. Zwischen beiden Perspektiven vermittelt das Konzept der
Generationenverhältnisse, also der quantitativen Relationen zwischen den
Angehörigen verschiedener Altersgruppen bzw. Geburtskohorten. Das Konzept
der Generationenverhältnisse ist zu unterscheiden vom Konzept der Generationenbeziehungen,
das sich auf die interpersonellen Beziehungen zwischen Angehörigen uftterschiedlicher
Generationen bezieht. (Vgl. hierzu weiterführend Kurt Lüscher, Ambivalenz
- Eine Annäherung an das Problem der Generationen, 2005). Generationenbeziehungen
werden vorzugsweise in mikrosoziologischer, Generationenverhältnisse in makrosoziologischer
Perspektive relevant. Im Kontext von Bevölkerungsfragen steht hier die makrosoziologische
Perspektive im Vordergrund, doch werden Relationen zur Mikroebene bei Gelegenheit
mit angedeutet. (Ebd., S. 198).Was zunächst den Einfluß
wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen auf die Determinanten der natürlichen
Bevölkerungsentwicklung - Sterblichkeit und Fruchtbarkeit - betrifft, so
muß eine kurze Skizze genügen. (Dies wurde bereits ausführlicher
dargestellt in; Franz-Xaver Kaufmann, Sozialpolitik und Bevölkerungsprozeß,
1990; ders., Sozialpolitik und Sozialstaat - Soziologische Analysen, 2002.).Der
säkulare Sterblichkeitsrückgang beruht hauptsächlich auf der Verbesserung
der Lebensverhältnisse sowie auf Fortschritten der Krankenversorgung. Daß
diese Fortschritte nicht allein den wohlhabenden Bevölkerungsgruppen zukommen,
sondern eine starke Breitenwirkung bis in die unteren Sozialschichten entfaltet
haben, ist im wesentlichen den entstehenden Institutionen des Wohlfahrtsstaats
zuzuschreiben: von der progressiven Einkommenssteuer bis zur sozialen Sicherung
im Falle von Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit oder Erwerbsunfähigkeit.
(Es darf als Symptom dieser sozialstaatlichen Wirksamkeit gelten, daß die
renoinmierte »Berliner Altersstudie« im Hinblick auf Morbidität
und Behandlungsbedürftigkeit kaum Unterschiede nach der Sozialschicht gefunden
hat; vgl. Frank Schirrmacher, Das Methusalem-Komplott, 2004, S. 216.).
Darüber hinaus haben staatlicher Arbeits- und Gesundheitsschutz die mit der
Industrialisierung verbundenen Lebensrisiken unmittelbar reduziert. (Ebd.,
S. 198-199).Mit Bezug auf die säkulare Tendenz zur Nachwuchsbeschränkung
hat die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung vor allem die Anreizstrukturen für
prospektive Eltern verändert. Verbote der Kinderarbeit expropriierten die
Eltern der Arbeitskraft ihrer Kinder ohne Kompensation, und die fortgesetzte Verlängerung
der Schulpflicht und der Ausbildungsphase haben den Eltern wachsende Unterhaltsverpflichtungen
für ihre Kinder auferlegt. Zudem ist die selbständige Erwerbstätigkeit
stark zurÜckgegangen, welche Kinder nicht nur als mithelfende Familienangehörige,
sondern auch als potentielle Betriebserben wertvoll machte. Hatten früher
eigene Kinder durchaus einen wirtschaftlichen Wert für ihre Eltern, so bedeuten
sie in ökonomischer Hinsicht heute fast nur noch Belastungen. Ihr wirtschaftlicher
Nutzen ist auch durch die Kollektivierung der Alterssicherung entscheidend reduziert
worden. Deshalb werden heute Kinder kaum mehr aus wirtschaftlichen, sondern nur
noch aus immateriellen Gründen gewünscht. (Vgl. Abschnitt 5.5).
Die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung hat also eigene Kinder im Einzelfall entbehrlich,
ja kostspielig gemacht. Allerdings spielen im Bereich nichtmonetärer
Unterstützungen familiale Leistungs- und Austauschverhältnisse nach
wie vor eine erhebliche Rolle. (Ebd., S. 199).Die als Folge
von Sterblichkeits- und Geburtenrückgang absehbare demographische Entwicklung
gehört zu den nachhaltigsten Herausforderungen der europäischen Wohlfahrtsstaaten.
(Vgl. Abschnitt 2.1).
Der deutsche Sozialstaat, genauer: das in seinem Rahmen institutionalisierte System
sozialer Sicherung, ist aufgrund seiner vielgliedrigen Struktur und mangels vorsorglicher
Rückstellungen, aber auch infolge der besonders niedrigen Geburtenrate in
besonderer Weise gegenüber den zu erwartenden demographischen Veränderungen
anfällig. Vor allem abhängig von den Generationenverhältnissen,
also den Veränderungen in den Generationsstärken, sind die beiden finanziell
gewichtigsten Umverteilungssysteme, nämlich die Gesetzliche Rentenversicherung
und die Gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung sowie die mit ihnen funktional
verbundene Beamtenversorgung. (Ebd., S. 199).Ohne auf die
Feinheiten des in Deutschland nach Berufsgruppen gegliederten Alterssicherungssystems
einzugehen, lassen sich die wesentlichen Zusammenhänge bereits anhand der
sogenannten Jugend- und Altenquotienten, also dem zahlenmäßigen Verhältnis
der noch nicht und der nicht mehr erwerbstätigen Altersgruppen zur Altersgruppe
der Erwerbstätigen verdeutlichen. (Ebd., S. 200).
7.1) Generationen
Es kommt selten vor, daß die Äußerung
z.B. eines 23-Jährigen so hohe Wellen wirft wie der Vorschlag des Vorsitzenden
der Jungen Union im Sommerloch 2003, man möge bestimmte medizinische Versorgungsleistungen,
beispielsweise den Ersatz eines Hüftgelenkes, Menschen über 85 Jahren
nicht mehr aus öffentlichen Mitteln bezahlen. Unsere Bielefelder Lokalzeitung
brachte unter dem Titel »Geschwafel eines pubertären Selbstdarstellers«
eine ganze Seite ausschließlich kritischer bis empörter Leserzuschriften
zu dieser Äußerung. (Vgl. Neue Westfälische, 16/17.08.2003,
S. 4; vgl. auch FAZ, 08.08.2003.). Da wurde offensichtlich ein Nerv der
Bevölkerung getroffen - aber welcher Nerv? (Ebd., S. 201).Auf
den ersten Blick handelt es sich bei dieser Provokation um das Problem der Rationierung
medizinischer Leistungen. Darüber wird in Deutschland ungern gesprochen,
während es im britischen Nationalen Gesundheitsdienst offizielle Politik
ist, manche Leistungen nur bis zu einem bestimmten Lebensalter zu gewähren.
Es ist unwahrscheinlich, daß dieser heute allenthalben virulente Konflikt
zwischen Medizinethik und Medizinökonomie das Motiv der öffentlichen
Erregung war. Nicht die Botschaft, der Bote ist das eigentliche Problem: der junge
Mann gehört der ersten Generation an, welche lebenslang an den Folgen der
in Kapitel 2
skizzierten demographischen Verwerfungen zu tragen haben wird. Er hat die in unseren
sozialstaatlichen Regulierungen angelegte Spannung zwischen den Interessen unterschiedlicher
Generationen öffentlich gemacht. War in der Entstehungsphase des Sozialstaats
und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Eingrenzung des Klassenkonflikts das
Hintergrundthema aller sozialpolitischen Auseinandersetzungen, so scheint dies
im 21. Jahrhundert die Eingrenzung des Generationenkonflikts zu werden.
(Ebd., S. 201).Das bis vor kurzem unscheinbare Wort »Generation«
verweist zunächst auf die Einbindung des Menschen in die Kette der Fortpflanzung,
auf einen biologischen Sachverhalt also, der allerdings stets kulturell überformt
ist. Biologische Kategorien erscheinen in unseren gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen
seit geraumer Zeit an Gewicht zu gewinnen (vgl. Wolfgang Lipp, Biologische
Katheorien auf dem Vormarsch?, 1988), auch der Generationendiskurs gehört
dazu. (Ebd., S. 201).Generation ist von alters her ein familialer
Tatbestand. Und so finden wir im herkömmlichen, an Grund und Boden oder zum
mindesten an ein bestimmtes Gewerbe geknüpften Familienverband auch Generationenverträge:
das sogenannte Ausgedinge oder Altenteil. Wenn demgegenüber heute vom »Generationenvertrag«
die Rede ist, welcher in Gefahr sei oder von der einen oder anderen Generation
nicht eingehalten werde, so ist ein völlig anderer Sachverhalt gemeint. »Generationenvertrag«
ist hier eine politische Metapher, die sich unterschiedlich weit auslegen läßt.
Offensichtlich geht es hier nicht mehr um Verwandtschaftsbeziehungen, sondern
um soziale Lagerungen im Horizont von Zeit. (Ebd., S. 202).Auf
der gesellschaftlichen Ebene sind ein synchrones und ein diachrones Konzept von
Generation zu unterscheiden. Die Unterscheidung von synchronen und diachronen
Generationen scheint mir zutreffender als die von Jörg Tremmel (Generationengerechtigkeit
- Versuch einer Definition, 2003) vorgeschlagene zwischen temporalen und intertemporalen
Generationen. Bei der synchronen Betrachtungsweise spricht man meist von
drei Generationen: (1) Kinder und Jugendliche, (2) Erwachsene und (3) Alte, wobei
davon ausgegangen wird, daß die erste Generation noch nicht und die dritte
Generation nicht mehr erwerbstätig sei, während von der mittleren zweiten
Generation die Erwerbstätigkeit erwartet wird. Aus sozialpolitischer Perspektive
empfiehlt sich eine feinere Differenzierung, etwa die Unterscheidung zwischen
Kindern, Jugendlichen, jungen und älteren Erwachsenenjungen Alten und Hochbetagten,
da diesen Gruppen unterschiedliche Eigenschaften und Bedürftigkeiten zugeschrieben
werden. Dieses synchrone Konzept von Generation orientiert sich an der lebenslaufbezogenen
Statusordnung einer Gesellschaft. Individuen wechseln ihm zufolge die Generationszugehörigkeit,
indem sie mit zunehmendem Alter ihren sozialen Status verändern, also beispielsweise
von der Schule ins Erwerbsleben übergehen. Festzuhalten ist für diese
synchrone Betrachtungsweise, daß Generationsgrenzen häufig durch
Rechtsnormen definiert werden, welche an ein bestimmtes kalendarisches Alter anknüpfen,
so z. B. Normen der Schulpflicht, der Mündigkeit oder des Ruhestands. Auf
diese Weise werden bestimmte kalendarische Altersgruppen mit bestimmten sozialen
Merkmalen verknüpft. So lassen sich synchrone Generationsdefinitionen mit
bestimmten bevölkerungsstatistischen Altersklassen verbinden. (Ebd.,
S. 202-203).Hiervon zu unterscheiden ist der diachrone Generationsbegriff,
wie er seinerzeit vor allem von dem Soziologen Karl Mannheim (Das Problem der
Generationen, 1928) entwickelt worden ist. Diachrone Generationen beziehen
sich auf Personen benachbarter Geburtskohorten, die im Laufe ihres Lebens mit
jeweils ähnlichen Umständen in bestimmten Lebensaltern konfrontiert
wurden und denen deshalb unterstellt wird, daß sie auch durch ähnliche
Erfahrungen geprägt worden und durch ähnliche Einstellungen zu charakterisieren
seien. So unterscheiden beispielsweise Klaus Schönhoven und Bernd Braun »Generationen
in der Arbeiterbewegung« (2004). Die »Generation von Langemarck«,
die »Nachkriegsgeneration«, die »skeptische Generation«,
die »Achtundsechziger«, und neuerdings die »Generation Golf«,
man braucht bloß die Namen zu nennen, um auf die literarische Fantasie hinzuweisen,
welche solchen Charakterisierungen oft zugrunde liegt. Dennoch ist der Grundgedanke
plausibel: Menschen ähnlichen Alters teilen Gemeinsamkeiten des Erlebens
öffentlicher Ereignisse oder alltäglicher Umstände und werden von
veröffentlichten Meinungen vor allem im Zeitalter der Massenmedien unterschiedlich
angesprochen, je nachdem, in welcher Lebensphase sie sich gerade befinden. Daraus
kann auch ein emphatisches Generationsbewußtsein entstehen, also in Abwandlung
eines Marxschen Diktums bezüglich der Arbeiterklasse: der Übergang
von einer Generation an sich zu einer Generation für sich. Dies geschieht
in der Regel in der Form einer bewußten Abgrenzung» sei es gegenüber
den Älteren oder den Jüngeren. Wenn auf diese Weise die öffentliche
Definition einer Generationszugehörigkeit Grundlage einer sozialen Bewegung
wird, wie das ja für die Achtundsechziger durchaus zutraf, so entsteht eine
Konstellation, in der kollektive Generationenkonflikte nicht mehr unwahrscheinlich
sind. (Ebd., S. 203).Bisher ist weitgehend ungeklärt,
unter welchen Bedingungen solch ein kollektives Generationsbewußtsein zu
erwarten ist. Wo es fehlt, bleibt »Generation« im wesentlichen eine
Kategorie der wissenschaftlichen Beobachter, vor allem von Historikern, Soziologen
und Psychoanalytikern. In unserem Zusammenhang kommt der diachronen Perspektive
insofern besondere Bedeutung zu, als die quantitativ unterschiedlich starken verschiedenen
Geburtskohorten ... im Laufe ihres Lebens die erwähnten unterschiedlichen
Lebensphasen durchlaufen und infolge ihrer zahlenmäßigen Stärke
besondere Herausforderungen für die unterschiedlichen Teilsysteme des Sozialsektors
darstellen, während zugleich aber auch die ihnen Angehörigen ein spezifisches
Kohortenschicksal erfahren. (Ebd., S. 203-204).
7.2) Gibt es einen Generationenvertrag?
Das Wort »Generationenvertrag«
hatte unter der rotgrünen Koalition (1998-2005) einen prominenten rhetorischen
Platz gewonnen. .... Mit dem Hinweis auf den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen,
die Staatsverschuldung und die zwei zentralen Systeme sozialstaatlicher Umverteilung
(d.h.: es werden keinerlei Kapitalreserven gebildet, sondern
die Leistungen werden aus den Beiträgen desselben Jahres finanziert! HB) - Rentenversicherung und Krankenversicherung - spricht die Bundesregierung
zentrale Dimensionen einer diachronen Generationengerechtigkeit an, wobei
allerdings eine wichtige Dimension ausgeklammert bleib, nämlich die Nachwuchssicherung.
(Ebd., S. 204).Durch das Verbot der Kinderarbeit und die Einführung
formaler Verrentungsgrenzen hat die stattliche Sozialpolitik schon im 19. Jahrhundert
die Lebensphase der Erwerbstätigkeit durch Altersgrenzen definiert. Und im
20. Jahrhundert wurde durch Hinaufsetzung des Jugendschutzalters und den Ausbau
des Bildungswesens einerseits sowie durch Herabsetzung des Verrentungsalters und
die Ermöglichung eines vorzeitigen Ruhestandes andererseits die Erwerbsphase
weiter eingeengt, so daß heute die Erwerbstätigen im wesentlichen der
Altersgruppe der 20-bis-60-Jährigen angehören. Weil die meisten sozialpolitischen
Maßnahmen durch einkommensproportionale Beiträge vom Arbeitsentgelt
finanziert werden, Erwerbsarbeit selbst aber in einem immer enger werdenden Altersrahmen
sich konzentriert, hat sich der Sozialstaat immer unmittelbarer von der demographischen
Entwicklung abhängig gemacht. (Ebd., S. 205-206).Die
genannten Sachverhalte wurden als Generationenproblem erstmals 1955 in einer gerade
heute wieder lesenswerten Denkschrift zur »Neuordnung der sozialen Leistungen«
thematisiert, welche Bundeskanzler Adenauer von den Professoren Hans Achinger,
Joseph Höffner, Hans Muthesius und Ludwig Neundörfer erbeten hatte.
Hier lesen wir unter der Randglosse »Ausgleich zwischen den Generationen«:
»Da das
Sozialprodukt infolge der dynamischen Entwicklung der modernen Wirtschaft sich
ständig ändert, wird den Altersrentnern ein dem jeweiligen Stand der
wirtschaftlichen Entwicklung entsprechender Lebensstandard nur gewährt werden
können, wenn in der gesetzlichen Altersversicherung ein Ausgleich zwischen
den Generationen erfolgt. Die Solidarität zwischen den Schaffenden und den
Altersrentnern muß durch die Solidarität zwischen den Generationen
ergänzt werden. In diesem Sinne könnte gesetzlich bestimmt werden, daß
die heute Schaffenden, weil sie einen bestimmten Prozentsatz ihres Einkommens
der Alterssicherung der heutigen Rentner zur Verfügung stellen, in gleicher
Weise in ihrem Alter von den dann Schaffenden bedacht werden. Auf diese Weise
würde die Alterssicherung dem jeweiligen Lebensstandard angeglichen, wobei
die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu erwartende Zunahme der alten
Leute mitberücksichtigt werden müßte.« (Hans Achinger /
Joseph Höffner / Hans Muthesius / Ludwig Neundörfer, Neuordnung der
sozialen Leistungen - Denkschrift auf Anregung des Herrn Bundeskanzlers, 1955). | Dieser
Vorschlag ging bereits auf die Überlegungen von Wilfried Schreiber zurück,
dessen später von Bundeskanzler Adenauer in die Diskussion gebrachten Vorschläge
zur Rentenreform der Kommission im Manuskript vorlagen. Von Schreiber stammt also
die Idee, »die gesetzliche Rentenversicherung nicht mehr als Sparvertrag
nach dem Muster der privaten Lebensversicherung, sondern als »Solidar-Vertrag
zwischen jeweils zwei Generationen« aufzufassen (Wilfried
Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, 1955,
S. 28). Schreibers Grundgedanke war jedoch breiter: »In
der industriellen Gesellschaft stellt sich daher erstmalig das Problem der Verteilung
des Lebenseinkommens auf die drei Lebensphasen: Kindheit und Jugend, Arbeitsalter
und Lebensabend.« (Wilfried Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen
Gesellschaft, 1955, S. 7). | Demzufolge forderte er
nicht nur einen staatlich vermittelten Solidarvertrag zwischen der erwerbstätigen
und der alten Generation, sondern einen zweiten Solidarvertrag zwischen der
erwerbstätigen und der nachwachsenden Generation, wobei die vorgesehene
Kinder- und Jugendrente von ihm als eine Art Darlehen an den Nachwuchs verstanden
wurde, das von diesem ab dem 35. Lebensjahr zu einem von der eigenen Kinderzahl
abhängigen Erstattungssatz in Form von Beiträgen zurückzuzahlen
wäre. (Es fällt auf, daß die Ausführungen Schreibers zum
»Lebensanspruch der Kinder und Jugendlichen« [ebd., S. 31-35] in späteren
Nachdrucken des »Schreiber-Plans« weggelassen wurden!). Der Beitrag
der nachwachsenden Generationen zu diesem zweiten Generationenvertrag sollte also
entweder durch das Aufziehen eigner Kinder oder durch Geldleistungen erfolgen.
Noch deutlicher werden die Implikationen in einem Diskussionsbeitrag von Joachim
Wiesner (in: Oswald Nell-Breuning / Cornelius G. Fetsch, Drei Generationen
in Solidarität - Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan, 1981,
S. 66) ausgedrückt: »Rentenpolitisch folgt daraus, daß analog
zu den anrechnungsfähigen Zeiten im Rentenanspruchskatalog, wie z. B. Berufsbildung,
Wehrdienst, Arbeitslosigkeit u.s.w. auch ein Faktor »Honorierung von menschlichen
Investitionen« eingefügt werden muß, und zwar nicht etwa nur
in der Almosenform von einigen wenigen zusätzlichen Baby-Jahren, Erziehungszeiten
u.s.w., sondern als gleichberechtigte Komponente neben monetären Beitragsleistungen,
als geldmäßiger Anspruch an die umzuverteilende (sic) Rentenkasse.«
(Ebd., S. 206-207).Dieser Gedanke eines zweifachen Generationenvertrages
paßte besonders gut zu den Vorschlägen des erwähnten »Vierprofessorengutachtens«,
weil dieses im Horizont der von Adenauer in seiner Regierungserklärung von
1953 angekündigten »umfassenden Sozialreform« Grundgedanken des
britischen Beveridge-Plans aufnahm und »für einen Tatbestand grundsätzlich
nur eine Leistung durch einen verantwortlichen Träger vorsah«. (Hans
Achinger / Joseph Höffner / Hans Muthesius / Ludwig Neundörfer, Neuordnung
der sozialen Leistungen - Denkschrift auf Anregung des Herrn Bundeskanzlers,
1955, S. 135). Die zentrale Relevanz der Generationenverlältnisse
für den sozialstaatlichen Umverteilungsprozeß wird um so deutlicher,
je vollständiger die Bevölkerung in einem einheitichen Sicherungssystem
erfaßt wird. Das nach Berufsgruppen gegliederte öffentliche Alterssicherungssystem
in der Bundesrepublik ist ein wesentlicher Hemmschuh für eine politische
Reform, da nicht alle Sicherungssysteme gleichermaßen von den demographischen
Risiken betroffen sind. (Ebd., S. 207-208).Wilfried Schreiber
war durchaus klar, daß das von ihm entworfene System nur unter der Voraussetzung
einer annähernden Konstanz der demographischen Proportionen zwischen den
Generationen langfristig funktionieren könne; auch deshalb schlug er einen
zweifachen Generationenvertrag vor. Richtiger wäre es aber wohl, von einem
Drei-Generationen-Vertrag zu sprechen, der in einem Umverteilungssystem
zwischen Erwachsenen und Alten und zwischen Erwachsenen und Nachwachsenden zu
institutionalisieren ist. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann / Lutz Leisering, Studien
zum Drei-Generationenvertrag, 1984). Denn die Metapher des Vertrags darf hier
nicht im marktwirtschaftlichen Sinne mißverstanden werden. Es werden keine
Verpflichtungen zwischen Individuen begründet. Es handelt sich vielmehr um
eine nur staatlich zu gewährleistende, die gesamte Lebensspanne übergreifende
Solidarität der Generationen. Von einem »Vertrag« kann hier
höchstens im Sinne einer kontraktualistischen Verfassungstheorie gesprochen
werden. Es geht um eine politisch herzustellende Sozialverfassung, welche angesichts
einer Wirtschaftsverfassung, welche die Erwerbsmöglichkeiten zunehmend auf
die wirtschaftich produktivsten Lebensjahre konzentriert, den Unterhalt derenigen
sicherstellt, die entweder noch nicht oder nicht mehr erwerbstätig sein können.
Es geht um die Ergänzung der Marktökonomie durch eine »moralische
Ökonomie«. (Vgl. Martin Kohli, Moralökonomie und Generationenvertrag,
1989). (Ebd., S. 208).Es bleibe dahingestellt, ob die vielfach
kolportierte Bemerkung Konrad Adenauers, »Kinder haben die Leute immer«,
zur Begründung des Verzichtes auf die Schreibersche »Kindheits- und
Jugendrente« tatsächlich so gefallen ist, se non è vero,
è ben trovato. Adenauer hat bereits in seiner Regierungserklärung
zu Beginn der 2. Legislaturperiode (1953) deutlich auf die absehbare Überalterung
und die Notwendigkeit von Kinderzulagen hingewiesen. Die Schaffung des Familienministeriums
und die erste Kindergeldgesetzgebung erfolgten 1953 vor der Rentenreform. Es ist
somit wahrscheinlicher, daß er diese Maßnahmen als politisch ausreichend
ansah. Es dauerte auf jeden Fall nicht lange, bis diese Vorstellung durch einen
rasanten Geburtenrückgang widerlegt wurde. Die mittlere Kinderzahl pro Frau
sank von 2,1 Kindern auf ca. 1,4 Kinder, ein Mittelwert der Geburtenentwicklung
in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten, der nunmehr auch den meisten demographischen
Szenarien für das 21. Jahrhundert zugrunde gelegt wird. (Ebd., S. 208-209).In
der Metapher des Generationenvertrags formuliert, bedeutet dieser Geburtenrückgang,
daß die seit etwa 1950 geborenen Generationen die implizite Verpflichtung
eines Drei-Generationen- Vertrags nicht mehr einhalten, indem sie per saldo weit
weniger Kinder aufziehen, als zum Erhalt einer Generationenbalance notwendig wäre.
... Wie gezeigt wurde (Abschnitt 5.2),
geht das niedrige Fertilitätsniveau in Deutschland im wesentlichen auf eine
starke Zunahme von Kinderlosigkeit, weniger auf eine zu geringe Kinderzahl pro
Ehepaar bzw. Mutter zurück. In den jüngeren Generationen polarisieren
sich die Lebensformen in solche mit und ohne Kinder, und Wirtschafts- wie Sozialverfassung
privilegieren die kinderlosen Lebensformen. (Vgl. Abschnitte 5.8
und 6.5).
(Ebd., S. 209).
7.3) Das Kippen der Generationenbalance
Quelle: Statistisches Bundesamt,
Statistisches Jahrbuch 2002 |
Den Geburtenrückgang
und seine demographischen Konsequenzen haben wir bereits in Kapitel
2 beschrieben. An dieser Stelle sei nur der spezifische Aspekt einer quantitativen
Verschiebung der Generationenverhältnisse nachgetragen. Hierzu bedienen wir
uns des Verhältnisses der 0-20-Jährigen zu den 20-60-Jährigen (Jugendquotient)
bzw. der 60-und-mehr-Jährigen zu den 20-60-Jährigen (Altenquotient),
also einem Näherungswert zu den Anteilswerten der noch nicht und der nicht
mehr erwerbstätigen Bevölkerungsgruppen. Wie Abbildung 7.1 zeigt, steigt
der Jugendquotient bis 1970 auf 0,64 an, eine Folge des Geburtenbooms der
1960er Jahre (vgl. Abbildung
Geburten 1950-2000). Seither ist ein zunächst rascher, dann
abgemilderter Rückgang bis 2020 auf 0,33 zu beobachten, was in etwa bereits
dem stabilen Wert einer Bevölkerung mit durchschnittlich 1,4 Kindern pro
Frau entspricht. Bei einer sich vollständig ersetzenden Bevölkerung
würde der stabile Jugendquotient ca. 0,52 betragen. Diese Aussage beruht
auf den Berechnungen anhand der Sterbetafel 1991/1993 des Statistischen Bundesamtes;
bei einem weiteren Sterberückgang sinkt dieser Wert, allerdings nur unwesentlich.
Der Altenquotient, also das Verhältnis von Altengeneration zur mittleren
Generation, steigt zwischen 1970 und 2000 nur unwesentlich (genauer
gesagt; er steigt erst ab Anfang der 1990er Jahre [vgl. Abbildung]; HB)
und nimmt dann insbesondere zwischen 2010 und 2030 geradezu dramatisch zu. Denn
mit dem Hineinwachsen der geburtenstarken, um 1960 (bzw.:
von 1950 bis 1969; HB) geborenen Jahrgänge ins Rentenalter geht
gleichzeitig der Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung erheblich zurück
.... (Ebd., S. 209-210). Infolge eines plötzlichen
Geburtenrückgangs zwischen 1965 und 1970 sanken die Aufwendungen für
das Aufbringen der Kinder. Gleichzeitig nahm der Anteil der Bevölkerung im
erwerbsfähigen Alter zunächst zu, da die Altenquote noch nicht anstieg.
Diese vorteilhafte Phase nähert sich für Deutschland derzeit dem Ende.
(Vorteilhaft ist dieser Zustand allerdings nur insoweit, als es gelingt, den steigenden
Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter auch tatsächlich
zu beschäftigen. Das ist im deutschen Fall bekanntlich nur unzureichend gelungen.).
In dem Maße, wie dann die Zunahme der Altenquote den Rückgang der Jugendquote
übertrifft, wirkt sich die demographische Veränderung im Sinne einer
Reduktion der durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen aus. (Ebd., S. 212-213).Allerdings
gilt das so nur in volkswirtschaftlicher Perspektive. De facto sind in der Bundesrepublik
die Unterhaltskosten der älteren Generation weitgehend kollektiviert, während
das Aufbringen der nachwachsenden Generation zu etwa drei Vierteln von deren Eltern
getragen wird. Insofern wirkt sich die Steigerung der Altenquote auf die sozialpolitische
Umverteilungsmasse stärker aus als das Sinken der Jugendquote. Allerdings
läßt sich diese demographische Tendenz durch Modifikationen der Erwerbsbeteiligung
erheblich beeinflussen. Wir haben die mittlere Aitersgruppe durch die Grenzwerte
von 20 und 60 Jahren definiert, weil dies in etwa dem gegenwärtigen Durchschnitt
des Beginns bzw. der Beendigung der Erwerbstätigkeit entspricht. (Allerdings
sind auch nicht alle 20-60-Jährigen erwerbstätig.). Dabei wird deutlich,
daß die deutsche Bevölkerung durch den Geburtenrückgang zunächst
per saldo Versorgungsaufwendungen sich erspart, und zwar in solchem Maß,
daß erst um 2030 der Wert von 1970 wieder erreicht wird. Aus demographischer
Sicht befindet sich Deutschland derzeit immer noch in einem besonders günstigen
Bereich, was den Unterhalt der nachwachsenden wie der alten Generation angeht.
Deshalb sind die derzeitigen Finanzierungsschwierigkeiten der Rentenversicherung
noch nicht demographisch bedingt. Allerdings ist diese günstige Konstellation
nicht mehr von langer Dauer. (Ebd., S. 213).Die Summe
der Jugend- und Altenquotienten der für bestimmte Zeitpunkte repräsentativen
Sterbetafeln kann ... als Annäherungswert für die langfristig minimale
Versorgungslast genommen werden. (Ebd., S. 213).Nach
2030 liegen die effektiven Versorgungslasten über den langfristig minimalen
Werten, dementsprechend wird hier »die Rechnung präsentiert«
für die suboptimale Fertilität. (Ebd., S. 214).Unsere
Befunde und Überlegungen verdeutlichen, wie sehr die demographisch bedingten
Generationslagen sich zwischen 1950 und 2050 verändern. Die synchronen
Generationiverhältnisse ausgedrückt durch die Jugend- und Altenquotienten
- verändern sich in der Zeit, so entstehen unterschiedliche diachrone
Generationslagen. Die heute (und erst recht die in den letzten Jahrzehnten)
im Rentenalter Stehenden können angesichts des erheblichen Wirtschaftswachstums
seit der Rentenreform von 1957 mit Rentenzahlungen rechnen, die auch unter Ausschaltung
der Geldentwertung einer überdurchschnittlich hohen Realverzinsung ihrer
seinerzeit geleisteten Beiträge entsprechen. Wie auch immer die Belastungen
durch die ungünstiger werdende demographische Lage zwischen Beitragszahlern
und Rentnern verteilt werden, das Verhältnis von Beiträgen und Renten
wird sich dauerhaft verschlechtern. (Ebd., S. 214).Diese
diachronen Unterschiede stellen die unmittelbare Herausforderung sozialstaatlicher
Politik dar, weil bereits heute absehbar ist, daß das gegenwärtige
öffentliche Versorgungsniveau der Rentner auf Dauer nur mit exorbitanten
Abgaben der Erwerbstätigen zu finanzieren wäre. Sie beliefe sich bei
der bis 2003 gültigen Gesetzeslage und unter Einschluß der Arbeitgeberbeiträge
und der steuerfinanzierten Staatszuschüsse nach einer Schätzung des
Ifo-lnstituts auf dem Höhepunkt der demographischen Krise im Jahre 2035 auf
62,5% der Arbeitseinkommen. (Vgl. Hans-Werner Sinn, Das demographische Defizit,
in: Demographie und Wohlstand, Hrsg.: Christian Leipert, 2003, S. 66.).
Es ist also ein unvermeidbarer Interessengegensatz zwischen Beitragszahlern und
Rentnern entstanden, wer in welchem Umfange die Konsequenzen der primär demographisch
bedingten Finanzierungskrise tragen soll. Die jüngste Rentenreform hat den
Konflikt im wesentlichen zu Lasten der zukünftigen Rentner entschärft.
... Beim Anhalten der gegenwärtigen Fertilität wird ... in der zweiten
Hälfte des 21. Jahrhunderts der Altersquotient auf dem erreichten hohen Niveau
verharren, bei gleichzeitiger Beschleunigung des Bevölkerungsrückgangs.
Die Einführung des euphemistisch sogenannten »Nachhaltigkeitsfaktors«
in die Rentenformel im Zuge der jüngsten Reform der Gesetzlichen Rentenversicherung,
aber auch die nahezu gleichzeitige starke Reduktion der prognostizierten Renditen
privater Lebensversicherungen sind erste Reaktionen auf die absehbare Verdüsterung
der Perspektiven der Alterssicherung, aber gewiß nicht die letzten.
(Ebd., S. 214-215).
7.4) Gibt es ein theoretisches Optimum der Versorgungslasten?
Unsere
bisherigen Überlegungen betrafen ausschließlich demographisch bedingte
Proportionen. Wirtschaftlich und sozialpolitisch erscheinen jedoch andere Faktoren
wie die Beschäftigungslage, die Produktivitätsentwicklung oder die Art
und Höhe der Sozialleistungen von weit größerer Bedeutung, die
hier nicht im Detail behandelt werden können. Um die Relevanz des demographischen
Faktors zu verdeutlichen, schalte ich hier eine Zwischenfrage ein: Welches Niveau
der Fertilität ermöglicht bei gegebenen Erwerbsstrukturen, Produktivitätsverhältnissen
und Verteilungsregeln eine Maximierung der Pro-Kopf-Einkommen in einer geschlossenen
Volkswirtschaft? Lassen sich Aussagen über ein optimales langfristiges
Verhältnis der Jugend- und Altenquote und die entsprechende Fertilität
(»versorgungsoptimale Fertilität«) machen? Ich bediene
mich hierzu des bereits erwähnten Analyseinstruments stabiler Bevölkerungen.
(Ebd., S. 215). |
Wie
Abbildung 7.4 zeigt, liegt unter Zugrundelegung gegenwärtiger Sterblichkeitsverhältnisse
(der Berechnung von Abbildung 7.4 wurde die Sterbetafel 1997/'99 für Frauen
in Deutschland zugrunde gelegt, welche eine mittlere Lebenserwartung bei der Geburt
von 80,6 Jahren ausweist) das langfristige Minimum der Versorgungslasten bei einem
Wert der Nettoreproduktionsziffer von ziemlich genau 1,0; am Minimum hat jeder
Erwerbstätige für sich sowie für 1,07 Nichterwerbstätige (Junge
oder Alte) zu sorgen: T(r) = 2,07. Im Bereich einer Nettoreproduktionsrate von
ca. 0,9 bis 1,2 tritt jedoch keine wesentliche Erhöhung der Versorgungslasten
ein. Allerdings zeigt die Darstellung einen scharfen Anstieg der Kurve auf der
Seite niedriger Fertilität: Sinkt die Reproduktion der Bevölkerung unter
ca. 80%, so ist mit zunehmenden Wohlfahrtsverlusten zu rechnen. Dies ist aktuell
in Deutschland mit einer Nettoreproduktionsziffer (NRZ) um 0,65 offensichtlich
der Fall. Deutlich wird zudem, daß Deutschland sich bereits im »roten
Bereich« befindet: ein weiteres Absinken der Fertilität würde
die Schwierigkeiten für die kollektive Finanzierung des Unterhalts der Nichterwerbstätigen
exponentiell anwachsen lassen. (Ebd., S. 215-216).Das
Verhältnis von Alten- zur Jugendquote ist von den durch die Sterbetafel repräsentierten
Sterblichkeitsverhältnissen abhängig. Wenn, wie zu erwarten ist, die
Sterblichkeit insbesondere in höheren Lebensaltern weiter sinkt, so würde
sich die gesamte Kurve weiter nach rechts und nach oben verschieben, d.h., es
bedürfte einer höheren Fertilität, um im Bereich des demographischen
Optimums zu landen, und die minimalen Versorgungslasten steigen bei gleichbleibender
Fertilität an. Umgekehrt wären bei einer niedrigeren Lebenserwartung
die demographisch bedingten Versorgungslasten geringer. (Ebd., S. 216-217).Soweit
also die ausschließlich demographischen Zusammenhänge, die u.a. auf
der mutmaßlich unrealistischen Annahme beruhen, daß die Versorgungsaufwendungen
für einen jugendlichen und einen alten Menschen gleich denjenigen für
einen Erwerbstätigen sind.25 Allerdings spielt das Verhältnis zum Versorgungsniveau
der Erwerbstätigen mathematisch keine Rolle, sondern nur das Verhältnis
zwischen den Aufwendungen für die noch nicht und die nicht mehr Erwerbstätigen.
(So auch Herwig Birg [Die demographische Zeitenwende, 2001, S. 161]. Die
von ihm postulierte Normativität einer stationären Bevölkerungsentwicklung
hängt allerdings von der Annahme durchschnittlich gleicher Versorgungsbedarfe
junger und alter Menschen ab.). Je höher das postulierte Versorgungsniveau
der Alten im Verhältnis zu den Jungen, desto mehr verschiebt sich die gesamte
Kurve nach rechts. Geht man von der verbreiteten Annahme aus, daß die Durchschnittsaufwendungen
für einen Jugendlichen etwa 2/3 derjenigen eines alten Menschen betragen
(hebt man auf die öffentlichen Aufwendungen allein ab, so werden die Aufwendungen
für einen alten Menschen im Durchschnitt sogar auf das Dreifache derjenigen
eines Jugendlichen geschätzt), so würde sich die optimale Reproduktionsrate
von 1,0 nach 1,3 verschieben und dementsprechend natürlich auch die gegenwärtige
deutsche Reproduktionsrate von 0,65 in einem noch ungünstigeren Licht erscheinen.
(Ebd., S. 217).Bis hierher haben wir lediglich die volkswirtschaftlichen
Zusammenhänge vorgestellt. Sie lassen sich zur These zusammenfassen, daß
eine niedrige Fertilität um so unschädlicher ist, je geringer die Pro-Kopf-Aufwendungen
für die alte Generation im Verhältnis zu denjenigen der nachwachsenden
Generation sind. Oder politikbezogen formuliert: Je geringer der Nachwuchs, desto
schwieriger der Unterhalt der alten Generation, was eigentlich auch dem gesunden
Menschenverstand einleuchten müßte. Doch die sozialpolitischen Auseinandersetzungen
orientieren sich an anderen Maximen, die durch strukturierte Interessen vorgegeben
werden. Berücksichtigt man die existierenden Versorgungsstrukturen, so ist
die von der demographischen Perspektive ausgehende Botschaft allerdings noch dramatischer:
Da die Aufwendungen für die alte Generation ganz überwiegend durch politisch
festgelegte Umverteilungen zu Lasten der Erwerbstätigen finanziert werden,
die Aufwendungen für die nachwachsende Generation jedoch nach Schätzungen
des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen (Leistungen für
die nachwachsende Generation in der Bundesrepublik Deutschland, 1979) zu rund
drei Vierteln von den Eltern selbst getragen werden, ist die Belastung der öffentlichen
Haushalte durch das Kippen der Generationsbalance noch weit schwerwiegender. Die
»Ersparnisse« durch den Geburtenrückgang kommen ganz überwiegend
denjenigen Individuen zu, die auf die Erziehung von Kindern verzichten, während
die zunehmenden Belastungen für die Alterssicherung auf die öffentlichen
Haushalte zukommen. (Ebd., S. 217-218).Vor allem
zeigen diese Überlegungen erneut, daß unter Versorgungsgesichtspunkten
der Rückgang der Fertilität unter das Reproduktionsniveau die eigentlich
problematische Entwicklung darstellt, und nicht die Verlängerung der Lebenserwartung.
Die demographischen Versorgungslasten lassen sich unter der Voraussetzung einer
quasistationären oder selbst einer mäßig wachsenden Bevölkerung
wesentlich leichter tragen als unter den Bedingungen eines Bevölkerungsrückgangs.
Je geringer die Fertilität, desto dramatischer wachsen die Versorgungslasten
der älteren Generation und die damit vorprogrammierten Verteilungskonflikte.
(Ebd., S. 218).
7.5) Generationengerechtigkeit - Geschlechtergerechtigkeit - Elterngerechtigkeit
Die
... Diskurse über Verteilungsgerechitgkeit orientieren sich an der Verteilung
von Macht, Gütern und Rechten unter den gleichzeitig lebenden Menschen. Hierarisch
geordnete Gesellschaften kannten (und kennen; HB)
noch eine vierte Hauptdimension sozialer Ungleichheit, nämlich die an einen
bestimmetn Status gebundene Ehre. (Ebd., S. 219-220).Die
problematischen demographischen Entwicklungen - und nicht nur sie - erfordern
jedoch den Einbezug einer diachronen Dimension in die Gerechtigkeitsdiskurse.
Dies geschieht (jedenfalls scheinbar; HB) neuerdings
unter dem Titel der Generationengerechtigkeit. (Ebd., S. 220).Das
Konzept der Generationengerechtigkeit ist noch eher ein politischer Kampfruf denn
ein ausgearbeitetes philosophisches Konstrukt, doch liegen einige Vorabeiten vor.
(Folgt man den Schätzungen von Hauser [2005], so ist »auf absehbare
Zeit eineVerletzung der Generationengerechtigkeit in der Längsschnittperspektive
nicht zu erwarten. Dies gilt allerdings nur dann, wenn weiterhin eine ausreichend
hohe Ersparnis und hohe Bildungsausgaben aufgebracht werden« [Richard Hauser,
Generationengerechtigkeit als Facette der sozialen Gerechtigkeit, 2005,
S. 22f.]). Im Zentrum der Diskussion standen die Umweltproblematik und die Erhaltung
der natürlichen Ressourcen der Menschheit. Im Vergleich zu diesem universalen
Problem mutet die primär auf nationale Rahmen bezogene Problematik der Staatsverschuldung
und der Zukunft der sozialen Sicherung eher bescheiden an, was jedoch ihrer politischen
Dringlichkeit keinen Abbruch tut. Insbesondere die steigende Staatsverschuldung
wird zunehmend als Belastung zukünftiger Generationen thematisiert. (Das
Thema Staatsverschuldung bedarf mit Bezug auf die Generationengerechtigkeit einer
differenzierten Betrachtung. Sofern aktueller Verschuldung entsprechende Zukunftsinvestitionen
gegenüberstehen, ist sie zu rechtfertigen; allerdings fehlt es staatlicherseits
an einer in der Privatwirtschaft selbstverständlichen Amortisierung.). In
jüngster Zeit hat sich die Diskussion jedoch stark hin zur demographischen
Problematik und zum Problem der Generationensolidarität verschoben.
(Ebd., S. 220).Dem Generationenkonzept wird (hier) also
eine gesellschaftsstrukturierende Bedeutung zugemessen, der aber keine soziale
Realität außerhalb der Rentenversicherung entspricht. Nach dieser
Auffassung haben die dauerhaften Finanzierungsprobleme des Sozialversicherungssystems
ihren Kern in dem Umstand, daß die seit etwa 1950 geborenen Generationen
zahlenmäßig so geringen Nachwuchs hervorgebracht haben, daß die
nachwachsenden Generationen bei gleichbleibenden Leistungen wesentlich höhere
Versorgungslasten werden tragen müssen. Sie werden dadurch nachhaltig in
ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt und mit den ihnen von den vorangehenden
Generationen hinterlassenen Verpflichtungen tendenziell überfordert. Auch
die Organisation staatlicher Alterssicherung nach dem Umlageverfahren läßt
sich als staatlich organisierte Verschuldung an die nachwachsenden Generationen
interpretieren, wobei hier die konsumtiven Zwecke eindeutig dominieren. Was früher
für den Familienverband galt, daß nämlich Kinderlosigkeit nicht
nur ein persönliches, sondern auch ein ökonomisches Unglück darstellt,
gilt unter den vorhandenen sozialstaatlichen Bedingungen in der Bundesrepublik
zwar nicht mehr in jedem Einzelfall, wohl aber weiterhin mit Bezug auf das Kollektiv
der Generationen. (Ebd., S. 222).Allerdings: Generationen
sind keine Kollektivsubjekte, und sie sind deshalb auch, wie gesagt, nicht als
solche fähig, Verträge abzuschließen, wie dies die Metapher des
Generationenvertrages suggeriert. Auch ein Moralisierung, als ob bestimmte
Generationen als solche »schuld« wären an der »Geburtenmisere«
und deshalb mit dem Schwinden ihrer Sicherung im Alter zu Recht »bestraft«
würden, geht am Problem vorbei. (Ebd., S. 222).Die
Ursachen der diachronen »Gerechtigkeitslücke« als Folge der demographischen
Entwicklung sind in Ungleichheiten zu finden, die sich bereits aus einer synchronen
Betrachtungsweise namhaft machen lassen, nämlich in der Polarisierung der
erwachsenen Bevölkerung in Personen mit und ohne Elternverantwortung. (Vgl.
Abschnitt 5.6).
Blieben von den in den 1930er Jahren geborenen Frauen etwa jede zehnte kinderlos,
so wird von den nach 1965 geborenen Frauen voraussichtlich etwa jede Dritte kinderlos
bleiben; und bei den Männern ist die Verantwortungsübernahme für
Kinder noch weniger verbreitet. Dagegen hat die mittlere Kinderzahl der Mütter,
also der Frauen mit Kindern, bei den nach 1950 geborenen Frauen von 2,03 auf 2,25
Kinder zugenommen (vgl. Tabelle).
Diese Polarisierungstendenz zwischen Mehrkinderhaushalten und Kinderlosen ist
im internationalen Vergleich in Deutschland besonders ausgeprägt. Wie die
Untersuchungen von Becker und Hauser (2003) gezeigt haben, läßt sich»im
Hinblick auf die gleichzeitig lebenden Mitglieder verschiedener Generationen (d.h.
in der Querschnittsperspektive F.X.K.) in Westdeutschland konstatieren, daß
sich die Verhältnisse immer mehr zu Ungunsten der jungen Generation verschoben
haben. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß es bei der mittleren Generation
einen deutlichen Unterschied zwischen Haushalten mit Kindern und Haushalten ohne
Kinder gibt. Paare mit Kindern und Alleinerziehende lagen bereits 1973 unter dem
Durchschnitt und ihre relative Position hat sich bis 1998 nochmals stark verschlechtert.«
(Richard Hauser, Generationengerechtigkeit als Facette der sozialen Gerechtigkeit,
2005, S. 12) « | Die immer deutlicher sich profilierende
Differenz zwischen Eltern und Kinderlosen stellt eine neue Form sozialer Ungleichheit
dar, welche ethische und politische Beachtung verdient. (Ebd., S. 222-223).Auch
hier muß zunächst vor Moralisierungen gewarnt werden. Man kann niemandem
vorwerfen, daß er nicht heiratet oder keine Kinder hat, und bekanntlich
gibt es nicht wenige Menschen und Paare, für die Kinderlosigkeit eine persönliche
Tragödie darstellt. Das Problem sind die institutionellen Regelungen,
also die Folgen unserer Gesetzgebung, welche den Kinderlosen Vorteile und den
Eltern Nachteile bringen.»Die
Leistungserbringung der Kinderaufzucht, die den vergesellschafteten Alterssicherungssystemen
erst das »Deckungskapital« - entweder als künftige Beitrags-
oder als künftige Steuerzahler - liefert, bleibt dementsprechend in der deutschen
Rechtsordnung erstens weitgehend privatisiert und wird zweitens in den Altersversorgungssystemen
gerade nicht gleichberechtigt mit den monetären Beiträgen als anspruchbegründende
Leistung anerkannt.« (Matthias Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gesastaltungsgebot
für die staatliche Ordnung, 1994, S. 35f.). | Es
ist also vordergründig, allein von einem Verteilungskonflikt zwischen unterschiedlichen
Generationen zu sprechen; dahinter verbergen sich mindestens zwei weitere Verteilungskonflikte,
nämlich derjenige zwischen den Geschlechtern und derjenige zwischen Eltern
und Kinderlosen. Alle drei beziehen sich auf eine Sphäre, die dem herkömmlichen
Nachdenken über den Sozialstaat fremd geblieben ist, nämlich die Sphäre
der Reproduktion. (Ebd., S. 223-224).
7.6) Lösungsvorschläge
Die Einführung des
Umlageverfahrens in der Gesetzlichen Rentenversicherung war nach den Vermögensverlusten
in und nach den beiden Weltkriegen als Übergangsmaßnahme ethisch wie
politisch zu rechtfertigen. Seine exklusive Beibehaltung hat jedoch - insbesondere
in Verbindung mit der dadurch mit bedingten Geburtenzurückhaltung - zu eindeutig
unethischen Konsequenzen geführt. Die Finanzierung der Alterssicherung
im Umlageverfahren bedeutet keine Zukunftsvorsorge, sondern nur die Abtragung
alter Schulden. Wenn der Staat den Beitragszahlern für ihre Beiträge
eine spätere Rente in Aussicht stellt, so ist das ein der Staatsverschuldung
ähnlicher Sachverhalt. Jegliche Zukunftsvorsorge setzt Investitionen voraus,
Investitionen in Sachkapital und in Humankapital. Eltern bilden durch ihre Erziehung
und Pflege Humankapital oder - richtiger gesagt - Humanvermögen, genauso
wie Lehrer und Ausbildner, welche allerdings nur die einmal geborenen oder allenfalls
zugewanderten Kinder qualifizieren können. Wer keine Kinder aufzieht, investiert
nicht ins Humanvermögen der Zukunft und damit in seine eigene Altersvorsorge.
Deshalb sollte er verpflichtet werden, durch Ersparnisse für sein Alter vorzusorgen
und die Bildung von Sachvermögen zu fördern. (Vgl. Abschnitt 6.7).
So auch Holger Fabig (Meßbare Orientierungen für das sozial- und
finanzpolitische Ziel der Generationengerechtigkeit, 2001, S. 171) unter Zitierung
von O. Mayer: Generationengerchtigkeit - was ist das?, in: Wirtschaftsdienst,
2000, Nr. 10. (Ebd., S. 224).Versicherungsökonomisch
gesprochen, geht es darum, das beitragsfinanzierte Umlagesystem vom »Moral-Hazard«-Verhalten
der Kinderlosen zu entlasten. Es ist in einem marktwirtschaftlichen System ökonomisch
vorteilhaft, keine Elternverantwortung zu übernehmen, und diese Vorteilhaftigkeit
wird durch das Äquivalenzprinzip von monetären Beiträgen und Rentenleistungen
sozusagen sozialstaatlich verdoppelt. Aber selbst das ist erst die halbe Wahrheit,
denn die Beiträge dienen ja nicht dem Aufbau von Zukunftskapital, sondern
nur zur Finanzierung des Unterhalts der älteren Generation. Hierfür
erscheint es durchaus gerechtfertigt, von allen Erwerbstätigen beitragsproportionale
Beiträge zu fordern, ja, man kann sich fragen, warum diese durch eine Beitragsbemessungsgrenze
nach oben beschränkt werden, und warum die Beamten und die freien Berufe
davon ausgenommen sind. Die gelegentlich von Familienpolitikern erhobene Forderung,
den Eltern geringere Beiträge als den Kinderlosen abzufordern, würde
die ökonomischen Zusammenhänge zusätzlich vernebeln. Für den
distributiven Familienlastenausgleich, also die Kompensation der Aufbringungskosten
von Kindern, kann sinnvollerweise kein kollektives Alterssicherungssystem zuständig
gemacht werden. (Ebd., S. 224-225).Anders steht es mit dem
allokativen Familienleistungsausgleich. Es ist geradezu absurd, daß
diejenigen, die das Humanvermögen der Zukunft aufziehen, also die
wichtigste Basis für die Finanzierung der zukünftigen Renten gewährleisten,
im Rahmen der Rentenanwartschaften nicht oder nur minimal anerkannt werden. (Eine
Anrechnung von Erziehungszeiten [derzeit drei Jahre pro Kind] erfolgt nur für
die nach 1992 geborenen Kinder). Die einzige plausible Begründung für
die Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung
besteht in der Analogie zur privaten Lebensversicherung. Diese Analogie ist jedoch
sehr vordergründig, wie sowohl die unterschiedliche Finanzierung als auch
die unterschiedliche Risikostruktur der beiden Sicherungssysteme zeigt. Zwar ist
es plausibel, denjenigen, die für den Unterhalt der alten Generation Beiträge
geleistet haben, eine beitragsäquivalente Alterssicherung in Aussicht zu
stellen, aber der Unterhalt der alten Generation beinhaltet lediglich die eine
Hälfte des sogenannten Generationenvertrages; die andere Hälfte bezieht
sich auf die kollektive Zukunftsvorsorge. Und diese hat nicht mit der Beitragsleistung,
sondern mit der Bildung von Zukunftsvermögen zu tun, sei es als Investition
in das Sachvermögen oder in das Humanvermögen. (Ebd., S. 225).Mit
Bezug auf die Verknüpfung von Generationen- und Elterngerechtigkeit hatte
der »Vater der Dynamischen Rente« von 1957, Wilfried Schreiber, bereits
eine im Grundsatz überzeugende Lösung vorgeschlagen: Die Kinder- und
Jugendrente wurde als »Investitionskredit« gedeutet, der von den erwachsen
Gewordenen entweder in der Form der Erziehung eigener Kinder oder in bar zu erstatten
sei, wobei der einkommensbezogene Erstattungssatz um so geringer anzusetzen wäre,
je mehr Kinder in einem Haushalt erzogen werden. (Vgl. Wilfried Schreiber, Existenzsicherung
in der industriellen Gesellschaft, 1955, S. 32ff.). Hier also erscheint die
Abgabe der Kinderarmen oder Kinderlosen nicht als »Strafsteuer«, sondern
als Äquivalent für die normalerweise zu erwartende Erziehungsleistung,
ohne die eine Gesellschaft ebensowenig eine Zukunft hat wie eine Familie. Dieses
Konzept eines staatlich vermittelten doppelten Generationenvertrags ist in sich
schlüssig und kann auch heute noch zur Schärfung des Problemverständnisses
dienen. (Hierzu immer noch lesenswert: Oswald Nell-Breuning / Cornelius G. Fetsch,
Drei Generationen in Solidarität - Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan,
1981). Der wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium
für Familie hat kürzlich eine ähnliche Perspektive entwickelt,
in der »alle Elemente von Familienpolitik als Teil eines Austauschprozesses
(betrachtet werden), der lebenslang innerhalb und zwischen den Generationen stattfindet«
und für den »ein drei Generationen einschließendes System von
Zahlungsströmen« gefordert wird. (Vgl. Wissenschaftlicher Beirat für
Familienfragen, Gerechtigkeit für Familien, 2001, S. 247, 257).
(Ebd., S. 225-226).Hans-Werner Sinn, der gegenwärtige
Direktor des Ifo-lnstituts (München), verficht ein dem Gedanken Schreibers
verwandtes, in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation aber wohl praktikableres
Konzept. Er kritisiert, daß der Ausbau des Familienlastenausgleichs zur
Kompensation der Nachteile des Kinderhabens in der Alterssicherung »auf
eine doppelte Intervention des Staates« hinausläuft, und plädiert
daher dafür, allein im Rentenrecht anzusetzen und die bis 2035 unumgänglichen
Kürzungen der gesetzlichen Renten nur denjenigen aufzuerlegen, die weniger
als zwei Kinder erziehen, und für ebendiese eine Vorsorge im Sinne der kapitalgedeckten
Riester-Renten vorzuschreiben. Er begründet dies wie folgt:»Im
Generationenzusammenhang (gehört es) zu den normalen Pflichten einer jeden
Generation ..., zwei Leistungen zu erbringen: In der leistungsfähigen Lebensphase
muß man seine Eltern und seine Kinder ernähren. Die erste dieser beiden
Leistungen wird in Form der Rentenbeiträge erbracht, die ja in vollem Umfang
an die heutigen Rentner fließen. Doch die zweite Leistung wird von vielen
Menschen nicht erbracht, weil sie sich gegen Kinder entscheiden. So gesehen ist
es sehr wohl gerecht, nun auch diesen Menschen eine zweite Leistung in Form des
Riester-Sparens abzuverlangen. Dadurch sichern sie sich die Renten, deren Vollfinanzierung
man den wenigen zukünftigen Beitragszahlern nicht mehr zumuten kann, und
es wird möglich, den Eltern einen größeren Teil der von ihren
eigenen Kindern gezahlten Rentenbeiträge zu belassen. Menschen, die mehrere
Kinder großziehen, an der Riesterrente zu beteiligen, hieße indes,
ihnen eine dreifache Last aufzuerlegen. Als Beitragszahler ernähren sie die
jetzt Alten, als Eltern finanzieren sie über die Kosten der Kindererziehung
die Renten aller zukünftigen Rentenbezieher, und als Riester-Sparer müßten
sie zusätzlich ihre eigenen Renten finanzieren.« (Hans-Werner Sinn,
Das demographische Defizit, in: Christian Leipert, Demographie und Wohlstand,
2003, S. 87; vgl. auch Hans-Werner Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?,
2003, S. 389ff.). | Sinns Vorschlag läuft auf eine
allgemeine Kürzung der Renten hinaus, bei gleichzeitiger Aufwertung der Ansprüche
aus Erziehungsleistungen. Entsprechende durchgerechnete Vorschläge wurden
von Gallon, Bank und Kreikebohm bereits 1994 vorgelegt. Sie haben jedoch niemals
eine ernsthafte politische Diskussion ausgelöst. Immerhin scheint neuerdings
der öffentliche Druck auf eine stärkere Anerkennung der Familienleistungen
zuzunehmen, was bei den »Mandarinen des Systems« entsprechende Abwehrreaktionen
auslöst. (Vgl. Bert Rürup / Sandra Gruescu, Nachhaltige Familienpolitik
im Interesse einer aktiven Bevölkerungsentwicklung, 2003; Franz Ruland,
Familie und Alterssicherung, 2004). (Ebd., S. 226-227).Allgemeine
Kürzungen haben durch die Rentengesetzgebungen von 1992, 1999 und 2003 bereits
stattgefunden. Diese Rentenkürzungen betreffen jedoch alle Anspruchsberechtigten
im Grundsatz gleichermaßen, unabhängig davon, ob sie Kinder großgezogen
haben oder nicht. Unter Einschluß der Gesetzgebung über die sogenannten
Riester-Renten kommt Winfried Schmähl (Wem nutzt die Rentenreform?,
2003, S. 361) sogar zum Schluß: »Durch die beitragsäquivalente
Ausgestaltung der Privatvorsorge bei gleichzeitiger Reduktion des Leistungsniveaus
der gesetzlichen RV werden Umverteilungselemente zugunsten von Frauen und Familien
abgebaut.« (Hervorhebung von mir). Zwar wurde die Anrechnung von
Erziehungszeiten etwas verbessert, aber damit kommen keine wirkliche Entlastung
der Eltern und keine spezifische Belastung der Kinderlosen zustande. (Vgl. die
Kritik in Hessische Staatskanzlei i [Hg.], Die Familienpolitik muß neue
Wege gehen! Der »Wiesbadener Entwurf« zur Familienpolitik, 2003,
S. 79ff. - Zumindest müßte die Kindererziehung so erheblich aufgewertet
werden, daß Mütter, die mehr als zwei Kinder erziehen, unter Anrechnung
vorfamilialer Berufstätigkeit eine eigenständige durchschnittliche Rente
erreichen können.). (Ebd., S. 227-228).Es kommt
vielmehr darauf an, den Generationenvertrag zwischen der Erwachsenen- und der
Altengeneration so zu modifizieren, daß die volkswirtschaftliche Leistung
der Kindererziehung äquivalent zu einer höheren Sparrate der Kinderlosen
gilt. Unter dieser Voraussetzung könnte auf den von Wilfried Schreiber
vorgesehenen »zweiten Generationenvertrag« grundsätzlich verzichtet
werden. Damit wäre das Problem der »Transferausbeutung«, d.h.
der Familienleistungsausgleich, prinzipiell gelöst. Das macht allerdings
den Familienlastenausgleich nicht entbehrlich, wie Sinn meint. (Vgl. Abschnitt
6.6).
(Ebd., S. 228).Die hier vorgestellte Perspektive wirft auf
jeden Fall ein neues Licht auf die alte Kontroverse bezüglich einer Finanzierung
der Alterssicherung (Rentenversicherung und Pflegeversicherung) durch das Umlageverfahren
oder durch das Kapitaldeckungsverfahren. Seine politische Legitimation bezog die
explizite Einführung des Umlageverfahrens mit der Rentenreform von 1957 bereits
durch das Hinschwinden aller Kapitalrückstellungen seien sie öffentlicher
oder privater Natur - in den beiden Währungsreformen von 1922 und 1948. Politisch
gab es damals gar keine Alternative, wollte man die vom Krieg ohnehin gebeutelten
Alten am Wirtschaftsaufschwung teilhaben lassen. Die volkswirtschaftliche Legitimation
des Umlageverfahrens resultierte aus der sogenannten Mackenrothschen Regel,
der zufolge »aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden
Periode gedecktwerden muß« (Gerhard Mackenroth, Die Reform der
Sozialpolitik durch eine deutschen Sozialplan, 1952, S. 41). Heute müßte
diese Regel wie folgt modifiziert werden: Aller zukünftige Sozialaufwand
muß aus den Erträgen des Human- und Sachvermögens der betreffenden
Periode gedeckt werden. Nur was vorher investiert worden ist, wirft zu gegebener
Zeit Erträge ab. (Ebd., S. 228).Aber das Umlageverfahren
ist nicht ohne Tücken. Denn wenn sich das Verhältnis zwischen Beitragszahlern
und Leistungsempfängern nachhaltig ändert - und ebendies ist aufgrund
des demographischen Wandels in den kommenden Jahrzehnten zu erwarten -, so gerät
das System der sozialen Sicherung zwangsläufig aus dem Gleichgewicht. - Es
bleibt zu berücksichtigen, daß in Deutschland nicht die gesamte Bevölkerung
in einem einheitlichen System gesichert ist. Das verschleiert zwar manche Probleme,
mildert sie aber nicht. Für die Versorgung der Beamten haben die meisten
Gebietskörperschaften keine Vorsorge getroffen. Am ehesten dürften die
Sicherungssysteme der freien Berufe von einer jüngeren Altersstruktur profitieren
und auch eine gewisse Anziehungskraft ausüben. Das geht dann zu Lasten der
Beitragszahler in den Gesetzlichen Sozialversicherungen. Ein »Risikostrukturausgleich«
in der Altersversorgung wäre aber wohl nur bei einer grundlegenden Reform
der Alterssicherung praktikabel, wie sie heute unter dem Schlagwort »Bürgerversicherung«
angedacht wird. Die Diskussion dieser Fragen liegt jenseits unserer Fragestellung.
- Die aufgrund früherer Zahlungen akkumulieren Leistungsansprüche der
geburtenstarken Jahrgänge (»Babyboomer«) wirken wie eine zusätzliche
Staatsverschuldung, deren Honorierung den jüngeren Generationen auferlegt
wird. Ökonomen fordern daher für die »Babyboomer« eine stärkere
Eigenvorsorge in Form kapitalwirksamer Ersparnis und weisen darauf hin, daß
diese Ersparnisse auch im Ausland angelegt werden könnten, wo die Renditen
voraussichtlich höher und die Wirkungen des »Entsparens« zum
Zeitpunkt wachsender Rentnerpopulationen weniger kraß zu Buche schlagen
als in einer geschlossenen Volkswirtschaft. In der Tat beruht die »Mackenrothsche
Regel« ja auf der Keynesianischen Vorstellung einer Volkswirtschaft mit
grundsätzlich geschlossenem Kreislauf. Vor allem von privaten Kapitalsammelstellen
(Lebensversicherungen, Pensionsfonds u.ä.) wird erwartet, daß sie in
der Lage seien, die Ersparnisse der Bürger auch dann noch in renditeträchtiger
Form zu verwalten, wenn die reale Rendite der Sozialversicherungsbeiträge
infolge des Kippens der Generationsbalance verschwinden oder gar negativ werden
sollte. Auch wenn diese Hoffnungen berechtigt sein sollten (daß man in dieser
Hinsicht keinen allzu großen Optimismus hegen sollte, zeigen die radikalen
Kürzungen der erwirtschafteten Überschußbeteiligung in der privaten
Lebensversicherung und die erfolgreichen Bemühungen der Lebensversicherungsgesellschaft
in Deutschland, selbst die gesetzlich vorgeschriebene Garantieverzinsung weiter
zu senken - auch die Privatassekuranz ist von der zunehmenden Langlebigkeit sowie
sinkeneden Realzinsen betroffen), würden sie allerdings nicht dazu beitragen,
das Problem der» Transferausbeutung von Familien« zu beseitigen. Denn
die Sparpotentiale sind um so größer, je geringer die mit der Kinderzahl
zwangsläufig steigenden Konsumbedürfnisse werden. Deshalb sollte das
Prinzip der Kapitaldeckung nur für den Teil der obligatorischen Altersvorsorge
der Kinderlosen eingeführt werden, der den durch Erziehungs- und Pflegeleistungen
erworbenen Zusatzleistungen der Eltern in der Gesetzlichen Rentenversicherung
entspricht. (Ebd., S. 228-230).Was die gegenwärtig
diskutierte Umstellung der Pflegeversicherung auf Kapitalfinanzierung betrifft,
so ist nicht zu bestreiten, daß infolge der Verlängerung der Lebenserwartung
die Altenpopulation anschwillt, was - mit einer gewissen Verzögerung dank
einer längeren Lebensphase bei guter Gesundheit - schließlich zu einer
überproportionalen Nachfrage nach Pflegeleistungen führen wird. Gegen
dieses Risiko könnte heute noch in praktikabler Weise durch Kapitalbildung
vorgesorgt werden. Allerdings wäre hier zu berücksichtigen, daß
Eltern nicht nur reale Vorleistungen in der Form von Kindererziehung erbracht
haben, sondern daß darüber hinaus ihr Risiko, in die besonders kostenträchtige
Heimpflege zu kommen, durch die Pflegepotentiale in der Familie reduziert wird.
Würden hier gleiche Beitragssätze kalkuliert, so würden die hochindividualisierten
posttraditionalen Lebensformen erneut von den Leistungen der Familien profitieren,
denn deren Heimeinweisung dürfte infolge ihrer häufigeren Vereinsamung
und angesichts knapper Plätze stets dringlicher erscheinen als diejenige
von bereits in Familienpflege befindlichen Personen. Wie in einem sozialversicherungsrechtlichen
Verhältnis eine degressive Beitragsgestaltung gerechtfertigt wäre, so
müßten im Falle einer privatrechtlichen Versicherungslösung entsprechend
getrennte Tarife für Eltern und für Kinderlose vorgeschrieben werden.
(Ebd., S. 230).Im Anschluß an eine vergleichende
Untersuchung unterschiedlicher Entlastungsformen von Familien im Rahmen der gesetzlichen
Pflegeversicherung haben Winfried Schmähl und Heinz Rothgang (Familie
und Pflegeversicherung: Verfassungsrechtlicher Handlungsbedarf, Handlungsmöglichkeiten
und ein Gestaltungsvorschlag, 2004) jüngst ein umfassendes Konzept des
Familienlasten- und Familienleistungsausgleichs vorgelegt. Sie machen zu Recht
darauf aufmerksam, daß die bisherige Politik der Entlastung von Familien
stückwerkartig und intransparent ist und daß insbesondere steuerlich
finanzierte Leistungen in erheblichem Maße von den Familien mitfinanziert
werden. Demzufolge schlagen sie vor, die vom Bundesverfassungsgericht geforderte
Entlastung der Familien in der Pflegeversicherung nicht durch eine erneute punktuelle
Maßnahme, sondern im Zuge einer umfassenden Reorganisation der Transferströme
zugunsten von Familien vorzunehmen. Schmähl und Rothgang schlagen vor, den
ohnehin steuerfinanzierten Familienlastenausgleich durch ebenfalls steuerfinanzierte
Zuschüsse zu den Beitragszahlungen an Renten- und Pflegeversicherung von
Personen mit Erziehungsverantwortung zu ergänzen. Das eigentlich Neue an
ihrem Vorschlag bezieht sich jedoch auf die Finanzierungsseite: Um die bisherige
intransparente Beteiligung auch einkommensschwacher Eltern an der Finanzierung
der Familienleistungen zu beseitigen, sollte die Finanzierung des Familienlasten-
und Familienleistungsausgleich als Zuschlag zur Einkommensteuer ausgestaltet werden
(»Kinder-Soli«). Dieser Vorschlag verspricht in der Tat eine sehr
effektive und das gesamte Transfersystem erheblich vereinfachende Lösung,
die dem ursprünglichen Gedanken Wilfried Schreibers, die Transferströme
zugunsten der nachwachsenden Generation in einer »Kinderkasse« zu
bündeln, nahe kommt. (Vgl. Wilfried Schreiber, Existenzsicherung in der
industriellen Gesellschaft, 1955, S. 32ff.). (Ebd., S. 230-231).Immer
bleibt es eine politische Entscheidung, in welchem Ausmaße die Bevölkerung
zur kollektiven Altersvorsorge angehalten werden soll, und nur in diesem Zusammenhang
kann realistischerweise von einem Familienleistungsausgleich die Rede sein. In
diesem Rahmen allerdings erscheint mir die Anerkennung der Haushaltsproduktion
neben der marktwirtschaftlichen Produktion und damit die Anerkennung der Humanvermögensbildung
als Investition neben der Sachvermögensbildung eine wissenschaftliche und
politische Voraussetzung, um Deutschland eine humanere und ökonomisch nachhaltigere
Zukunftsperspektive zu geben. Um dies zu begreifen, muß man sich allerdings
vom Schleier einer bloß monetären Betrachtungsweise lösen und
die realen Zusammenhänge der Wohlfahrtsproduktion in den Blick nehmen.
(Ebd., S. 231).
8) Statt eines Schlußworts: Anmerkungen zu zwei Bestsellern (S. 232-243)
8.1) Albrecht Müller: Die Reformlüge
Albrecht
Müller hat sich bereits während seiner Tätigkeit im Bundeskanzleramt
unter Helmut Schmidt bemüht, das ihn irritierende Thema der Bevölkerungsentwicklung
»unter der Decke zu halten«. (Ebd., S. 233).Es
kommt nämlich wirtschafts- und sozialpolitisch nicht auf die Bevölkerungsgröße
und noch weniger auf die Bevölkerungsdichte an, sondern auf Struktur und
Wachstumstendenz der Bevölkerung. Im Jahre 1950 waren 31% der Bevölkerung
unter 20 Jahre alt, im Jahre 2050 werden es nach der von Müller zitierten
Modellrechnung des Statistischen Bundesamtes noch 16% sein. (Vgl. Tabelle).
Dementsprechend lag die Fertilität damals leicht über dem Reproduktionsniveau;
bei der Modellrechnung reproduziert sich die Bevölkerung dagegen nur noch
zu zwei Dritteln. (Ebd., S. 234).Weil sich demographische
Veränderungen sehr langsam vollziehen, sind sie vergleichsweise gut vorauszuberechnen;
ihre »Volatilität« ist wesentlich geringer als bei ökonomischen
Indikatoren; deshalb sind so langfristige Extrapolationen sinnvoll. Aber das schließt
eine Trendwende und damit die prognostische Irrigkeit der Extrapolation natürlich
nicht aus. Allerdings haben unsere Überlegungen keine Faktoren erkennen lassen,
die ohne nachhaltige politische Anstrengungen zu einer Trendumkehr führen
könnten. Nur ein weitreichender kultureller Wandel hinsichtlich des Wertes
von Kindern und Familie ließe - in Verbindung mit einer stärkeren politischen
und wirtschaftlichen Anerkennung von Familientätigkeiten - eine Trendwende
wahrscheinlich werden. Solange Kinderlosigkeit ökonomisch und sozial so attraktiv
bleibt wie bisher, erscheint es dagegen wahrscheinlicher, daß sich Kinderlosigkeit
in wachsenden Milieus weiter verfestigt. Es könnte demographisch also auch
durchaus »schlimmer kommen«, als die vom Statistischen Bundesamt vorgestellte
mittlere Variante, mit der sich Müller auseinandersetzt. (Ebd., S.
235).Nicht die Zunahme des Anteils der alten Menschen ist das Problem;
sie ist angesichts der zunehmenden Langlebigkeit bie besserer Gesundheit weder
zu bedauern noch zu vermeiden. Das Problem besteht im zu geringen Nachwuchs, der
unter den gegebenen Bedingungen nicht nur mit Bezug auf die »Babyboomer«,
sondern dauerhaft mit dem Unterhalt der alten Generation überfordert ist.
Eine Bevölkerung, in der etwa gleich viele Unter-20-Jährige wie Über-80-Jährige
gibt, kann nicht nachhaltig sein. (Ebd., S. 236).Von einer
kontinuierlichen Zuwanderung, die ... Müller empfiehlt, sollte man sich nicht
zuviel versprechen. Sie vermag zwar vorübergehend die Bevölkerungsbilanz
zu verbessern (vorübergehdend, denn auch die Zuwanderer kommen ins Rentenalter
!), aber ob sie wirtschaftlich und sozial auf Dauer von Vorteil ist, bleibt nach
bisherigen Erfahrungen angesichts der hohen Rückwanderungsquote zweifelhaft.
(Die Zuwanderung bringt nur Nachteile! HB).
Nur eine konsequente Integrationspolitik könnte hier hilfreich sein. (Aber
auf diesem Gebiet versagen gerade unserer Politiker total! HB). Da
die demographische Entwicklung in ganz Europa und insbesondere in Osteuropa mehr
oder weniger prekär ist, wird man zunehmend auf außereuropäische
Zuwanderer angewiesen sein, deren Integration bedeutend schwieriger ist. (Das
endgültige Aus für unser Gemeinwesen? HB). (Ebd.,
S. 236).Daß die »demographische Keule« derzeit
von Politikern und Publizisten oft auch geschwungen wird, um Verteilungsstrukturen
aus ganz anderen Gründen zu ändern, kann man Müller durchaus abnehmen.
(Ebd., S. 236).Auch die ökonomische Theorie der Alterssicherung
bestätigt die Eignung des Kapitaldeckungsverfahrens, um intergenerationelle
Lastverschiebungen zu bewerkstelligen, konkret also: diejenigen Generationen,
welche durch ihre Zurückhaltung beim Aufziehen don Kindern gespart haben,
zu einer stärkeren Vorsorge für ihr eigenes Alter zu veranlassen und
damit die zukünftigen, zahlenmäßig schwächeren Generationen
zu entlasten. (Ebd., S. 237).Im übrigen geht die Periode,
in der der Aufbau eines derartigen Kapitalstocks aus demographischen Gründen
relativ leicht gewesen wäre, bereits zu Ende. In diesem Zeitraum scheint
es aus demographischen Gründen relativ leicht, neben den für den Unterhalt
der alten Generation erforderlichen Beitragsleistungen zusätzliche Ersparnisse
zu bilden und einen Kapitalstock aufzubauen, der dann nach 2030 zur Entlastung
der Umlagefinanzierung herangezogen werden könnte. Würde das Geld diversifiziert
im Ausland angelegt, so wäre die Auflösung des Kapitalstocks auch ohne
gravierende binnenwirtschaftliche Nebenwirkungen grundsätzlich möglich.
Auch die ökonomische Theorie der Alterssicherung bestätigt die Eignung
des Kapitaldeckungsverfahrens, um intergenerationelle Lastverschiebungen zu bewerkstelligen,
konkret also: diejenigen Generationen, welche durch ihre Zurückhaltung beim
Aufziehen von Kindern gespart haben, zu einer stärkeren Vorsorge für
ihr eigenes Alter zu veranlassen und damit die zukünftigen, zahlenmäßig
schwächeren Generationen zu entlasten. (Vgl. Friedrich Breyer, Kapitaldeckung
versus Umlageverfahren, 2000). (Ebd., S. 237).Hier setzt
der Vorschlag ein, die Kürzungen in der GRV (Gesetzliche
Rentenversicherung; HB) schwerpunktmäßig denjenigen zuzumuten,
die keine Kinder aufziehen und deshalb unter gleichen Einkommensbedingungen auch
größere Sparpotentiale haben. »Eine Rentenversicherung nach dem
bisher praktizierten Umlageverfahren ist eine Zwangsmaßnahme, die sicherstellen
soll, daß Kinder ihre Eltern im Alter finanzieren, und sie ist zugleich
eine Versicherung gegen Kinderlosigkeit, weil sie diejenigen, die selbst keine
Kinder haben können, in die Lage versetzt, sich von den Kindern anderer Leute
ernähren zu lassen.« (Hans-Werner Sinn, Das demographische Defizit,
in: Demographie und Wohlstand, Hrsg.: Christian Leipert, 2003, S. 473).
Das muß sich ändern. Einfach gesagt: Wer keine Kinder großzieht,
kann nicht erwarten, von ihnen im Alter unterstützt zu werden, und muß
daher selbst vorsorgen. Dieser Grundsatz ist uns selbstverständlich unter
staatsfreien Bedingungen der Lebensführung, er sollte aber auch in die Prinzipien
staatlich organisierter kollektiver Altersvorsorge Eingang finden, unbeschadet
des Anspruchs auf ein sozialstatlich verbürgtes Existenzminimum, das allen
Bürgern zusteht. (Vgl. Abschnitte 6.7
und 7.6).
(Ebd., S. 238).Wer ... die Erziehung von Kindern als Grundlage
einer zukünftigen Leistungsfähigkeit des Umlagesystems als zusätzliche
oder ersatzweise Rentenansprüche begründet anerkennen will, kommt nicht
umhin, denjenigen mehr abzuverlangen, die diese Leistung nicht erbringen - sei
es durch höhere Beiträge oder durch zwangsweise kapitalbildende Altersvorsorge.
Diese ... Methode scheint mir schlüssiger und auch weniger in private Rechte
eingreifend .... (Ebd., S. 239).
8.2) Frank Schirmmacher: Das Methulasem-Komplott
Frank
Schirrmachers irritierender Dauer-Bestseller (ebd., 2004) bringt interessante
Befunde, Einsichten und Meinungen, und er enthält eine deutliche Botschaft:
Aber zwischen beiden vermitteln keine guten Gründe. (Ebd., S. 239).Die
Botschaft ist die Forderung nach einem Komplott: »Es geht um eine Verschwörung
gegen die besondere Form des selbsthasses, die in der Diffamierung des Alters
liegt.« (S. 63). Schirmmacher ist der Prophet dieser Verschwörung.
»Unsere Mission ist es, alt zu werden. Wir haben keine andere. Es ist die
Aufgabe unseres Lebens.« (S. 155). Dies wird gefordert vor dem Hintergrund
der ... Verlängerung des Lebens, welche in den letzten Jahrzehnten (scheinbar;
HB) eine neue Qualität gewonnen hat. .... Das biologisch, sozial
und kulturell neue Phänomen ist die massenhafte Verbreitung einer Lebensspanne
des »jungen Alters« zwischen dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben
und der prämortalen Phase zunehmender Hinfälligkeit, als die gemeinhin
das Alter thematisiert worden ist. Es ist vor allem diese Lebensphase des unmerklichen
Alterns bei weitgehender Gesundheit, welche sich in absehbarer Zeit weiter verlängern
wird. Hierfür fehlt es in Deutschland und anderswo an kulturellen Leitbildern
und spezifischen Aufgaben. (Ebd., S. 239-240).Schirrmacher
... diagnostiziert einen »Krieg der Generationen« (S. 54 und ff.)
und »rassistische Altersstereotypen« (S. 91), die treffend als »Entwürdigung
des Menschen durch Dämonisierung seines Alters« (S. 93) charakterisiert
werden. Ausführlich belegt er unterschiedliche Formen der Diskriminierung
aufgrund von Lebensalter oder zugeschriebener altersspezifischer Fehlleistungen;
hierin besteht ein Großteil der informativen Substanz des Buches. Alte Menschen,
oder genauer: die heute an der Schwelle des Alterns stehenden Generationen, sollten
es sich zur Aufgabe machen, gegen diese Diskriminierungen anzugehen: gegen ein
»Zwangssystem von Jugend, Schönheit und Sexualität« in Werbung
und Massenmedien (S. 77); gegen das »schmutzige Wort« des »Disengagements«,
des »altersgemäßen Rückzugs aus der Gesellschaft«
(S. 97 und ff.); und schließlich gegen alle moralischen Zumutungen, die
Spanne des eigenen Lebens selbst zu begrenzen (S. 155). (Ebd., S. 240).Schirrmacher,
Jahrgang 1959, gehört selbst zur Generation der »Babyboomer«
.... (Ebd., S. 240).Schirrmacher war acht Jahre alt, als
Benno Ohnesorg in Berlin von der Polizei erschossen wurde. Er gehört nicht
mehr zur Generation der Achtundsechziger .... Die deutschen Babyboomer wurden
wurden von den Achtundsechzigern geprägt (wirklich
? HB) und sind die erste Generation, für die die Trennung
von Sexualität und Fortpflanzung bereits selbstverständlich war. Permanente
Kinderlosigkeit - nicht als beklagenswertes Schicksal, sondern als freiwillige
Option - hat durch sie den Charakter eines sozialen Leitbildes erhalten: Von den
nach 1965 geborenen Frauen dürfte jede dritte lebenslang kinderlos bleiben.
Dies wird von Schirrmacher nicht erwähnt, aber es gehört zu seinen eigenen
Selbstverständlichkeiten: Herwig Birgs »Fortpflanzungsethik«
(vgl. Herwig Birg, Unterwegs zu einer philosophischen Demographie, 1990)
wird von ihm unter Zitierung Gottfried Benns als »zur Weltanschauung erhobene
Kinderzeugung unter Staatsdruck ... apostrophiert« (was
sie natürlich nicht ist; HB). (Ebd., S. 241).Das
zentrale Problem ist vielmehr der Mangel an Nachwuchs, weshalb die »Versorgungslasten«
der Rentner und Pensionäre auf zu wenig Schultern verteilt werden müssen.
Wenn eine Bevölkerung sich dauerhaft nur noch zu zwei Dritteln reproduziert,
so hilft keine Zuwanderung, um ein Gleichgewicht zwischen Beiträgen und Leistungen
auf dem bisherigen Niveau zu ermöglichen. Die Befürchtung der Babyboomer,
daß sie im Alter zu viele sein werden, ist berechtigt. Aber nur, weil sie
zu wenig Nachkommen aufgezogen haben. (Ebd., S. 241-242).Wann
immer Gebrechlichkeit und Hilfebedürftigkeit überhand nehmen, beginnt
eine neue Lebensphase, auf die unsere traditionellen Altersbilder ausgerichtet
sind. Deren Deutung bedarf in postmetaphysischen (stimmt
das? HB) Zeiten einer Kultur des Sterbens, welche diese letzte
Lebensaufgabe deutlich vom Tode als einem Zustand jenseits unserer möglichen
Erfahrung trennt. Von diesem »vierten Lebensalter« klar zu unterscheiden
ist jene in der Tat von der Natur nicht vorgesehen Lebensphase des »dritten
Lebensalters«. Davon und seiner mangelnden kulturellen und sozialen Anerkennung
handelt zentral das Buch Schirrmachers, und hierzu weiß er in gewohnter
Brillanz viel Bedenkenswertes zu sagen. (Ebd., S. 242).»Wir
müssen das Problem unseres eigenen Alters lösen, um das Problem der
Welt zu lösen«. Dieser Werbeslogan auf dem Cover verrät unfreiwillig
ein Problem: Wer die Welt aus der Perspektive seines eigenen Standortes erlösen
will, verliert sich schnell im Ungefähren. »Wir müssen lange leben
und dabei ein starkes, uneingeschüchtertes Selbstbewußtsein haben.«
Gründe, die über Nietzsches »Willen zur Macht« hinausweisen,
werden hierfür nicht genannt. Das liest sich als Kampfansage, vor allem unter
dem Titel »der Krieg der Kulturen« (S. 49). (Ebd., S. 242).In
der Tat wirken diese geburtenstarken Jahrgänge - in Deutschland durch Zuwanderung
noch verstärkt - als Störfaktor im rahmen demographischer und sozialversicherungspolitischer
Überlegungen. Aber Bevölkerungsprojektionen machen deutlich, daß
beim Andauern der gegenwärtigen niedrigen Fertilität der Seniorenanteil
auch nach 2050 nicht zurückgehen wird. Dann werden die Babyboomer verschwinden,
aber die die Probleme bleiben; nicht nur dasjenige einer gesellschaftlichen Ortsbestimmung
des dritten Lebensalters, sondern auch die noch gewichtigeren Folgen unserer Nachwuchsschwäche.
Der Bevölkerungsrückgang wird bald ... einen Sog auf die noch »jungen«
und weit ärmeren Bevölkerungen anderer Weltteile ausüben. Was dann
zu erwarten steht, läßt sich durchaus mit den Wirkungen der Völkerwanderung
vergleichen. (Ebd., S. 243).
BAYERN ALPHA
Sendetag: 11.04.2006, 20.15 Uhr ff. Prof. Dr. Franz-Xaver
Kaufmann Sozialwissenschaftler im Gespräch mit Dr. Eberhard
Büssem Büssem: Herzlich willkommen bei Alpha-Forum. Als Gast
begrüße ich heute den Sozialwissenschaftler Professor Franz-Xaver Kaufmann.
Eigentlich würdige ich Sie nicht richtig, wenn ich nicht alle Ihre Titel
und Ehrendoktorwürden nenne und auch nicht alle Ihre Publikationen aufzähle,
die Sie in Ihrem langen Berufsleben veröffentlicht haben, ich bitte um Ihr
Einverständnis, die Liste wäre zu lang. Ich will zuerst nur folgendes
fragen: Sie sind in der Schweiz geboren, Sie sind in der Schweiz aufgewachsen
und haben dort auch studiert. Dennoch waren Sie dann 30 Jahre lang an der Universität
in Bielefeld. War das ein Zufall der Berufung oder war das geplant?
Kaufmann:
Von Planung kann man hier nicht sprechen. Als ich mein Studium abgeschlossen hatte,
war ich zunächst einmal in der Praxis tätig. Nach einiger Zeit wollte
ich dann aber in die Wissenschaft. In der Schweiz gab es jedoch für die Soziologie
nur sehr wenige Möglichkeiten. Denn es hatte sich während meines juristischen
und volkswirtschaftlichen Studiums herausgestellt, daß ich mich immer mehr
für soziologische Fragen interessierte. Tja, und dann habe ich eben versucht
in Deutschland Fuß zu fassen und kam an die Sozialforschungsstelle der Universität
Münster, die allerdings in Dortmund beheimatet war. Ich kam damit zu Professor
Schelsky und dort hatte ich dann auch die Chance, mich zu habilitieren. Schelsky
war bekanntlich ja auch der Planer der Universität in Bielefeld: Zunächst
hatte ich damit gar nicht gerechnet, denn ich hatte zeitgleich Rufe in die Schweiz
und nach Österreich, aber plötzlich kam eben auch Bielefeld dazu. Und
so habe ich mich für Bielefeld entschieden und das auch nie bereut.
Büssem:
Bevor Sie eine wissenschaftliche Karriere eingeschlagen haben, haben Sie auch
in der Privatwirtschaft gearbeitet, und zwar im Personalwesen. War das nur so
ein Zwischenstopp oder wären Sie u.U. dort auch länger geblieben?
Kaufmann:
Als ich vor der Berufswahl stand, war für mich der Status des Professors,
waren für mich die Aufgaben eines Professors noch wirklich eine Frage der
Berufung. Ich fragte mich also, ob ich wirklich dazu berufen sei und wollte mich
selbst testen. Ich bin deshalb in die Privatwirtschaft gegangen, allerdings immer
schon mit dem Hintergedanken, von dort auch wieder wegzugehen. Ich muß jedoch
gestehen, daß ich diese drei Jahre in keinem Fall missen möchte. Ich
bedauere es daher auch, daß es in Deutschland so schwierig ist für
junge Wissenschaftler, aus der Universität in eine außeruniversitäre
Tätigkeit zu wechseln und dann wieder in die Universität zurückzukehren.
Gerade für Sozialwissenschaftler halte ich das nämlich für eigentlich
unerläßlich.
Büssem: Diese Zeit in einer Personalabteilung
hat Sie also bereichert?
Kaufmann: Ja, ganz enorm, vor allem deshalb,
weil ich da von innen sehen konnte, wie eine Großorganisation eigentlich
funktioniert. Das war ein internationaler Chemiekonzern, die Ciba in Basel, heute
Novartis. Da konnte man enorm viel quasi beiläufig mitbekommen: gar nicht
so sehr durch das eigene Tun, sondern ganz einfach durch die vielen Kontakte.
Eine meiner Aufgaben bestand darin, Kurse zu organisieren für das mittlere
Management. So kam es, daß ich eigentlich fast alle Leute wie z. B. Prokuristen
u.s.w. dieser Firma, die in Basel angestellt waren, persönlich kennen gelernt
habe. Sie haben mich dann auch mal in ihre Abteilungen hineinblicken lassen. Auf
diese Weise habe ich wirklich Erfahrungen gemacht, die man jedem Sozialwissenschaftler
nur wünschen kann.
Büssem: Sie sind dann als Professor
in Bielefeld gelandet und haben dort 29 Jahre ausgehalten. In all diesen Jahren
haben Sie viele Rufe an andere Universitäten abgelehnt, obwohl diese Rufe
z. T. sogar sehr attraktiv waren. Was war und ist in Bielefeld so interessant,
daß Sie als Wissenschaftler unbedingt dort bleiben wollten?
Kaufmann:
Das hatte natürlich unterschiedliche, z. T. auch private Gründe. Vor
allem lag das aber an dem Umstand, daß in Bielefeld die einzige Fakultät
für Soziologie in der Bundesrepublik entstanden ist und damit auch
eines der spannendsten Zentren für Soziologie in Europa. Das hatte natürlich
auch damit zu tun, daß wir bedeutende Leute wie Norbert Elias oder Niklas
Luhmann bei uns hatten. Darüber hinaus hatte das aber auch mit der Breite
und der Arbeitsteiligkeit des wissenschaftlichen Lehrens und Forschens zu tun,
das dort möglich gewesen ist. Das ermöglichte uns in der Soziologie
die Soziologie war damals, als ich anfing, ja noch eine im Aufbau begriffene
Wissenschaft eine Spezialisierung, die anderswo nicht möglich gewesen
wäre.
Büssem: Sie haben sich neben Ihrer wissenschaftlichen
Tätigkeit ja auch schon sehr früh um sozialpolitische Fragen gekümmert.
Man könnte Sie daher auch als eine Art Missionar bezeichnen, denn Professor
heißt ja eigentlich auch Bekenner. Sie haben sich schon sehr
früh mit dem Problem beschäftigt, daß unsere Gesellschaft überaltert
ist. In diesem Frühjahr kam nun erneut ein Buch von Ihnen zu diesem Thema
heraus, das den Titel trägt Schrumpfende Gesellschaft. Trifft
es zu, daß Sie da so ein Gefühl von Mission entwickelt haben?
Kaufmann:
Eigentlich war es umgekehrt. Nachdem ich meine Dissertation geschrieben hatte,
die nun in der Tat zufällig auf das Thema der Überalterung abgehoben
hatte, und ich mich aus diesem Grund damals sehr intensiv mit bevölkerungswissenschaftlichen
Fragen beschäftigt habe, wollte ich 40 Jahre lang von diesem Thema eigentlich
nicht mehr viel wissen. Ich war also eigentlich immer eher auf der Flucht vor
diesem Thema zumal in Deutschland die Bevölkerungswissenschaft ja
fast nicht existent gewesen ist und so auch die wechselseitige Anregung nur sehr
bescheiden war. Ich habe mich also immer eher für neue Themen interessiert.
Als dann aber in den letzten Jahren diese demographischen Fragen so langsam an
die Oberfläche gekommen sind, dies meiner Ansicht nach jedoch zu einseitig
bezogen auf das Thema alte Menschen, habe ich mich veranlasst gesehen,
diesen anderen Aspekt, nämlich den Aspekt des Bevölkerungsrückgangs,
den ich für den eigentlich problematischen Aspekt halte, in den Vordergrund
zu stellen.
Büssem: Es steht also bei Ihnen nicht das Problem
der Überalterung der Gesellschaft im Mittelpunkt, sondern eher das Problem,
daß es zu wenig junge Menschen gibt.
Kaufmann: Genau.
Büssem:
Was bedeutet das nun aber genau? Denn eigentlich könnte man ja auch argumentieren,
daß das doch auch sein Gutes hätte: Wenn die Bevölkerung abnimmt,
dann könnte das doch durchaus ökologische und andere Vorteile haben.
Kaufmann: Das denkt man so. Inzwischen gibt es, was die Ökologie
betrifft, ziemlich genaue Untersuchungen, die zeigen, daß sich aufgrund
der Tatsache, daß die Bevölkerung zurückgeht, keineswegs
automatisch die ökologischen Probleme entschärfen. Zumal ein
Bevölkerungsrückgang ja in der Regel vor allem eine Ausdünnung
des flachen Landes bedeutet. In Deutschland betrifft das vor allem die
neuen Bundesländer. Die Städte, in denen es hauptsächlich
die ökologischen Probleme gibt, wachsen jedoch nach wie vor. Sie
werden erst ganz zuletzt schrumpfen. So gesehen ist also das ökologische
Argument kein starkes Argument. Warum es so schwierig ist, dieses Problem
der Bevölkerung klar zu machen, liegt daran, daß jeder diese
Dinge aus seiner eigenen Perspektive sieht. Demgegenüber ist aber
die Demographie eine ganz abstrakte Wissenschaft: Die Bevölkerung,
was ist das eigentlich? Eigentlich ist das ja nur ein statistisches Konstrukt.
Und deshalb ist es auch nur wenig sinnvoll, wenn manche Kulturschaffende
auf die Idee kommen, statt im Namen des deutschen Volkes im
Namen der deutschen Bevölkerung an den Bundestag zu schreiben
oder zu appellieren. Denn Bevölkerung ist ein statistischer
Begriff, der sich an den jeweiligen politischen Einheiten orientiert:
an den Gemeinden, an den Ländern, am Bund, an Europa u.s.w.. Man
kann überall Bevölkerungen konstruieren: Sie werden aber eben
nur durch diesen Umstand geschaffen, daß wir voraussetzen, daß
hier auch eine gewisse Solidarität vorhanden ist. Erst dann wird
die Bevölkerung etwas Wirkliches. Das geschieht natürlich in
erster Linie durch politische Zusammenhänge, z. B. durch ein Bundesland,
durch die Bundesrepublik Deutschland oder neuerdings durch die Europäische
Union. Die Frage ist nun: Welche Konsequenzen hat es, wenn sich die Zusammensetzung
der Bevölkerung ändert? Das deutlichste Moment ist natürlich
die Rentenversicherung: Bei diesem Thema hat das inzwischen jeder verstanden.
Wenn wir immer mehr alte Menschen haben, aber nicht genügend junge
Menschen nachwachsen, dann sitzen bildlich gesprochen immer
mehr Alte als Last auf den Schultern der immer weniger werdenden Berufstätigen.
Das ist eines der zentralen Momente bei dieser Frage. Das ist aber keineswegs
der einzige Punkt dabei.
Büssem: Wie kann man es nun schaffen,
daß in Deutschland die Kinderfreundlichkeit wieder steigt, daß die
Bevölkerung wieder in ausreichendem Maße Kinder bekommt? Zwei Kinder
pro Frau wären doch, wie ich glaube, die für unsere Gesellschaft richtige
Reproduktionsrate. Wie könnte das erreicht werden?
Kaufmann: Vielleicht darf ich vorher doch noch das andere Thema etwas
weiter ausführen: Warum ist ein Bevölkerungsrückgang problematisch?
Das Wirtschaftswachstum hatte im 19. und im 20. Jahrhunderte im wesentlichen
drei Gründe: Vor allem im 19. Jahrhundert war dafür ursächlich
die Entdeckung neuer Gebiete und neuer Rohstoffe, das gibt es z.T. bis
heute noch. Der zweite Grund war der technische Fortschritt und der dritte
Grund das Bevölkerungswachstum. In dem Maße, in dem das Bevölkerungswachstum
wegfällt und die Entdeckung neuer Gebiete eigentlich keine große
Rolle mehr spielt, wird der technische Fortschritt zur einzigen Quelle
des Wachstums. Wir haben nun aber in der Bundesrepublik sogar einen Bevölkerungsrückgang.
Der deutet sich jetzt zwar erst an, aber in Wirklichkeit, wenn man nur
die Geburten und Todesfälle nimmt, schrumpft die deutsche Bevölkerung
bereits seit 1972. Das konnte bis jetzt durch die Zuwanderung in den letzten
Jahrzehnten wenigstens numerisch ausgeglichen werden. Aber das Numerische
ist natürlich nicht alles und deshalb ist auch die Bevölkerungswissenschaft
eigentlich ein zu kurz greifendes Analyseelement. Es kommt ja nicht darauf
an, wie viele Köpfe in der Bundesrepublik leben, sondern es kommt
darauf an, was in diesen Köpfen steckt. Und deshalb muß man
dieses Thema eigentlich unter dem Gesichtspunkt des so genannten Humanvermögens
oder Humankapitals, wie die Ökonomen sagen, angehen. Was ist aber
das Humanvermögen? Das ist die Gesamtheit aller Fähigkeiten,
die die Menschen eines Landes haben bzw. die Menschen einer irgendwie
sich solidarisch fühlenden Einheit. Und das Schöne an diesem
Begriff ist ja: Ich vermag etwas! Ich habe ein Vermögen, auch
als Individuum! Aber man kann dieses Vermögen eben auch auf
alle Menschen gemeinsam beziehen. Es geht also um die Fähigkeiten
der Menschen. Und wenn wir heute fragen, ob der Bevölkerungsrückgang,
ob insbesondere der Geburtenrückgang problematisch ist, dann müssen
wir sagen, daß er besonders deshalb problematisch ist, weil wir
für die Qualifizierung der einmal Geborenen nicht mehr tun, als wir
tun. Man könnte nämlich das Humanvermögen auch dadurch
vergrößern, daß man in den Nachwuchs mehr investiert,
daß man insbesondere in diejenigen investiert, die von Natur aus
oder vom familiären Hintergrund her nicht so gute Entwicklungschancen
haben.
Büssem: Das heißt doch
eigentlich, daß es gar nicht so sehr auf die Zahl der Kinder ankommt, sondern
viel mehr darauf, wie die vorhandenen Kinder ausgebildet und erzogen werden. Finden
Sie denn, daß in der Beziehung in der Bundesrepublik genug geschieht? Die
PISA-Studie hat uns ja, was das betrifft, kein sehr gutes Zeugnis ausgestellt.
Kaufmann: Das trifft zu und es trifft außerdem zu, daß
die Bildungsaufwendungen in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich relativ
bescheiden sind. Es gibt jetzt eine neue Studie, die zeigt, daß die Bildungsaufwendungen
in der Bundesrepublik zu 95 Prozent bloße Reinvestitionen sind und nur etwa
5 Prozent tatsächliche Zusatzinvestitionen in das Humanvermögen der
Menschen. Das ist wirklich bedenklich vor allem dann, wenn man berücksichtigt,
daß es immer weniger Kinder gibt.
Büssem: Wie bedeutet
das: 95 Prozent Reinvestitionen? Geht es da um die Erhaltung der Schulgebäude
u.s.w.?
Kaufmann: Nein, da geht es um die Erhaltung des Gesamtvolumens
des Humankapitals. Wir müssen uns das jetzt wie eine Humankapitalrechnung
vorstellen, das ist genauso wie beim Sachkapital. Wenn ich hier gleich eine Anmerkung
machen darf: Schätzungen zeigen, daß das Humankapital für die
Zukunft der Wirtschaft genauso wichtig ist wie das Sachkapital. Beides ist in
der Bundesrepublik etwa gleich groß. Aber vom Humankapital spricht eben
keiner. Wenn dieses Humankapital schrumpft, und es schrumpft insofern, als zunehmend
weniger Kinder geboren werden, als das für die Ersetzung der erwerbstätigen
Bevölkerung notwenig wäre, dann ist das wie eine Desinvestition zu behandeln.
Büssem: Was ist denn Ihrer Meinung nach im Bildungssektor nötig?
Mehr Investitionen? Reformen? Ganztagesschulen? Mehr vorschulische Erziehung?
Wo sehen Sie die Hauptfehler?
Kaufmann: Für Deutschland liegen
die größten Mängel wahrscheinlich im Bereich der Früherziehung.
Gerade die neueren Ergebnisse der Hirnforschung weisen ja darauf hin, wie wichtig
die ersten Lebensjahre für die Entwicklung des Menschen sind. Das heißt
natürlich auch, es geht hier nicht nur um die Schule, sondern es geht genauso
um die Familie, es geht also insgesamt um die Zuwendung, die Kinder bekommen.
Bei Kindern, die nicht genügend Zuwendung bekommen, entwickelt sich das Gehirn
nicht so, wie es sein könnte. Das muß man eben auch deutlich sehen.
Dieses ganze Problem besteht also darin, wie wir unserem Nachwuchs lebenswerte
Bedingungen schaffen, in denen er so heranwachsen kann, daß er später
einmal als erwachsener Mensch ein brauchbarer Bürger, ein Vater oder eine
Mutter und eine brauchbare Arbeitskraft wird. Denn es sind ja diese drei Dinge,
die man hier sehen muß: Man sollte also nicht immer nur an die Arbeitskräfte
denken. Und deshalb sprechen wir im fünften Familienbericht auch von Humanvermögen
und nicht von Humankapital. Beispielsweise das Vermögen, Kinder zu erziehen,
Menschen trösten zu können, Menschen Zuwendung schenken zu können
u.s.w. gehört genauso zu den Fähigkeiten mit dazu, die für eine
Gesellschaft wichtig sind. Das ist genauso wichtig wie die Fähigkeit, sich
am politischen Leben zu beteiligen.
Büssem: Sie haben es bereits
angedeutet: Es käme also darauf an, daß in der Schule das Defizit ausgeglichen
wird, das in vielen Familien existiert, weil sich die Eltern nicht richtig um
ihre Kinder kümmern. Aber ist es überhaupt möglich, daß da
in der Schule etwas aufgeholt und ausgeglichen wird?
Kaufmann: Es
wäre ganz sicher möglich, natürlich ist es leichter, wenn die Voraussetzungen
vom Elternhaus her bereits vorhanden sind. Dafür müßten die Schulen
allerdings ganz anders konstruiert werden. Zum Beispiel in den Niederlanden und
auch in einigen anderen Ländern ist es nahezu selbstverständlich, daß
jede Schule einen Psychologen und einen Sozialarbeiter hat. Die gehören sozusagen
zum Steuerungsgremium in einer Schule mit dazu, denn sie arbeiten mit den Lehrern
zusammen: Sie sind an allen Konferenzen beteiligt und können also all diese
nicht unmittelbar fachlichen Aspekte mit in das Gesamte hineinbringen. Sie können
u. U. auch einmal Familien besuchen, mit den Eltern sprechen u.s.w., wenn es irgendwo
entsprechende Schwierigkeiten geben sollte. In Deutschland hat man jedoch den
Eindruck, daß sowohl von der akademischen Ausbildung wie auch vom Selbstverständnis
her es gibt natürlich lobenswerte Ausnahmen die Lehrer sich
doch im wesentlichen als Fachlehrer verstehen und nicht als Erzieher. Und genau
dieses Moment, daß die Schule ein Lebensraum sein sollte - in den skandinavischen
Ländern wird das z. B. sehr stark so gesehen -, ist in Deutschland überhaupt
nicht selbstverständlich.
Büssem: Wie erklären Sie
es sich eigentlich, daß in der politischen Diskussion in Deutschland über
genau diese inhaltlichen Fragen eigentlich nicht diskutiert wird? Stattdessen
wird nur darüber diskutiert, ob sich nun vor allem der Bund oder vor allem
die Länder um die Bildung kümmern sollen, dürfen, müssen.
Ist hier der deutsche Föderalismus ein unseliger Föderalismus in der
Hinsicht, daß bei uns jeder macht, was er will, und man sich beraten
von Pädagogen und Wissenschaftlern und belehrt durch das Beispiel anderer
Länder nicht darauf einigt, wie man das Schulwesen eigentlich organisieren
müßte? Denn für die Zukunft ist das doch das Wichtigste.
Kaufmann:
Das ist eine ganz zentrale Aufgabe, vor der die Bundesrepublik gerade steht. Ich
kann Ihnen nur Recht geben: Hier hat sich der Föderalismus bisher als Hemmschuh
erwiesen. Denn sehr häufig haben in der Tat Kompetenzstreitigkeiten eine
sehr viel größere Bedeutung als das, was tatsächlich geschieht
bzw. geschehen müßte. Verschärft wird dieses Problem des Föderalismus
noch dadurch, daß die Länder vermutlich diejenige politische Ebene
darstellen, die den Gürtel sozusagen am engsten schnallen muß, die
also die geringsten Reserven hat. Aber gerade dieser Ebene obliegt nun in den
Landeshaushalten der riesige Brocken, der das Bildungswesen ausmacht.
Büssem:
Sie sind ja in vielen politischen Beratungsgremien gewesen: in Nordrhein-Westfalen
und auch im Bund. Haben Sie denn den Eindruck, daß die Politik Ihre Kritik
und Anregungen überhaupt aufnimmt und dieses Problem ernst nimmt?
Kaufmann:
Die Politik gibt es in diesem Sinne natürlich nicht. Stattdessen sind das
immer einzelne Personen und unter denen gibt es durchaus einige, die sensibel
für diese Dinge sind. Ich meine, daß z. B. auch die letzte Familienministerin
durchaus viel Sinn für die Zusammenhänge zwischen Politik und Gesellschaft
hatte, denn dies war bisher noch selten der Fall gewesen. Sie hat z. B. lokale
Bündnisse für die Familie angestoßen, betriebliche Bündnisse
für die Familie u.s.w. Das halte ich in der Tat für sehr innovative
und vielversprechende Formen. Denn der Staat bzw. die Politik kann das nicht alleine
richten. Es hängt nämlich auch sehr viel davon ab, wie sich die Wirtschaft
gegenüber Eltern verhält: ob man beispielsweise bereit ist, es jungen
Menschen über das Mittel der Flexibilisierung der Arbeitszeit, über
das Einräumen von Zeitsouveränität zu ermöglichen, Familienarbeit
und Berufstätigkeit miteinander zu verbinden. Büssem: Wenn
Sie nun sozusagen Ihre Rolle wechseln könnten und Politik betreiben dürften
bzw. müßten, die gerade die schulische Ausbildung verbessert: Können
Sie sich vorstellen, daß man ein Konzept entwickeln kann, das in dieser
Hinsicht wirklich tragfähig ist?
Kaufmann: Ich glaube nicht,
daß man irgendein Konzept machen und das dann einfach so umsetzen könnte.
Nein, man muß Visionen erarbeiten, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln
sollen. Man muß dann ganz langsam und schrittweise versuchen, die realen
Verhältnisse in diese Richtung weiterzuentwickeln. Und wenn ich eine solche
Vision zu formulieren hätte, dann würde ich doch wieder auf das vorhin
bereits erwähnte Stichwort von der Schule als Lebensraum zurückgreifen:
Die Schule sollte ein Lebensraum sein, ein Lebensraum, der allerdings nicht abgeschottet
von den Familien ist, sondern ein offener Lebensraum, der auch in die Gemeinden
hinein offen ist. Ich kann mir z. B. vorstellen, daß in diesem Lebensraum
noch viel stärker als heute auch Laien bestimmte Aufgaben übernehmen
könnten, daß die Schüler in die ortsansässigen Betriebe gehen
könnten u.s.w. All das sind Dinge, die natürlich nicht mein Spezialgebiet
sind, die aber von Pädagogen seit langem vorgeschlagen werden. Man muß
letztlich immer von den Kindern her denken: Was brauchen Kinder? Kinder sind neugierig,
Kinder wollen neue Erfahrungen machen. Und wenn sie diese Erfahrungen nicht machen
können, dann entwickeln sie sich nicht so gut.
Büssem:
Besteht das Dilemma im Augenblick nicht darin, daß man zwar über die
Renten, über die Steuern u.s.w. spricht, daß es jedoch ein wirkliches
Programm für all diese Dinge nicht gibt? Kennedy hatte z. B. damals dieses
Programm mit der Mondlandung, Roosevelt hatte das Programm mit dem Namen New Deal.
Sollte man sich nicht endlich darum bemühen, Einigkeit herzustellen über
ein Ziel, das man erreichen möchte, und dann daran zu arbeiten? Denn solche
Dinge werden in der Politik ja gar nicht wirklich diskutiert.
Kaufmann:
Das stimmt sicherlich. Überhaupt scheint mir in der deutschen Politik eine
gewisse depressive Stimmungslage vorzuherrschen, die einer Reformbereitschaft
natürlich nicht sonderlich förderlich ist.
Büssem:
Wir haben nun darüber gesprochen, daß die Ausbildung, daß das
Humanvermögen der Kinder eine wichtige Rolle spielt. Aber wenn die Zahlen
nicht stimmen, wenn auf numerischem Gebiet große Probleme vorhanden sind,
wenn es also einfach nicht genügend Kinder gibt, dann ist das Humanvermögen
eines Tages auch erschöpft. Wie könnte man die Bereitschaft der Menschen
anregen, mehr Kinder zu bekommen? Durch Geburtsprämien? Haben Sie da bestimmte
Vorstellungen? Gibt es Erfahrungen aus anderen Ländern, in denen das besser
funktioniert?
Kaufmann: Das einzige Land, das es geschafft hat, einen jahrzehntelangen
Geburtenrückgang man kann fast sagen, dieser Geburtenrückgang
ging über ein ganzes Jahrhundert wirklich umzuwenden, war
Frankreich. In Frankreich gab es zunächst einmal soziale Bewegungen,
die sich für die Familie eingesetzt haben. Es gab dabei zwei Strömungen.
Die eine war eine sehr stark nationalistische Strömung, die sagte:
Wir brauchen mehr Kinder, damit wir mehr Soldaten haben, damit Frankreich
seine Macht nicht verliert! Die zweite Strömung speiste sich
vor allem aus christlichem Gedankengut. Diese Strömung bemühte
sich vor allem um gute Familienverhältnisse. Diese beiden Motive,
die sich zunächst einmal recht unabhängig voneinander entwickelt
haben, haben dann in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg
zusammengefunden, um ein politisches Klima zu schaffen, in dem klar wurde,
daß sich der Staat um die Familie kümmern muß. Und 1938
wurde dann der so genannte code de la famille verabschiedet,
ein groß angelegtes Gesetzeswerk, das sowohl zivilrechtliche wie
sozialrechtliche Dinge umfaßte. Dieser Code wurde nicht sofort in
die Wirklichkeit umgesetzt, weil der Zweite Weltkrieg ausbrach. Er entfaltete
dann seine Wirkung erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich glaube schon,
daß gerade dieser Schock des Zweiten Weltkriegs den Franzosen auch
die notwendige Energie gegeben hat, um ihre Mentalität zu ändern.
Und in der Tat gab es dann nach dem Zweiten Weltkrieg einen Geburtenaufschwung
in Frankreich. Dieser wurde dann noch weiter durch familienpolitische
Maßnahmen unterstützt, die damals freilich noch viel stärker
waren als heute, wenn man das in der Relation zum gesamten Sozialbudget
sieht. Dies hatte jedenfalls damals erstaunliche Erfolge. (Das
ist ein schönes Märchen! HB)
Büssem: Was ist denn das Geheimnis dieses Erfolges? Was hat man
in Frankreich genau gemacht, damit sich die Familien wieder für Kinder
entschieden haben? (Haben sie ja nicht! HB)
Kaufmann: Das Entscheidende war der Mentalitätswandel, das Entscheidende
waren nicht die politischen Maßnahmen. Das ist auch genau das Problem.
Ich glaube, wir müssen erst irgendeine Katastrophe erleben, bevor
sich in Deutschland etwas bewegt. (Das ist ein 68er
Märchen! HB)
Büssem:
Nun gibt es ja auch eine erhebliche Zahl von Menschen, die keine Kinder bekommen,
weil sie dann keine Karriere machen können bzw. Arbeit und Erziehung nicht
miteinander verbinden können. Hier könnte man doch Rahmenbedingungen
schaffen, die das besser möglich machen würden, so daß darüber
ein Mentalitätswechsel eingeleitet würde.
Kaufmann: Das
kann man in der Tat tun. Es gibt in Deutschland mehrere Aspekte des gesellschaftlichen
Lebens, die der Entwicklung von Familien eigentlich abträglich sind. Erstens
ist es so, daß es ein zunehmendes Auseinanderdriften von Familien und Kinderlosen
gibt: So etwas gibt es neben der Bundesrepublik eigentlich nur noch in Österreich.
Das gibt es also interessanterweise nur im deutschsprachigen Raum. Der deutschsprachige
Raum ist übrigens auch der einzige Raum Europas, in dem die Halbtagsschule
und die Halbtagsbetreuung dominant sind. Es sieht also fast so aus, als ob man
im deutschsprachigen Raum den Familien mehr Lasten zumutet, als man ihnen
relativ gesehen in anderen Ländern zumutet. Das wäre ein Aspekt
der ganzen Geschichte. Ein zweiter Aspekt bezieht sich auf die Folgen, die das
für die Rentenversicherung hat. Es gibt in Deutschland eine zunehmende Polarisierung
zwischen Kinderlosen und Menschen, die Elternverantwortung übernehmen. Typischerweise
gibt es in Deutschland nur wenige Ein-Kind-Familien: Es gibt viel mehr Zwei-Kinder-Familien
und kinderlose Familien. In Italien und in einigen anderen Ländern ist es
hingegen so, daß sozusagen der Kompromiß, der sich aus den veränderten
Umständen ergibt, auf die Ein-Kind-Familie hinausläuft. Das spricht
dafür, daß es in Deutschland für Frauen besonders schwierig ist,
ihre Karrierevorstellungen mit der Übernahme von Mutterschaft verbinden zu
können.
Büssem: Es gibt ja jetzt die Diskussion, daß
in Zukunft Kinderlose weniger Rente bekommen sollen als Erziehende. Halten Sie
so etwas für richtig oder erfolgversprechend? Oder ist auch das nur ein Herumdoktern
an Symptomen?
Kaufmann: Wenn man das ernst nehmen würde, dann
könnte man damit durchaus bewußtseinsbildend wirken. Wir müssen
uns nämlich klar machen, daß es eigentlich nur zwei Formen gibt, für
die Zukunft vorzusorgen: entweder man zieht Kinder groß oder man investiert
wirtschaftlich. In beiderlei Hinsicht hat Deutschland in den letzten 30 Jahren
weniger getan als die meisten anderen Länder. Man kann z. B. die Schätzung
aufstellen, daß die Geburtenausfälle, die wir zwischen 1972 und 2000
hatten, ein Humanvermögen von ungefähr 2,5 Billionen Euro ausmachen,
die nicht investiert worden sind. Man muß dabei sehen, daß das gesamte
Sachvermögen in der Bundesrepublik irgendwo in der Gegend von 10 Billionen
Euro liegen dürfte.
Büssem: Das ist ein interessanter Vergleich.
Kaufmann: Das sind natürlich massive Investitionslücken,
die hier entstanden sind und mit denen wir in den nächsten Jahrzehnten irgendwie
werden umgehen müssen.
Büssem: Das Dumme ist ja nur, daß
sich das alles immer erst ein paar Jahrzehnte später auswirkt. Wenn ich noch
einmal zusammenfassen darf: Sie glauben also, daß das Fehlen der Ganztagsschule
ebenso wie die steuerliche Behandlung der Familie eine Rolle spielt auf diesem
Gebiet. Würde man das ändern, könnte man eventuell auch die Mentalität
der Menschen in Deutschland ändern. Denn eigentlich ist es ja schon so, daß
die meisten Menschen gerne Kinder hätten. Sie können es aber nicht,
weil die Umstände so sind, wie sie sind.
Kaufmann: Ja, und teilweise
passen sie deswegen auch bereits ihre Erwartungen an. Denn das ist ebenfalls ganz
interessant. Bis vor etwa zehn, womöglich sogar noch bis vor fünf Jahren
gab es bei Meinungsfragen immer folgendes Bild: Wenn man jungen Menschen die Frage
stellte, wie viele Kinder sie eigentlich gerne haben möchten, dann bekam
man in der Bundesrepublik Antworten, die zusammengenommen bei einem Durchschnitt
von 2 bis 2,2 Kindern lagen. Der Wunsch nach Kindern war also so groß, daß
sich unsere Gesellschaft, wenn all diese Kinder tatsächlich auf die Welt
gekommen wären, ziemlich genau reproduzieren würde. Dies wäre dann
in der Tat ein ausreichendes Maß an Geburten gewesen. In verschiedener Hinsicht
wäre es zwar wünschenswert, wenn es sogar ein kleines Wachstum der Bevölkerung
geben würde, aber politisch und gesellschaftlich wäre eine Geburtenrate,
die deckungsgleich mit diesen Wünschen gewesen wäre, sicherlich unproblematisch
gewesen. Nun ist es aber so, daß seit kurzem bei den Umfragen dieser Durchschnittswert
auf ein 1,7 Kinder heruntergegangen ist. Das heißt, jetzt haben sich sogar
schon die Erwartungen angepaßt: Es gibt also zunehmend mehr junge Frauen
und Männer, die offen sagen: In meinem Lebensplan haben Kinder keinen
Platz mehr! Das ist ein neues Phänomen, ein Phänomen, das tatsächlich
die Alarmglocken schrillen lassen sollte.
Büssem: Hinsichtlich
des Wunsches, Kinder in die Welt zu setzen, spielt natürlich auch die allgemeine
wirtschaftliche Lage eine Rolle. Wenn man nur noch auf Zeit angestellt wird, wenn
man immer damit rechnen muß, arbeitslos zu werden, dann hat man wohl nicht
gerade viel Motivation, Kinder in die Welt zu setzen. Früher war das ja nicht
so: Früher kamen die Kinder auch dann auf die Welt, wenn die Zeiten schlecht
waren. Glauben Sie, daß die geringe Geburtenrate bei uns auch mit der allgemeinen
Depression in Deutschland zusammenhängt? Wie erklären Sie das als Soziologe?
Kaufmann: Interessanterweise hängt das eigentlich nicht zusammen.
Denn als es diesen großen Geburtenrückgang zwischen 1965 und 1974 gegeben
hat, boomte die Wirtschaft ja. Seit 1974/75 gibt es eigentlich ziemlich konstant
nur noch so ungefähr 1,4 Kinder im Durchschnitt pro Frau. Das sind also nur
ungefähr zwei Drittel dessen, was wir eigentlich bräuchten. Das ist
ein ziemlich konstanter Wert, der sich recht unabhängig von der wirtschaftlichen
Entwicklung in diesen drei Jahrzehnten gezeigt hat. Auch in jüngster Zeit
kann man nicht sagen, daß die Geburtenrate herunter gegangen wäre.
Das ist doch ein recht überraschendes Phänomen, das so eigentlich nicht
unbedingt zu erwarten wäre.
Büssem: Das Problem besteht
ja darin, wie man in der Politik einen solchen Mentalitätswandel vorantreiben
bzw. verstärken könnte, es ist ja so, daß die älteren Wähler
Programme, die ihnen Nachteile bringen könnten, nicht unbedingt mit Begeisterung
unterstützen werden, und die jungen Wähler sind an dieser Problematik
vielleicht gar nicht interessiert. Politiker wollen aber gewählt werden und
werden deshalb genau dieses Problem nur widerwillig anpacken. Wie kann man denn
aus dieser Zwickmühle herauskommen?
Kaufmann: Es ist richtig,
daß Familien keine Lobby haben, wie man das einmal ausgedrückt hat,
und daß sich auch die Familien selbst nur schwer politisch organisieren
lassen. Es gab ja im Bereich der älteren Mitbürger immerhin schon mal
die Grauen Panther, aber eine vergleichbare starke Familienbewegung hat es in
Deutschland nie gegeben. Irgendwie ist das aber auch ganz gut so. Ich bin deshalb
auch kein begeisterter Verfechter des Familienwahlrechts. Ich hätte zwar
nichts dagegen, insofern alleine schon diese Forderung bewußtseinsbildend
wirken kann. Ich bin aus folgendem Grund aber nicht so sehr dafür. Würde
man das machen, dann würde das bedeuten, daß man sagt: Eigentlich
sind die Familien auch nur eine von vielen Interessengruppen, die es in der Gesellschaft
gibt, genauso wie die Gewerkschaften oder die Arbeitgeber oder meinetwegen auch
die Rentner! Aber das Problem ist doch viel ernster: Es ist einfach so,
daß die Familie einer der wichtigsten Investoren unserer Gesellschaft ist,
und zwar ein Investor, den die normale Ökonomie überhaupt nicht sieht.
Die Tatsache, daß sich unsere Ökonomen überhaupt nicht darum kümmern,
was in den privaten Haushalten geschieht, daß sie meinen, die Marktwirtschaft
sei die ganze Wirtschaft, zeugt von einer Verengung der Perspektive auf Seiten
der Ökonomen, die äußerst gravierend ist. Selbst eine Beratungsagentur
wie Goldman Sachs in den USA, die ja eine der bekanntesten Beratungs- und Rating-Agenturen
ist, schüttelt den Kopf über die deutschen Ökonomen, weil sie überhaupt
nicht zur Kenntnis nehmen, welche Bedeutung die schrumpfende Bevölkerung
in wirtschaftlicher Hinsicht für die Zukunft Deutschlands hat.
Büssem:
Wie sehen Sie denn die Zukunft dieses Problems? Glauben Sie, daß sich da
jetzt aufgrund der großen Koalition und anderer Entwicklungen etwas ändert?
Oder sind Sie doch eher pessimistisch?
Kaufmann: Nun, pessimistisch
wäre vielleicht etwas zu viel gesagt. Es kann sich durchaus etwas ändern.
So weit ich sehe, ist vor allem auch unser neuer Bundespräsident an dieser
Frage interessiert. Er hat erst vor kurzem dazu in Berlin eine Rede gehalten.
In seiner ersten Rede im Bundestag hat er dieses Thema ebenfalls angesprochen.
Ich glaube, daß wir hier wirklich ein wichtiges Sprachrohr haben. Auch das
Bundesverfassungsgericht übt ja in seinen Entscheidungen bereits seit langem
immer wieder Druck auf die Politik aus, damit sie den Menschen, die Elternverantwortung
übernehmen, und den Kindern endlich gerecht wird, daß jedoch gleichzeitig
in den internen Machtzentren der politischen Kreise dieses Thema wenig Resonanz
findet, weil es kaum Stimmen verspricht, ist allerdings auch nicht zu bestreiten.
Büssem: Um die Breite Ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung
aufzuzeigen, würde ich nun ganz gerne auch über das Thema Religion
mit Ihnen sprechen. Sie haben nämlich auch über Religionssoziologie
gearbeitet. Ihr Kollege, der Theologieprofessor Ahrens, hat Sie einmal sogar eine
Koryphäe der Religionssoziologie genannt. Sie kritisieren ja den Reformstau
bzw. den Reformunwillen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. In gewisser
Weise machen Sie das hinsichtlich der Kirche genauso. Auch dort gibt es Ihrer
Ansicht nach so etwas wie einen Reformstau. Worauf bezieht sich das?
Kaufmann:
Ob das Problem der Kirchen nur als ein Problem der Reform oder der Reformen aufzufassen
ist, da bin ich mir nicht so ganz sicher. Tatsache ist, daß die Auseinandersetzung
mit Schicksalsschlägen, mit dem Sinn des Lebens, mit der Frage nach der Berufung
des Menschen in einer eher allgemeinen Weise u.s.w. heute nicht etwa abgestorben
ist oder beendet wäre. Nein, diese Auseinandersetzung läuft heute lediglich
in ganz anderen Formen ab: Diese Fragen werden heute einfach nur anders gestellt,
als sie in den herkömmlichen Selbstverständnissen der Kirchen dargestellt
werden. Wenn die Kirchen heute immer noch sehr stark auf Strukturen setzen, wenn
sie glauben, daß das alles per Strukturreform zu verändern und zu bewältigen
sei, dann paßt das nicht mit den Erwartungen der Menschen zusammen. Es ist
nämlich heutzutage ganz deutlich zu spüren, daß sich die Jüngeren,
wenn sie sich solche Fragen stellen, nicht an eine exklusive Glaubens-Agentur
wenden. Stattdessen sind sie der Meinung, daß alle irgendwie ähnliche
Fragen, ähnliche Probleme haben: egal ob man nun Christ, Buddhist, Moslem
u.s.w. ist. Die Jüngeren sehnen sich geradezu nach einer Art Weltreligion
oder nach einer Art Weltethos. Hans Küng hat hier sicherlich einen wichtigen
Topos aufgebracht, der tatsächlich Resonanz erzeugt. Wir haben ja vorhin
festgestellt, daß in der Politik die herrschenden Strukturen doch relativ
resistent sind gegenüber irgendwelchen Visionen und Leitbildern. Ganz ähnlich
ist das eben auch im Bereich der Religion: Vision und Leitbilder lassen sich nicht
so ohne weiteres auf die Strukturen abbilden.
Büssem: Sie heben
ja darauf ab, daß die Kirche in der Kurie zu bürokratisiert ist, auch
daß die Bischöfe z. B. nicht gewählt werden, sondern vom Papst
bestimmt werden. Wäre es eine Aufgabe für den jetzigen Papst, das zu
ändern obwohl er gerade aus dieser traditionellen Haltung kommt?
Kaufmann:
Sie sprechen damit natürlich nur die katholische Kirche an, der ich selbst
auch angehöre. Insofern habe ich mich auf diesem Gebiet auch sicherlich öfter
zur katholischen Kirche geäußert als zur evangelischen Kirche. Es gibt
ganz bestimmt eine besondere Spannung einerseits zwischen dem hierarchischen Selbstverständnis
der katholischen Kirche und ihrer sehr stark organisatorisch-bürokratischen
Grundvorstellung, die sich ja immer weiter fortsetzt, und andererseits unserer
heutigen, stärker an einem Partizipationsmodell orientierten Haltung. Ich
glaube in der Tat, daß es sehr zweckmäßig und auch im Interesse
der katholischen Kirche wäre, wenn z. B. die Einsetzung von Bischöfen
dezentralisiert und vom Geist der Mitbestimmung getragen würden. Es gab in
den letzten Jahren ja bekanntlich nicht wenige sehr unglückliche Bischofsernennungen,
bei denen ich mir sicher bin, daß man mit ihnen auch innerhalb der Kurie
nicht so arg zufrieden gewesen ist. Früher war es ja so, daß der Bischof
vom Volk per Akklamation angenommen worden ist. Gut, heute müßte man
das vielleicht ein bisschen anders machen. Aber ich denke schon, daß es
sinnvoll wäre, wenn einer nur dann Bischof werden kann, wenn er von seiner
Diözese auch angenommen wird. Ein solches Moment hielte ich durchaus für
eine sinnvolle Reform.
Büssem: Ich würde gerne weiter mit
Ihnen diskutieren, aber wir sind leider am Ende unserer Sendezeit angekommen.
Ich bedanke mich herzlich bei Ihnen, Herr Professor Kaufmann und ich bedanke mich
auch bei Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, für Ihr Interesse. Ich
hoffe, daß Sie uns wieder besuchen bei Alpha-Forum. |