Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen
Theorie.
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Vorwort.
Systeme haben eine Fähigkeit zur Evolution
nur, wenn sie Unentscheidbares entscheiden können. Das gilt auch
für systematische Theorieentwürfe, ja selbst für Logiken,
wie man seit Gödel nachweisen kann. Aber das läuft keineswegs
auf Willkür einiger (oder gar aller) Einzelentscheidungen hinaus.
Dies wird durch Negentropie oder Komplexität verhindert. Es gibt
nämlich noch eine dritte Schwellenmarkierung. Eine soziologische
Theorie, die die Fachverhältnisse konsolidieren will, muß nicht
nur komplexer, sie muß sehr viel komplexer werden im Vergleich zu
dem, was die Klassiker des Fachs und ihre Exegeten ... sich zugemutet
hatten. Das erfordert andere theorietechnische Vorkehrungen, was Haltbarkeit
und Anschlußfähigkeit nach innen und nach außen betrifft,
und erfordert nicht zuletzt den Einbau einer Reflexion auf Komplexität
(also auch eines Begriffs der Komplexität) in die Theorie selbst.
Das Schwellenproblem liegt mithin auch in einem sehr viel höheren,
sich selbst reflektierenden Grade begrifflicher Komplexität. Das
schränkt die Möglichkeiten der Variation sehr ein und schließt
jede Art von arbiträren Entscheidungen aus. Jeder Schritt muß
eingepaßt werden. Und selbst der Willkür des Anfangs wird,
wie im System Hegels, im Fortschreiten der Theorieaufbaus die Willkür
genommen. So entsteht eine selbsttragende Konstruktion. Sie brauchte nicht
»Systemtheorie« zu heißen. Aber wenn man die anderen
Konstruktionsmerkmale konstant halten und den Systembegriff eliminieren
wollte, müßte man etwas erfinden, was seine Funktion wahrnehmen,
seinen Theorieplatz einnehmen könnte; und dieses würde dem Systembegriff
sehr ähneln. (Ebd., S. 10-11.)
Die Darstellung der Theorie praktiziert mithin,
was sie empfiehlt, an sich selbst: Reduktion von Komplexität. Aber
reduzierte Komplexität ist für sie nicht ausgeschlossene Komplexität,
sondern aufgehobene Komplexität. (Ebd., S. 12.)
Abstraktion ist ... eine erkenntnistheoretische Notwendigkeit.
(Ebd., S. 13.)
Zur Einführung. Paradimawechsel in der Systemtheorie.
Von System im allgemeinen kann man sprechen,
wenn man Merkmale vor Augen hat, deren Entfallen den Charakter eines Gegenstandes
als System in Frage stellen würde. Zuweilen wird auch die Einheit
der Gesamtheit solcher Merkmale als System bezeichnet.
1) |
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Systeme ------------------------------------------------------------ |
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2) |
Maschinen |
Organismen |
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soziale Systeme
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psychische Systeme |
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3) |
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Interaktionen |
Organisationen |
Gesellschaften |
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Aus der allgemeinen Systemtheorie wird dann unversehens eine Theorie des
allgemeinen Systems. (Unvershenes - oder auch sehr
bewußt.) .... Die Unterscheidung der drei Ebenen der Systembildung
läßt auf Anhieb typische »Fehler« oder zumindest
Unklarheiten in der bisherigen Diskussion sichtbar werden. Vergleiche
zwischen verschiedenen Arten von Systemen müssen sich an eine Ebene
halten. Dasselbe gilt für negative Abgrenzungen. Schon durch diese
Regel werden zahlreiche unergiebige Theoriestrategien eliminiert. Es ist
zum Beispiel wenig sinnvoll zu sagen, Gesellschaften seien keine Organismen,
oder im Sinne der Schultradition zwischen organischen Körpern (bestehend
aus zusammenhängenden Teilen) und gesellschaftlichen Körpern
(bestehend aus zusammenhängenden Teilen) zu unterscheiden. Ebenso
»schief« liegt der Versuch, auf der Grundlage von Interaktionstheorien
allgemeine Theorien des Sozialen zu konstruieren. Das gleiche gilt für
neuerdings aufkommende, durch die Erfindung der Computer simulierte Tendenz,
den Maschinenbegriff auf der Ebene der allgemeinen Systemtheorie zu verwenden
(was eine ebenso ungerechtfertigte Ablehnung provoziert). Die Unterscheidung
von Ebenen soll fruchtbare Vergleichshinsichten festlegen. Aussagen über
Gleichheiten können dann auf die nächsthöhere Ebene überführt
werden. Zum Beispiel sind soziale und psychische Systeme gleich insofern,
als sie Systeme sind. Es mag aber auch Gleichheiten geben, die nur für
Teilbereiche einer Vergleichsebene gelten. Zum Beispiel lassen sich psychische
und soziale Systeme, nicht aber Maschinen und Organismen, durch Sinngebrauch
charakterisieren. Dann muß man in Richtung auf Problemstellungen
einer allgemeinen Theorie fragen, was in Maschinen und Organismen als
funktionales Äquivalent für Sinn benutzt wird. (Ebd., S. 15-18.)
Ein erster Entwicklungsschub hatte den Begriff der Selbstorganisation
benutzt und um 1960 mit drei großen Symposien einen gewissen Höhepunkt
erreicht. (Ebd., S. 24.)
Stimulierend haben zunächst die Thermodynamik und die Biologie
als Theorie des Organismus, später auch Neurophysiologie, Zellentheorie
und Computertheorie gewirkt; ferner natürlich interdisziplinäre
Zusammenschlüsse wie Informationstheorie und Kybernetik. Die Soziologie
bleib nicht nur als mitwirkende Forschung ausgeschlossen; sie hat sich
in diesem interdisziplinären Kontext auch als lernunfähig erwiesen.
Sie kann mangels eigener grundlagentheoretischer Vorarbeiten nicht einmal
beobachten, was geschieht. (Ebd., S. 27-28.)
Die Theorie der sich selbst herstellenden,
autopoietischen Systeme kann in den Handlungsbereich nur überführt
werden, wenn man davon ausgeht, daß die Elemente, aus denen das
System besteht, keine Dauer haben können, also unaufhörlich
durch das System dieser Elemente selbst reproduziert werden müssen.
Das geht über ein bloßes Ersatzbeschaffen für absterbende
Teile weit hinaus und ist auch mit Hinweis auf Umweltbeziehungen nicht
zureichend erklärt. Es geht nicht um Anpassung, es geht nicht um
Stoffwechsel, es geht um einen eigenartigen Zwang zur Autonomie, der sich
daraus ergibt, daß das System in jeder, also in noch so günstiger
Umwelt schlicht aufhören würde zu existieren, wenn es die momenthaften
Elemete, aus denen es besteht, nicht mit Anschlußfähigkeit,
also mit Sinn, ausstatten und so reproduzieren würde. Dafür
kann es verschiedene Strukturen geben; aber nur solche, die sich gegen
diesen radikalen Trend zur sofortigen (nicht nur: zur allmählichen,
entropischen) Auflösung durchsetzen können. (Ebd., S.
28-29.)
System und Funktion.
Die allgemeine Theorie sozialer Systeme erhebt ... den Anspruch,
den gesamten Gegenstandsbereich der Soziologie zu erfassen und in diesem
Sinne universelle soziologische Theorie zu sein. Ein solcher Universalitätsanspruch
ist ein Selektionsprinzip. Es bedeutet, daß man Gedankengut, Anregungen
und Kritik nur akzeptiert, wenn und soweit sie sich ihrerseits dieses
Prinzip zu eigen machen. Hieraus ergibt sich eine eigentümliche Querlage
zu den klassischen soziologischen Kontroversen: Statik versus Dynamik,
Struktur versus Prozeß, System versus Konflikt, Monolog versus Dialog
oder, projiziert auf den Gegenstand selbst, Gesellschaft versus Gemeinschaft,
Arbeit versus Interaktion. Solche Kontrastierungen zwingen jede Seite
zum Verzicht auf Universalitätsanspüche und zur Selbstbewertung
ihrer eigenen Option: bestenfalls zu Behelfskonstruktionen mit Einbau
des Gegenteils in die eigene Option. Solche Theorieansätze sind nicht
nur undialektisch gedacht, sie verzichten auch vorschnell auf eine Ausnutzung
der Reichweite systemtheoretischer Ansätze. Seit Hegel und seit Parsons
kann man dies wissen. (Ebd., S. 33-34.)
Als Ausgangspunkt jeder systemtheoretischen
Analyse hat, darüber besteht heute wohl fachlicher Konsens, die Differenz
von System und Umwelt zu dienen. (Die Differenz
von System und Umwelt läßt sich abstrakter begründen,
wenn man auf die allgemeine, primäre Disjunktion einer Theorie der
Form zurückgeht, die nur mit Hilfe eines Differenzbegriffs
definiert: Form und anderes.) Systeme sind nicht nur gelegentlich
und nicht nur adaptiv, sie sind strukturell an ihrer Umwelt orientiert
und könnten ohne ihre Umwelt nicht bestehen. Sie konstituieren und
sie erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt,
und sie benutzen ihre Grenzen zur Regulierung dieser Differenz. Ohne Differenz
zur Umwelt gäbe es nicht einmal Selbstreferenz, denn Differenz ist
Funktionsprämisse selbstreferentieller Operationen. In diesem Sinne
ist Grenzerhaltung Systemerhaltung. (Ebd., S. 35.)
Ob und wie weit sich Verhältnisse ausbilden lassen, in denen
ein System ein anderes dominiert, ist nicht zuletzt abhängig davon,
wie weit beide Systeme und wie weit das System ihrer Beziehungen von der
jeweiligen Umwelt abhängen. In diesem Sinne waren denn auch die »absolute«
Herrschaft, von der ältere Reichsmodelle ausgingen, nie starke, nie
determinierende Herrschaft, sondern mehr ein Modus der Systembeschreibung,
der eine gewisse Verfügungsgewalt des Systems über sich selbst
zum Ausdruck brachte. (Ebd., S. 37.)
Systemdifferenzierung ist nichts weiter als Wiederholung der Systembildung
in Systemen. (Ebd., S. 37.)
Die Differenz System/Umwelt muß von einer zweiten, ebenfalls
konstitutiven Differenz unterschieden werden: der Differenz von Element
und Relation. In jenem wie in diesem Fall muß man die Einheit
der Differenz als konstitutiv denken. So wenig wie es Systeme ohne
Umwelten gibt oder Umwelten ohne Systeme, so wenig gibt es Elemente ohne
relationale Verknüpfung oder Relationen ohne Elemente. In beiden
Fällen ist die Differenz eine Einheit (wir sagen ja auch: »die«
Differenz), aber sie wirkt nur als Differenz. Nur als Differenz macht
sie es möglich, Informationsverarbeitungsprozesse auszuschließen.
Trotz dieser formalen Ähnlichkeit ist es wichtig (und
unter anderem eine Voraussetzung für den Begriff der Komplexität),
daß man die beiden sorgfältig unterscheidet. Es gibt deshalb
zwei verschiedene Möglichkeiten, die Dekomposition eines Systems
zu betrachten. Die eine zielt auf die Bildung von Teilsystemen (oder genauer:
internen System/Umwelt-Beziehungen) im System. Die andere dekomponiert
in Elemente und Relationen. Im einen Falle geht es um die Zimmer des Hauses,
im anderen Falle um die Steine, Balken, Nägel usw.. Die erste Art
der Dekomposition wird in einer Theorie der Systemdifferenzierung
fortgeführt. Die andere mündet in eine Theorie der Systemkomplexität.
Erst diese Unterscheidung macht es sinnvoll und nichttautologisch zu sagen,
daß mit Zunahme der Differenzierung oder mit einer Änderung
von Formen der Differenzierung die Systemkomplexität zunehme.
(Ebd., S. 41.)
Wir nehmen an, ohne das theoretisch sicher begründen zu können,
daß Systeme mindestens Mengen von Relationen zwischen Elementen
sein müssen, daß sie aber typisch durch weitere Konditionierungen
und damit durch höhere Komplxität auszeichnen. (Ebd., S. 45.)
Erfolgreiche Konditionierungen, mit denen erreicht wird, daß
das, was durch sie möglich wird, auch entsteht, wirken dann als Einschränkungen.
Man kann auf sie, obwohl sie kontingent eingeführt sind, nicht verzichten,
ohne daß das, was durch sie möglich wurde, entfällt.
(Ebd., S. 45.)
Komplexität ... heißt Selektionszwang,
Selektionszwang heißt Kontingenz, und Kontingenz heißt Risiko.
Jeder komplexe Sachverhalt beruht auf einer Selektion der Relationen zwischen
seinen Elementen, die er benutzt, um sich zu kostituieren und zu erhalten.
.... Durch Selektionszwang und durch Konditionierung
von Selektionen läßt sich erklären, daß aus einer
Unterschicht von sehr ähnlichen Einheiten (z.B. wenigen Arten von
Atomen, sehr ähnlichen menschlichen Organismen) sehr verschiedenartige
Systeme gebildet werden können. Die Komplexität der Welt, ihrer
Arten und Gattungen, ihrer Systembildungen entsteht also erst durch Reduktion
von Komplexiät und durch selektive Konditionierung dieser Reduktion.
Nur so erklärt sich weiter, daß die Dauer dessen, was dann
als Element fungiert, mit der Selbstregulation des Systems abgestimmt
werden kann. (Ebd., S. 47.)
Von Reduktion der Komplexität sollte man ... in einem engeren
Sinne immer dann sprechen, wenn das Relationsgefüge eines komplexen
Zusammenhangs durch einen zweiten Zusammenhang mit weniger Relationen
rekonstruiert wird. Nur Komplexität kann Komplexität
reduzieren. Das kann im Außenverhältnis, kann aber auch im
Innenverhältnis des Systems zu sich selbst der Fall sein. So bewahrt
ein Mythos, beschränkt durch die Möglichkeiten mündlicher
Erzählung, die Welt und die Situationsorientierung eines Volksstammes.
Der Komplexitätsverlust muß dann durch besser organisierte
Selektivität (zum Beispiel: gesteigerte Anforderungen an Glaubwürdigkeit)
aufgefangen werden. Auch Reduktion der Komplexität geht, wie jede
Relationierung, von Elementen aus. Aber der Begriff der Reduktion bezeichnet
nur noch einer Realtionierung der Realtionen. (Ebd., S. 49.)
Man hat die unfaßbare Komplexität
des Systems (bzw. seiner Umwelt), die entstünde, wenn man alles mit
allem verknüpfen würde, von der bestimmt strukturierten Komplexität
zu unterscheiden, die ihrerseits dann aber nur kontingent seligiert werden
kann; und man hat die Umweltkomplexität (in beiden Formen) von der
Systemkomplexität (in beiden Formen) zu unterscheiden, wobei die
Systemkomplexität geringer ist und dies durch die Ausnutzung ihrer
Kontingenz, also durch ihr Selektionsmuster wettmachen muß. In beiden
Fällen ist die Differenz von zwei Komplexitäten das eigentlich
Selektion erzwingende (und insofern: Form gebende) Prinzip; und wenn man
nicht von Zuständen, sondern von Operationen spricht, ist beides
Reduktion von Komplexität, nämlich Reduktion einer Komplexität
durch eine andere. Unter dem Gesichtspunkt dieser (aus
Komplexität folgenden) Reduktionsnotwendigkeit hat man einen zweiten
Komplexitätsbegriff gebildet. Komplexität in diesem zweiten
Sinne ist dann ein Maß für Unbestimmtheit oder für Mangel
an Information. Komplexität ist, so gesehen, die Information, die
dem System fehlt, um seine Umwelt (Umweltkomplexität) bzw. sich selbst
(Systemkomplexität) vollständig erfassen und beschreiben zu
können. (Ebd., S. 50-51.)
Die Systemtheorie ... hat ... keine Verwendung für den Subjektbegriff.
Sie ersetzt ihn durch den Begriff des selbstreferentiellen Systems.
(Ebd., S. 51.)
Elemente müssen, wenn Grenzen scharf definiert sind, entweder
dem System oder dessen Umwelt zugerechnet werden. Relationen können
dagegen auch zwischen System und Umwelt bestehen. Eine Grenze trennt also
Elemente, nicht notwendigerweise auch Relationen; sie trennt Ereignisse,
aber kausale Wirkungen läßt sie passieren.. (Ebd., S. 52.)
Mit Hilfe von Grenzen können Systeme sich zugleich schließen
und öffnen .... (Ebd., S. 52.)
Beim abstrakten Grenzbegriff, beim Begriff einer bloßen
Differenz zwischen System und Umwelt, kann man nicht entscheiden, ob die
Grenze zum System oder zur Umwelt gehört. Die Differenz selbst ist,
logisch gesehen, etwas Drittes. Nimmt man dagegen das Problem des Komplexitätsgefälles
als Interpretationshilfe hinzu, kann man Grenzen auf die Funktion von
Stabilisierung dieses Gefälles beziehen, für die nur das System
Strategien entwickeln kann. Es handelt sich dann vom System aus gesehen
um »selbstgenerierte Grenzen«, um Membranen, Häute, Mauern
und Tore, Grenzposten, Kontaktstellen. (Ebd., S. 53-54.)
Neben der Konstitution von systemeigenen Elementen ist demnach
die Bestimmung von Grenzen das wichtigste Erfordernis der Ausdifferenzierung
von Systemen. (Ebd., S. 54.)
Selektion als Grundbegriff jeder Ordnungstheorie, und man vermeidet
dabei den Rückgriff auf ein System, das die Entstehung von Ordnung
auf Grund überlegener eigener Ordnungsmacht erklärt. (Ebd., S. 57.)
Alle Selektion setzt Einschränkugen voraus. Eine Leitdifferenz
arrangiert diese Einschränkungen, etwa unter dem Gesichtspunkt brauchbar/unbrauchbar,
ohne die Auswahl selbst festzulegen. Differenz determiniert nicht was,
wohl aber daß seligiert werden muß. Zunächst scheint
es vor allem die System/Umwelt-Differenz zu sein, die erzwingt, daß
das System sich durch eigene Komplexität selbst zur Selektion zwingt.
(Ebd., S. 57.)
Die Elemente ermöglichen eine über andere Elemente laufende
Rückbeziehung auf sich selbst .... (Ebd., S. 60.)
Einerseits gibt es außerhalb des Kommunikationssystems Gesellschaft
überhaupt keine Kommunikation. Das System ist das einzige, das diesen
Operationstypus verwendet, und ist insofern real-notwendig geschlossen.
Andererseits gilt dies für alle anderen sozialen Systeme nicht. Sie
müssen daher ihre spezifische Operationsweise definieren oder über
Reflexion ihre identität bestimmen, um regeln zu können, welche
Sinneinheiten intern die Selbstreproduktion des Systems ermöglichen,
also immer wieder zu reproduzeiren sind. .... Sonderstellung des Gesellschaftssystems
.... (Ebd., S. 60-61.)
Eine der wichtigsten Konsequenzen liegt auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie:
Wenn auch die Elemente, aus denen das System besteht, durch das System
selbst als Einheiten konstituiert werden (wie komplex immer der »Unterbau«
als Energie, Material, Information sein mag), entfällt jede Art von
basaler Gemeinsamkeit der Systeme. Was immer als Einheit fungiert, läßt
sich nicht von außen beobachten, sondern nur erschließen.
(Ebd., S. 61.)
Eine wichtige strukturelle Konsequenz, die sich aus dem selbstreferentiellen
Systemaufbau ergibt, muß besonders erwähnt werden. Es ist der
Verzicht auf Möglichkeiten der unilateralen Kontrolle. Es
mag Einflußdifferenzen, Hierarchien, Asymmetrisierungen geben,aber
kein Teil des Systems kann andere kontrollieren, ohne selbst der Kontrolle
zu unterliegen; und unter soclhen Umständen ist es möglich,
ja in sinnhaft orientierten Systemen hochwahrscheinlich, daß jede
Kontrolle unter Antizipation der Gegenkontrolle ausgeübt wird.
(Ebd., S. 63.)
Selbstbeobachtung ist ... die Einführung der System/Umwelt-Differenz
in das System, das sich mit ihrer Hilfe konstituiert; und sie ist zugleich
operatives Moment der Autopoiesis, weil bei der Reproduktion der Elemente
gesichert sein muß, daß sie als Elemente des Systems und nicht
als irgendetwas anderes reproduziert werden. (Ebd., S. 63.)
Das Konzept des selbstreferentiell-geschlossenen Systems steht
nicht im Widerspruch zur Umweltoffenheit der Systeme; Geschlossenheit
der selbstreferentiellen Operationsweise ist vielmehr eine Form der Erweiterung
möglichen Umweltkontaktes; sie steigert sich dadurch, daß sie
bestimmungsfähigere Elemente konstituiert, die Komplexität der
für das System möglichen Umwelt. (Ebd., S. 63.)
Wenn man ... die Begriffe Beobachtung und Selbstbeobachtung auf
der Ebene der allgemeinen Systemtheorie ansetzt und ... mit dem Begriff
der Autopoiesis verbindet, wird Selbstbeobachtung zur nowtendigen Komponente
autopoietischer Reproduktion. Gerade auf dieser Grundlage ergibt sich
dann die Möglichkleit, organische und neurophysiologische Systeme
(Zellen, Nervensysteme, Immunsysteme usw.) von Sinn konstituierenden psychischen
und sozialen Systemen zu unterscheiden. Für all diese Systembildungsebenen
gilt das Grundgesetz der Selbstreferenz, aber für die erstgenannte
Gruppe in einem radikaleren, ausschließlicheren Sinne als für
Sinnsysteme. Auch Sinnsysteme sind vollständig geschlossen insofern,
als nur Sinn auf Sinn bezogen werden kann. (Ebd., S. 64.)
Man sieht hieran deutlich den evolutionären Gewinn der Errungenschaft
»Sinn« auf der Basis einer nicht mehr zu stoppenden Selbstreferentialität
des Systemaufbaus: Er liegt in einer neuartigen Kombination von Geschlossenheit
und Umweltoffenheit des Systemaufbaus; oder mit anderen Worten: in der
Kombination von System/Umwelt-Differenz und selbstreferentiellem Systemaufbau.
(Ebd., S. 64.)
Es gibt Maschinen, chemische Systeme, lebende Systeme, bewußte
Systeme, sinnhaft-kommunikative (soziale) Systeme; aber es gibt keine
all dies zusammenfassenden Systemeinheiten. Der Mensch mag für sich
selbst oder für Beobachter als Einheit erscheinen, aber er ist kein
System. Erst recht kann aus einer Mehrheit von Menschen kein System gebildet
werden. Bei solchen Annahmen würde übersehen, daß der
Mensch das, was in ihm an physischen, chemischen, lebenden Prozessen abläuft,
nicht einmal selbst beobachten kann. (Ebd., S. 67-68.)
So schafft ein System sich als eigenen Kausalbasis eine eigene
Vergangenheit, die es ihm ermöglicht, zum Kausaldruck der Umwelt
in Distanz zu treten, ohne daß allein durch die interne Ursächlichkeit
schon festgelegt wäre, was in Konfrontation mit Außenereignissen
geschieht. Man sieht die Tragweite dieser evolutionären Errungenschaft,
wenn man bedenkt, daß lebende Systeme für die Autonomie des
Lebens auf genetische Determination angewiesen bleiben. (Das
erinnert an die vier Schichten in Nicolai Hartmanns Schichtenlehre; HB.)
(Ebd., S. 69.)
Wir lassen offen, was Zeit »ist«, weil man bezweifeln
kann, ob irgendein Begriff von Zeit, der über das bloße Faktum
des Sichänderns hinausgreift, ohne Systemreferenz festgelegt werden
kann. Andererseits wird uns ein bloß chronologischer Zeitbegriff
im Sinne eines Maßes von Bewegung im Hinblick auf ein Früher
und ein Später nicht genügen, weil er die Probleme, die Systeme
in der Zeit und mit der Zeit haben, nicht ausreichend rekonstruieren kann.
(Ebd., S. 70.)
Zeit ist der Grund für den Selektionszwang in komplexen Systemen,
denn wenn unendlich viel Zeit zur Verfügung stünde, könnte
alles mit allem abgestimmt werden. So gesehen ist »Zeit« das
Symbol dafür, daß immer, wenn etwas Bestimmtes geschieht, auch
etwas anderes geschieht, so daß keine Einzeloperation je eine volle
Kontrolle über ihre Bedingungen gewinnen kann. (Ebd., S. 70.)
Die logische Möglichkeit, jedes Element mit jedem anderen
zu verknüpfen, kann kein System realisieren. Das ist der Ausgangspunkt
von aller Reduktion von Komplexität. (Ebd., S. 73.)
Für Systeme mit temporalisierter Komplexität
wird ... Reproduktion zu einem Dauerproblem. Dieser Theorie geht
es also nicht, wie klassischen Gleichgewichtstheorien, um Rückkehr
in eine stabile Ruhelage nach Absorption von Störungen, sondern um
die Sicherung der unaufhörlichen Erneuerung der Systemelemente; oder
in kurzer Formulierung: nicht um statische, sondern um dynamische Stabilität.
Alle Elemente verschwinden, sie können sich als Elemente in der Zeit
nicht halten, sie müssen also laufend neu hervorgebracht werden und
dies auf Grund der Konstellation von Elementen, die im Moment aktuell
ist. Reproduktion heißt also nicht einfach: Wiederholung der Produktion
des Gleichen, sondern reflexive Produktion, Produktion aus Produkten.
(Diese Verständnis von Reproduktion hat Tradition
.... Vgl. z.B. Johann Jakob Wagner, Philosophie der Erziehungskunst,
1803, S. 48: »Aus Produkten produciren heißt reproduciren.«)
(Ebd., S. 79.)
Zeitdifferenz und sachliche Verschiedenheit trennen sich schärfer
und sind zugleich stärker voneinander abhängig. Man kann vermuten,
daß dies eine evolutionäre Ausgangslage ist, in der sich, zunächst
als grandiose Vereinfachung, Sinn bildet und durch Formzwang erreicht,
daß in allem, was Operation werden kann, Verweisungen in sachliche
und Verweisungen in zeitliche Richtung zusammengeschlossen sein müssen.
Die alteuropäische Tradition hatte hierfür den
Begriff der »Bewegung« bereitgestellt. Ihre Physik war bis
Newton Bewegungsphysik. Noch Hegels System kommt nicht ohne den Bewegungsbegriff
aus. Damit war ein Phänomen durch einen Begriff so aufgewertet, daß
es eine genauere Analyse der Interdependenz von zeitlichen und sachlichen
Bedingungen für Systemoperationen blockierte. (Ebd., S. 82.)
Die Methode funktionaler Analyse, die wir durchgehend
voraussetzen, baisert ihrerseits auf dem Informationsbegriff. .... Funktionale
Analyse ist mithin eine Art Theorietechnik, ähnlich wie die Mathematik
.... (Ebd., S. 83.)
Wenn (es wirklich zutrifft, daß) Inflationen Verteilungsprobleme
relativ konfliktfrei lösen (mit welchen Nebenfolgen immer), sind
sie ein funktionales Äquivalent für politisch riskantere, weil
konfliktreichere staatliche Planung. (Der vorherrschende
Trend soziologischer Forschung verzichtet freilich auf eine solche methodologisch-theoretische
Konstruktion und beschränkt sich darauf, unbehagliche Kausalitäten,
latente Funktionen usw. einfach bloßzustellen. Man nennt das »kritisch«
oder »progressiv«. Das führt aber nur zu der Frage, wie
denn die zu Grunde liegenden Probleme anders gelöst werden können.)
(Ebd., S. 85.)
Das Wissenschaftssystem bedient sich keineswegs nur der funktionalen
Analyse, aber mindestens seit dem 17. Jahrhundert gibt es im Wissenschaftssystem
die These, daß der Funktionsbezug das eigentlich fruchtbare Prinzip
der Selektion (!) wissenschaftlich relevanter Daten sei. Wir nennen die
dafür geltenden Regeln in dieser Systemreferenz auch »funktionale
Methode«. (Ebd., S.
87.)
Mit der Wahl eines Problems, das die Einheit
der Differenz von Erkenntnis und Gegenstand formuliert, geht die funktionale
Methode über eine bloße Methodenentscheidung hinaus und beansprucht,
Theorie der Erkenntnis zu sein. (Ebd., S. 90.)
Für Erkenntnisgewinn durch funktionale Analyse gibt es zwar
keine absoluten Garantien - weder in der Theorie noch in der Methodes
des richtigen Vorgehens. (Im 18. Jahrhundert bereits
war die These geläufig, daß für das Ansetzen eines ungewöhnlichen,
sehr Verschiedenartiges übergreifenden Vergleichs ingenium, Witz,
Einbildungskraft oder ähnliches, in jedem Fall eine nur individuell
gegebene Fähigkeit erforderlich sei. Vgl. Alfred Baeumler, Das
Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts
bis zur Kritik der Urteilskraft, 1923, S. 141 ff..). (Ebd., S. 90.)
Nach einer alten, einsichtigen Regel treten Wahrheiten in Zusammenhängen
auf, Irrtümer dagegen isoliert. Wenn es der funktionalen Analyse
gelingt, trotz großer Heterogeität und Verschiedenartigkeit
der Erscheinungen Zusammenhänge aufzuzeigen, kann dies als Indikator
für Wahrheit gelten, auch wenn die Zusammenhänge nur für
den Beobachter einsichtig sind. Jedenfalls wird es bei dieser Technik
des Einsichtgewinns schwerer und schwerer, die Überzeugung festzuhalten,
die Ergebnisse könnten auf eine fehlerhafte Methode, auf Irrtum,
auf reine Imagination zurückzuführen sein. (Ebd., S. 90-91.)
Sinn.
Auch das zweite Kapitel greift noch über den engeren Bereich
der Theorie sozialer Systeme hinaus und behandelt ein Thema, das psychische
und soziale Systeme gemeinsam betrifft - psychische Systeme als konstituiert
auf der Basis eines (selbstreferentiellen) Bewußtseinszusammenhanges
und soziale Systeme als konstituiert auf der Basis eines (selbstreferentiellen)
Kommunikationszusammenhanges. Andere Systemarten werden nicht mehr berücksichtigt.
(Ebd., S. 92.)
Psychische und soziale Systeme sind im Wege
der Co-evolution entstanden. .... Personen können nicht ohne soziale
Systeme entstehen und bestehen, und das gleiche gilt umgekehrt. (Daraus
folgt allerdings nicht der Schluß, den eine bis heute nachwirkende
Tradition aus dieser Notwendigkeit gezogen hatte: daß der Mensch
als animal sociale Teil der Gesellschaft sei, die Gesellschaft also »aus
Menschen bestehe«. Von dieser Prämisse aus hätte die im
ersten Kapitel skizzierte Systemtheorie nicht entwickelt werden können.
Wer an dieser Prämisse festhält und mit ihr ein Humanitätsanliegen
zu vertreten sucht, muß deshalb als Gegner des Universalitätsanspruchs
der Systemtheorie auftreten.) Die Co-evolution hat zu einer gemeinsamen
Errungenschaft geführt, die sowohl von psychischen als auch von sozialen
Systemen benutzt wird. Beide Systemarten sind auf sie angewiesen, und
für beide ist sie bindend als unerläßliche, unabweisbare
Form ihrer Komplexität und ihrer Selbstreferenz. Wir nennen diese
evolutionäre Errungenschaft »Sinn«. (Ebd., S. 92.)
Bei einem Rückblick auf das, was oben zum Thema Komplexität
gesagt worden ist, ist unschwer zu erkennen, daß diese Formvorschrift
Sinn sich auf das Problem der Komplexität bezieht. (Ebd., S. 94.)
Sinn verweist immer wieder auf Sinn und nie
aus Sinnhaftem hinaus auf etwas anderes. .... Sinn ist ... eine unnegierbare,
eine differenzlose Kategorie. (Ebd., S. 96.)
Einerseits gibt es schon in neurophysiologischen Systemen (und
vielleicht müßte man auch sagen: in Atomen und Sonnen) entsprechende
basale Unruhe. Andererseits ist die gesamte Welt der sozialen Kommunikation
darauf eingerichtet, daß Monotonie ausgeschlossen ist und man nur
kommunizieren kann, indem man Themen und Beiträge wechselt.
(Ebd., S. 99.)
Aus diesen Gründen gehen wir ohne jeden
Versuch einer reduktiven »Erklärung« von einem Grundsachverhalt
basaler Instabilität (mit der Folge »temporalisierter«
Komplexität) aus und halten fest, daß jedenfalls alle Sinnsysteme
... dadurch geprägt sind. (Ebd., S. 99.)
Sinn ist also basal instabil, nur so kann Realität
für Zwecke emergenter Systembildung als Sinn behandelt werden. Die
hat zwingende Konsequenzen für den Aufbau sozialer Systeme, auf die
wir im folgenden bei der Behandlung von Themen wie Kommunikation, Handlung,
Ereignis und Struktur ausführlich zurückkommen werden. Zuvor
sollte jedoch, soweit möglich, geklärt werden, was allein dadurch
schon vorgegeben ist, daß Sinn überhaupt basal instabil, unruhig,
mit eingebautem Zwang zur Selbständerung gebildet werden muß.
(Ebd., S. 99-100.)
Die sinnspezifische Strategie des Auffangens und Prozessierens
der eigenen Instabilität scheint in der Verwendung von Differenzen
für anschließebnde Informationsverarbeitung zu liegen.
Was jeweils variiert, ist nicht einfach der »Gegenstand« einer
Intention. Das Sinnprozessieren ist vielmehr ein ständiges Neuformieren
der sinnkonstitutiven Differenz von Aktualität und Möglichkeit.
Sinn ist laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten. Da Sinn aber
nur als Differenz von gerade Aktuellem und Möglichkeitshorizont Sinn
sein kann, führt jede Aktualisierung immer auch zu einer Virtualisierung
der daraufhin anschließbaren Möglichkeiten. Die Instabilität
des Sinnes liegt in der Unhaltbarkeit seines Aktualitätskerns; die
Restabilisierbarkeit ist dadurch gegeben, daß alles Aktuelle nur
im Horizont von Möglichkeitsanzeigen Sinn hat. Und Sinn haben heißt
eben: daß eine der anschließbaren Möglichkeiten als Nachfolgeaktualität
gewählt werden muß, sobald das jeweils Aktuelle verblaßt,
ausdünnt, seine Aktualität aus eigener Instabilität selbst
aufgibt. Die Differenz von Aktualität und Möglichkeit erlaubt
mithin eine zeitlich versetzte Handhabung und damit ein Prozessieren der
jeweiligen Aktualität entlang von Möglichkeitsanzeigen. Sinn
ist somit die Einheit von Aktualisierung und Virtualisierung, Re-Aktualisierung
und Re-Virtualisierung als ein sich selbst propellierender (durch Systeme
konditionierbarer) Prozeß. Wie dies läuft,
wird erst voll verständlich, wenn man eine zweite Differenz mit in
Betracht zieht. Im Anschluß an Spencer-Brown wollen wir, wenn die
Operation gemeint ist, von Unterscheidung (distinction) und Bezeichnung
(indication) sprechen. Die entsprechenden sematischen Resultate heißen:
Differenz und Identität. (Ebd., S. 100.)
Insgesamt ist Sinn also ein Prozessieren nach Maßgabe von
Differenzen, und zwar von Differenzen, die als solche nicht vorgegeben
sind, sondern ihre operative Verwendbarkeit (und erst recht natürlich
ihre begriffliche Formulierbarkeit) allein aus der Sinnhaftigkeit selbst
gewinnen. Die Selbstbeweglichkeit des Sinngeschehens ist Autopoiesis par
excellence. Auf dieser Grundlage kann dann jedes (wie immer kurze) Ereignis
Sinn gewinnen und Systemelement werden. Damit ist nicht so etwas wie »rein
geistige Existenz« behauptet, wohl aber Geschlossenheit des Verweisungszusammenhanges
der Selbstproduktion. (Ebd., S. 101.)
Man liest in einer Zeitung, die DM sei aufgewertet worden. Wenn
man dasselbe dann in einer anderen Zeitung nochmals liest, hat diese Aktivität
keinen Informationswert mehr (sie ändert den eigenen Systemzusatnd
nicht mehr), obwohl sie strukturell dieselbe Selektion präsentiert.
(Ebd., S. 102.)
Informationen sind mithin Ereignisse, die Entropie
einschränken, ohne damit das System festzulegen. (Ebd., S.
103.)
Information reduziert Komplexität insofern, als sie eine
Selektion bekanntgibt und damit Möglichkeiten ausschließt.
Sie kann gleichwohl Komplexität auch erhöhen. Diese geschieht
zum Beispiel, wenn die ausgeschlossene Möglichkeit eine negative
Erwartung war: Man hatte gedacht, daß Pfarrer immer Männer
sind, und stellt nun fest: dieser Pfarrer ist eine Frau. Soll man Pfarrerin
sagen? Handkuß? (Ebd., S. 103.)
Jedenfalls kann Information Unsicherheit nicht nur mindern, sondern
auch steigern, und nur deshalb ist eine Evolution von Sinnformen mit hoher
Kapazität für Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung
möglich. (Ebd., S.
104.)
Information ist nur im System, nur dank dessen Auffassungsschema
möglich. (Ebd., S.
104.)
Sinn aber verweist immer wieder auf weiteren Sinn (**).
Die zirkuläre Geschlossenheit dieser Verweisungen erscheint in ihrer
Einheit als Letzthorizont alles Sinnes: als Welt. Die Welt hat
infolgedessen die gleiche Unausweichlichkeit und Unnegierbarkeit wie Sinn.
(Ebd., S. 105.)
Die Selbstbeschreibung der Welt muß ... durch eine Leitdifferenz
charakterisiert werden. Hiefür kommt als letztgültige Form nur
die Unterscheidung von Sinn und Welt in Betracht. Die Einheit der
sinnhaften Konstitution von Welt (der welthaften Konstitution von Sinn)
wird für die phänomenologische Beschreibung als Differenz
artikuliert und kann in dieser Form zur Informationsgwinnung dienen.
(Ebd., S. 105.)
Die Welt ist die Einheit der eigenen Differenz von System und
Umwelt. (Ebd., S. 106.)
Der allen Sinn immanente Welbezug schließt es aus, daß
wir Sinn als Zeichen definieren. Man muß Verweisungsstruktur
und Zeichenstruktur sorgfältig unterscheiden. (Vorbereitet
ist diese Unterscheidung in den Husserlschen Analysen des Verhältnisses
von Ausdruck und Anzeichen. Vgl. Logische Untersuchungen, II, 1,
3, S. 23 ff..) Die Funktion eines Zeichens erfordert immer Verweisung
auf etwas Bestimmtes unter Ausschluß von Selbstreferenz. Es gibt,
anders gesagt, weder ein Weltzeichen noch ein sich selbst bezeichnendes
Zeichen. Beides, Universalität und Selbstreferenz, ist aber unabdingbare
Eigenschaft von Sinn. Sinn ist daher der fundierende Sachverhalt: Ein
Zeichen muß Sinn haben, um seine Funktion erfüllen zu können,
aber Sinn ist kein Zeichen. Sinn bildet den Kontext aller Zeichenfestlegung,
die conditio sine qua non ihrer Asymmetrisierung, aber als Zeichen genommen
würde Sinn nur als Zeichen für sich selbst, also als Zeichen
für die Nichterfüllung der Funktion des Zeichens stehen können.
(Ebd., S. 107.)
Wir können ... den Subjektbegriff azufgeben. (Ebd., S. 111.)
Wir gehen ... davon aus, daß in aller Sinnerfahrung zunächst
eine Differenz vorliegt, nämlich die Differenz von aktual
Gegebenem und auf Grund dieser Gegebenheit Möglichem.
(Ebd., S. 111.)
Am Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz.
Nur das macht es möglich, Zufällen Informationswert zu geben
und damit Ordnung aufzubauen; denn Information ist nichts anderes als
ein Ereignis, das eine Verknüpfung von Differenzen bewirkt .... Hier
liegt der Grund dafür, daß wir auch die Dekomposition des
Sinnes schlechthin nicht nur als Differenz, sondern als Dekomposition
din Differenzen vorfinden. Wir werden diesen Befund durch den Begriff
der Sinndimensionen bezeichnen und unterscheiden Sachdimension,
Zeitdimension und Sozialdimension. Jede dieser Dimensionen
gwinnt ihre Aktualiät aus der Differenz zweier Horizonte, ist also
ihrerseits eine Differenz, die gegegn andere Differenzen differenziert
wird. Jede Dimension ist ihrerseits wieder sinnuniversell gegeben, enthält
also, formal gesehen, keine Einschränkung dessen, was in der Welt
möglih ist. Man kann insofern auch von Weltdeimensionen sprechen.
(Ebd., S. 112.)
Die Sachdimension wird dadurch konstituiert, daß
der Sinn die Verweisungsstruktur des Gemeinten zerlegt in »dies«
und »anderes«. Ausgangspunkt einer sachlichen Artikulation
von Sinn ist mithin eine primäre Disjunktion, die etwas noch
Unbestimmtes gegen anderes noch Unbestimmtes absetzt. (Ebd., S. 114.)
Es gehört zu dem schlimmsten Eigenschaften unserer Sprache
(und die Gesamtdarstellung der Systemtheorie in diesem Buche ist aus diesem
Grunde inadäquat, ja irreführend), die Prädikation auf
Ssatzsubjekte zu erzwingen und so die Vorstellung zu suggerieren und schließlich
die alte Denkgewohnheit immer wieder einzuschleifen, daß es um »Dinge«
gehe, denen irgendwelche Eigenschaften, Beziehungen, Aktivitäten
oder Betroffenheiten zugeschrieben werden. Das Dingschema (und entsprechend.
die Auffassung der Welt als »Realität«) bietet aber nur
eine vereinfachte Version der Sachdimension. Dinge sind Beschränkunghen
von Kombinationsmöglichkeiten in der Sachdimension. Am Ding lassen
sich deshalb entsprechende Erfahrungen sammeln und versuchsweise reproduzieren.
In dieser Form geben Dinge handliche Anhaltspunkte für den Umgang
mit Weltbezügen. Sie vertuschen aber auch, daß es stets und
zwangsläufig zwei Horizonte sind, die an der sachlichen Konstitution
von Sinn mitwirken; und daß entsprechend Doppelbeschreibungen, die
nach außen und nach innen profilieren, nötig wären, um
Sachsinn zu fixieren. Wir werden daher immer wieder Anlaß haben,
darauf hinzuweisen, daß der primäre Gegenstand der Systemtheorie
nicht ein Gegenstand (oder eine Gegenstandsart) »System« ist,
sondern die Differenz von System und Umwelt. (Ebd., S. 115-116.)
Die Zeitdimension wird dadurch konstituiert, daß
die Differenz von Vorher und Nachher, die an allen Ereignissen unmittelbar
erfahrbar ist, auf Sonderhorizonte bezogen, nämlich in die Vergangenheit
und die Zukunft hinein verlängert wird. Die Zeit wird dadurch von
der Bindung an das unmittelbar Erfahrbare gelöst, sie streift allmählich
auch die Zuordnung zur Differenz von Anwesendem und Abwesendem ab (*),
sie wird zu einer eigenständigen Dimension, die nur noch das Wann
und nicht mehr das Wer/Was/Wo/Wie des Erlebens und Handelns ordnet. (*
Es muß unterstrichen werden, daß dies ein sehr langsamer Entwicklumgsprozeß
war und daß selbst innovative Zeitdenker wie Augustin die ferne
Vergangenheit und die ferne Zukunft noch im Dunkel des weit Abwesenden
zusammenfließen sahen. Überhaupt scheint das Ineinssetzen von
Fernzukunft und Fernvergangenheit in mystischen Randzonen der zugänglichen
Welt die noch lange vorhaltende Dominanz des Schemas anwesend/abwesend,
nah/fern zu symbolisieren.) Die Zeit wird neutral im Bezug auf
auf Anwesend und Abwesend, und Abwesendes kann dann ohne Rücksicht
auf die Zeit, die man braucht, um es zu erreichen, als gleichzeitig aufgefaßt
werden. Jetzt wird eine einheitliche, vereinheitlichende Zeitmessung möglich,
und in der Zeitsemantik lassen sich dann auch die Zeitpunktsequenzen von
den Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft-Verhältnissen trennen und zu
ihnen in Beziehung setzen. (Ebd., S. 116.)
Zeit ist ... für Sinnsysteme die Interpretation der Realität
im Hinblick auf eine Differenz von Vergangenheit und Zukunft. Dabei ist
der Horizont der Vergangenheit (und ebenso: der Zukunft) nicht etwa der
Anfnag (bzw.: das Ende) der zeit. Diese Vorstellung des Anfangs bzw. Endes
schließt der Horizontbegriff gerade aus. Vielmehr fungieren die
gesamte Vergangenheit und ebenso die gesamte Zukunft als Zeithorizont
- ob sie nun chronolgisiert und entsprechend linearisiert vorgestellt
werden oder nicht. (Ebd., S. 116.)
Zukünfte und Vergangenheiten können, und in dieser Hinsicht
sind sie völlig gleich, nur intendiert bzw. thematisiert, nicht aber
erlebt oder behandelt werden. (Ebd., S. 117.)
Die Zeitspanne zwischen Vergangenheit und Zukunft, in der das
Irreversibelwerden einer veränderung sich ereignet, wird als Gegenwart
erfahren. Die Gegenwart dauert so lange, wie das Irreversibelwerden dauert.
Bei genauem Zusehen erkennt man, daß immer zwei Gegenwarten gleichzeitig
gegeben sind und daß erst deren Differenz den Eindruck des Fließens
der Zeit erzeugt. (Ebd., S. 117.)
Schließlich ist zu beachten, daß in der besonderen
Sinndimension Zeit Geschichte konstituiert werden kann. (Ebd., S. 118.)
Die Sozialdimension betrifft das, was man jeweils als seinesgleichen,
als »alter Ego« annimmt, und artikuliert die Relevanz dieser
Annahme für jede Welterfahrung und Sinnfixierung. Auch die Sozialdimension
hat weltuniversale Relevanz; denn wenn es überhaupt ein alter Ego
gibt, so sit es, wie das Ego auch, für alle Gegenstände und
für alle Themen relevant. (Ebd., S. 119.)
Sozial ist ... Sinn nicht qua Bindung an bestimmte Objekte (Menschen),
sondern als Träger einer eigentümlichen Reduplizierunf von Auffassungsmöglichkeiten.
Entsprechend stehen die Begriffe Ego und Alter (alter Ego) hier nicht
für Rollen oder Personen oder Systeme, sondern ebenfalls für
Sonderhorizonte, die sinnhafte Verweisungen aggregieren und bündeln.
Auch die Sozialdimension wird mithin durch einen Doppelhorizont konstituiert;
sie wird in dem Maße relevant, als sich im Erleben und Handeln abzeichnet,
daß die Auffassungsperspektiven, die ein System auf sich bezieht,
von anderen nicht geteilt werden. Und auch hier heißt die Horizonthaftigkeit
von Ego und Alter Unabschließbarkeit weiterer Exploration. Da somit
ein Doppelhorizont auch in diser Hinsicht konstitutiv ist für die
Eigenständigkeit einer Sinndimension, läßt sich Soziales
nicht auf die Bewußtseinsleistungen eines momadischen Subjekts zurückführen.
Daran sind alle Versuche einer Theorie der subjektiven Konstitution von
»Intersubjektivität« gescheitert. (Ebd., S. 119-120.)
Nur wenn sich Dissens als Realität oder als Möglichkeit
abzeichnet, hat man Anlaß, den Doppelhorizont des Sozialen als im
Moment besonders wichtige Orientierungsdimension einzuschalten; und nur
in dem Maße, als dies besonders oft oder in spezifischen Sinnzusammenhängen
besonders deutlich geschieht, entsteht in der gesellschaftlichen Evolution
eine besondere Semantik des Sozialen, die ihrerseits als Theorie dieser
Differenz wieder konsens- bzw- dissensfähig sein kann. (Ebd., S. 121.)
So wie in der Sachdimension das Dingschema die Weltbezüge
vereinfacht an die Hand gibt, so wird die Sozialdimension auf Moral reduziert.
Der Realistik entspricht die Moralistik der Weltauffassung. (Ebd., S. 121.)
Die hier vorgestellte dimensionale Dekomposition der Welt auf
Grund von Sinn und die Zuordnung eines konstitutiven Doppelhorizontes
zu jeder Dimension ermöglichen weitere Schritte der Analyse; sie
ermöglichen vor allem einen deutlicheren Aufriß der Bedingungen
der Möglichkeit des Bestimmens von Sinn. (Ebd., S. 122.)
Für den Prozeß der laufenden Selbstbestimmung von Sinn
formiert sich die Differenz von Sinn und Welt als Differenz von Ordnung
und Störung, von Information und Rauschen, Beides ist, beides bleibt
erforderlich. Die Einheit der Differenz ist und bleibt Grundlage der Operation.
(Ebd., S. 122.)
Sinnbezogene Operationen selbstreferentieller Systeme werden durch
Auslöseprobleme (primäre Disjunktion [vgl.
Sachdimension; HB], Irreversibilität [vgl.
Zeitdimension; HB, Dissens [vgl. Sozialdimension;
HB) gereizt und die Doppelhorizonte der Sinndimension dadurch unter
Optionsdruck gesetzt. (Ebd., S. 123.)
Wird die Sinnselektion der Umwelt zugerechnet, gilt die Charakterisierung
Erleben, und die Anknüpfung für weitere Maßnahmen wird
in der Umwelt des Systems gesucht (obwohl das System als erlebend beteiligt
war!). Wird dagegen die Sinnselektion dem System selbst zugerechnet, dann
gilt die Charakterisierung Handeln (obwohl solches Handeln ohne Bezug
auf die Umwelt gar nicht möglich ist). (Ebd., S. 124.)
Durch Schrift wird Kommunikation aufbewahrbar, unabhängig
von dem lebenden Gedächtnis von Interaktionsteilnehmern, ja sogar
unabhängig von Interaktion überhaupt. (Ebd., S. 127.)
Größere Deutlichkeit und Tiefenschärfe in den
jeweiligen Doppelhorizonten Innen/Außen, Vergangenheit/Zukunft,
Ego/Alter. Die jeweils zuständige Dichotomie trägt einerseits
die Ausdifferenzierung der Sinndimension und wird andererseits durch sie
auf höhere Komplexität gebracht. (Ebd., S. 133.)
Die Sprache .... Ihre eigentliche Funktion liegt in der Generalisierung
von Sinn mit Hilfe von Symbolen, die - im Unterschied zur Bezeichnung
von etwas anderem - das, was sie leisten, selbst sind.
(Ebd., S. 137.)
Auch ein Widerspruch, auch eine Paradoxie hat Sinn. Nur so ist
Logik überhaupt möglich. Man würde sonst beim ersten besten
Widerspruch in ein Sinnloch fallen und darin verschwinden. (Ebd., S. 138.)
Die hier vorgestellte Konzeption als »dialektisch«
... charakterisieren .... Sicher müßte eine gewissenhafte Diskussion
ihres Verhältnisses zu den großen Theorieleistungen des 19.
Jahrhunderts (Hegel, Marx, Darwin), die alle mit Differenz anfangen und
nach Einheit suchen, an diesem Punkte ansetzen. (Ebd., S. 138.)
Sinn trägt sich selbst, indem es seine eigene Reproduktion
selbstreferentiell ermöglicht. Und erst die Formen dieser Reproduktion
differenzieren psychische und soziale Strukturen. (Ebd., S. 141.)
Im Übergang zur neuzeitlichen Gesellschaft, das heißt,
im Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung
des Gesellschaftssystems haben sich die Plausibilitätsgrundlagen
dieses Metaphysik-Konzepts geändert, und zwar in genau der Hinsicht,
auf die es hier ankommt. Mehr und mehr steht die Gesellschaft in einer
kontinuierlichen Auseinandersetzung mit einer selbstgeschaffenen Realität:
mit Personen, die das, was sie sind, durch Sozialisation und Erziehung
sind; und mit einer physisch-chemisch-organischen Natur, die im Zusammenhang
mit technischen Prozessen dirigiert wird. Man ist also an der Erzeugung
der Probleme, mit denen man sich zu befassen hat, immer schon beteiligt
und hat in gewisser Weise das, was man nicht will, immer schon gewollt.
Auf diese sachlage müßte Metaphysik, wenn sie überhaupt
möglich bleiben soll, ihr Konzept der Selbstrefrenz des Seins einstellen.
(Ebd., S. 144-145.)
Auf der Basis der neuzeitlichen Subjekt-Metaphysik, die von der
Subjektivität des Bewußtseins ausging, sind hierfür keine
letztlich überzeugenden Vorstellungen entwickelt worden - vielleicht
vor allem deshalb nicht, weil die Gegenüberstellung von Sein und
Denken sich nicht zu einer Gegenüberstellung von Sein und subjektivem
Bewußtsein fortentwickeln ließ. Man hat das versucht, hat
insbesondere versucht, das dem Sein zu grunde liegende Bewußtsein
(»subiectum«) selbst sinnlos zu denken. Aber das aus dem Sein
in dieser Weise vertriebene, sich selbst suchende Subjekt spezialisierte
sich auf Erkenntnistheorie oder wurde revolutionär - beides aufs
Ganze gesehen unzulängliche Auswege. Die Ortslosigkeit und Unfixierbarkeit
eines extramundanen Subjekts symbolisiert dann letztlich nur noch den
Fehlbegriff der Theorie - und nicht mehr etwas, was ein bewußtes
Ich in sich selbst entdecken kann. (Ebd., S. 145.)
Die alte Auffassung war: daß Wissenschaft auf eine entgegenkommende
Rationalität des Gegenstandes angewiesen sei. Diese Auffassung ist
durch die Transzendentalphilosophie in der als Ontologie vorliegenden
Fassung aufgegeben worden. An ihre Stelle trat, korrelativ zur Erschließung
der Selbstreferenz in das »Subjekt«, die These der Unerkennbarkeit
der Realität »an sich«. Diese These wird durch die hier
vollzogenen Reobjektivierung des selbstreferentiellen Systems nicht für
falsch erklärt, sondern nur generalisiert: Jeses selbstreferentielle
System hat nur den Umweltkontakt, den es sich selbst ermöglicht und
keine Umwelt »an sich«. (Ebd., S. 146.)
Wohlgemerkt: die Umwelt kann durch Sinnsysteme nur, aber auch
das ist innenbedingt, in der Form von Sinn erfahren und bearbeitet werden.
Das gilt auch für physische, chemische, organische Systeme der Umwelt,
die selbst nicht unter der Form von Sinn operieren. Sinnsysteme in
der Umwelt sind ein Sonderfall, und für diesen Sonderfall gilt,
daß nicht nur strukturierte Komplexität im allgemeinen, sondern
sinnspezifische Generalisierungen die Voraussetzungen herstellen, unter
denen die Umwelt für selbstreferentiell-geschlossen operierende Sinnsysteme
beobachtbar, verständlich, analysierbar ist. (Ebd., S. 147.)
Doppelte Kontingenz.
Daß alle Gesellschaften Kultur tradieren und jede soziale
Situation daher Kultur immer schon vorfindet. Die langfristigen Strukturen,
die soziale Ordnung immer neu ermöglichen, liegen in diesem kulturellen
Erbe, also in der Vergangenheit. .... Im Prinzip ist die Konstitution
sozialer Systeme an einen immer schon vorhandenen kulturellen Code gebunden,
obwohl sie auch dessen Entstehung und Funktion zu erklären hätte.
(Ebd., S. 150.)
Alter bestimmt in einer noch unklaren Situation sein Verhalten
versuchsweise zuerst. Er beginnt mit einem freundlichen Blick, einer Geste,
einem Geschenk - und wartet ab, ob und wie Ego die vorgeschlagene Situationsdefinition
annimmt. Jeder darauf folgende Schritt ist dann im Lichte dieses Anfangs
eine Handlung mit kontingenzreduzierenden, bestimmenden Effekt - sei es
nun positiv oder negativ. (Ebd., S. 150.)
Soziale Systeme entstehen ... dadurch, daß beide
Partner doppelte Kontingenz erfahren und daß die Unbestimmtheit
einer solchen Situation für beide Partner jeder Aktivität,
die dann stattfindet, strukturbildende Bedeutung gibt. Das ist mit dem
Grundbegriff der handlung nicht zu fassen. (Ebd., S. 154.)
Ein soziales System baut nicht darauf auf und ist auch nicht darauf
angewiesen, daß diejenigen Systeme, die in doppelter Kontingenz
stehen, sich wechselseitig durchschauen und prognostizieren können.
Das soziale System ist gerade deshalb System, weil es keine basale Zustandsgewißheit
und keine darauf aufbauenden Verhaltensvorhersagen gibt. (Ebd., S. 157.)
Bereits Hegel durchschaute Bedürfnisse als Abstraktion, bereits
Parsons sah sich zur Generalisierung auf »need-dispositions«
gezwungen. Eine auf den Bedürfnisbegriff fundierte Soziologie müßte
daher zunächst einmal klären, woher sie den Mut nimmt, dies
alles zu ignorieren. Naturalismus allein ist jedenfalls noch kein sinnvolles
Programm. (Ebd., S. 159.)
Es wäre vergeblich, nach einem psychischen oder gar organischen
Substrat von so etwas wie Person, Intelligenz, Gedächtnis, Lernen
zu suchen. Es handelt sich um Kunstgriffe von Beobachtern, mit denen Nichtbeobachtbares
gedeutet und auf die emergente Ebene des Zwischensystemkontaktes überführt
wird. (Ebd., S. 159.)
Handlung ist auf Systeme zugerechntete Selektion. Wie immer sie
dann als Wahl unter Alternativen rationalisiert, als Entscheidung dargestellt,
auf Motive bezogen werden mag: zunächst ist sie nichts weiter als
aktualisierte Kontingenz und, vom Beobachter her gesehen, die ins Unberechenbare
gepflanzte Erwartung. (Ebd., S. 160.)
Das System wird in Gang gebracht und orientiert sich daher zunächst
durch die Frage, ob der Partner eine Kommunikation annehmen oder ablehnen
wird, oder auf handlung reduziert: ob eine Handlung ihm nützen
oder schaden wird. Die Position des Eigeninteresses ergibt sich erst
sekundär aus der Art, wie der Partner auf einen Sinnvorschlag reagiert.
Die Verfolgung eigenen Nutzens ist eine viel zu anspruchsvolle Einstellung,
als daß man sie generell voraussetzen könnte (und die entsprechenden
Theorie sind auch sehr spät entwickelte Theorien). Dagegen käme
kein soziales System in Gang, wenn derjenige, der mit Kommunikationen
beginnt, nicht wissen kann oder sich nicht dafür interessieren würde,
ob sein Partner darauf positiv oder negativ reagiert. (Ebd., S. 160.)
»Wie ist soziale Ordnung möglich?« In einer Weise,
die diese Möglichkeit zunächst als unwahrscheinlich vorführt.
Wenn jeder kontingent handelt, also jeder auch anders handeln kann und
jeder dies von sich selbst und den anderen weiß und in Rechnung
stellt, ist es zunächst unwahrscheinlich, daß eigenes Handeln
überhaupt Anknüpfungspunkte (und damit: Sinngebung) im Handeln
anderer findet; denn die Selbstfestlegung würde voraussetzen, daß
andere sich festlegen, und umgekehrt. Zugleich mit der Unwahrscheinlichkeit
sozialer Ordnung erklärt dieses Konzept aber auch die Normalität
sozialer Ordnung; denn unter dieser Bedingung doppelter Kontingenz wird
jede Selbstfestlegung, wie immer zufällig entstanden und wie immer
kalkuliert, Informations- und Anschlußwert für anderes Handeln
gewinnen. Gerade weil ein solches System geschlossen-selbstrefrentiell
gebildet wird, also A durch B bestimmt wird und B durch A, wird jeder
Zufall, jeder Anstoß, jeder Irrtum produktiv. Die Systemgenese setzt
strukturierte Komplexität voraus im Sinne nichtbeliebiger Verteilungen.
Ohne »noise« kein System. Aber unter dieser Bedingung ist
das Entstehen von (wie immer kurzlebiger, wie immer konfliktreicher) Ordnung
normal, wenn für diejenigen, die ihr Handlen festlegen, doppelte
Kontingenz zur Erfahrung gebracht, also eine beidseitig kontingente Ego/Alter-Konstellation
hergestellt werden kann. (Ebd., S. 165-166.)
Auf den ersten Blick mag erstaunen, daß die Verdoppelung
der Unwahrscheinlichkeit (bezogen auf jede spezifische Verhaltenswahl)
zur Wahrscheinlichkeit führt. Es handelt sich also nicht um ein schlicht
lineares Problem der Vermehrung bzw. Verminderung. Wenn zusätzlich
zur eigenen Verhaltensunsicherheit auch die Verhaltenswahl eines anderen
unsicher ist und vom eigenen Verhalten mitabhängt, entsteht die Möglichkeit,
sich genau daran zu orientieren und im Hinblick darauf das eigene Verhalten
zu bestimmen. Es ist mithin die Emergenz eines sozialen Systems, die über
Verdoppelung der Unwahrscheinlichkeit ermöglicht wird und dann die
Bestimmung des je eigenen Verhaltens erleichtert. (Ebd., S. 166.)
Ich lasse mich von Dir nicht bestimmen, wenn Du Dich nicht von
mir bestimmen läßt. Es handelt sich, wie
man sieht, um eine extrem instabile Kernstruktur, die sofort zerfällt,
wenn nichts weiter geschieht. Aber diese Ausgangslage genügt, um
eine Situation zu definieren, die die Möglichkeit in sich birgt,
ein soziales System zu bilden. Diese Situation verdankt ihre Einheit dem
Problem der doppelten Kontingenz: auch sie ist daher nicht auf eines der
beteiligten Systeme zurückzuführen, zugleich aber Kristallisationskern
für ein emergentes System/Umwelt-Verhältnis. Dies soziale System
gründet sich mithin auf Instabilität. Es realisiert sich deshalb
zwangsläufig als autopoietisches System. Es arbeitet mit einer zirkulär
geschlossenen Grundstruktur, die von Moment zu Moment zerfällt, wenn
dem nicht entgegengewirkt wird. Dies geschieht formal durch Enttautologisierung
und, was Energie und Information betrifft, durch Inanspruchnahme von Umwelt.
(Ebd., S. 167.)
Wo liegen Selektionsvorteile, die es wahrscheinlich machen, daß
bestimmte soziale Strukturren eher entstehen als andere?
.... Was taugt ... besonders, wenn es darum geht, in einer offenen
Situation nächste Ereignisse vorzukonstruieren und sie durch Selbst-
und Fremdfestlegung wahrscheinlicher zu machen? In
der Zeitdimension spielt sich der Tempovorteil eine Rolle.
Diejenigen Themen werden bevorzugt, zu denen man schnell etwas beitragen
kann. Selektionsketten, die rascher operieren können, verdrängen
solche, bei denen man erst lange überlegen muß, auf was man
sich einläßt. Darin ist eingeschlossen, daß derjenige,
dem zuerst etwas Operationalisierbares einfällt, im Vorteil ist.
Sachlich und sozial wird es vor allem auf Anschlußfähigkeit
ankommen. Das heißt: als nächstes Ereignis wird dasjenige gewählt,
was schon erkennen läßt, was als übernächstes in
Betracht kommen könnte. Wie schon bei der so umstrittenen Evolution
des Lebens scheinen es also Tempounterschiede und Sequenzbildungen zu
sein, die ermöglichen, daß in Situationen, in dewnen dies zunächst
eher unwahrscheinlich ist, trotzdem Strukturen entstehen. (Ebd., S. 168-169.)
Ego erfährt Alter als alter Ego. Er erfährt mit der
Nichtidentität der Perspektiven aber zugleich die Identität
dieser Erfahrung auf beiden Seiten. Für beide ist die
Situation dadurch unbestimmbar, instabil, unerträglich. In dieser
Erfahrung konvergieren die Perspektiven, und das ermöglicht
es, ein Interesse an Negation dieser Negativität, ein Interesse an
Bestimmung zu unterstellen. Damit ist ... eine Systembildungsmöglichkeit
im Wartestand gegeben, die nahezu jeden Zufall benutzen kann, um Strukturen
zu entwickeln. (Ebd., S.
172.)
Die Realität reagiert auf Probleme, die sich ihr stellen,
durch Selektion. Probleme sind faktisch wirksame Katalysatoren des sozialen
Lebens. Es ist dies die Grundvorstellung, die durch die »Dialektik«
(vielleicht etwas vorschnell) prozessualisiert worden war. Sie wird in
der Systemtheorie zunächst durch Begriffe wie Komplexität, Selbstreferenz,
Sinn angereichert und artikuliert. (Ebd., S. 173.)
Akzeptiert man diese Vorstellung der doppelten Kontingenz als
autokatalytisch wirkendes Problem, hat das tiefgreifende Konsequenzen
für das auf diesen Grundlagen aufgeführte Theoriegebäude.
Die Theorie behandelt eine freischwebend konsolidierte Realität,
ein sich selbst gründendes Unternehmen, und das gibt ihr als Theorie
einen eigentümlichen Stimmungsgehalt, ein besonderes Kolorit. Sie
kann die Haltbarkeit sozialer Ordnung weder auf Natur gründen noch
auf a priori geltende Normen oder Werte. Was tritt an deren Stelle?
(Ebd., S. 174.)
Zeit ist nicht einfach das Maß einer Bewegung, die erkennbar,
berechenbar, machbar und wiederholbar wird in den Maße, als feststeht,
welche Zustände sie in welche andere überführt. Zeit ist
nicht einfach auf Naturgesetze angewiesene Chronologie. Auch ist Zeit
nicht organisiert im Hinblick auf ein gutes Ende, das die Prozesse normalerweise
erreichen. Zeit ist nicht einfach Teleologie. Zeit ist Asymmetrisierung
von Selbstreferenz im Hinblick auf eine Ordnung von Selektionen, und im
sozialen Bereich verzeitlicht sie die doppelte Kontingenz sozialen Handelns
mit den darin spielenden Selbstreferenzen, um zu ermöglichen, daß
unwahrscheinliche Ordnung so gut wie zwangsläufig entsteht, wo immer
doppelte Kontingenz erfahren wird. (Ebd., S. 176.)
Was immer an Bewährungen oder an Anschlußselektionen
anfällt, wird dem System selbst zugerechnet. Alles andere - vor allem
natürlich die immensen Sinnmengen, über die man nie gesprochen
hat - wird pauschal der Umwelt zugewiesen. (Ebd., S. 178.)
Man fängt mit kleinen Risiken an und baut auf Bewährungen
auf; und es erleichtert die Vertrauensgewähr, wenn sie auf beiden
Seiten erforderlich wird, so daß das Vertrauen des einen am Vertrauen
des anderen Halt finden kann. (Ebd., S. 181.)
Insofern ist Vertrauen ein universaler sozialer Tatbestand.
(Ebd., S. 181.)
Der primäre Selbstbezug ist also der der Elemente, die für
selektive Kombination geschaffen und zur Verfügung gestellt werden.
Da diese Selbstrefrenz jedoch über ein alter Ego läuft, also
durch einen dies bestimmte Handeln nicht selbst Vollziehenden vermittelt
wird, ist immer auch eine andere Ebene der Selbstreferenz im Spiel, nämlich
der Bezug auf das soziale System, das die basale Selbstreferenz erst ermöglicht
und auf diese Weise selbst am Handlungsverlauf beteiligt wird. Zur Selbstreferenz
gehört mithin einerseits: daß die Handlung sich selbst in der
Perspektive des alter Ego kontrolliert; und andererseits: daß sie
sich eben damit einem sozialen System zuordnet, in dem dies der Fall ist.
Mit der Konstitution selbstreferentieller Handlungszusammenhänge
entsteht also zugleich eine Selbstreferenz des sozialen Systems, nämlich
die Miteinarbeitung des Geltungsbereichs der doppelten Kontingenz und
seiner sachlichen, zeitlichen und sozialen Grenzen. Als Teilnehmer an
sozialen Situationen kann man dann sehr wohl noch autistisch handeln,
aber nur demonstrativ autistisch und im Miterfassen jener beiden selbstreferentiellen
Zirkel: daß dies erstens die Handlung selbst in Richtung auf Demonstration
deformiert (ob man das nun will oder nicht!) und daß dies zweitens
im sozialen System einen bestimmten Stellenwert gewinnt, Reaktionen auslöst,
Geschichte macht und so für den Akt selbst außer Kontrolle
gerät. So ist die elementare Selbstreferenz Konstitutionsbedingung
für soziale Selbstreferenz und umgekehrt; was nichts anderes besagt
als: Elemente sind Elemente nur im System. (Ebd., S. 183.)
Solange Ego nicht handeln kann, ohne zu wissen, wie Alter handeln
wird, und umgekehrt, ist das System zu wenig bestimmt und dadurch blockiert.
Das heißt für Sinnsysteme aber zugleich: hochsensibel zu sein
für nahezu beliebige Bestimmungen. In dieser Lage wirkt doppelte
Kontingenz, zeitlich gesehen, als Beschleuniger des Systemaufbaus. Aller
Anfang ist leicht. Unbekannte signalisieren sich wechselseitig zunächst
einmal Hinweise auf die wichtigsten Verhaltensgrundlagen: Situationsdefinition,
sozialer Status, Intentionen. Damit beginnt eine Systemgeschichte, die
das Kontingenzproblem mitnimmt und rekonstruiert. (Ebd., S. 184.)
Die Offenheit der Ausgangssituation ist transformiert in Strukturprojektion
und Enttäuschungsrisiko; und dies sowohl im Bezug auf die Umwelt
als auch im Bezug auf das System selbst, beides aber in verschiedener
Weise, so daß im System selbst System und Umwelt unterschieden werden
müssen. (Ebd., S.
185.)
Den gleichen Sachverhalt kann man mit dem systemtheoretischen
Begriff der Konditionierung fassen. Ohne jede Konditionierung von
Zusammenhängen ist keine Systembildung möglich, denn nur durch
Konditionierung läßt sich ein Bereich von Möglichkeiten
gegen anderes abgrenzen. Die reine doppelte Kontingenz konditioniert jedoch
nur kurzschlüssig, nämlich durch Verweis auf Alter, der seinerzeit
sich durch Rückverweisung auf Ego bestimmt. Für ein solches
System wäre, trotz Konditionierung, alles möglich. Die Funktion
der Konditionierung, Möglichkeitsräume abzugrenzen, wäre
nicht erfüllt. Es handelte sich um ein ganz geschlossenes System,
das zugleich ganz offen ist für jede weitere Konditionierung, die
ihn zu einer Einschränkung seiner Möglichkeiten verhilft.
Die doppeltkontingente Konditionierung hat demnach nur die Funktion, für
weitere Konditionierungen sensibel zu machen. Sie schafft Zufallsempfindlichkeit
und setzt damit Evolution in Gang. Ohne sie gäbe es keine sozio-kulturelle
Evolution. (Ebd., S. 185-186.)
Mit Hilfe des Begriffs Konditionierung läßt sich schließlich
das Problem der Reziprozität neu fassen. Auch in der neueren
Soziologie wird Reziprozität immer wieder als Grundbegriff verwendet
oder als Bedingung für Sozialität schlechthin angesehen. Es
handelt sich aber nur um einen (sicherlich weit verbreiteten) Sonderfall
von Konditionierung. Die Leistung des einen wird unter der Bedingung der
Gegenseitigkeit von der Leistung des anderen abhängig gemacht - also
doppelte Kontingenz reduziert auf doppelte Konditionierung. Das hat viele
Vorteile für sich, zum Beispiel den der raschen Einseitigkeit. Aber
im Laufe der Entwicklung komplexerer Gesellschaften kommen auch Nachteile
auf, und Vorteile können in Nachteile umschlagen, wenn die Struktur
der Gesellschaft sich ändert. So ist Reziprozität in hohem Maße
offen für schichtspezifische Wertung der Beiträge. Leistungen
»von oben nach unten« zählen mehr als Leistungen »von
unten nach oben«. Das ermöglicht die Anpassung der Reziprozität
an die Erfordernisse stratifizierter Gesellschaften - und wird zum Störfaktor,
wenn Funktionssysteme ausdifferenziert werden. (Wenn
zum Beispiel der »Souverän« an Reziprozität gebunden
wäre, hätte dies eine ständige Aufkündigung des Gehorsams
zur Folge, wenn nach Meinung Einzelner er seinen Beitrag nicht ordentlich
erbringt. Dies Problem kann, und darauf kommt es an, nicht mehr
durch schichtbezogne Überbewertung seines Beitrags gelöst werden.)
Eine Generalnorm der Reziprozität muß dann ausgedünnt
werden und trifft für viele Handlungsfestlegungen trotzdem nicht
mehr zu. (Ebd., S. 186-187.)
Im Moment interessiert nur, daß und wie die doppelte Kontingenz
artikuliert und dadurch verändert wird. Grund dafür ist letztlich,
daß im Horizont einer solche Kontingenzerfahruing alles, was geschieht,
als Srlektion geschieht und daurch strukturbildend wirkt, wenn und soweit
andere Selektionen sich daruf einlassen. (Ebd., S. 187.)
Die Analyse von doppelten Kontingenz führt also zurück
auf das Thema Selektion. ... Sowohl die Klärung des Begriffs der
Komplexität als auch die Klärung des Sinnbegriffs lassen eine
Art Selektionszwang hervortreten: Immer dann, wenn die Zahl der zu verknüpfenden
Elemente ein geringes Maß überschreitet, und immer dann, wenn
Komplexes in der Form von Sinn erfahren wird, entstehen Selektionsnotwendigkeiten,
entsteht eine faktische Selektivität all dessen, was realisiert wird.
(Ebd., S. 187.)
Kommunikation und Handlung.
Sozialität ist kein besonderer Fall von Handlung, sondern
Handlung wird in sozialen Systemen über Kommunikation und Attribution
konstituiert als eine Reduktion der Komplexität, als unerläßliche
Selbstsimplifikation des Systems. (Ebd., S. 191.)
Der basale Prozeß sozialer Systeme, der die Elemente produziert,
aus denen diese Systeme bestehen, kann ... nur Kommunikation sein. Wir
schließen hiermit also, wie bei der Einführung des Elemetbegriffs
angekündigt (vgl. Kapitel 1, II, 4),
eine psychologische Bestimmung der Einheit der Elemente sozialer Systeme
aus. Wie aber verhält sich dieser Kommunikationsprozeß zu den
Handlungen, den Elementen des Systems, die er produziert? Besteht ein
soziales System letztlich aus Kommunikation oder aus Handlungen? Ist die
letzte Einheit, bei deren Auflösung das Soziale verschwinden würde,
eine erfolgreiche Kopplung verschiedener Selektionen, oder ist es die
als Handlung zurechenbare Einzelselektion? (Ebd., S. 192.)
Die gesamte Metaphorik des Besitzens, Habens, Gebens und Erhaltens,
die gesamte Dingmetaphorik ist ungeeignet für ein Verständnis
von Kommunikation. (Ebd., S. 193.)
Geht man vom Sinnbegriff aus, ist als erstes klar, daß Kommunikation
immer ein selektives Geschehen ist, Sinn läßt keine andere
Wahl als zu wählen. Kommunikation greift aus dem je aktuellen Verweisungshorizont,
den sie selbst erst konstituiert, etwas heraus und läßt
anderes beiseite. Kommunikation ist Prozessieren von Selektion.
(Ebd., S. 194.)
Information ist nach heute geläufigem Verständnis eine
Selektion aus einem (bekannten oder unbekannten) Repertoire von Möglichkeiten.
Ohne diese Selektivität der Information kommt kein Kommunikationsprozeß
zustande (wie immer minimal der Neuigkeitswert des Mitteilungsaustauschs
gehalten werden kann, wenn Kommunikation um ihrer selbst willen oder zur
bloßen Ausfüllung von Leerräumen im Zusammensein durchgeführt
wird). Ferner muß jemand ein Verhalten wählen, das diese Information
mitteilt. Das kann absichtlich oder unabsichtlich geschehen. Entscheidend
ist, daß die dritte Selektion sich auf eine Unterscheidung stützen
kann, nämlich auf die Unterscheidung der Information von ihrer Mitteilung.
Da dies entscheidend ist und Kommunikation nur von hier aus verstanden
werden kann, nennen wir (etwas ungewöhnlich) den Adressaten Ego und
den Mitteilenden Alter. (Ebd., S. 195.)
Kommunikation wird ... als dreistellige Einheit behandelt. Wir
gehen davon aus, daß drei Selektionen zur Synthese gebracht werden
müssen, damit Kommunikation als emergentes Geschehen zustandekommt.
Es ist wichtig, dies ausdrücklich festzuhalten, denn der zu Grunde
liegende Sachverhalt ist oft gesehen, aber dann doch in einer anderen
Begrifflichkeit abgepackt worden. Bühler spricht zum Beispiel von
drei »Leistungen« oder drei »Funktionen« der menschlichen
Sprache, nämlich (ich ändere die Reihenfolge): Darstellung,
Ausdruck und Appell. (Vgl. die Ausführungen
über das »Organon-Modell« der Sprache in: Karl Bühler,
Sprachtheorie, 1934, S. 24 ff..) Die erste Bezeichnung meint
die Selektivität der Information selbst, die zweite die Selektion
ihrer Mitteilung, die dritte die Erfolgserwartung, die Erwartung einer
Annahmeselektion. Das lenkt die Aufmerksamkeit nicht auf Bedingungen der
emergenten Einheit, sondern auf Fragen der relativen Dominanz und des
Wechsels der Dominanz einer der drei Funktionen. Bei Austin nimmt die
gleiche Dreiteilung die Form einer Typologie unterscheidbarer Äußerungen
oder Sprachhandlungen an, nämlich lokutionäre, illokutionäre
und perlokutive Akte (Vgl. John Austin, How to
do Things with Words, 1962, S. 64 ff.. Auch Austin spricht von Funktionen.)
Dadurch wird das Interesse auf Isolierbarkeit der entsprechenden Gestalten
gelenkt. Auch diese Interessen wollen wir nicht ausschließen, halten
sie aber für eher marginal im Vergleich zu der Frage nach den Bedingungen
der Emergenz ihrer Einheit. Die Ausdifferenzierbarkeit von funktionsspezifischen
Akten oder funktionalen Dominanzen des einen oder anderen Selektionshorizonts
ist nur möglich, wenn zuvor schon die Einheit der kommunikativen
Synthese als Normalsachverhalt gesichert ist. (Ebd., S. 196-197.)
Die Zusammenfassung von Information, Mitteilung und Erfolgserwartung
in einem Akt der Aufmerksamkeit setzt »Codierung« voraus.
Die Mitteilung muß die Information duplizieren, sie nämlich
einerseits draußen lassen und sie andererseits zur Mitteilung verwenden
und ihr eine dafür geeignete Zweitform geben, zum Beispiel eine sprachliche
(und eventuell lautliche, schriftliche, etc.) Form. Auf die technischen
Probleme einer solchen Codierung gehen wir nicht näher ein. Soziologisch
wichtig ist vor allem, daß auch dies eine Ausdifferenzierung der
Kommunikationsprozesse bewirkt. Ereignisse müssen nun in codierte
und nichtcodierte unterschieden werden. Codierte Ereignisse wirken im
Kommunikationsprozeß als Information, nichtcodierte als Störung
(Rauschen, noise). (Ebd., S. 197.)
Daß Verstehen ein unerläßliches Moment des Zustandekommens
von Kommunikation ist, hat für das Gesamtverständnis von Kommunikation
eine sehr weittragende Bedeutung. Daraus folgt nämlich, daß
Kommunikation nur als selbstreferentieller Prozeß möglich
ist. (Ebd., S. 198.)
Begreift man Kommunikation als Synthese dreier Selektionen, als
Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen, so ist die Kommunikation
realisiert, wenn und soweit das Verstehen zustandekommt. Alles weitere
geschieht »außerhalb« der Einheit einer elementaren
Kommunikation und setzt sie voraus. Das gilt besonders für eine vierte
Art von Selektion: für die Annahme bzw. Ablehnung der mitgeteilten
Sinnreduktion. Man muß beim Adressaten der Kommunikation das Verstehen
ihres Selektionssinnes unterscheiden vom Annehmen bzw. Ablehnen der Selektion
als Prämisse eigenen Verhaltens. Diese Unterscheidung ist theoretisch
von erheblicher Bedeutung. (Ebd., S. 203.)
Das Verstehen ist jene dritte Selektion, die den Kommunikationsakt
abschließt. (Ebd., S. 203.)
Annehmen und Ablehnen einer zugemuteten und verstandenen Selektion
sind aber nicht Teil des kommunikativen Geschehens; es sind Anschlußakte.
(Ebd., S. 204.)
Mit einer etwas anderen Formulierung kann man auch sagen: Kommunikation
transformiere die Differenz von Information und Mitteilung in die
Differenz von Annahme oder Ablehnung der Mitteilung, sie transformiere
also ein »und« in ein »oder«. Dabei ist nach dem
Theorem der doppelten Kontingenz zu beachten, daß nicht etwa Alter
die eine und Ego die andere Differenz repräsentiert, sondern beide
Differenzen auf beiden Seiten gesehen und gehandhabt werden müssen.
Es handelt sich nicht um einen sozialen Stellungsunterschied, sondern
um eine zeitliche Transformation. Kommunikation ist danach ein völlig
selbständiger, autonomer, selbstreferentiell-geschlossener Vorgang
des Prozessierens von Selektionen, die ihren Charakter als Selektionen
nie verlieren; ein Vorgang der laufenden Formveränderung von Sinnmaterialien,
der Umformung von Freiheit in Freiheit unter wechselnden Konditionierungen,
wobei unter der Voraussetzung, daß die Umwelt komplex genug und
nicht rein beliebig geordnet ist, nach und nach Bewährungserfahrungen
anfallen und in den Prozeß zurückübernommen werden. So
entsteht in epigenetischer Evolution eine Sinnwelt, die ihrerseits unwahrscheinlichere
Kommunikation ermöglicht. (Ebd., S. 205.)
Der differenz- und selektionsorientierte Kommunikationsbegriff
macht Probleme und Schranken kommunikativen Verhaltens verständlich,
die man seit Jahrhunderten beobachtet und beschreibt. Einmal in Kommunikation
verstrickt, kommt man nie wieder ins Paradies der einfachen Seelen zurück
(auch nicht, wie Kleist hoffte, durch die Hintertür). Dies wird typisch
am (erst für die Neuzeit aktuellen) Thema der Aufrichtigkeit vorgeführt.
Aufrichtigkeit ist inkommunikabel, weil sie durch Kommunikation unaufrichtig
wird. Denn Kommunikation setzt die Differenz von Information und Mitteilung
und setzt beide als kontingent voraus. Man kann dann sehr wohl auch über
sich selbst etwas mitteilen, über eigene Zustände, Stimmungen,
Einstellungen, Absichten; dies aber nur so, daß man sich selbst
als Kontext von Informationen vorführt, die auch anders ausfallen
könnten. Daher setzt Kommunikation einen alles untergreifenden, universellen,
unbehebbaren Verdacht frei, und alles Beteuern und Beschwichtigen regeneriert
nur den Verdacht. So erklärt sich auch, daß dies Thema relevant
wird im Zuge einer gesteigerten Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems,
das dann mehr und mehr auf die Eigenart von Kommunikation reflektiert.
Die Unaufrichtigkeit der Aufrichtigkeit wird zum Thema, sobald man die
Gesellschaft erfährt als etwas, was nicht durch Naturordnung, sondern
durch Kommunikation zusammengehalten wird. (Ebd., S. 207.)
Dies Problem ist zunächst als ein anthropologisches registriert
worden; es geht aber auf ein allgemeines kommunikationstheoretisches Paradox
zurück. Man braucht nicht zu meinen, was man sagt (zum Beispiel,
wenn man »guten Morgen« sagt). Man kann gleichwohl nicht sagen,
daß man meint, was man sagt. Man kann es zwar sprachlich ausführen,
aber die Beteuerung erweckt Zweifel, wirkt also gegen die Absicht. Außerdem
müßte man dabei voraussetzen, daß man auch sagen könnte,
daß man nicht meint, was man sagt. Wenn man aber dies sagt, kann
der Partner nicht wissen, was man meint, wenn man sagt, daß man
nicht meint, was man sagt. Er landet beim Paradox des Epimenides. Er kann
es nicht wissen, selbst wenn er sich Mühe gäbe, den Sprecher
zu verstehen; also verliert die Kommunikation ihren Sinn. (Ebd., S. 207-208.)
Die Gründe für dieses Paradox der Inkommunikabilität
liegen darin, daß der Verstehende auf Seiten des Kommunizierenden
Selbstreferenz voraussetzen muß, um an ihr Information und Mitteilung
scheiden zu können. Deshalb wird in jeder Kommunikation die Möglichkeit
mitgeteilt, daß Selbstreferenz und Mitteilung divergieren. Ohne
diesen Hintergrund wäre die Kommunikation nicht zu verstehen, und
ohne Aussicht auf Verständnis würde sie gar nicht stattfinden.
Man kann sich irren, man kann den anderen täuschen; aber man kann
nicht davon ausgehen, daß es diese Möglichkeit nicht gäbe.
(Ebd., S. 208.)
Kommunikation ist zwar, wie schon angedeutet, ohne Mitteilungsabsicht
möglich, wenn es Ego gelingt, eine Differenz von Information und
Mitteilung gleichwohl zu beobachten. Kommunikation ist unter der gleichen
Bedingung auch ohne Sprache möglich, etwa durch ein Lächeln,
durch fragende Blicke, durch Kleidung, durch Abwesenheit und ganz allgemein
und typisch durch Abweichen von Erwartungen, deren Bekanntsein man unterstellen
kann. (Daß im Diskontinuieren oder
Unterbrechen erwarteter Verläufe besondere Kommunikationschancen
stecken, muß für die Evolution ausdifferenzierter Kommunikationsformen
von besonderer Bedeutung gewesen sein. Wir können diese Überlegung
hier nur andeuten. Sie könnte bestätigen, daß Evolution
in der Tat auf komplexitätsfördernde Vorfälle anspricht.)
Immer aber muß die Mitteilung als Selektion, nämlich als Selbstfestlegung
einer Situation mit wahrgenommener doppelter Kontingenz interpretierbar
sein. Es fehlt daher an Kommunikation, wenn beobachtetes Verhalten nur
als Zeichen für etwas anderes aufgefaßt wird. Rasches Gehen
kann in diesem Sinne als Zeichen für Eile beobachtbar sein, so wie
dunkle Wolken als Zeichen für Regen; es kann aber auch als Demonstration
von Eile, Beschäftigtsein, Unansprechbarkeit usw. aufgefaßt
und mit der Absicht, eine solche Auffassung auszulösen, auch produziert
werden. (Ebd., S. 208-209.)
Wir können mithin Intentionalität und Sprachlichkeit
nicht zur finition des Kommunikationsbegriffs verwenden. (Das
entspricht im übrigen ganz herrschender Auffassung, Zu viele wichtige
Phänomene -gerade auch an der absichtsvollen und sprachlichen Kommunikation
selbst, die sehr oft mehr und anderes mitteilt, als in Sprache gefaßt
und beabsichtigt war blieben ausgeblendet, würde man den Kommunikationsbegriff
zu eng definieren. [Deshalb muß man ihn i.w.S. definieren,
nämlich als: »Sprache im weitesten Sinne«. HB.])
Statt dessen stellen wir auf jenes Differenzbewußtsein ab: auf die
in alle Kommunikation eingebaute Differenz von Information und Mitteilung.
Die Kommunikation prozessiert sozusagen diese Differenz. Das macht zugleich
deutlich, wie die Evolution von Sprache möglich ist und was damit
gewonnen wird. Lange zuvor hatte es die Möglichkeit gegeben, etwas
als Zeichen für anderes zu verwerten. Sprache artifizialisiert diese
Möglichkeit, löst sie ab von der Bedingung naturgegebener Regelmäßigkeiten
und kann sie dadurch ins so gut wie Beliebige vermehren. Andererseits
ist bei sprachlicher Kommunikation die Absicht der Kommunikation unbestreitbar
(wenngleich . man oft bestreiten kann, gemeint zu haben, was man gesagt
hat, und demzufolge auch sprachliche Kommunikation benutzen kann, um etwas
absichtlich unabsichtlich mitzuteilen). Darin liegt eine erhebliche Einschränkung
der Kommunikationsmöglichkeiten auf das, was man als Mitteilungsabsicht
vertreten oder notfalls in die Form indirekter, absichtlich unabsichtlicher
Kommunikation bringen kann. Das läßt zugleich die Differenz,
die Eigenselektivität der Mitteilung im Verhältnis zur Selektivität
der Information, schärfer hervortreten. Sprachliche Kommunikation
bedarf also im Hinblick auf soziale Konvenienz verstärkter Kontrolle,
und kontrollieren kann sein Sprachverhalten nur, wer auch schweigen kann.
(Ebd., S. 209.)
Bei sprachlicher Kommunikation tritt denn auch die Abhängigkeit
des Kommunikationsprozesses von der Beobachtungsgabe des Ego und von all
ihren Ambivalenzen zurück. Ego muß die Differenz nicht nur
sehen können, sie wird ihm unzweideutig aufgedrängt. Alter spricht
zu ihm über etwas. Und selbst wenn Alter über sich selbst oder
über sein Sprechen sprechen wollte, er würde immer noch jene
Differenz reproduzieren, nämlich etwas an sich selbst oder an seinem
Sprechen als Information behandeln müssen, die er mitzuteilen wünscht.
Angesichts von Sprachverhalten kann Ego sich also darauf verlassen, daß
die Differenz, die Kommunikation konstituiert, bereits hergestellt ist.
Er kann sich entsprechend entlastet fühlen. Seine Aufmerksamkeit
ist freigestellt für das Verstehen dessen, was gesagt wird.
(Ebd., S. 209-210.)
Man kann dies zusammenfassen in der These, daß Sprache die
Ausdifferenzierung von Kommunikationsprozessen aus einem (wie immer anspruchsvollen,
komplexen) Wahrnehmungskontext ermöglicht. Erst durch Ausdifferenzierung
von Kommunikationsprozessen kann es zur Ausdifferenzierung sozialer Systeme
kommen. Diese bestehen keineswegs nur aus sprachlicher Kommunikation;
aber daß sie auf Grund sprachlicher Kommunikation ausdifferenziert
sind, prägt alles, was an sozialem Handeln, ja an sozialen Wahrnehmungen
sonst noch vorkommt. Zur Ausdifferenzierung trägt nicht nur die besondere
phänomenale Prägnanz, Auffälligkeit und Abgehobenheit des
Sprachverhaltens bei. Ebenso wichtig ist, daß Sprache die Reflexivität
des Kommunikationsprozesses sicherstellt und damit Selbststeuerung ermöglicht.
(Ebd., S. 210.)
Reflexiv sind Prozesse, die auch auf sich selbst angewandt werden
können. Im Falle von Kommunikation heißt dies: daß über
Kommunikation kommuniziert werden kann. Man kann den Kommunikationsverlauf
in der Kommunikation thematisieren, kann fragen und erläutern, wie
etwas gemeint gewesen war, kann um Kommunikation bitten, Kommunikation
ablehnen, Kommunikationszusammenhänge einrichten usw. Zu Grunde liegt
auch hier jeweils die Differenz von Information und Mitteilung; nur daß
im Falle von reflexiver Kommunikation die Kommunikation selbst als Information
behandelt und zum Gegenstand von Mitteilungen gemacht wird. Dies ist ohne
Sprache kaum möglich, da das bloß Wahrgenommene als Kommunikation
nicht eindeutig genug ist für weitere kommunikative Behandlung. Wie
immer, so setzt auch hier das Reflexivwerden eines Prozesses hinreichende
Ausdifferenzierung und funktionale Spezifikation voraus. Erst Sprache
sichert Reflexivität im Sinne einer jederzeit vorhandenen, relativ
problemlos verfügbaren, nicht weiter erstaunlichen Möglichkeit,
den Kommunikationsprozeß auf sich selbst zurückzubeziehen.
(Ebd., S. 210-211.)
Reflexivität kann dann ihrerseits dazu dienen, das Risiko
höherer Komplexität und schärferer Selektivität zu
kompensieren. Man kann unerwartete, ungewöhnliche Mitteilungen wagen,
man kann sich knapper fassen und Verständnishorizonte ungeprüft
voraussetzen, man kann unter völlig Unbekannten kommunizieren, wenn
bei Zweifeln oder Verständigungsschwierigkeiten nachgefragt werden
kann. Man braucht nicht alles schon in der direkten Kommunikation zu leisten,
wenn zusätzlich jene Metaebene zur Verfügung steht, auf der
man über Gelingen oder Mißlingen einer kommunikativen Verständigung
kommunizieren kann. (Ebd., S. 211.)
In sprachlicher Kommunikation ist die reflexive Rückwendung
auf die Kommunikation selbst so leicht verfügbar, daß es besonderer
Sperren bedarf, um sie auszuschließen. Solche Sperren rasten ein
bei bewußt metaphorischem Wort- oder Bildgebrauch, bei beabsichtigten
Zweideutigkeiten, bei Paradoxien, bei humorvollen, witzigen Wendungen.
Solche Sprachformen übermitteln zugleich das Signal, daß eine
Rückfrage nach dem Warum und Wieso keinen Sinn hat. Sie funktionieren
nur im Moment -oder sie funktionieren überhaupt nicht. (Ebd., S. 211.)
Die Überlegung dieses Abschnittes läßt erkennen,
wie Steigerungsverhältnisse zustandekommen. Alles hängt davon
ab, daß eine Ausgangsdifferenz installiert werden kann. Diese liegt
in der Unterscheidung zweier selektiver Ereignisse, Information und Mitteilung,
durch einen Beobachter. Wenn dies gesichert ist, kann weiteres daran anschließen,
können in Bezug darauf Erwartungen gebildet, kann entsprechend spezialisiertes
Verhalten, nämlich Sprechen, entwickelt und codiert werden. Begriffe
können verschieden definiert werden, und speziell für den Kommunikationsbegriff
gibt es große Zahlen recht verschiedenartiger Vorschläge (Merten
a.a.O. stellt in einem Anhang 160 Definitionen des Kommunikationsbegriffs
zusammen). Wir legen eine Fassung zu Grunde, die auf das abstellt,
was Kommunikation erst ermöglicht, nämlich auf eine den Prozeß
konstituierende, ihm Freiheit gebende Differenz. (Ebd., S. 211-212.)
Kommunikation ist koordinierte Selektivität. Sie kommt nur
zustande, wenn Ego seinen Eigenzustand auf Grund einer mitgeteilten Information
festlegt. Kommunikation liegt auch dann vor, wenn Ego die Information
für unzutreffend hält, den Wunsch, über den sie informiert,
nicht erfüllen will, die Norm, auf den sie den Fall bezieht, nicht
befolgen möchte. Daß Ego zwischen Information und Mitteilung
unterscheiden muß, befähigt ihn zur Kritik und gegebenenfalls
zur Ablehnung. Das ändert nichts daran, daß Kommunikation stattgefunden
hat. Im Gegenteil: Wie oben erörtert, ist auch Ablehnung Festlegung
des eigenen Zustandes auf Grund von Kommunikation. In den Kommunikationsvorgang
ist mithin die Möglichkeit der Ablehnung zwingend miteingebaut.
(Ebd., S. 212.)
Hiervon ausgehend können wir ein Elementarereignis von Kommunikation
definieren als kleinste noch negierbare Einheit. Dies ist nicht logisch
gemeint, sondern kommunikationspraktisch. Jeder Satz, jedes Verlangen
eröffnet viele Möglichkeiten der Negation: nicht dies, sondern
das; nicht so; nicht jetzt; usw. Diese Möglichkeiten bleiben als
Sinnverweisungen offen, solange Ego nicht reagiert hat. Die Mitteilung
selbst ist zunächst nur eine Selektionsofferte. Erst die Reaktion
schließt die Kommunikation ab, und erst an ihr kann man ablesen,
was als Einheit zustandegekommen ist. Eben deshalb kann Kommunikation
nicht als Handlung begriffen werden; und dies auch und gerade dann nicht,
wenn man nach der letzten, nicht weiter auflösbaren Einheit fragt.
Wir kommen darauf unter VIII zurück. (Ebd., S. 212.)
Zunächst interessiert, daß Kommunikation nur selten
als eine einzelne Einheit auftritt- als Warnruf; als Hilferuf; als Bitte,
die sofort erfüllt werden kann; als Gruß; als Verständigung
vor der Tür über das Problem, wer zuerst hindurchgeht; als Kauf
einer Kinokarte. Einzelkommunikationen dieser Art sind oft sprachlos,
oft nahezu sprachlos möglich, sind in jedem Falle aber stark kontextgebunden.
Eine stärkere Ausdifferenzierung kommunikativen Geschehens erfordert
die Verknüpfung einer größeren Zahl von Kommunikationseinheiten
zu einem Prozeß -Prozeß hier in dem oben}O bestimmten Sinne
genommen als temporale Verknüpfung einer Mehrheit selektiver Ereignisse
durch wechselseitige Konditionierung. (Wir vergessen
nicht, daß die Einheit der Kommunikation selbst auf einer Verknüpfung
selektiver Ereignisse beruht; aber das ist eine andere Frage) Ausdifferenzierung
erfordert ein Prozessieren von Kommunikation mit Zugang zu neuartigen
Selbstreferenzen. Der Kommunikationsprozeß kann in sich auf sich
selbst reagieren; er kann Gesagtes bei Bedarf wiederholen, ergänzen,
revidieren; er läßt Rede und Gegenrede zu; er kann reflexiv
werden, indem er sich selbst als Kommunikationsprozeß behandelt.
Die Ausdifferenzierung und relative Kontextunabhängigkeit setzt offenbar
geordnete interne Nichtbeliebigkeiten voraus, denn nur so kann sie situative
Verständnisvoraussetzungen abstreifen und aus sich selbst heraus
verständliche Kommunikation ermöglichen. Aber wie kann Kommunikation
überhaupt Prozeß werden? (Ebd., S. 212-213.)
Auch hier scheint wiederum eine besondere, funktionsspezifische
Differenz als Bedingung der Möglichkeit zu fungieren, und zwar die
Differenz von Themen und Beiträgen. Kommunikationszusammenhänge
müssen durch Themen geordnet werden, auf die sich Beiträge zum
Thema beziehen können. Themen überdauern Beiträge, sie
fassen verschiedene Beiträge zu einem länger dauernden, kurzfristigen
oder auch langfristigen Sinnzusammenhang zusammen. Über einige Themen
kann man ewig, über andere fast endlos reden. Auch reguliert sich
über Themen, wer was beitragen kannThemen diskriminieren die Beiträge
und damit auch die Beiträger . So gehört zum Beispiel zu den
Erforderlichkeiten geselliger Kommunikation, Themen zu wählen, zu
denen alle Anwesenden etwas beitragen können: Themen, die niemanden
verlocken, seine Individualität auszureizen, und jedem die Chance
geben, einen hinreichend individuellen Beitrag zu leisten, in dem er selbst
erkennbar wird. (Vgl. Friedrich Schleiermacher,
Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, in: Werke, Band
2, S. 1-31.) (Ebd., S. 213.)
Die Differenz von Themen und Beiträgen ist als »Ebenendifferenz«
noch unzureichend charakterisiert. Inhaltlich wird dadurch Negierbarkeit
reguliert. Einerseits gibt es Thematisierungsschwellen, zum Beispiel im
Hinblick auf Obszönitäten, religiöse Gefühle oder
Bekenntnisse oder überhaupt Konfliktstoff. Andererseits ist das Akzeptieren
des Themas Voraussetzung dafür, daß Beiträge mit negativen
Kommentaren versehen, inhaltlich abgelehnt, korrigiert, modifiziert werden
können. Die Thematisierungsschwellen können gerade deshalb hoch
liegen, weil man beim Akzeptieren des Themas mit zu vielen zu negierenden
Beiträgen zu rechnen hätte. Die Ebenendifferenz löst somit
allzu kompakte und dann unvermeidlich persönlich treffende Negationstendenzen
auf; und es ist kein Zufall, daß die Literatur in der frühen
Neuzeit dies zu beachten beginnt in dem Maße, als die Einzelpersonen
in den Kommunikationszusammenhängen stärker hervortreten.
(Ebd., S. 213-214.)
Themen haben, um Beiträge koordinieren zu können, einen
sachlichen Gehalt: es mag um die Liebschaften einer Schauspielerin, um
Börsenkurse und ihre Erklärung, um ein neues Buch, um die Kinder
von Gastarbeitern gehen. Der Spezialisierung sind keine Grenzen gesetzt
-außer solchen, die sich aus dem Interesse an Fortsetzung der Kommunikation
ergeben. Themen haben aber auch einen zeitlichen Aspekt. Man kann sich
an frühere Beiträge zum Thema erinnern. Themen sind alt oder
neu, schon langweilig oder noch interessant, und all dies möglicherweise
für verschiedene Teilnehmer in verschiedener Weise. Sie erreichen
irgendwann einen Sättigungsgrad, von dem ab neue Beiträge nicht
mehr zu erwarten sind. Ein altes Thema muß dann, um am Leben zu
bleiben, neue Teilnehmer rekrutieren. Ein neues Thema mag dagegen für
viele Teilnehmer zu neu sein, um überhaupt sinnvolle Beiträge
stimulieren zu können (Die Zeitlage von Themen
hat vor allem durch die modernen Medien der Massenkommunikation weitreichende,
wenn nicht ausschlaggebende, die Themenwahl bestimmende Bedeutung gewonnen.).
(Ebd., S. 214-215.)
Schließlich ist, wie das Beispiel »Geselligkeit«
schon angedeutet hat, auch der soziale Aspekt der Themenwahl von Bedeutung.
Damit ist nicht nur Kongenialität gemeint; nicht nur, daß die
Themen den Teilnehmer und ihren Beitragsmöglichkeiten mehr oder weniger
entgegenkommen. Vornehmlich aktualisiert sich die Sozialdimension darin,
daß Kommunikationen als sichtbares Handeln die Teilnehmer mehr oder
weniger binden. Das heißt: daß sie mit Kommunikationen auch
etwas über sich selbst aussagen, über ihre Meinungen, ihre Einstellungen,
ihre Erfahrungen, ihre Wünsche, ihre Urteilsreife, ihre Interessen.
Kommunikation dient auch dem Sichpräsentieren, dem Sichkennenlernen;
und sie kann dann im Effekt dazu führen, daß man in eine Form
gezwungen wird und daß man schließlich das zu sein hat, als
was man in der Kommunikation erschienen war: Der Verführer muß
schließlich lieben. (Ein beliebtes Romanthema.
.... Entsprechende Zeitverschiebungen werden auch in der empirischen Forschung
festgestellt: Der Mann liebt zuerst und romantisch, die Frau etwas später
und dann wirklich.) (Ebd., S. 215.)
Dieser Bindungseffekt tritt verschärft auf, wenn die Kommunika-
, tionsthemen moralische Obertöne annehmen oder gar Moralthe- I men
sind. Die Moral regelt die Bedingungen wechselseitiger Ach- i tung bzw.
Mißachtung. (So jedenfalls ein soziologischer
Moralbegriff.) Mit Themen, die sich zur Moralisierung von Kommunikation
eignen, kann man daher Achtung provozieren; man kann sich selbst als achtungswürdig
vorführen und anderen den Widerspruch schwermachen; man kann testen,
ob jemand Achtung verdient; man kann versuchen, andere im Netz der Ach-
I tungsbedingungen zu fangen, um sie dann im Netz abzuschleppen; I man
kann aber auch andere"zu moralischen Selbstbindungen verführen,
um sie dann damit im Stich zu lassen; man kann Moralisierungen auch benutzen,
um zu zeigen, daß man auf die Achtung bestimmter Partner keinen
Wert legt. Je nachdem, wieviel Freiheit im Umgang mit Moral die Gesellschaft
ermöglicht (*), kann Moral eher Durkheimsch
zur Solidaritätsverstärkung dienen oder Kritik, Distanzgewinne
und Konflikte akzentuieren. (* Dies ist zum Teil
(und für das bürgerliche Denken primär) eine Frage der
Differenzierung von Moral und Recht; zum Teil aber auch eine Frage der
sozialen Mobilität, der Leichtigkeit und relativen Folgenlosigkeit
von Kontaktabbrüchen.) (Ebd., S. 215-216.)
Themen dienen also als sachlich-zeitlich-soziale Strukturen des
Kommunikationsprozesses, und sie fungieren dabei als Generalisierungen
insofern, als sie nicht festlegen, welche Beiträge wann, in welcher
Reihenfolge und durch wen erbracht werden. Auf der Ebene von Themen lassen
sich deshalb Sinnbezüge aktualisieren, die an der Einzelkommunikation
kaum sichtbar zu machen wären. Deshalb ist Kommunikation schließlich
typisch, wenngleich nicht notwendig, ein durch Themen gesteuerter Prozeß.
Zugleich sind Themen Reduktionen der durch Sprache eröffneten Komplexität.
Die bloße Sprachrichtigkeit der Formulierungen besagt nicht genug.
Erst an Hand von Themen kann man die Richtigkeit eigenen und fremden kommunikativen
Verhaltens im Sinne eines Zum-Thema-Passens kontrollieren. Insofern sind
Themen gleichsam die Handlungsprogramme der Sprache. Wenn es dann nur
noch um die beste Art geht, Mäuse in Mausefallen zu fangen, kann
man immer noch eine ganze Menge beitragen, aber nicht mehr Beliebiges;
und man ist durch das Thema genug vororientiert, um seine Beiträge
rasch wählen und das Passen der Beiträge anderer kontrollieren
zu können; man kann an Hand der Qualen, die die Mäuse erleiden,
die moralische Sensibilität der Teilnehmer testen und das Thema wechseln,
wenn man den Eindruck hat, daß es für einen selbst und für
die übrigen Teilnehmer erschöpft ist. (Ebd., S. 216.)
Themen sind ablehnbar, Beiträge sind ablehnbar. Darüber
hinaus muß man bei aller Kommunikation mit einer mehr oder weniger
großen Verlustquote rechnen, mit Unverständlichkeiten, mit
Ausschußproduktion. Dies sind jedoch tragbare Schwierigkeiten, nur
Restbestände einer viel tieferliegenden Problematik. Wir müssen,
nachdem wir skizziert haben, wie Kommunikation funktioniert, nun sehr
viel radikaler fragen, wie dieses Normalfunktionieren überhaupt möglich
ist. (Ebd., S. 216-217.)
Gesehen im Kontext evolutionärer Errungenschaften muß
kommunikativer Erfolg als zunächst äußerst unwahrscheinlich
gelten4I. Kommunikation setzt für sich bestehende Lebewesen mit je
eigener Umwelt und je eigenem Informationsverarbeitungsapparat voraus.
jedes Lebewesen sichtet und bearbeitet, was es wahrnimmt, für sich.
Wie ist unter solchen Umständen Kommunikation, das heißt koordinierte
Selektivität, überhaupt möglich? Diese Frage wird durch
unsere Erweiterung des Kommunikationsbegriffs von zweistelliger auf dreisteilige
Selektion noch verstärkt. Es geht nicht nur darum, daß Lebewesen
sich aufeinander abstimmen; es geht nicht nur um einfache Kopplung ihres
Verhaltens wie beim Tanz. Sie müssen Abstimmung suchen und finden
im Hinblick auf Weltsachverhalte, die kontingent, also auch anders möglich
sind. Wenn schon die Überwindung der doppelten Kontingenz unsicher
ist, wie kann dann diese Unsicherheit eingesetzt werden, um Sicherheit
über unsichere Weltsachverhalte zu gewinnen? Wie ist, anders gefragt,
Kommunikation als Informationsverarbeitung überhaupt möglich?
(Ebd., S. 217.)
Fragt man genauer nach, stößt man auf eine Mehrzahl
von Problemen, ein Mehrzahl von Hindernissen, die die Kommunikation überwinden
muß, damit sie überhaupt zustandekommen kann. (Ebd., S. 217.)
Versetzt man sich auf den Nullpunkt der Evolution zurück,
so ist zunächst unwahrscheinlich, daß Ego überhaupt versteht,
was Alter meint- gegeben die Trennung und Individualisierung ihrer Körper
und ihres Bewußtseins. Sinn kann nur kontextgebunden verstanden
werden, und als Kontext fungiert für jeden zunächst einmal das,
was sein eigenes Wahrnehmungsfeld und sein eigenes Gedächtnis bereitstellt.
Ferner schließt, wie oben schon beiläufig festgehalten, Verstehen
immer auch Mißverstehen ein, und die Mißverstehenskomponente
wird, wenn man sich nicht auf zusätzliche Voraussetzungen stützen
kann, so hoch sein, daß eine Weiterführung der Kommunikation
unwahrscheinlich wird. (Das Problem wiederholt sich in jeder Anspruchslage
der Kommunikation, nicht zuletzt in den Theoriediskussionen der Soziologie.
) (Ebd., S. 217-218.)
Die zweite Unwahrscheinlichkeit bezieht sich auf das Erreichen
von Adressaten. Es ist unwahrscheinlich, daß eine Kommunikation
mehr Personen erreicht, als in einer konkreten Situation anwesend sind;
und diese Unwahrscheinlichkeit wächst, wenn man zusätzlich die
Anforderung stellt, daß die Kommunikation unverändert weitergegeben
wird. Das Problem liegt in der räumlichen und in der zeitlichen Extension.
Das Interaktionssystem der jeweils Anwesenden garantiert in praktisch
ausreichendem Maße Aufmerksamkeit für Kommunikation. Über
die Grenzen des Interaktionssystems hinaus können die hier geltenden
Regeln jedoch nicht erzwungen werden. Selbst wenn die Kommunikation transportable
und zeitbeständige Sinnträger findet, wird es jenseits von Interaktionsgrenzen
unwahrscheinlich, daß sie überhaupt Aufmerksamkeit findet.
Anderswo haben Leute etwas anderes zu tun. (Ebd., S. 218.)
Die dritte Unwahrscheinlichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit des
Erfolgs. Selbst wenn eine Kommunikation von dem, den sie erreicht,
verstanden wird, ist damit noch nicht gesichert, daß sie auch angenommen
und befolgt wird. Im Gegenteil: »Jedes ausgesprochene Wort erregt
den Gegensinn«. Erfolg hat die Kommunikation nur, wenn Ego den selektiven
Inhalt der Kommunikation (die Information) als Prämisse eigenen Verhaltens
übernimmt. Annehmen kann bedeuten: Handeln nach entsprechenden Direktiven,
aber auch Erleben, Denken, weitere Informationen Verarbeiten unter der
Voraussetzung, daß eine bestimmte Information zutrifft. Kommunikativer
Erfolg ist: gelungene Kopplung von Selektionen. (Ebd., S. 218.)
Diese drei Unwahrscheinlichkeiten sind nicht
nur Hindemisse für das Ankommen einer Kommunikation, nicht nur Schwierigkeiten
der Zielerreichung, sie wirken zugleich als Schwellen der Entmutigung.
Wer eine Kommunikation für aussichtslos hält, unterläßt
sie. Man muß daher zunächst erwarten, daß Kommunikation
überhaupt nicht vorkommt oder, wenn sie vorkommt, durch Evolution
rwieder eliminiert wird. Ohne Kommunikation können sich jedoch keine
sozialen Systeme bilden. Man müßte also Entropie erwarten,
aber das Gegenteil trifft zu. Das Unwahrscheinlichkeitstheorem ist damit
nicht widerlegt, es zeigt um so präziser an, wo die Probleme liegen,
deren Lösung im Laufe der Evolution Kommunikation ermöglicht,
Systembildung in Gang setzt, Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches transformiert.
Die immanenten Unwahrscheinlichkeiten des Kommunikationsprozesses und
die Art, wie sie überwunden und in Wahrscheinlichkeiten transformiert
werden, regeln zugleich den Aufbau sozialer Systeme. Man hat den Prozeß
soziokultureller Evolution zu begreifen als Umformung und Erweiterung
der Chancen für aussichtsreiche Kommunikation, als Konsolidierung
von Erwartungen, um die herum die Gesellschaft dann ihre sozialen Systeme
bildet; und es liegt auf der Hand, daß dies nicht einfach ein Wachstumsprozeß
ist, sondern ein selektiver Prozeß, der bestimmt, welche Arten sozialer
Systeme möglich werden, wie Gesellschaft sich gegen bloße Interaktion
absetzt und was als zu unwahrscheinlich ausgeschlossen wird. (Ebd.,
S. 218-219.)
Man erkennt eine Art von Struktur in dieser evolution ären
Selektion, wenn man sieht, daß jene Unwahrscheinlichkeiten sich
nicht einfach nach und nach abarbeiten und Stück für Stück
in ausreichende Wahrscheinlichkeit transformieren lassen. Sie verstärken
und limitieren sich vielmehr wechselseitig. So bietet die Geschichte Ider
soziokulturellen, auf Kommunikation gegründeten Evolution denn auch
nicht das Bild eines zielstrebigen Fortschritts zu immer besserer Verständigung.
Eher könnte man sie als eine Art hydraulisches Geschehen der Repression
und Verteilung von Problemdruck begreifen. Wenn eines der Probleme gelöst
ist, wird die Lösung der anderen um so unwahrscheinlicher. Die unterdrückte
Unwahrscheinlichkeit weicht sozusagen in die anderen Probleme aus. Wenn
Ego eine Kommunikation richtig versteht, hat er um so mehr Gründe,
sie abzulehnen. Wenn die Kommunikation den Kreis der Anwesenden überschreitet,
wird das Verstehen schwieriger und das Ablehnen leichter; es fehlt die
Deutungshilfe und der Annahmedruck der konkreten Interaktion. Diese Probleminterdependenz
wirkt ihrerseits selektivauf das, was als Kommunikation durchkommt und
sich bewährt. Sobald alphabetisierte Schrift es ermöglicht,
Kommunikationen über den zeitlich und räumlich begrenzten Kreis
der Anwesenden hinauszutragen, kann man sich nicht mehr auf die mitreißende
Kraft mündlicher Vortragsweise verlassen; man muß stärker
von der Sache selbst her argumentieren. Dem scheint die »Philosophie«
ihren Ursprung zu verdanken. Sie ist »sophia« als das Geschick,
das erforderlich ist, um in einer so angespannten Lage doch noch ernsthafte,
bewahrenswerte und, auf die Reichweite des Alphabets bezogen, universelle
Kommunikation zu ermöglichen. (Ebd., S. 219-220.)
Diejenigen evolutionären Errungenschaften, die an jenen Bruchstellen
der Kommunikation ansetzen und funktionsgenau dazu dienen, Unwahrscheinliches
in Wahrscheinliches zu transfortnieren, wollen wir Medien nennen.
(Wie häufig, wenn eine umfassendere Theorie
Teilstücke aus der bisherigen Forschung zusammenschließt, treten
auch hier Terminologieprobleme auf. Der Ausdruck Medien« ist vor
allem in der Forschung über Massenkommunikation geläufig und
in dieser Verwendung popularisiert worden. Daneben gibt es den spiritualistischen
Gebrauch, bezogen auf Kommunikation mit ungewöhnlichen Partnern,
ferner den Gebrauch innerhalb der Parsons'schen Theorie, bezogen auf Tauschvermittlung.
Wir schlagen im Text eine eigenwillige, rein funktionale Neufassung vor.)
In Entsprechung zu den drei Arten der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation
muß man drei verschiedene Medien unterscheiden, die einander wechselseitig
ermöglichen, limitieren und mit Folgeproblemen belasten. Das Medium,
das das Verstehen von Kommunikation weit über das Wahrnehmbare hinaus
steigert, ist die Sprache. Sprache ist ein Medium, das sich durch
Zeichengebrauch auszeichnet. Sie benutzt akustische bzw. optische Zeichen
für Sinn. (Hiervon ist die oben S. 137 behandelte
Funktion der Sprache für die Generalisierung der Selbstreferenz von
Sinn zu unterscheiden, wenngleich in der Evolution beides nur zusammen
entstehen kann. [Vgl. S. 217-218. Nach meinem gut begründeten Dafürhalten
ist Sprache unzweifelhaft ein System! HB.]) Das führt in Komplexitätsprobleme,
die durch Regeln für den Zeichengebrauch, durch Reduktion der Komplexität,
durch Eingewöhnung einer begrenzten Kombinatorik gelöst werden.
Der Grundvorgang bleibt jedoch die Regulierung der Differenz von Mitteilungsverhalten
und Information. Als Zeichen gefaßt, kann diese Differenz der Kommunikation
von Alter und Ego zu Grunde gelegt werden, und beide können durch
gleichsinnigen Zeichengebrauch in der Meinung bestärkt werden, dasselbe
zu meinen. Es handelt sich demnach um eine ganz spezielle Technik mit
der Funktion, das Repertoire verständlicher Kommunikation ins
praktisch Unendliche auszuweiten und damit sicherzustellen, daß
nahezu beliebige Ereignisse als Information erscheinen und bearbeitet
werden können. Die Bedeutung dieser Zeichentechnik ist kaum zu überschätzen.
Sie beruht jedoch auf funktionaler Spezifikation. Man muß deshalb
auch ihre Grenzen sehen. Weder ist Sinn als solcher ein Zeichen noch erklärt
die Zeichentechnik der Sprache, welche Selektion von Zeichen im Kommunikationsprozeß
Erfolg hat. (Ebd., S. 220-221.)
Auf Grund von Sprache haben sich Verbreitungsmedien, nämlich
Schrift, Druck und Funk entwickeln lassen. Sie beruhen auf einer inkongruenten
Dekomposition und Rekombination von sprachlich nicht weiter auflösbaren
Einheiten. (Dies gilt ganz besonders für die
Perfektion der Schrift durch das Alphabet) Erreicht wird damit
eine immense Ausdehnung der Reichweite des Kommunikationsprozesses, die
ihrerseits zurückwirkt auf das, was sich als Inhalt der Kommunikation
bewährt. Die Verbreitungsmedien seligieren durch ihre eigene Technik,
sie schaffen eigene Erhaltungs-, Vergleichs- und Verbesserungsmöglichkeiten,
die aber jeweils nur auf Grund von Standardisierungen benutzt werdenkönnen.
Dadurch wird, verglichen mit mündlicher, interaktions- und gedächtnisgebundener
Überlieferung, immens ausgeweitet und zugleich eingeschränkt,
welche Kommunikation als Grundlage für weitere Kommunikationen dienen
kann. (Ebd., S. 221.)
Mit all diesen Entwicklungen von Sprach- und Verbreitungstechnik
wird erst recht zweifelhaft, welche Kommunikation überhaupt Erfolg
haben, das heißt zur Annahme motivieren kann. Bis weit in die Neuzeit
hinein hat man auf gesteigerte Unwahrscheinlichkeit mit forcierten Bemühungen
um eine Art Persuasivtechnik reagiert, so um Eloquenz als Erziehungsziel,
um Rhetorik als besondere Kunstlehre, um Disputation als Konflikt- und
Durchsetzungskunst. Selbst die Erfindung des Buchdrucks hat diese Bemühungen
nicht obsolet werden lassen, sondern eher noch verstärkt. Der Erfolg
lag jedoch nicht in dieser eher konservativen Richtung, sondern in der
Entwicklung von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien,
die funktionsgenau auf dieses Problem bezogen sind. (Ebd., S. 221-222.)
Als symbolisch generalisiert wollen wir Medien bezeichnen, die
Generalisierungen verwenden, um den Zusammenhang von Selektion und Motivation
zu symbolisieren, das heißt: als Einheit darzustellen. Wichtige
Beispiele sind: Wahrheit, Liebe, Eigentum/Geld, Macht/Recht; in Ansätzen
auch religiöser Glaube, Kunst und heute vielleicht zivilisatorisch
standardisierte »Grundwerte«. Auf sehr verschiedene Weise
und für sehr verschiedene Interaktionskonstellationen geht es in
all diesen Fällen darum, die Selektion der Kommunikation so zu konditionieren,
daß sie zugleich als Motivationsmittel wirken, also die Befolgung
des Selektionsvorschlages hinreichend sicherstellen kann. Die erfolgreichste/folgenreichste
Kommunikation wird in der heutigen Gesellschaft über solche Kommunikationsmedien
abgewickelt, und entsprechend werden die Chancen zur Bildung sozialer
Systeme auf die entsprechenden Funktionen hindirigiert. Die weitere Erörterung
muß der Gesellschaftstheorie überlassen bleiben. Die allgemeine
Theorie sozialer Systeme und ihrer kommunikativen Prozesse kann aber dazu
dienen, auf den hochselektiven Charakter dieser funktional privilegierten
Kommunikationsweisen aufmerksam zu machen. (Ebd., S. 222.)
Sprache, Verbreitungsmedien und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
sind mithin evolutionäre Errungenschaften, die, in Abhängigkeit
voneinander, die Informationsverarbeitungsleistungen begründen und
steigern, die durch soziale Kommunikation erbracht werden können.
Auf diese Weise produziert und reproduziert sich Gesellschaft als soziales
System. Wenn einmal Kommunikation in Gang gebracht und in Gang gehalten
worden ist, ist die Bildung eines sie begrenzenden Sozialsystems unvermeidlich;
und aus der Entwicklung sozialer Systeme ergeben sich diejenigen Stützbedingungen,
die es ermöglichen, im Bezug auf an sich Unwahrscheinliches Erwartungen
zu bilden und das Unwahrscheinliche damit ins hinreichend Wahrscheinliche
zu transformieren. Auf der Ebene sozialer Systeme ist dies ein streng
autopoietischer Prozeß, der das selbst produziert, was ihn ermöglicht.
(Ebd., S. 222-223.)
Die Entwicklung dieser Medien betrifft nicht nur ein äußeres
»Mehr« an Kommunikation, sie verändert auch die Art und
Weise der Kommunikation selbst. Man kann den Ansatzpunkt der Veränderung
fassen, wenn man bedenkt, daß Ko!Ilmunikation die Erfah,rung der
Differenz von Mitteilung und Information voraussetzt. Diese Differenzerfahrung
ist nicht unbedingt als eindeutiges Faktum gegeben, sie kann mehr oder
weniger deutlich vorliegen. Nur SO- ist eine allmähliche Evolution
in Richtung auf Ausdifferenzierung spezifisch kommunikativer (sozialer)
Systeme möglich. An diesem Ansatzpunkt wirken die Medien auf die
sozio-kulturelle Evolution ein. Mündliches Sprechen in Interaktion
unter Anwesenden und die spätere Hochstilisierung dieses Sprechens
zum oratorisch gewandten Reden setzen zwar einen Gegenstand der Rede voraus
(und, wie man in den Rhetorik-Schulen lehrt: Sachkunde in Bezug auf diesen
Gegenstand), aber sie können Mitteilung und Rede zur Wirkungseinheit
verschmelzen, können Mangel an Information durch mitreißende
Rede ausgleichen, können Sprechen und Hören und Annehmen rhythmisch-rhapsodisch
synchronisieren, buchstäblich keine Zeit lassend für Zweifel.
Erst die Schrift erzwingt eine eindeutige Differenz von Mitteilung und
Information, und der Buchdruck verstärkt dann nochmals den Verdacht,
der sich aus der Sonderanfertigung der Mitteilung ergibt: daß sie
eigenen Motiven folgt und nicht nur Dienerin der Information ist. Erst
Schrift und Buchdruck legen es nahe, Kommunikationsprozesse anzuschließen,
die nicht auf die Einheit von Mitteilung und Infor- J mation, sondern
gerade auf ihre Differenz reagieren: Prozesse der Wahrheitskontrolle,
Prozesse der Artikulation eines Verdachtes mit anschließender Universalisierung
des Verdachts in psychoanalytischer und/oder ideologischer Richtung.
(Ebd., S. 223-224.)
Schrift und Buchdruck erzwingen also die Erfahrung der Differenz,
die Kommunikation konstituiert: Sie sind in diesem genauen Sinne kommunikativere
Formen der Kommunikation, und sie veranlassen damit Reaktion von Kommunikation
auf Kommunikation in einem sehr viel spezifischeren Sinne, als dies in
der Form mündlicher Wechselrede möglich ist. (Die
übliche Auffassung denkt genau umgekehrt, weil sie Kommunikation
teleologisch interpretiert als angelegt auf Übereinstimmung. Dann
muß natürlich mündliche Wechselrede [Dialog, Diskurs]
als Idealform erscheinen und alle Technisierung der Kommunikation durch
Schrift und Druck als Verfallserscheinung oder als Notbehelf.)
In diesen Überlegungsgang muß schließlich die Differenz
von Themen und Beiträgen wiedereingeführt werden, die wir im
vorigen Abschnitt vorgestellt haben. Sie ist Voraussetzung dafür,
daß elementare Kommunikationsereignisse sich überhaupt zu Prozessen
mit geordneter, ausdifferenzierter Selektivität formieren. Die gesellschaftliche
Reproduktion von Kommunikation muß danach über die Reproduktion
von Themen laufen, die ihre Beiträge dann gewissermaßen selbst
organisieren. Die Themen werden nicht jeweils fallweise neugeschaffen,
sind aber andererseits auch nicht durch die Sprache, etwa als Wortschatz,
in ausreichender Prägnanz vorgegeben, (denn die Sprache behandelt
alle Wörter gleich und disponiert noch nicht über die Themafähigkeit
in kommunikativen Prozessen). Es wird demnach ein dazwischenliegendes,
Interaktion und Sprache vermittelndes Erfordernis geben- eine Art Vorrat
möglicher Themen, die für rasche und rasch verständliche
Aufnahme in konkreten kommunikativen Prozessen bereitstehen. Wir nennen
diesen Themenvorrat Kultur (*) und,
wenn er eigens für Kommunikationszwecke aufbewahrt wird, Semantik.
Ernsthafte, bewahrenswerte Semantik ist mithin ein Teil der Kultur, nämlich
das, was uns die Begriffs- und Ideengeschichte überliefert. (*
Auf eine Diskussion dieses Kulturbegriffs im Vergleich zu anderen können
wir uns an dieser Stelle nicht einlassen. Der terminologische Vorschlag
im Text entfernt sich nicht allzu weit vom üblichen Sprachgebrauch.
Archäologen würden gewiß auch Mausefallen selbst als Kultur
ansehen, wir dagegen nur die im Objekt reproduzierte Möglichkeit,
sie zum Gegenstand von Kommunikation zu machen.) Kultur ist kein
notwendig normativer Sinngehalt, wohl aber eine Sinnfestlegung (Reduktion),
die es ermöglicht, in themenbezogener Kommunikation passende und
nichtpassende Beiträge oder auch korrekten bzw. inkorrekten Themengebrauch
zu unterscheiden. (Ebd., S. 224-225.)
Diese terminologische Vereinfachung einer komplexen theoretischen
Ableitung ermöglicht es, Fragestellungen zu formulieren, die es mit
dem Verhältnis von Kultur (bzw. enger: Semantik) und Systemstrukturen
in der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun haben. Um hierbei zu historisch
verwertbaren Aussagen zu kommen, müßte der Hypothesenapparat
jedoch sehr viel stärker angereichert werden, als dies auf der Ebene
einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme möglich ist. Es muß
uns hier genügen, die Ausgangspunkte zu markieren. (Ebd., S. 225.)
Am Anfang dieses Kapitels hatten wir die Frage aufgeworfen, was
eigentlich letztes, für soziale Systeme nicht weiter auflösbares
EIement für Relationierungen ist: Handlung oder Kommunikation? Zu
dieser Frage kehren wir jetzt zurück. Wir werden versuchen, sie durch
eine Klärung des Verhältnisses von Kommunikation und . Handlung
zu beantworten, und wir werden dabei zugleich zu klären versuchen,
wie die Elemente sozialer Systeme konstituiert werden. (Ebd., S. 225.)
Als Ausgangspunkt ist festzuhalten, daß Kommunikation nicht
als Handlung und der Kommunikationsprozeß nicht als Kette von Handlungen
begriffen werden kann. Die Kommunikation bezieht mehr selektive Ereignisse
in ihre Einheit ein als nur den Akt der Mitteilung. Man kann den Kommunikationsprozeß
deshalb nicht voll erfassen, wenn man nicht mehr sieht als die Mitteilungen,
von denen eine die andere auslöst. In die Kommunikation geht immer
auch die Selektivität des Mitgeteilten, der Information, und die
Selektivität des Verstehens ein, und gerade die Differenzen, die
diese Einheit ermöglichen, machen das Wesen der Kommunikation aus.
(Ebd., S. 225-226.)
Hinzukommt, daß in sozialen Systemen, die durch Kommunikation
gebildet werden, nur Kommunikation als Mittel der Auflösung von Elementen
zur Verfügung steht. Man kann Aussagen analysieren, in zeitliche,
sachliche und soziale Sinnbezüge weiterverfolgen, kann im Detail
immer kleinere Sinneinheiten bilden bis in die endlose Tiefe des Innenhorizontes
hinein -aber all dies immer nur durch Kommunikation, also in sehr zeitaufwendiger
und sozial anspruchsvoller Weise. Dem sozialen System steht keine andere
Weise der Zerlegung zur Verfügung, es kann nicht auf chemische, nicht
auf neurophysiologische, nicht auf mentale Prozesse zurückgreifen
(obwohl all diese existieren und mitwirken). Anders gesagt: die Konstitutionsebene
der Kommunikation kann nicht unterschritten werden, sie steht für
ein je nach Bedarf immer weiter zu treibendes Auflösen zur Verfügung,
aber sie kann die Form ihrer Einheitsbildung, das Verschmelzen von Information,
Mitteilung , und Verstehen nicht aufgeben, ohne ihre Operation zu beenden.
Und daraus ergibt sich auch, daß die sozialen Systeme, die durch
Kommunikation als Kommunikationssysteme gebildet werden, regulieren, in
welche Richtung und wie weit Kommunikation getrieben werden kann, ohne
langweilig zu werden!'. Es gibt mithin einen eigenen Kommunikationshorizont,
der ein Fortschreiten ermöglicht, aber nie erreicht wird und schließlich
die Kommunikation abbremst und stoppt, wenn sie zu weit geht. (Ebd., S. 226.)
Die wichtigste Konsequenz dieser Analyse ist: daß Kammunikation
nicht direkt beabachtet, sandern nur erschlossen werden kann. (ier
dürfte denn auch der Grund dafür liegen, daß Soziologen
lieber vom Handlungsbegriff als vom Kommunikationsbegriff ausgehen.)
Um beobachtet werden oder um sich selbst beobachten zu können, muß
ein Kommunikationssystem deshalb als Handlungssystem ausgeflaggt werden.
Auch die mitlaufende Selbstkontrolle, von der wir oben gesprochen hatten,
funktioniert nur, wenn man am Anschlußhandeln ablesen kann, ob man
verstanden worden ist oder nicht. (Ebd., S. 226.)
Außerdem ist Kommunikation, wenn man nicht schon Handlung
hineiliest, ein symmetrsiches Verhältnis mehrerer Selektionen. Auch
das wird durch die Übertragungsmetaphorik verdeckt. Kommunikation
ist symmetrisch insofern, als jede Selektion die anderen führen kann
und die Führungsverhältnisse laufend umgekehrt werden können.
Mal liegt der Engpaß und der Schwerpunkt in dem, was verstanden
werden kann; dann wieder sind neue Inforamtionen vordringlich wichtig,
und bald darauf schlägt das Mitteilungsbedürfnis als solche
durch. Es gibt also keine ein für allemal festliegende Richtung der
Selektinsverstärkung. Die Verhältnisse sind reversibel und insofern
hochgradig anpssungsfähig. Erst durch Einbau eines Handlungsverstäündnisses
in das kommunikative Geschehen wird die Kommunikkation asymmetrisiert,
erst dadurch erhält sie eine Richtung vom Mitteilenden auf den Mitteilungsempfänger,
die nur dadurch umgekehrtwerden kann, daß der Mitteilungsempfänger
seinerseits etwas mitzuteilen, also zu handeln beginnt. (Ebd., S. 227.)
Entsprechend der Unterscheidung von Information und Mitteilung
wird Handeln in zwei verschiedenen Kontexten sozial konstituiert: als
Information bzw. als Thema einer Kommunikation oder als Mitteilungshandeln.
Es gibt, anders gesagt, sehr wohl nichtkommunikatives Handeln, über
das die Kommunikation sich nur informiert. Auch dessen soziale Relevanz
wird jedoch durch Kommunikation vermittelt. kommunikationssystemen steht
es frei, über Handlungen oder über etwas anderes zu kommunizieren;
sie müssen jedoch das Mitteilen selbst als Handeln auffassen, und
nur in diesem Sinne wird Handeln zur notwendigen Komponente der Selbstreproduktion
des Systems von Moment zu Moment. Deshalb ist es nie falsch, wohl aber
einseitig, wenn ein Kommunikationssystem sich selbst als Handlungssystem
auffaßt. Erst durch Handlung wird Kommunikation als einfaches Ereignis
an einem Zeitpunkt fiixiert. (Ebd., S. 227.)
Auf der Basis des Grundgeschehens Kommunikation und mit ihren
operativen Mitteln konstituiert sich ein soziales System demnach als Handlungssystem.
Es fertigt in sich selbst eine Beschreibung von sich selbst an, um den
Fortgang der Prozesse, die Reproduktion des Systems zu steuern. Für
Zwecke der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung wird die Symmetrie
der Kommunikation asymmetrisiert, wird ihre offene Anregbarkeit durch
Verantwortlichkeit für Folgen reduziert. Und in dieser verkürzten,
vereinfachten, dadurch leichter faßlichen Selbstbeschreibung dient
Handlung, nicht Kommunikation, als Letztelement. (Ebd., S. 227-228.)
Handlungen werden durch Zurechnungsprozesse konstituiert. Sie
kommen dadurch zustande, daß Selektionen, aus welchen Gründen,
in welchen Kontexten und mit Hilfe welcher Semantiken (»Absicht«,
»Motiv«, »Interesse«)
immer, auf Systeme zugerechnet werden. (Für
die »Interesse«-Terminologie hat zumindest die historische
Forschung gezeigt, daß sie nicht aus Interesse am Subjektiven, sondern
aus Interesse an objektiver Berechenbarkeit entwickelt worden ist.)
Daß dieser Handlungsbegriff keine ausreichende Kausalerklärung
des Handeins vermittelt, schon weil er Psychisches außer Acht läßt,
liegt auf der Hand. (Wir reagieren damit theoriegeschichtlich
natürlich auf die Problematik, die in Max Webers Absicht liegt, Handeln
durch Verstehen der Intentionen zu erklären.) Es kommt in
der hier gewählten Begriffsbildung darauf an, daß Selektionen
auf Systeme, nicht auf deren Umwelten, bezogen werden und daß auf
dieser Grundlage Adressaten für weitere Kommunikation, Anschlußpunkte
für weiteres Handeln festgelegt werden, was immer als Grund dafür
dient. (Ebd., S. 228.)
Was eine Einzelhandlung ist, läßt sich deshalb nur
auf Grund einer sozialen Beschreibung ermitteln. Das heißt nicht,
daß Handeln nur in sozialen Situationen möglich wäre;
aber in Einzelsituationen hebt sich eine Einzelhandlung aus dem Verhaltensfluß
nur heraus, wenn sie sich an eine soziale Beschreibung erinnert. Nur so
findet die Handlung ihre Einheit, ihren Anfang und ihr Ende, obwohl die
Autopoiesis des Lebens, des Bewußtseins und der sozialen Kommunikation
weiterläuft. Die Einheit kann, mit anderen Worten, nur im System
gefunden werden. Sie ergibt sich aus Abzweigmöglichkeiten für
anderes Handeln. (Ebd., S. 228-229.)
Schon daran läßt sich erkennen, daß alle Feststellung
von Handlung eine Vereinfachung, eine Reduktion von Komplexität erfordert.
Noch deutlicher wird dies, wenn man ein geläufiges Vorurteil beachtet,
das auch Soziologen, obwohl sie es besser wissen könnten, oft mitvollziehen.
Es besteht in der Zurechnung des HandeIns auf konkrete Einzelmenschen
- so als ob als »Agent« der Handlung immer ein Mensch und
immer ein ganzer Mensch erforderlich sei. Daß es physische, chemische,
thermische, organische, psychische Bedingungen der Möglichkeit von
Handlung gibt, versteht sich von selbst, aber daraus folgt nicht, daß
Handeln nur auf konkrete Einzelmenschen zugerechnet werden kann. Faktisch
ist denn auch eine Handlung nie voll durch die Vergangenheit des Einzelmenschen
determiniert. Zahlreiche Untersuchungen haben die Grenzen der Möglichkeit
psychologischer Handlungserklärung aufgedeckt. Zumeist dominiert
- und dies gerade nach dem Selbstverständnis des psychischen Systems!
- die Situation die Handlungsauswahl. Beobachter können das Handeln
sehr oft besser auf Grund von Situationskenntnis als auf Grund von Personkenntnis
voraussehen, und entsprechend gilt ihre Beobachtung von Handlungen oft,
wenn nicht überwiegend, gar nicht dem Mentalzustand des Handelnden,
sondern dem Mitvollzug der autopoietischen Reproduktion des sozialen Systems.
Und trotzdem wird alltagsweltlich Handeln auf Individuen zugerechnet.
Ein so stark unrealistisches Verhalten kann nur mit einem Bedarf für
Reduktion von Komplexität erklärt werden. (Ebd., S. 229.)
Am besten läßt sich die laufende Herstellung von Einzelhandlungen
in sozialen Systemen begreifen als Vollzug einer mitlaufenden Selbstbeobachtung,
durch die elementare Einheiten so markiert werden, daß sich Abstützpunkte
für Anschlußhandlungen ergeben. Legt man die Logik der Form
bildenden Operationen von George Spencer-Brown zu Grunde, dann kann man
die hier getroffenen Theorieentscheidungen mit Hilfe der Begriffe distinction,
indication und re-entry erläutern und auf einem sehr abstrakten logischen
Niveau anschlußfähig explizieren. Die bei der Konstitution
von Handlungen verwendete Unterscheidung ist die von System und Umwelt,
innerhalb dieser Unterscheidung wird das System als Urheber der Selektion
bezeichnet (und nicht die Umwelt), und Unterscheidung wie Bezeichnung
werden als Operationen des Systems selbst (und nicht nur: eines externen
Beobachters) vollzogen oder ihm zumindest als vollziehbar zugemutet. Auf
diese Weise lassen sich Theorien und Forschungen recht heterogenen Ursprungs
wie Logik der Form bildenden Operationen, Handlungstheorie, Systemtheorie
und Attributionsforschung verknüpfen. Die Konsequenz ist, daß
mindestens für soziale Systeme sich autopoietische Reproduktion und
Operationen der Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung, die die System/Umwelt-Differenz
im System selbst verwenden, nicht trennen lassen. Die Unterscheidung behält
ihren analytischen Wert - aber nur, um die Hypothese zu ermöglichen,
daß soziale Systeme ihre Selbstreproduktion nur mit Hilfe von Selbstbeobachtungen
und Selbstbeschreibungen durchführen können. (Ebd., S. 229-230.)
Zusätzlich ist das Moment der Temporalisierung im Auge zu
behalten. Wie von allen Elementen in temporalisierten Systemen gefordert,
kombinieren Handlungen Bestimmtheit und Unbestimmtheit. (Anders
optiert für die allgemeine Theorie autopoietischer Systeme ihr Autor:
Humberto Maturana.) Sie sind in ihrer momentanen Aktualität
bestimmt, was immer man als Zurechnungsgrund dafür verantwortlich
macht; und sie sind unbestimmt in Bezug auf das, was sie als Anschlußwert
in sich aufnehmen. Dies kann zum Beispiel als Differenz von vorgestelltem
und erreichtem Ziel aufgefaßt werden. Auch andere semantische Formen,
die den Sinn von Handeln traditionsfähig machen, müssen aber
mindestens dies leisten: Bestimmtheit und Unbestimmtheit im M oment zu
kombinieren und sie nicht als Gegenwart und Zukunft auseinanderfallen
zu lassen. (Ebd., S. 230-231.)
Der gleiche Sachverhalt ist in der Sozialdimension erkennbar.
Wenn eine Kommunikation als Mitteilungshandlung erscheint, ist sie im
Moment für alle Beteiligten dieselbe und zwar gleichzeitig dieselbe.
(Dies gilt nicht mehr [und muß daher durch
Verstärkung der Deutlichkeit, z. B. der grammatischen und syntaktischen
Richtigkeit kompensiert werden], wenn die Kommunikation nur schriftlich
fixiert wird..) Dadurch wird die soziale Situation synchronisiert.
Auch der Handelnde selbst ist in diese Synchronisation einbezogen; er
kann zum Beispiel nicht mehr bestreiten, daß er gesagt hat, was
er gesagthat. Alle haben es im Moment mit dem gleichen Objekt zu
tun, und daraus ergibt sich eine Multiplikation der Anschlußmöglichkeiten
für den nächsten Moment. Die Schließung öffnet die
Situation, die Bestimmung stellt Unbestimmtheit wieder her. Aber es kommt
nicht zu einem Widerspruch und nicht zu einer Blockierung, weil das Geschehen
asymmetrisch als Sequenz geordnet ist und so erlebt wird. (Ebd., S. 231.)
Der semantische Aufwand, der im Zusammenhang mit einer solchen
Selbstbeschreibung des Kommunikationssystems als Handlungssystem getrieben
werden muß, ist teils ein kulturgeschichtliches, teils ein situationsspezifisches
Problem. Ob eine Semantik der Säfte und Kräfte ausreicht oder
ob Interessen unterstellt werden müssen, ob man im Kontext von Beichte
oder juristischen Verfahren »innere Zustimmung« zum eigenen
Handeln ermitteln muß, um das Handeln fest und zugleich lose in
der Umwelt zu verorten, ob das Handeln psychologisiert oder gar auf Faktoren
zurückgeführt werden muß, die dem Handelnden nicht bewußt
sind, sondern ihm erst auftherapiert werden müssen -all das hängt
von Umständen ab, über die im sozialen System disponiert wird.
Dem Handelnden mag dann mehr oder weniger erfolgreich die richtige Art
der Selbstzurechnung beigebracht werden. So kann er rechtzeitig und möglichst
schon vorher merken, wenn er handelt, und die soziale Kontrolle durch
Selbstkontrolle entlasten. (Ebd., S. 231.)
Es dürfte vor allem zwei Gründe geben, die dafür
sprechen, die Selbstbeschreibung des 'sozialen Systems auf Handlungen
zu beziehen, Den einen Grund haben wir schon erwähnt: Handlungen
sind einfacher zu erkennen und zu behandeln als Kommunikationen, 'Die
Einheit der Handlung kommt nicht erst durch das Verstehen eines anderen
zustande, und sie hängt auch nicht davon ab, daß der Beobachter
eine Differenz von Information und Verhalten ablesen kann; er muß
nur die Zurechnungsregeln handhaben können, die in bestimmten sozialen
Systemen üblich sind, Gewiß: auch Handlungen müssen, um
im sozialen System behandelbar zu sein, in Kommunikationsprozesse Eingang
finden -sei es als Mitteilung, sei es als Information, Jede Selbstbeschreibung,
jede Selbstbeobachtung eines sozialen Systems ist ihrerseits wieder Kommunikation
und nur so möglich (denn andemfalls würde es sich nur um eine
Beschreibung oder Beobachtung von außen, etwa durch eine Person
handeln), Die Vereinfachung liegt darin, daß als Verknüpfungsstellen
für Relationierungen nur Handlungen, nicht volle kommunikative Ereignisse
dienen, daß man sich also mit einer Abstraktion begnügen kann,
wenn es um Kommunikation über Handlung oder um einfaches Anschlußhandeln
geht, und daß man dabei von den Komplexitäten des vollen kommunikativen
Geschehens weitgehend absehen kann. Die Entlastung liegt vor allem darin,
daß nicht (oder nur unter besonderen Umständen) geprüft
werden muß, auf welche Information sich eine Mitteilung bezog und
wer sie verstanden hat. (Ebd., S. 232.)
Auch den zweiten Vorteil hatten wir genannt. Er besteht darin,
daß die Reduktion auf Handlung das zeitliche Asymmetrisieren sozialer
Beziehungen erleichtert. Wir denken nortnalerweise Kommunikation immer
schon zu sehr als Handlung und können uns daraufhin Kommunikationsketten
wie Handlungsketten vorstellen. Die Wirklichkeit eines kommunikativen
Ereignisses ist jedoch sehr viel komplexer. Es setzt die Handhabung der
doppelten Kontingenz von Ego und Alter auf beiden Seiten voraus, es wird
während einer gewissen Zeit in der Schwebe gehalten, mag Rückfragen
bedeutsames Schweigen, Zögern erfordern, bevor es durch Verstehen
zum Abschluß kommt; oder es mag, obwohl die Mitteilung als Handlung
vorliegt, als Kommunikation scheitern. Demgegenüber erleichtert es
die Orientierung, wenn man sich Handlungssequenzen wie Faktenketten vorstellen
kann, in denen eine Handlung die andere ermöglicht, wenn sie punktuell
fixiert werden kann. Während Kommunikation die Reversibilität
im Zeitlauf festhält - man kann sich schwer tun, zu verstehen, kann
ablehnen, kann das Mitgeteilte zu korrigieren versuchen (auch wenn es
als Mitteilungshandlung unbestritten vorgekommen ist) -, markieren
Handlungen die lrreversibilität der Zeit und ordnen sich so im Verhältnis
zueinander chronologisch ein. (Ebd., S. 232-233.)
Erst mit Hilfe einer solchen Punktualisierung und Asymmetrisierung
kann sich ein autopoietisches Sozialsystem bilden. Nur so gewinnt das
Problem der Anschlußfähigkeit erkennbare Konturen. Die Vor-
und Rückgriffe der Kommunikation im Auswählen verständlicher
Mitteilungen müssen also, obwohl sie Zeit übergreifen und obwohl
das vorausgesetzt bleibt, auf einen Zeitpunkt bezogen werden: auf den
Zeitpunkt, in dem der Mitteilende handelt. Ein soziales System konstituiert
sich mithin als Handlungssystem, aber es muß dabei den kommunikativen
Kontext des HandeIns voraussetzen; beides also, Handlung und Kommunikation,
ist notwendig und beides muß laufend zusammenwirken, um die Reproduktion
aus den Elementen der Reproduktion zu ermöglichen. (Vorsorglich
sei noch angemerkt, daß diese Argumentation weder logisch noch theoretisch
zwingend ist. Wie immer bei Funktionsangaben, lassen sich funktionale
Äquivalente nicht ausschließen, hier also andere Möglichkeiten
der Selbstbeobachtung, Selbstbeschreibung, Selbstsimplifikation. Die Reduktion
auf Handlung hat sich zwar evolutionär derart bewährt und durchgesetzt,
daß selbst die Soziologie sie zumeist unreflektiert mitvollzieht
und soziale Systeme schlicht als Handlungssysteme auffaßt. Das wird
mit der im Text präsentierten Theorie zugleich verständlich
gemacht -und als kontingent behandelt. Man könnte sich vor allem
historische Forschungen denken, die unvoreingenommen genug die Frage prüfen,
ob und wie weit frühere Kulturen überhaupt in so entschiedener
Weise nach einem Handlungsmodell gelebt haben.) (Ebd., S. 233.)
Autopoietische Reproduktion heißt demnach nicht, daß
eine bestimmte Handlung in geeigneten Fällen wiederholt wird (etwa
daß man jedesmal, wenn man eine Zigarette anzünden will, zum
Feuerzeug greift). Wiederholbarkeit muß zusätzlich noch durch
Strukturbildung sichergestellt werden. Reproduktion heißt nur: Produktion
aus Produziertem; und im Falle der autopoietischen Systeme besagt sie,
daß das System sich mit der gerade aktuellen Aktivität nicht
beendet, sondern weitermacht. Dies Weitermachen ist aber darin angelegt,
daß Handlungen (mit Absicht oder gegen ihre Absicht) Kommunikationswert
haben. (Ebd., S. 233.)
Einen weiteren Schritt können wir tun, wenn wir diese Einsicht
über das wechselseitige Verhältnis von Kommunikation und Handlung
verbinden mit dem Problem der Selbstbeobachtung bzw. Selbstbeschreibung.
Schon auf der Ebene der allgemeinen Systemtheorie kann man feststellen,
daß beliebige Komplexität durch strukturierende Selbstsimplifikation
eingeschränkt wird. Wie weit es sich allgemein, so zum Beispiel auch
für Makromoleküle oder gar für Objekte schlechthin bewährt
zu sagen, daß sie in sich eine Beschreibung ihrer selbst enthalten,
können wir offen lassen. Soziale Systeme, unser Objektbereich, scheinen
jedenfalls eine Selbstbeschreibung zu benötigen und zu entwickeln,
indem sie die zu relationierenden Ereignisse auf Handlungen reduzieren,
obwohl ihre eigene Wirklichkeit sehr viel reicher ist. Selbstbeobachtung
ist zunächst ein Moment im Prozessieren der eigenen Informationsverarbeitung.
Sie ermöglicht, darüber hinausgehend, Selbstbeschreibung, indem
sie das fixiert, über was ein System kommuniziert, wenn es über
sich selbst kommuniziert. Selbstbeobachtung ermöglicht, ja ernötigt
vielleicht sogar Reflexion im Sinne einer Thematisierung der Identität
(in Differenz zu anderem), die den Bereich, der sich selbst beobachtet,
als Einheit für Relationierungen verfügbar macht. (Ebd., S. 233-234.)
Mit Hilfe einer Begrifflichkeit aus der Theorie selbstreferentieller
Systeme, nämlich mit Hilfe der Vorstellung, daß Systeme mit
ihren eigenen Operationen eine Beschreibung von sich selbst anfertigen
und sich selbst beobachten können, läßt sich der Zusammenhang
von Kommunikation, Handlung und Reflexion aus der Subjekttheorie (der
Theorie von der Subjektität des Bewußtseins) herauslösen.
Natürlich behaupten wir nicht, daß es ohne vorliegendes Bewußtsein
soziale Systeme geben könnte. Aber die Subjektivität, das Vorliegen
des Bewußtseins, das Zugrundeliegen des Bewußtseins wird als
Umwelt sozialer Systeme und nicht als deren Selbstreferenz aufgefaßt.
Erst mit dieser Distanzierung gewinnen wir die Möglichkeit, eine
wahrhaft »eigenständige« Theorie sozialer Systeme auszuarbeiten.
(Ebd., S. 234.)
Die Reduktion der Selbstbeschreibung auf Handlung führt indes
auf ein Problem, das wir an dieser Stelle nur anzeigen können, um
es später wieder aufzugreifen (im Kapitel »System
und Umwelt«). Gerade aus der Theorie selbstreferentieller
Systeme würde folgen, daß die Selbstbeschreibung eines Systems
das System als Differenz zu seiner Umwelt aufzufassen hatte. Selbstbeschreibung
ist nicht nur eine Art Abzeichnen unter Weglassen der Details, nicht nur
der Entwurf eines Modells oder einer Landkarte des Selbst; sie hat - oder
jedenfalls so nur kann sie sich bewähren - zugleich die erfaßbare
Komplexität zu steigern indem sie das System als Differenz zu seiner
Umwelt darstellt und an Hand dieser Differenz Informationen und Richtpunkte
für Anschlußverhalten gewinnt. Die Reduktion auf Handlung scheint
in die Gegenrichtung zu gehen; sie scheint auf Momente der bloßen
Selbstreproduktion zu zielen - Selbstreproduktion als Stimulierung von
Handeln durch Handeln. Diese Engführung scheint keinerlei Gewähr
dafür zu bieten, daß die hier an Selbstbeschreibung gestellten
Anforderungen erfüllt werden, gerade wenn man bedenkt, daß
von Kommunikation (über Sinnthemen, die auf Umwelt verweisen) auf
Handlung reduziert wird. (Ebd., S. 234-235.)
Auf dieses Dilemma hat die Tradition, ohne das Problem als solches
zu formulieren, in der Weise reagiert, daß sie jeweils zwei Handlungsbegriffe
angeboten hat; einen poietischen und einen praktischen, einen herstellungstechnischen
und einen selbstwertgeladenen. (Auch an dieser Stelle
lohnt ein Seitenblick auf Parsons' Theorie des allgemeinen Handlungssystems.
Parsons gewinnt sein Vierfunktionenschema durch eine Dekomposition des
Handlungsbegriffs und reprojektiert das Schema dann auf die Welt ....
Auf diese Weise wird die Differenz von System und Umwelt durch lsomoryhie
abgemildert, und daraufhin wird es möglich, mit Input!Output-Modellen,
mit Modellen des double interchange usw. zu arbeiten. Dieser Vorschlag
kann dann darauf verzichten, mit zwei verschiedenen Handlungsbegriffen
zu kokettieren, den einen zur Kritik des anderen zu benutzen und dieser
Kritik dann einen gesellschaftskritischen Anstrich zu geben.) Wir
finden uns damit in einer Semantik, in der man über »Rationalität«
diskutiert hat. Auch das Rationalitätsthema zerfiel letztlich aber
in eine Typologie unterschiedlicher Rationalitäten, deren Beziehung
aufeinander nicht mehr unter Rationalitätsforderungen gestellt werden
kann - etwa nach Art einer Rangordnung. Das scheint, theoriekonstruktionstechnisch
gesprochen, ein Irrweg zu sein: Statt auf ein (Handlung transzendierendes)
Grundproblem zurückzugehen, unterscheidet man zwei Typen; statt zu
problematisieren, dualisiert man nur. Auch das Rationalitätsproblem
müssen wir für eine spätere Behandlung zurückstellen.
Der Ansatzpunkt dafür aber liegt an dieser Stelle. Er liegt in der
Frage, wie man in die Selbstbeschreibung eines sozialen Systems, die auf
Handlungszusammenhänge reduziert ist, die Differenz von Systemen
und Umwelt einbauen und dadurch Informationspotential gewinnen kann. Oder
knapper formuliert: wie es möglich ist, durch Reduktion von Komplexität
erfaßbare Komplexität zu steigern. (Ebd., S. 235-236.)
Die Antwort lautet: durch Konditionierung von Kommunikation, das
heißt durch Bildung sozialer Systeme. Kommunikation ist dabei als
eine Art Selbsterregung und Sinnüberflutung des Systems zu begreifen.
Sie wird durch die Erfahrung der doppelten Kontingenz induziert, kommt
unter dieser Bedingung so gut wie zwangsläufig zustande und führt
daraufhin zur Ausbildung von Strukturen, die sich unter solchen Bedingungen
bewähren. Man kann sich vorstellen, daß dies ein gleichsam
leeres Evolutionspotential bereitstellt, das, wenn nichts Besseres verfügbar
ist, jeden Zufall ausnutzen wird, um Ordnung aufzubauen. Insofern paßt
dieses Konzept zu einer »order from noise«- Theorie.
(Ebd., S. 236.)
Keine Frage: zu den Bedingungen der Möglichkeit kommunikativer
Systembildung gehören hochkomplexe Umwelten. Vor allem müssen
zwei gegenläufige Voraussetzungen sichergestellt sein: Die Welt muß
einerseits dicht genug strukturiert sein, damit es nicht reiner Zufall
ist, ob sich übereinstimmende Sachauffassungen herausbilden; die
Kommunikation muß irgendetwas (auch wenn man nie wissen wird, was
es letztlich ist) greifen können, was sich nicht beliebig auflösen
oder in sich verschieben läßt. Und andererseits muß es,
auf eben der gleichen Grundlage, verschiedene Beobachtungen geben, verschiedene
Situierungen, die laufend ungleiche Perspektiven und inkongruentes Wissen
reproduzieren. (Die Konsequenzen lassen sich bis
in Strukturprobleme sozialer Systeme hinein verfolgen.) Diesen
Voraussetzungen entspricht, daß Kommunikation nicht als systemintegrierende
Leistung, nicht als Herstellung von Konsens begriffen werden kann. Das
würde nämlich heißen: daß sie ihre eigenen voraussetZUngen
untergräbt und sich nur durch hinreichenden Mißerfolg am Leben
halten kann. (Alle Konsenstheorien müssen sich
denn auch die Frage gefallen lassen, die Helmut Schelsky einmal [mündlich]
an Jürgen Habermas gerichtet hat: was denn nach dem Konsens der Fall
sein würde.) Was aber sonst, wenn nicht Konsens, ist das Resultat
von Kommunikation? (Ebd., S. 236-237.)
Zu den wichtigsten Leistungen der Kommunikation gehört die
Sensibilisierung des Systems für Zufälle, für Störungen,
für "noise« aller Art. Mit Hilfe von Kommunikation ist
es möglich, Unerwartetes, Unwillkommenes, Enttäuschendes verständlich
zu machen. »Verständlich« heißt dabei nicht, daß
man auch die Gründe zutreffend begreifen und den Sachverhalt ändern
könnte. Das leistet die Kommunikation nicht ohne weiteres. Entscheidend
ist, daß Störungen überhaupt in die Form von Sinn gezwungen
werden und damit weiterbehandelt werden können. Man kann dann unterscheiden,
ob die Störungen im Kommunikationsprozeß selbst auftreten,
zum Beispiel als Druckfehler (der Begriff gibt Sinnlosem Sinn, man kann
Druckfehler erkennen und beseitigen); oder ob sie in den Themen und Beiträgen
der Kommunikation zu suchen sind, so daß man sie nicht einfach technisch
korrigieren kann, sondern ihre Gründe ermitteln muß. Durch
Kommunikation begründet und steigert das System seine Empfindlichkeit
und setzt sich so durch Dauersensibilität und Irritierbarkeit der
Evolution aus. (Ebd., S.
237.)
Als Korrektiv dieser Unruhe dient nicht so sehr Konsens; denn
bei Konsens wäre die Gefahr des Irrtums, der Fehlleistung, des Stillstandes
viel zu groß. Vielmehr entsteht, wenn Kommunikation in Betrieb gehalten
wird, ein Doppelphänomen von Redundanz und Differenz; und
darin liegt der Gegenhalt für das Unruheprinzip der Kommunikation.
Der Begriff der Redundanz bezeichnet überzählige Möglichkeiten,
die aber gleichwohl eine Funktion erfüllen. Wenn A durch Kommunikation
B über etwas informiert und ihm die Information abgenommen wird,
kann C und jeder weitere sich sowohl an A als auch an B wenden, wenn er
sich informieren wi1174. Es entsteht ein Überschuß an Informationsmöglichkeiten,
der aber gleichwohl funktional sinnvoll ist, weil er das System von bestimmten
Relationen unabhängiger macht und es gegen Verlustgefahr absichert.
Das gleiche Wissen, die gleiche Einstellung ist jetzt mehrfach vorhanden.
Dadurch allein schon kann der Eindruck der I Objektivität, der normativen
oder kognitiven Richtigkeit entstehen und eine entsprechend sichere Verhaltensgrundlage
abgeleitet werden. Die Redundanz verhilft auch zum Herausfiltern dessen,
was sich in vielen Kommunikationen bewährt, und bildet in diesem
Sinne Struktur; das System wird unabhängiger davon, daß alle
Kommunikation über individualisiertes Bewußtsein vermittelt
werden muß und insofern nur psychisch Vorgekautes prozessieren kann.
(Ebd., S. 237-238.)
Zugleich produziert Kommunikation aber auch Differenz. Liefe alles
Prozessieren von Information nur auf Redundanz hinaus, wäre die Gefahr
einer übereinstimmend akzeptierten Fehleinstellung viel zu groß.
Daß die Gefahr nicht ausgeräumt werden kann, ist bekannt; die
rasche Verbreitung eigentümlich engstirniger intellektueller Moden,
die sich gerade dadurch für Kommunikation eignen, liefert immer wieder
neues Anschauungsmaterial. Aber Kommunikationssysteme produzieren zugleich
immer auch die Selbstkorrektur. Jede Kommunikation lädt zum Protest
ein. Sobald etwas Bestimmtes zur Annahme angeboten wird, kann man es auch
negieren. Das System ist nicht strukturell auf Annehmen, nicht einmal
auf eine Präferenz für Annehmen festgelegt. Die Negation jeder
Kommunikation ist sprachlich möglich und verständlich. Sie kann
anizipiert und durch Vermeidung entsprechender Kommunikation umgangen
werden; aber das ist nur eine Weise des Praktizierens der Differenz: ihre
Rückverlagerung vom verstehenden Ego auf den mitteilenden Alter.
(Ebd., S. 238.)
Kommunikation setzt auf diese Weise Systembildung in Gang. Wenn
immer sie in Gang gehalten wird, bilden sich thematische Strukturen und
redundant verfügbare Sinngehalte. Es entsteht eine selbstkritische
Masse, die Angebote mit Annahme-/Ablehnungsmöglichkeiten hervorbringt.
All das differenziert sich als Prozeß aus einer Umwelt aus, die
in Themen paratgehalten, in Kommunikationen intendiert werden kann und
Ereignisse produziert, die im System als Information weiterbehandelt werden
können. Das System findet sich, soweit dafür gesorgt ist, daß
Teilnehmer sich wechselseitig wahrnehmen, in einer Art Dauererregung,
die sich selbst reproduziert, aber auch von außen stimuliert werden
kann, ähnlich wie ein Nervensystem. Es gewinnt mit all dem eine eigene
Komplexität, und es reproduziert zugleich Ordnung im Sinne reduzierter
Komplexität. Es ermöglicht sich selbst die orientierte Fortsetzung
der Kommunikation durch eine Selbstbeschreibung, die durch Reduktion von
Kommunikation auf Handlung zustandekommt. Solche Systeme sind in einer
Weise, die sich nicht direkt aus der biologischen Evolution ergibt, evolutiver
Selektion ausgesetzt. Daß sie Zufallanlässe in sinnhafte Information
umsetzen, ist für sie unvermeidlich; aber ob das, was sie dann als
Redundanz und als Differenz erzeugen, sich in der Evolution bewährt
und wie lange es sich bewährt, ist aus der Zwangsläufigkeit
des Ordnungsaufbaus nicht abzuleiten. (Ebd., S. 238-239.)
Wenn Kommunikation in Gang kommt, entsteht mithin ein System,
das eine besondere Art von Umweltverhältnis unterhält. umwelt
ist ihm nur als Information zugänglich, nur als Selektion erfahrbar,
nur über Veränderungen (im System selbst oder in der IUmwelt)
erfaßbar. Gewiß gibt es zahllose weitere Umweltvoraussetzungen,
vor allem natürlich die Existenz von Menschen mit Bewußtsein.
Diese Bedingungen der Möglichkeit der Kommunikation gehen aber nicht
automatisch in die Kommunikation mit ein: Sie Ikönnen Thema der Kommunikation
werden, aber sie müssen es nicht. Der Sachverhalt liegt also genau
parallel zu der eigentümlichen Umweltlage von Bewußtseinssystemen.
Auch hier werden nicht die physiologisch komplexen Prozesse der Wahrnehmung
bewußt, sondern nur deren Produkte. (Ein Sachverhalt,
der in seiner erkenntnistheoretischen Tragweite selten hinreichend gewürdigt
wird ....) Mit solchen Reduktionen ergeben sich neue Freiheitsgrade
für den Umgang mit der Umwelt. (Ebd., S. 239.)
Auf die Frage, woraus soziale Systeme bestehen, geben wir mithin
die Doppelantwort: aus Kommunikationen und aus deren Zurechnung als Handlung.
Kein Moment wäre ohne das andere evolutionsfähig gewesen.
(Ebd., S. 240.)
Wichtig ist es im Rückblick, sich vor Augen zu führen,
daß wir eine mehrfach gereinigte Frage beantwortet haben. Die Fragestellung
zielt nicht auf die Gesamtheit dessen, was zur Entstehung und Erhaltung
sozialer Systeme erforderlich ist. Magnetismus und Magensäure, Luft,
die die Stimmwellen trägt, und Türen, die man schließen
kann, Uhren und Telephone: all das scheint mehr oder weniger erforderlich
zu sein. Das Paradigma der System/Umwelt-Differenz lehrt aber, daß
nicht alles, was erforderlich ist, zur Einheit des Systems zusammengefaßt
werden kann. (Ebd., S. 240.)
Deshalb fragen wir nach den Letzteinheiten, aus denen ein soziales
System besteht und durch deren Relationierung es sich von seiner Umwelt
unterscheiden kann. Diese Frage hatte früher zwei einander entgegengesetzte
Antworten stimuliert: eine substantielle oder ontologische und eine analytische.
Die Einheit der Elemente sei vorgegeben (wie die Einheit der Handlung
durch die Intention des Handelnden bei Max Weber), lautete die eine Antwort.
Sie sei ein nur analytisches Konstrukt (wie der unit ac t bei Parsons),
lautete die andere. Beide Antworten sind durch den zweiten Paradigmawechsel,
durch den Übergang zur Theorie autopoietischer Systeme überholt.
Was immer als Einheit fungiert, wird zur Einheit durch die Einheit eines
selbstreferentiellen Systems. Es ist weder von sich her Einheit noch allein
durch die Selektionsweise eines Beobachters, es ist weder objektive noch
subjektive Einheit, sondern Bezugmoment der Verknüpfungsweise des
Systems, das sich durch eben diese Verknüpfung reproduziert.
(Ebd., S. 240.)
In diese Theorie kann und muß dann die Differenz von Konstitution
und Beobachtung wieder eingebaut werden. Das ist im Vorstehenden mit Hilfe
der Unterscheidung von Kommunikation und Handlung geschehen. Kommunikation
ist die elementare Einheit der Selbstkonstitution, Handlung ist die elementare
Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sozialer Systeme.
Beides sind hochkomplexe Sachverhalte, die als Einheit verwendet und auf
das dazu nötige Format verkürzt werden. Die Differenz von Kommunikation
im Vollsinne einer Selektionssynthese und zurechenbarem Handeln ermöglicht
eine selektive Organisierung mitlaufender Selbstreferenz; und zwar in
dem Sinne, daß man Kommunikation reflexiv nur handhaben (zum
Beispiel bestreiten, zurückfragen, widersprechen) kann, wenn sich
feststellen läßt, wer kommunikativ gehandelt hatte.
Die Frage nach den Individuen, Atomen, Elementen, aus denen soziale Systeme
bestehen, läßt sich deshalb nicht einfacher beantworten. Jede
Vereinfachung an dieser Stelle wäre ein Verlust an Beziehungsreichtum,
den eine allgemeine Theorie sozialer Systeme sich schwerlich leisten kann.
(Ebd., S. 241.)
System und Umwelt.
Das zentrale Paradigma der neueren Systemtheorie heißt »System
und Umwelt«. (Ebd., S. 242.)
Für die Theorie selbstrefrentieller Systeme ist die Umwelt
... Voraussetzung der Identität des Systems, weil Identität
nur durch Differenz möglich ist. Für die Theorie temporalisierter
autpoietischer Systeme ist die Umwelt deshalb nötig, weil die Systemereignisse
in jedem Moment aufhören und weitere Ereignisse nur mit Hilfe der
Differenz von System und Umwekt produziert werden können. Der Ausgangspunkt
aller daran anschließenden systemtheoretischen Forschungen ist daher
nicht eine Identität, sondern eine Differenz. (Ebd., S. 243.)
Alles, was vorkommt, ist immer zugleich zugehörig
zu einem System (oder zu mehreren Systemen) und zugehörig zur
Umwelt anderer Systeme. Jede Bestimmtheit setzt Reduktionsvollzug
voraus, und jedes Beobachten, Beschreiben, Begreifen von Bestimmtheit
erfordert die Aufgabe einer Systemreferenz, in der etwas als Moment des
Systems oder als Moment seiner Umwelt bestimmt ist. Jede Änderung
eines Systems ist Änderung der Umwelt anderer Systeme; jeder Komplexitätszuwachs
an einer Stelle vergrößert die Komplexität der Umwelt
für alle anderen Systeme. (Ebd., S. 243.)
Die Überschätzung, die im Subjektbegriff lag, nämlich
die These der Subjektivität des Bewußtseins, wird revidiert.
Sozialen Systemen liegt nicht »das Subjekt«, sondern die Umwelt
»zu Grunde«, und mit mit »zu Grunde Liegen« ist
dann nur gemeint, daß es Voraussetzungen der Ausdifferenzierzung
sozialer Systeme (unter anderen: Personen als Bewußtseinsträger)
gibt, die nicht mitausdifferenziert werden. (Ebd., S. 244.)
Umwelt ist ein systemrelativer Sachverhalt. Jedes System nimmt
nur sich aus seiner Umwelt aus. Daher ist die Umwelt eines jeden Systems
eine verschiedene. Somit ist auch die Einheit der Umwelt durch das System
konstituiert. »Die« Umwelt ist nur ein Negativkorrelat des
Systems. Sie ist keine operationsfähige Einheit, sie kann das System
nicht wahrnehmen, nicht behandeln, nicht beeinflussen. Man kann deshalb
auch sagen, daß durch Bezug auf und Unbestimmtlassen von Umwelt
das System sich selbst totalisiert. Die Umwelt ist einfach »alles
andere«. (Ebd., S.
249.)
Die weiteren Analysen der Differenz von System und Umwelt werden
von der Annahme ausgehen, daß die Umwelt immer sehr viel komplexer
ist als das System selbst. Dies ist bei allen Systemen, an die wir
denken können, der Fall. Es gilt auch für das Gesamtsozialsystem
der Gesellschaft. (Ebd., S. 249.)
Die Differenz von Umwelt und System stabilisiert ... ein Komplexitätsgefälle.
Deshalb ist die Beziehung von Umwelt und System notwendig asymmetrisch.
Das Gefälle geht in eine Richtung. Es läßt sich nicht
revertieren. Jedes System hat sich gegen die überwältigende
Komplexität seiner Umwelt zu behaupten, und jeder Erfolg dieser Art,
jeder Bestand, jede Reproduktion macht die Umwelt aller anderen Systeme
komplexer. Gegeben eine Vielheit von Systemen,
ist mithin jeder Evolutionserfolg eine Vergrößerung der Komplexitätsdifferenz
für andere Systeme im Verhältnis zu ihrer Umwelt und wirkt so
selektiv auf das, was dann noch möglich ist. (Ebd., S. 250.)
Als Differenz genommen und an der Differenz von Umwelt und System
festgemacht, hat das Komplexitätsgefälle selbst eine wichtige
Funktion. Es erzwingt unterschiedliche Formen der Behandlung und Reduktion
von Komplexität je nachdem, ob es sich um die Komplexität der
Umwelt oder um die Komplexität des Systems handelt. Die Umwelt kann
sozusagen großzügiger behandelt werden, kann mehr oder weniger
pauschal abgewiesen werden. Es gilt eine Art umgekehrte Relevanzvermutung:
Während interne Ereignisse/Prozesse für das System vermutlich
relevant sind, also Anschlußhandeln auslösen, sind Ereignisse/Prozesse
der Umwelt für das System vermutlich irrelevant; sie können
unbeachtet bleiben. Das System gewinnt seine Freiheit und seine Autonomie
der Selbstregulierung durch Indifferenz gegenüber seiner Umwelt.
Deshalb kann man die Ausdifferenzierung eines Systems auch beschreiben
als ein als Steigerung der Sensibilität für Bestimmtes (intern
Anschlußfähiges) und Steigerung der Insensibilität für
alles übrige - also Steigerung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit
zugleich. (Ebd., S. 250.)
Kein System kann Zufälle ... vermeiden, denn kein System
hat genug Komplexität, um auf alles, was vorkommt, »systematisch«
zu reagieren. Die Strukturwahl überläßt mithin vieles
dem Zufall. Auch dies »dem Zufall Überlassen« ist ein
Mittel der Reduktion von Komplexität, das sich bewährt, wenn
das, was dem Zufall überlassen bleibt, tatsächlich ad hoc behandelt
werden kann. (Dies schließt natürlich
nicht aus, daß Spezialvorkehrungen für die Behandlung von Zufällen
geschaffen werden und daß damit die Zufallstoleranz erhöht
und zugleich systematisiert wird. So verzichten Warenhäuser darauf,
jeden eintretenden Kunden einen Verkäufer zuzuordnen. Sie überlassen
es, obwohl es sie interessiert, dem Zufall, ob ein Kunde die gesuchte
Ware und ob er einen Verkäufer findet, der zuständig ist, gerade
diese Ware zu verkaufen. Sie schaffen aber, um diese Zufälle zu reintegrieren,
Informationsschalter, Wegweiser und durchgeplante Warenauslagen.)
(Ebd., S. 251.)
Dies sind nur erste Anhaltspunkte für die Chance, die darin
steckt, Komplexität in der Umwelt und im System unterschiedlich sehen
und unterschiedlich behandeln zu können. Das Komplexitätsgefälle
ist die Realitätsgrundlage, die der Differenz von Umwelt und System
Erfolgschancen gibt. Die Differenz artikuliert zugleich das Komplexitätsgefälle,
das durch sie geschaffen wird; und das macht es lohnend, die Differenz
von Umwelt und System als Orientierungsstruktur ins System selbst einzuführen.
Das System kann dann unterschiedliche Formen der Behandlung zu hoher Komplexität
voneinander trennen und simultan handhaben je nachdem, ob sie sich auf
das System oder auf die Umwelt beziehen. Es kann zum Beispiel - man denke
an tribale Kulturen oder an Fakultäten - eigene Komplexität
moralisch konditionieren und Umweltkomplexität nach dem strategischen
Schema von Freund und Feind. (Ebd., S. 251.)
Identität im Unterschied zu allem anderen ist im Grunde nichts
anderes als Bestimmung und Lokalisierung des Komplexitätsgefälles.
(Ebd., S. 252.)
Ferner wissen wir, daß Komplexität immer Selektionsdruck
und Kontingenzerfahrung erzeugt. Das Komplexitätsgefälle wird
im System deshalb vorwiegend als Kontingenz der Umweltbeziehungen erfaßt
und thematisiert. (Dieser Aspekt ist speziell im
Bezug auf formal organisierte Sozialsysteme zu einem eigenen Forschungsansatz
ausgearbeitet worden, der sog. »Kontingenztheorie«.)
Diese Thematisierung kann zwei verschiedene Formen annehmen je nachdem,
wie die Umwelt gesehen wird: Wird die Umwelt als Ressource aufgefaßt,
erfährt das System Kontingenz als Abhängigkeit. Wird
sie als Information aufgefaßt, erfährt das System Kontingenz
als Unsicherheit. Die Thematisierungen schließen sich wechselseitig
nicht aus .... (Ebd., S.
252.)
Zeitautonomie hat ... für das System eigene Folgeprobleme,
die eigene Lösungsansätze erfordern. Sie ist andererseits eine
unerläßliche Vorbedingung für Autonomie in Sachfragen.
(Ebd., S. 255.)
Das Komplexitätsgefälle zwischen Umwelt und System findet
seinen deutlichsten Ausdruck darin, daß diese Differenz, einmal
gegeben, jede weitere Differenzierung verschieden erlebt und behandelt
werden muß je nachdem, ob sie in der Umwelt oder im System stattfindet.
(Ebd., S. 256.)
Einerseits steht die Reproduktion unter der Bedingung von Anschlußfähigkeit,
sie muß in die Situation passen; andererseits kann sie Möglichkeiten
bieten, im System ein neues System mit eigener System/Umwelt-Differenz
zu bilden - und vielleicht ein System, das länger dauern wird als
das Ausgangssystem. Man sieht auf einer Party eine Dame eine Zigarette
nehmen und kommt ihr (sie ist entsprechend langsam) mit dem eigenen Feuerzeug
zuvor. Eine eingewöhnte Systemdifferenzierung stabilisiert Reproduktionsmöglichkeiten
über einschränkende Bedingungen der Verständlichkeit von
Kommunikation und des Passens von Verhaltensweisen. Zugleich bieten aber
die Sinnüberschüsse, die dabei mitreproduziert werden müssen,
immer wieder Chancen zu innovativer Systembildung, das heißt: zur
Einfügung neuer Differenzen und neuer Einschränkungen, also
zur Steigerung der Einschränkbarkeit des Ausgangssystems durch Differenzierung.
Nur so kann es zur Zunahme von Systemkomplexität kommen. (Ebd., S. 258-259.)
Interene Differenzierungen schließen an die Grenze des bereits
ausdifferenzierten Systems an und behandeln den damit eingegrenzten Bereich
als eine Sonderumwelt, in der weitere Systembildungen folgen können.
Diese interne Umwelt weist nämlich besondere Komplexitätsreduktionen
auf, die durch die Außengrenzen gesichert sind; sie ist relativ
zur Außenwelt eine schon domestizierte, schon pazifizierte Umwelt
mit verringerter Komplexität. Sie ist überdies artgleiche Umwelt,
denn interen Differenzierung kann nur in artgleicher Weise erfolgen. Lebende
Systeme können sich nur in lebende Systeme, soziale Systeme können
sich nur in soziale Systeme differenzieren. (Ebd., S. 259.)
Das Gesamtsystem ermöglicht durch die eigene Ordnung nur
die Selbstselektion des Teilsystems. Aber wenn sich Teilsysteme bilden,
setzt das Anpassungsprozesse in Gang, weil dann für alles, was nicht
als neuartiges Teilsystem ausdifferenziert wird, eine neuartige Umwelt
entsteht. (Ebd., S. 260.)
Obwohl Prozesse der interen Differenzierung nahezu beliebig anlaufen
können und nicht durch eine zu »entwickelnde« Form dirigiert
sind, scheint es doch eine Art Selektion zu geben, die das auswählt,
was Bestand haben kann. So ließe sich möglicherweise erklären,
daß es letztlich doch nur wenige Differenzierungsformen gibt, die
in langfristig bestehenden Systemen durchgehalten werden können,
so vor allem die Differenzierung in gleiche Einheiten (Segmentierung),
die Differenzierung Zentrum/Peripherie, die Differenzierung konform/abweichend
(offiziell/inoffiziell, formal/informal), die hierarchische Differenzierung
und die funktionale Differenzierung. Durhchaltbar sind anscheinend nur
Differenzierungsformen, die Prozesse der Abweichungsverstärkung (positives
Feedback) zu ihren Gunsten mobilisieren und Renivellierungen verhindern
können. (Ebd., S. 260-261.)
Systemdifferenzierung führt zwangsläufig zur Steigerung
der Komplexität des Gesamtsystems. Und ebenso gilt umgekehrt: daß
Systemdifferenzierung nur möglich ist, wenn das Gesamtsystem mehr
und verschiedenartigere Elemente konstituieren und über schärfer
ausgewählte Relationen verknüpfen kann. Systemdifferenzierung
heißt ja nicht nur, daß im System kleinere Einheiten gebildet
werden; vielmehr wiederholt die Systemdifferenzierung die Gesamtsystembildung
in sich selbst. Das Gesamtsystem wird rekonstruiert als interne Differenz
von Teilsystem/Teilsystemumwelt, und dies für jedes Teilsystem auf
je verschiedene Weise. Je nach interner Schnittlinie ist das Gesamtsystem
dann mehrfach in sich selbst enthalten. Es multipliziert siene eigenen
Realität. So ist das moderne Sozialsystem Gesellschaft zugleich:
politisches Funktionssystem und dessen gesellschaftsinterne Umwelt; wirtschaftliches
Funktionssystem und dessen gesellschaftsinterne Umwelt; wissenschaftliches
Funktionssystem und dessen gesellschaftsinterne Umwelt; religiöses
Funktionssystem und dessen gesellschaftsinterne Umwelt; und so weiter.
(Ebd., S. 261-262.)
Daß die Umwelt als differenziert erfahren wird (externe
Differenzierung), scheint zu den Notwendigkeiten der Systembildung zu
gehören. Gegenüber einer gänzlich undifferenziert erfahrenen
Umwelt könnten keine Reduktionsstrategien entwickelt werden.
(Ebd., S. 263.)
Wenn Organiationsabteilungen nach unterschiedlichen Außengruppen,
Kunden, betreuten Personenkreisen usw. eingerichtet werden, verstärkt
das den Einfluß dieser gruppen auf die Organisation; sie finden
»ihre« Vertretung im System. Wird die Gliederung nach rein
internen Gesichtspunkten gewählt, steigert das die Ausdifferenzierung
des Organisationssystems. (Ebd., S. 264.)
Die Besonderheit sozialer Systeme bestht darin, daß diese
sich in der Form von Sinn an Komplexität orientieren (Kapitel
2). (Ebd., S. 265.)
Es gibt Gruppen, die wie Tiere sich mit ihrem Lebensraum identifizieren,
ihn kennen, ihn verteidigen. Aber für
das soziale System dieser Gruppen haben, darüber ist man sich einig,
die Grenzen »ihres« Territoriums nur noch symbolische Bedeutung.
(Darüber soll »man sich einig«
sein? Das glaube ich nicht! HB) (Ebd., S. 266.)
Prozesse des Alterns und Schrumpfens sozialer Systeme .... Gerade
Systeme, denen hohe Sensibilität abverlangt ist, erleiden einen Themsnschwund,
weil jeder schon weiß, daß der andere schon weiß, wie
das Thema zu behandeln ist. (Ebd., S. 267.)
Neben der Sachdimension bieten sowohl Zeitdimension als auch Sozialdimension
Möglichkeiten der Grenzregulierung. Man kann die Kommunikationszeit
verkürzen, zum Beispiel durch demonstrative Eile .... Alles Ernsthafte
und Schwierige wird vertagt. Vor allem aber liegt es nahe, Themen und
Sinngrenzen über Zulassung zur Teilnahme zu regulieren, zum Beispiel
über soziale Schichtung oder über geprüfte Kompetenzen.
Es gibt daher systeme, und sie haben als »formale Organisation«
in der modernen Gesellschaft eine nichtwegdenkbare Bedeutung gewonnen,
die ihre Grenzen primär über Mitgliedschaftsrollen und Zulassung
zur Mitgliedschaf tregulieren und Themen als etwas behandeln, was den
Mitgliedern des Systems auf Grund der Mitgliedschaft zugemutet werden
kann. Über die Sozialdimesion läßt sich schließlich
regulieren, was als handeln im System in Betracht kommt und welche Handlungen
der Umwelt zuzurechnen sind. (Ebd., S. 268-269.)
Reduktion von Kommunikation auf Handlung .... (Ebd., S. 277.)
Die Reduktion auf Handlung ... führt ... in dem Maße,
als sie erreicht wird, zu einer deutlicheren Ausdifferenzierung derjenigen
sozialen Systeme, die diesen Weg gehen. Die system/Umwelt-Differenz wird
dadurch auf ein kombinatorisches Niveau gebracht, auf dem mehr Abhängigkeiten
und mehr Unabhängigkeiten zugelich aktualisiert werden können.
Das System wird von bestimmten Eigenschaften oder Vorgängen seiner
Umwelt, nämlich solchen, die für den Input oder für die
Aufnahme des Outputs relevant sind, abhängiger, von anderen Umweltaspekten
dagegen unabhängiger. Es kann sich mehr Sensibilität, mehr Tiefenschärfe
in der Umweltwahrnehmung und zugleich mehr Indifferenz leisten. Eins bedingt
das andere. Und beides wird bedingt durch einen höheren Grad interner
Autonomie. (Ebd., S. 279.)
Es liegt nahe, bei derartigen Sonderformen an Organisationen des
politisch-administrativen Bereichs oder an Wirtschaftsorganisationen zu
denken. (Ebd., S. 280.)
Unterschied von Sozialisation und Erziehung .... Sozialisation
kommt ohne besondere Aufmerksamkeitsanforderungen durch Mitleben in einem
sozialen Zusammenhang zustande. Sie setzt Teilnahme an Kommunikation voraus
.... Erziehung dagegen benutzt die Reduktion auf Handlung, um etwas zu
erreichen, was die Koordination einer Vielzahl von Bemühungen voraussetzt,
also nicht den Zufällen sozialisierender Ereignisse überlassen
werden kann. Nur als Erziehung kann die Sozialisation in ein Input/output-Schema
gebracht werden, (Ebd., S. 280-281.)
Vor allem müßte stärker beachtet werden, daß
eine pädagogisch stilisierte Handlung selbst wieder Kommunikation
eben dieser Absicht wird. Dadurch wird eine Art Sekundärsozialisation
im pädagogischen Kontext unausweichlich. Das handeln tritt mit seinen
Absichten, seinen Idealen, seinen Rollenzwängen ins System ein und
wird im System erlebt und beurteilt. Es wird sozusagen mit den Schlingen
der Selbstreferenz wieder eingefangen und gibt dem, der erzoegen werden
soll, die Freiheit, auf diese Absicht als solche zu reagieren - ihr aus
bloßem Opportunismus zu folgen oder sich ihr, soweit möglich,
zu entziehen. (Ebd., S.
281-282.)
Wir setzen den Weltbegriff hier als Begriff für die Sinneinheit
der Differenz von System und Umwelt ein und benutzen ihn damit als
differenzlosen Letztbegriff. (Ebd., S. 283.)
Die traditionelle Zentrierung des Weltbegriffs auf eine »Mitte«
oder dann auf ein »Subjekt« hin wird damit aufgegeben, wird
aber nicht einfach ersatzlos gestrichen. (Ebd., S. 284.)
Denn diese Evolution ist, was immer sie sonst sein mag und wie
immer sie zu bestimmen und zu erklären ist, Herausarbeitung von System/Umwelt-Differenz
auf dem emergenten Niveau sozialer Systeme. (Ebd., S. 284.)
Es ist daran zu erinnern, das jedes Entweder/Oder künstlich
eingeführt werden muß über einem Untergrund, auf den es
nicht zutrifft. Jede Differenz ist eine sich-oktroyierende Differenz.
Sie gewinnt ihre Operationsfähigkeit, ihre Fähigkeit, Informationsgewinn
zu stimulieren, durch Ausschluß dritter Möglichkeiten. Die
klassische Logik folgt diesem Prinzip. Die Weltlogik kann dagegen nur
eine Logik des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten sein. Wie Logiken
aussehen könnten, die diese berücksichtigen, ist ein seit Hegel
viel diskutiertes Problem. (Diskutiert vor allem
im Hinblick auf Architektur und Operationsfähigkeit einer solchen
Logik. Leider ist der sog. »Positivismusstreit« ganz unterhalb
des hier erforderlichen Denkniveaus geführt worden. Vgl. statt dessen
Gotthatt Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen
Dialektik, 5 Bände, 1968. Auch in allgemeinen Systemtheorien
finden Probleme einer rekursiven, Selbstreferenz zulassenden, vielleicht
»dialektischen« Logik zunhemende Beachtung. Siehe z.B. Heinz
von Foerster, a.a.O ..... Varela, a.a.O. ....) Wir müssen
uns hier mit der Platzierung des Problems begnügen. (Ebd.,
S. 285.)
Interpenetration.
Sieht man den Menschen als Teil der Umwelt
der Gesellschat an (statt als Teil der Gesellschaft selbst), ändert
das die Prämissen aller Fragestellungen der Tradition, also auch
die Prämissen des klassischen Humanismus. Das heißt nicht,
daß der Mensch als weniger wichtig eingeschätzt würde
im Vergleich zur Tradition. Wer das vermutet (und aller Polemik gegen
diesen Vorschlag liegt eine solche Unterstellung offen oder versteckt
zu Grunde), hat den Paradigmawechsel in der Systemtheorie nicht begriffen.
(Ebd., S. 288-289.)
Die Umwelt mag manches enthalten, was für
das System (unter welchen Gesichtspunkten immer) wichtiger ist als Bestandteile
des Systems selbst; aber auch die gegenseitige Konstellation ist in der
Theorie erfaßbar. Gewonnen wird mit der Unterscheidung von System
und Umwelt aber die Möglichkeit, den Menschen als Teil der gesellschaftlichen
Umwelt zugleich komplexer und ungebundener zu begreifen, als dies möglich
wäre, wenn er als Teil der Gesellschaft aufgefaßt werden müßte;
denn Umwelt ist im Vergleich zum System eben derjenige Bereich der Unterscheidung,
der höhere Komplexität und geringeres Geordnetsein aufweist.
Dem Menschen werden so höhere Freiheiten im Verhältnis zu seiner
Umwelt konzediert, insbesondere Freiheiten zu unvernünftigem und unmoralischem Verhalten. Er ist nicht mehr Maß der Gesellschaft.
Diese Idee des Humanismus kann nicht kontinuieren. Denn wer wollte ernsthaft
und durchdacht behaupten, daß die Gesellschaft nach dem Bilde des
Menschen, Kopf oben usw., geformt werden könnte. (Ebd., S.
289.)
Von Penetration wollen wir sprechen, wenn ein System die
eigene Komplexität (und damit: Unbestimmtheit, Kontingenz
und Selektionszwang [**])
zum Aufbau eines anderen Systems zur Verfügung stellt. In
genau diesem Sinne setzen soziale Systeme »Leben« voraus.
Interpenetration liegt entsprechend dann vor, wenn dieser Sachverhalt
wechselseitig gegeben ist, wenn also beide (oder
mehr! HB) Systeme sich wechselseitig dadurch ermöglichen,
daß sie in das jeweils andere ihre vorkonstituerte Eigenkomplexität
einbringen. Im Falle von Penetration kann man beobachten, daß das
Verhalten des penetrierenden Systems durch das aufnehmende System
mitbestimmt wird (und eventuell außerhalb dieses Systems orientierungslos
und erratisch abläuft wie das einer Ameise ohne Kontakt zum Ameisenhaufen).
Im Falle von Interpenetration wirkt das aufnehmende System auch auf die
Strukturbildung der penetrierenden Systeme zurück; es greift
also doppelt, von außen und von innen, auf dieses ein. Dann sind
trotz (nein: wegen!) dieser Verstärkung der Abhängigkeit größere
Freiheitsgrade möglich. Das heißt auch: daß Interpenetration
im Laufe von Evolution das Verhalten stärker individualisiert als
Penetration. (Ebd., S. 290.)
Wir erinnern: Komplexität besagt, daß eine Vielzahl
von Elementen, hier Handlungen, nur selektiv verknüpft werden kann.
Komplexität bedeutet also Selektionszwang (**).
Diese Notwendigkeit ist zugleich Freiheit, nämlich Freiheit zu unterschiedlicher
Konditionierung der Selektion. (Ebd., S. 291.)
Die interpenetrierenden Systeme bleiben füreinander Umwelt.
Das bedeutet: die Komplexität, die sie einander zur Verfügung
stellen, ist für das jeweils aufnehmende System unfaßbare Komplexität,
also Unordnung. Man kann deshalb auch formulieren, daß die psychischen
Systeme die sozialen Systeme mit hinreichend Unordnung versorgen, und
ebenso umgekehrt. Die Eigenselektion und Autonomie der Systeme wird durch
die Interpenetration also nicht in Frage gestellt. Selbst wenn man sich
Systeme als volldeterminiert vorstellen müßte, würden
sie durch Interpenetration mit Unordnung infiziert und der Unberechenbarkeit
des Zustandekommens ihrer Elementereignisse ausgesetzt. Alle Reproduktion
und alle Strukturbildung setzt damit Kombination von Ordnung und Unordnung
voraus: strukturierte eigene und unfaßbare fremde, geregelte und
freie Komplexität. Dieser Aufbau sozialer Systeme (und ebenso der
Aufbau psychischer Systeme) folgt dem Ordnung-durch-Lärm-Prinzip
(vgl. von Foerster). (Ebd., S. 291-292.)
Die hier gewählte Begriffsfassung vermeidet mit Absicht den
sehr viel einfacheren Weg, auf die Elemente abzustellen, aus denen die
interpenetrierenden Systeme bestehen. Man könnte versucht sein, sich
damit zu begnügen, zu sagen, daß Menschen und soziale Systeme
sich in einzelnen Elementen, nämlich Handlungen, überschneiden.
Handlungen seien Menschenhandlungen, zugleich aber möglicherweise
auch Bausteine sozialer Systeme. Ohne menschliches Handeln gäbe es
keine sozialen Systeme, so wie umgekehrt der Mensch nur in sozialen Systemen
die Fähigkeit zum Handeln erwerben kann. Diese Auffassung ist nicht
falsch, aber sie ist zu einfach. Der Begriff Element ist kein Letztelement
systemtheoretischer Analyse; das haben wir sowohl am Begriff der Komplexität
als am Begriff des selbstreferentiellen Systems herausgearbeitet. Entsprechend
haben wir den Begriff des Elements entontologisiert. (Vgl.
Kapitel 1, II, 4.) Ereignisse (Handlungen) sind keineswegs Elemente
ohne Substrat. Aber ihrer Einheit entspricht keine Einheit ihres Substrats;
sie wird im Verwendungssystem durch Anschlußfähigkeit erzeugt.
(Die Parallelen, aber auch die Divergenzen, zu Kanu
Behandlung des Komplexitätsproblems werden hier besonders augenfällig.
Auch Kant geht von Mannigfaltigkeit aus und fragt, wie man zur Einheit
kommt. Aber da er die Antwort durch Hinweis auf Bewußtseinssynthesen
geben will, wird die ganze Fragestellung psychologisiert; und da das wiederum
nicht akzeptabel ist, muß der Transzendentalismus draufgesetzt werden.
Heute neigt man dagegen dazu, die gesamte Fragestellung [Erkenntnistheorie
eingeschlossen] zu re-naturalisieren, ohne damit in eine Ontologie zurückzukehren.)
Elemente werden durch die Systeme, die aus ihnen bestehen, selbst konstituiert,
und in diesem Zusammenhang spielt der Umstand mit, daß Komplexität
ein selektives Relationieren der Elemente erfordert. Man kann beim Verweis
auf die Elemente also nicht stehen bleiben, so als ob es um Steinchen
für ein Mosaik gehe; denn dahinter taucht sofort die Frage auf, wie
die Fähigkeit des selektiven Konstituierens der Elemente zu erklären
ist. Viel radikaler, als eine »Handlungstheorie« es sehen
und formulieren kann, greift die Systemtheorie auf strukturelle Bedingungen
der Selektivität zurück. (Ebd., S. 292.)
Auf diese Frage bezogen soll der Begriff der Interpenetration
nicht nur ein Sichüberschneiden in den Elementen bezeichnen, sondern
einen wechselseitigen Beitrag zur selektiven Konstitution der Elemente,
der dann im Ergebnis zu einem solchen Überschneiden führt. Entscheidend
ist, daß die Komplexität des Menschen sich erst im Hinblick
auf soziale Systeme entwickeln kann und zugleich durch soziale Systeme
benutzt wird, um ihr, wenn man so sagen darf, Handlungen zu entziehen,
die den Bedingungen sozialer Kombinatorik genügen. (Ebd., S. 292-293.)
Es bleibt zwar richtig, daß interpenetrierende Systeme in
einzelnen Elementen konvergieren, nämlich dieselben Elemente benutzen,
aber sie geben ihnen jeweils unterschiedliche Selektivität und
unterschiedliche Anschlußfähigkeit, unterschiedliche Vergangenheiten
und unterschiedliche Zukünfte. Die Konvergenz ist, da es sich
um temporalisierte Elemente (Ereignisse) handelt, nur je gegenwärtig
möglich. Die Elemente bedeuten daher, obwohl sie als Ereignisse identisch
sind, in den beteiligten Systemen verschiedenes: Sie wählen aus jeweils
anderen Möglichkeiten aus und führen zu jeweils anderen Konsequenzen.
Das heißt nicht zuletzt: daß die als nächstes sich ereignende
Konvergenz wieder Selektion ist; daß also die Differenz der
Systeme im Prozeß des Interpenetrierens reproduziert wird. Nur so
ist überhaupt doppelte Kontingenz als Kontingenz möglich - das
heißt: als etwas, das dank der Komplexität, die ihr zu Grunde
liegt, jeweils auch anders möglich ist und mit dieser Verweisung
auf andere Möglichkeiten in Rechnung gestellt werden muß.
(Ebd., S. 293.)
Mit Hilfe dieser Konzeption können wir eine Frage, die wir
bei der Behandlung des Problems.der doppelten Kontingenz (Kapitel
3) offen lassen mußten, abschließend beantworten. Der
Begriff der Interpenetration antwortet auf die Frage nach den Bedingungen
der Möglichkeit von doppelter Kontingenz. Er vermeidet es, diese
Antwort durch Verweis auf die Natur des Menschen zu geben; er vermeidet
auch den Rückgriff auf die (angeblich alles fundierende) Subjektität
des Bewußtseins. Er formuliert das Problem auch nicht als eines
der (Subjekte voraussetzenden) »Intersubjektivität«.
Die Ausgangsfrage ist vielmehr: welche Realitätsvorgaben vorliegen
müssen, damit es hinreichend häufig und hinreichend dicht zur
Erfahrung von doppelter Kontingenz und damit zum Aufbau sozialer Systeme
kommen kann. Die Antwort heißt Interpenetration. Sie präzisiert
zugleich die Prämissen der Frage, die sie beantwortet. Es gpbt nicht
einfach um einen geschichteten Weltaufbau, bei dem die unteren Schichten
zuerst fertiggestellt sein müssen, bevor weitergebaut werden kann.
Vielmehr werden die Voraussetzungen mit der Evolution höherer Ebenen
der Systembildung selbst erst in eine dafür geeignete Form gebracht.
Sie entstehen durch Inanspruchnahme. Deshalb ist Evolution nur durch Interpenetration,
das heißt nur durch wechselseitige Ermöglichung möglich.
Evolution ist in diesem Sinne, systemtheoretisch gesehen, ein zirkulärer
Prozeß, der sich in die Realität hinein (nicht: ins Nichts
hinein!) konstituiert. (Ebd., S. 293-294.)
Auch die Notwendigkeit, Handlung und Kommunikation zu unterscheiden,
gewinnt durch den Begriff der Interpenetration zusätzliche Sinnbezüge.
Handlung erfordert individuelle Zurechenbarkeit als konstituierendes Moment,
entsteht also durch ein Trennprinzip. Kommunikation kommt dagegen durch
ein Zusammenfallen dreier verschiedener Selektionen zustande. Dies Zusammenfallen
darf sich nicht nur hin und wieder, darf sich nicht nur zufällig
ereignen; es muß regelmäßig und erwartbar reproduziert
werden können. Dafür bildet sich im Falle hinreichender Bewährung
ein eigenes System, ein soziales System, das aber die Fähigkeit zur
Selektionsproduktion muß voraussetzen können. Mindestens zum
Mitteilen und Verstehen, vielfach auch zur Erzeugung der Tatbestände,
die im Kommunikationszusammenhang als Information fungieren, sind Menschen
erforderlich. Interpenetration, nämlich Beisteuern von Komplexität
zum Aufbau eines ernergenten Systems, findet demnach in der Form von Kommunikation
statt; und umgekehrt setzt jedes konkrete Ingangbringen von Kommunikation
ein Interpenetrationsverhältnis voraus. Diese Zirkularität bringt
erneut zum Ausdruck, daß soziale Systeme nur als selbstreferentielle
Systeme entstehen können. Sie bestätigt außerdem, daß
es nicht bestimmte, vorweg schon vorhandene Eigenschaften des Menschen
sind, die die Bildung sozialer Systeme ermöglichen -etwa: zentral
gesteuertes Nervensystem, beweglicher Daumen, Fähigkeit, differenzierte
Laute zu erzeugen und die eigenen Laute selbst zu hören, usw.; sondern
daß all dies soziale Systeme nur erzeugt, wenn und weil es als temporalisierte
Komplexität voraussetzbar ist, die von Moment zu Moment ihre
eigenen Zustände seligiert und darin beeinflußt werden kann.
(Ebd., S. 294.)
Schließlich fügt sich diesen Überlegungen eine
empirisch getestete Hypothese ein: Soziale Systeme, die auf komplexere
psychische Systeme zurückgreifen können, haben einen geringeren
Strukturbedarf. Sie können höhere Instabilitäten und rascheren
Strukturwechsel verkraften. Sie köpnen sich eher Zufällen aussetzen
und können ihr Regelwerk dadurch entlasten. Auch dies ist nur einsichtig,
wenn man Komplexität und Interpenetration richtig versteht, nämlich
als mit Größe steigender Selektionszwang und als offene Konditionierbarkeit
eben dieses Zwanges. (Ebd., S. 294-295.)
Man darf sich Interpenetration weder nach dem Modell der Beziehung
zweier getrennter Dinge vorstellen noch nach dem Modell zweier sich teilweise
überschneidender Kreise. Alle räumlichen Metaphern sind hier
besonders irreführend. Entscheidend ist, daß die Grenzen
des einen Systems in den Operationsbereich des anderen übernommen
werden können. So fallen die Grenzen sozialer Systeme in das
Bewußtsein psychischer Systeme. Das Bewußtsein unterläuft
und trägt damit die Möglichkeit, Sozialsystemgrenzen zu ziehen,
und dies gerade deshalb, weil sie nicht zugleich Grenzen des Bewußtseins
sind. Das Gleiche gilt im umgekehrten Fall: Die Grenzen psychischer Systeme
fallen in den Kommunikationsbereich sozialer Systeme. Kommunikation ist
geradezu gezwungen, sich laufend daran zu orientieren, was psychische
Systeme in ihr Bewußtsein bereits aufgenommen haben und was nicht.
Und auch dies ist nur möglich, weil die Grenzen psychischer Systeme
nicht zugleich Grenzen der kommunikativen Möglichkeiten sind. Jedes
an Interpenetration beteiligte System realisiert in sich selbst das andere
als dessen Differenz von System und Umwelt, ohne selbst entsprechend zu
zerfallen. So kann jedes System im Verhältnis zum anderen eigene
Komplexitätsüberlegenheit, eigene Beschreibungsweisen, eigene
Reduktionen verwirklichen und auf dieser Grundlage eigene Komplexität
dem anderen zur Verfügung stellen. (Ebd., S. 295.)
Die Systemleistung, die interpenetrierende Systeme füreinander
erbringen, besteht also nicht im Input von Ressourcen, von Energie, von
Information. Auch dies bleibt natürlich möglich. Ein Mensch
sieht etwas und erzählt es, steuert also Information zum sozialen
System bei. Was wir Interpenetration nennen, greift jedoch tiefer, ist
kein Leistungszusammenhang, sondern ein Konstitutionszusammenhang. Jedes
System stabilisiert die eigene Komplexität. Es erhält Stabilität,
obwohl es aus ereignishaften Elementen besteht, also durch die eigene
Struktur zum ständigen Wechsel der eigenen Zustände gezwungen
ist. Es produziert so ein strukturbedingtes Zugleich von Dauer und Wechsel.
Etwas zugespitzt könnte man auch sagen: jedes System stabilisiert
die eigenen Instabilitäten. Es garantiert damit die laufende Reproduktion
noch unbestimmter Potentialitäten. Deren Bestimmung kann konditioniert
werden. Diese Konditionierung läuft immer selbstreferentiell, ist
also immer Moment der autopoietischen Reproduktion der eigenen Elemente;
sie nimmt dabei aber, gerade weil reine Selbstreferenz tautologisch wäre,
immer auch Anstöße aus der Umwelt auf. Selbstreferentielle
Systeme sind deshalb in der Lage, verfügbare Potentialitäten
für den Aufbau von Systemen auf ernergenten Realitätsniveaus
freizuhalten und sich selbst auf die damit geschaffene Sonderumwelt einzustellen.
Der Begriff Interpenetration zieht, so gesehen, die Konsequenzen aus dem
Paradigmawechsel in der Systemtheorie: aus dem Übergang zur System/Umwelt-Theorie
und zur Theorie selbstreferentieller Systeme. Er setzt diese theoretische
Umdisposition auch insofern voraus, als er die Autonomie der interpenetrierenden
Systeme begreift als Steigerung und Selektion von Umweltabhängigkeiten.
(Ebd., S. 295-296.)
Von Interpenetration soll nur dann die Rede sein, wenn auch die
ihre Komplexität beitragenden Systeme autopoietische Systeme sind.
Interpenetration ist demnach ein Verhältnis von autopoietischen Systemen.
Diese Eingrenzung des Begriffsbereichs macht es möglich, das klassische
Thema Mensch und Gesellschaft aus einem weiteren Blickwinkel zu betrachten,
der mit dem Wortsinn von »Interpenetrieren« nicht ohne weiteres
gegeben ist. (Ebd., S. 296.)
So wie die Selbstreproduktion sozialer Systeme dadurch, daß
Kommunikation Kommunikation auslöst, gleichsam von selber läuft,
wenn sie nicht schlicht aufhört, gibt es auch am Menschen geschlossen-selbstreferentielle
Reproduktionen, die sich bei einer sehr groben, hier aber ausreichenden
Betrachtung als organische und als psychische Reproduktion unterscheiden
lassen. Im einen Falle ist das Medium und die Erscheinungsform (ich
nenne »Erscheinungsform« zusätzlich, um auf die aus der
Autopoiesis sich ergebende Möglichkeit der Beobachtung hinzuweisen.)
das Leben, im anderen Falle das Bewußtsein. Autopoiesis qua
Leben und qua Bewußtsein ist Voraussetzung der Bildung sozialer
Systeme, und das heißt auch, daß soziale Systeme eine eigene
Reproduktion nur verwirklichen können, wenn die Fortsetzung des Lebens
und des Bewußtseins gewährleistet ist. (Ebd., S. 296-297.)
Diese Aussage klingt trivial. Sie wird niemanden überraschen.
Gleichwohl bringt das Konzept der Autopoiesis zusätzliche Perspektiven
ins Bild. Sowohl für Leben als auch für Bewußtsein ist
die Selbstreproduktion nur im geschlossenen System möglich. Das hatte
der Lebensphilosophie wie der Bewußtseinsphilosophie die Möglichkeit
gegeben, ihren Gegenstand "Subjekt" zu nennen. Trotzdem ist
die Autopoiesis auf beiden Ebenen nur unter ökologischen Bedingungen
möglich, und zu den Umweltbedingungen der Selbstreproduktion menschlichen
Lebens und menschlichen Bewußtseins gehört Gesellschaft. Um
diese Einsicht zu formulieren, muß man, wie bereits mehrfach betont,
Geschlossenheit und Offenheit von Systemen nicht als Gegensatz formulieren,
sondern als Bedingungsverhältnis. Das soziale System, das auf Leben
und Bewußtsein beruht, ermöglicht seinerseits die Autopoiesis
dieser Bedingungen, indem es ermöglicht, daß sie sich in einem
geschlossenen Reproduktionszusammenhang ständig erneuern. Das Leben
und selbst das Bewußtsein brauchen nicht zu "wissen",
daß dies sich so verhält. Aber sie müssen ihre Autopoiesis
so einrichten, daß Geschlossenheit als Basis für Offenheit
fungiert. (Ebd., S. 297.)
Interpenetration setzt Verbindungsfähigkeit verschiedener
Arten von Autopoiesis voraus - in unserem Falle: organisches Leben, Bewußtsein
und Kommunikation. Sie macht Autopoiesis nicht zur Ailopoiesis; sie stellt
gleichwohl Abhängigkeitsverhältnisse her, die ihre evolutionäre
Bewährung darin haben, daß sie mit Autopoiesis kompatibel sind.
Von hier aus wird besser verständlich, weshalb der Sinnbegriff theoriebautechnisch
so hochrangig eingesetzt werden muß. Sinn ermöglicht die Interpenetration
psychischer und sozialer Systembildungen bei Bewahrung ihrer Autopoiesis;
Sinn ermöglicht das Sichverstehen und Sichfortzeugen von Bewußtsein
in der Kommunikation und zugleich das Zurückrechnen der Kommunikation
auf das Bewußtsein der Beteiligten. Der Begriff des Sinnes löst
damit den Begriff des animal sociale ab. Es ist nicht die Eigenschaft
einer besonderen Art von Lebewesen, es ist der Verweisungsreichtum von
Sinn, der es möglich macht, Gesellschaftssysteme zu bilden, durch
die Menschen Bewußtsein haben und leben können. (Ebd., S. 297-298.)
Dieser Sachverhalt wird klarer, wenn man die reine Selbstreproduktion
als bloße Fortsetzung des Lebens, der Bewußtheit, der Kommunikation
unterscheidet von den Strukturen, mit deren Hilfe dies geschieht. Die
Autopoiesis ist Quelle einer für das System unbestimmbaren Komplexität.
Die Strukturen dienen der bestimmenden Reduktion und ermöglichen
genau dadurch auch die Reproduktion der Unbestimmtheit, die immer wieder
am Bestimmen als Möglichkeitshorizont erscheint. Nur beides zusammen
ermöglicht Interpenetration. Das Interpenetrationsverhältnis
seligiert dann seinerseits die Strukturen, die für die interpenetrierenden
Systeme deren Selbstreproduktion ermöglichen. Oder mit einer Formulierung
von Maturana: »An autopoietic system is a system with achanging
structure that follows a course of change that is continuously being selected
through its interaction in the medium in which it realized its autopoiesis«,
und daraus folge, »that an autopoietic system is either in continuous
structural coupling with its medium or disintegrates« (Humberto
R. Maturana, Man and Society, a.a.O.. Mit »medium«
in diesem Zitat ist social system gemeint. Im übrigen sind jedoch
die Ausführungen des Meisters über soziale Systeme und deren
eigene Autopoiesis dadurch beeinträchtigt, daß er als Biologe
auch soziale Systeme für lebende Systeme hält und sie als »collection
[!] of interacting living systems« [S. 11] unzureichend erfaßt.
Somit fehlt denn auch eine ausreichende Analyse des Sachverhalts, den
wir hier als Interpenetution zu begreifen versuchen.) (Ebd., S. 298.)
Der hier gemeinte Sachverhalt ist also nur über komplizierte
Formulierungen zugänglich zu machen. Es sind Differenz und
Ineinandergreifen von Autopoiesis und Struktur (die
eine sich kontinuierlich reproduzierend, die andere sich diskontinuierlich
ändernd), die für das Zustandekommen von Interpenetrationsverhältnissen
zwischen organisch/psychischen und sozialen Systemen auf
beiden Seiten unerläßlich sind. Das Begreifen dieser Sachlage
setzt dies Zusammenspiel einer Mehrheit von Distinktionen voraus. Läßt
man nur eine von ihnen außer Acht, wird man zurückkatapultiert
in die alte und ewig unfruchtbare, ideologisch besetzte Diskussion über
das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. (Ebd., S. 298.)
Mit diesen Begriffsentscheidungen sind alle Gemeinschaftsmythologien
verabschiedet - oder genauer gesagt: auf die Ebene der Selbstbeschreibung
sozialer Systeme abgeschoben. Wenn Gemeinschaft heißen soll: partielle
Verschmelzung personaler und sozialer Systeme, so widerspricht dies dem
Begriff der Interpenetration direkt. Um das herauszuarbeiten, wollen wir
zwischen Inklusion und Exklusion unterscheiden. Interpenetration führt
zur Inklusion insofern, als die Komplexität der beitragenden Systeme
von den aufnehmenden Systemen mitbenutzt wird. Sie führt aber auch
zur Exklusion insofern, als eine Mehrzahl von interpenetrierenden Systemen,
um dies zu ermöglichen, sich in ihrer Autopoiesis voneinander unterscheiden
müssen. Weniger abstrakt formuliert: Die Teilnahme am sozialen System
fordert dem Menschen Eigenbeiträge ab und führt dazu, daß
die Menschen sich voneinander unterscheiden, sich gegeneinander exklusiv
verhalten; denn sie müssen ihren Beitrag selbst erbringen, müssen
sich selbst motivieren. Gerade wenn sie kooperieren, muß gegen alle
natürliche Ähnlichkeit geklärt werden, wer welchen Beitrag
leistet. Durkheim hatte diese Einsicht als Unterschied von mechanischer
und organischer Solidarität formuliert; aber es geht nicht um unterschiedliche
Formen der Interpenetration, sondern darum, daß stärkere Interpenetration
mehr Inklusion und mehr (wechselseitige) Exklusion erfordert. Das daraus
resultierende Problem wird durch »Individualisierung« der
Personen gelöst. (Ebd., S. 298-299.)
Es liegt außerhalb des Rahmens dieses Kapitels, Folgerungen
für eine Theorie psychischer Systeme zu ziehen. Meine Vermutung ist
jedoch, und dies wenigstens sei angedeutet, daß manche Themen und
selbst Ambitionen der Philosophie des Bewußtseins in diesem Kontext
wiederauftauchen werden. Wir streichen zwar die Behauptung, das Bewußtsein
sei das Subjekt. Dies ist es nur für sich selbst. Trotzdem kann man
nachvollziehen, daß die Autopoiesis im Medium des Bewußtseins
geschlossen und zugleich offen ist. In jeder Struktur, die sie annimmt,
adaptiert, ändert oder aufgibt, ist sie angeschlossen an soziale
Systeme. Das gilt für »pattern recognition«, für
Sprache und für alles andere. Sie ist trotz dieser Kopplung genuin
autonom, weil nur das Struktur sein kann, was die Autopoiesis des Bewußtseins
anleiten und in ihr sich reproduzieren kann. Damit findet man auch Zugang
zu dem alle soziale Erfahrung transzendierenden Potential des Bewußtseins
und zu einer Typik von Sinnbedarf, die dem Bewußtsein die eigene
Autopoiesis im Wechsel aller spezifischen Sinnstrukturen garantiert. Im
Zusammenhang einer Untersuchung von »Lebensbedingungen« hat
Dieter Henrich Glück und Not als solche Sinngebungen behandelt, die
ein ganzes Bewußtsein durchdringen, ohne in bestimmten Sinnformen
greifbar und korrigierbar zu sein. (Siehe Fluchtlinien:
Philosophische Essays, 1982, S. 11 ff. [**].)
(Ebd., S. 299-300.)
Verhältnisse der Interpenetration und Bindungen gibt es nicht
nur zwischen Mensch und sozialem System, sondern auch zwischen Menschen.
Die Komplexität eines Menschen wird für einen anderen von Bedeutung
und umgekehrt. Wir wollen von zwischenmenschlicher Interpenetration sprechen,
wenn es um genau diesen Sachverhalt geht (*),
und wir müssen ihn einbeziehen, bevor wir auf Sozialisation zu sprechen
kommen. (* Zur Terminologie: In Abweisung von früherem
Sprachgebrauch spreche ich hier nicht von interpersonaler Interpenetration,
weil auch das Körperverhalten einbezogen werden muß und weil
Psychisches nicht in der sozial konstituierten Form von Personalität
vorausgesetzt werden soll.) (Ebd., S. 303.)
Der Begriff Interpenetration ändert sich bei dieser Verwendung
nicht. Die Beziehung von Mensch zu Mensch ist damit auf den gleichen Begriff
gebracht wie die Beziehung von Mensch und sozialer Ordnung. Gerade am
identisch gehaltenen Begriff zeigen sich dann unterschiedliche Phänomene
je nachdem, auf welche Arten von Systemen er bezogen wird. (Ebd., S. 303.)
Die Nervenzelle ist kein Teil des Nervensystems, der Mensch ist
kein Teil der Gesellschaft. Dies vorausgesetzt, müssen wir genauer
fragen, wie es dann trotzdem möglich ist, die Komplexität des
jeweils anderen Systems für den Aufbau des eigenen zu nutzen. Für
den Bereich psycvhsicher und sozialer systeme, für den Bereich sinnhaft
prozessierender Systeme also, lautet die Antwort: durch binäre Schematisierung.
(Ebd., S. 311.)
Die Norm kann ihre Wirklichkeitsprojektion nie voll durchsetzen;
sie erscheint in der Realität daher als Spaltvorgang, als Differenz
von Konformität und Abweichung. (Ebd., S. 312.)
Das Normschema wirkt als Reduktion der Komplexität in Interpenetrationszusammenhängen
nach zwei Seiten, und es wirkt in beiden Richtungen als Differenz. Es
ist für soziale Systeme eine relativ leicht erreichbare Ordnungsgarantie
- besonders wenn Normen variiert werden und Mechanismen für die Sanktionierung
abweichenden Verhaltens zur Wirkung gebracht werden können. Für
das Gesellschaftssystem heißt dies: Primat der Funktionsbereiche
Politik und Recht. (Ebd., S. 313.)
Oft wird der Komplexitätsbegriff schon gleich so verstanden:
als Fehlen der für sichere Berechnung notwendigen Informationen (vgl.
S. 50 f. [**]).
(Ebd., S. 314.)
Nicht Einheit, sondern Differenz ist die Interpenetrationsformel,
und sie bezieht sich nicht auf das »Sein« der Systeme, sondern
auf ihre operative Reproduktion. (Ebd., S. 315.)
Die theoretischen Vorarbeiten, auf die wir zurückblicken,
erlauben es, eine Frage zu formulieren. Wir hatten soziale Interpenetration
und zwischenmenschliche Interpenetration unterschieden. Wir hatten außerdem
an Hand der Komplexitätsprobleme in interpenetrativen Verhältnissen
die Vorteilhaftigkeit binärer Schematisierungen (Beispiele:
richtig/falsch, freundlich/feindlich, konform/abweichend, nützlich/schädlich
u.a.; HB) dargelegt. Die Frage lautet: ob es eine binäre Schematisierung
gibt, die beide Arten von Interpenetration zusammen bedient; die funktional
diffus genug wirkt, um sowohl für soziale Interpenetration als auch
für zwischen menschliche Interpenetration Komplexität zu reduzieren.
Die Antwort lautet: ja. Dies ist die Sonderfunktion der Moral. (Ebd.,
S. 317.)
Moral ... ist selbst, wissenssoziologisch interpretiert, ein Produkt
der Situatiobn, die sie als beklagenswert formuliert. Nur bei oberflächlicher
und zudem einseitiger Betrachtungsweise erscheint Moral als Bindemittel,
das die Menschen in der Gesellschaft hält. Moral stößt
auch ab, verfeindet auch und erschwert die Lösung von Konflikten
- eine Erfahung, auf die man unter anderem mit der Trennung von Recht
und Moral reagiert hatte. Jedenfalls ist die Funktion von Moral durch
den Hinweis auf gesellschaftlichen Integrationsbedarf nicht zutreffend
bestimmt. Die Gesellschaft ist, zum Glück, keine moralische Tatsache.
Freilich übernimmt eine Theorie, die diese bestreitet, hohe Argumentationslasten.
Sie muß Ersatz beschaffen. Dies versuchen wir mit Hilfe des Begriffs
der Interpenetration, und das heißt: daß das Phänomen
Moral nicht mehr auf die einfache Beziehung von Mensch und Gesellschaft
bezogen wird, sondern auf die Beziehung zwischen Beziehungen: auf die
Koordination zweier unterschiedlicher Interpenetrationsverhältnisse.
(Ebd., S. 318.)
Alle Moral bezieht sich letztlich auf die Frage, ob und unter
welchen Bedingungen Menschen einander achten bzw. mißachten. Mit
Achtung soll eine generalisierte Anerkennung und Wertschätzung gemeint
sein, mit der honoriert wird, daß ein anderer den Erwartungen entspricht,
die man für eine Fortsetzung der sozialen Beziehungen voraussetzen
zu müssen meint. Achtung wird personenbezogen zugeteilt, jeder kann
sie für sich gewinnen und verlieren (ohwohl in älteren Gesellschaften
Gruppenzugehörigkeiten als Voraussetzung für Achtung/Mißachtung
bedeutsam sind). In jedem Fall ist die Person als ganzes gemeint - im
Unterschied zur Schätzung einzelner Verdienste oder Fähigkeiten,
fachlichen, sportlichen, amourösen Könnens usw.. Achtung ist
also ein symbolische Generalisierung, die auf die Person zielt und an
ihr aber auch ihre Grenzen findet. .... Wichtig ist, daß die Person
als ganzes zur Beurteilung steht. Dies ist Voraussetzung der binären
Schematisierung: daß entweder Achtung oder Mißachtung angebracht
ist, aber nicht ein Mischurteil wie: sportlich locker, menschlich warm,
intellektuell unter dem Strich. (Ebd., S. 318-319.)
Als Moral eines sozialen Systems wollen wir die Gesamtheit der
Bedingungen bezeichnen, nach denen in diesem System über Achtung
und Mißachtung entschieden wird. (Ebd., S. 319.)
Moral ist eine symbolische Generalisierung, die die volle
Komplexität von doppelkontingenten Ego/Alter-Beziehungen auf Achtungsausdrücke
reduziert und durch diese Generalisierung (1) Spielraum für Konditionierungen
und (2) die Möglichkeit der Rekonstruktion der Komplexität durch
den binären Schematismus Achtung/Mißachtung eröffnet.
(Ebd., S. 320.)
Lockerung von Bindungen. Darin liegt, gesmtgesellschaftlich gesehen,
auch eine Freigabe von Bindungsmöglichkeiten für stärker
spezifische (nicht mehr die Gesamtperson betreffende) und zugleich kumulative
Verwendungen. Man denke an Modeströmungen (wie etwa die Devotionsbewegung
des 17. Jahrhunderts), an soziale Bewegungen, an Gruppierungen um Freizeitaktivität,
aber auch an organisiertes Verhalten. Aggregationen dieser Art erzeugen
dann durch Kumulation Effekte eigener Art, die heute die Gesellschaft
vielleicht stärker bestimmen als der Schematismus der Moral - besonders
wenn die Publikumsorientierung der Politik und die Konsumorientierung
der Wirtschaft besondere Sensibilität dafür bereithalten. All
das setzt eine abgeschwächte, temporäre, aber reizbare Bindungsfähigkeit
von Individuen voraus. (Frappierend die Parallele
zur schwachen, kumulativen und spezifischen chemischen Bindungsfähigkeit
bestimmter Großmoleküle als Voraussetzung für die Entstehung
von Leben.) (Ebd., S. 321-322.)
Diese sozialkulturellen Entwicklungen muß man voraussetzen,
dann sieht man den Kontext des daraus resultierenden Bedarfs für
Reflexionsleistungen im Bereich der Moral. Ethische Theorien suchen diese
strukturelle Problematik durch Theorie zu kompensieren, um zu verhindern,
daß die Moral auch semantisch entwertet wird. (Ebd., S. 322.)
Moral gelingt eben nur, wenn es gelingt, beide Interpenetrationsformen
zu koppeln, also die Bedingungen, zu denen man sich persönlich und
menschlich auf einen anderen einlassen kann, zurückzubinden an den
Aufbau eines gemeinsamen Sozialsystems (oder auch: an das Schon-Leben
in einem solchen Sozialsystem), und wenn umgekehrt das Kontinuieren der
Operationen eines solchen Systems nicht unabhängig davon denkbar
ist, was die Menschen persönlich voneinander halten und wie sie wechselseitig
die Komplexität und die Entscheidungsfreiheit des jeweils anderen
in die eignene Selbstauffassung einbauen. (Ebd., S. 323.)
Wir ... gewinnen auch die Möglichkeit, Differenzphänomene
zu analysieren und die Verschiebung von Themen im Verhältnis zur
Moral zu beobachten. So kann man, um ein Beispiel zu geben, ab etwa 1650
für knap p150 Jahre von einer Moralkrise des Themenkomplexes Liebe
und Sexualität sprechen. Liebe wird (im Zusammenhang mit Sexualität)
auf ein kurzzeitiges, wenn nicht gar momenthaftes Phänomen reduziert,
das für die Beteilgten höchste Erfüllung bedeutet - aber
eben nur für den Augenblick. Das heißt: die Höchstform
zwischenmenschlicher Interpenetration erfordert zugleich den Verzicht
auf die Bildung eines sozialen Systems (Typ Ehe), das Dauer verheißen
könnte. Im Spiel der Verführung, des Widerstandes, der Hingabe
muß man daher auf moralische Sicherheiten, ja selbst auf Achtung
verzichten - mit all der Bitterkeit und den psycholgischen Schwierigkeiten,
die das (besonders für Frauen) mit sich bringt. In eine vordergründigen
Nomenklatur geht es zwar noch um Tugend und Reputation; aber das eigentliche
Problem ist, daß man angesichts der Inkonstanz der Liebe auf einen
sozialen Halt verzichten muß. Der Fokus der Moral wandert, soweit
es um Zweierbeziehungen geht, in die Semantik der Freundschaft ab.
(Ebd., S. 323-324.)
Umgekert geht es der Wirtschaftstheorie. Hier setzt die gesellschaftliche
Änderung damit einb, daß produktive Arbeit nicht mehr (oder
zunächst: nicht mehr nur) hauswirtschaftlich abläuft, sondern
über den Geldmechanismus an die Wirtschaft angeschlossen wird. Dafür
tritt die zwischenmenschliche Interpenetrationzurück und statt dessen
neue Formen sozialer Interpenetration, Markt und Organsiation, in den
Vordergrund. Man tauscht Arbeitsteilung nach spezifischen Anforderungen
gegen Bezahlung in bestimmter Höhe. Dabei ist die Einbeziehung der
vollen Komplexität des Menschen in die eines anderen nicht nur unnötig,
sondern auch als Störfaktor zu vermeiden. Also kann die soziale Interpenetration
nicht mehr die zwischenmenschliche Interpenetration mitversorgen. Achtung
wird entbehrlich, Einschätzung von Leistungs- und Zahlungsfähigkeit
genügen. Adam Smith schreibt eine Wirtschaftstheorie außerhalb
seines Hauptwerkes, seiner »Theorie der moralischen Gefühle«.
(Ebd., S. 324.)
Moral wird zum Störfaktor, jedenfalls zu einer Attitüde,
die ohne Mißtrauen beobachtet und in Schranken gehalten werden sollte.
Die Maximen, die Machiavelli einem Fürsten mitgeben wollte, hatten
zu seiner Zeit die moralisch gestimmten Gemüter erregt. Heute sollte
man eher erschrecken, wenn man im Wahlkampfstab einer politischen Partei
die Äußerung hört: »Die Leute wollen doch nur wissen,
wer die Guten und wer die Bösen sind, und das sagen wir
ihnen«. (Ich verzichte darauf, das Zitat zu
belegen [was man müßte, wenn man mit dem Zitieren ein moralisches
Urteil verbinden und über Achtung und Mißachtung disponieren
wollte].) (Ebd., S. 325.)
Für die Behandlung von Fragen der Sozialisation, die nun
anschließt, haben wir zu erinnern:
(1) |
daß wir Probleme der Kausalität als
sekundär ansehenj gegenüber Probölemen der Selbstreferenz; |
(2) |
daß alle Informationsverarbeitung ihren
take off nicht an Identitäten (zum Beispiel: Gründen)
gewinnt, sondern als Differenzen; |
(3) |
daß wir genötigt waren, Kommunikation
8als konstituierende und reproduzierende Autopoiesis) und Handlung
(als konstituiertes Element sozialer Systeme zu unterscheiden; |
(4) |
daß wir Menschen als Umwelt sozialer Systeme
ansehen; |
(5) |
daß das verhältnis von Mensch und
sozialem System unter dem Gesichtspunkt von Interpenetration begriffen
wird. |
Mit diesen Ausgangspunkten sind Vorarbeiten geleistet, sind Pfosten eingerammt,
an denen wir die Theorie der Sozialisation vertäuen können.
(Ebd., S. 325.)
Alle Interpenetrationsverhältnisse erzeugen ... im Zuge ihrer
Realisierung ... Schematismen. Nur mit ihrer Hilfe können Situationen
erfaßt und für Informationsgewinnung ausgewertet werden. Nur
im Scheamtismus Verstehen/Nichtverstehen gibt es jenen Aha-Effekt, der
mit bestimmten unerwarteteten Ereignissen aufleuchtet und als Erfolgserlebnis
gebucht werden kann. Nur im Schematismus Zuwendung/Abwendung kann man
Signale lernen, die den einen bzw. den anderen Fall produzieren. ....
Im Differenzschema liegt eine Vorentscheidung über die danach möglichen
Optionen; un d diese Vorentscheidung, nicht esrt die Option, hat weitreichende
Bedeutung für den Sozialisationsprozeß (Ebd., S. 327-328.)
Festzuhalten ist gerade, daß es sich bei Differenzbildungen
immer um Reduktionen handelt; aber eben um Reduktionen, die sich in Interpenetrationsverhältnissen
bewähren und deshalb in der Sozialisation bevorzugt ausgebildet werden.
(Ebd., S. 328-329.)
Jedes Schema, für sich genommen, steigert die Wahrscheinlichkeit
einer Akkumulation von Sozialisationserfahrungen auf entweder der einen
oder der anderem Linie. Wenn das so ist. muß es für den Sozialisationsprozeß
von erheblicher Bedeutung sein, daß nicht nur ein einziges Schema
den Gesamtprozeß dominiert. (Ebd., S. 329.)
Alle Sozialisation läuft als soziale Interpenetration, alle
soziale Interpenetration als Kommunikation ab. Kommunikation gelingt und
ist als gelingend erfahrbar, indem drei Selektionen (Inforamtion/Mitteilung/Verstehen)
eine Einheit bilden, an die Weiteres angeschlossen werden kann. Teilnahem
an diesem Geschehen ... ist die Grundlage aller Sozialisation. (Ebd.,
S. 330.)
Mit Hilfe der Differenz bewußt/unbewußt hat sich Psychisches
vom Körperlichen (oder genauer: vom Körper/Seele-Schema) emanzipiert,
ist eigenmächtig und seinerseits hochkomplex geworden un d trotzdem
leicht interpretierbar geblieben. Damit hat aber die Körperkultur
ihren Wert als Indikator für psychische Vorgänge verloren. Die
wechselseitige Interpenetration im sozialen Leben mit Hilfe des Schemas
bewußt/unbewußt kann zwar Körperverhalten als psychisch
gesteuert einbeziehen, erübrigt eben damit aber die Funktion der
Körperkultur, Einblick in Psychisches zu ersetzen. (Ebd., S.
335.)
Eine heute verbreitete Klage meint: der Körper sei mit Gewalt
zum Schweigen gebracht worden. (Ebd., S. 335.)
Am sprot fällt zunächst die extreme Reduktion weiterreichender
Sinnbezüge auf, die dann als Grundlage dient für ein komplexes
Arrangement von Leistungsbewertungen, Notierungen, Vergleichen, Fortschritten
und Rückschritten. Eine Zulieferungsindustrie, ein mitlebendes Zuschauerinteresse
usw. schließen an. Damit ist nicht nur (einmal mehr) belegt, daß
Reduktionen den Aufbau von Komplexität ermöglichen, die dann
durch die Reduktionen nicht mehr kontrolliert werden kann. (Ebd.,
S. 336-337.)
Jede noch so unwahrscheinliche Ausdifferenzierung spezifischer
Funktionsbereiche muß auf die Tatsache rückbezogen bleiben,
daß Menschen in körperlicher Existenz zusammenleben, sich sehen,
hören, berühren können. Noch so geistvolle, fast immateriell
gelenkte Systeme wie Wirtschaft, Recht und Forschung können nicht
ganz davon abheben. Sie mögen es auf einen Schattenkuß reduzieren
...; irgednwei aber müssen sie die Kontrolle der Körperlichkeit
in den Symbolismus ihrer generalisierten Kommunikationsmedien einbeziehen;
sie müssen Zeichen des Auslösens oder Verhinderns dafür
bereithalten und entsprechende Erwartungsbildungen vorsehen. Die soziokulturelle
Evolution nimmt nicht die Richtung von Materie zu Geist, von Energie zu
Information; sie führt aber zu zunehmend anspruchsvollen, aspekthaften
Kombinationen von Körperlichkeit und funktionsspezifischer Kommunikation.
(Ebd., S. 337-338.)
Die moderne Semantik des Körpers kann nicht mehr mit der
Differenz von res-corporales/res-incorporales erfaßt werden, mit
der die Tradition dem Verhältnis zum Körper Informationswert
gegeben hatte. Damit verliert auch die Differenz von (sterblichem) Körper
und (unsterblicher) Seele ihren Halt in einer über sie hinausgreifenden
Differenz, die die ganze Schöpfung strukturiert, ja den Aspekt der
Schöpfung selbst formuliert. (Ebd., S. 339-340.)
Mit dem Ausklingen jener Leitdifferenz körperlich/unkörperlich
werden ältere semantische Vorverständigungen obsolet. Zugleich
wird Körpersinn aber auch ferigesetzt für diejenigen Sonderbestimmungen,
die wir mit Tanz, Sport und symbiotischen Mechanismen entwickelt haben.
Teils wird der Körper selbst zum Kristallisationspunkt für Soziales
einbeziehende Sinngebung; teils wird er für die Verwendung in den
kombinatorisch Zusammenhängen der großen Funktionssysteme zurechtaspektiert.
Die Semantik der Körperlichkeit mit ihrem wohl unbestreitbaren Einfluß
auf Körperempfinden und Körperverwendung korreliert mithin mit
der Formenveränderung, sie sich in der soziokulturellen Evolution
ergibt. Und dies ist deshalb der Fall, weil der menschliche Körper
weder eine bloße Substanz (als Träger von Fähigkeiten)
noch ein bloßes Instrument für soziale Verwendung ist, sondern
weil er miteinbezogen ist in die Interpenetration von Mensch und sozialem
System. (Ebd., S. 341.)
Als Umwelt ist der Körper der Gesellschaft vorgegeben (was
nicht ausschließt, vielmehr gerade einschließt, daß
die sozioKulturelle Evolution auch die organische Evolution beeinflußt).
Als hochkomplexes und dadurch konditionierbares Agglomerat von Systemen
hat der Körper dagegen einen Sinn, der Komplexität in sozialen
systemen als verfügbar erscheinen läßt: Man sieht dann,
berücksichtigt dann, erwartet dann ganz unmittelbar, daß er
sich so oder so auch anders verhalten kann. Aber diese Einheit der Komplexität
und diese Unmittelbarkeit der Orientierung an ihr sind nicht der Körper
selbst; sie werden zur Einheit und Unmittelbarkeit erst im Schema der
Differenzen, die sich aus der Interpenetration ergeben. (Ebd., S.
341.)
An Stewlle einer Zusammenfassung soll anschließend nochmals
herausgestellt werden, daß Interpenetration auch ein Sachverhalt
ist, der in allen angesprochenen Hinsichten historisch variiert, das heißt,
mit der Evolution des Gesellschaftssystems sich aufbaut und sich ändert.
Grundlage dieser Annahme ist die These: daß Komplexitätsverhältnisse
weder eine beliebige noch eine von ihnen unabhängige Ordnung zulassen.
Wird die Komplexität, die interpenetrierende Systeme einenander zur
Verfügung stellen, gesteigert, wird die Kontingenz ihrer Reduktion
erkennbar, wird die Selektivität aller Festlegungen verschärft,
so ändert sich auch die Formen der Interpenetration, die sich dann
noch bewähren können. (Ebd., S. 342.)
Ohne einen binären Code gibt es auch kein »ausgeschlossenes
Drittes«. (Ebd., S. 340.)
Vor allem die zwischenmenschliche und die soziale Interpenetration
treten auseinander. (Ebd., S. 343.)
Sozialisation als Folge von Interpenetration für den Menschen
.... (Ebd., S. 344.)
Erfahrung, daß weder die Gesellschaft durch Moral noch die
Sozialisation durch Erziehung unter Kontrolle gebracht werden kann.
(Ebd., S. 344.)
These: daß Steigerungen der Komplexität sozialer Systeme
(und die Gesellschaft ist das komplexeste, das alle anderen in sich einschließt)
die Interpenetrationsverhältnisse ändern, sie diversifizieren
und sie weniger unmittelbar an ihren eigenen »natürlichen«
Ablauf zurückbinden. (Ebd., S. 345.)
Die Individualität psychischer Systeme.
Wir gehen davon aus, daß die sozialen Systeme nicht aus
psychischen Systemen, geschweige denn aus leibhaftigen Menschen bestehen.
(Ebd., S. 346.)
Jedes dieser Systeme hat seine eigenen »innere Unendlichkeit«.
Keines ist in seiner Totalität und in seinen Wahlgrundlagen beobachtbar.
Es ist deshalb prinzipiell falsch, anzunehmen, Individuen seien besser
oder jedenfalls direkter beobachtbar als soziale Systeme. Wenn ein Beobachter
Verhalten auf Individuen zurechnet und nicht auf soziale Systeme, ist
das seine Entscheidung. Sie bringt keinen ontologischen Primat
von menschlicher Individualität zum Ausdruck, sondern nur Strukturen
des selbstreferentiellen Systems der Beobachtung, gegebenenfalls also
auch individuelle Präferenzen für Individuen, die sich dann
politisch, ideologisch und moralisch vertreten lassen, aber nicht in den
Gegenstand der Beobachtung projiziert werden dürfen. (Hier
läßt sich im übrigen auch sehr leicht die prinzipielle
Schwäche einer transzendentaltheoretischen Fundierung von
Individualität [statt: von Arbeitskategorien der Vernunft]
erkennen. Nach der eigenen Theorie muß der Transzendentaltheoretiker
sich selbst dann als freies und dadurch unerkennbares Individuum postulieren,
also als einen Theoretiker, der sich nicht in die Karten schauen läßt.)
(Ebd., S. 347.)
Gegen jede Art von individualistischem Reduktionismus wird immer
wieder eingewandt, daß er als Reduktionismus den »emergenten«
Eigenschaften sozialer Systeme nicht gerecht werden könne. Wir wenden
zusätzlich ein, daß es sich nicht einmal um Reduktionismus
handele, sondern nur um eine (extrem verkürzte) Relationierung auf
psychische statt auf soziale Systeme. Dieser Sachverhalt wird verstellt,
wenn man psychische Systeme kurzerhand als Individuen bezeichnet, also
sie als ausreichend charakterisiert ansieht, wenn man sie für »unteilbar«
erklärt. (Ebd., S. 347.)
Vielleicht ist das einzige aktuelle problem, hinreichendes Geschick
für Übergänge zu entwickeln (fast
denkt man hier an Dialektik: Einheit in Übergängen erscheinen
lassen!) und Lösungsmöglichkeiten für den Fall von
Konflikten bereitzuhalten. (Ebd., S. 374.)
Was damit erfaßt werden kann, ist allerdings das wohl wichtigste
Problem der Autopoiesis des Bewußtseins: das Problem des Todes.
Den eigenen Tod kann man sich als Ende des Lebens vorstellen, nicht aber
als Ende des Bewußtseins. (Ebd., S. 374.)
Der Tod ist kein Ziel. Das Bewußtsein kann nicht an ein
Ende gelangen, es hört einfach auf. (Ebd., S. 375.)
Je individueller ein psychisches System sich begreift und die
eigene Autopoiesis reflektiert, desto weniger kann es sich ein Weiterleben
nach den Tode vorstellen und desto unvorstellbarer wird ineins damit der
letzte Moment des Bewußtseins. (Ebd., S. 376.)
Struktur und Zeit.
Widerspruch und Konflikt.
Widersprüche haben dadurch, daß sie
die Eliminierung von Abweichungen ermöglichen, aber nicht erzwingen,
Eigenschaften, die die Entwicklung eines Immunsystems fördern.
Ein Immunsystem muß mit Selbstreproduktion unter sich ändernden
Bedingungen kompatibel sein. Es ist nicht einfach ein Mechanismus der
Korrektur von Abweichungen und der Wiederherstellung des status quo ante;
es muß diese Funktion selektiv handhaben, nämlich vereinbaren
kÖnnen mit dem Akzeptieren brauchbarer Änderungen. Es dient
nicht unbedingt der Erhaltung der attackierten Strukturen, aber es setzt
für das eigene Funktionieren, und zwar schon für das Erkennenvon
Widersprüchen, Strukturen und Begrenzungen des Möglichen voraus.
(Ebd., S. 504.)
Schon auf der Ebene organischen Lebens muß für
diese Funktion Lernfähigkeit und »Gedächtnis« der
Zellen vorausgesetzt werden. Mit Hilfe eines Gedächtnisses können
Erstvorfälle das System binden. Das führt zu einer gerichteten
Sensibilisierung des Systems. Im Falle einer Wiederholung des Vorfalls
kann das System dann verstärkt, spezifiziert und beschleunigt reagieren.
Auf diese Weise werden die wahrscheinlicheren (wahrscheinlich sich wiederholenden)
Störungen ausgefiltert und, dadurch bedingt, unwahrscheinlichere
Störungen als »Zufälle« für lernende Anpassung
abgesondert. Das Erkennungsverfahren wird raffiniert, ohne daß eine
»Analyse« der Störungen und ihrer Ursachen erforderlich
wäre. Eine Totalvernichtung alles »Fremden« läßt
sich vermeiden, und doch werden wesentliche Funktionen und Strukturen
gegen eine hochwahrscheinliche Zerstörung geschützt. (Ebd.,
S. 504.)
Dieser Funktionskontext eines Immunsystems ermöglicht es
zunächst, die Funktion von Widersprüchen in sozialen Systemen
zu erklären. Sie dienen der Reproduktion des Systems durch die dazu
nötige Reproduktion von Instabilitäten, die die Einrichtungen
des Immunsystems in Operation setzen können, aber nicht müssen.
Diese allgemeine Funktion der Instabilisierung erklärt aber noch
nicht den besonders zugespitzten Charakter des Widerspruchs; so wenig
wie sie ausreichend erklärt, weshalb es zu Konflikten kommt. (Insofern
sind auch meine Ausführungen in: Konflikt und Recht, in: Niklas
Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts: Beiträge zur Rechtssoziologie
und Rechtstheorie, 1981, S. 92-112, ergänzungsbedürftig.)
Der Widerspruch scheint, ähnlich wie der Schmerz, eine Reaktion auf
ihn selbst zu erzwingen oder doch sehr nahezulegen. Um anschließen
zu können, ist es nicht nötig, daß man das, was dem Gewohnten
widerspricht, kennt; daß man sich darum bemüht, zu erkennen,
was es an sich ist; oder gar: daß man das Widersprechende in seinem
Eigenrecht würdigt. Der Widerspruch ist eine Form, die es erlaubt,
ohne Kognition zu reagieren. Es genügt die Charakterisierung, die
darin liegt, daß etwas in die semantische Figur des Widerspruchs
aufgenommen wird. Eben deshalb kann man von einem Immunsystem sprechen
und die Lehre von den Widersprüchen einer Immunologie zuordnen; denn
auch Immunsysteme operieren ohne Kognition, ohne Umweltkenntnis, ohne
Analyse der Störfaktoren auf Grund einer bloßen Diskrimination
als nichtdazugehörig. (Ebd., S. 504-505.)
Es ist genau dies abgekürzte Verfahren, woran die Soziologie
immer schon Anstoß genommen hat. Sie fordert zum Beispiel die Bemühung,
zu erkennen, weshalb die Verbrecher ihre Verbrechen begehen (auch wenn
dies zur Priifung der juristischen Tatbestandsmerkmale nicht erforderlich
ist), weshalb die Versager versagen, weshalb die Protestierenden protestieren.
Sie durchsetzt damit das Immunsystem der Gesellschaft mit Kognitionsanforderungen
- mit der merkwürdigen Inkonsequenz, daß sie dann ihrerseits
die Gesellschaft als Widerspruch zu solchen Anforderungen erfährt
und daraufhin die Gesellschaft ohne zureichende Kognition - allein auf
Grund dieses Widerspruchs - abfertigt. Die soziologische Utopie lebt auf
Grund eines eigenen Immunsystems, das mit dem der Gesellschaft inkompatibel
ist. So wird die Soziologie zur Krankheit der Gesellschaft und die Gesellschaft
zur Krankheit der Soziologie - wenn diese Inkompatibilität nicht
theoretisch unter Kontrolle gebracht wird. (Ebd., S. 505.)
Jedenfalls ist die Immunabwehr nicht in Kognition, nicht in besseres
Wissen aufzulösen; sie kann nur ihrerseits in Richtung auf höhere
Komplexität verfeinert werden, und dazu gehört auch, daß
sie schärfer kontrolliert, welche semantischen Sachlagen eigentlich
als Widerspruch zu behandeln sind. Wesentlich ist, wie immer elaboriert,
daß Erwartungsunsicherheiten in die Figur des Widerspruchs zusammengezogen
werden. Die komprimierte Unsicherheit wird daraufhin etwas fast Sicheres:
daß etwas geschehen muß, um den Widerspruch zu lösen.
Logisch gesehen könnte man sich dem »ausgeschlossenen Dritten«
zuwenden und sich um den Widerspruch herumdrücken; aber die semantische
Form des Widerspruchs verlangt, daß das ausgeschlossene Dritte ausgeschlossen
bleibt. Sie kanalisiert dadurch das Anschlußverhalten, ohne es festzulegen.
Es mag eine Entscheidung sein, die durch ihre Begründung der Strukturentwicklung
dient, oder ein Konflikt, der über Schäden und Siege dieselbe
Funktion erfüllt. In jedem Falle scheint zu gelten, daß konzentrierte
Instabilität schon keine mehr ist; daß sie zumindest ein deutliches
Signal ist, das Aufmerksamkeit, Kommunikationsbereitschaft und damit auch
momentan gesteigerte Zufallsempfindlichkeit auslöst. (Ebd.,
S. 505-506.)
Wenn wir diese These annehmen, folgt daraus, daß Widersprüche
im System nicht eindeutig lokalisiert werden können. Sie lassen sich
nicht an dieser oder jener Vorstellung festmachen, sie sind nicht etwas
»Schlechtes« im Vergleich zum »Guten«, das man
aussortieren müßte. Sie dienen als Alarmsignale, die im System
zirkulieren und überall unter angebbaren Bedingungen aktiviert werden
können. Wenn man sie auf etwas Bestimmtes festlegen will, dann auf
diese Funktion. Sie dienen als ein Immunsystem im System. Das erfordert
hohe Mobilität, ständige Einsatzbereitschaft, okkasionelle Aktivierbarkeit,
universelle Verwendbarkeit, und deshalb muß die Konstitution ihrer
Einheit auf die Operationen bezogen werden, die die autopoietische Einheit
des Systems gewährleisten: auf Bewußtsein bzw. auf Kommunikation.
(Ebd., S. 506.)
Man mag sich vorstellen, daß ein Immunsystem aus den »Unheiten«
des Systems besteht, aus Ablehnungssymbolen, die (relativ) frei zur Verfügung
stehen, deren Gebrauch aber konditioniert werden kann: die Welt der »Neins«
im Verhältnis zur Welt der »Jas«. Normalerweise wird
die Annahme von Selektionsvorschlägen erwartet, sonst würde
ihre Kommunikation unterbleiben. Zugleich läuft aber immer auch,
wie immer marginal, die Möglichkeit der Ablehnung mit. Das System
immunisiert sich nicht gegen das Nein, sondern mit Hilfe des Nein;
es schützt sich nicht gegen Änderungen, sondern mit Hilfe
von Änderungen gegen Erstarrung in eingefahrenen, aber nicht
mehr umweltadäquaten Verhaltensmustern. Das Immunsystem schützt
nicht die Struktur, es schützt die Autopoiesis, die geschlossene
Selbstreproduktion des Systems. Oder um es mit einer alten Unterscheidung
zu sagen: es schützt durch Negation vor Annihilation.. (Ebd.,
S. 506-507.)
Der Vergleich mit dem Immunsystem von Organismen führt zur
Forderung einer immunologischen Logik, die wir hier nicht weiter verfolgen
können. Der Vergleich ist nicht nur metaphorisch gemeint, sondern
funktional. Er darf andererseits nicht im Sinne der berühmt/berüchtigten
Organismus-Analogie überdeutet werden (vgl. dazu die Einleitung S.
17). Vor allem kann die Logik sozialer Systeme sich nicht, wie das Immunsystem
eines Organismus, zugleich auf die Stabilität eines räumlichen,
durch Formen gesicherten Zusammenhangs beziehen. Auch »Autopoiesis«
erhält ja bei der Übertragung von organischen auf soziale Systeme
einen veränderten Sinn: sie sichert hier nicht Kontinuität des
Lebens, sondern Anschlußfähigkeit des Handelns. Aber wie ist
das genau zu denken? (Ebd., S. 507.)
Als selbstreferentielle Artikulation setzen Widersprüche
immer ein Verhältnis von Struktur und Element (Ereignis) voraus.
Strukturen und Ereignisse können dabei nicht isoliert betrachtet,
nicht je für sich auf Widersprüchlichkeit bzw. Widerspruchsfreiheit
geprüft werden. Das schließt Theorien aus, die behaupten, es
gäbe »strukturelle Widersprüche« im Sinne von Strukturen,
die relativ zeitbeständig vorhanden sind und einen Widerspruch enthalten,
ihm sozusagen Dauer und permanente Wirkung verleihend. Strukturelle Widersprüche
gibt es nur für Beobachter eines Systems (eingeschlossen: Selbstbeobachtung
des Systems), denn nur Beobachter können Unterscheidungen einführen
und mit Hilfe von Unterscheidungen Widersprüche feststellen. Für
Beobachter wird der Widerspruch als Ereignis des je eigenen Systems aktuell.
Ohne solche Aktualisierung hat der Widerspruch in Sinnsystemen keine Realität,
nämlich keine Bedeutung und erst recht keine alarmierende Funktion.
(Ebd., S. 507.)
Ebenso ausgeschlossen ist die Vorstellung, widerspruchsvolle Ereignisse
seien unmöglich, die Welt (als logisch einwandfrei eingerichtete
Schöpfung oder wie immer) lasse sie nicht zu. Im Gegenteil: Widersprüche
sind überhaupt nur als Ereignisse real möglich, denn in temporalisierten
Systemen gibt es keinerlei andere Realitätsgrundlagen als die im
System selbst produzierten Ereignisse. (Wir brauchen
wohl nicht immer wieder zu betonen, daß dies eine Umwelt des Systems
voraussetzt.) Etwas salopp formuliert: da die Ereignisse sowieso
gleich wieder verschwinden, da sie ohnehin im Entstehen vergehen, macht
es auch nichts, wenn sie die Form eines Widerspruchs annehmen; sie sind
ohnehin zur Selbstzerstörung bestimmt, und gerade darin besteht ihr
Beitrag zur Selbstreproduktion des Systems. (Ebd., S. 507-508.)
Am Ausschluß dieser beiden Thesen des rein strukturellen
Widerspruchs und der Unmöglichkeit widerspruchsvoller Ereignisse
wird der Sinn und die Stoßrichtung der These erkennbar, Widerspruch
sei Artikulation von Selbstreferenz. Widersprüche kommen nur im Zusammenwirken
von Struktur und Ereignis zustande. Sie setzen eine strukturelle Vermittlung
der Selbstreferenz des Ereignisses voraus. Nur durch Umleitung ihres Sinnes
über strukturiertes Anderes können Ereignisse sich selbst widersprechen.
In unstrukturierten Verhältnissen wäre weder kontradiktorisches
Widersprechen möglich, noch Ironie, noch Paradoxierung, noch Kommunikation
von Absicht unter Mitkommunikation von Zweifeln an eben dieser Absicht.
Alle Formen widerspruchsvoller Kommunikation laufen über eigens hierfür
ausgewählten Sinn, und diese Auswahl orientiert sich an den Strukturselektionen
sozialer Systeme. (Ebd., S. 508.)
Man sieht so auch deutlich, wie der Widerspruch eigentlich seine
warnende, alarmierende Funktion erfüllt. Er zerstört für
einen Augenblick die Gesamtprätention des Systems: geordnete, reduzierte
Komplexität zu sein. Für einen Augenbliak ist dann unbestimmte
Komplexität wiederhergestellt, ist alles möglich. (Das
ist natürlich der Grund, weshalb Logiker Widersprüche ausschließen
wollen, da sie wissen, daß die Welt als Beliebigkeit nicht existieren
kann.) Aber zugleich hat der Widerspruch genug Form, um die
Anschlußfähigkeit des kommunikativen Prozessierens von Sinn
doch noch zu garantieren. Die Reproduktion des Systems wird nur auf
andere Bahnen gelenkt. Sinnformen erscheinen als inkonsistent, und das
alarmiert. Aber die Autopoiesis des Systems wird nicht unterbrochen.
Es geht weiter. Dies zuerst formuliert zu haben, ist das Verdienst der
Hegelschen Neukonzipierung von »Dialektik«. (Ebd.,
S. 508-509.)
Der Widerspruch signalisiert mithin, und das ist seine Funktion,
daß der Kontakt abgebrochen werden könnte. Das soziale System
könnte aufhören. Auf Handeln folgte dann kein Handeln mehr.
Aber das Signal selbst ist im Konjunktiv gesetzt und für das gesamtgesellschaftliche
System sogar im Irrealis. Das Signal selbst warnt nur, flackert nur auf,
ist nur Ereignis - und legt dann darauf bezogenes Handeln nahe.
(Ebd., S. 509.)
Um den hochabstrakten und ungewohnten Begriff sozialer Immuneinrichtungen
etwas zu verdeutlichen, soll jetzt ein Abschnitt eingeschoben werden,
der auf das Sozialsystem Gesellschaft zugeschnitten ist. Aus dem gesamten
Bereich sozialer Immunologie wird mithin nur ein Ausschnitt behandelt.
Die These, die hier vorgestellt werden soll, lautet: daß das Rechtssystem
als Immunsystem des Gesellschaftssystems dient. Damit ist nicht gesagt,
daß das Recht allein auf Grund dieser Funktion zureichend begriffen
werden kann. Es erzeugt auch und wesentlich Sicherheiten für nichtselbstverständliche
Verhaltenserwartungen. Aber diese Funktion der Erwartungsgeneralisierung
angesichts von riskanten Verhaltenserwartungen scheint an das Immunsystem
der Gesellschaft gebunden zu sein. Die über Recht erreichten Sicherheiten
(nicht der faktisch erreichbaren Zustände, wohl aber des eigenen
Erwartens) beruhen eben darauf, daß das Kommunizieren der eigenen
Erwartungen auch im Falle eines Widerspruchs noch funktioniert, wenn auch
nur in einer gegen Normalkommunikation versetzten Weise mit anderen Anschlußwerten.
(Ebd., S. 509.)
Man sieht diesen Zusammenhang von Recht und Immunsystem deutlicher,
wenn man beachtet, daß das Recht im Vorgriff auf mögliche
Konflikte gebildet wird. Die Konfliktperspektive zieht aus dem massenhaft
gebildeten Alltagserwartungen diejenigen heraus, die sich im Konfliktfalle
bewähren werden. Diese Bewährungsaussicht wird mit der Normativität
von Erwartungen asoziiert und unter dem Schematismus von Recht und Unrecht
gebracht, also in ein vollständiges Universum eingebracht, in dem
es nur zwei Werte gibt, die sich wechselseitig ausschließen. An
Hand dieses Schematismus können Konflikterfahrungen generalisiert
und antizipiert und so in eine Form gebracht werden, in der es nur in
Ausnahmefällen auf der Interaktionsebene noch zu Konflikten kommt,
selbst wenn an sich recht unwahrscheinliche Erwartungen gebildet werden.
Alle älteren Rechtsordnungen haben sich entlang dieser Perspektive
durch Vorentscheidung etwaiger Konflikte gebildet. Erst in der modernen
Wohlfahrtsgesellschaft beginnt das Recht, sich selbst sozusagen zu überholen:
Es werden neuartige Sachlagen als Konfliktvorentscheidung eingeführt,
an die niemand denken würde, wenn es das Recht nicht gäbe, und
die daraus folgenden Erwartungen werden als Recht deklariert. (Hier
kann die gesamte Debatte über Social Engineering, Folgenorientierung,
Verrechtlichung etc. eingehängt werden. Vgl. Niklas Luhmann, Die
Einheit des Rechts, Rechtstheorie, 14 (1983), S. 129-154.)
(Ebd., S. 509-510.)
Das Rechtssystem tritt in Funktion, wo immer mit dem Schema Recht/Unrecht
gerabeitet wird. (Es braucht wohl nicht eigens betont
zu werden, daß das Schema Recht/Unrecht keine Systemgrenze bezeichnet;
denn das hätte zur Folge, daß alles rechtmäßige
Handeln ins Rechtssystem gehörte und in dessen Umwelt kein rechtmäßiges
Handeln vorkäme, und vice versa für Unrecht.) Dieses
Schema dient der Ausdifferenzierung einer spezifischen Art von Informationsgewinnung;
es dient nicht, oder jedenfalls nicht primär, der Erkenntnis des
Handelns; es dient nicht seiner Erklärung und nicht seiner Prognose.
(Ebd., S. 510.)
Bürokratie ist bekanntlich ein System mit sehr geringer Störempfindlichkeit.
(Ebd., S. 525.)
Gesellschaft und Interaktion.
Selbstreferenz und Rationalität.
Konsequenzen für die Erkenntnistheorie.
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