Starke Indizien sprechen dafür, daß sich im logischen Haushalt
unserer Zivilisation der Sinn von »Wahrheit« in einer Umwälzung
befindet, einr Umwälzung, die uns zumutet, in ständig wachsendem Maß
Zuständigkeiten für die noch nicht festgestellten Tatsachen zu übernehmen.
Wenn wir uns ... zu früh mit Dingen beschäftigen, von denen wir nichts
Erwiesenes wissen, so mag sich dies darauf hndeuten, daß die Scharlatanerie
von gestern im Begriffe ist, die Seriosität von morgen zu werden. (Peter
Sloterdijk, Minima Cosmetika - Versuch über die Selbsterhöhung,
in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 317-351, hier: S. 318).Der
Hsitoriker der Zukunft wird über die prophetischen Aktivitäten der Gegenwart
zu Gericht sitzen, und die Wahrheit, die ... von der zurückschauenden Intelligenz
erfaßt werden wird, wird auch das Urteil sprechen über unsere vorausschauenden
Initiativen. ... Wir kommen rechtzeitig, um zu begreifen, was Geschichte treiben
für die Zukunft bedeutet: durch aktive Prophetie das Material herbeizuschaffen,
das künftigen Historikern vorliegen wird. Wir sind nach alledem gewarnt:
Was immer wir von jetzt an tun und sagen, kann vor dem Zukunftsgericht gegen uns
verwendet werden. (Peter Sloterdijk, Minima Cosmetika - Versuch über
die Selbsterhöhung, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 317-351, hier: S. 319-320).Der Natur des Gegenstands entsprechend
werden sich religionsphilosophische Exkurse nicht vermeiden lassen. Ich werde
in relativ kurzen Absätzen nachdenken: erstens
über die alteuropäische Idee, daß Menschen Wesen sind, die sich
durch untilgbare Mängel auszeichnen - mithin über die Idee der Erbsünde;
zweitens über die Methoden der
Sünder, die Folgen ihres Makels erträglich zu gestalten - mithin über
die Doppelideen von Purgatorium und Ablaß als einer nachträglichen
Reinigungsprozedur für hartnäckige Übeltäter; drittens
über das Motiv der ökologischen Menschenfeindschaft, die sich als Wiederkehr
der radikalen Sünderbestrafung unter nicht-religiösem Vorzeichen verstehen
läßt, sowie über mögliche Mittel und Wege, dem Sog dieser
Menschenfeindschaft durch eine prophetische Umweltökonomie zu entgehen; viertens
und letztens über die mögliche psycho-ökologische Funktion des
Optimismus. (Peter Sloterdijk, Minima Cosmetika - Versuch über die
Selbsterhöhung, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007,
S. 317-351, hier: S. 328).
Es ist mir nicht bekannt, ob Untersuchungen zum ökologischen Gehalt
des Sündenbegriffs vorliegen; es scheint mir jedoch auf der Hand zu liegen,
daß hier bei geeigneter Beleuchtung ein sinnvoller Zusammenhang zutage kommt.
Tritt man von den Details der klassischen Sünden- und Laster-Rhetorik weit
genug zurück, wie sie vor allem in jüdisch-christlichen Überlieferungen
gegeben ist, so zeigt sich, und zwar im Blick auf beide Geschlechter, ein dunkles
und doch nicht inaktuelles Bild. Der Mensch wird portraitiert als ein Wesen, das
aus tiefen Ursachen dazu disponiert oder entschieden ist, eine gegebene Große
Ordnung zu verletzen. Sündentheologie ist in ihrer klassischen, bis an die
Schwelle der Neuzeit herangetragenen Form ein Gebilde der christlichen Spätantike;
erst im Übergang vom heidnischen Altertum zum christlichen Weltalter konnte
ein Interesse daran aufkommen, die anthropologisch pessimistischen Motive der
Alten Welt zu systematisieren, um sie in die neue Erlösungsökonomie
einzubauen. Gewiß hatten Römer und Griechen, in den Tagen der Mythen
und des Theaters wie in denen der Philosophie, von menschlichen Gefährdungen
durch Mängel und Laster Wesentliches gewußt; das Wort Hybris erinnert
daran, wie früh der Mensch als das zur Maßlosigkeit neigende Tier zum
Objekt kritischer Blicke geworden war. Dennoch war es von der antiken Hybris-Kritik
zur frühchristlichen, namentlich zur augustinischen Lehre vom erbsündigen
Zustand der Menschheit ein weiter Schritt. Es ist der Schritt, der getan werden
mußte, um sämtliche Möglichkeiten von Selbstrechtfertigung, wie
sie den antiken Weisheitslehren zugrunde lagen, zu zerstören und die Einzelnen
unter die bedingungslose Abhängigkeit von einer Etlösungslehre und ihren
apostolischen Vermittlern, den katholischen Bischöfen, zu bringen. In der
väterzeitlichen Theologie setzt sich eine Denkform durch, die man als theonomen
Monarchismus bezeichnen könnte: Die Welt ist ein von einem einzigen Gott
geschaffener, erhaltener und regierter Ordnungskosmos, in dem jedes einzelne Seiende
seinen Ort und seine Wesensbestimmung anerschaffen erhalten hat. Darum bedeuten
An-seinem-Ort-Sein und In-Ordnung-Sein im Grunde dasselbe. Die schmerzliche Ausnahme
in dieser schönen Topologie bildet der Mensch; er ist das einzige Wesen,
das nicht oder nicht mehr an seinem vorhergesehenen Ort steht; ursprünglich
eingesetzt in die Mitte eines paradiesischen Gartens, als dessen freizügiger
Hüter und Nutznießer, wurde Adam seiner Bestimmung, seiner Plazierung
untreu, mit Folgen, die nur allzu bekannt sind. Seither ist die gesamte Menschheit
- »in Adam«, so will es die biblische Gattungs- und Mengenlehre -
ortsverrückt, theologisch gesprochen »gefallen« oder »vertrieben«,
aus ihrer Ur-Lokalisierung herausgebrochen und auf der Suche nach neuen Stellungen,
warum nicht auch nach wiedergefundenen Paradiesen. (Peter Sloterdijk, Minima
Cosmetika - Versuch über die Selbsterhöhung, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 317-351, hier: S. 328-330).Es gehört
zu den Stärken der kirchenväterlichen Analyse, daß sie es bei
der Sondierung des adamitischen Falls durchaus genauer wissen wollte. Auf die
Frage: Wo bist du Adam? - mit der das Versteckspiel des Menschen, dann seine Vertreibung
und Verformung begann - sind, nach ihrer Überzeugung, nur solche Antworten
noch möglich, die mit der Idee der Großen Ordnung unverträglich
sind. Adam ist immer am falschen Ort, immer daneben und dagegen, immer in der
Maske, hinter dem Busch, im Exil, in der Irre. Er ist am Ort des Widerstands,
im Reich des Ungehorsams. Im adamitischen Ungehorsam manifestiert sich das Super-Paradigma
menschlicher Zivilisationen seit der neolithischen Revolution - der Aufstand eines
Herrentiers gegen die kosmische Ordnung. (Peter Sloterdijk, Minima Cosmetika
- Versuch über die Selbsterhöhung, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 317-351, hier: S. 330).Was aber ist Ungehorsam
an sich selbst? Wie konnte er sich einschleichen in eine von Gott schön konstruierte
Welt? Mit dieser Frage rühren wir an den Nerv der Sonderung. Es versteht
sich wohl, daß man, um sie zu beantworten, über Adam hinausgehen mußte,
um die Bedingungen der Möglichkeit eines Widerstands gegen das Gesetz in
ihrer letzten Tiefe zu erforschen. In seiner Analytik des Ersten Egoismus stößt
Augustinus vor zu einer Tiefendiagnostik der Subjektivität als teufelskreisartiger
Selbstbehauptung in negativen, eigenwilligen, in sich selbst eingekrümmten
Stellungen. Es ist natürlich nicht Adam allein, sondern, weit vor und über
ihm, der Satan selbst, mit dem der Einbruch des Neins in den zunächst ganz
auf Bejahungen angelegten Ordnungskosmos beginnt. Der erste Verneiner, als Erfinder
des Nichts, parodiert gleichsam die göttliche Schöpfung, indem er sein
Nein ex nihilo hervorzaubert. Der erste Teufel hat - darauf kommt alles
an - kein externes Motiv für seine Wahl, wie arme Teufel zweiten, dritten
Ranges ansonsten. Er handelt aus der Fülle der Unmotiviertheit: Weil er will,
wie er will, und weiter nichts. Er wählt sich selbst und seine Sonderung
grundlos, aus dem Abgrund der Laune, so wie ein Modeschöpfer seine Saisonfarben
festlegt. So einfach und einfach so, mehr nicht. Augustinus entdeckt in der Ersten
Verneinung gleichsam die Anarchie; hier leuchtet die Anfangslosigkeit des mutwillig
neu aus sich Begonnenen erstmals im Licht der Reflexion auf. Augustinus betont:
Hinter dem Teufels-Nein stehen keine bedingenden Erfahrungen und kein rivalisierendes
Prinzip; der negative Engel wird sich nicht dadurch entschuldigen, daß er
vor dem Fall eine schlechte Kindheit hatte; auch ist er nicht der Vasall eines
zweiten bösen Gottes. Seine Weigerung ist frei; kraft ihrer Freiheit vollzieht
sie die Kehre gegen die Große Ordnung als Hinwendung zum Eigensinn. Im Grunde
ist der Engel des Widerspruchs ein Künstler. Mit tödlicher Eleganz,
leicht wie ein Modell am Ende des Laufstegs, kehrt Satan seinem Ursprung den Rücken.
Fast meint man zu sehen, wie seine langen, sorgfältig gepflegten Locken bei
der Kehre um seine Schultern schwingen - bekanntlich gehört er zum effeminierten
Typ. In dieser ersten halben Drehung, dieser ursprünglichen Perversion ist
für Augustinus das Schicksal der Menschheit enthalten; alles, was später
Geschichte heißen wird, ist nur die Explikation dieser Abwendung und ihre
Korrektur durch eine mögliche Zurückwendung; christlich verstandene
Weltgeschichte ist wesentlich das Spiel von Perversion und Re-Konversion - man
könnte sagen, sie ist das Drama menschlicher Stellungnahmen zu einer Wahrheit,
der sie, die Menschen, in Satan und in Adam, zunächst und zumeist den Rücken
kehren, um sich - mit Gottes Hilfe und mit Hilfe des Leidens - zuletzt und vielleicht
zu ihr zurückzuwenden. Daß Wahrheit etwas ist, was in der Regel nicht
im ersten Angang gefunden und festgehalten wird, sondern nach einer Entstellung
erst wiederzuentdecken ist - diese Ansicht gehört im übrigen schon zu
einer älteren Stufe jüdischer Weisheitsliteratur. Das so genannte Alte
Testament enthält massive Fassungen des Motivs von Sünde und Buße,
nicht zuletzt im Blick auf die weibliche Eitelkeit; die liefert - wie wir leicht
erkennen - das Muster satanischer Selbstreferentialität. Der älteste
der jüdischen Schriftpropheten, Jesaia, tritt mit der ersten Kritik an der
kosmetischen Widerspenstigkeit der Frauen hervor: »Und der Herr sprach:
Weil Sions Töchter so hochmütig sind, beim Gehen hochrecken den Hals
und ihre Augen verdrehen, weil sie trippelnd und tänzelnd einhergehen und
mit den Fußspangen klirren, darum wird der Höchste den Scheitel der
Sionstöchter kahlköpfig machen. ... An jenem Tag entfernt der Herr den
prächtigen Schmuck: die Fußspangen, Stirnbänder, Möndchen,
die Ohrgehänge, Annkettchen und Schleier, die Kopfbinden, Schrittkettchen
und Gürtel, die Halsbänder und Amulette, die Fingerringe und Nasenringe,
die Feierkleider, Mäntel, Überwürfe und Täschchen, die Schleier
und Untergewänder, die Binden und Umschlagtücher. Und dann wird es geschehen:
Statt des Balsams gibt es Moder, statt der Schärpe den Strick, statt des
Lockengekräusels die Glatze ...« (Isaias, 3, 16-24). Man sieht sehr
deutlich: Weil der Prophet im Haar den Sitz der ursprünglichen Sonderung
vermutet, in der Locke den Anfang der Selbsteinkrümmung, in der Frisur die
Zustimmung zum Sonderweg, muß Reue mit der Schere beginnen; wenn ich die
Stelle richtig lese, schneidet der Herr eigenhändig den stolzen Frauen die
Haare ab - das ist die einzige Kosmetik, die der verletzten Großen Ordnung
Genugtuung verschafft. Herab vom Laufsteg, die Kleider auf den Boden, fort mit
der Schminke, Schluß mit der originellen Frisur - in diesen Gesten regt
sich eine frühe Leidenschaft für die Wiederherstellung dessen, was Eiferer
seit je für einfachere, anfängliche, wahre Verhältnisse halten.
Wir würden diese Leidenschaft heute am ehesten als eine radikal-ökologistische
einordnen. (Peter Sloterdijk, Minima Cosmetika - Versuch über die
Selbsterhöhung, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007,
S. 317-351, hier: S. 330-333).
Der Feind ist nun erkannt, die Frontlinie markiert. Von Satans bodenloser
Rebellion als Urstiftung der Selbstbezüglichkeit läuft eine klare Spur
zu Adams Ungehorsam und von dort direkt zu den hübsch nach innen gedrehten
Locken der Sionstöchter. Der Teufel gefällt sich besser als Gott -mit
einem Akt ästhetischer Dissidenz setzt die Tragödie ein, die als moralische
beginnt, um als ökologische zu enden. Weil Menschen, in Satan und Adam, wie
gesagt, sich selbst besser gefallen als alles andere, erwacht in ihnen ein Zug
zu gefährlicher Originalität. Der Kirchenvater Tertullian sah das Problem
der Mode, oder wie er sich ausdrückte, des Weiber-Putzes - cultus feminarum
- in ihrer für alle Formen von Großer Ordnung bedrohlichen Dynamik
nicht ganz ohne Hellsicht voraus: »Konnte (Gott) nicht auch purpurrote oder
stahlblaue Schafe erschaffen? Wenn er es vermochte, so hat er es eben nicht gewollt;
was Gott aber nicht machen wollte, das darf man auch nicht machen.« Man
wird dies nicht als ein Plädoyer für Naturfarben mißverstehen
- was der strenge Theologe im Sinn hat, ist ein Veto gegen die Sorge um farbliche
Modi überhaupt. Mit der Färberei, das meint er zu wissen, wird das Gebiet
einer Originalität betreten, die auf keineswegs unschuldige Zusätze
zum Gegebenen hinaus will; originell ist der Mensch nur auf der Basis von impliziten
und expliziten Widerständen gegen Gottes Werke erster Hand. Tertullian förmlich:
»Was nicht von Gott kommt, muß notwendig von dessen Widersacher kommen.«
Für Kenner der Großen Ordnung steht fest: Der Weg zur Hölle ist
mit originellen Einfällen gepflastert. (Peter Sloterdijk, Minima
Cosmetika - Versuch über die Selbsterhöhung, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 317-351, hier: S. 333-334). Und daß
Hölle die exakte Bezeichnung für das Zukunftsreich des Teufels und seiner
originellen Anhänger sei: Dies ist die Überzeugung, die sich im Laufe
der Spätantike in den Werken der Väter konsolidiert, um von da an bis
in das hohe Mittelalter unangefochten zu herrschen. Das tausendjährige Reich
des katholischen Höllenglaubens gehört zu den mächtigsten Tatsachen
des europäischen Bewußtseins; es war ein psychopolitisches Regime von
gewaltiger Ausdehnung, das auf bedenkliche Weise an den Zusammenhang zwischen
Terror und Seelenlenkung erinnert. Der Mensch ist verdorben von Grund auf; man
tritt darum ihm nicht zu nahe, wenn man ihm mit dem Schlimmsten droht. Das frühe
Mittelalter setzte ohne Umschweife auf den Terror als Erzieher. Um der Idee der
Hölle die äußerste Schwere zu geben, war es, wie Augustinus erkannte,
unerläßlich, den Ewigkeitscharakter der jenseitigen Strafen mit unnachgiebiger
Betonung herauszuarbeiten und gegen alle Einwände seitens der barmherzigen
Laxisten zu sichern. Indem er nach den formalen Garantien des ewigen Höllenbrandes
forscht, entdeckt er wie nebenbei die Frage nach der Möglichkeit unendlich
regenerierbarer Energiequellen; es ist auch bei Gott keine Kleinigkeit, die Unverbrennbarkeit
eines sündigen Körpers im ewigen Feuer sicherzustellen; sobald man sich
ernsthaft mit den Fragen der Feuerungstechnik in der Ewigkeit befaßt, rückt
nicht weniger in die Nähe als ein Durchbruch zur Konzeption des sich selbst
speisenden Reaktors; mit eindrucksvoller konstruktiver Phantasie entwirft Augustinus
im 21. Buch seines Gottesstaates ein Energiekonzept, das in der Art eines
geschlossenen Plutoniumkreislaufs das Nicht-Ausbrennen des strafenden Feuers für
alle Zeiten sicherstellt; mit einer fast liebevollen Präzision durchdenkt
der Bischof die Fähigkeit des Sündenkörpers, wie ein ewiges Brikett
in formbeständiger Qual zu glühen - ein letzter christlicher Tribut
an die griechische Morphophilie, die Liebe zu Grenze und Gestalt. Auch dem Problem
der Brennbarkeit von körperlosen Dämonen und bösen Engeln widmet
Augustinus unvergeßliche Kommentare. Worauf es für unsere weiteren
Überlegungen ankommt, ist die unerbittliche Korrelation von Sünde und
Höllenstrafe, die von Buße und Paradies braucht uns im gegebenen Kontext
nicht zu interessieren. Gewiß tauchen auch bei dem Kirchenvater von Hippo
Hinweise auf die Möglichkeit einer postmortalen Läuterung auf; in den
Grundzügen jedoch beruht seine Lehre von den Letzten Dingen - wie die Lehre
der Kirche im Ganzen bis weit ins 12. Jahrhundert hinein -auf einem schroffen
Dualismus von Paradies und Hölle, Seligkeit und Verdammnis. (Peter
Sloterdijk, Minima Cosmetika - Versuch über die Selbsterhöhung,
in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 317-351, hier: S. 334-336).Dies
ändert sich von Grund auf erst im hohen Mittelalter, als der Gedanke des
Purgatoriums seinen siegeszug antrat. ... Wir wissen heute, daß die »Geburt
des Fegefeuers« mehr war als ein nachträglicher ornamentaler Zusatz
zur christlichen Eschatologie. Man sagt vermutlich nicht zu viel, wenn man sie
als das größte Ereignis im Ideenhaushalt Europas zwischen Bernhard
von Clairvaux und Luther bezeichnet. Im Zeichen des Fegefeuers entdeckte das Abendland
seine bis heute unerschöpfte synthetische Kraft; mit der Einräumung
des Dritten Ortes zwischen Hölle und Himmel tritt auch die Idee des Dritten
Weges in ihre geschichtlichen Rechte ein. Seither ist Europa beides - Mutter der
Revolutionen und Kaufuaus der Zwischenlösungen. Man vergesse nicht: Alles,
was neuzeitliche Menschen ... seither im Namen von Revolution und Übergangszeiten
an Opfern für die Zukunft zu erbringen hatten, sind immanentisierte purgatorische
Leiden. Solange Europa seine Weltgeschichte denkt, spricht es der Zukunft wesentlich
purgatorischen Charakter zu; gerade die Menschen der ehemaligen Zweiten Welt werden
bald begreifen, daß sie bei ihrem aktuellen Sprung von der einen Übergangszeit
in die nächste gleichsam nur das Purgatorium gewechselt haben. Im Fegefeuer
haben die Abenteuer der Dialektik ihre Quelle. Hier lernen Europäer zuerst
Sowohl-als-auch zu sagen. Hier entdeckten sie den Zauber der Synthese, die ein
Gemein sames über dem unversöhnlichen Gegensatz errichtet. Und vor allem:
Im Zeichen des Purgatoriums lernen sie eine neue metaphysische Wendigkeit - sie
erwerben ihre typische Beweglichkeit in der Sünde und jenen Leichtsinn im
Bewußtsein der Mangelhaftigkeit, der bis heute das moralische Profil Europas
von Grund auf prägt. Das Fegefeuer lehrte die europäischen Christen
- genauer die Laien, die Stadtbürger, die Händler, die Wucherer, die
Gelehrten, die Hauptleute, die Fürsten und die Künstler - eine Lektion,
die man als ersten Modernismus bezeichnen könnte. Aus dem Jenseits züngelt
das Läuterungsfeuer in die menschlichen Lebenswelten herüber und spricht
mit tausend rosa, gelben und grünlichen Zungen: Es ist nicht nötig,
radikal zu werden, um Übeln von der Wurzel her zuvorzukommen; es ist nicht
nötig, die »Wahrheit«, zu suchen; es ist nicht nötig, die
Kutte und das Kreuz zu nehmen, um schlimmen Versuchungen abzuschwören; es
ist nicht nötig, sein Leben in jeder noch so kleinen Geste unter den Wortlaut
der Großen Ordnung zu stellen. Es genügt, den gröbsten Schurkenstücken
aus dem Weg zu gehen; es genügt, sich in der sündigen Mitte aufzuhalten;
es genügt, für eine nachträgliche Abrechnung zur Verfügung
zu stehen; es genügt, die bei der Großen Ordnung gemachten Schulden
in einem späteren Tilgungsverfahren auszugleichen. Diese Lektion enthält
alles, was Unzählige seit spätmittelalterlichen Zeiten hören wollten,
um mit sich und der Welt ins Reine zu kommen; dies waren Menschen, denen das gute
Gewissen nicht ganz gleichgültig war und die doch keine Berufung zum Leben
in Entsagung verspürten. Das Fegefeuer eröffnet den Heilsweg für
die gemäßigten, die läßlichen, die bürgerlichen Sünder.
Sein Brand gibt einem spirituell nicht mehr ganz anspruchslosen laikalen Menschentypus
in Europas Höfen und Städten grünes Licht; es eröffnet freie
Fahrt dem tüchtigen mittleren Sünder. Auch Wucherer können nun
auf Umwegen die Seligkeit erwerben. Unverzeihlich ist zwar die bewußt begangene
Sünde und doch verzeihlich, sofern mit ihr eine Anleihe auf Jahre der Reinigungstortur
im Jenseits aufgenommen wird. Da ist der modus operandi der Moderne gefunden
- das Heil der Unheiligen in den Horizont gekommen. Noch unter katholischer Patronanz
setzt ein Vorspiel ein zu riskanten Lockerungen; man ahnt eine Epoche des galoppierenden
Fortschritts voraus, eine Zeit des beinahe unbegrenzten Kredits, eine Zeit der
Sünde mit beschränkter Haftung. Sündige jetzt, leide später
und werde nach allem doch noch selig: So lautet das Formular, das der europäisch-katholischen
Heilswirtschaft für Laien zugrunde liegt. Das Fegefeuer stellt die ökologische
Zahlungsfähigkeit des mittleren Übeltäters sicher. Weil er post
mortem in einer Hölle auf Zeit ausreichend gefoltert und nach-geläutert
werden wird, kommt die verletzte Große Ordnung in letzter Instanz noch immer
auf ihre Rechnung. Durch die Einrichtung des Fegefeuers wird der mit dem Faktor
Zeit multiplizierte Schmerz der Sünder zu einem akzeptablen Zahlungsmittel;
Purgatoriumsjahre können die Leiden der Großen Ordnung an unseren Verstößen
gegen sie aufwiegen. Und da die Große Ordnung durch einzelne Sünden
immer nur relativen Schaden leidet, sind endliche Strafmaße im Jenseits
zu ihrer Wiederherstellung vollauf genug. Von diesem Moment an ist Ökologie
im eigentlichen Wortsinn möglich, wenn man darunter die Operationen der umfassendsten
Hauswirtschaft versteht - unter Einbeziehung des Untersten und Obersten, man würde
heute von externen systemischen Kosten sprechen. (Peter Sloterdijk, Minima
Cosmetika - Versuch über die Selbsterhöhung, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 317-351, hier: S. 336-339).Es mag in diesen
indirekten Vorüberlegungen zur Geschichte der ökologischen Vernunft
genügen zu sagen, daß mit dem Fegefeuergedanken eine effektive christliche
Weltökonomie auf den Weg gebracht wurde; sie machte die katholische Ablaßpraxis
als Vorspiel des modernen Kapitalismus möglich, indem sie demonstrierte,
wie der Geist des Geschäfts den Geist des Opfers weiterführt; sie präfigurierte
die brisante ökologische Idee, daß mit gegenwärtigen Verfehlungen
Kredite bei der Zukunft aufgenommen werden; und sie schuf Anschaulichkeit für
die Vorstellung, daß solche Kredite mit Reparationen im Feuer zurückgezahlt
werden können, immer vorausgesetzt, daß das größte Übel,
die ewige Verdammnis, auch weiter als das schlechthin zu Meidende im Bewußtsein
der Menschen anerkannt und gefürchtet blieb. Das Fegefeuer brach in die Normenwelt
des Mittelalters eine Bresche für den originellen Menschen; durch sie drangen
die Leitfiguren künftiger Generationen vor: die nachhaltigen Sünder,
die witzigen Neuerer, die Anhänger der ökonomischen Moden, nicht zuletzt
eben die Zinsnehmer, die Makler, die Protokapitalisten, die das Prinzip des widernatürlichen
Gewinns allgemein zum Erfolg führten. Von der Rettung der Wucherer ist der
Weg nicht weit zur protestantischen Heiligung der Laienarbeit. (Peter Sloterdijk,
Minima Cosmetika - Versuch über die Selbsterhöhung, in: Ders.,
Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 317-351, hier: S. 339).Nun
fehlt nur noch die theologische Rechtfertigung für Originalität, ein
Freispruch für das eitle Hinzuerfinden von Werken, die in der ersten Auflage
der Schöpfung nicht enthalten waren - heute besser bekannt als Innovationen.
Dann werden alle Motive versammelt sein, die für den definitiven Ausbruch
der europäischen Weltakteure aus dem Gehäuse Großer Ordnungsideen
vonnöten sind; durch die Rechtfertigung, ja Heiligsprechung der Originellen
bekommt der Mensch das gute Gewissen zur Machtergreifung durch die erfinderische
Praxis; er wird sich dann davon überzeugen, daß es kein Sein vor der
Tat gibt, keine Norm vor dem Willen, keine Essenz vor der Existenz; diese Desiderate
beginnen sich in den Kunstphilosophien der frühen Renaissance zwischen Cusanus
(= Nikolaus von Kues) und Marsilio Ficino zu erfüllen; dort gewinnen der
produktive Laie und der inspirierte Mann von Genie zuerst ihre metaphysischen
Weihen. In der Folge geht das privilegierte Merkmal des Absoluten -Kreativität
- auf den Menschen über. Neuzeit ist Kreativitätszeit, Unternehmenszeit,
Projektzeit - eine Zeit, die erst damit zu Ende gehen könnte, daß sie
den Nebenwirkungen ihres eigenen Erfindungsreichtums nicht mehr gewachsen wäre.
Wir können zum gegenwärtigen Problemstand weiterblättern.
(Peter Sloterdijk, Minima Cosmetika - Versuch über die Selbsterhöhung,
in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 317-351, hier: S. 339-340).
Diese Reminiszenzen wären überflüssig, wenn sie nicht die
komplette Tiefenstruktur der gegenwärtigen ökologischen Konflikte enthielten.
Tatsächlich läßt sich die Zeitspanne vom Ende des Mittelalters
bis zur ökologischen Dämmerung des späten 20. Jahrhunderts als
ein Drama charakterisieren, das unter dem Titel »Niedergang und Wiederkehr
der Idee der Großen Ordnung« stehen könnte. Sein Verlauf entspricht
einer ideen- und sittengeschichtlichen Wellenbewegung, die zum Untergang der Erbsündigkeit
und zum Auftauchen von Umweltsündigkeit führt. Zwischen den beiden Polen
liegt die totale Mobilmachung - ökonomisch, rüstungstechnisch, verkehrstechnisch,
epistemisch, informatisch, ästhetisch. An dem Prozeß fällt auf,
wie das Motiv prinzipieller Sündhaftigkeit vom Himmel auf die Erde steigt.
Natürlich imponiert uns, dem säkularistischen Grundzug der Modernität
entsprechend, nicht länger eine religiöse Differenz zwischen Gott und
Mensch; was jetzt als Riß erster Ordnung zu denken gibt, ist die historische
Differenz zwischen der Spezies Mensch und ihrem »Lebensraum« - man
könnte sie auch die Differenz zwischen Technosystem und Ökosystem nennen.
Entscheidend bleibt, daß das Motiv der grundlegenden menschlichen Unpassung,
die theologisch Sünde hieß, unter verändertem Vorzeichen wiederkehrt;
sie meldet sich zurück als Wahrnehmung des Umstands, daß sich im industriezeitalterlichen
way of life ein Bruch zwischen der Seinsweise der Menschensphäre und
den Ordnungszuständen der übrigen Natur manifestiert. Auch immanentisierte
Sünde kann noch Sünde sein, schwere, tiefverankerte, tödliche.
Ihre Anerkennung nötigt die Menschen der Ersten Welt, Antwort zu leisten
auf die Epochenfrage des Industrialismus: Wie bekommen wir eine gnädige Natur?
Eine Reform des Systems auf allen Ebenen steht auf dem Kalender der Weltgeschichte.
Mehr und mehr erscheint »der Mensch« im Industriesystem, der ausgreifende,
polyvalente, erlebnisbereite Endverbraucher, als ein Wesen, um dessen Zerwürfnis
mit seinen naturalen Voraussetzungen es ebenso radikal übel steht wie um
das Verhältnis des Engels, der das Nein erfand, zur heiligen Totalität.
Wie Satan Gift war für die Schöpfungspyramide, so ist der Mensch, in
seinen Ausgaben ab 1750 zumindest, Gift für die Umweltkreisläufe im
Kleinen wie im Großen. Wer also die Welt entgiften will, kann nirgendwo
anders ansetzen als beim hypertrophierten menschlichen Faktor. (Peter Sloterdijk,
Minima Cosmetika - Versuch über die Selbsterhöhung, in: Ders.,
Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 317-351, hier: S. 340-342). Und
nun zeigt sich, wie die beiden katholisch-alteuropäischen Ordnungsstile -
der raue frühe, als Ruf nach der Hölle für den verhärteten
Sünder, und der moderate spätere, als Eröffnung eines purgatorischen
dritten Wegs - auch bei der Abwicklung immanenter Sünden gegen den ökosystemischen
Ordo sich wieder geltend machen. Der strenge Modus setzt auf das bedingungslose
In-Sich-Gehen bei allen, denen die Nachricht vom nahen Ende zugestellt wurde -
widrigenfalls hat man die Reduktion der Menschheit durch die autogene Hölle
zu erwarten; die Rache der Natur auf rein kausaler Basis ist zuverlässig
versprochen. Das mag die Wahrheit sein, doch wer kann sie hören? Für
den umweltsündigen Menschen, der nicht hören kann, haben die Autoren
des gemäßigten Modus viel Verständnis; sie stellen ihm ein Purgatorium
in Aussicht, worin jeder, der nachhaltig gesündigt hat und vorhat, es weiter
zu tun, das gute Gewissen gewinnen kann, vorausgesetzt nur, daß er oder
sie den Preis der Sünde zu entrichten gewillt ist, nachträglich oder
im voraus. Damit ist der entscheidende Begriff in die Debatte gekommen: der Preis.
Wer vom dritten Ort spricht, darf vom Ablaß nicht schweigen. Er führt
ins Zentrum der purgatorischen Ökonomie. Das spättnittelalterliche Ablaß-
oder Indulgentienwesen war seinem Grundzug nach nichts anderes als ein beeindruckendes
System von Preisen für kreditierte Kirchenstrafen und Fegefeuerzeiten. Es
präfiguriert den Europäischen Markt als Fernhandel mit mehr oder weniger
heiligen Gütern (auf der Basis Römischer Verträge, wie sich versteht).
Man erinnert sich an die gotterweichenden Fürbitten der Heiligen für
die Sünder im Feuer, an die mildernden Wirkungen von Nachzahlungen seitens
der Angehörigen, an Stiftungen auf dem Sterbebett zugunsten der Kirche, an
Preislisten für Verbrechen und Lästerungen aller Art, an Ablösesummen
für unterlassene Kreuzzüge, gebrochene Gelübde, umgangene Beichten
und vernachlässigte Fastenpflichten, an Sonderziehungen für Deich- und
Kirchenbauten und vieles mehr. Der Erzbischof Albrecht von Mainz, damals noch
Luthers höchster Vorgesetzter, ließ 1521 zur Finanzierung ambitionierter
Baupläne für die Stadt Halle einen Sonderablaß in Form eines gigantischen
Reliquienkatalogs auflegen, in dem 42 integrale Heiligenkörper und 9000 Einzelobjekte,
mehrheitlich Knochen, im Gesamtwert von 19,25 Millionen Fegefeuerjahren zum Kauf
ausgeschrieben wurden. Die Hauptattraktionen des Katalogs waren das Schulterblatt
des heiligen Christophorus, eine Handvoll von der Erde, aus welcher Adam erschaffen
ward, sowie das Becken, in dem Pilatus die Hände gewaschen hatte; auch Reisig
von dem brennenden Dornbusch und Manna aus der Wüste fehlten nicht in dem
Katalog des ersten deutschen Versandhauses. Noch heute heißt es in dem Handbüchlein
des Paters Arnold Guillet Die Ablaßgebete der katholischen Kirche
(Imprimatur von 1971) einigertnaßen deutlich: »Am besten läßt
sich der Ablaß mit einer Aktie vergleichen. Je mehr Aktien einer besitzt,
umso größeren Anteil erhält er am Kapital und am Gewinn der Firma.
Die Firma, der wir angehören, ist die Kirche; wer einen Ablaß
gewinnt, wird Aktionär der Kirche.« (Ebd., S. 4). Besser
noch hätte der Autor von einer Zentralbank gesprochen, die aus ihrem Heilsschatz
eine Währung emittiert bzw. Anleihen auflegt und die durch ihre Tochterbanken
die Überweisungsströme der Gnadenschuldner zu den Gnadeninhabern hin
kontrolliert. Es waren bekanntlich die Reformtheologien Luthers und Calvins, die
jener so monströsen wie effektiven Heilswirtschaft die Grundlagen entzogen,
indem sie Gottes Gnade ganz ins Unbedingte, Unberechenbare, unkäufliche versetzten.
(Peter Sloterdijk, Minima Cosmetika - Versuch über die Selbsterhöhung,
in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 317-351, hier: S. 342-344).Man
hat unsere Zeit gelegentlich die Jahre der zivilisationsgeschichtlichen, ja der
naturgeschichtlichen Entscheidung genannt. Eher sollte man sie Jahre der triumphierenden
Unentschiedenheit nennen. Weltweit hat sich im Lauf des vergangenenJahrzehnts
der moderate Deal in ökologischen Angelegenheiten durchgesetzt. Die kompromißlosen
Mahner zur Umkehr, die systemkritischen Pönitentiare, die grünen Apokalyptiker
sind in den Hintergrund gedrängt worden, sie finden Anklang nur bei noblen
und wahnsinnigen Marginalen, bei erregbaren und den Extremen zugewandten Menschen,
die für das Ideal einer ökologischen Heiligkeit empfänglich sind;
wie im franziskanischen Mittelalter sind das auch heute keine Mehrheitscharaktere.
In ihren Kreisen nur kann eine bis zum Äußersten gehende Empörung
zugunsten der mißhandelten Natur zur Blüte kommen; dort gedeiht der
Sinn für Gerechtigkeit in der Katastrophe. Es ist wahr, wer Wale und Libellen
liebt, wird beim Stand der Dinge zum Menschenfeind. Die ökologistisch Radikalen
schämen sich für ihre Gattung und träumen, metaphysisch empfindsam,
von einer wieder menschenleeren Erde. Ihr Ordnungssinn geht weit genug, um die
dissipatio humani generis, die Auslöschung des Menschengeschlechts,
als eine begrüßenswerte Tendenz des Weltlaufs anzuerkennen. Bei ihnen
gipfelt die ökologistische Misanthropie im Paradox: Die Menschheit wird liebenswürdig
sein, sobald sie durch aktive Selbstkritik vom Erdboden verschwunden ist. Man
sagt nicht zu viel, wenn man feststellt, daß diese vornehme Liebe zur Menschenleere
zur Zeit nicht mehrheitsfähig ist. Die nachhaltigen Sünder in allen
Kontinenten, die unbußfertigen Originellen, die Entwickler und die Entwickelten,
die Kreativen und die Stilisierten, die schönen und die schnellen Leute,
mithin die breite Mehrheit der Konsumenten und Produzenten, der Besitzer und Wähler,
der Fahrer und Fernreisenden in der Ersten Welt, sie fordern, nachdem ihnen zumindest
das Leugnen vergangen ist, einen anderen Weg, einen Weg in den Ausweg, einen dritten
Weg in der Gefahr. Und genau dessen Umrisse setzen sich in den letzten Jahren
mit einer unwiderstehlichen Logik durch. Ein immanentes Purgatorium erblickt das
Licht der Welt, wir selber sind seine ersten Klienten. Nach einer Phase dualistischer
Zerrissenheit zwischen Ökonomie und Ökologie haben auch wir einen dritten
Ort in unser Weltbild aufgenommen: Dort ist Ökologie kein absoluter Gegensatz
mehr zur Ökonomie; Ästhetik ist Ethik; Konsum ist Schonung; Weitermachen
ist Umkehr - der neue dritte Ort machts möglich. Die Ökonomie
beharrt auf ihren Gesetzlichkeiten und Gewohnheiten und nimmt doch ökologische
Manieren an: Sie reinigt sich und ihre Produkte, ja sie lanciert einen Hyper-Markt
für alles, was reinigt, senkt, filtert, reduziert, entgiftet, extrahiert,
miniaturisiert. Von neuem ist die Dialektik dabei, den Dualismus zu besiegen.
Immerhin: Mit dem ökologischen Reinigungsweg ist so wenig zu spaßen
wie einst mit dem religiösen. Auch an ihm haftet der furchtbare, zugleich
ferne und gegenwärtige Ernst der wiederentdeckten Idee von Großer Ordnung,
mag diese jetzt, ohne explizite metaphysische Perspektiven, in biosystemischen
Sprachen und unter allen wissenschaftstheoretischen Vorbehalten präsentiert
werden. Wenn gerade die hellsichtigsten Analytiker unserer Lage sich zu solchen
Vorstellungen bekehren, so markiert das mehr als alles andere unsere epochale
Verlegenheit. Mit einem Realismus, der das Prädikat katholisch verdient,
nimmt die aktuelle purgatorische Ökologie die moralischen und physischen
Hauptfaktoren unserer Lage in ihre Analyse auf: die nachhaltige Sünde und
ihre Wette auf das fortgehende lustige Leben; die Verwahrlosung des Fortpflanzungsbewußtseins
in fast allen menschlichen Populationen; das Krachen im Gebälk der Großen
Ordnung - den Zustand der Böden, Gewässer, Faunen, Floren sowie der
Atmosphäre; die Knappheit der Zeit; die Feigheit der Amtsinhaber; die Furcht
der Täter, Opfer zu werden; ihre widerwillige Bereitschaft, sich ihre nachhaltige
Sünde etwas kosten zu lassen. Aus diesen Momenten läßt sich eine
neue Gesamtökonomie formulieren, etwa unter den Überschriften »ökosoziale
Marktwirtschaft«, »ökologische Realpolitik« ... oder »Ökonomie
der Nachhaltigkeit«. In solchen Ansätzen wird mit anerkennenswerter
Folgerichtigkeit über die Totalkosten von originellen Lebensstilen nachgedacht
samt Finanzierungsmodellen für nachhaltige Sünden gegen das Ökosystem.
Die bedeutendste Programmschrift der Richtung stammt aus der Feder von Ernst Ulrich
von Weizsäcker, ihr Titel: Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an
der Schwelle zum Jahrhundert der Umwelt. Das Titelbild der Studie zeigt ein
Viertelporträt der Erdkugel, man erkennt links den Atlantik mit einer zartweißen
Wolkengirlande, rechts oben Europa, grazil und bräunlich, darunter die gelbe
Landmasse Afrikas. Es ist die für die neue Große Ordnung typische Optik.
Wer solche Blicke auf Meer und Erde werfen kann, hat wenig Chancen, sich Illusionen
zu machen über seinen Ort im Raum. Auch der Titel des Buchs sagt viel auf
einmal; nicht nur signalisiert das Wort Realpolitik, daß die Zeit der Abrechnung
da ist; der geschichtsphilosophisch keineswegs anspruchslose Hinweis auf ein kommendes
»Jahrhundert der Umwelt« hat evident purgatorischen Sinn; in einer
solchen »Epoche« haben Akteure aller Richtungen mit einer nie gesehenen
Verbindlichkeit ein System von Preisen für die Abwendung von katastrophischen
Effekten zu ermitteln. Nicht umsonst überschreibt von Weizsäcker das
systemische Zentralkapitel seines Buches mit den Worten: »Die Preise müssen
die Wahrheit sagen«. (Ebd., S. 141ff.). Die künftige Geschichte, so
könnte man folgern, behält ein Mindestmaß an weltgeschichtlicher
Kohärenz nur dann, wenn sie zu einer über Märkte regulierten Welthauswirtschaft
führt; in dieser wird Geld als Preis für Ablässe von Racheakten
der belasteten Umwelt aufgewendet. Die nachhaltigen Sündenappetite werden
in den Markt eingefüttert, eine generalisierte Bußzahlungspraxis führt
über Marktmechanismen zu selbststabilisierenden Kreisprozessen. Ob ein solches
System von Umweltbelastungspreisen hinreichend global funktionsfähig werden
kann, bleibt völlig offen - in ihm käme eine neue Qualität von
politischer Ökonomie zum Tragen, die zugleich Welt- und Rettungsökonomie
wäre. Das einzige historische Beispiel dafür, daß dergleichen
nicht a priori zum Scheitern verurteilt ist, ist die katholische Ablaßökonomie;
sie bietet ein anregendes, in seiner bizarren Kohärenz beinahe großartiges
Modell. Und: Sie war konkurrenzlos erfolgreich, jahrhundertelang, bis Besseres
gefunden war. Heute, da wir dem Untergang des kurzatmigen profanen Ökonomismus
beiwohnen, wächst erneut ein Bewußtsein davon, daß auch das Indirekte,
das Unsichtbare, das Hintergrundwirkliche mit Preisen zu bewegen ist. Der Himmel
ist nicht umsonst, sogar die chemische Zusammensetzung der Stratosphäre muß
finanziert werden; von jetzt an werden Haushaltsentscheidungen zum Bekenntnis
des Glaubens an ein künftiges Leben. Wir haben die Rechnung dafür aufzumachen,
daß massive Mehrheiten aus Halbgläubigen, Viertelgläubigen, Ungläubigen
nicht aufhören werden zu tun, was sie im Sinne der inzwischen umrißhaft
manifestierten biosphärischen Global-Ordnung unter keinen Umständen
tun sollten. Die Preise dafür werden zunehmend die Wahrheit sagen. Auf den
Gott der Immanenz, das allesbewegende Geld, kommen Zeiten zu, in denen er sich
offenbaren muß wie nie zuvor. (Peter Sloterdijk, Minima Cosmetika
- Versuch über die Selbsterhöhung, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 317-351, hier: S. 344-348).
Die Schlußüberlegung wendet sich vor allem an jene, die sich
wundern, daß sie fröhlich sind. Ich denke, unser bisheriger Gedankengang
hat dieser Verwunderung ein Fundament angeboten. Wir sehen deutlicher, warum der
Mensch das Tier ist, bei dem Frivolität und Konstruktivität konvergieren.
Wenn Homo sapiens occidentalis heutigentags in den Spiegel blickt, dann
sieht er nicht nur ein originelles Tier, das sich selbst gefällt; er hat
einen Konstruktivisten vor sich, der ihm von der anderen Seite des Spiegels her
aufmunternde Zeichen gibt. Konstruktivisten sind Leute, die aus den Tatsachen
der menschlichen Produktivität, der logischen wie der materiellen, extreme
Konsequenzen ziehen wollen. Sie lehren, daß es keine Großen Ordnungen
gibt, in die wir nur im Modus subalterner Anpassung einzutreten hätten; wir
sind schon ursprünglich koproduktiv. Wo Ordnung behauptet wird, dort zeigt
sich immer auch schon Konstruktion, und wo Konstruktion ist, dort öffnen
sich die Spielfelder indeterminierter Prozesse, in sie lassen sich energische
Vektoren setzen. Das ist der systemische Grund für die Möglichkeit von
prophetischem Aktivismus zugunsten einer scheinbar von vornherein verlorenen Sache.
Der Mensch ist bis zuletzt ein autoplastisches Tier - es kann fast alles werden,
was es zu sein sich nachhaltig einbilden kann. Aber können wir uns eine wirksam
umweltfreundliche und globalitätsfromme Seinsweise für uns erfolgreich
einbilden? Wie gesehen, ist im industriellen Frivolitätssystem Originalität
als Treibstoff und Motor der munteren Bewegung operativ geworden. Eben dieser
Originalität zeichnet der Lauf der Dinge eine konstruktivistische Wende vor.
Wir haben Gründe, nicht weiter ins Blaue hinein erfinderisch zu sein, sondern
müssen die Outputs des originellen Tiers konstruktiv in großen Kreisprozessen
auffangen. Der Anlagenbau wird dadurch zu planetarischen Größenordnungen
verurteilt. Konstruktivismus ist der objektive Idealismus der Frivolität
- daher die prädestinierte Denkform des ökorealistischen Zeitalters.
Wer ein epistemologisches Antidepressivum sucht - hier ist es, man kann es sich
in verschiedenen Handelsformen verschaffen. Mit seiner Hilfe werden erfolgreiche
Real-Einbildungen der Umweltfreundlichkeit - oder zwnindest der zurückgenommenen
Umweltfeindlichkeit - auf den Weg kommen. Für die Avantgarden heutiger Ingenieurs-
und Umweltintelligenz zeichnet sich in einem neuen Erfindungs-Horizont ein veränderter
Begriff von Technik ab; eine zweite Originalität kündigt sich an, mit
der die Folgen der ersten unter Kontrolle genommen werden. An der zweiten Originalität
wird klar: Hoffnung darf nicht blind sein - heute weniger denn je. Als Instrument
der zweiten Originalität würde das neue selbstkritische Erfinden eine
System-Konversion bedeuten. Ihr Axiom ist die Einsicht, daß Reproduktivität
tiefer reicht als bloße Produktivität. Wenn Originalität und Nachhaltigkeit
zusammengedacht werden, kommt eine unerhörte Idee ans Licht - die einer neuen,
durch menschliche Analyse mit sich selber vermittelten Natur. (Peter Sloterdijk,
Minima Cosmetika - Versuch über die Selbsterhöhung, in: Ders.,
Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 317-351, hier: S. 348-350). In
der Unerhörtheit unserer Situation liegt die Rechtfertigung für zeitgenössische
Blicke in den Spiegel. Wir schauen aufs eigene Äußere, um in Form zu
bleiben. Im Kampf gegen die Entropie
sind kleine Gesten oft von großer Wirkung - in Form bleiben ist schon die
Hälfte der Politik. Bei Menschen, denen Zweifel kommen, kann auch das Make-Up
zu einer Geste des Urvertrauens werden. Wenn eine Große Ordnung lächeln
könnte, sie würde es angesichts dieser Geste tun. So halten sich originelle
Wesen in Form für die langen Arbeitstage des dritten Weges. (Peter
Sloterdijk, Minima Cosmetika - Versuch über die Selbsterhöhung,
in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 317-351, hier: S. 350). |