EinleitungAm Anfang aller ökonomischen Verhältnisse
stehen, wenn man den Klassikern glauben darf, die Willkür und die Leichtgläubigkeit.
Rousseau hat hierüber in dem berühmten Einleitungssatz zum zweiten Teil
seines Diskurses über die Ungleichheit unter den Menschen von 1755 das Nötige
erklärt: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte
und es sich einfallen ließ zu sagen: Das gehört mir!,
und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, ist der wahre
Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.« (Peter Sloterdijk,
Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).Demnach beginnt, was wir das »Wirtschaftsleben«
nennen, mit der Fähigkeit, einen überzeugenden Zaun zu errichten und
das eingehegte Terrain durch einen autoritativen Sprechakt unter die Verfügungsgewalt
des Zaun-Herrn zu stellen: »Das gehört mir«. Der erste Nehmer
ist der erste Unternehmer - der erste Bürger und der erste Dieb. Er wird
unvermeidlich begleitet vom ersten Notar. Damit so etwas wie überschußträchtige
Bodenbewirtschaftung in Gang kommt, ist eine vorökonomische »Tathandlung«
vorauszusetzen, die in nichts anderem besteht als der rohen Geste der Inbesitznahme.
Diese muß aber durch eine nachträgliche Legalisierung konsolidiert
werden. Ohne die Zustimmung der »Einfältigen«, die an die Gültigkeit
der ersten Nahme glauben, ist ein Besitzrecht auf Dauer nicht zu halten.
(Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).Was als Besetzung beginnt, wird durch den
Grundbucheintrag besiegelt - zuerst die Willkür, dann ihre Absegnung in rechtsförmiger
Anerkennung. Das Geheimnis der bürgerlichen Gesellschaft besteht folglich
in der nachträglichen Heiligung der gewaltsamen Initiative. Es kommt nur
darauf an, als erster da zu sein, wenn es um den anfänglichen Raub geht,
aus dem später der Rechtstitel wird. Wer hierbei zu spät kommt, den
bestraft das Leben. Arm bleibt, wer auf der falschen Seite des Zauns existiert.
Den Armen erscheint die Welt als ein Ort, an dem die nehmende Hand der anderen
sich schon alles angeeignet hat, bevor sie selber den Schauplatz betraten.
(Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).
Willkürvoraussetzungen der Ökonomie
Der Rousseausche
Mythos von der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft aus der Landokkupation
hat seine Wirkung bei den Lesern in der politischen Moderne nicht verfehlt. Marx
war von dem Schema der ursprünglichen Einzäunung so beeindruckt, daß
er die ganze Frühgeschichte des »Kapitalismus«, die sogenannte
ursprüngliche Akkumulation, auf die verbrecherische Willkür einiger
britischer Großgrundbesitzer zurückführen wollte, die es sich
einfallen ließen, große Flächen Landes einzuzäunen und große
Herden wolletragenden Kapitals darauf weiden zu lassen - was naturgemäß
ohne die Vertreibung der bisherigen Besitzer oder Nutznießer des Bodens
nicht geschehen konnte. (Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden
Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).Wenn Marx seine Theorie der kapitalgetriebenen
Wirtschaftsweise fortan in der Form einer »Kritik der politischen Ökonomie«
entwickelte, so auf Grund des von Rousseau inspirierten Verdachts, daß alle
Ökonomie auf vorökonomischen Willkürvoraussetzungen beruhe - auf
eben jenen gewaltträchtigen Einzäunungsinitiativen, aus denen, über
viele Zwischenschritte, die aktuelle Eigentumsordnung der bürgerlichen Gesellschaft
hervorgegangen sei. Die ersten Initiativen der beati possidentes kommen
ursprünglichen Verbrechen gleich - sie sind nicht weniger als Wiederholungen
der Erbsünde auf dem Gebiet der Besitzverhältnisse. Der Sündenfall
geschieht, sobald der Privatbesitz aus dem Gemeinsamen ausgegrenzt wird. Er zeugt
sich fort in jedem späteren ökonomischen Akt. (Peter Sloterdijk,
Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).
Wiedergutmachung anfänglichen Unrechts
In solchen Anschauungen
gründet der für den Marxismus, aber nicht nur für diesen, charakteristische
moderne Habitus der Respektlosigkeit vor dem geltenden Recht, insbesondere dem
bürgerlichsten der Rechte, dem Recht auf die Unverletztlichkeit des Eigentums.
Respektlos wird, wer das »Bestehende« als Resultat eines initialen
Unrechts zu durchschauen glaubt. Weil das Eigentum, dieser Betrachtung gemäß,
auf einen ursprünglichen »Diebstahl« am diffusen Gemeinbesitz
zurückgeführt wird, sollen die Eigentümer von heute sich darauf
gefaßt machen, daß eines Tages die Korrektur der gewachsenen Verhältnisse
auf die politische Agenda gesetzt wird. Dieser Tag bricht an, wenn die Einfältigen
von einst aufhören, bloße Einfältige zu sein. Dann erinnern
sie sich an das »Verbrechen«, das von den Errichtern der ersten Zäune
begangen wurde. Von einem erleuchteten revolutionären Elan erfüllt,
raffen sie sich dazu auf, die bestehenden Zäune abzureißen. (Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).Von da an muß Politik Entschädigung
für die Nachteile bieten, die von den meisten bei der frühen Verteilung
hinzunehmen waren: Es gilt jetzt, für das Allgemeine zu reklamieren, was
von den ersten privaten Nehmern angeeignet wurde. Auf dem Grund jeder revolutionären
Respektlosigkeit findet man die Überzeugung, daß das Früher-Dagewesensein
der jetzigen »rechtmäßigen« Besitzer letztlich nichts bedeutet.
Von der Respektlosigkeit zur Enteignung ist es nur ein Schritt. Alle Avantgarden
verkünden, man müsse mit der Aufteilung der Welt von vorn beginnen.
(Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).
Diebe an der Macht
Vor diesem Hintergrund ist es leicht zu
verstehen, warum alle »kritische« Ökonomie nach Rousseau die
Form einer allgemeinen Theorie des Diebstahls annehmen mußte. Wo Diebe an
der Macht sind - mögen sie auch schon seit längerem als gesetzte Herren
auftreten -, kann eine realistische Wirtschaftswissenschaft nur als Lehre von
der Kleptokratie der Wohlhabenden entwickelt werden. In theoretischer Perspektive
will diese erklären, wieso die Reichen seit je auch die Herrschenden sind:
Wer bei der anfänglichen Landnahme zugegriffen hat, wird auch bei späteren
Machtnahmen ganz vorn sein. (Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden
Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).In politischer Perspektive erläutert die
neue Wissenschaft von der nehmenden Hand, warum die real existierende Oligarchie
nur durch eine Rücknahme der anfänglichen Nahme überwunden werden
kann. Hiermit tritt der mächtigste politisch-ökonomische Gedanke des
neunzehnten Jahrhunderts auf die Bühne, der dank des sowjetischen Experiments
von 1917 bis 1990 auch das vergangene Jahrhundert mitbestimmte: Er artikuliert
die quasi homöopathische Idee, wonach gegen den ursprünglichen
Diebstahl seitens der wenigen nur ein sittlich berechtigter Gegendiebstahl seitens
der vielen Abhilfe schaffen könne. Die Kritik der aristokratischen und bürgerlichen
Kleptokratie, die mit Rousseaus ahnungsvoll drohenden Thesen begonnen hatte, wurde
vom radikalen Flügel der französischen Revolution mit der erbitterten
Begeisterung aufgenommen, die der gefährlichen Liaison von Idealismus und
Ressentiment entspringt. (Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden
Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).
Schon bei den Frühsozialisten hieß es alsbald: Eigentum
ist Diebstahl. Der Anarchist Pierre-Joseph Proudhon, auf den der anzügliche
Lehrsatz zurückgeht, hatte in seiner Schrift über das Eigentum
von 1840 die Aufhebung der alten Ordnungen in herrschaftsfreie Produzentenbünde
gefordert - zunächst unter dem heftigen Beifall des jungen Marx.
Bekanntlich kehrte Marx wenige Jahre später seinen proudhonschen
Inspirationen den Rücken, indem er den Anspruch erhob, der Natur
des Eigentumsproblems, und eo ipso des Diebstahlphänomens,
tiefer auf den Grund gegangen zu sein. (Peter Sloterdijk, Die
Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).
Wirtschaft als Kleptokratie
Mochte Marx auch später
noch in klassisch respektloser Tonart die »Expropriation der Expropriateure«
auf seine Fahnen schreiben, so sollte dies künftig keineswegs bloß
die Wiedergutmachung des vor Zeiten verübten Unrechts bedeuten. Vielmehr
zielte das Marxsche Postulat, getragen von einer klug konfusen Werttheorie, auf
die Beseitigung der sich täglich erneuernden Plünderungsverhältnisse
im Kapitalsystem. Vorgeblich stellen diese sicher, daß der »Wert«
aller industriellen Erzeugnisse stets ungerecht geteilt werde: das bloße
Existenzminimum für die Arbeiter, den reichen Wertüberschuß für
die Kapitaleigentümer. (Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden
Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).Aus der Marxschen Mehrwerttheorie ergab sich die
folgenschwerste These, die je auf dem Feld der Eigentumskritik formuliert wurde.
In ihrer Beleuchtung erscheint die Bourgeoisie, obschon de facto auch eine
produzierende Klasse, als ein von Grund auf kleptokratisches Kollektiv, dessen
Modus vivendi umso verwerflicher sei, als dieser sich offiziell auf allgemeine
Gleichheit und Freiheit berufe - nicht zuletzt auf die Vertragsfreiheit beim Eingehen
von Beschäftigungsverhältnissen. Was unter der juristischen Form von
freien Tauschvereinbarungen zwischen Unternehmern und Arbeitern abgeschlossen
werde, sei in der Sache nur ein weiterer Anwendungsfall dessen, was Proudhon das
»erpresserische Eigentum« genannt hatte. (Peter Sloterdijk,
Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).Es führt geradewegs zu jenem Mehrwertdiebstahl,
der vorgeblich in allen Gewinnen der Kapitalseite zutage tritt. In der Lohnzahlung
verberge sich ein Nehmen unter dem Vorwand des Gebens; mit ihr geschehe eine Plünderung
im Gewand des freiwilligen, gerechten Tauschs. Allein aufgrund dieser moralisierenden
Stilisierung der ökonomischen Grundverhältnisse konnte »Kapitalismus«
zu einem politischen Kampfwort und systemischen Schimpfwort werden. (Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).
Vom Kredit getrieben
Als solches macht es gegenwärtig
erneut die Runde. Es steht für die Fortsetzung der feudalen Sklaven- und
Leibeigenenausbeutung mit den Mitteln der modernen oder bourgeoisen Lohnempfängerausbeutung.
Das ist es, was mit der These besagt war, die »kapitalistische« Wirtschaftsordnung
werde durch den basalen Antagonismus von Kapital und Arbeit bewegt - eine These,
die bei all ihrem suggestiven Pathos auf einer falschen Darstellung der Verhältnisse
beruhte: Das Movens der modernen Wirtschaftsweise ist nämlich keineswegs
im Gegenspiel von Kapital und Arbeit zu suchen. Vielmehr verbirgt es sich in der
antagonistischen Liaison von Gläubigern und Schuldnern. Es ist die Sorge
um die Rückzahlung von Krediten, die das moderne Wirtschaften von Anfang
an vorantreibt - und angesichts dieser Sorge stehen Kapital und Arbeit auf derselben
Seite. (Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).Immerhin, in diesen Finanzkrisentagen erfährt
man es schon aus den Boulevardzeitungen: Der Kredit ist die Seele jedes Betriebs,
und die Löhne sind zunächst und zumeist von geliehenem Geld zu bezahlen
- und nur bei Erfolg auch aus Gewinnen. Das Profitstreben ist ein Epiphänomen
des Schuldendienstes, und die faustische Unruhe des ewig getriebenen Unternehmers
ist der psychische Reflex des Zinsenstresses. (Peter Sloterdijk, Die
Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).
Kapitalismus und Staat
Gleichwohl, die Unterstellung, »Kapital«
sei nur ein Pseudonym für eine unersättliche räuberische Energie,
lebt weiter bis in Brechts Sottise, wonach der Überfall auf eine Bank nichts
bedeute im Vergleich mit der Gründung einer Bank. Wohin man auch sieht: In
den Analysen der klassischen Linken scheint der Diebstahl an der Macht, wie seriös
er auch kaschiert sein mag und wie väterlich sich manche Unternehmer auch
für ihre Mitarbeiter einsetzen. Was den »bürgerlichen Staat«
angeht, kann er diesen Annahmen gemäß nicht viel mehr sein als ein
Syndikat zum Schutz der allzu bekannten »herrschenden Interessen«.
(Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).Es würde sich an dieser Stelle nicht lohnen,
die Irrtümer und Mißverständnisse aufzuzählen, die der abenteuerlichen
Fehlkonstruktion des Prinzips Eigentum auf der von Rousseau über Marx bis
zu Lenin führenden Linie innewohnen. Der letztgenannte hat vorgeführt,
was geschieht, wenn man die Formel von der Expropriation der Expropriateure aus
der Sphäre sektiererischer Traktate in die des Staatsparteiterrors übersetzt.
Ihm verdankt man die unüberholte Einsicht, daß die Schicksale des Kapitalismus
wie die seines vermeintlichen Gegenspielers, des Sozialismus, untrennbar sind
von der Ausgestaltung des modernen Staates. (Peter Sloterdijk, Die Revolution
der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).
Das geldsaugende Ungeheuer
Tatsächlich muß man
auf den zeitgenössischen Staat blicken, wenn man die Aktivitäten der
nehmenden Hand auf dem neuesten Stand der Kunst erfassen will. Um die unerhörte
Aufblähung der Staatlichkeit in der gegenwärtigen Welt zu ermessen,
ist es nützlich, sich an die historische Verwandtschaft zwischen dem frühen
Liberalismus und dem anfänglichen Anarchismus zu erinnern. Beide Bewegungen
wurden von der trügerischen Annahme animiert, man gehe auf eine Ära
geschwächter Staatswesen zu. Während der Liberalismus nach dem Minimalstaat
strebte, der seine Bürger nahezu unfühlbar regiert und sie bei ihren
Geschäften in Ruhe läßt, setzte der Anarchismus sogar die Forderung
nach dem vollständigen Absterben des Staates auf die Tagesordnung.
(Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).In beiden Postulaten lebte die für das neunzehnte
Jahrhundert und sein systemblindes Denken typische Erwartung, die Ausplünderung
des Menschen durch den Menschen werde in absehbarer Zeit an ein Ende kommen: im
ersten Fall durch die überfällige Entmachtung der unproduktiven Aussaugungsmächte
Adel und Klerus; im zweiten durch die Auflösung der herkömmlichen sozialen
Klassen in entfremdungsfreie kleine Zirkel, die selber konsumieren wollten, was
sie selber erzeugten. (Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden
Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).Die Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts hat
gezeigt, daß Liberalismus wie Anarchismus die Logik des Systems gegen sich
hatten. Wer eine gültige Sicht auf die Tätigkeiten der nehmenden Hand
hätte entwickeln wollen, hätte vor allem die größte Nehmermacht
der modernen Welt ins Auge fassen müssen, den aktualisierten Steuerstaat,
der sich auch mehr und mehr zum Schuldenstaat entwickeln sollte. Ansätze
hierzu finden sich de facto vorwiegend in den liberalen Traditionen. In
ihnen hat man mit beunruhigter Aufmerksamkeit notiert, wie sich der moderne Staat
binnen eines Jahrhunderts zu einem geldsaugenden und geldspeienden Ungeheuer von
beispiellosen Dimensionen ausformte. (Peter Sloterdijk, Die Revolution
der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).
Enteignung per Einkommenssteuer
Dies gelang ihm vor allem mittels einer fabelhaften Ausweitung
der Besteuerungszone, nicht zuletzt durch die Einführung der progressiven
Einkommensteuer, die in der Sache nicht weniger bedeutet als ein funktionales
Äquivalent zur sozialistischen Enteignung, mit dem bemerkenswerten
Vorzug, daß sich die Prozedur Jahr für Jahr wiederholen läßt
- zumindest bei jenen, die an der Schröpfung des letzten Jahres nicht
zugrunde gingen. Um das Phänomen der heutigen Steuerduldsamkeit bei
den Wohlhabenden zu würdigen, sollte man vielleicht daran erinnern,
daß die englische Königin Viktoria bei der erstmaligen Erhebung
einer Einkommensteuer in England in Höhe von fünf Prozent sich
darüber Gedanken machte, ob man hiermit nicht die Grenze des Zumutbaren
überschritten habe. Inzwischen hat man sich längst an Zustände
gewöhnt, in denen eine Handvoll Leistungsträger gelassen mehr
als die Hälfte des nationalen Einkommensteuerbudgets bestreitet.
(Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).
Zusammen mit einer bunten Liste an Schöpfungen
und Schröpfungen, die überwiegend den Konsum betreffen, ergibt das einen
phänomenalen Befund: Voll ausgebaute Steuerstaaten reklamieren jedes Jahr
die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für
den Fiskus, ohne daß die Betroffenen zu der plausibelsten Reaktion darauf,
dem antifiskalischen Bürgerkrieg, ihre Zuflucht nehmen. Dies ist ein politisches
Dressurergebnis, das jeden Finanzminister des Absolutismus vor Neid hätte
erblassen lassen. Erklären läßt sich das nur durch Schuldgefühle,
die unsere moralische Kultur allen Nicht-Armen einzuflößen versteht.
(Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).
Kleptokratie des Staates
Angesichts der bezeichneten Verhältnisse
ist leicht zu erkennen, warum die Frage, ob der »Kapitalismus« noch
eine Zukunft habe, falsch gestellt ist. Wir leben gegenwärtig ja keineswegs
»im Kapitalismus« - wie eine so gedankenlose wie hysterische Rhetorik
neuerdings wieder suggeriert -, sondern in einer Ordnung der Dinge, die man cum
grano salis als einen massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden
Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage definieren muß.
Offiziell heißt das schamhaft »Soziale Marktwirtschaft«. Was
freilich die Aktivitäten der nehmenden Hand angeht, so haben sich diese seit
ihrer Monopolisierung beim nationalen und regionalen Fiskus überwiegend in
den Dienst von Gemeinschaftsaufgaben gestellt. Sie widmen sich den sisyphushaften
Arbeiten, die aus den Forderungen nach »sozialer Gerechtigkeit« entspringen.
Allesamt beruhen sie auf der Einsicht: Wer viel nehmen will, muß viel begünstigen.
(Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).So ist aus der selbstischen und direkten Ausbeutung
feudaler Zeiten in der Moderne eine beinahe selbstlose, rechtlich gezügelte
Staats-Kleptokratie geworden. Ein moderner Finanzminister ist ein Robin Hood,
der den Eid auf die Verfassung geleistet hat. Das Nehmen mit gutem Gewissen, das
die öffentliche Hand bezeichnet, rechtfertigt sich, idealtypisch wie pragmatisch,
durch seine unverkennbare Nützlichkeit für den sozialen Frieden - um
von den übrigen Leistungen des nehmend-gebenden Staats nicht zu reden. Der
Korruptionsfaktor hält sich dabei zumeist in mäßigen Grenzen,
trotz anderslautenden Hinweisen .... Wer die Gegenprobe zu den hiesigen Zuständen
machen möchte, braucht sich nur an die Verhältnisse im postkommunistischen
Rußland zu erinnern, wo ein Mann ohne Herkunft wie Wladimir Putin sich binnen
weniger Dienstjahre an der Spitze des Staates ein Privatvermögen von mehr
als zwanzig Milliarden Dollar zusammenstehlen konnte. (Peter Sloterdijk,
Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).
Umgekehrte Ausbeutng
Den liberalen Beobachtern des nehmenden
Ungeheuers, auf dessen Rücken das aktuelle System der Daseinsvorsorge reitet,
kommt das Verdienst zu, auf die Gefährdungen aufmerksam gemacht zu haben,
die den gegebenen Verhältnissen innewohnen. Es sind dies die Überregulierung,
die dem unternehmerischen Elan zu enge Grenzen setzt, die Überbesteuerung,
die den Erfolg bestraft, und die Überschuldung, die den Ernst der Haushaltung
mit spekulativer Frivolität durchsetzt - im Privaten nicht anders als im
Öffentlichen. (Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand
in: F.A.Z., 13. Juni 2009).Autoren liberaler Tendenz waren es auch, die zuerst
darauf hinwiesen, daß den heutigen Bedingungen eine Tendenz zur Ausbeutungsumkehrung
innewohnt: Lebten im ökonomischen Altertum die Reichen unmißverständlich
und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne
dahin kommen, daß die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven
leben - und dies zudem auf mißverständliche Weise, nämlich so,
daß sie gesagt bekommen und glauben, man tue ihnen unrecht und man schulde
ihnen mehr. (Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in:
F.A.Z., 13. Juni 2009).
Verschuldete Zukunft
Tatsächlich besteht derzeit gut
die Hälfte jeder Population moderner Nationen aus Beziehern von Null-Einkommen
oder niederen Einkünften, die von Abgaben befreit sind und deren Subsistenz
weitgehend von den Leistungen der steueraktiven Hälfte abhängt. Sollten
sich Wahrnehmungen dieser Art verbreiten und radikalisieren, könnte es im
Lauf des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu Desolidarisierungen großen Stils
kommen. Sie wären die Folge davon, daß die nur allzu plausible liberale
These von der Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven der längst
viel weniger plausiblen linken These von der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital
den Rang abläuft. Das zöge postdemokratische Konsequenzen nach sich,
deren Ausmalung man sich zur Stunde lieber erspart. (Peter Sloterdijk, Die
Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z.,
13. Juni 2009).Die größte Gefahr für die
Zukunft des Systems geht gegenwärtig von der Schuldenpolitik der keynesianisch
vergifteten Staaten aus. Sie steuert so diskret wie unvermeidlich auf eine Situation
zu, in der die Schuldner ihre Gläubiger wieder einmal enteignen werden -
wie schon so oft in der Geschichte der Schröpfungen, von den Tagen der Pharaonen
bis zu den Währungsreformen des zwanzigsten Jahrhunderts. Neu ist an den
aktuellen Phänomenen vor allem die pantagruelische Dimension der öffentlichen
Schulden. Ob Abschreibung, ob Insolvenz, ob Währungsreform, ob Inflation
- die nächsten Großenteignungen sind unterwegs. Schon jetzt ist klar,
unter welchem Arbeitstitel das Drehbuch der Zukunft steht: Die Ausplünderung
der Zukunft durch die Gegenwart. Die nehmende Hand greift nun sogar ins Leben
der kommenden Generationen voraus - die Respektlosigkeit erfaßt auch die
natürlichen Lebensgrundlagen und die Folge der Generationen. (Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009).Die einzige Macht, die der Plünderung der
Zukunft Widerstand leisten könnte, hätte eine sozialpsychologische Neuerfindung
der »Gesellschaft« zur Voraussetzung. Sie wäre nicht weniger
als eine Revolution der gebenden Hand. Sie führte zur Abschaffung der Zwangssteuern
und zu deren Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit - ohne daß der
öffentliche Bereich deswegen verarmen müßte. Diese thymotische
Umwälzung hätte zu zeigen, daß in dem ewigen Widerstreit zwischen
Gier und Stolz zuweilen auch der Letztere die Oberhand gewinnen kann. (Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand in: F.A.Z., 13. Juni 2009). |