Experimentalpolitik: die französische Revolution.
Georg
Christoph Lichtenberg |
Schon
in ruhigen - weniger noch in unruhigen - Zeiten sollte man nicht nach Berlin streben.Johann
Wolfgang Goethe, Mai 1778 |
Die Natur ist
die große Ruhe gegenüber unserer Beweglichkeit.Reichtum und Schnelligkeit
ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten,
Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten dder Kommunikation sind
es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden
und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.Johann
Wolfgang Goethe, Brief, 06.06.1825 |
Ich
sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an der Menschheit hat und er abermals
alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung.Johann
Wolfgang Goethe, Gespräche mit Eckermann, 1829 |
Vielleicht
gewinnen wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung hinstelle,
daß sich der Satyr, das fingierte Naturwesen, zu dem Kulturmenschen in gleicher
Weise verhält, wie die dionysische Musik zur Zivilisation. Von letzterer
sagt Richard Wagner, daß sie von der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein
vom Tageslicht.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 50 |
Das
ist ja das Merkmal jenes »Bruches«, von dem jedermann als von dem
Urleiden der modernen Kultur zu reden pflegt, daß der theoretische Mensch
vor seinen Konsequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt, sich dem
furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: ängstlich läuft er
am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen
Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische Betrachten verzärtelt.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 114 |
Der
moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen
mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln,
wie es im Märchen heißt.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 180 |
Der
moderne Mensch leidet an einer geschwächten Persönlichkeit.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 187 |
So
..., wie der junge Mensch durch die Geschichte läuft, so laufen wir Modernen
durch die Kunstkammern, so hören wir Konzerte. Man fühlt wohl, das klingt
anders als jenes, das wirkt anders als jenes: dies gefühl der Befremdung
immer mehr zu verlieren, über nichts mehr übermäßig zu erstaunen,
endlich alles sich gefallen zu lassen - das nennt man dann wohl den historischen
Sinn, die historische Bildung.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 207 |
Über
Goethe hat uns neuerdings jemand belehren wollen, daß er mit seinen 82 Jahren
sich ausgelebt habe: und doch würde ich gern ein paar Jahre des »ausgelebten«
Goethe gegen ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufe einhandeln,
um noch einen Anteil an solchen Gesprächen zu haben, wie sie Goethe mit Eckermann
führte, und um auf diese Weise vor allen zeitgemäßen Belehrungen
durch die Legionäre des Augenblicks bewahrt zu bleiben. Wie wenige Lebende
haben überhaupt, solchen Toten gegenüber, ein Recht zu leben! Daß
die Vielen leben und jene Wenigen nicht mehr leben, ist nichts als eine brutale
Wahrheit, das heißt eine unverbesserliche Dummheit, ein plumpes »es
ist einmal so« gegenüber der Moral »es sollte nicht so sein«.
Ja, gegenüber der Moral!Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 218 |
Dicht
neben dem Stolze des modernen Menschen steht seine Ironie über sich
selbst, sein Bewußtsein, daß er in einer historisierenden und gleichsam
abendlichen Stimmung leben muß ....Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 219 |
Hier
und da geht man noch weiter, ins Zynische, und rechtfertigt den Gang der Geschichte,
ja der gesamten Weltentwicklung ganz eigentlich für den Handgebrauch des
modernen Menschen, nach dem zynischen Kanon: gerade so mußte es kommen,
wie es gerade jetzt geht, so und nicht anders mußte der Mensch werden, wie
jetzt die Menschen sind, gegen dieses Muß darf sich keiner auflehnen.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220 |
Aus
Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner
Zeit haben die Tätigem das heißt, die Ruhelosen, mehr gegolten. Es
gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, elche man im Charakter der
Menschheit vornehmen muß, das beschleunigte Element im großen Maße
zu verstärken.
Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 215 |
Um
das Gesagte noch einmal kurz zu sagen: das Interesse der vormundschaftlichen Regierung
und das Interesse der Religion gehen miteinander Hand in Hand, so daß, wenn
letztere abzusterben beginnt, auch die Grundlage des Staates erschüttert
wird. Der Glaube an eine göttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein
Mysterium in der Existenz des Staates ist religiösen Ursprungs: schwindet
die Religion, so wird der Staat unvermeidlich seinen alten Isisschleier verlieren
und keine Ehrfurcht mehr erwecken. Die Souveränität des Volkes, in der
Nähe gesehen, dient dazu, auch den letzten Zauber und Aberglauben auf dem
Gebiete dieser Empfindungen zu verscheuchen; die moderne Demokratie ist die historische
Form vom Verfall des Staates.Friedrich
Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 280-281 |
Und
das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der nicht vor langem noch den Willen
zur Herrschaft über Europa, die Kraft zur Führung Europas gehabt hatte,
eben letztwillig und endgültig abdankte und, unter dem pomphaften Vorwande
einer Reichs-Begründung, seinen Übergang zur Vermittelmäßigung,
zur Demokratie und den »modernen Ideen« machte!Friedrich
Nietzsche, Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 12 |
Ist
Pessimismus notwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Mißratenseins,
der ermüdeten und geschwächten Instinkte? wie er es bei den Indern
war, wie er es, allem Anschein nach, bei uns, den »modernen« Menschen
und Europäern ist? Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine
intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische
des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle
des Daseins? Gibt es vielleicht ein Leiden an der Überfülle selbst?
Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem Furchtbaren
verlangt, als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an dem sie ihre
Kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was »das Fürchten«
ist? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten, stärksten, tapfersten
Zeit, der tragische Mythus? Und das ungeheure Phänomen des Dionysischen?
Was, aus ihm geboren, die Tragödie? Und wiederum: das, woran die Tragödie
starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit
des theoretischen Menschen wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus
ein Zeichen des Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich
lösenden Instinkte sein? Und die »griechische Heiterkeit« des
späteren Griechentums nur eine Abendröte? Der epikurische Wille gegen
den Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden? Und die Wissenschaft selbst,
unsere Wissenschaft ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens
angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher alle Wissenschaft?
Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem
Pessimismus? Eine feine Notwehr gegen die Wahrheit? Und, moralisch
geredet, etwas wie Feig- und Falschheit? Unmoralisch geredet, eine Schlauheit?
O Sokrates, Sokrates, war das vielleicht dein Geheimnis? O geheimnisvoller Ironiker,
war dies vielleicht deine Ironie?Friedrich
Nietzsche, Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 3-4 |
Man
vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann,
auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen: aber jene »Gesetzmäßigkeit
der Natur«, von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob
besteht nur dank eurer Ausdeutung und schlechten »Philologie«
sie ist kein Tatbestand, kein »Text«, vielmehr nur eine naiv-humanitäre
Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der
modernen Seele sattsam entgegenkommt!Friedrich
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 22, in: Werke III, S.
32 bzw. 586 |
Oder zeigte vielleicht die
gesamte moderne Geschichtsschreibung eine lebensgewissere, idealgewissere Haltung?
Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt dahin, Spiegel zu sein; sie lehnt alle
Teleologie ab; sie will nichts mehr »beweisen«; sie verschmäht es, den Richter
zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack sie bejaht so wenig, als
sie verneint, sie stellt fest, sie »beschreibt« .... Dies alles ist
in einem hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem noch höheren
Grade nihilistisch .... Friedrich
Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 340-341 bzw.
894-895 |
Hat man sich für die Abzeichen
des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht man auch die Moral man versteht,
was sich unter ihren heiligsten Namen und Wertformeln versteckt: das verarmte
Leben, der Wille zum Ende, die große Müdigkeit. Moral verneint
das Leben .... Zu einer solchen Aufgabe war mir eine Selbstdisziplin vonnöten
Partei zu nehmen gegen alles Kranke an mir, eingerechnet Wagner, eingerechnet
Schopenhauer, eingerechnet die ganze moderne »Menschlichkeit«.
Eine tiefe Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung gegen alles Zeitliche,
Zeitgemäße: und als höchsten Wunsch das Auge Zarathustras,
ein Auge, das die ganze Tatsache Mensch aus ungeheurer Ferne übersieht
unter sich sieht .... Einem solchen Ziele welches Opfer wäre ihm nicht
gemäß? welche »Selbst-Überwindung«! welche »Selbst-Verleugnung«!.
Friedrich
Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 3-4 |
Mein
größtes Erlebnis war eine Genesung. Wagner gehört bloß
zu meinen Krankheiten. Nicht daß ich gegen diese Krankheit undankbar sein
möchte. Wenn ich mit dieser Schrift den Satz aufrechterhalte, daß Wagner
schädlich ist, so will ich nicht weniger aufrechthalten, wem er trotzdem
unentbehrlich ist dem Philosophen. Sonst kann man vielleicht ohne Wagner
auskommen: dem Philosophen aber steht es nicht frei, Wagners zu entraten. Er hat
das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein dazu muß er deren bestes
Wissen haben. Aber wo fände er für das Labyrinth der modernen Seele
einen eingeweihteren Führer, einen beredteren Seelenkündiger als Wagner?
Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder
ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und umgekehrt:
man hat beinahe eine Abrechnung über den Wert des Modernen gemacht, wenn
man über Gut und Böse bei Wagner mit sich im klaren ist. Ich
verstehe es vollkommen, wenn heut ein Musiker sagt: »ich hasse Wagner, aber
ich halte keine andere Musik mehr aus«. Ich
würde aber auch einen Philosophen verstehen, der erklärte: »Wagner
resümiert die Modernität. Es hilft nichts, man muß erst
Wagnerianer sein.« Friedrich
Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 4 |
Gerade,
weil nichts moderner ist als diese Gesamterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit
der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par
excellence, der Cagliostro der Modernität. In seiner Kunst ist auf die verführerischste
Art gemischt, was heute alle Welt am nötigsten hat die drei großen
Stimulantia der Erschöpften, das Brutale, das Künstliche
und das Unschuldige (Idiotische). Friedrich
Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 17 |
Der
Parsifal wird in der Kunst der Verführung ewig seinen Rang behalten,
als der Geniestreich der Verführung .... Ich bewundere dies Werk,
ich möchte es selbst gemacht haben; in Ermangelung davon verstehe ich
es .... Wagner war nie besser inspiriert als am Ende. Das Raffinement im Bündnis
von Schönheit und Krankheit geht hier so weit, daß es über Wagners
frühere Kunst gleichsam Schatten legt sie erscheint zu hell, zu gesund.
Versteht ihr das? Die Gesundheit, die Helligkeit als Schatten wirkend? als Einwand
beinahe? .... So weit sind wir schon reine Toren .... Niemals gab es einen
größeren Meister in dumpfen hieratischen Wohlgerüchen nie
lebte ein gleicher Kenner alles kleinen Unendlichen, alles Zitternden und Überschwänglichen,
aller Feminismen aus dem Idiotikon des Glücks! Trinkt nur, meine Freunde,
die Philtren dieser Kunst! Ihr findet nirgends eine angenehmere Art, euren Geist
zu entnerven, eure Männlichkeit unter einem Rosengebüsche zu vergessen
.... Ah dieser alte Zauberer! Dieser Klingsor aller Klingsore! Wie er uns
damit den Krieg macht! uns, den freien Geistern! Wie er jeder Feigheit der modernen
Seele mit Zaubermädchen-Tönen zu Willen redet! Es gab nie einen
solchen Todhaß auf die Erkenntnis! Man muß Zyniker sein,
um hier nicht verführt zu werden, man muß beißen können,
um hier nicht anzubeten. Wohlan, alter Verführer! Der Zyniker warnt dich
cave canem .... Friedrich
Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 37 |
Der
moderne Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werte dar, er
sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in einem Atem Ja und Nein.Friedrich
Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 46 |
Aber
wir alle haben wider Wissen, wider Willen, Werte, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter
Abkunft im Leibe wir sind, physiologisch betrachtet, falsch .... Eine Diagnostik
der modernen Seele womit begänne sie? Mit einem resoluten Einschnitt
in diese Instinkt-Widersprüchlichkeit, mit der Herauslösung ihrer Gegensatz-Werte,
mit der Vivisektion vollzogen an ihrem lehrreichsten Fall.Friedrich
Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 47 |
Die
Kultur und der Staat man betrüge sich hierüber nicht sind
Antagonisten: »Kultur-Staat« ist bloß eine moderne Idee. Das
eine lebt vom andern, das eine gedeiht auf Unkosten des andern. Alle großen
Zeiten der Kultur sind politische Niedergangs-Zeiten: was groß ist im Sinn
der Kultur, war unpolitisch, selbst antipolitisch ....Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 431 bzw.
985 |
Ob wir moralischer geworden sind.
Gegen meinen Begriff »jenseits von Gut und Böse« hat sich,
wie zu erwarten stand, die ganze Ferozität der moralischen Verdummung
... ins Zeug geworfen: ich hätte artige Geschichten davon zu erzählen.
Vor allem gab man mir die »unleugbare Überlegenheit« unsrer Zeit
im sittlichen Urteil zu überdenken, unsern wirklich hier gemachten Fortschritt:
ein Cesare Borgia sei, im Vergleich mit uns, durchaus nicht als ein »höherer
Mensch«, als eine Art Übermensch, wie ich es tue, aufzustellen
.... Ein Schweizer Redakteur, vom »Bund«, ging so weit, nicht ohne
seine Achtung vor dem Mut zu solchem Wagnis auszudrücken, den Sinn meines
Werks dahin zu »verstehn«, daß ich mit demselben die Abschaffung
aller anständigen Gefühle beantragte. Sehr verbunden! ich erlaube
mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, ob wir wirklich moralischer geworden
sind. Daß alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen ....
Wir modernen Menschen, sehr zart, sehr verletztlich und hundert Rücksichten
gebend und nehmend, bilden uns in der Tat ein, diese zärtliche Menschlichkeit,
die wir darstellen, diese erreichte Einmütigkeit in der Schonung,
in der Hilfsbereitschaft, im gegenseitigen Vertrauen, sei ein positiver Fortschritt,
damit seien wir weit über die Menschen der Renaissance hinaus. Aber so denkt
jede Zeit, so muß sie denken. Gewiß ist, daß wir uns
nicht in Renaissance-Zustände hineinstellen dürften, nicht einmal hineindenken:
unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus, nicht zu reden von unsern Muskeln.
Mit diesem Unvermögen ist aber kein Fortschritt bewiesen, sondern nur eine
andre, eine spätere Beschaffenheit, eine schwächere, zärtlichere,
verletztlichere, aus der sich notwendig eine rücksichtenreiche Moral
erzeugt.Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 458 bzw.
1012 |
Denken wir unsre Zartheit und Spätheit,
unsre physiologische Alterung weg, so verlöre auch unsre Moral der »Vermenschlichung«
sofort ihren Wert an sich hat keine Moral Wert : sie würde uns
selbst Geringschätzung machen. Zweifeln wir andrerseits nicht daran, daß
wir Modernen mit unsrer dick wattierten Humanität, die durchaus an keinen
Stein sich stoßen will, den Zeitgenossen Cesare Borgias eine Komödie
zum Totlachen abgeben würden. In der Tat, wir sind über die Maßen
unfreiwillig spaßhaft, mit unsren modernen »Tugenden« .... Die
Abnahme der feindseligen und mißtrauen-weckenden Instinkte und das
wäre ja unser »Fortschritt« stellt nur eine der Folgen
in der allgemeinen Abnahme der Vitalität dar: es kostet hundertmal
mehr Mühe, mehr Vorsicht, ein so bedingtes, so spätes Dasein durchzusetzen.
Da hilft man sich gegenseitig, da ist jeder bis zu einem gewissen Grade Kranker
und jeder Krankenwärter. Das heißt dann »Tugend« :
unter Menschen, die das Leben noch anders kannten, voller, verschwenderischer,
überströmender, hätte man's anders genannt, »Feigheit«
vielleicht, »Erbärmlichkeit«, »Altweiber-Moral« ....Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 458-459
bzw. 1012-1013 |
Unsre Milderung der Sitten
das ist mein Satz, das ist, wenn man will, meine Neuerung
ist eine Folge des Niedergangs; die Härte und Schrecklichkeit der Sitte kann
umgekehrt eine Folge des Überschusses von Leben sein. Dann nämlich darf
auch viel gewagt, viel herausgefordert, viel auch vergeudet werden. Was
Würze ehedem des Lebens war, für uns wäre es Gift .... Indifferent
zu sein auch das ist eine Form der Stärke dazu sind wir gleichfalls
zu alt, zu spät: unsre Mitgefühls-Moral, vor der ich als der erste gewarnt
habe, ... ist ein Ausdruck mehr der physiologischen Überreizbarkeit, die
allem, was décadent ist, eignet. Jene Bewegung, die mit der Mitleids-Moral
Schopenhauers versucht hat, sich wissenschaftlich vorzuführen
ein sehr unglücklicher Versuch! ist die eigentliche décadence-Bewegung
in der Moral, sie ist als solche tief verwandt mit der christlichen Moral. Die
starken Zeiten, die vornehmen Kulturen sehen im Mitleiden, in der »Nächstenliebe«,
im Mangel an Selbst und Selbstgefühl etwas Verächtliches.Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 459 bzw.
1013 |
Die Zeiten sind zu messen nach ihren
positiven Kräften und dabei ergibt sich jene so verschwenderische
und verhängnisreiche Zeit der Renaissance als die letzte große Zeit,
und wir, wir Modernen mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe,
mit unsern Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der
Wissenschaftlichkeit sammelnd, ökonomisch, machinal als eine
schwache Zeit .... Unsre Tugenden sind bedingt, sind herausgefordert
durch unsre Schwäche .... Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 459 bzw.
1013 |
Die »Gleichheit«, eine
gewisse tatsächliche Anähnlichung, die sich in der Theorie von »gleichen
Rechten« nur zum Ausdruck bringt, gehört wesentlich zum Niedergang:
die Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen,
der Wille, selbst zu sein, sich abzuheben , das, was ich Pathos der Distanz
nenne, ist jeder starken Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite
zwischen den Extremen wird heute immer kleiner die Extreme selbst verwischen
sich endlich bis zur Ähnlichkeit .... Alle unsre politischen Theorien und
Staats-Verfassungen, das »Deutsche Reich« durchaus nicht ausgenommen,
sind Folgerungen, Folge-Notwendigkeiten des Niedergangs; die unbewußte Wirkung
der décadence ist bis in die Ideale einzelner Wissenschaften hinein
Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze Soziologie in England und Frankreich
bleibt, daß sie nur die Verfalls-Gebilde der Sozietät aus Erfahrung
kennt und vollkommen unschuldig die eignen Verfalls-Instinkte als Norm
des soziologischen Werturteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme
aller organisierenden, das heißt trennenden, Klüfte aufreißenden,
unter- und überordnenden Kraft formuliert sich in der Soziologie von heute
zum Ideal .... Unsre Sozialisten sind décadents, aber auch
Herr Herbert Spencer ist ein décadent er sieht im Sieg des
Altruismus etwas Wünschenswertes!Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 459-460
bzw. 1013-1014 |
Mein Begriff von Freiheit.
Der Wert einer Sache liegt mitunter nicht in dem, was man mit ihr erreicht,
sondern in dem, was man für sie bezahlt was sie uns kostet.
Ich gebe ein Beispiel. Die liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal
zu sein, sobald sie erreicht sind: es gibt später keine ärgeren und
gründlicheren Schädiger der Freiheit als liberale Institutionen. Man
weiß ja, was sie zuwege bringen: sie unterminieren den Willen zur Macht,
sie sind die zur Moral erhobene Nivellierung von Berg und Tal, sie machen klein,
feige und genüßlich mit ihnen triumphiert jedesmal das Herdentier.
Liberalismus: auf deutsch Herden-Vertierung .... Dieselben Institutionen
bringen, so lange sie noch erkämpft werden, ganz andre Wirkungen hervor;
sie fördern dann in der Tat die Freiheit auf eine mächtige Weise. Genauer
zugesehn, ist es der Krieg, der diese Wirkungen hervorbringt, der Krieg um
liberale Institutionen, der als Krieg die illiberalen Instinkte dauern
läßt. Und der Krieg erzieht zur Freiheit. Denn was ist Freiheit? Daß
man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Daß man die Distanz, die
uns abtrennt, festhält. Daß man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung,
selbst gegen das Leben gleichgültiger wird. Daß man bereit ist, seiner
Sache Menschen zu opfern, sich selber nicht abgerechnet. Freiheit bedeutet, daß
die männlichen, die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft haben
über andre Instinkte, zum Beispiel über die des »Glücks«.Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 460-461
bzw. 1014-1015 |
Der freigewordne
Mensch, um wie viel mehr der freigewordne Geist, tritt mit Füßen auf
die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe,
Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen. Der freie Mensch ist
Krieger.Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 461 bzw.
1015 |
Wonach mißt sich die Freiheit,
bei Einzelnen wie bei Völkern? Nach dem Widerstand, der überwunden werden
muß, nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben. Den höchsten
Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der höchste
Widerstand überwunden wird: fünf Schritte weit von der Tyrannei, dicht
an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft. Dies ist psychologisch wahr, wenn
man hier unter den »Tyrannen« unerbittliche und furchtbare Instinkte
begreift, die das Maximum von Autorität und Zucht gegen sich herausfordern
schönster Typus Julius Cäsar ; dies ist auch politisch
wahr, man mache nur seinen Gang durch die Geschichte. Die Völker, die etwas
wert waren, wert wurden, wurden dies nie unter liberalen Institutionen:
die große Gefahr machte etwas aus ihnen, das Ehrfurcht verdient,
die Gefahr, die uns unsre Hilfsmittel, unsre Tugenden, unsre Wehr und Waffen,
unsern Geist erst kennen lehrt die uns zwingt, stark zu sein .... Erster
Grundsatz: man muß es nötig haben, stark zu sein: sonst wird man's
nie. Jene großen Treibhäuser für starke, für die stärkste
Art Mensch, die es bisher gegeben hat, die aristokratischen Gemeinwesen in der
Art von Rom und Venedig verstanden Freiheit genau in dem Sinne, wie ich das Wort
Freiheit verstehe: als etwas, das man hat und nicht hat, das man will,
das man erobert ....Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 461 bzw.
1015 |
Kritik der Modernität.
Unsre Institutionen taugen nichts mehr: darüber ist man einmütig.
Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an uns. Nachdem uns alle Instinkte
abhanden gekommen sind, aus denen Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen
überhaupt abhanden, weil wir nicht mehr zu ihnen taugen. Demokratismus
war jederzeit die Niedergangs-Form der organisierenden Kraft: ich habe schon in
»Menschliches, Allzumenschliches« (I, 682) die moderne Demokratie
samt ihren Halbheiten, wie »Deutsches Reich«, als Verfallsform
des Staats gekennzeichnet. Damit es Institutionen gibt, muß es eine
Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen
zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus,
zur Solidarität von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts
in infinitum. Ist dieser Wille da, so gründet sich etwas wie das Imperium
Romanum: oder wie Rußland, die einzige Macht, die heute Dauer im
Leibe hat, die warten kann, die etwas noch versprechen kann Rußland,
der Gegensatz-Begriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei
und Nervosität, die mit der Gründung des Deutschen Reichs in einen kritischen
Zustand eingetreten ist .... Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus
denen Institutionen wachsen, aus denen Zukunft wächst: seinem »modernen
Geiste« geht vielleicht nichts so sehr wider den Strich.Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 461-462
bzw. 1015-1016 |
Man lebt für heute,
man lebt sehr geschwind man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt
man »Freiheit«. Was aus Institutionen Institutionen macht,
wird verachtet, gehaßt, abgelehnt: man glaubt sich in der Gefahr einer neuen
Sklaverei, wo das Wort »Autorität« auch nur laut wird. Soweit
geht die décadence im Wert-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen
Parteien: sie ziehn instinktiv vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt
.... Zeugnis die moderne Ehe. Aus der modernen Ehe ist ersichtlich alle
Vernunft abhanden gekommen: das gibt aber keinen Einwand gegen die Ehe ab, sondern
gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe sie lag in der juristischen
Alleinverantwortlichkeit des Mannes: damit hatte die Ehe Schwergewicht, während
sie heute auf beiden Beinen hinkt. Die Vernunft der Ehe sie lag in ihrer
prinzipiellen Unlösbarkeit: damit bekam sie einen Akzent, der, dem Zufall
von Gefühl, Leidenschaft und Augenblick gegenüber, sich Gehör
zu schaffen wußte. Sie lag insgleichen in der Verantwortlichkeit der
Familien für die Auswahl der Gatten. Man hat mit der wachsenden Indulgenz
zugunsten der Liebes-Heirat geradezu die Grundlage der Ehe, das, was erst
aus ihr eine Institution macht, eliminiert. Man gründet eine Institution
nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe nicht,
wie gesagt, auf die »Liebe« man gründet sie auf den Geschlechtstrieb,
auf den Eigentumstrieb (Weib und Kind als Eigentum), auf den Herrschafts-Trieb,
der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisiert,
der Kinder und Erben braucht, um ein erreichtes Maß von Macht, Einfluß,
Reichtum auch physiologisch festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität
zwischen Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits
die Bejahung der größten, der dauerhaftesten Organisationsform in sich:
wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich gutsagen kann
bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt keinen
Sinn. Die moderne Ehe verlor ihren Sinn folglich schafft
man sie ab.Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 462-463
bzw. 1016-1017 |
Die Arbeiter-Frage.
Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung, welche heute die Ursache
aller Dummheiten ist, liegt darin, daß es eine Arbeiter-Frage gibt. Über
gewisse Dinge fragt man nicht: erster Imperativ des Instinkts. Ich
sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen will,
nachdem man erst eine Frage aus ihm gemacht hat. Er befindet sich viel zu gut,
um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen. Er
hat zuletzt die große Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber,
daß hier sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein
Typus Chinese zum Stande herausbilde: und dies hätte Vernunft gehabt, dies
wäre geradezu eine Notwendigkeit gewesen. Was hat man getan? Alles,
um auch die Voraussetzung dazu im Keime zu vernichten man hat die Instinkte,
vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, sich selber möglich
wird, durch die unverantwortlichste Gedankenlosigkeit in Grund und Boden zerstört.
Man hat den Arbeiter militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Koalitions-Recht,
das politische Stimmrecht gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz
heute bereits als Notstand (moralisch ausgedrückt als Unrecht)
empfindet? Aber was will man? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muß
man auch die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie
zu Herrn erzieht.Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 463-464
bzw. 1017-1018 |
»Freiheit, die
ich nicht meine ....« In solchen Zeiten, wie heute, seinen
Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängnis mehr. Diese Instinkte
widersprechen, stören sich, zerstören sich untereinander; ich definierte
das Moderne bereits als den physiologischen Selbst-Widerspruch. Die Vernunft
der Erziehung würde wollen, daß unter einem eisernen Drucke wenigstens
eins dieser Instinkt-Systeme paralysiert würde, um einem andern zu
erlauben, zu Kräften zu kommen, stark zu werden, Herr zu werden. Heute müßte
man das Individuum erst möglich machen, indem man dasselbe beschneidet:
möglich, das heißt ganz .... Das Umgekehrte geschieht: der
Anspruch auf Unabhängigkeit, auf freie Entwicklung, auf laisser aller
wird gerade von denen am hitzigsten gemacht, für die kein Zügel zu
streng wäre dies gilt in politicis, dies gilt in der Kunst.
Aber das ist ein Symptom der décadence: unser moderner Begriff »Freiheit«
ist ein Beweis von Instinkt-Entartung mehr.Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 464 bzw.
1018 |
Den Konservativen ins Ohr gesagt.
Was man früher nicht wußte, was man heute weiß, wissen
könnte , eine Rückbildung, eine Umkehr in irgendwelchem
Sinn und Grade ist gar nicht möglich. Wir Physiologen wenigstens wissen das.
Aber alle Priester und Moralisten haben daran geglaubt sie wollten
die Menschheit auf ein früheres Maß von Tugend zurückbringen,
zurückschrauben. Moral war immer ein Prokrustes-Bett. Selbst die Politiker
haben es darin den Tugendpredigern nachgemacht: es gibt auch heute noch Parteien,
die als Ziel den Krebsgang aller Dinge träumen. Aber es steht niemandem
frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts: man muß vorwärts, will sagen
Schritt für Schritt weiter in der décadence ( dies meine
Definition des modernen »Fortschritts« ...). Man kann diese Entwicklung
hemmen und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer
und plötzlicher machen: mehr kann man nicht.Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 464-465
bzw. 1018-1019 |
Fortschritt in meinem
Sinne. Auch ich rede von »Rückkehr zur Natur«, obwohl
es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen ist
hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit, eine
solche, die mit großen Aufgaben spielt, spielen darf .... Um es im Gleichnis
zu sagen: Napoleon war ein Stück »Rückkehr zur Natur«, so
wie ich sie verstehe (zum Beispiel in rebus tacticis, noch mehr, wie die Militärs
wissen, im Strategischen). Aber Rousseau wohin wollte der
eigentlich zurück? Rousseau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und Kanaille
in einer Person; der die moralische »Würde« nötig hatte,
um seinen eignen Aspekt auszuhalten; krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser
Selbstverachtung. Auch diese Mißgeburt, welche sich an die Schwelle der
neuen Zeit gelagert hat, wollte »Rückkehr zur Natur« wohin,
nochmals gefragt, wollte Rousseau zurück? Ich hasse Rousseau noch
in der Revolution: sie ist der welthistorische Ausdruck für diese
Doppelheit von Idealist und Kanaille. Die blutige Farce, mit der sich diese Revolution
abspielte, ihre »Immoralität«, geht mich wenig an: was ich hasse,
ist ihre Rousseausche Moralität die sogenannten »Wahrheiten«
der Revolution, mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmäßige
zu sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit!... Aber es gibt gar kein
giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt,
während sie das Ende der Gerechtigkeit ist . .... »Den Gleichen Gleiches,
den Ungleichen Ungleiches« das wäre die wahre Rede der
Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, »Ungleiches niemals gleich machen.«
Daß es um jene Lehre von der Gleichheit herum so schauerlich und
blutig zuging, hat dieser »modernen Idee« par excellence eine Art
Glorie und Feuerschein gegeben, so daß die Revolution als Schauspiel
auch die edelsten Geister verführt hat. Das ist zuletzt kein Grund, sie mehr
zu achten. Ich sehe nur einen, der sie empfand, wie sie empfunden werden
muß, mit Ekel Goethe.Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 469-470
bzw. 1023-1024 |
Goethe kein
deutsches Ereignis, sondern ein europäisches: ein großartiger Versuch,
das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur,
durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art
Selbstüberwindung von seiten dieses Jahrhunderts. Er trug dessen stärkste
Instinkte in sich: die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische,
das Idealistische, das Unreale und Revolutionäre ( letzteres ist nur
eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike,
insgleichen Spinoza zu Hilfe, vor allem die praktische Tätigkeit; er umstellte
sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er löste sich nicht vom Leben ab,
er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich
auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Totalität;
er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille
( in abschreckendster Scholastik durch Kant gepredigt, den Antipoden Goethes);
er disziplinierte sich zur Ganzheit, er schuf sich .... Goethe war, inmitten
eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte Ja zu
allem, was ihm hierin verwandt war er hatte kein größeres Erlebnis
als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe konzipierte einen starken,
hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden,
vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichtum
der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit
ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke,
weil er das, woran die durchschnittliche Natur zugrunde gehn würde, noch
zu seinem Vorteil zu brauchen weiß; den Menschen, für den es nichts
Verbotenes mehr gibt, es sei denn die Schwäche, heiße sie nun
Laster oder Tugend .... Ein solcher freigewordner Geist steht mit einem
freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, daß
nur das Einzelne verwerflich ist, daß im Ganzen sich alles erlöst und
bejaht er verneint nicht mehr .... Aber ein solcher Glaube ist der
höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos
getauft.Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 470-471
bzw. 1024-1025 |
Man könnte sagen, daß
in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert das alles auch erstrebt hat,
was Goethe als Person erstrebte: eine Universalität im Verstehn, im Gutheißen,
ein An-sich-heran-kommen-lassen von jedwedem, einen verwegnen Realismus, eine
Ehrfurcht vor allem Tatsächlichen. Wie kommt es, daß das Gesamt-Ergebnis
kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein nihilistisches Seufzen, ein Nicht-wissen-wo-aus-noch-ein,
ein Instinkt von Ermüdung, der in praxi fortwährend dazu treibt,
zum achtzehnten Jahrhundert zurückzugreifen? ( zum Beispiel
als Gefühls-Romantik, als Altruismus und Hyper-Sentimentalität, als
Feminismus im Geschmack, als Sozialismus in der Politik). Ist nicht das neunzehnte
Jahrhundert, zumal in seinem Ausgange, bloß ein verstärktes verrohtes
achtzehntes Jahrhundert, das heißt ein décadence-Jahrhundert?
So daß Goethe nicht bloß für Deutschland, sondern für ganz
Europa bloß ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre?
Aber man mißversteht große Menschen, wenn man sie aus der armseligen
Perspektive eines öffentlichen Nutzens ansieht. Daß man keinen Nutzen
aus ihnen zu ziehen weiß, das gehört selbst vielleicht zur Größe.Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 471-472
bzw. 1025-1026 |
Goethe ist der letzte Deutsche,
vor dem ich Ehrfurcht habe: er hätte drei Dinge empfunden, die ich empfinde,
auch verstehen wir uns über das »Kreuz« .... Man fragt
mich öfter, wozu ich eigentlich deutsch schriebe: nirgendswo würde
ich schlechter gelesen, als im Vaterlande. Aber wer weiß zuletzt, ob ich
auch nur wünsche, heute gelesen zu werden? Dinge schaffen,
an denen umsonst die Zeit ihre Zähne versucht; der Form nach, der Substanz
nach um eine kleine Unsterblichkeit bemüht sein ich war noch nie
bescheiden genug, weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in
denen ich als der erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der »Ewigkeit«;
mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andre in einem Buche
sagt was jeder andre in einem Buche nicht sagt .... Ich habe
der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zarathustra:
ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste.Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 472 bzw.
1026 |
Sehen wir uns ins Gesicht. Wir sind
Hyperboreer, wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. »Weder
zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden«: das
hat schon Pindar von uns gewußt. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes
- unser Leben, unser Glück.« .... Wir haben das Glück
entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden
des Labyrinths. Wer fand ihn sonst? Der moderne Mensch etwa? »Ich
weiß nicht aus, noch ein; ich bin alles, was nicht aus noch ein weiß«
seufzt der moderne Mensch .... An dieser Modernität waren wir
krank, am faulen Frieden, am feigen Kompromiß, an der ganzen tugendhaften
Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. Diese Toleranz ... des Herzens, die alles
»verzeiht«, weil sie alles »begreift«. Friedrich
Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 611 bzw. 1165 |
Die
Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren
oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der »Fortschritt«
ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Europäer
von heute bleibt in seinem Werte tief unter dem Europäer der Renaissance;
Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgendwelcher Notwendigkeit
Erhöhung, Steigerung, Verstärkung. Friedrich
Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 612 bzw. 1166 |
Schopenhauer
war in seinem Recht damit: durch das Mitleid wird das Leben verneint, verneinungswürdiger
gemacht Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus. Nochmals gesagt: dieser
depressive und kontagiöse Instinkt kreuzt jene Instinkte, welche auf Erhaltung
und Wert-Erhöhung des Lebens aus sind: er ist eben so als Multiplikator
des Elends wie als Konservator alles Elenden ein Hauptwerkzeug zur Steigerung
der décadence Mitleiden überredet zum Nichts! .... Man
sagt nicht »Nichts«: man sagt dafür »Jenseits«: oder
»Gott«; oder »das wahre Leben«; oder Nirwana, Erlösung,
Seligkeit... Diese unschuldige Rhetorik aus dem Reich der religiös-moralischen
Idiosynkrasie erscheint sofort viel weniger unschuldig, wenn man begreift,
welche Tendenz hier den Mantel sublimer Worte um sich schlägt: die
lebensfeindliche Tendenz. Friedrich
Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 614-615 bzw. 1168-1169 |
Schopenhauer
war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid zur Tugend .... Aristoteles
sah, wie man weiß, im Mitleiden einen krankhaften und gefährlichen
Zustand, dem man gut täte, hier und da durch ein Purgativ beizukommen: er
verstand die Tragödie als Purgativ. Vom Instinkte des Lebens aus müßte
man in der Tat nach einem Mittel suchen, einer solchen krankhaften und gefährlichen
Häufung des Mitleids, wie sie der Fall Schopenhauers (und leider auch unsre
gesamte literarische und artistische décadence von St. Petersburg bis Paris,
von Tolstoi bis Wagner) darstellt, einen Stich zu versetzen: damit sie platzt
.... Nichts ist ungesunder, inmitten unsrer ungesunden Modernität, als das
christliche Mitleid. Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier
das Messer führen das gehört zu uns, das ist unsre
Art Menschenliebe, damit sind wir Philosophen, wir Hyperboreer! Friedrich
Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 615 bzw. 1169 |
Ein
Gesetzbuch nach Art des Manu aufstellen, heißt einem Volke fürderhin
zugestehn, Meister zu werden, vollkommen zu werden die höchste Kunst
des Lebens zu ambitionieren. Dazu muß es unbewußt gemacht werden:
dies der Zweck jeder heiligen Lüge. Die Ordnung der Kasten, das oberste,
das dominierende Gesetz, ist nur die Sanktion einer Natur-Ordnung, Natur-Gesetzlichkeit
ersten Ranges, über die keine Willkür, keine »moderne Idee«
Gewalt hat.Friedrich
Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 672 bzw. 1226 |
Hiermit bin ich am Schluß und spreche mein Urteil. Ich verurteile
das Christentum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste
aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie
ist mir die höchste aller denkbaren Korruptionen, sie hat den Willen
zur letzten auch nur möglichen Korruption gehabt. Die christliche
Kirche ließ nichts mit ihrer Verderbnis unberührt, sie hat
aus jedem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder
Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht. Man wage es noch,
mir von ihren »humanitären« Segnungen zu reden! Irgendeinen
Notstand abschaffen ging wider ihre tiefste Nützlichkeit:
sie lebte von Notständen, sie schuf Notstände, um sich
zu verewigen. Der Wurm der Sünde zum Beispiel: mit diesem Notstande
hat erst die Kirche die Menschheit bereichert! Die »Gleichheit
der Seelen vor Gott«, diese Falschheit, dieser Vorwand für
die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von Begriff, der
endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Prinzip der ganzen Gesellschafts-Ordnung
geworden ist ist christlicher Dynamit. »Humanitäre«
Segnungen des Christentums! Aus der humanitas einen Selbst-Widerspruch,
eine Kunst der Selbstschändung, einen Willen zur Lüge um jeden
Preis, einen Widerwillen, eine Verachtung aller guten und rechtschaffnen
Instinkte herauszuzüchten! Das wären mir Segnungen des Christentums!
Der Parasitismus als einzige Praxis der Kirche; mit ihrem
Bleichsuchts-, ihrem »Heiligkeits«-Ideale jedes Blut, jede
Liebe, jede Hoffnung zum Leben austrinkend; das Jenseits als Wille zur
Verneinung jeder Realität; das Kreuz als Erkennungszeichen für
die unterirdischste Verschwörung, die es je gegeben hat gegen
Gesundheit, Schönheit, Wohlgeratenheit, Tapferkeit, Geist, Güte
der Seele, gegen das Leben selbst.
Friedrich
Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 680-681
bzw. 1234-1235 |
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Trotz des heiligen Versprechens der Völker,
den Krieg für alle Zeiten zu ächten, trotz der Rufe der Millionen:
»Nie wieder Krieg!«, entgegen all den Hoffnungen auf eine
schöne Zukunft, muß ich sagen: wenn das heutige Geldsystem,
die Zinswirtschaft, beibehalten wird, so wage ich es, heute zu behaupten,
daß es keine 25 Jahre dauern wird, bis wir vor einem neuen, noch
furchtbareren Krieg stehen! Ich sehe die kommende Entwicklung klar vor
mir. Der heutige Stand der Technik läßt die Wirtschaft rasch
zu einer Höchstleistung steigern. Die Kapitalbildung wird trotz der
großen Kriegsverluste rasch erfolgen und durch Überangebot
den Zins drücken. Das Geld wird dann gehamstert werden. Der Wirtschaftsraum
wird einschrumpfen, und große Heere von Arbeitslosen werden auf
der Straße stehen. An vielen Grenzpfählen wird man dann eine
Tafel mit der Aufschrift finden können: »Arbeitssuchende haben
keinen Zutritt ins Land, nur die Faulenzer mit vollgestopftem Geldbeutel
sind willkommen.« Wie zu alten Zeiten wird man dann nach dem Länderraub
trachten und wird dazu wieder Kanonen fabrizieren müssen, man hat
dann wenigstens für die Arbeitslosen wieder Arbeit. In den unzufriedenen
Massen werden wilde, revolutionäre Strömungen wach werden, und
auch die Giftpflanze Übernationalismus wird wieder wuchern. Kein
Land wird das andere mehr verstehen, und das Ende kann nur wieder Krieg
sein.
Johann
Silvio Gesell, Offener Brief an die Berliner Zeitung am Mittag,
1918, auch in: Gesammelte Werke, Band 17, S. 257 |
Jede
Modernität hält Abwechslung für Entwicklung.Oswald
Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 379 |
Man
unterscheide in aller Modernität wohl die volkstümliche Seite, das süße
Nichtstun, die Sorge um Gesundheit, Glück, Sorglosigkeit, den allgemeinen
Frieden, kurz das vermeintlich Christliche von dem höheren Ethos, das nur
die Tat wertet, das den Massen - wie alles Faustische - weder verständlich
noch erwünscht ist, die großartige Idealisierung des Zweckes und
also der Arbeit. Will man dem römischen »Panem et circenses«,
dem letzten epikuräisch-stoischen und im Grunde auch indischen Lebenssymbol,
das entsprechende Symbol des Nordens und auch wieder des alten China und Ägypten
zur Seite stellen, so muß es das Recht auf Arbeit sein, das bereits
dem durch und durch preußisch empfundenen, heute europäisch gewordenen
Staatssozialismus Fichtes zugrunde liegt und das in den letzten, furchtbarsten
Stadien dieser Entwicklung in der Pflicht zur Arbeit gipfeln wird.Oswald
Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 464-465 |
Was
aber mit dem Alexandrinismus und unserer Romantik entsteht, das gehört allen
Stadtmenschen ohne Unterschied. .... Deshalb nehmen in allen Zivilisationen die
modernen Städte ein immer gleichförmigeres Gepräge an. Man kann
gehen, wohin man will, man trifft Berlin, London und New York überall wieder
....Oswald
Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 684 |
Und
so bezeichnet Sozialismus in diesem späten Sinne, nicht als dunkler Urtrieb,
wie er sich im Stil gotischer Dome, im Herrscherwillen großer Kaiser und
Päpste, in ... Gründung von Reichen auspricht, in denen die Sonne nicht
untergeht, sondern als politischer, sozialer, wirtschaftlicher Instinkt realistisch
angelegter Völker eine Stufe unserer Zivilisation, nicht mehr unsrer Kultur,
die um 1800 zu Ende ging. Aber in diesem nun ganz nach außen gewandten Instinkt
lebt der alte faustische Wille zur Macht, zum Unendlichen weiter in dem furchtbaren
Willen zur unbedingten Weltherrschaft im militärischen, wirtschaftlichen,
intellektuellen Sinne, in der Tatsache des Weltkrieges und der Idee der Weltrevolution,
in der Entschlossenheit, durch die Mittel faustischer Technik und Erfindung das
Gewimmel der Menschheit zu einem Ganzen zu schweißen. Und so ist der moderne
Imperialismus auf den ganzen Planeten gerichtet.Oswald
Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 24 |
Wir
kennen keine Grenze. Wir haben Amerika durch eine neue Völkerwanderung zu
einem Teil Westeuropas gemacht; wir haben alle Erdteile mit Städten unsres
Typus besetzt, unsrem Denken, unsren Lebensformen unterworfen. Es ist der höchste
überhaupt erreichbare Ausdruck unsres dynamischen Weltgefühls. Was wir
glauben, sollen alle glauben. Was wir wollen, sollen alle wollen. Und da Leben
für uns äußeres Leben, politisches, soziales, wirtschaftliches
Leben geworden ist, sollen alle sich unserm politischen, sozialen, wirtschaftlichen
Ideal fügen oder zugrunde gehen. Dies immer klarer werdende Bewußtsein
habe ich modernen Sozialismus genannt. Es ist das Gemeinsame in uns. Es wirkt
in jedem Menschen von Warschau bis San Franzisko, es zwingt jedes unsrer Völker
in den Bann seiner Gestaltungskraft. Aber auch nur uns. Antiken, chinesischen,
russischen Sozialismus gibt es nicht.Oswald
Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 24-25 |
Die
ganze moderne Nationalökonomie beruht auf dem Grundfehler, den Sinn des Wirtschaftslebens
überall in der Welt mit dem Händlerinteresse nach englischen Begriffen
gleichzusetzen, auch wo man dem Wortlaut nach die Manchesterlehre verwirft: der
Marxismus hat sich als reine Verneinung dieser Lehre ihr Schema vollständig
zu eigen gemacht.Oswald
Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 51 |
In
einer modernen Demokratie stehen die Massenführer nicht den Führern
des Kapitals, sondern dem Gelde selbst und dessen anonymer Macht gegenüber.
Die Frage ist, wie viele der Führer dieser Macht widerstehen können.
Wenn man wissen will, wie sich eine nicht mehr junge und deshalb von ihrer eignen
Vortrefflichkeit begeisterte Demokratie in Wirklichkeit von der in ideologischen
Köpfen vorhandenen unterscheidet, so lese man Sallust über Catilina
und Jugurtha. Es ist kein Zweifel, daß uns Römerzustände bevorstehen,
aber eine monarchisch-sozialistische Ordnung kann sie unwirksam machen. Das sind
die drei Eigentumsideale, die heute im Kampfe stehen: das kommunistische, das
individualistische und das sozialistische mit den Endzielen der Verteilung, Vertrustung
und Verwaltung des gesamten produktiven Eigentums der Welt.Oswald
Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 97 |
Aber
das gehört zur Tragik dieser Zeit, daß das entfesselte menschliche
Denken seine eigenen Folgen nicht mehr zu erfassen vermag. Die Technik ist esoterisch
geworden wie die höhere Mathematik, deren sie sich bedient, wie die physikalische
Theorie, die bei ihrem Zerdenken von Abstraktionen der Erscheinung bis zu den
reinen Grundformen menschlichen Erkennens vorgedrungen ist. ohne es recht zu bemerken.
Die Mechanisierung der Welt ist in ein Stadium gefährlichster Überspannung
eingetreten. Das Bild der Erde mit ihren Pflanzen, Tieren und Menschen hat sich
verändert. In wenigen Jahrzehnten sind die meisten großen Wälder
verschwunden, in Zeitungspapier verwandelt worden und damit Veränderungen
des Klimas eingetreten, welche die Landwirtschaft ganzer Bevölkerungen bedrohen;
unzählige Tierarten sind wie der Büffel ganz oder fast ganz ausgerottet,
ganze Menschenrassen wie die nordamerikanischen Indianer und die Australier beinahe
zum Verschwinden gebracht worden.Oswald
Spengler, Der Mensch und die Technik, 1931, S. 78 |
Alles
Organische erliegt der um sich greifenden Organisation. Eine künstliche Welt
durchsetzt und vergiftet die natürliche. Die Zivilidation ist selbst eine
Maschine geworden, die alles maschinenmäßig tut oder tun will. Man
denkt nur noch in Pferdekräften. Man erblickt keinen Wasserfall mehr, ohne
ihn in Gedanken in elektrische Kraft umzusetzen. Man sieht kein Land voller weidender
Herden, ohne an die Auswertung ihres Fleischbestandes zu denken, kein schönes
altes Handwerk einer urwüchsigen Bevölkerung ohne den Wunsch, es durch
ein modernes technisches Verfahren zu ersetzen. Ob es einen Sinn hat oder nicht,
das technische Denken will Verwirklichung. Der Luxus der Maschine ist die Folge
eines Denkzwanges. Die Maschine ist letzten Endes ein Symbol, wie ihre geheimes
Ideal, das Perpetuum mobile, eine seelisch-geistige, aber keine vitale Notwendigkeit.Oswald
Spengler, Der Mensch und die Technik, 1931, S. 78-79 |
Eine moderne Republik ist nichts als die Ruine einer Monarchie,
die sich selbst aufgegeben hat.
Oswald
Spengler, Jahre der Entscheidung, 1933, S. 25 |
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Es war die Bevölkerungsvermehrung,
die die Arbeitsteilung möglich machte. .... Die allgemeine Wohlstandsentwicklung
hilft vor allem den Armen, (wodurch) sich die Armen viel schneller vermehren
als die Reichen. Daher ist es durchaus möglich, daß in einer
Gesellschaft, in der alle Klassen zugenommen haben, sogar die Klassen
reicher geworden sind. .... Das bedeutet nebenbei, daß die Prinzipien
des Eigentums und der Privatwirtschaft den Armen am allermeisten geholfen
haben. Es hat ihnen nämlich das Leben geschenkt. Sie wären nie
auf die Welt gekommen, hätten nie leben können, wenn nicht die
Marktwirtschaft zu unserer stark vermehrten Produktivität der Gesellschaft
beigetragen hätte. Wenn uns die Marxisten erzählen, daß
der Kapitalismus das Proletariat geschaffen hat, so haben sie in gewissem
Sinne recht - (zwar) nicht in dem Sinn, in dem sie es behaupten. ....
Der Kapitalisms hat die Mittel geschaffen, durch die mehr Leute am Leben
bleiben konnten; er ist die Grundlage der Bevölkerungsvermehrung,
und das Proletariat verdankt dem Kapitalismus sein Leben.
Der
größte moderne Irrtum besteht nicht in der These vom toten Gott, sondern
im Glauben, daß der Teufel tot ist.Nicolás
Gómez Dávila, Einsamkeiten - Glossen und Text in einem, 1987,
S. 25 |
Dem
19. Jahrhundert gelang nur eine ethische Konstruktion großen Stils: das
preußische Offizierskorps.Nicolás
Gómez Dávila, Einsamkeiten - Glossen und Text in einem, 1987,
S. 140 |
Die moderne
Welt ist so kaputt, daß man keine Angst zu haben braucht, daß sie
nicht untergeht.Das Ideal des
Reaktionärs ist keine paradiesische Gesellschaft. Es ist die Gesellschaft
der Friedenszeiten in Alteuropa - vor der demographischen, industriellen und demokratischen
Katastrophe.Die moderne
Metropole ist keine Stadt, sie ist eine Krankheit.Die moderne
Welt besitzt keine Lösung als die des Jüngsten Gerichts. - Möge
sie enden.Die Historiker
der Zukunft werden es schwer haben, zwischen den Träumen und den Alpträumen
dieses Jahrhunderts zu unterscheiden.Latein und Griechisch
bilden, da sie eine Weltsicht vermitteln, die der heutigen feindlich gegenübersteht.Die drei großen
reaktionären Unternehmungen der modernen Geschichte sind: der italienische
Humanismus, der französische Klassizismus und die deutsche Romantik.Die schreiben,
um zu überzeugen, lügen immer. Um nicht zu schwindeln, muß man
mit Gleichgültigkeit schreiben.Nationaler Sozialismus
ist die exakte Definition von Nationalsozialismus.Die moderne
Welt ist weniger eine Schöpfung der Technik als der Habgier.Es gibt Epochen,
in denen nur der Pöbel eine Zukunft zu haben scheint.Die moderne
Gesellschaft ist nur in zwei Dingen den vergangenen Gesellschaften voraus: in
der Vulgarität und in der Technik.Der heutige
Regierende muß sich nur zur Linken bekennen, damit ihm alles erlaubt und
alles verziehen werde.Die menschliche
Wärme in einer Gesellschaft vermindert sich in dem Grade, in dem sich deren
Gesetzgebung perfektioniert.Der Moderne
glaubt, in einem Pluralismus der Meinungen zu leben, während uns heute doch
die Gleichförmigkeit erstickt.Der Beweis dafür,
daß man aus der Geschichte nichts lernt: die demokratischen Ideen sind nicht
totzukriegen.Die Wissenschaft
hat keine einzige wichtige Frage beantwortet.Das wahre Desaster
der Linken wird offenbar, wenn sie hält, was sie verspricht.Der Linke behauptet,
schuld am Konflikt sei nicht, wer fremde Güter begehrt, sondern, wer die
eigenen verteidigt.Der Moderne
nennt »Wandel« das immer schnellere Marschieren auf dem gleichen Weg
in die gleiche Richtung. .... Der bloße Vorschlag zu einem wirklichen Wandel
empört und erschreckt den Modernen.Eine Bürokratie
kommt dem Volke stets teurer zu stehen als eine Oberklasse.Der Fortschrittler
weiß nicht, daß nichts in der Geschichte umsonst ist. - Alles muß
teuer bezahlt werden.Die moderne
Technisierung der Landwirtschaft zerstört die agrarische Gesellschaft. -
Sie wandelt eine Lebensweise in eine bloße Produktionsweise um.Die Wahrheiten
sind nicht relativ. Relativ sind die Meinungen über sie.Die Liebe zum
Volk ist eine aristokratische Berufung. Der Demokrat liebt es nur im Wahljahr.Die Pessimisten
prophezeien eine Zukunft in Trümmern, aber die optimistischen Propheten sind
noch haarsträubender, wenn sie die Stadt der Zukunft ankündigen, wo
in intakten Bienenhäusern Bosheit und Langeweile hausen.Obwohl Joseph
de Maistre behauptet, der Teufel zerstöre nur, zeigt die spätere Geschichte,
daß er auch baut.Der moderne
Mensch zerstört mehr, wenn er aufbaut, als wenn er zerstört.Die moderne
Architektur ist fähig, Industrieschuppen aufzustellen, aber es gelingt ihr
weder einen Palast noch eine Kirche zu bauen.Sparta strebte
nicht danach, den Stein zu behauen, sondern eine Seele zu formen. Wer Sparta schlechtredet,
vergißt, daß es die vornehmsten Intelligenzen Athens faszinierte.Der Kult der
Menschheit wird mit Menschenopfern gefeiert.Dem modernen
Menschen ist es gleichgültig, in seinem Leben keine Freiheit zu finden, wenn
er sie in den Reden jener verherrlicht findet, die ihn unterdrücken.Die Statistik
ist das Werkzeug dessen, der auf das Verstehen verzichtet, um manipulieren zu
können.Selbst der rechte
Flügel irgendeiner Rechten erscheint mir immer zu links.Die Kultur geht
ihrem Ende zu, wenn die Landwirtschaft aufhört eine Lebensform zu sein und
zur Industrie wird.Der moderne
Mensch nimmt bereitwillig jedes Joch auf sich, solange nur die Hand, die es aufzwingt,
unpersönlich ist.Der Mensch korrumpiert
das Politische ins Religiöse, wenn er bestrebt ist, die Welt zu verändern.Der Mensch reift,
wenn er aufhört zu glauben, daß die Politik seine Probleme löst.Die Freiheit
des Buchdrucks ist die erste Forderung der entstehenden und das erste Opfer der
reifen Demokratie.Der Moderne
glaubt fest, daß nur das Unreine authentisch ist.Nicolás
Gómez Dávila, Scholien zu einem inbegriffenen Text, S. 72 |
Der
Wandel ist in der modernen Welt nicht Folge des Veraltens, sondern das Veralten
Folge des Wandels.Nicolás
Gómez Dávila, Scholien zu einem inbegriffenen Text, S. 333 |
Den
Jugendlichen erziehen heißt nicht, ihn mit seiner Epoche vertraut zu machen,
sondern dafür zu sorgen, daß er sie solange wie möglich ignoriert.Nicolás
Gómez Dávila, Scholien zu einem inbegriffenen Text, S. 333 |
Es
ist umstritten, ob der Nationalsozialismus dem Kapitalismus oder dem Kommunismus
ähnlich war, ob er als deutsch oder als undeutsch gelten muß, ob er
sich als antimodern oder als modernisierend erwies, ob er revolutionär oder
gegenrevolutionär war, ob er die Triebe unterdrückte oder entfesselte,
ob er Auftraggeber hatte oder nicht, ob er ein monolithisches System erzeugte
oder eine Polykratie, ob seine Massenbasis von Kleinbürgern oder zu einem
beträchtlichen Teil auch von Arbeitern gebildet wurde, ob er von weltgeschichtlichen
Tendenzen getragen war oder ob er ein letztes Aufbegehren gegen den Gang der Geschichte
darstellte.Ernst
Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945, 1987, S. 38 |
Man
sollte nicht vergessen, daß eine bestimmte Art von Mobilisierung schon ein
Grundkennzeichen des liberalen Gesellschaftstypus war, den man bis zum Ausbruch
des Ersten Weltkrieges generell als den modernen betrachtete. Er stand im Gegensatz
zu der traditionellen oder statischen Gesellschaft, in der die Landwirtschaft
den bei weitem wichtigsten Produktionszweig darstellt, das Geldwesen erst untergeordnete
Bedeutung besitzt, der Verkehr wenig entwickelt ist und die einzelnen Stände
in weitgehender Abgeschlossenheit nebeneinander stehen Es war die Industrielle
Revolution, welche diese traditionelle Struktur allmählich auflöste,
und obwohl die französische Revolution keineswegs in allen ihren Faktoren
und Erscheinungsformen eine geradlinige Fortsetzung oder Konsequenz dieser ursprünglicheren
und tiefgreifenden Revolution war, so trug sie doch dadurch wesentlich zum Fortgang
der Mobilisierung bei, daß sie die Standesgrenzen niederriß, das Bankwesen
förderte, die Adels- und Kirchengüter in den freien Handel brachte und
vor allem eine neue Heeresorgansiation schuf, welche die allgemeine Wehrpflicht
an die Stelle der Anwerbung von Soldaten setzte.Ernst
Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945, 1987, S. 412 |
Es
dürfte richtig sein, die Moderne nicht aus dem Wirken von zwei dynamischen
Professionen hervorgehen zu lassen, die sich gegen die Hemmungskräfte ...
sowie nicht zuletzt gegen den hartnäckigen Konservativismus ... durchgesetzt
hätten, sondern aus dem Wechselspiel relativ unabhängiger, aber gleichwohl
eng verbundener Kräfte, die ... in ihrem Aufeinanderwirken Modernität
hevorbrachten. Eben das wäre das »Liberale System«, das
nicht etwa erst ... als »Liberalismus« ins Dasein trat, sondern
seine Wurzeln im Mittelalter hat. Man darf ohne Bedenken behaupten, daß
... darauf der Begriff der Singularität ... Anwendung finden darf ....Ernst
Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 475-476 |
Die
moderne Wissenschaft mag als Grundlage allen Fortschritts oder als Anfang der
Natuverwüstung verstanden werden, und die Aufklärung mag als entscheidender
Schritt zur Befreiung aller Menschen von Armut und Aberglauben oder aber als Auflösung
aller gemeinschaftsbildenden Werte und Strukturen gelten: Zusammen mit den politischen
und ökonomischen Umwälzungen jener dreifachen Revolution bedeutet sie
vor allem den Überschritt von der bis dahin allein bekannten theoretischen
Transzendenz zur praktischen Transzendenz, d.h. zur Ergänzung oder zur Ablösung
des auf die Welt im ganzen gerichteten denkens durch ein Handeln, das ebenso auf
die Welt im ganzen gerichtet war; obwohl es der Meinung sein konnte, in der vorteilhaften
Einrichtung der irdischen Verhältnisse sein Genügen zu finden.Ernst
Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 497 |
Was
bedeutete die französische Revolution unter innenpolitischen Gesichtspunkten,
Die geläufigste Antwort ist, es habe sich um eine »bürgerliche
Revolution« gehandelt, und das heißt, um eine modernisierende, den
kapitalistischen Verhältnissen freie Bahn schaffende Revolution. Es grenzt
indessen ans Groteske, wenn die Jakobiner für Vertreter »des Bürgertums«
erklärt werden, nur weil sie ihrer Herkunft nach überwiegend Advokaten
waren. Robespierre und Saint-Just haßten die Bourgeoisie, und die meisten
Jakobiner ließen sich von jenem egalitären Volksenthusiasmus tragen,
der in dem oben zitierten Vers seinen Ausdruck findet.Ernst
Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 510 |
Der
eigentlichen »Massenbasis« der Revolution, den Pariser »Sansculotten«
haben selbst ihre Freunde unter den Historikern bescheinigt, daß sie in
ökonomischer Hinsicht eine »reaktionäre« Einstellung hatten.
Richtig ist allerdings, daß es andere Advokaten waren, die Robespierre,
Saint-Just und Couthon schließlich stürzten und unter dem Direktorium
dem Handelsverkehr und der industriellen Produktion wieder eine relativ freie
Bahn schufen. Aber sie unterlagen ihrerseits schon bald dem sieggekrönten
General Napoleon Bonaparte, der sich zum »Kaiser« machte und den ideologischen
Bürgerkrieg gegen die »feudalen« Mächte Europas weitgehend
in einen Staaten- und Eroberungskrieg umwandelte, dem unvergleichlich mehr Menschen
zum Opfer fielen als dem Großen Terror der Jakobiner.Ernst
Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 510 |
So
viel ist sicher, daß Frankreich während des ganzen 19. Jahrhunderts
gegenüber England und Deutschland ein ökonomisch rückständiges
und in der Hauptsache landwirtschaftlich orientiertes Land blieb.Ernst
Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 511 |
Modernität
ist die Realisierung der Transzendenz, jenes »Wesens des Menschen«,
das ihn von seinen ersten Anfängen an ein Verhältnis zur Welt im ganzen
haben ließ. Wir haben dieses Weltverhältnis, wie es uns bisher begegnet
ist, die »theoretische Transzendenz« genannt, da sich das »Über-hinaus«,
das Überschreiten der in der Praxis gegebenen Grenzen, vornehmlich im Denken
und im mythologischen Vorstellen vollzog. Anscheinend will Hegel sagen, in der
Moderne vollziehe sich diese Entgrenzung nicht mehr bloß im Denken, sondern
auch in der Praxis: Die Welt im ganzen, d.h. die Erde, werde entdeckt und erschlossen
und alle menschlichen Verhältnisse würden entsprechend, d.h. gemäß
der Vernunft, eingerichtet. In unserer Terminologie ließe sich das folgendermaßen
formulieren: Die praktische Transzendenz löst als Weltbemächtigung und
Welteinrichtung die theoretische Transzendenz als eine bloß vorwegnehmende
und nicht autonome Gestalt ab. Tatsächlich hat Hegel die Religion und die
Kunst für abgeschlossene Formen der geistigen Entwicklung erklärt, und
auch eine Weiterentwicklung der Philosophie über die seine hinaus hat er
allem Anschein nach nicht für möglich gehalten.Ernst
Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 514-515 |
Wir
haben gesehen, wie ambivalent die Modernität bei ihrem ersten Auftreten war,
wie unverhüllt sie aber gleichwohl die Überwindung der bisherigen Geschichte
postulierte. Wir sagen daher nicht: »Modernität ist Transzendenz«,
sondern »Modernität ist praktische Transzendenz«, und diese praktische
Transzendenz nimmt sich an der Schwelle des dritten Jahrtausends im Rückblick
sehr viel fragiler und im Vorblick weitaus mächtiger aus, als Hegel sich
vorstellen konnte. Aber eben deshalb gibt der Begriff der »Realisierung«
das Verhältnis zwischen theoretischer und praktischer Transzendenz auf allzu
vereinfachende Weise wieder.Ernst
Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 515 |
Mit
stärkster Betonung spricht Erwin Chargaff von dem »unaufhaltsamen Entmenschungsprozeß«,
den die moderne Zeit darstelle. Zwar fehlt es gerade bei ihm nicht an kulturkritischen
Verzweiflungsausbrüchen, die ihn etwa sagen lassen, wir lebten und stürben
»auf einem gottverlassenen Misthaufen« und die » Verarmung der
Menschenseele« sei ebenso unübersehbar wie die »Entgottung der
Natur«. (Erwin Chargaff, Kritik der Zukunft, 1983, S. 11, 63). Aber
im Kern richtet sich die Kritik des Wissenschaftlers gegen die Wissenschaft selbst,
denn er verwirft die »überhitzte und sinnlos gewordene Forschungstätigkeit«
in den Naturwissenschaften und beklagt die »unselige Imprägnierung
unseres Lebens« durch eben diese Wissenschaften. (Vgl. ebd., S. 49, 58.).
Letzten Endes vertritt er eine überaus radikale Anthropologie, indem er den
Menschen aus der Welt ausstreicht und so zu einer »herrlichen geschichtslosen
Welt« zu gelangen glaubt, einer Welt »ohne Vergangenheit und ohne
Zukunft ...., voller Buntheit und Vielfältigkeit, in der Tiere und Pflanzen,
Felsen und Erde und Luft in Gottes Ewigkeit hineinleben wie am fünften Tag«
(ebd., S. 130).Ernst
Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 610 |
So
ist es eine einleuchtende, wenngleich über einige Ansätze zu einer genuinen
Erneuerung christlicher Denk- und Verhaltensweisen allzu rasch hinweggehende Behauptung,
die westliche Zivilisation der Moderne sei eine ganz und gar irreligiöse,
säkularisierte Existenzweise - die erste Massenzivilisation dieser Art, die
es in der Weltgesellschaft gegeben habe, und eben deshalb bilde sie den Übergang
zur »Nachgeschichte« und zu einer »Weltzivilisation«.Ernst
Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 664 |
Als
Angreifer versucht der Okzident, die Welt nach seinem Bilde umzugestalten, und
im Gefühl seines Rechtes und seiner Überlegenheit merkt er noch nicht
einmal durchweg, daß er zugleich ein Angegriffener ist. In diesem Gegenangriff
kommt vor allem zum Vorschein, daß es andere Kulturen und Lebensweisen gibt,
die ihre Identität zu bewahren, ja auszudehnen suchen, obwohl sie offensichtlich
dem Zwang unterliegen, sich von sich aus zu ändern, wenn sie dem Einfluß
des Okzidents widerstehen wollen. Aber es ist sehr wohl möglich, daß
die islamische, die hinduistische, die buddhistische Kultur in ihrer religiösen
Prägung sich als solche behaupten, wenn sie sich mit »der Moderne«
in Gleichklang gesetzt, deren okzidentale Form aber zurückgewiesen haben.Ernst
Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 678 |
Als
angegriffener, zu Opfern und Einbußen gezwungener Teil der Welt könnte
dem Westen wieder erfahrbar werden, was so lange nur der restlichen Welt zugewiesen
zu sein schien, nämlich Einschränkung und Bedrängnis. Eben dadurch
könnte er jedoch lernen, nicht nur hilflos die Kritik von innen und außen
über sich ergehen zu lassen, sondern seinerseits ein positives Selbstverständnis
zurückzugewinnen ....Ernst
Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 678 |
Wie
Oswald Spengler und Arnold Toynbee unterscheidet Huntington eine Reihe von »Kulturen«,
aber er läßt deren Entwicklung nicht wie Spengler auf einen jeweils
gleichartigen Zustand, nämlich die erstarrte und seelenlose »Zivilisation«
hinauslaufen, und er sieht sie nicht wie Toynbee auf dem Wege zu einer gemeinsamen
und positiven »Weltzivilisation«, sondern er hebt die Differenzen
und die Konflikte zwischen ihnen aufs nachdrücklichste hervor. Diese Kulturen
sind: die westliche, d.h. westeuropäisch-nordamerikanische, die christlich-orthodoxe
Rußlands und einiger Teile Osteuropas, die vom Konfuzianismus bestimmte
»sinische«, die davon verschiedene japanische, die hinduistische,
die islamische, die afrikanische und die lateinamerikanische. Einen Vorrang der
westeuropäisch-nordamerikanischen Kultur sieht er darin, daß sie es
war, die erstmals die »Modernisierung« in die Welt brachte, welcher
sich heute keine der anderen Kulturen entziehen kann. Aber diese Modernisierung
zerstört nicht etwa die Eigenart der anderen Kulturen, sondern bringt neuartige,
zur Selbstbehauptung, ja zum Ausgreifen entschlossene Formen dieser Kulturen hervor,
die man Fundamentalismen nennt. Als einen anschaulichen Beweis für den Vorrang
der Kulturkonflikte führt Huntington das ehemalige Jugoslawien an, wo ...
die Grenzlinien zwischen dem westlich-christlichen Abendland, der byzantinisch-orthodoxen
Welt und dem Islam ihre geschichtsbestimmende Kraft an den Tag legten.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 326 |
Huntington
teilt ... nicht die Meinung Fukuyamas, Kriege seien nur noch in der Dritten Welt
möglich und »große Kriege« seien ausgeschlossen, er sieht
vielmehr ein langes und durchaus »geschichtliches« Zeitalter der Kulturkonflikte
heraufziehen, welches das Zeitalter der nationalen und der ideologischen Konflikte,
das 20. Jahrhundert, ablöst und doch in gewisser Weise fortsetzt.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 261 |
Erwin
Chargaff ... scheut vor der schroffen Aussage nicht zurück, die Menschen
der Gegenwart lebten und stürben »auf einem gottverlassenen Misthaufen«,
und der Entgottung der Natur entspreche die Verarmung der Menschenseele.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 275 |
Nicht
nur »praktische Transzendenz« kennzeichnet das neuzeitliche Europa,
sondern in eins damit das »Liberale System« als relativ freie Auseinandersetzung
geistig-politischer Mächte, die in ihrem Sich- Weitertreiben den Individuen
sowohl im intellektuellen wie auch im wirtschaftlichen Leben einen Spielraum gewährten,
wie es in keiner anderen Kultur je der Fall gewesen war. Joseph de Maistre hatte
nicht einfach unrecht, als er über »Zersetzung« klagte, während
seine Gegner rühmend von »Emanzipation« sprachen. Andere Kulturen,
die russisch-orthodoxe, die islamische, die chinesische, sollten später ganz
ähnliche Klagen über die Zersetzung ihres Gemeinschaftsgeistes erheben
und dann aber nicht »den Protestantismus«, sondern »den Westen«
verantwortlich machen. Dieser Individualismus, der sich in Europa allmählich
vom Bürgertum auf die Volksmassen ausbreitete, ist die kennzeichnendste Blüte
der europäischen Geschichte und zugleich das mächtigste Auflösungsmittel
der religiösen Glaubensrichtungen, aus deren Zusammenstoß und Wettbewerb
er entstand.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 284-285 |
In
der Tat tauchten ... schon bei Hegel, bei Marx und bei Nietzsche Kehrseiten des
Fortschritts und damit der Modernität auf.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 295 |
Erst
mit der Unterscheidung von »theoretischer« und »praktischer«
Transzendenz ist, wie ich meine, die angemessene Dimension für die Bestimmung
von »Modernität« erreicht. Es ist nicht richtig zu sagen: Modernität
ist Transzendenz.. Modernität ist die bisher klarste Erscheinungsform von
praktischer Transzendenz, aber Transzendenz als solche und gerade ihre früheste
und beständigste Gestalt, die theoretische Transzendenz, liegt der Modernität
voraus, macht Modernität überhaupt erst möglich. Mit einfachen
Worten: der Mensch ist nicht weltoffen, weil er modern ist, sondern er kann nur
modern sein, weil er von jeher schon weltoffen ist. Weltoffenheit, Transzendenz,
ist nicht vom Menschen hervorgebracht, sondern sie ist die Bedingung der Möglichkeit
allen Hervorbringens; sie ist, so könnte man sagen, das Geschenk der Welt
an eins ihrer Wesen, und dieses Geschenk ist als solches nicht erforschbar, weil
alles Forschen auf ihm beruht. Es ist dem Menschen übergeben, aber dadurch
wird es nicht zu dessen Eigentum. Mit Wendungen wie »Entwicklung der Intelligenz«
von den Blaualgen über Dinosaurier und Affen bis zum Menschen ist es bloß
äußerlich beschrieben und abgeleitet.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 299 |
Modernität
als Gestalt der praktischen Transzendenz könnte sich selbst den Boden unter
den Füßen wegziehen, und unter welchen Erschütterungen und Kämpfen
derartiges vor sich gehen würde, ist nicht vorauszusehen.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 300 |
Nicht
ein Partikularismus der »religiösen und philosophischen Werte«
ist zu überwinden oder zu verwerfen, sondern der militante Missionarismus,
der sich mit Einzelinteressen und -wirklichkeiten mannigfaltiger Art verquickt
und die Konflikte bis zum Untragbaren verschärft. In Zukunft muß es
in weit höherem Maße Sache der Entscheidung des Einzelnen sein, welchen
der Weltentwürfe er wählt, um inmitten der direktionslosen und unübersichtlichen
Vielfalt des modernen, von der Wissenschaft geprägten Lebens Orientierung,
Halt und Gemeinsamkeit zu gewinnen. Wenn das richtig ist, wird es unumgänglich
sein, von dem am meisten charakteristischen Gedanken der Moderne Abschied zu nehmen,
dem Gedanken, daß die praktische Transzendenz die theoretische Transzendenz
einholen, erfüllen oder mindestens verdrängen könnte.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 300 |
Der
Mensch wird nie das Weltall »kolonisieren«, denn als solcher bleibt
er an die Erde und deren nächste Umgebung gebunden, und nicht einmal seine
zu Apparaten transformierte Intelligenz wird ihm aus den »Tiefen des Weltraums«
Meldungen erstatten, sofern die These zutreffend bleibt, daß die Lichtgeschwindigkeit
unüberholbar ist.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 300-301 |
Nicht
auszuschließen ist, daß jene dem wissenschaftlichen Denken benachbarte
Maxime für die Lebensführung der Menschen eines Tages Wirklichkeit wird:
das bereits von den Stoikern umrissene und von der europäischen Aufklärung
übernommene Leitbild einer Menschheit, der alle der theoretischen Transzendenz
entspringenden Entwürfe gleichgültig geworden sind, die aber auch allen
»Weltraumphantasien« abgeneigt ist und ihr Leben auf der Erde zum
Vorteil aller Individuen eingerichtet hat. Dann ließe sich auch jenes »altmoderne«
Zukunftsprojekt des 19. Jahrhunderts realisieren, das am Ende des 20. Jahrhunderts
noch um keinen Schritt vorwärts gekommen ist: die Verwandlung der Sahara
in einen blühenden Garten. Alle Gestalten der theoretischen Transzendenz
wären dann nicht universalisiert, wie Spirito verlangte, sondern schlicht
verdrängt, und dem Streben nach einer letzten Konsequenz der praktischen
Transzendenz hätte man sich entschlagen.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 301 |
Aber
die Frage ist, ob das durch Transzendenz bestimmte Weltwesen Mensch jemals in
einer so bequemen, bloß »humanistischen« Transzendenzlosigkeit
wird leben können und wollen, sofern es ihm gelingt, die ungeheuren Schwierigkeiten
zu überwinden, die den Weg dahin umstellen.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 301 |
Wahrscheinlicher
dürfte sein, daß aus der Erfahrung der Modernität eine neue Gestalt
des Weltbezuges im ganzen erwachsen und neben den älteren Entwürfen
der theoretischen Transzendenz einen Platz finden kann: Die Erfahrungen der Moderne
haben unter Beweis gestellt, daß der Grundgedanke der platonischen und schon
der altindischen Metaphysik realer war als alle vorhandenen Realitäten, die
er herabsetzte, nämlich der Grundgedanke, daß der Geist den Körper,
daß das Denken die Sinnlichkeit unendlich übersteige.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 301 |
In der praktischen Transzendenz der Modernität haben Geist und Denken den
Körper und die Sinnlichkeit so sehr überstiegen, daß der Mensch
selbst überholt und zu einer obsoleten Wirklichkeit gemacht werden kann.
Daraus mag die behagliche Selbstzufriedenheit des Sich-Einrichtens entstehen oder
das verzweifelte Rütteln an den unzerstörbaren Gitterstäben eines
kosmischen Gefängnisses, aber auch die liebevolle Zurückwendung zum
Überholten und Obsoleten, zur Endlichkeit und Sinnlichkeit des menschlichen
Daseins, nicht in der naiven Weise des Sensualismus oder Hedonismus, sondern einschließlich
neuer Grenzziehungen und Bindungen gerade aus der Distanz einer höheren Stufe
der Reflexion hinaus. Diese antimoderne Modernität würde die theoretische
Transzendenz nicht mehr verdrängen, weil sie sich dem Impuls der praktischen
Transzendenz nicht mehr widerstandslos und unreflektiert überließe.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 301-302 |
Offenbar
ist für Heidegger eine »weltende« Welt nur diejenige, in welcher
der Mensch Bedeutsames, »Existenzerhellendes« erfährt, und erlebt
»weltlos«, wenn er sich vor eine schlechthin unüberschaubare
Fülle von bloßen und im Grunde gleichgültigen Gegenständen
gestellt sieht. Von daher resultiert der äußerst negative Klang, mit
dem Heidegger wieder und wieder die moderne Welt kennzeichnet: die moderne Wissenschaft
bereite einen »Angriff auf das Leben und auf das Wesen des Menschen vor«
....Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 325 |
Es
wäre keine größere Ungerechtigkeit, kein schlimmeres Unglück
vorstellbar, als ... wenn überall die Weltzivilisation der »Nachgeschichte«
im Hochgefühl ihres Triumphes alles fortstieße, was sie für »antimodern«
oder »archaisch« erklärt.Ernst
Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 344 |
»Modernisierung«
vollzog sich überall in Europa im Rahmen des »widersprüchlichen
und hochkomplexen Charakters einer modernen industriellen Klassengesellschaft«.
Industriegesellschaftliche Modernisierung ist also in sich und notwendigerweise
»krisenhaft«.Ernst
Nolte, Die Weimarer Repubklik, 2006, S. 325 |
Daß die beiden totalitären Parteien in Deutschland
weitaus stärker waren als irgendwo sonst in der Welt - außer
in den Ländern ihrer Alleinherrschaft Sowjetunion und Italien -,
muß als Konsequenz aus der extrem krisenhaften Lage gesehen werden
....
Ernst
Nolte, Die Weimarer Repubklik, 2006, S. 326 |
Kommunikation ist in unserer Zeit ein Modewort
bis an den Rand des Erträglichen. Darin ... verrät sich eine
Überschätzung der ... Einstellung der Menschen aufeinander.
.... Menschen sind aber wichtig als Medien der Sarbietung von etwas, das
an un mitihnen geschieht, dem sie dienen oder sich widersetzen können,
nicht dadurch, daß sie sich wichtig nehmen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, System der Philosophie, 1964-1980 |
Dem
deutungsmächtigen Harald Schmidt entschlüpfte dieser Tage eine hübsche
Pointe. Wenn das mit der Entspannung zwischen Berlin und Washington so weitergehe,
sagte er, dann habe die Bundesregierung bald zu Amerika ein besseres Verhältnis
als zu Deutschland.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Schmidts
Hohn über Schröder angesichts des deutsch- amerikanischen Zerwürfnisses
wird noch gesteigert durch seine Behauptung, Berlins Beziehungen zu Washington
seien immer noch besser als das Verhältnis der Bundesregierung zu Deutschland.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Was
soll man von Parteien, was von Politikern halten, die trotz dieser astronomischen
Staatsverschuldung mit zwölf (!) Nullen das offene Wort zu den Wählern
scheuen, die wahre Lage verschweigen, krampfhaft den Anschein der Normalität
zu wahren versuchen, obwohl man reihenweise Versprechungen bricht und freundliche
Ankündigungen ins Gegenteil verkehrt. Flatterhaft sucht die Regierung nach
immer neuen Finanzquellen, wohl wissend, daß sich damit die Wirtschaftskrise
verschärfen wird.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Weiten
Teilen der Bevölkerung ist inzwischen völlig klar (obwohl das unsere
Parlamentarier, denen ihr Volk fremd ist, nicht wahrhaben wollen), daß wir
uns unvermeidlich auf ein System zubewegen, in dem der Staat nur noch eine Grundsicherung
für Gesundheit wie Rente garantiert und es den Bürgern überlassen
bleibt, zusätzliche Sicherungen durch eigene Vorsorge bereitzustellen, was
natürlich entsprechende Steuersenkungen voraussetzt.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Ebenso
offenkundig ist, daß der Staat angesichts der vermutlich anhaltenden Finanzkalamitäten
seine Ausgaben drastisch drosseln muß, statt die Einnahmen hochzuschrauben.
Die Sozialausgaben sind bekanntlich der bei weitem größte Posten im
Etat des Bundes (übrigens direkt gefolgt vom Schuldendienst der öffentlichen
Hand). Es hilft nichts: Sie müssen angesichts des nahen Staatsbankrotts Punkt
für Punkt überprüft und auf echte Probleme, unverschuldete Notlagen
beschränkt werden. Wenn Renten und Sozialausgaben runter müssen, selbstverständlich
auch Subventionen.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Wer
sich aus öffentlichen Mitteln unterstützen läßt, muß
künftig natürlich eine entsprechende Gegenleistung für die Gesellschaft
erbringen.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Ein
Symptom dieser Entartung ist die Tatsache, daß rund achtzig Prozent unserer
Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst, aus den Gewerkschaften kommen.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Im
Bundestag sitzen unter sechshundert Abgeordneten bestenfalls ein Dutzend, die
wirklich etwas von Wirtschaft verstehen.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Ein bürokratischer Apparat lenkt seinen Staat ohne klare ordnungspolitische
Vorstellungen, ohne je die Welt gesehen, ohne je eigene Erfahrungen im Wirtschaftsleben
machen zu müssen: eine drohnenhafte Herrschaftskaste.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Es
festigt sich im Lande die Überzeugung, daß unser Parteiensystem, in
welcher Farbkombination auch immer, den heutigen Herausforderungen in keiner Weise
gewachsen ist und daher von der Krise verschlungen werden wird, wenn es nicht
die Kraft zur durchgreifenden Erneuerung findet.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Wenn unsere Parteien weder programmatisch noch personell in der Lage sind, die
Bevölkerung mit klaren Alternativen zu konfrontieren und damit Richtungsentscheidungen
zu erzwingen, ist diese Republik am Ende.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Man
muß gerecht sein, darf nicht übersehen, daß unsere Verfassung
ihrerseits durchgreifende Lösungen erschwert. Die heutige Lage zeigt, bei
einigen Verschiedenheiten, Ähnlichkeit mit der Krise am Anfang der 1930er
Jahre. .... Es gibt Parallelen: die Selbstentmachtung des Parlaments, die emotionale
Distanz der Bevölkerung zur Republik. Aber anders als damals kennt das Grundgesetz
keinen Artikel 48, der seinerzeit jahrelang die krisengeschüttelte Republik
am Leben hielt. Es scheidet also heute die Möglichkeit aus, mit Hilfe präsidialer
Notverordnungen erforderliche, schmerzliche Reformen ohne das Parlament in die
Wege zu leiten.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Das
Grundgesetz hat vier Jahre nach dem Ende der braunen Diktatur aus damals verständlicher
Angst vor der Wiederkehr eines Führerstaates keine praktikablen Regelungen
für den innenpolitischen Ernstfall geschaffen. Niemand wird heute eine demokratische
Diktatur fordern. Aber was wird, wenn die normalen Verfahren nicht mehr greifen?
Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, ob die Verfassung von 1949
mit ihrer vorsichtig ausgeklügelten Machtverteilung nicht jede energische
Konsolidierung Deutschlands verhindert.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Es
wäre das mindeste, die Bundestags- und alle Landtagswahlen auf das gleiche
Datum zu legen, wenn man schon Bundestag und Bundesrat nicht grundsätzlich
neu ordnen will. Nicht nur das Parteiensystem, auch die Verfassung muß jetzt
endlich auf den Prüfstand.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Goethe
meinte ganz zu Recht, das größte Bedürfnis, die tiefste Sehnsucht
der Mitmenschen sei eine mutige Regierung. Die Geduld der Deutschen ist, wenn
nicht alles täuscht, am Ende. So wie bisher geht es auf keinen Fall weiter. Die
Situation ist reif für einen Aufstand gegen das erstarrte Parteiensystem.
Ein massenhafter Steuerboykott, passiver und aktiver Widerstand, empörte
Revolten liegen in der Luft.Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Bürger,
auf die Barrikaden! Wir dürfen nicht zulassen, daß alles weiter bergab
geht, hilflose Politiker das Land verrotten lassen. Alle Deutschen sollten unsere
Leipziger Landsleute als Vorbilder entdecken, sich ihre Parole des Herbstes 1989
zu eigen machen: Wir sind das Volk!Arnulf
Baring, Bürger, auf die Barrikaden!, in: F.A.Z., 19.11.2002 |
Es
ist jedenfalls ein sehr modernes Joch, das Goethe in genialer Wortschöpfung
als »veloziferisch« bezeichnet: als Verschränkung von Velocitas
(die Eile) und Luzifer.Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 5 |
Faust
... will bereits mehr, als er weiß. Er erscheint als der moderne Blitzkrieger
der Erfüllung jener Wünsche einer Forderungs- und Anspruchsgesellschaft,
die alles will, und zwar sofort. Und was Luzifer alias Mephisto der Ungedulds
Fausts andient, sind denn auch schon jene Instrumente des Veloziferischen, deren
Erscheinungsformen am Ende des 20. Jahrhunderts zwar andere Namen tragen, aber
dieselben Dinge meinen: der schnelle Degen, die schnelle Liebe, der schnelle Mantel,
das schnelle Geld und zum Schluß: der schnelle Mord (an Philemon und Baucis).
Und Fausts globales Dorf, von Mephistos Gnaden, gebietet bereits perfekt über
virtuelle Welten, wie wir sie heute mit Videoclips und beim Zappen zwischen TV-Kanälen
kreieren. Sein virtuelles Arsenal reicht von Walpurgisnächten aller Art bis
zur heraufzitierten Helena, von dem archaischen Tiefen der Mütter bis zum
Lärm längst geschlagener Schlachten. Es sind immer rascher wechselnde
Filmsequenzen einer Beschleunigungskultur mit Luzifer als omnipotenten Artifex
einer (kaiserlichen Hof- und) Unterhaltungsgesellschaft, die sich bereits im zeichen
grandioser Oberflächlichkeit und eines perfekten Zeitmanagements zu Tode
amüsiert.Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 5-6 |
Fausts
»übereiltes Streben« ist vor allem gekennzeichnet durch moderne
Diskontinuitäten; am Ende steht Fausts gewaltsame Zerstörung der tradierten
Welt der beiden Alten, Philemon und Buacis,. Wenn Goethe statuiert:
»Das Leben hat nur insofern einen Sinn, als es eine Folge hat«, so
war es für ihn vor allem die französische Revolution, die mit
eben dieser »Folge«, mit dem langasam Gewachsenen, dem Althergebrachten,
gründlich gebrochen hatte. Zeitgleich hatte sich der Rhythmus des Daseins
ruckartig geändert, um sich auf nie dagewesene Weise zu beschleunigen. Anstelle
... des bedächtigen Fortschreitens war eine alle Lebensverhältnisse
erfassende Akzeleration getreten. Was Goethe früh bemerkte, hat Nietzsche
(in »Menschliches, Allzumenschliches«) spät mit den Worten diagnostiziert:
»Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei
aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen das heißt, die Ruhelosen, mehr
gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man im
Charakter der Menschheit vornehmen muß, das beschleunigte Element im großen
Maße zu verstärken.«Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 6 |
Daß
unsere Zivilisation aus mangel an Ruhe in eine neue Barbarei ausläuft, das
hatte Goethe bereits 1778 in Berlin bemerkt. Mit dem Ergebnis, daß er sein
Leben lang ein konsequenter Berlinverweigerer geblieben ist.Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 6 |
»Faust«
als das Gleichnis für die Tragödie der Übereilungen der Moderne.Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 7 |
Goethes
»Faust« also als ein seismographisches Frühwarnsystem, eine frühe
Ahnung, daß mit dem Epochenbruch der französischen Revolution
und den Blitzsiegen Napoleons das Menschheitsschiff sich nicht nur von den alten
Bindungen losgerissen hatte, sondern insgesamt ausgerüstet wurde zu jenem
Schnelldampfer, der dann im 20. Jahrhundert den Namen »Titanic« erhalten
sollte.Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 7 |
Goethe
sah offenbar die Gespenster nicht mehr aus der Vergangenheit, sondern aus der
Zukunft auf uns zukommen.Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 7 |
Was
Goethe im 2. Teil des »Faust« versiegelte und den Zeitgenossen vorenthielt,
waren vor allem »Kainszeichen der Selbstzerstörung«, wie sie
im V. Akt der Tragödie sichtbar werden. Goethe gibt hier den Blick frei auf
die beiden großen Phänomene aller Übereilungen: Irrtum und Gewalt,
die er offenbar auch als die eigentlichen Konstanten der Geschichte verstanden
hat.Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 7 |
Fausts Leugnung der Gegenwart im Namen einer
veloziferisch antizipierten Zukunft kulminiert im V. Akt allerdings nicht
nur in Irrtum und Gewalt, in Torheit und Schlechtigkeit. Goethe antizipiert
hier auch jenes andere Phänomen der Übereilung, das erst Heidegger
in »Sein und Zeit« als eines der zentralen Themen der Moderne
wieder neu reflektieren wird: die Sorge. Die Sorge als Personifikation
eines hypotroph zukunftsorientierten Bewußtseins läßt
Faust erblinden mit den Worten: »Die Menschen sind im ganzen Leben
blind, nun, Fauste, werde du's am Ende!« (S. 350). Erst die Sorge
ermöglicht endgültig das apokalyptische Szenarium des Veloziferischen:
Fausts Untergang im Zeichen von Blindheit und Verblendung. Faust beschäftigt
sich - bereits erblindet - mit modernen »Visionen«: mit einem
groß angelegten Entsumpfungs-Projekt im Zeichen der Eile: »Was
ich gedacht, ich eil (!) es zu vollbringen« (S. 350). Faust begeht
hier denn auch den letzten, den irreversiblen Irrtum: er hört das
Klirren der Spaten und glaubt, die Arbeit gelte einem Graben. In Wahrheit gräbt man sein eigenes Grab.
Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration
zur Modernität Goethes, 1999, S. 9-10 |
Es
ist die höhnische Ironisierung des veloziferischen Aktionismus einer wahren
»Sumpf-Szene«, in der sich Irrtum und Gewalt zu einer schauerlichen
Utopie verschränken, denn Faust glaubt mit freiem Volk auf freiem Grund zu
stehen. In Wahrheit sind es bereits die Zwangsarbeiter der Moderne, die für
ihn arbeiten. Von Menschenopfern ist die Rede, und vom Jammer, der die Nächte
füllt.Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 10 |
Selten
ist eindringlicher mit aller auf Kontinuität gründenden Kultur gebrochen
worden als mit der Ermordung von Philemon und Baucis. Fausts Vergangenheitshaß,
seine Leugnung jeder Kultur des Errinnerns und des Gedächtnisses antizipiert
hier gleichsam das Muster abrupter Kontinuitätsrisse der deutschen Geschichte
- bis hin zur Jugendrevolte der 1960er Jahre unseres Jahrhunderts. Eine Literaturkanons
und der Einführung einer »Gefälligkeitspädagogik« dann
jener (auch Goethe selber erfassende) Bruch mit der Vergangenheit gelang, den
Lew Kopelew als eine »Kulturrevolution« besonderer Art quajlfiziert
hat: Sie habe in Deutschland stattgefunden, und es habe keines Mao-Tse Tung bedurft.Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 10 |
Goethe,
der im »Wilhelm Meister« warnt, man dürfe dasAltenicht aus den
Augen verlieren, weil es ein »Gegengewicht dessen (sei), was in der Welt
so schnell wechselt und sich verändert«, hat versucht, den Schritt
in die emanzipierte Wildnis der modernen Beschleurifgung hinauszuzögern.
Er wollte hinauszögern, weil er wußte,daß mit der Ermordung von
Philemon und Baucis jene Rückspiegel zerbrechen würden, ohne die die
Humanität nicht zu haben ist. Denn das Leben wird zwar nachvorwärts
gelebt,aber nur nach rückwärts verstanden.Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 10 |
Das
neue Tempo des Lebens hatte vor allem Napoleon exemplarisch bestimmt. Er hat nicht
nur als erster den modernen Bewegungskrieg praktiziert (»man muß in
erster Linie durch die Beine seiner Soldaten siegen«). Er hat auch als Politiker
ein bis dahin unbekanntes Tempo eingeführt. Die Geschwindigkeit (»elan
et vitesse«), dieses Geheimnis seiner Person und seiner Erfolge, hatte er
Europa aufgezwungen als modernes Lebensgefühl. Wenn heute der Geschwindigkeits-Philosoph
Paul Virilio den Temporausch zum alles beherrschenden Merkmal des technischen
Zeitalters erklärt und über »schneller werdende Innovationszyklen,
Datenautobahnen und virtuelle Mobilität« klagt, so ist dies letztlich
die (verspätete) Diagnose dessen, was Goethe bereits als das »Veloziferische«
erkannt und mit einer Tiefenschärfe analysiert hat, die ihresgleichen sucht.
Und wenn (in den USA) bereits der Begriff der »Eilkrankheit« kursiert,
die sich unter anderem in der Unfähigkeit zu angenehmen Erinnerungen äußert,
so hat Goethe im »Faust« die Anamnese dieser Krankheit eindringlich
geliefert.Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 10-11 |
Das
gilt auch für Goethes Einsicht in die eigentliche Ursache dieser Krankheit.
Es ist ein letztlich ahistorischer, ein ontologischer Quellgrund, den Goethe in
seinen »Maximen und Reflexionen« andeutet mit dem Wort: »Theorien
sind gewöhnlich Übereilungen des ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene
gerne los sein möchte«. Ein Sachverhalt, für den Goethe auch die
Kurzformel bereithält, daß für den Menschen »alles Faktische
bereits Theorie« sei. Das heißt, Goethe war davon überzeugt,
daß der Mensch auf Grund der ungeduldigen Tendenzen seines Verstandes unfähig
ist, die Phänomene rein anzuschauen. Wobei für ihn allein die Phänomene
entscheidend waren. Was wir uns dabei denken, ist letztlich gleichgültig.
Die Natur unseres Verstandes also als der Grund unserer Irrtümer. Oder wie
es Goethe formuliert hat: »Laß dich nicht vom Widerspruch beirren.
Sobald wir sprechen, beginnen wir zu irren«. Der Fortschritt reduziert sich
damit letztlich auf ein bloßes Fortschreiten von alten zu neuen Irrtümern.
Wobei die letzten Wahrheiten sich dann, wie Nietzsche vermutete, »als unsere
unwiderlegbaren Irrtümer« erweisen. Goethes Resümee fällt
jedenfalls relativ pessimistisch aus. In den »Maximen und Reflexionen«
finden sich die Worte: »Alle Verhältnisse der Dinge (sind) wahr - Irrtum
allein in dem Menschen. An ihm (ist) nichts wahr, als daß er irrt, sein
Verhältnis zu sich, zu andern, zu den Dingen nicht finden kann«. Und
gegenüber dem böhmischen Grafen Sternberg hat er den Menschen denn auch
definiert als »ein dunkles Wesen. Er weiß nicht, wer er ist, noch
woher er kommt, noch wohin er geht. Und ich selber will es auch nicht wissen«.Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 11 |
Goethe
hat vor diesem düsteren Hintergrund konsequent festgehalten an einer Kultur
der »slow motion«, einer Ritardando-Kultur, deren Bedeutung uns erst
heute einzuholen beginnt. Denn unsere Epoche der totalen Mobilmachung, deren Kommunikationstechnologie
bereits alle Geschwindigkeitsbeschränkungen überschritten hat und sich
dem rasenden Stillstand nähert, hat als paradox inzwischen eine gegenläufige
Hoch-Technologie der Verlangsamung hervorgebracht: Airbag, ABS-Systeme, Anrufbeantworter
sind Beispiele einer immer aufwendigerwerdenden Brems- und Selektions-Technologie
im Zeichen der Akzeleration.Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 11 |
Goethe,
dem die Gegenwart die einzige Göttin war, die er anbetete, hat für seine
Person im geduldigen Anschauen der Phänomene den Raum der Gegenwart zu weiten
versucht. Das heißt, er hat den Abstand zwischen Begehren und Besitzen verlängert,
den Faust bis zur Gleichzeitigkeit verkürzt. Goethe hat hierbei die Natur
verstanden als die verläßlichste Gegenwelt des Veloziferischen, also
die letzte große Bastion gegen die beginnende Mobilmachung seines Jahrhunderts:
»Die Natur ist die große Ruhe gegenüber unserer Beweglichkeit«
lautet seine Devise. Die dann Nietzsche übernehmen wird mit dem Satz: »Die
Natur ist das große Rettungsmittel der modernen Seele.«Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 12 |
Faust,
den Mephistos Magie der »Übereilungen« vom Anschauen der Natur
entfernt hat, erkennt dieses »Rettungsmittel« zu spät: »Könnt
ich Magie von meinem Pfad entfernen, die Zaubersprüche ganz und gar verlernen,
stünd ich, Natur!, vor dir ein Mann allein, da wär's der Mühe wert,
ein Mensch zu sein!« (S. 345). Eine Einsicht, die bereits vorausweist auf
den kulturkritischen Pessimismus. Paul Virilio, der in seiner Lehre von der Geschwindigkeit
(Dromologie) dignostiziert, daß inzwischen durch Simulationstechniken Widerstände
und Distanzen in virtuelle Realitäten verwandelt werden. Fausts melanchloische
Klage: »Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen« (S. 345) hat
Virilio indes um eine neue Perspektive ergänzt. Zukunft gäbe es nur
noch nach der Zerstörung, äußerte er kürzlich in einem zeitungsinterview.
Vielleicht meint Martin Walser genau dies, wenn er die Weimarer Klassik definiert
als »ein grandioses Schönheitspflaster auf einem fürchterlichen
Mal«?Manfred
Osten, Homunculus, die beschleunigte Zeit und Max Beckmanns Illustration zur
Modernität Goethes, 1999, S. 12-13 |
Goethe
wußte, daß das langsame Gehen spätestens seit der französischen
Revolution passé ... war.Manfred
Osten, Alles veloziferisch oder: Goethes Entdeckung der Langsamkeit, 2003,
S. 9 |
Es ist Goethes geniale Verschränkung
von »velocitas«, der Eile, und »Luzifer«, dem Teufel,
sprich Mephisto, als dem Herrscher über die selbstzerstörerische Ungeduld
des Menschen..Manfred
Osten, Goethe der Entsschleuniger, 2008 |
Die
Moderne erzeugt das größte Problem, das wir glauben hier im interkulturellen
Bereich erkennen zu können, selbst.Hans
Peter Raddatz, Vortrag |
Die
faschistischen Bewegungen wurden von Nolte als Antworten auf die bolschewistische
Gefahr gedeutet. .... Die Frage, ob der Faschismus eine »soldatische«
und voluntaristische Wende einer konterrevolutionären, hierarchisierenden
und antimodernen Ideologie (Nolte) darstellt, ob er vielmehr eine modernistische
und revolutionäre Lehre bildet, die der Idee einer neuen Gesellschaft offensteht
und eine überholte Vergangenheit nicht braucht (Furet), oder ob er grundsätzlich
das Ergebnis einer Revision des Sozialismus in einem antimaterialistischen und
antiinternationalistischen Sinn ist (Sternhell), bleibt ... weiterhin umstritten.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 93-94 |
Wie
von Hannah Arendt unterstrichen, teilen sich die politischen Systeme nicht in
faschistische und antifaschistische Systeme auf, sondern vielmehr in liberale,
demokratische, autoritäre und totalitäre.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 96 |
Mussolini
... in seiner berühmten Rede vom 22. Juni 1925 im Theater Augusteo anläßlich
des 4. Kongresses der nationalfaschistischen Partei (PNF): »Alles im Staat,
nichts außerhalb des Staats, das ist unser unerbittlicher und totalitärer
Wille!« .... Der Zusammenhang zeigt eindeutig, daß Mussolini
unter »Totalitarismus« lediglich das Mittel versteht, um die demokratische
Trennung zwischen Staat und Gesellschaft zu überwinden. In einem Land, dessen
erst spät erfolgte Einheit durch die Folgen der Wirtschaftskrise und durch
die ungleiche Entwicklung im Norden und im Süden weiterhin gefährdet
bleibt, war er der Ansicht, daß nur ein starker Staat die Vereinigung und
Modernisierung einer echten nationalen Gemeinschaft erfolgreich durchführen
könne. »Für den Faschismus«, erklärte er, »ist
alles im Staat, und Menschliches oder Geistiges besteht nicht, geschweige denn
hat Wert außerhalb des Staats.« Diese Mystik des Staats hat mit »Staatolatrie«
(Staatsverherrlichung), und nicht mit Totalitarismus zu tun. Sie ist mit den Theorien
des »totalen Staates« in Verbindung zu bringen, die von Carl Schmitt
(»Der totale Staat«, in: Der Hüter der Verfassung,
1931; »Die Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland«,
in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923-1939,
1940, S. 185 ff.) und vor allem von Ernst Forsthoff (Der totale Staat,
1933) entwickelt wurden. Diese Theorien sollten bald von den Nationalsozialisten
verworfen werden, die ihren Verfassern vorwarfen, der »lateinischen Staatsverherrlichung«
zu erliegen.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 96-97 |
Arendt
weist die liberalen Theorien, die in den totalitären Systemen bloß
ein Wiederaufleben »archaischer« Verhaltensmuster völlig irrationalen
Charakters zu sehen neigten, entschieden zurück und zeigt vielmehr auf, daß
das Wesen dieser Systeme, die sich durch den Antisemitismus, den Sozialismus oder
den Imperialismus des 19. Jahrhunderts nur sehr unvollkommen erklären lassen,
erst durch eine kritische Analyse der Genealogie der Moderne erfaßt werden
kann.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 102-103 |
Die
modernen Ideologien sind profane Religionen. Sie stützen sich auf verweltlichte
theologische Begriffe. Diese Feststellung gilt ganz besonders für die totalitären
Systeme, deren tausendjährigen Anspruch und messianische Komponente in der
Vergangenheit vor allem die christlichen Häresien vermittelt haben. Wie einige
andere Autoren (Waldemar Gurian, Eric Voegelin, Jean-Pierre Sironneau) beschrieb
Raymond Aron die modernen Totalitarismen als »politische Religionen«
oder »weltliche Religionen«, das heißt, als »Lehren, die
in den Seelen unserer Zeitgenossen die Stelle des Glaubens einnehmen und das Heil
der Menschheit hier auf Erden sehen, in einer fernen Zukunft, in Form einer noch
zu schaffenden Sozialordnung«.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 111 |
Mehrere
Beobachter der totalitären Systeme, wie Alain Besançon, Michel Heller
oder François Furet, haben sie übrigens als »ideokratische«
Systeme beschrieben. Diese Bezeichnung paßt vor allem auf das sowjetische
System: Der Totalitarismus ist jedoch nicht allein schon deswegen totalitär,
weil er sich auf eine Ideologie bezieht - entgegen der Ansicht der liberalen Autoren,
die sich einbilden, von einem nicht-ideologischen Ort aus zu sprechen. Alle Menschengesellschaften,
sofern sie eine bestimmte Weltanschauung konkretisieren, besitzen nämlich
eine ideologische Legitimationsbasis, mag diese offen ausgesprochen oder verinnerlicht
sein. Eigentlich spielt auch nicht der Inhalt der Ideologie die Hauptrolle in
den totalitären Systemen! Es ist vielmehr die Art, wie dieser Inhalt bewußt
als Wahrheitssystem aufgestellt, offiziell vertreten und jeglicher Form von Diskussion
entzogen wird.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 111-112 |
Montesquieu
sagte, daß jedes politische System ein Wesen (»was es als solches
macht«) und ein Prinzip (»was es zum Handeln bringt«) besitzt.
Eines der Merkmale des Totalitarismus ist, daß sein Wesen und sein Prinzip
eins sind, eben weil sie einer »totalen« Ideologie untergeordnet sind,
die »aus einer als sicher angenommenen Prämisse nun mit absoluter Folgerichtigkeit
... alles Weitere deduziert«! Ähnlich wie die religiösen Lehren
stellt sich diese Ideologie als eine im wesentlichen dogmatische Struktur dar,
die absolute Gewißheiten trägt, den anderen Lehrmeinungen die Rolle
des falschen Bewußtseins oder der Mystifizierung (Täuschung) zuweist,
mit dem Ziel, die Realität dessen, was eigentlich auf dem Spiel steht, zu
verschleiern. Als solche spielt sie sich als oberste Wissenschaft der Geschichte
oder des Lebens auf, und ihre Grundbegriffe und Grundprinzipien werden zu alleinigen
Wahrheiten.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 112 |
Der
... moderne Historismus ..., eine weltliche Version des Glaubens an eine linear
verlaufende, auf das Reich Gottes hin ausgerichtete Geschichte. .... Paradoxerweise
ist der Voluntarismus ... verbunden mit dem Glauben an ein absolutes Gesetz, das
nicht Ergebnis der Deutung der Menschen, sondern sich ihnen vielmehr aufzwingt
- das Gesetz der Geschichte oder das des Lebens. Dieses Gesetz grenzt die »Willensfreiheit«
einschneidend ab und ... ist die wesentliche Quelle jener Wahnvorstellung von
Transparenz und totaler Beherrschung, die die Totalitarismen kennzeichnet.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 115 |
Es
herrscht eine zweifache Versessenheit: auf das Abschließen eines endgültig
abgelaufenen Zeitalters und gleichzeitig auf das Eröffnen einer völlig
neuen Ära. Hierin ist der Totalitarismus der unmittelbare Erbe der Moderne,
die von Anfang an als tablula rasa auftrat, das heißt als grundsätzliche
Ablehnung und Wegwerfen all dessen, was zuvor als erhaltens- und vermittelnswert
angesehen wurde. Die implizite Parole der Moderne lautet, daß man die »Grenzen
des Möglichen« (Arendt) unaufhörlich erforschen müsse, in
der Meinung, daß alles, was möglich ist, auch wünschenswert sei.
Diese Parole entspricht jener »unbegrenzten Expansion«, die Hannah
Arendt eben zum Telos der Moderne erhebt, oder der profanen Anwendung dessen,
was Heidegger den »Begriff der Unendlichkeit« nennt. Sie bedingt eine
Infragestellung des Begriffs »Grenze« selbst, die unendlich zu verschieben
der menschliche Wille oder der »Fortschritt« aufgerufen ist. Definitionsgemäß
ist der Totalitarismus das System, das keine Grenzen kennt und nach der totalen
Mobilisierung der Menschen und der Welt trachtet; das System, das die Ausforschung
und Zur-Vernunft-Bringung der gesamten Welt anstrebt; diese Totalität der
Welt entfaltet er als solche in einer »massiven Macht der Requisition«
(Jean-Luc Nancy und Jean-Christophe Bailly). Er ist das System, das nicht nur
glaubt, daß alles möglich ist (weil sein Wille grenzenlos ist), sondern
auch, daß alles erlaubt ist (weil es die absolute Wahrheit verkörpert).Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 116-117 |
Hannah
Arendt sah eine klare Verbindung zwischen der Atomisierung der Menschen, verursacht
durch den zunehmenden Einfluß des egalitären Individualismus, und der
totalitären Erscheinung. Für sie war der Totalitarismus eine Antwort
auf die »Entzauberung der Welt«, auf die Auflösung der Zwischenkörperschaften,
auf den kulturellen und sozialen Zerfall der modernen Industriegesellschaften,
in denen die Beschleunigung der Entwicklung jene Lebensweisen zerstörte,
die mit den organischen Primär-Gruppen (Familien, Dorfgemeinschaften usw:)
zusammenhingen. Ihrer Ansicht nach stand sein plötzliches Auftauchen in Zusammenhang
mit dem Erstarken entwurzelter »Massen«, die der Untergang der traditionellen
Gemeinschaften, Vereinigungen und Stände formbarer und verwundbarer denn
je gemacht hat. Das anonyme Individuum, schreibt einer ihrer Schüler, Domenico
Fisichella, »erinnert an ein Gefäß, das darauf wartet, gefüllt
zu werden«.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 121-122 |
Schon
1939 schrieb Horkheimer, daß die 1789 als Weg zum Fortschritt entstandene
Ordnung die Tendenz zum Nationalsozialismus in sich getragen habe. Er fügte
hinzu, daß der Nationalsozialismus die Wahrheit der modernen Gesellschaft
sei und daß seine Bekämpfung mit Bezug auf das liberale Denken darauf
hinauslaufe, sich auf das zu stützen, was ihm zum Sieg verholfen habe. Augusto
Del Noce hat die Moderne in ähnlicher Weise beschrieben als eine »eigentlich
totalitäre« Zivilisation, während Michel Foucault im Zusammenhang
mit dem Nationalsozialismus von »Rationalität des Abscheulichen«
sprach. Zygmunt Baumann behauptet ebenfalls, daß es »die rationale
Welt der modernen Zivilisation« sei, die antisemitische Verfolgungen möglich
und vorstellbar gemacht habe. Diese stellten »nicht nur die technologische
Vollendung der industriellen Gesellschaft dar, sondern auch die organisatorische
Vollendung der bürokratischen Gesellschaften.« Die von den totalitären
Regimen verübten Massenmorde stellten extreme Formen instrumenteller Rationalität
dar, die sich unmittelbar aus der modernen Verwandlung des Menschen in
ein Objekt ableiten lassen. Hierin unterscheiden sie sich grundsätzlich von
sämtlichen früheren Massenmorden.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 134-135 |
Die
französische Revolution, die offizielle Geburt der Moderne,
machte als erste aus dem Massenmord die rationale Folge der Aussage eines politischen
Prinzips. Der erste Völkermord in der Geschichte der Neuzeit hatte die Vendée
als Schauplatz: 180000 Männer, Frauen und Kinder wurden getötet einzig
aus dem Grund, daß sie geboren waren. Über die Vendéer erklärte
Couthon am 10. Juni 1794: »Es geht weniger darum, sie zu bestrafen, als
darum, sie zu vernichten.« Gegenüber ihren jeweiligen - tatsächlichen
oder vermeintlichen - Feinden haben die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts wie
die französischen Revolutionäre reagiert: mit dem Willen zur Ausrottung,
mit immer wieder derselben Vorstellung, daß die Vernichtung des Feindes
die Voraussetzung für die Rettung der Welt sei.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 137 |
Die
französische Revolution war aber auch die erste, die die Massen mobilisierte
und ihren politischen Anhängern den Bruch mit allen anderen Bindungen auferlegte.
Die erste auch, die den Prozeß der Zerstörung der Zwischenkörperschaften
vervollkommnete in der Absicht, alles zu beseitigen, was zwischen der Zentralmacht
und den atomisierten Individuen im Wege stehen konnte. Die erste schließlich,
die einen Universalismus vertrat, der sich plötzlich in Fremdenhaß
verkehrte, nachdem die Begriffe »Franzose« und »universell«
gleichbedeutend geworden waren; wer nicht Franzose war, konnte logischerweise
von der Menschheit ausgeschlossen werden.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 137 |
Die
Parallele zwischen der französischen und der sowjetischen Revolution,
zwischen dem jakobinischen und dem bolschewischen Terror wurde zuvorderst
von den russischen Kommunisten selber gezogen. Lenin war der erste, der die Kosaken
mit den Vendéern gleichsetzte; er behauptete, 1917 vollende 1789, und deutete
damit an, daß die Oktober-Revolution gewissermaßen Robespierres
Revanche darstelle. In den Ländem des Westens benutzten auch die KP-Führer
und ihre Weggefährten diese Parallele, um den Sowjetismus zu rechtfertigen
- wie François Furet klar erkannt hat, der die Rolle der »jakobinischen
Vorstellungswelt« bei der französischen Billigung des Kommunismus sowie
bei der Nachsicht der Intellektuellen gegenüber den mörderischsten Taten
der sowjetischen Regierung unterstreicht.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 138 |
Erklärte
nicht Marcel Cachin nach seiner Rückkehr aus der UdSSR: »In der russischen
Revolution, die in ihren Methoden, in ihrem Ablauf die französische
Revolution II neu beginnt, ist nichts, was ein Franzose abschwören könnte«?
Ernst Nolte konnte beobachten, daß »sich die französische Unke
nicht nur dadurch auszeichnet, daß sie die französische Revolution
nach wie vor als entscheidendste Phase in der Geschichte der menschlichen Emanzipation
wahrnimmt, sondern auch dadurch, daß sie eine positive Beziehung zwischen
der französischen und der russischen Revolution herstellt«.
Heute noch, fügt Krzystof Pomian hinzu, »sind die französischen
intellektuellen Kreise nicht wirklich entstalinisiert worden. Sie
bleiben der Mythologie der Volksfront tief verbunden, und noch tiefer der Vorstellung,
daß die französische Revolution ein in sich geschlossener Block
gewesen sei, was den Terror rechtfertige.«Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 138-139 |
So
wie die französischen Revolutionäre die früheren Provinzen abgeschafft
hatten, so löste Hitler das ehemalige Preußen auf, zentralisierte das
Reich und führte in sämtlichen Bereichen eine Zwangseinigung durch:
Schon im Februar 1934 wurden alle Landesparlamente aufgelöst und die Regionen
gleichgeschaltet. Alexandre Kojève hatte bereits darauf hingewiesen, daß
»Hitlers Wahlspruch: Ein Volk, ein Reich, ein Führer nur eine
schlechte-Übersetzung der Losung der französischen Revolution
von der einen und unteilbaren Republik ist«. »Lenin hat kein Hehl
daraus gemacht, was er den Jakobinern verdankte, und Hitler, was er Lenin verdankte«,
bemerkt seinerseits Jules Monnerot (a.a.O., 1969, S. 603).Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 140-141 |
Der
Versuch, den Kommunismus im Namen seiner tiefen, mit den Idealvorstellungen der
Moderne übereinstimmenden Inspiration reinzuwaschen, verschleiert also die
Tatsache, daß diese Inspiration die Wurzel nicht nur seiner Verbrechen,
sondern auch die der Verbrechen des Nationalsozialismus bildet. Letzterer war
keineswegs kriminell durch Übereinstimmung mit einer Ideologie, die, im Gegensatz
zum Kommunismus, nur ihm eigen gewesen wäre; er wurde es vielmehr in bezug
auf den Teil Inspiration, den er mit dem Kommunismus gemeinsam hatte. Das stellt
auch François Rouvillois fest, wenn er über den Nationalsozialismus
schreibt: »Nicht was ihn vom Marxismus unterscheidet, macht ihn kriminell,
sondern eben, was er mit ihm gemein hat.« »Marxismus und Nationalsozialismus«,
fügt er hinzu, »sind gleichermaßen totalitär durch dieses
sie vereinende Element: weil sie beide jener radikalen Moderne entsprungen sind,
die aufgrund ihrer historischen und anthropologischen Voraussetzungen nur in den
Alptraum abgleiten konnte.« (François Rouvillois, a.a.O., 1998, S.
29 ).Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 141 |
Auch
bei Claude Lefort werden die totalitären und die liberaldemokratischen Systeme
als die beiden Erscheinungsformen analysiert, die die Vollendung der »demokratischen
Revolution« annehmen kann. »Der Totalitarismus«, schreibt Lefort,
»wird in meinen Augen nur dann verständlich, wenn man sein Verhältnis
zur Demokratie erfaßt. Der totalitäre Staat läßt sich nur
im Vergleich zur Demokratie und vor dem Hintergrund ihrer Ambiguitäten auffassen.
Er ist deren Widerlegung Punkt für Punkt, und trotzdem bringt er zu ihrer
Aktualität Vorstellungen, die er virtuell enthält.« (Claude Lefort,
a.a.O., S. 167 & 42). Für Lefort definiert sich die moderne Demokratie
als eine politische Form, in der die Macht auf keinen transzendenten - göttlichen
oder traditionellen - Ursprung verweist, sondern sich als reines Abbild des menschlichen
Willens darstellt.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 145-146 |
Die
Beleuchtung der Verwandtschaft zwischen Totalitarismus und bürgerlichen Demokratien
hat eine wichtige Folge: Sie zeigt auf, daß die demokratisch-liberalen Systeme
von Natur aus keineswegs immun gegen den Totalitarismus sind. Was ihre Vertreter
auch immer behaupten mögen, auch sie laufen Gefahr, in den Totalitarismus
hineinzurutschen - so wie 1789 zur Schrekkensherrschaft von 1793 geführt
hat. Zum einen können die Demokratien jederzeit antidemokratische Mittel
gebrauchen: Im Zweiten Weltkrieg haben die liberalen Demokratien nicht vor vorsätzlichen
Massakern an Zivilbevölkerungen (u.a. Dresden, Hiroshima, Nagasaki) zurückgeschreckt,
um mit dem nationalsozialistischen Deutschland und dem nationalistischen Japan
fertigzuwerden. Zum anderen: Wenn auch ihre Erscheinungsformen offensichdich ganz
andere sind als diejenigen totalitärer Regime, so unterscheiden sie sich
doch, wie wir gesehen haben, in ihrer ursprünglichen Inspiration nicht grundlegend.
Ist die moderne Dimension des Totalitarismus einmal anerkannt, so ist es nicht
abwegig zu denken, daß es auch eine totalitäre Dimension der Moderne
gibt.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 149-150 |
Wenn
man außerdem anerkennt, daß der Totalitarismus vor allen Dingen durch
seine Zielsetzung gekennzeichnet ist, und nicht durch die Methoden, um dorthin
zu gelangen, dann wird verständlich, daß er auch ganz andere Formen
annehmen könnte als die bereits bekannten. Diese Möglichkeit ist um
so denkbarer, als die totalitären Regime - sofern sie auf das Homogene, d.h.
auf die Reduzierung der Welt auf das Gleiche, abzielen - sich in jene typisch
moderne Auffassung von Freiheit vollkommen einfügen, die darin besteht, immer
das Gleiche vorzuziehen (siehe Adornos und Horkheimers »Freiheit zum Immergleichen«).
Man muß sich dann fragen, in welchem Maße mit deser Zielsetzung äußerste
Repressionsmittel (der »Terror«) untrennbar verbunden sind. Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 150-151 |
Sokrates
sagte, daß niemand absichtlich Böses tut. Die totalitären Regime
wurden nicht unbedingt von Männern geführt, die gern Böses taten
oder aus Vergnügen Massenmorde veranstalteten, sondern von Männern,
die der Ansicht waren, daß dies das einfachste Mittel war, zu ihren Zielen
zu gelangen. Hätten ihnen andere, weniger extreme Mittel zur Verfügung
gestanden, ist es nicht ausgeschlossen, daß sie lieber zu ihnen gegriffen
hätten. Von seinem Wesen her belingt der Totalitarismus nicht automatisch,
eher zu dem einen Mittel als zu einem anderen zu greifen. Nichts schließt
aus, daß nan mit schmerzlosen Mitteln zu den gleichen Zielen gelangen kann.
Der Zusammenbruch der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts bannt nicht
das Gespenst des Totalitarismus. Er regt vielmehr zum Nachdenken über die
neuen Formen an, die er in der Zukunft annehmen könnte.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 151 |
Faschismus
und Antifaschismus, Kommunismus und Antikommunismus unterliegen heute der gleichen
Nostalgie und dem gleichen Unvermögen, die Gegenwart zu analysieren. Die
Antriebe, die in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts am Werk waren, sind natürlich
immer noch da. Sie sind aber nur deswegen noch da, weil sie schon früher
da waren, das heißt, weil sie letzten Endes zur menschlichen Natur gehören.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 102-103 |
Den
Kommunismus und den Nationalsozialismus in ihre Zeit einzuordnen heißt begreifen,
daß der eine wie der andere »Antworten« auf eine bestimmte Lage
dargestellt haben, auf eine politische und soziale Problematik, die sich von der
heutigen völlig unterscheidet.Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 102-103 |
Die
modernen Totalitarismen sind Produkte einer Moderne ....Alain
de Benoist, Totalitarismus, 2001, S. 102-103 |
Ich
denke, wenn es die Katholische Kirche nicht gäbe, müßte man sie
erfinden. Gerade als antimodernistisches Gegenlager gegenüber den unglaublich
gefährlichen Potenzen, die in der Moderne ... liegen. Mir ist ... wirklich
am wohlsten, also ich fühle mich am sichersten, wenn wir diesen »Elefanten«
der katholischen Kirche da stehen haben und die Modernitätshysteriker können
sich daran arbeiten. Dadurch entsteht eine Entschleunigung in diesen Prozessen
der Modernität. Und auf die setze ich. Der Charme der katholischen Kirche
ist für mich der, daß sie genau an allen Punkten, die wir so bisher
genannt haben, auf der Bremse steht. Die steht auf der Bremse. Und die brauchen
wir. Rüdiger
Safranski, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, November 2009 |
So
wie ich das bei Benedikt XVI. höre, ist mir das insofern sympathisch, als
ich z.B. im Moment das Gefühl habe, daß wir in unserer Gesellschaft
eine inbrünstige quasi-religiöse Gläubigkeit an die Naturwissenschaften
haben. .... Die größte Gefahr - für mich - im geistigen Leben
ist der pseudo-naturwissenschaftlich begründete Naturalismus. .... Einen
... Standpunkt in dem allgemeinen Meinungskampf, wie ihn Benedikt XVI. vertritt,
empfinde ich als eine Befreiung von Flachköpfen wie Dawkins u.s.w..Rüdiger
Safranski, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, November 2009 |
Ein
ganz entscheidendes Merkmal der Moderne dürfte aber das massenhafte Entstehen
größerer Organisationen (Unternehmen) sein, bei denen es sich quasi
um neuartige biologische Phänomene mit eigenen Identitäten und eigenständigen
Selbsterhaltungsinteressen handelt. Anfanglich befanden sich diese noch überwiegend
im Besitz von einigen wenigen Personen (»der Kapitalist«). Auch begrenzten
sie ihr Tätigkeitsfeld aufgrund vorhandener Kommunikationslimitationen meist
auf eingeschränkte lokale Regionen.Peter
Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 359 |
Organisationssysteme
besitzen in aller Regel einen im Vergleich zu Menschen ungeheuren Energie- und
Ressourcenbedarf (Kapitalbedarf). Beiden Anforderungen wurde die beginnende Moderne
mit der Nutzbarmachung fossiler Brennstoffe und dem Aufkommen leistungsfahiger
Banken und Finanzmärkte gerecht. Erst damit waren die Voraussetzungen geschaffen,
um biologische Phänomene dieser Größenordnung entstehen zu lassen.Peter
Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 359-360 |
Mit
zunehmender Größe können Unternehmen kostengünstiger produzieren
(aufgrund der Nutzung von Skaleneffekten) und sich somit gegenüber Konkurrenten
einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Mit dem Wachstum differenzieren sie sich
dann intern immer weiter aus, und zwar zur Komplexitätsreduzierung.Peter
Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 360 |
Es
wurde bereits erwähnt, daß ein wesentliches Merkmal der Moderne das
massenhafte Entstehen größerer Organisationssysteme ist. Karl Marx
bezeichnete die Wirtschaftsform dieser Epoche sogar als Kapitalismus.Peter
Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 361 |
Nun
bilden aber Organisationen ihre eigenen Organisationsstrukturen und Dominanzhierarchien
aus, wobei sie die jeweiligen Rechte und Pflichten der einzelnen Ebenen untereinander
meist präzise festlegen und beschreiben.Peter
Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 361 |
In
modernen Marktwirtschaften halten sich die Staaten aus dem eigentlichen Marktgeschehen
weitestgehend heraus. Der Grundgedanke dabei ist, den Wettbewerb unter den verschiedenen
Marktteilnehmern anzuregen und so für mehr Leistung und Innovation im Vergleich
zu staatlichen Monopolbetrieben zu sorgen. Die Unternehmen sind nun aber wiederum
aus Wettbewerbsgründen vor allem an hohen menschlichen Kompetenzen interessiert.
Solange Energie in ausreichender Menge und dabei auch noch preiswert zur Verfügung
steht, werden Unternehmen es immer vorziehen, Maschinen statt Menschen für
die Verichtung monotoner und körperlich schwerer Tätigkeiten einzusetzen.
Die an qualifiziertem Humankapital interessierten Organisationen dürften
deshalb eher Gesellschaftsstrukturen präferieren, in denen sich ihnen alle
Bürger frei und gleich mit ihren Qualifikationen anbieten können, die
Gesellschaft selbst also möglichst wenige Dominanzhierarchien und Klassen-,
Rassen- beziehungsweise Geschlechterunterschiede aufweist.Peter
Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 361-362 |
Die
gesellschaftliche Ausdifferenzierung und der damit einhergehende Wandel von der
Ähnlichkeit zur Differenz hat eine immer stärkere Konzentration des
Einzelnen auf eng umrissene Aufgaben (Spezialisierung) zur Folge, die sich dann
aber ganz häufig nicht mehr mit anderen Tätigkeiten vereinbaren lassen.
Ferner besitzt die Spezialisierung gemäß Ricardos Theorem in der Regel
zusätzliche komparative Kostenvorteile, aber eben auch nur dann, wenn es
zu einer echten Spezialisierung kommt, und die Aufgaben nicht doch wieder mit
irgendwelchen anderen Tätigkeiten zu vereinbaren sind. All dies bewirkt letztlich,
daß sich das Individuum immer stärker von gesellschaftlichen Rollenvorgaben
inklusive den durch sie vermittelten Gemeinschaftsaufgaben löst. Es kommt
dann zum Prozeß der Individualisierung und - sofern keine Gegenmaßnahmen
erfolgen - bald darauf bei den davon betroffenen Gemeinschaftsaufgaben zur Tragik
der Allmende.Peter
Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 362-363 |
Ich
bin ... der Auffassung, daß es ab etwa der Moderne nicht mehr primär
die menschlichen Gesellschaften und ihre jeweiligen technischen Systeme sind,
die den Gang der Geschichte bestimmen, sondern die Organisationssysteme - Aggregationen
von Menschen also - mit ihren spezifischen Anforderungen und Interessen.Peter
Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 362-363 |
Die
größten Organisationen operieren heute global und damit nationenüberspannend,
so daß sie national auch kaum mehr zu kontrollieren sind. .... Wie jedem
anderen Lebewesen auch geht es ihnen in erster Linie um ihren Selbsterhalt und
Eigennutz und nicht um irgendwelche nationalen Interessen. Und wenn dann etwa
ein Konkurrent seine Gewinne auf den Cayman Islands versteuert, werden alle anderen
folgen müssen, weil sie sonst im Nachteil wären. Hier greift die gleiche
Trittbrettfahrerproblematik wie auch in vergleichbaren menschlichen Kontexten.Peter
Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 387 |
Mit
ethisch-moralischen Argumenten wird man auf die beschriebenen Verhaltensweisen
keinen Einfluß nehmen können, höchstens mit Maßnahmen, die
dem gleichen System (Wirtschaft) zurechenbar sind, wie auch schon Niklas Luhmann
anmerkte (vgl. Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, 1986). Wirkungsvoll
könnte möglicherweise die internationale Besteuerung globaler Finanztransaktionen
sein (vgl. Franz Josef Radermacher / Bert Beyers, Welt mit Zukunft, 2007,
S. 176ff.). Dies gilt im Grunde für alle Lebensbereiche: Selbsterhaltende
Systeme wollen sich selbsterhalten, sie handeln also vom Kern her egoistisch.
Wenn in einer Gemeinschaft aus lauter selbsterhaltenden Systemen Möglichkeiten
bestehen, den Egoismus auf Kosten anderer auszuleben (weil man dann Vorteile hat
und sich besser selbsterhalten kann), dann werden dies einzelne Individuen über
kurz oder lang auch tun. Dagegen helfen keine Vorwürfe, sondern höchstens
Maßnahmen, die solchen Verhaltensweisen die entscheidenden Vorteile nehmen.Peter
Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 387 |
Wie
wir gesehen haben, ist die Gefallen-wollen-Kommunikation viel verschwenderischer
als die dominante Kommunikation. Gleichzeitig setzt sie einen zuverlässigen
Zugang zu den natürlichen Ressourcen voraus. Kommt es irgendwann einmal zu
einer Ressourcenverknappung, dann dürfte die elegante, herrschaftsfreie Gefallen-wollen-Kommunikation
schon bald wieder zur Disposition stehen. Die Folgen könnten Krieg, Dominanzhierarchien
(zum Beispiel Klassenstrukturen), Zwangsmaßnahmen beim Zugriff auf die Ressourcen
und vieles andere mehr sein. Da die dominante Kommunikation insgesamt ressourcenschonender
operiert, dürfte sie die Gefallen-wollen-Kommunikation schon bald wieder
in weiten Teilen ersetzen.Peter
Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 387-388 |
Es
gehört deshalb auch nicht viel Vorstellungskraft dazu, sich die Folgen einer
kritischen globalen Ressourcenverknappung auszumalen: An vielen Stellen würden
Kriege ausbrechen, und Demokratien, Marktwirtschaften und die Freiheit und Gleichheit
der Menschen gäbe es dann wohl schon bald nicht mehr.Peter
Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 388 |
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Evolutionsbiologisch
gesehen wird Erfolg mit Nachkommen belohnt, doch für Menschen in ihren jeweiligen
»Modernen« scheint das nicht zu gelten, wie das demographisch-ökonomische
Paradoxon beweist, denn in menschlichen »Modernen« besteht nachweislich
ein negativer Zusammenhang zwischen Kinderzahl und sozialer Position bzw. Bildungsniveau.
Aber wenn es der Mensch sich offenbar sogar »leisten« kann, vorübergehend
gegen die Spielregeln der Evolutionsbiologie zu existieren, so kann er das nur,
wenn er sein Aussterben in Kauf nimmt, denn »Singles«, »Emanzen«
und andere Kinderlose haben sich selbst, bewußt oder unbewußt, zum
Aussterben verurteilt - auch, ja sogar besonders diejenigen, die
sehr viel Geld verdienen (»negative Selektion« = [beruflicher] Erfolg
wird nicht mit Nachkommen belohnt bzw. [beruflicher] Mißerfolg wird mit
Nachkommen belohnt, man könnte auch sagen: Survival of the Unfittest).
Und diese »negative Selektion«, die für Menschen während
ihrer »Modernen« maßgeblich ist, wird von den Menschen selbst
auf ihre »moderne« Politik, für die ja Produktion wichtiger als
Reproduktion ist, übertragen und heißt dann nur noch »negative
Bevölkerungspolitik«.Ich bin zwar kein Anhänger des
Nationalismus, also der modernen Variante des Nationalen; aber man kann
nicht immer von jedem Phänomen nur die gute Seite haben - mit anderen Worten:
wer die Demokratie haben will, muß auch das Nationale, das nicht nur aus
dem Nationalgefühl und dem Nationalbewußtsein, sondern auch dem Nationalismus
besteht, haben wollen.Man sollte nicht vergessen,
daß der Nationalismus eine wichtige Begleiterscheinung der französischen
Revolution, also einer Bürgerlichen Revolution ist, die neben
der Industriellen Revolution gemeinhin als der Beginn der abendländischen
Moderne i.e.S. gilt. Wer also den Nationalismus (und deshalb auch die Demokratie)
abschaffen will, will immer auch einen der wichtigsten Bestandtteile der abendländischen
Moderne abschaffen.Täglich werden in der EU und
Nordamerika zusammen ca. 8000 bis 10000 ungeborene Kinder getötet (in der
EU: ca. 5000 bis 6000 [davon allein in Deutschland ca. 800 bis 1000]; in Nordamerika:
ca. 2000 bis 4000)! Das sind pro Jahr ca. 2,92 Mio. bis 3,65 Mio. und pro 40 Jahre
(und man muß sogar davon ausgehen, daß die Zahlen sehr wahrscheinlich
noch drastisch steigen werden!) ca. 116,8 Mio. bis 146 Mio. getötete ungeborene
Kinder in der EU und Nordamerika. Weltrekord im Bösen! Extreme Unmenschlichkeit!Und diese ungeheurlich große
Zahl an Abtreibungen, diese ermordeten Kinder soll laut westlicher Propaganda
»Fortschritt« bzw. Modernität sein! Zynischer, dekadenter, nihilistischer
geht's nicht mehr!Abtreibung und Emanzipation bedeuten
Lebens-, v.a. Menschenfeindlichkeit, Beschleunigung des Unterganges, Wille zum
Tod.Abtreibung, Euthanasie, wirtschaftspolitische
Geschlechtsumwandlung - allein schon diese drei Aspekte machen deutlich, was der
Untergang einer Kultur, also einer Gemeinschaft (Entschuldigung: »Gesellschaft«,
denn eine Gemeinschaft will sie ja schon lange nicht mehr sein), der Wille zum
Tod wirklich bedeutet. Aus der Abtreibung als Recht wird die Abtreibung als Pflicht,
aus der Euthanasie als Recht wird die Euthanasie als Pflicht, aus der (biologischen)
Geschlechtsumwandlung als Recht wird die (wirtschaftspolitische) Geschlechtsumwandlung
als Pflicht. Im Grunde kann man ja sagen: Ohne Abtreibungen gäbe es
kein Geburtendefizit, also keinen Bevölkerungsrückgang, sondern ein
(zwar geringes, aber ideales) Sterbedefizit, also ein (zwar geringes, aber ideales)
Bevölkerungswachstum.Die Abtreibung vergrößert
das Geburtendefizit, den Bevölkerungsrückgang, enorm. Auch die Euthanasie,
die vor allem zukünftig immer mehr eine Rolle spielen wird, vergrößert
das Geburtendefizit, den Bevölkerungsrückgang. Und »Gender«
- das heißt: politische Geschlechtsumwandlung - sorgt für noch mehr
Tötungen mittels Abtreibung und Euthanasie, vergrößert also das
Geburtendefizit, den Bevölkerungsrückgang, denn »Gender«
ist ja gerade wirtschaftspolitisch erwünscht, weil damit die Frauenerwerbsquote
erhöht wird. Die Tatsache, daß dabei die Geburtenzahlen und Bevölkerungszahlen,
noch mehr reduziert werden, wird als negativer Nebeneffekt gerne in Kauf genommen.Die gesamte Abtreibungspolitik -
, das Abtreibungswesen, das Abtreibungssystem -, kurz: die Abtreibunsgesellschaft
ist ein Skandal ersten Ranges. Und der Staat zahlt dafür auch noch gigantische
Summen.Nur eine dekadente Gesellschaft leistet
sich so viel Überfluß. Natürlich liegt es an einem liberalistisch-individualistischen
System wie dem Abendland, wenn es zu dem ohnehin schon vorhandenen Überfluß
auch noch - und zwar zumeist ohne Grund (abgesehen von den wirklich harten Fällen,
die aber eine sehr kleine Ausnahme sind) - die eigenen Nachkommen und letztendlich
sich selbst abtreibt und gar nicht mehr weiß, wer oder was Männchen
und Weibchen ist. Der Sinn dafür soll schon weg sein. Und die sehr wenigen
Frauen, die wirklich von der Emanzipation profitieren, tun dies auf Kosten aller
anderen Frauen, um über die Lobby an die Macht zu kommen und sie zu verteidigen
- nicht nur gegen Männer, sondern noch mehr gegen Frauen, also im Grunde
doch gegen sich selbst. Wie unfruchtbar! Wie menschenfeindlich!Emanzipation und Abtreibung, und
das auch noch auf Kosten des Staates, also: des Steuerzahlers!Nationalsozialismus unter nur
umgekehrten Vorzeichen!
Die westliche (abendländische) Kultur
ähnelt seit ihrer Moderne selbst immer mehr ihrem eigenen
Paradoxon. Jede Kultur trägt in sich ein solches Paradoxon, das mit
zunehmenden »Alter« immer deutlicher wird, weil es immer mehr
nach außen drängt, als bekäme es immer mehr Macht, als
sei in ihm der »Wille zur Macht« am Werk. Die Westler (Abendländer)
haben die wissenschaftlich-technische Entwicklung enorm beschleunigt,
von der immer mehr und zuletzt sogar a l l e
Menschen profitieren können, aber die Westler (Abendländer)
tragen die Hauptverantwortung auch für alle negativen Nebenwirkungen
dieser wissenschaftlich-technischen Entwicklung. Was Krieg bzw. Wirtschaft
und Politik (Krieg mit anderen Mitteln) betrifft, so muß man sogar
sagen, daß die Westler (Abendländer) a l l e n
a n d e r e n Menschen sehr viel
mehr Unheil gebracht haben, als zuvor in der gesamten Menschheitsgeschichte
überhaupt summarisch an Unheil gebracht werden konnte - man kann
also in diesem Zusammenhang gar nicht mehr nur von Hauptverantwortung,
sondern muß sogar von (ich benutze dieses Wort nicht gern) Schuld
sprechen. Was eine zivilisatorische Barbarei ist, was also eine Zivilisationsbarbarei
ist, was Zivilbarbaren sind, weiß man wohl erst dann, wenn man Kulturgeschichte
und die zu ihr gehörende Zivilisationsgeschichte studiert
und dabei realisiert hat, daß nicht die von den Kulturvölkern
so genannten »Barbaren«, sondern die Zivilisierten unter den
Kulturvölkern die wirklichen, weil grausameren Barbaren sind - frei
nach dem Motto: je zivilisierter, um so barbarischer. Dies ist ein Paradoxon
und doch nur ein scheinbares, denn es kann aufgelöst werden: Kulturen
entstehen und vergehen während der größten Barbarei; sie
erreichen zwar zu einer Zeit, in der sie am wenigsten barbarisch sind,
ihren kulturellen Höhepunkt, doch sie erreichen zu einer Zeit,
in der sie am meisten barbarisch sind, ihren zivilisatorischen Höhepunkt,
denn der ist zugleich ihr kultureller Tiefpunkt. In jeder der von
mir auf meinen Webseiten präsentierten Kulturen (es sind neun, nämlich:
eine »Menschenkultur« und acht »Historienkulturen«
innerhalb dieser »Menschenkultur«) werden diese Zeiten besonders
intensiv behandelt, wobei jeder kulturelle Höhepunkt wie eine
»Sommersonnenwende« und jeder kulturelle Tiefpunkt (zivilisatorische
Höhepunkt) wie eine »Wintersonnenwende« beschrieben
werden. Bisher haben sieben der acht »Historienkulturen« ihren
kulturellen Tiefpunkt (zivilisatorischen Höhepunkt) »überlebt«,
und es bleibt abzuwarten, ob die westliche (abendländische) Kultur
als die jüngste dieser acht »Historienkulturen« ihn auch
»überleben« wird, denn sie wird ihn frühestens im
letzten Drittel des 21. Jahrhunderts, wahrscheinlich aber im 22. Jahrhundert,
doch vielleicht sogar erst im ersten Drittel des 23. Jahrhunderts erreichen.
Es würde zwar außergewöhnlich, aber nicht wirklich wunderlich
sein, wenn die westliche (abendländische) Kultur als außergewöhnlichste
der acht »Historienkulturen« wegen der eventuell (vgl. faustisch,
unendlicher Raum, unendlicher Wille, unendliches Streben u.ä.)
geringen kulturellen »Lebenserwartung« ihr »Rentenalter«
nicht erreichen würde. Doch das muß nicht so sein. Jedenfalls
ist das oben erwähnte Paradoxon weniger ein Paradoxon als ein Fehler,
der zurückgeht auf Verwechslungen und Mißverständnisse,
z.B. das Mißverständis von »Kultur« und noch mehr
das Mißverständis von »Zivilisation« und am meisten
sogar das Mißverständnis von »Moderne«.
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