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Prägnant und möglichst knapp formulierte Gedanken

von

Peter Sloterdijk (*1947)

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Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewußtsein. * (* Die erste »Aufhebung« dieser Definition findet sich in der fünften Vorüberlegung: die zweite Aufhebung im Phänomenologischen Hauptstück.)“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 37

„Die Existentialontologie, die vom Man und seinem Dasein in der Alltäglichkeit handelt, versucht etwas, was früherer Philosophie nicht im Traum eingefallen wäre: Trivialität zum Gegenstand »hoher« Theorie zu machen. Schon dies ist eine Geste, die unweigerlich den Kynismus-Verdacht auf Heidegger lenkt. Was Kritiker der Heideggerschen Existentialontologie als einen »Fehler« vorgeworfen haben, ist vielleicht ihr besonderer Witz. Sie treibt die Kunst der Platitüde in die Höhen des expliziten Begriffs. Man könnte sie lesen wie eine umgekehrte Satire, die nicht das Hohe heruntersetzt, sondern das Niedere hinauf. Sie versucht, das Selbstverständliche so ausdrücklich und ausführlich zu sagen, daß sogar Intellektuelle es »eigentlich« verstehen müßten. In gewisser Hinsicht verbirgt sich im Heideggerschen Diskurs mit seinen skurrilen Verfeinerungen der Begriffsabschattungen eine logische Eulenspiegelei großen Stils - der Versuch, mystisch einfaches Wissen vom einfachen Leben, »wie es ist«, in die fortgeschrittenste europäische Denktradition zu übersetzen. Heideggers Habitus eines Schwarzwaldbauern, der gern von der Welt zurückgezogen in seiner Hütte sitzt und grübelt, die Zipfelmütze auf dem Kopf, war nicht nur eine Äußerlichkeit. Er gehört wesentlich zu dieser Art zu philosophieren. Es steckt dieselbe anspruchsvolle Schlichtheit darin. Es zeigt, wieviel Mutwille dazu gehört, unter modernen Bedingungen überhaupt noch so etwas Einfaches und »Primitives« zu sagen, daß es sich gegen die komplexen Verschraubungen des »aufgeklärten« Bewußtseins durchsetzen kann. Wir lesen die Aussagen Heideggers über das Man, das Dasein in der Alltäglichkeit, über Gerede, Zweideutigkeit, Verfallensein und Geworfenheit etc. vor dem Hintergrund der vorangehenden Porträts von Mephisto und dem Großinquisitor: als eine Reihe von Etüden in höherer Banalität, mit der sich die Philosophie hinaustastet in das, »was der Fall ist«. Gerade in dem Heideggers existential-hermeneutische Analyse mit dem Mythos der Objektivität aufräumt, erzeugt sie den härtesten »Tiefenpositivismus«. So tritt eine Philosophie auf, die ambivalent teilhat an einem ernüchterten, säkularisierten und technisierten Zeitgeist; sie denkt jenseits von Gut und Böse und diesseits der Metaphysik; nur auf dieser dünnen Linie kann sie sich bewegen.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 370-371

„Der theoretische Neo-Kynismus unseres Jahrhunderts - die Existenzphilosophie - demonstriert in seiner Denkform das Abenteuer der Banalität. Was er vorführt, sind die Feuerwerke der Sinnlosigkeit, die sich selbst zu verstehen beginnt. Man muß sich die verächtliche Wendung verdeutlichen, mit der Heidegger im oben zitierten Motto seine Arbeit in weite Ferne von jeder »moralisierenden Kritik« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 167) rückt, als wolle er betonen, daß zeitgenössisches Denken ein für allemal die Sümpfe des Moralismus hinter sich gelassen und nichts mehr gemeinsam habe mit »Kulturphilosophie« (ebd). Die kann ja nicht mehr sein als »Aspiration« (ebd.): vergeblicher Anspruch, Großdenkerei und Weltanschauung im Stil des nicht enden wollenden 19. Jahrhunderts. Dagegen wirkt in der »rein ontologischen Absicht« die brennende Kühle der realen Modernität, die keiner bloßen Aufklärung mehr bedarf und mit aller je möglichen analytischen Kritik schon »durch« ist. Ontologisch denkend, positiv sprechend die Struktur der Existenz freilegen: zu diesem Zweck stürzt sich Heidegger, um die Subjekt-Objekt-Terminologie zu umgehen, mit beachtlichem sprachlichen Mutwillen in einen alternativen Jargon, der aus der Ferne betrachtet gewiß nicht glücklicher ist als der, den Heidegger meiden wollte, in dessen Neuartigkeit jedoch etwas vom Abenteuer des Modern-Primitiven hindurchscheint: eine Verknüpfung von Archaik und Spätzeit, eine Spiegelung des Frühesten im Letzten. In der »Ausgesprochenheit« der Heideggerschen Rede kommt das zur Sprache, was ansonsten keiner Philosophie der Rede wert ist. Eben in dem Augenblick. wo das Denken - explizit »nihilistisch« - Sinnlosigkeit als Folie jeder möglichen Sinnaussage oder Sinngebung erkennt, wird zugleich die höchste Entfaltung der Hermeneutik. d.h. der Kunst des Sinn verstehens, nötig. um den Sinn der Sinnlosigkeit philosophisch zu artikulieren. Das kann. je nach den Voraussetzungen des Lesers. ebenso aufregend wie frustrierend sein - ein Kreisen in begriffener Leere. Schattenspiel der Vernunft.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 371-372

„Was ist dieses seltsame Wesen, das Heidegger unter dem Namen Man vorführt? Es gleicht auf den ersten Blick modernen Plastiken, die keinen bestimmten Gegenstand darstellen und in deren polierte Oberflächen sich keine »besondere« Bedeutung hineinlesen läßt. Dennoch sind sie unmittelbar wirklich und zum Anfassen konkret. In diesem Sinn betont Heidegger, daß das Man keine Abstraktion sei - etwa ein Allgemeinbegriff, der »alle Iche« umfaßt, sondern möchte es, als ens realissimum, auf etwas beziehen, was in jedem von uns präsent ist. Aber es enttäuscht die Erwartung nach Personhaftigkeit, individueller Bedeutung und existentiell entschiedenem Sinn. Es existiert, aber es ist bei ihm »nichts dahinter«. Es ist da wie die moderne, nichtfigürliche Plastik: real, alltäglich, konkreter Teil einer Welt; jedoch zu keiner Zeit auf eine eigentliche Person, eine »wirkliche« Bedeutung verweisend. Das Man ist das Neutrum unseres Ich: Alltagsich, aber nicht »ich-selbst«. Es stellt gewissermaßen meine öffentliche Seite dar, meine Mediokrität. Das Man habe ich mit allen anderen gemeinsam, es ist mein öffentliches Ich, und in bezug auf es hat die Durchschnittlichkeit immer recht. Als uneigentliches Ich entlastet sich das Man von jeglicher eigener, höchst persönlicher Entschiedenheit; seiner Natur nach will es sich alles leicht machen, alles von der äußerlichen Seite nehmen und sich an den konventionellen Schein halten. In gewisser Hinsicht verhält es sich so auch zu sich selbst, denn was es »selbst« ist, das nimmt es ja auch nur so eben hin wie etwas Vorgefundenes unter anderem Gegebenem. So läßt sich dieses Man nur als etwas Unselbständiges verstehen, das nichts von sich selbst und für sich allein hat. Was es ist, wird ihm durch die andern gesagt und gegeben; das erklärt seine wesentliche Zerstreutheit; ja es bleibt verloren an die Welt, die ihm zunächst begegnet. Heidegger:
»Zunächst ›bin‹ nicht ›ich‹ im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man. Aus diesemherundalsdieseswerde ich mir ›selbst‹ zunächst ›gegeben‹. Zunächst ist das Dasein Man und zu meist bleibt es so.« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 129). »Als Man lebe ich immer schon unter der unauffälligen Herrschaft der Anderen.« »Jeder ist der Andere und keiner er selbst. Das Man ... ist das Niemand ....« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 128).
Diese Man-Beschreibung , mit der Heidegger eine Möglichkeit erobert, philosophisch vom Ich zu sprechen, ohne es im Stil der Subjekt-Objekt-Philosophie tun zu müssen, wirkt wie eine Rückübersetzung des Ausdrucks Subjekt in die Umgangssprache, wo es »das Unterworfene« bedeutet. (Im Logischen Hauptstück gehe ich dieser »übersetzung« weiter nach und untersuche, was Unterwerfen und Unterworfenwerden für die Erkenntnistheorie bedeutet. Vgl. S. 639-641; 652-659.) Wer »unterworfen« ist, meint, sich »selbst« nicht mehr zu besitzen. Nicht einmal die Sprache des Man sagt etwas Eigenes, sondern nimmt nur teil am allgemeinen »Gerede«. In dem Gerede - mit dem man Sachen sagt, die man eben sagt - verschließt sich das Man gegen das wirkliche Verstehen des eigenen Daseins sowohl wie auch der besprochenen Dinge. Im Gerede verrät sich die »Entwurzelung« und »Uneigentlichkeit« des alltäglichen Daseins. Ihm entspricht die Neugier, die flüchtig und »aufenthaltlos« dem jeweils Neuesten sich hingibt. Dem neugierigen Man geht es, soviel es auch »Kommunikation betreibt«, niemals um wirkliches Verstehen, sondern um dessen Gegenteil, Vermeidung von Einsicht, Ausweichen vor dem »eigentlichen« Blick ins Dasein. Dieses Vermeiden belegt Heidegger mit dem Begriff Zerstreuung - einem Ausdruck, der aufhorchen läßt. Wenn auch alles Bisherige durchaus überzeitlich und allgemeingültig klingen wollte, so wissen wir mit diesem Wort auf einmal, an welcher Stelle der modernen Geschichte wir stehen. Kein anderes Wort ist so vollgesogen vom spezifischen Geschmack der mittleren zwanziger Jahre - der ersten deutschen Moderne im Breitenmaßstab. Alles, was wir über das Man gehört haben, wäre letztlich unvorstellbar ohne die Realvoraussetzung der Weimarer Republik mit ihrem hektischen Nachkriegs-Lebensgefühl, ihren Massenmedien, ihrem Amerikanismus, ihrer Kultur- und Unterhal tungsindustrie, ihrem fortgeschrittenen Zerstreuungsbetrieb. Nur im zynischen, demoralisierten und demoralisierenden Klima einer Nachkriegsgesellschaft, in der die Toten nicht sterben dürfen, weil aus ihrem Untergang politisches Kapital geschlagen werden soll, kann sich aus dem »Zeitgeist« ein Impuls in die Philosophie abzweigen, das Dasein »existential« zu betrachten und die Alltäglichkeit in Gegensatz zu stellen zu dem »eigentlichen«, bewußt-entschlossenen Dasein als »Sein zum Tode«. Nur nach der militärischen Götterdämmerung, nach dem »Zerfall der Werte«, nach der coincidentia oppositorum an den Fronten des Materialkrieges, wo sich »Gut« und »Böse« gegenseitig ins Jenseits beförderten, wurde eine solche »Besinnung« auf »eigentliches Sein« möglich. Erst diese Zeit wird in radikaler Weise auf die innere Vergesellschaftung aufmerksam; sie ahnt, daß die Wirklichkeit beherrscht wird von den Gespenstern, den Imitatoren, den außengeleiteten Ich-Maschinen. Jeder könnte ein Wiedergänger sein statt seiner selbst. Doch wie soll man es erkennen? Wem sieht man noch an, ob er »er selbst« ist oder nur Man? Das erregt die penetrante Sorge der Existentialisten um die so wichtige wie unmögliche Unterscheidung zwischen dem Echten und Unechten, dem Eigentlichen und dem Uneigentlichen, dem Ausgesprochenen und dem Unausgesprochenen, dem Entschiedenen und dem Unentschiedenen (das halt »nur so« ist):
»Alles sieht aus wie echt verstanden, ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht, oder es sieht nicht so aus und ist es im Grunde doch.« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 173).
Die Sprache, scheint es, hält mühevoll das, was bloß »so aussieht«, und das, was wirklich »so ist«, noch auseinander. Doch die Erfahrung zeigt, wie alles sich verwischt. Alles sieht aus wie. An diesem Wie beißt der Philosoph herum. Für den Positivisten wäre alles, wie es ist; keine Differenz zwischen Wesen und Erscheinung - das wäre nur wieder der alte metaphysische Spuk, mit dem man Schluß machen will. Doch Heidegger beharrt auf einer Differenz und hält an dem Anderen fest, das nicht nur ist »wie«, sondern das Wesentliche, Echte, Eigentliche für sich hat. Der metaphysische Rest bei Heidegger und sein Widerstand gegen den reinen Positivismus verraten sich im Willen zur Eigentlichkeit. Es gibt noch eine andere Dimension« - auch wenn sie sich dem Aufweis entzieht, weil sie nicht zu den aufweisbaren »Dingen« gehört. Das Andere läßt sich zunächst nur behaupten, indem zu gleich versichert wird, es sehe genau so aus wie das Eine; für die äußerliche Sicht hebt sich das »Eigentliche« vom »Uneigentlichen« in keiner Weise ab.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 372-378

„Der Unterschied eigentlich-uneigentlich gibt sich rätselhafter, als er in Wahrheit ist. Soviel steht von vornherein fest: es kann nicht der Unterschied in irgendeiner »Sache« sein (schön-häßlich, wahr-falsch, gut-böse, groß-klein, wichtig-unwichtig), weil die existentiale Analyse vor diesen Unterschieden operiert. So bleibt als letzte denkbare Differenz jene zwischen dem entschlossenen und dem unentschlossenen Dasein, ich möchte sagen: zwischen dem bewußten und dem unbewußten. Doch darf man den Gegensatz bewußt-unbewußt nicht im Sinne der psychologischen Aufklärung nehmen (der Unterton: entschlossen-unentschlossen deutet eher in die gemeinte Richtung); bewußt und unbewußt sind hier nicht kognitive Gegensätze, auch nicht solche der In formation, des Wissens oder der Wissenschaft, sondern existentiale Qualitäten. Wäre es anders, so wäre das Heideggersche Pathos der »Eigentlichkeit« nicht möglich.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 380

„Die Konstruktion des Eigentlichen mündet - endlich - aus in das Theorem vom »Sein zum Tode«, für Heideggers Kritiker ein Vorwand zur billigsten Empörung: zu mehr als zu morbiden Todesgedanken kann sich die bürgerliche Philosophie nicht mehr aufraffen! Aschermittwochsphantasien in parasitären Köpfen! Nehmen wir :von solcher Kritik das Wahrheitsmoment auf, so besagt sie, daß sich in Heideggers Werk, gegen dessen Intentionen, der historisch-gesellschaftliche Augenblick spiegelt, in dem es verfaßt wurde; auch wenn es noch so sehr beteuert, ontologische Analyse zu sein, liefert es eine unfreiwillige Gegenwartstheorie. Insofern sie dies unfreiwillig ist, hat der Kritiker wohl ein Recht, eine unfreie, ja verblendete Seite an ihr zu benennen, ohne daß er von der Aufgabe entbunden wäre, die erleuchtete Seite zu würdigen. Kein Gedanke ist so intim in seine Zeit eingebettet wie der des Seins zum Tode; es ist das philosophische Schlüsselwort im Zeitalter der imperialistischen und faschistischen Weltkriege. Heideggers Theorie fällt in die Atemwende zwischen dem Ersten und Zweiten Wel krieg, die erste und zweite Modernisierung des Massentodes. Sie steht auf halbem Weg zwischen dem ersten Dreigestirn der Destruktionsindustrie: Flandern, Tannenberg, Verdun und dem zweiten: Stalingrad, Auschwitz, Hiroshima. Ohne Todesindustrie keine Zerstreuungsindustrie. Liest man Sein und Zeit nicht »bloß« als Existentialontologie, sondern auch als verschlüsselte Sozialpsychologie der Moderne, so öffnen sich Einsichten in Strukturzusammenhänge von größter Perspektive. Heidegger hat den Zusammenhang zwischen moderner »Uneigentlichkeit« der Existenz und moderner Todesfabrikation in einer Weise getroffen, die sich allein dem Zeitgenossen industrieller Weltkriege erschließen kann. Lockern wir den Bann, den der Faschismusverdacht auf Heideggers Werk geworfen hat, so verraten sich in der Formel vom »Sein zum Tode« explosive kritische Potentiale. Dann wird verständlich, daß Heideggers Todestheorie die größte Kritik des 20. Jahrhunderts am 19. birgt. Das 19. Jahrhundert nämlich hatte seine besten theoretischen Energien in den Versuch gesteckt, durch realistische Groß-Theorien den Tod der anderen denkbar zu machen. (Ich nehme hier ein Motiv Michel Foucaults auf.) Die großen evolutionistischen Entwürfe nahmen das Weltböse, soweit es andern zustößt, hinweg und hinauf in die höheren Zustände späterer, erfüllter Zeiten: hierin gibt es formale Äquivalenzen zwischen der Vorstellung von Evolution, dem Begriff der Revolution, dem Begriff der Auslese, des Kampfs ums Dasein und des Überlebens des Tüchtigeren, der Idee des Fortschritts und dem Mythos der Rasse. Mit all diesen Konzepten wird eine Optik erprobt, die den Untergang der anderen objektiviert. Mit Heideggers Todestheorie kehrt das Denken des 20. Jahrhunderts diesen hybriden, theoretisch neutralisierten Zynismen des 19. Jahrhunderts den Rücken. Äußerlich gesehen wechselt nur das Personalpronomen: »Man stribt« wird zu: »Ich sterbe«. Im bewußten Sein zum Tode revoltiert die Heideggersche Existenz gegen die »ständige Beruhigung über den Tod«, auf die eine überdestruktive Gesellschaft unbedingt angewiesen ist. Der totale Militarismus des Industriekrieges erzwingt in den Alltagszuständen eine mögliche lückenlose narkotische Todesverdrängung - oder die Abwälzung des Todes auf die andern: das ist das Gesetz der modernen Zerstreuung. Die Weltlage ist eine solche, daß sie den Menschen, würden sie aufmerken, zuflüstert: Eure Vernichtung ist bloß eine Frage der Zeit, und die Zeit, die die Vernichtung braucht, bis sie euch erreicht, ist zugleich die Zeit eurer Zerstreuung. Die kommende Vernichtung setzt ja eure Zerstreuung, eure Nichtentschlossenheit zum Leben voraus. Das zerstreute Man ist der Modus unseres Existierens, durch den wir selber in den allgemeinen Todeszusammenhängen stecken und mit der Todesindustrie kooperieren. Ich möchte behaupten, daß Heidegger den Anfang des Fadens zu einer Philosophie der Aufrüstung in Händen hält: denn Aufrüsten heißt, sich dem Gesetz des Man unterwerfen. Einer der eindrucksvollsten Sätze aus Sein und Zeit lautet: »Das Man läßt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 254). Wer aufrüstet, ersetzt den »Mut zur Angst vor dem eigenen Tod« durch militärischen Betrieb. Das Militär ist der größte Garant dessen, daß ich nicht meinen »eigenen Tod« sterben muß; es verspricht mir Hilfe beim Versuch, das »Ich sterbe« zu verdrängen, um an seiner Stelle einen Man-Tod zu bekommen, einen Tod in absentia, einen Tod in politischer Uneigentlichkeit und Betäubung. Man rüstet, man zerstreut sich, man stirbt.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 380-383

„Ich finde in Heideggers »Ich sterbe« den Kristallisationskern, um den sich eine Realphilosophie des erneuerten Kynismus entfalten kann. Kein Weltzweck darf sich je von diesem kynischen Apriori: »Ich sterbe« so weit entfernen, daß unsere Tode Mittel zum Zweck werden. Die Sinnlosigkeit des Lebens - um die sich soviel dummes Nihilismusgeschwätz schlingt - begründet ja erst dessen volle Kostbarkeit. Dem Sinnlosen ist nicht nur die Verzweiflung und der Alptraum eines bedrückten Daseins zugeordnet, sondern auch sinnstiftende Lebensfeier, energetisches Bewußtsein im Hier und Jetzt und ozeanisches Fest.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 383

„Was die Gesellschaft uns als Zwecke in ihrem Betrieb vorgibt, bindet uns immer schon ins uneigentliche Dasein. Der Weltbetrieb tut alles, um den Tod zu verdrängen - während doch »eigentliches« Existieren sich erst daran entzündet, daß ich wach erkenne, wie ich in der Welt stehe, Aug in Aug mit der Todesangst, die sich meldet, wenn ich im voraus radikal den Gedanken vollziehe, daß ich es bin, auf den am Ende meiner Zeit mein Tod wartet. Heidegger folgert hieraus eine ursprüngliche Un-heimlichkeit des Daseins; die Welt könne ja niemals das sichere, Geborgenheit spendende Zuhause des Menschen werden. Weil das Dasein von Grund auf unheimlich ist, spürt der »unbehauste Mensch« (...) einen Drang, sich in künstliche Behausungen und Heimaten zu flüchten und sich aus der Angst in die Gewöhnungen und Wohnungen zurückzuziehen.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 384

„Heidegger ist nicht umsonst ein Zeitgenosse des Bauhauses, des Neuen Wohnens, des frühen Urbanismus, des Sozialwohnungsbaus, der Siedlungstheorie und der ersten Landkommunen. Sein philosophischer Diskurs hat verschlüsselt Anteil an der modernen Problematisierung der Wohngefühle, des Mythos Haus, des Mythos Stadt. Wenn er von der Unbehaustheit des Menschen redet, so ist das nicht nur gespeist aus dem Grauen, das der unverbesserliche Provinzler angesichts moderner großstädtischer Lebensformen empfindet. Es ist geradezu eine Absage an die häuserbauende, städtebauende Utopie unserer Zivilisation. Tatsächlich bedeutet der Sozialismus, sofern er lndustriebejaher sein muß, eine Verlängerung des städtischen »Geistes der Utopie«; er verspricht ja, aus der »Unwirtlichkeit der Städte« hinauszuführen, jedoch mit städtischen Mitteln, und hat eine neue Stadt, die endgültige Menschenstadt und Heimat vor Augen. So steckt im Sozialismus dieses Typs immer schon ein von städtischer Misere mitgenährter Traum. Heideggers Provinzialismus hat dafür kein Verständnis. Er blickt auf die Stadt mit den Augen einer »ewigen Provinz«, die sich nicht einreden läßt, daß je etwas Besseres an die Stelle des Landes treten könnte. Heidegger, so darf der gutwillige lnterpret sagen, durchbricht die modernen Raumphantasien, wobei die Stadt vom Land träumt und das Land von der Stadt. Beide Phantasmen sind gleich bedingt und gleich verzerrt. Heidegger vollzieht, teils buchstäblich, teils metaphorisch verstanden, eine »posthistorische« Rückkehr aufs Land.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 384-386

„Gerade in den Jahren der wüstesten Modernisierung - den sog. goldenen Zwanzigern - beginnt die Stadt, einst der Ort der Utopie, ihren Zauber einzubüßen, und vor allem Berlin, Hauptstadt des frühen 20. Jahrhunderts, trägt das Seine dazu bei, die Metropoleneuphorie in ein ernüchterndes Licht zu tauchen. Als Brennpunkt der Industrie, der Produktion, des Konsums und des Massenelends ist sie zugleich der Entfremdung am meisten ausgeliefert; nirgendwo läßt sich Modernität so teuer bezahlen wie in den Massenstädten. Das Vokabular der Heideggerschen Man-Analyse scheint wie geschaffen, dem Unbehagen gebildeter Städter an der eigenen Lebensform Ausdruck zu geben. Zerstreuungskultur, Gerede, Neugier, Unbehaustheit, Verfallenheit (an alle möglichen Laster dürfte man mitdenken), Obdachlosigkeit, Angst, Sein zum Tode: das klingt alles wie Großstadtmisere, in einem etwas trüben, etwas zu feinen Spiegel eingefangen. Heideggers Provinzkynismus hat eine heftige kulturkritische Tendenz. Aber es bezeugt nicht nur einen hoffnungslosen Provinzialismus, wenn ein Philosoph seines Ranges sich von den bürgerlich-städtischen und sozialistischen Utopien abkehrt, sondern deutet auf eine kynische Kehre, in dem Sinne, daß sie die großen Ziele und Projektionen des städtischen Gesellschaftstraums außer Kraft setzt. Die Wendung zur Provinz kann auch eine Wendung zu wirklicher Makrohistorie sein, die von den Regulierungen des Lebens im Rahmen von Natur, Agrikultur und Okologie präziser Notiz nimmt, als alle bisherigen Industriewelt bilder es konnten. Die Geschichte, die ein Industriehistoriker schreibt, wird notgedrungen Mikrohistorie. Die Geschichte des Landes kennt den Puls einer viel gröeren Zeitlichkeit. Auf kurze Formeln gebracht: die Stadt ist nicht die Erfüllung der Existenz; die Ziele des Industriekapitalismus sind es auch nicht; wissenschaftlicher Fortschritt ist es auch nicht; mehr Zivilisation, mehr Kino, schöner Wohnen, länger Autofahren, besser Essen: das alles ist es nicht. Das »Eigentliche« wird immer etwas anderes sein. Du mußt wissen, wer du bist. Bewußt mußt du das Sein zum Tode erfahren als höchste Instanz deines Seinkönnens; in der Angst fällt es dich an, und dein Augenblick ist gekommen, wenn du mutig genug bist, der großen Angst standzuhalten. “
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 386-387

„»Eigentliche Angst ist ... bei der Vorherrschaft des Verfallens und der Öffentlichkeit selten« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 190). Wer auf das Seltene setzt, trifft eine elitäre Wahl. Eigentlichkeit sei also eine Sache der wenigen. Woran erinnert das? Hören wir nicht wieder den Großinquisitor, wie er zwischen den wenigen und den vielen unterscheidet - den wenigen, die die Last der großen Freiheit ertragen, und den vielen, die als rebellische Sklaven leben wollen und nicht bereit sind, wirklicher Freiheit, wirklicher Angst, wirklichem Sein zu begegnen? Dieser völlig apolitisch gemeinte Elitismus, der eine Elite der wirklich Existierenden annimmt, mußte fast unweigerlich ins Gesellschaftliche hinübergleiten und politische Optionen lenken. Der Großinquisitor besaß hierbei den Vorsprung eines illusionslosen und zynischen politischen Bewußtseins. Heidegger hingegen war ein Naiver geblieben, ohne klares Bewußtsein dessen, daß aus dem traditionellen Gemisch von akademischem Apolitismus, Elitebewußtsein und heroischer Stimmung fast mit blinder Notwendigkeit unbegriffene politische Entscheidungen hervorgehen. Eine Zeitlang fiel er - man möchte sagen also - auf den Zynismus des völkischen Großinquisitors herein. Seine Analyse bewahrheitete sich unfreiwillig an ihm selbst. Alles sieht aus wie. Es klingt wie »echt verstanden, ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht«. Der Nationalsozialismus - »Bewegung«, »Aufstand«, »Entscheidung« - schien Heideggers Vision von Eigentlichkeit, Entschlossenheit und heroischem Sein zum Tode zu ähneln, als wäre der Faschismus die Wiedergeburt des Eigentlichen aus der Verfallenheit, als wäre diese moderne Revolte gegen die Modernität der wirkliche Beweis einer zu sich selbst entschlossenen Existenz. Man muß an Heidegger denken, wenn man Hannah Arendts souveräne Bemerkung über jene Intellektuellen im Dritten Reich zitiert, die zwar keine Faschisten waren, sich aber zum Nationalsozialismus »etwas einfallen ließen«. Tatsächlich hat sich Heidegger allerhand einfallen lassen, bis er merkte, was es »eigentlich« mit dieser politischen Bewegung auf sich hatte. Der Trug konnte nicht lange dauern. Gerade die NS-Bewegung sollte klarmachen, was das völkische Man alles in petto hat - das Man als Herrenmensch, das Man als zugleich narzißtische und autoritäre Masse, das Man als Lustmörder und Tötungsbeamter. Die »Eigentlichkeit« des Faschismus - seine einzige - bestand darin, daß er latente Destruktivität in manifeste verwandelte und somit in höchst zeitgemäßer Weise teilnahm an dem Zynismus offener »Ausgesprochenheit«, die mit nichts mehr hinterm Berg hält. Faschismus, vor allem in der deutschen Spielart, ist die » Unverborgenheit« der politischen Destruktivität, auf die nackteste Form gebracht und durch die Formel vom »Willen zur Macht« zu sich selbst ermutigt. Es geschah, als ob Nietzsche in der Art eines Psychotherapeuten zur kapitalistischen Gesellschaft gesagt härte: »Vom Willen zur Macht seid ihr im Grund ja zerfressen, also laßt es endlich offen heraus und bekennt euch zu dem, was ihr ohnehin seid!« *  -  woraufhin die Nazis tatsächlich dazu übergingen, »es« heraus zulassen, jedoch nicht unter therapeutischen Bedingungen, sondern inmitten der politischen Realität.
* Eine Würdigung Nietzsches wird immer stark davon abhängen, wie man den » Willen zur Macht« auffaßt. Ermunterung zu imperialem Zynismus? Kathartisches Geständnis ? Ästhetisches Motto ? Selbstkorrektur eines Gehemmten ? Vitalistischer Slogan? Metaphysik des Narzißmus? Enthemmungspropaganda?
Vielleicht war es Nietzsches theoretischer Leichtsinn, der ihn glauben ließ, daß Philosophie sich in provokativen Diagnosen erschöpfen dürfe, ohne zugleich verbindlich an Therapie zu denken. Den Teufel darf nur beim Namen nennen, wer eine Abreaktion für ihn weiß; ihn nennen (sei es Wille zur Macht, sei es Aggression etc.) heißt, seine Realität anerkennen, sie anerkennen heißt, sie »entfesseln«.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 387-390

„Seit Heidegger ist, stark chiffriert, aber doch schon lesbar, ein Abkömmling des antiken kynischen Impulses wieder dabei, zivilisationskritisch ins soziale Geschehen einzugreifen; er führt letztendlich das moderne Technik- und Herrschaftsbewußtsein ad absurdum. Vielleicht nimmt man der Existentialontologie viel von ihrer anmaßenden Düsterkelt, wenn man sle als phllosophlsche Eulenspiegelei versteht. Sie macht den Leuten allerhand vor, um sie dahin zu bringen, wo sie sich nichts mehr vormachen lassen; sie gibt sich furchtbar spröde, um das Emfachste zu vermltteln. Ich nenne es: Kymsmus der Zwecke. Inspiriert vom Kynismus der Zwecke könnte einem Leben wieder warm werden, das am Zynismus der Mittel die Kälte des Machens, Herrschens und Zerstörens erlernt hat. Die Kritik der instrumentellen Vernunft drängt darauf, als Kritik der zynischen Vernunft zuendegeführt zu werden. In ihr geht es darum, Heideggers Pathos zu entkrampfen und es von der Anklammerung an das bloße Todesbewußtsein zu befreien. »Eigentlichkeit«, wenn der Ausdruck überhaupt Sinn geben soll, erfahren wir eher in Liebe und sexuellem Rausch, in Ironie und Gelächter, Kreativität und Verantwortung, Meditation und Ekstase. Bei dieser Entkrampfung verschwindet jener existentialistische Einzige, der am eigenen Tod sein eigenstes Eigentum zu haben meint. Auf dem Gipfel des Seinkönnens erfahren wir nicht nur den Weltuntergang im einsamen Tod, sondern mehr noch den Ich-Untergang in der Hingabe an die gemeinsamste Welt. “
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 390

„Zugegeben, der Tod hat zwischen den Weltkriegen die philosophische Phantasie überschattet und das ius primae noctis mit dem Kynismus der Zwecke für sich beansprucht, zumindest in der Philosophie. Doch sagt es nichts Gutes über das Verhältnis der Existenzphilosophie zur realen Existenz, wenn ihr nur der »eigene Tod« in den Sinn kommt, wenn man sie fragt, was sie zum wirklichen Leben zu sagen habe. Eigentlich sagt sie, daß sie nichts zu sagen hat - und zu diesem Zweck muß sie nichts mit großem N schreiben. Dieses Paradox kennnzeichnet die gewaltige Denkbewegung des Buches Sein und Zeit: ein so großer Begriffsreichtum wurde kaum je eingesetzt, um einen im mystischen Sinne so »armen« Inhalt zu transportieren. Das Werk dringt auf den Leser ein mit einem pathetischen Aufruf zur eigentlichen Existenz, hüllt sich aber in Schweigen, wenn man fragen wollte: wie denn? Die einzige, allerdings fundamentale Antwort, die sich herausziehen ließe, müßte, entschlüsselt (im obigen Sinne) lauten: bewußt. Das ist keine konkrete Moral mehr, die Anweisungen zum Tun und Lassen gibt. Aber wenn der Philosoph nichts mehr an Direktiven zu geben vermag, so doch eine eindringliche Suggestion zur Eigentlichkeit. Also: Du magst tun, was du willst, du magst tun, was du mußt; aber tu es in einer Weise, daß du dir dessen, was du tust, intensiv bewußt bleiben kannst. Moralischer Amoralismus - das letzte mögliche Wort der Existentialontologie zur Ethik? Es scheint, das Ethos bewußten Lebens wäre das einzige, das in den nihilistischen Strömungen der Moderne sich behaupten kann, weil es im Grunde genommen keines ist. Es erfüllt nicht einmal die Funktion einer Ersatzmoral (von der Art der Utopien, die das Gute in die Zukunft legen und das Böse auf dem Weg dorthin relativieren helfen). Wer wirklich im Jenseits von Gut und Böse denkt, findet nur noch einen einzigen für das Leben belangvollen Gegensatz, der zugleich der einzige ist, über den wir ohne idealistische Überanstrengungen aus unserem eigenen Dasein heraus Macht haben: den zwischen bewußtem und unbewußtem Tun. Wenn Sigmund Freud in einer berühmten Forderung den Satz aufstellte: Wo Es war, soll Ich werden, würde Heidegger sagen: Wo Man war, soll Eigentlichkeit werden. Eigentlichkeit wäre - frei interpretiert - jener Zustand, den wir erlangen, wenn wir in unserem Dasein ein Kontinuum der Bewußtheit herstellen. (Dies ist ein modemes Äquivalent für das Delphische Erkenne-Dich-Selbst. Das Freudsche Ich fällt eher ins Man. Ist der Psychoanalysierte ein Angepaßter, Nivellierter?) Nur das bricht den Bann der Unbewußtheit, unter dem menschliches Leben, zumal als vergesellschaftetes, lebt; das zerstreute Bewußtsein des Man ist dazu verurteilt, diskontinuierlich, impulsiv-reaktiv, automatisch und unfrei zu bleiben. Das Man ist das Müssen. Demgegenüber erarbeitet sich bewußte Eigentlichkeit - wir akzeptieren provisorisch diesen Ausdruck - eine höhere Qualität von Wachheit. Sie legt in ihr Tun den ganzen Nachdruck ihrer Entschiedenheit und Energie. Der Buddhismus spricht davon in vergleichbaren Wendungen. Während das Man-Ich schläft, ist das Dasein des eigentlichen Selbst zu sich erwacht. Wer sich selbst in einem kontinuierlichen Wachsein erforscht, findet aus seiner Situation, jenseits der Moralen, was für ihn zu tun ist.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 390-392

„Wie tief Heideggers systematischer Amoralismus **  reicht, zeigt sich an seiner Umdeutung des Begriffs Gewissen: er konstruiert, zugleich vorsichtig und revolutionär, ein »gewissenloses Gewissen«.
** Dieser reflektierte Amoralismus, der paradoxerweise das stumme Versprechen einer authentischen Sittlichkeit in sich trägt, hat seinen Gegner im sozialistischen Moralismus gefunden. Auch die jüngere kritische Theorie hat sich von dem sensibilistischen Quasi-Amotalismus der ästhetischen Theorie Adornos losgesagt und steuert in direkter Argumentation auf eine positive Ethik zu. Das mag in gewisser Hinsicht einen Fortschritt bedeuten - wenn es nur der Gefahr entgeht, hinter die radikale Modernität des existentialistischen und ästhetischen Amoralismus zurückzufallen. Dieser verarbeitet ja bereits die modernen Erfahrungen mit jeglicher Moral und allen Kategorischen Imperativen: weil diese Formen des »Sollens« in idealistischen Überanstrengungen enden, gebiert die imperative Ethik ihre eigenen Totengräber - Skepsis, Resignation, Zynismus. Der Moralismus treibt uns mit seinem Du-sollst unweigerlich in ein Ich-kann-nicht. Der Amoralismus hingegen, der vom Du-kannst ausgeht, rechnet realistisch mit der Chance, daß das, was »ich kann«, am Ende auch das Richtige sein wird. Die Wendung zur praktischen Philosophie, die jedes heutige halbwegs weltgängige Grundlagendenken erfreulich auszeichnet, darf uns nicht in Versuchung bringen, wieder mit einem kategorischen Imperativ auf das Sein loszugehen. Kynische Vernunft entwickelt daher eine nichtimperative Ethik, die zum Können ermutigt, statt uns in die depressiven Komplikationen des Sollens zu verstricken
Galt Gewissen in den Jahrtausenden der europäischen Moralgeschichte als innere Instanz, die mir sagt, was Gut und Böse seien, so versteht Heidegger es nun als ein leeres Gewissen, das keine Aussagen macht. »Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens.« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 273) Wieder erscheint Heideggers charakteristische Denkfigur, die nichts-sagende Intensität. Jenseits von Gut und Böse gibt es nur das »laute« Schweigen, das in tensive nicht-urteilende Bewußtsein, das sich darauf beschränkt, wach zu sehen, was der Fall ist. Gewissen - einst als inhaltliche moralische Instanz verstanden - nähert sich nun dem puren Bewußt-Sein. Moral, als Teilhabe an sozialen Konventionen und Prinzipien, betrifft nur das Verhalten des Man. Als Domäne des eigentlichen Selbst bleibt nur reines entschlossenes Bewußtsein zurück: vibrierende Präsenz. “
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 392-393

„In einem pathetischen Gedankengang entdeckt Heidegger, daß dieses »gewissenlose Gewissen« einen Aufruf enthalte, der an uns ergeht - einen »Aufruf zum Schuldigsein«. Schuldig woran? Keine Antwort. Ist »eigentliches« Leben in irgendeiner Hinsicht denn a priori schuldig? Kehrt hier die christliche Erbsündenlehre heimlich wieder? Dann hätten wir den Moralismus nur zum Schein verlassen. Wenn aber das eigentliche Selbst sein als das Sein zum Tode beschrieben wird, so liegt der Gedanke nahe, daß dieser »Aufruf zum Schuldigsein« eine existentielle Verbindung herstellt zwischen dem eigenen Noch-am-Leben-Sein und dem Tod der anderen. Leben als Sterbenlassen; der eigentlich Lebende ist einer, der sich als Überlebenden versteht, als jemand, an dem der Tod eben noch vorübergegangen ist und der den Zeitraum bis zur erneuten, definitiven Begegnung mit dem Tod als Aufschub begreift. In diese äußerste Grenzzone amoralischer Reflexion dringt Heideggers Analyse sinngemäß vor. Daß er sich bewußt ist, auf explosivem Boden zu stehen, verrät seine Frage: »Aufrufen zum Schuldigsein, sagt das nicht Aufruf zur Bosheit?« Könnte es eine »Eigentlichkeit« geben, in der wir uns als entschiedene Täter des Bösen zeigen? So wie die Faschisten sich auf Nietzsches Jenseits von Gut und Böse beriefen, um äußerst diesseitig das Böse zu tun? Heidegger schreckt vor dieser Konsequenz zurück. Der Amoralismus des »gewissenlosen Gewissens« ist nicht als Aufruf zur Bosheit gemeint, so wird versichert. Immerhin macht sich der Heidegger von 1927 noch diese ahnungsvolle Sorge, versäumte aber 1933 den Augenblick der Wahrheit - und so ließ er sich von der aktivistischen, dezisionistischen und heroischen Phrasenhülle der Hitlerbewegung täuschen. Der politisch Naive glaubte, im Faschismus eine »Politik der Eigentlichkeit« zu finden und gestattete sich, ahnungslos wie nur ein ... Universitätsprofessor sein konnte, eine Projektion seiner Philosopheme auf die nationale Bewegung.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 393-394

„Doch es gilt zu sehen: Heidegger wäre, seiner zentralen, Denkleistung nach, auch dann kein Mann der Rechten, wenn er politisch noch verworrenere Sachen gesagt hätte, als es der Fall ist. Denn er sprengte mit seinem, wie ich es nenne, Kynismus der Zwecke als erster die utopisch-moralistischen Großtheorien des 19. Jahrhunderts. Er bleibt mit dieser Leistung einer der Ersten in der Genealogie einer Neuen und Anderen Linken: einer Linken, die sich nicht mehr an die hybriden geschichtsphilosophischen Konstruktionen des 19. Jahrhunderts klammert; die sich nicht im Stil der dogmatisch-marxistischen Großtheorie (ich ziehe diesen Ausdruck dem Wort Weltanschauung vor) für die Komplizin des Weltgeistes hält; die nicht auf die Dogmatik der industriellen Entwicklung ohne Wenn und Aber eingeschworen ist; die die borniert materialistische Tradition, die sie belastet, revidiert; die nicht nur davon ausgeht, daß die anderen sterben müssen, damit die »eigene Sache« durchkommt, sondern die aus der Einsicht lebt, daß es dem Lebendigen nur auf sich selbst ankommen kann; die in keiner Weise mehr an dem naiven Glauben hängt, Vergesellschaftung wäre das Allheilmittel gegen die Mißstände der Modernität. Ohne es zu wissen und zum guten Teil sogar ohne es wissen zu wollen (hierzulande sogar mit wütender Entschlossenheit, es nicht wahrzuhaben), ist die Neue Linke eine existentialistische Linke, eine neo-kynische Linke ich riskiere den Ausdruck: eine Heideggersche Linke. Das ist, besonders im Land der Kritischen Theorie, die ein schier undurchlässiges Tabu über den »faschistischen« Ontologen verhängt hat, ein ziemlich pikanter Befund. Doch wer hat die Abstoßungsvorgänge zwischen den existentialistischen Richtungen und der links-hegelianischen kritischen Sozialforschung gründlich und genau untersucht? Gibt es nicht eine Fülle geheimer Ähnlichkeiten und Analogien zwischen Adorno und Heidegger? Welche Gründe beherrschen die augen fällige Kommunikationsverweigerung zwischen ihnen? (Dieser Fragen hat sich jüngst Hermann Mörchens große Studie über Heidegger und Adorno angenommen.) Wer könnte sagen, welcher von beiden die »traurigere Wissenschaft« formuliert hat?“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 394-396

„Wir haben den Zynismusbegriff bisher in zwei Fassungen vorgetragen, und eine dritte zeichnet sich nach dem Kabinett der Zyniker ab. In der ersten heißt es: Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewußtsein - das unglückliche Bewußtsein in modernisierter Form. Der Ansatz ist hierbei ein intuitiver, bei einem Paradox beginnend; er artikuliert ein Unbehagen, das die moderne Welt durchtränkt sieht von kulturellen Wahnwitzigkeiten, falschen Hoffnungen und deren Enttäuschung, vom Fortschritt des Verrückten und vom Stillstand der Vernunft, von dem tiefen Riß, der durch die modernen Bewußtseine geht und der für alle Zeiten das Vernünftige und das Wirkliche, das, was man weiß, und das, was man tut, voneinander zu trennen scheint. Bei der Beschreibung gelangten wir zu einer Pathographie, die schizoide Phänomene abtastete; sie versuchte, Worte zu finden für die pervers komplizierten Strukturen eines reflexiv gewordenen, fast mehr tristen als falschen Bewußtseins, das unter Zwängen der Selbsterhaltung in einem permanenten Selbstdementi abgewirtschaftet weiterwirtschaftet.  –  In der zweiten Fassung bekommt der Begriff Zynismus eine historische Dimension; eine Spannung zeigt sich, die in der antiken Zivilisationskritik unter dem Namen Kynismus erstmals Ausdruck gefunden hatte. der Drang von Individuen, gegen die Verdrehungen und Halbvernünftigkeiten ihrer Gesellschaften sich selbst als vollvernünftig-lebendige Wesen zu erhalten, Dasein im Widerstand, im Gelächter, in der Verweigerung, in der Berufung auf die ganze Natur und das volle Leben .... Den Begriff Zynismus reservieren wir für die Replik der Herrschenden und der herrschenden Kultur auf die kynische Provokation; sie sehen durchaus was Wahres daran, fahren aber mit der Unterdrückung fort. Sie wissen von nun an, was sie tun. Der Begriff erfährt hier eine Aufspaltung ins Gegensatzpaar: Kynismus - Zynismus, das sinngemäß korrespondiert mit Widerstand und Repression, genauer: Selbstverkörperung im Widerstand und Selbstspaltung in der Repression. Vom historischen Ausgangspunkt wird damit das Phänomen Kynismus abgelöst und zum Typus stilisiert, der historisch immer wieder auftaucht, wo in Krisenzivilisationen und Zivislisationskrisen die Bewußtseine aufeinanderstoßen. Kynismus und Zynismus sind demnach Konstanten unserer Geschichte, typische Formen eines polemischen Bewußtseins »von unten« und »von oben«. In ihnen kommt das Widerspiel von Hoch- und Volks-Kulturen als die Enthüllung der Paradoxien im Innern der hochkulturellen Ethiken zur Entfaltung.  –  Hier wird nun die dritte Fassung des Zynismusbegriffs weitergehen zu einer Phänomenologie polemischer Bewußtseinsformen. Die Polemik dreht sich allemal um die richtige Erfassung der Wahrheit als »nackter« Wahrheit. Das zynische Denken nämlich kann nur erscheinen, wo von den Dingen zwei Ansichten möglich geworden sind, eine offizielle udn eine inoffizielle, eine verhüllte und eine nackte, eine aus der Sicht der Helden und eine aus der Sicht der kammerdiener. In einer Kultur, in der man regelmäßig belogen wird, will man nicht bloß die wahrheit wissen, sondern die nackte Wahrheit. Wo nicht sein kann, was nicht sein darf, muß man herausbringen, wie die »nackten« Tatsachen ausehen, egal, was die Moral dazu sagen wird. In gewisser Weise sind »herrschen« und »lügen« synonyme. Herrscherwahrheit und Dienerwahrheit lauten verschieden. In dieser phänomenologischen Sichtung streitbarer Bewußtseinsfromen müssen wir die Parteinahme zugunsten des kynischen Standpunktes »aufheben« ....“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 399-401

„Ich plädiere für eine Fortsetzung des phänomenologischen Weges.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 601

„Die Neugier nach den Gründen der Neugier sucht - auch sie sucht (!) - nach Aufklärungen über die Aufklärung und muß sich darum ihrerseits nach den Gründen ihrer Neugier befragen lassen. Gegenaufklärerische Neigungen? Reaktion? Unbehagen in der Aufklärung? Wir wollen wissen, was es mit dem Wissenwollen auf sich hat. Zuviel »Wissen« gibt es, von dem man aus den verschiedensten Gründen wünschen dürfte, wir hätten es nicht gefunden und keine »Aufklärung« darüber gewonnen. Unter den »Erkenntnissen« sind allzu viele angsterregende. Wenn Wissen Macht ist, so begegnet uns heute das einstige Unheimliche, die undurchschaute Macht in der Form von Erkenntnissen, von Transparenz, von durchschaubaren Zusammenhängen. Wenn einst Aufklärung - in jedem Wortsinn - der Angstminderung durch Mehrung von Macht diente, so ist heute ein Punkt erreicht, wo Aufklärung in das einmündet, was zu verhindern sie angetreten war, Amngstmehrung. Das Unheimliche, das abgewendet werden sollte, kommt aus dem Schutzmittel wieder zum Vorschein.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 602-603

„Rationalismus und Mißtrauen sind verschwisterte Impulse, beide eng mit der gesellschaftlichen Dynamik der aufsteigenden Bourgeosie und des neuzeitlichen Staates verbunden. Im Ringen verfeindeter und konkurrierender Subjekte und Staaten um Selbsterhaltung und Hegemonie wird eine neue From von Realismus hervorgetrieben - eine, die ihren Motor in der Sorge besitzt, Opfer von Täuschung oder Überwältigung zu werden. Alles, was uns »erscheint«, könnte ja ein Täuschungsmanöver eines überwältigenden, bösen Feindes sein. Descartes geht in seinem Zweifelsbeweis bis zu der monströsen Erwägung, es möchte vielleicht die ganze Erscheinungswelt nur ein zu unserer Täuschung berechnetes Blendwerk des genius malignus sein.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 603

„Aufklärung besitzt in ihrem Kern einen polemischen Realismus, der den Erscheinungen den Krieg erklärt: nur noch die nackten Wahrheiten, die nackten Tatsachen sollen gelten. Denn die Täuschungen, mit denen der Aufklärer rechnet, werden als zwar raffinierte, aber doch durchschaubare, entlarvbare Manöver eingeschätzt. Verum et fictum convertuntur. Die Täuschungen sind durchschaubar, weil sie selbstgemacht sind. Was sich in dieser Welt von selbst versteht, sind Betrogenwerden, Drohung, Gefahr, nicht Offenheit, Angebot, Sicherheit. Wahrheit ist also nie »einfach so« zu haben, sondern nur im zweiten Anlauf, als Produkt der Kritik, die zerstört, was zuvor der Fall zu sein schien. Wahrheit wird nicht harmlos und kampflos »entdeckt«, sondern errungen in einem mühseligen Sieg über ihre Vorgänger, die ihre Maskierung und ihr Gegenteil sind. Die Welt platzt aus den Nähten vor Problemen, Gefahren, Täuschungen und Abgründen, sobald der Blick mißtrauischer Forschung sie durchdringt.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 603-604

„Wir folgten im Groben der Reihe der Kardinalzynismen, um in sechs Schritten die wesentlichen Manifestationen und Dimensionen von »Aufklärung« asl polemischer Empirie abzuhandeln: Krieg und Spionage; Polizei und Aufklärung im Klassenkampf; Sexualität und Selbstverfeindung; Medizin und Krankheitsverdacht; Tod und Metaphysik; Naturwissenschaft und Waffentechnik. Daß diese polemische Phänomenologie einen Zirkel vom Kriegswissen zur Naturwissenschaft von der Waffe schlägt, ist nicht zufällig; wir bereiten hier »Transzendentale Polemik« des nächsten Abschnitts vor; sie beschreibt, wie hinter einer Reihe von Neugierden Kampfzwänge wirken, die die »Erkenntnisinteressen« steuern. In dieser Phänomenologie vollziehen wir die charakteristischen Tastbewegungen einer sich selbst noch suchenden »Vollmoderne«, die es lernt, die Produktivität des cartesischen Zweifels zu bezweifeln und den Maßlosigkeiten des aufkläreroischen Mißtrauens zu mißtrauen.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 604-605

„Wäre unser Leben ein normales endliches Buch, so verbleiben bei ihm ... zwischen dem vorderen Einband und der Stelle, wo wir für uns selbst zu reden beginnen ein Bündel nicht aufzuschlagender Seiten. Das besagt nichts anderes, als daß für Menschen, als endlich sprechende Wesen, der Seinsanfang und der Sprachanfang unter keinen Umständen zusammenfallen. Denn fängt die Sprache an, so ist das Sein schon da; will man mit dem Sein beginnen, versinkt man im schwarzen Loch der Sprachlosigkeit.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 38

„Ich war schon zur Zeit meines Universitätsstudiums stark angezogemn vom Werk Wilhelm Diltheys, eines der Begründer der modernen Geisteswissenschaften. Dilthey war nicht nur der große Denker der geschichtlichen Tatsachen, der es sich vorgenommen hatte, eine Kritik der historischen Vernunft zu schaffen; er war auch der erste bemerkenswerte Theoretiker der Autobiographie. Dilthey ging an der Autobiographie ein philosophisches Problem ersten Ranges auf. Sehr vereinfacht gesprochen: Er gab sich auf die Frage: wie ist historische Erkenntnis überhaupt möglich? die Antwort: so wie autobiographische Selbstkenntnis möglich ist.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 40

„Ich komme auf die Idee einer radikalen Autobiographik zurück und erinnere an das Pathos des Zuständigseins für das ganze eigene Leben. einschließlich seiner dunklen Anfangsprägungen. .... Ist nicht die Anfangsvergessenheit, die fast alle natürlich vorkommenden Formen von Selbstbewußtsein prägt, selbst eine Tatsache, die im höchsten Grad zu denken geben müßte? Ist nicht die Enteignung des Selbstbewußtseins von seinem Beginn nicht auch ein verräterisches Faktum, das auf ein Fehlen deutet und so eloquent ist wie das Schweigen, mit denen in manchen Familien die Existenz gewisser Verwandter umgeben wird? Ich muß, wenn ich die Idee der Autobiographie an ihrer dunkelsten Stelle verteidigen will, daran festhalten, daß mein realer Seinsanfang zu mir gehört, auch wenn mein Erzählenkönnen nicht an ihn heranreicht.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 49

„Erst wenn er (Sokrates) selbst es soweit gebracht hat, keine Meinungen und keine Theorien mehr in die Welt zu setzen, kann er die Aufgabe übernehmen, die Meinungsschwangeren und Theoriegeblähten zu entbinden.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 83

„Damit die Seele zur Welt und unser Bestes zu sich und anderen komme, dürfen sich keine bestimmenden Vorstellungen und keine positiven Überzeugungen in ihr eingenistet haben. Um solchen Einnistungen auf die Spur zu kommen, verfährt die sokratische Maieutik konsequent aufdeckend und destruktiv. Ihr Ziel ist es, die Gesprächspartner in den Lichthof eines allbefassenden hellen Nichtwissens zu führen und sie zum Gewahrwerden der Unhaltbarkeit und Überflüssigkeit aller vorgefundenen fixen Meinungen zu bringen. .... Für diesen Vorgang (des Wissens, als wüßte man nicht) halten die Ideenhistoriker die mißverständliche Redensart vom Wissen des Nichtwissens bereit, durch die der Akzent auf Wissen sich wiederum einschleicht ....“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 85-86

„Die Geburtshilfe für die Seele wird dadurch wirksam, daß diese mit Hilfe von Widerlegungen und Beschämungen in ausweglose Lagen gebracht wird, durch die sie in den Schwebezustand des Nichtwissens zurückfällt. Wenn der Denkende nicht mehr ein noch aus weiß, ist er nicht mehr weit von der Weisheit. Paradoxerweise kommt die Seele der Denkenden nur dann rein zur Welt, wenn sie in eine fötale Negativität versetzt wird, in der sich keine weltseitigen Meinungen festhalten können. Die Maieutik ist somit ein Fötalisierungsverfahren (wie negativ müssen dann erst die Embryonisierungs- und Zygotisierungsverfahren sein? Anm. HB).“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 86

„Während die positiven Argumentationen im besten Fall heiße Köpfe machen, im schlimmsten zum Krieg führen, erzeugt der Durchbruch durch die Schale der Positivität eine integrale Erinnnerung an die Wehen. Denn man muß erst an der Barriere der Geburtsvergessenheit vorbeidenken und -fühlen, ehe sich das fötale Kontinuum auch im taghellen bewußten Leben wiederherstellt. Über die Art von Schülern, die sich ins Abenteuer der erotischen Anamnesis tief einlassen, weiß Sokrates mit Kennerschaft zu sagen: »›darin ergeht es denen, die mit mir umgehen wie den Gebärenden: sie haben nämlich Wehen und wissen sich nicht zu lassen bei Tag und Nacht, weit ärger als jene. Und diese Wehen kann meine Kunst erregen sowohl als stillen‹« (Platon, Sämtliche Werke, II, S. 572 ff., Übersetzung: Friedrich Schleiermacher). Die mit mir umgehen - das enthält einen Hinweis auf die Besonderheit des philosophischen Rapports, in dem sich der Psychagoge wie ein Psychoanalytiker ante litteram als Spezialist für unmögliches Begehren profiliert. Weit ärger als jene - das deutet an, daß in den Wehen der Frauen nur ein Teil der Qualen auftritt, die sich einstellen können, wenn in der Bewußtseinsnot der männlichen Erwachsenen das Zurweltkommen sich im ganzen und wie von innen her reproduziert. Während Frauen (in der Regel!) seit jeher zum Zurweltbringen von Kindern Zuflucht nehmen konnten ..., ist das männliche Bewußtsein vom Zwang, selbst zur Welt zu kommen, gekennzeichnet.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 87

„In der Hochkultur ist die Lage der Söhne allemal aussichtsreich ausweglos - im übrigen zeigt sich erst heute auch die Tragödie der Schwestern, seit die Frauen ihrerseits anfangen, sich der Unmöglichkeit, eine Tochter zu sein, zu stellen.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 93

„Der sich ins helle Nichtwissen zurücknehmende sokratische Weise übt erwachsen-kindliche Enthaltung von der Verursachung neuer weltlicher Wirkungsketten. Seine Negativität hat keinen anderen Sinn als den, die Seele aus der positivierten Welt als dem Schauplatz des Krieges zwischen Identitäten zurückzuziehen. Seine Weisheit ist die eines profanen Weltvorbehalts. Dieser appelliert jedoch an kein Jenseits, keine Transzendenz, sondern an die Fülle der Negativität, die zu den Geburtsrechten jedes Individuums gehört. Die sokratische Differenz zum Verblendungs- und Gewaltzusammenhang der positiven Meinungen wird nicht durch Lebensverzicht gewonnen, sondern durch die Erkenntnis, daß das für uns Beste nicht auf der Linie des Wissens, Wollens und Könnens liegt, sondern in der Zuwendung zu dem allbefassenden Nichtwissen, in dem auch das Können und Wollen zur Ruhe und zur Schwebe finden. Für Sokrates steht darum der Wg der Negativität allein noch offen.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 93-94

„Die Idee des Weltvorbehalts selbst, die, um philosophisch zu gelten, keine theologische sein darf, hängt ... ebenso in der Luft wie die Kriterien von Dissidenz und Konstruktivität, von Verweigerung und Teilhabe.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 95-96

„Hier denkt Heidegger letztlich revolutionärer als die offiziellen Revolutionäre.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 122

„Was die Weitergabegewalten zuletzt immer über den Geist der Freisprüche siegen läßt, ist die Positivierung der Versprechen und die Nationalisierung der Universalien. Eben dies ist das Prinzip der magischen Nationen, die Oswald Spengler entdeckt und benannt hat - und die man auch Taufnationen oder Religionsnationen nennen könnte. .... Aus dem positven Besitz der unbesitzbaren Befreiungssprachen ist in allen Hochkulturen ein Übermaß an Unheil erwachsen. Es könnte wohl sein, daß durch positivierte Erlösungsideen und Befreiungsversprechen mehr Leid in der Welt hervorgerufen wurde, als vor dem Auftreten solcher Ideen vorhanden war.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 172-173

„Es ist anthropologisch falsch, davon auszugehen, daß der Mensch ein Individuum ist; er ist ein historisches Tier; er ist ein Paarwesen. .... Ich sage, Individuen gibt es nicht, sondern es gibt nur Beziehungen. Es gibt keine Individuen!“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998

„Der Mensch ist ein Wesen, das immer von seinem Alliierten her gedacht werden muß und nicht nur von seinem Selbsterhaltungsimpuls.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998

„Es gibt keine Individuen, es gibt nur Paare und ihre Entfaltungen. Und dann hat man ein anderes Rechtssubjekt, und man hat dann nur Gruppen - die Minimalgruppe ist das Paar. Dann kommt man zu einer ganz anderen Beschreibung des Rechtssubjekts; ... die Rechte entstehen aus der Tatsache, daß man an etwas teilhat.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998

„Ich glaube, das moderne Recht ist der intimste Partner des modernen Individualismus und von daher auch Handlanger dieser entsetzlichen Auswüchse, die der Kapitalismus in seinen übelsten Gestalten weltweit hervorruft.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998

Der vorliegende Rechenschaftsbericht vom Anfang und Gestaltwandel der Sphären ist unseres Wissens der erste Versuch, nach ... Oswald Spenglers ... Morphologie der Weltgeschichte wieder einem Formbegriff eine höchstrangige Stellung in einer anthropologischen und kulturtheoretischen Untersuchung zuzuweisen.
Peter Sloterdijk, Sphären I - Blasen, 1998, S. 78

„Wir kommen in einen mörderischen Anthropozentrismus hinein, der letztlich selbstmörderisch ist .... Und es stellt sich heraus, daß letzten Endes auch unter dem Schein der Allgemeinheit die modernen Menschenrechte Privilegien gewesen sind: es waren wieder Gattungsprivilegien, die nun in Form einer ermächtigten Herrengattung gegenüber dem Rest der Natur durchgesetzt werden, und das führt notwendigerweise in einer vernetzten Welt zu einer selbstmörderischen Entwicklung.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998

„Es macht einen ungeheuren Unterschied - das geht bis zu der notwendigen Neuformulierung der Menschenrechte hin -, ob man in einem Verwüstungsprozeß lebt oder in einem Schonungsvorgang. .... Der Ausdruck Schonungen in dieser Verwendung geht übrigens auf Martin Heidegger zurück - ein Ausdruck, der den Vorzug hat, daß er Philosophen und Förster gleichzeitig zufrieden stellt und dabei sehr schön zum Ausdruck bringt, worum es geht: Menschen können sich auf der Erde nicht aufhalten, wenn sie nicht zugleich Verantwortung nehmen für die Biotope, in denen sie angesiedelt sind - ... sie müssen sich zur Schonung bekennen ..., sie können anfangen, als neue Nomaden über die Oberflächen hinwegzuziehen, ... aber sie müssen auch wieder lernen zu wohnen, und im Wohnen ist natürlich der Imperativ, Schonungen anzulegen, mitenthalten und damit, die Wüstungen zu korrigiere.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998

Alle primären kulturellen Einheiten lassen sich nur als sich selbst erzeugende morphogenetische Prozesse verstehen. Das unmittelbare Projekt jeder Gemeinschaft ist die fortgesetzte Selbstbergung der Gruppe in ihrer morphologischen Hülle: Alle konkreten »Gesellschaften«, die primitiven wie die komplexen, sind sphäro-poietische Projekte. Die Feststellung ist trivial, daß die weitaus größte Zahl der Sphärenbildungen in der Geschichte der menschlichen Gattung kleine clanartige und stammeskulturelle Ensembles geblieben sind, von denen nur wenigen die Fortbildung zu ethnischen Gebilden mittleren Formats gelingt - tatsächlich ist schon ein Volk ein morphologischer Effekt, der, von den Hordenanfängen her gedacht, ans Unmögliche grenzt, denn er setzt die kulturelle und meist auch politische Synthesis von Tausenden von Horden (nunmehr: Familien oder Geschlechtern) voraus. Nur in den seltensten Fällen sind diese Gebilde, über Volkseinheiten hinausgehend, zu Makrosphären höchster Ordnung herangewachsen - daß heißt zu Stadtstaaten und multi-ethnischen Imperien, im Sinne von Spengler ... sogar zu »Kulturen«, die sich politisch und ontologisch die Form von Welten zu geben vermochten. Der Ausdruck Welt bezeichnet dann nicht »alles, was der Fall ist«, sondern alles, was von einer Form oder einer gewußten Grenze enthalten werden kann.
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 200-201

„Wenn Gunnar Heinsohn ... die jüdische Kontraktualisierung der nachsintflutlichen Natur durch den Bund als Zeichen eines »kosmischen Optimismus« charakterisieren zu dürfen glaubt, so gehört dies zu den merkwürdigen Bildern, die ein hilfloser Philosemitismus zu treiben imstande ist.“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 256

„Ein Gestalt-Historiker Spenglerschen Typs, der die Stadt als von Grund auf erstaunliche Erscheinung betrachtet, müßte ein Phänomenologe sein, der die begnadete Angst eines Denkens von außen auf sich nimmt - hierin ist Spengler der unmittelbare Vorgänger von revolutionären Strukturhistorikern wie Foucault, Deleuze und Guattari. Wenn er vorschlägt, sich zurückzuversetzen in das Staunen des Frühmenschen, der das unfaßbare Riesengehäuse mit seinen Mauern und Türmen am Horizont aufragen sieht, so folgt er der Intuition, daß die Wahrheit über alles, was im äußeren Raum erscheint, nur durch eine initiatische Raum-Angst erfahren werden kann. Diese Angst schlägt die Brücke zwischen archaischer Welt und Moderne, weil sie den zu keiner Zeit ganz absorbierbaren Überschuß der Ekstase über die Geborgenheit bezeugt. Wird dieser Überschuß für die Theorie fruchtbar gemacht, so liegt das Feld des genuin modernen Denkens offen. In dem Maß, wie Spengler aus diesem Überschuß oder dieser Ekstase - man könnte auch schlichter sagen aus dieser Unsicherheit - denkt, ist seine Zugehörigkeit zum Abenteuer des wesenhaft zeitgenössischen Denkens unbestreitbar. Die Sehkraft, die er in seiner Kulturen-Phänomenologie aufbietet, entstammt der Erfahrung entsicherten Existierens in einer überdehnten, nie mehr im ganzen heimatlich verklärbaren Welt.“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 267-268

„Spenglers Morphologie der Weltgeschichte hat ihr philosophisches Momentum in einer Theorie der schöpferischen Raum-Angst, die den Menschen der Hochkulturen eine Offenbarung der dritten Dimension als »Tiefe«, das heißt als Herkunftsraum des Unumgänglichen, gewährt. Der kühle Morphologe und sein Schatten, der dem verstörten Urmenschen ähneln will, sollen sich einig werden in einem Staunen, das in Wahrheit ein Nicht-ganz-glauben-Können, ein Entsetzen ist. Tatsächlich, was wäre eine mit Urmenschen-Augen angeschaute Stadt vom Typus der mesopotamischen Gott-Königs-Metropolen anderes als eine Erläuterung zu der These, daß in den Hochkulturen das Ungeheure als Menschenwerk in Erscheinung tritt?  Und was sind diese Gehäuse von seltsamster Form, von außen gesehen, anderes als Bergungsmaschinen, mit denen Menschen ihre spezifische Offenbarung von Weltangst abgearbeitet und ihrem Willen zum Nicht-außen-Sein monströse Denkmäler errichtet haben?“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 268

„Spenglers Schritt zurück vor die Stadt hat also nichts zu tun mit neuzeitlicher Zivilisationskritik, auch nichts mit dem anti-babylonischen Ressentiment der Juden, das von den Christen kopiert wurde und seit der Marginalisierung des Christentums als anonymes Ferment in der Niveaumüdigkeit der Gegenwartskulturen allgegenwärtig umherspukt. Er bedeutet vielmehr einen Akt der theorie-ermöglichenden epoché im Hinblick auf ein kaum noch distanzierbares Milieu und dient der Abstandnahme des Denkenden von den Blendungen des immer schon städtisch gelebten Lebens, mitsamt seinen unthematisierten Ansprüchen an Selbsterhöhung, Raumangst-Überwindung, Entlastung und Reizzufuhr. Die Theorie der Stadt kann nur beginnen mit der Entwöhnung von den Verwöhnungen, die durch die Stadt erst möglich geworden sind. Die Stadt denken heißt also über das verwöhnende Wohnen in ihr so reflektieren, als könnte man anderswo als in ihr zu Hause sein, ja, als ließe sich das Verlangen, überhaupt irgendwo Wurzeln zu schlagen, im ganzen einklammern. Wohnen, als wohnte man nicht. Leben, als hätte man weder Haus noch Stadt im Rücken. Denken wie im freien Fall.“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 269

„»Ausdehnung ist alles« - Oswald Spengler hat diesen Satz zum Axiom der zivilisatorischen Epochen erklärt: »Expansion ist ein Verhängnis, etwas Dämonisches und Ungeheures, das den späten Menschen des Weltstadiums packt, in seinen Dienst zwingt und verbraucht ....«“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 850

„Es ist dies ein Typus, der in der neuen Eigentums- und Geldwirtschaft die Erfahrung gewonnen hat, daß Schaden zwar klug macht, doch Schulden klüger. Die Schlüsselfigur des neuen Zeitalters ist der »Schuldner-Produzenten« - besser bekannt unter dem Begriff Unternehmer -, der seine Geschäftsverfahren, seine Meinungen und sich selbst fortwährend flexibilisiert, um mit allen erlaubten und unerlaubten, erprobten und unerprobten Mitteln an die Gewinne zu kommen, die ihn befähigen, aufgenommene Kredite rechtzeitig zu tilgen. Diese Schuldner-Produzenten geben der Idee der geschuldeten Schuld eine revolutionäre, neuzeitliche Bedeutung: Aus einem moralischen Makel wird ein ökonomisch sinnvolles Anreizverhältnis. Ohne die Positivierung von Schulden kein Kapitalismus. Die Schuldner-Produzenten sind es, die das Rad der permanenten Geldrevolution in der »Bourgeois-Epoche«zu drehen beginnen. (Die Bestimmung des Unternehmens als ›Schuldner-Produzent‹ verdanken wir Gunnar Heinsohn und Otto Steiger, die mit ihrem Buch Eigentum, Zins und Geld [1996] ein suggestives Modell für die Erklärung der Innovationsdynamik der neuzeitlichen Wirtschaft als Eigentumswirtschaft vorgelegt haben.). Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, daß die Erde um die Sonne, sondern das Geld um die Erde läuft“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 855-856

„Wer übernähme die Verteidigung Leopolds II. von Belgien, der seine Privatkolonie Kongo in das »schlimmste Zwangsarbeitslager der Neuzeit« (Peter Scholl-Latour) verwandelt hatte - mit zehn Millionen Massakrierten?“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 947

„Vielleicht ist die Globalisierung, wie die Geschichte überhaupt, das Verbrechen, das nur einmal begangen werden kann.“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 950

„Die neuen Immunitätstechniken empfehlen sich als Existentialstrategien für Gesellschaften aus Einzelnen, bei denen der Lange Marsch ... zum Ziel geführt hat - zur Grundlinie des von Spengler richtig prophezeiten Endes jeder Kultur: jenem Zustand, in dem es unmöglich ist, zu entscheiden, ob die Einzelnen außergewöhnlich fit oder außergewöhnlich dekadent sind. enseits dieser Linie verlöre die letzte metaphysische Differenz, die von Nietzsche verteidigte Unterscheidung von Vornehmheit und Gemeinheit, ihre Kontur, und was am Projekt Mensch hoffnungsvoll und groß erschien, verschwände wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 1004-1005

„Die Kritische Theorie ist tot.“
Peter Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.09.1999, S. 35

„Die Sonne ist der absolute Sponsor; und deswegen muß ein Aufklärer die Sonne nachahmen, weil eine Aufklärung, die mehr nimmt als gibt, letzten Endes gar keine ist - mit anderen Worten: Aufklärung ist nur als angewandte Großzügigkeit möglich.“
Peter Sloterdijk

„Wenn ich von Selbstversuch spreche, denke ich an ... die homöopathische Bewegung, die auf Samuel Hahnemann zurückgeht. Dieser erstaunliche Kopf hat im Jahr 1796 ... erstmals das Primzip des effektiven Heilmittels formuliert. Zudem war er einer der ersten Heiler, die auf die moderne Ungeduld der Patienten mit adäquaten ärztlichen Angeboten zukamen. Seiner Überzeugug nach bestand für den Arzt die Notwendigkeit, sich selbst mit allem zu vergiften, was er später den Kranken zu verordnen gedenkt. Von dieser Überlegung stammt das Konzept des Selbstevrsuchs: Wer Arzt werden möchte, muß Versuchstier sein wollen.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 8

„Der tiefere Grund für diese Wendung zum Experimentieren am eigenen Leib ist in der romantischen Idee des aktiven Bezugs zwischen Bild und Sein zu finden. Hahnemann war der Ansicht, daß die Wirkungen der Dosis beim Gesunden und beim Kranken sich spiegelbildlich zueinander verhalten. Dem liegt eine anspruchsvolle Semiotik des Arzneimittels zugrunde: Der große optimistische Gedanke der romantischen Medizin, zu der die Homöopathie wesentlich gehört, besteht ja darin, daß eine Abbildbeziehung zu unterstellen sei zwischen dem, was die Krankheit als Phänomenganzheit ist, und den Effekten, die ein pures Mittel am gesunden Körper hervorruft. Die Homöopathie denkt auf der Ebene einer spekulativen Immunologie. Und insofern Immunprobleme immer mehr ins Zentrum der künftigen Therapeutik und Systemik rücken werden, haben wir es mit einer sehr aktuellen Tradition zu tun, obschon die Wirkungsweise der homöopathischen Dosen weiterhin im dunkeln bleibt.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 8-9

„So gesehen gehört die Formulierung meines Buchtitels eher in die Traditon der romantischen Naturphilosophie, genauer der deuschen Krankheitsmetaphysik, als in die Linie der französischen Diskurse über den zerstückelten Körper. Aber mehr noch geht er natürlich auf Nietzsche zurück, der gelegentlich mit homöopathischen und häufig mit immunologischen Metaphem gespielt hat. Nicht umsonst läßt Nietzsche seinen Zarathustra zur Menge sagen: »Ich impfe Euch mit dem Wahnsinn«; auch das ominöse »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«, hat einen durch und durch immuntheoretischen Sinn. Nietzsche sah sein ganzes Leben als eine Impfung mit Dekadenzgiften an und versuchte, seine Existenz als integrale Immunreaktion zu organisieren. Er konnte sich nicht mit der gepanzerten Harmlosigkeit des letzten Menschen abfinden, durch die sich dieser gegen die Infektionen der Zeitgenossenschaft und der Geschichte abschirmt. Daher trat er in seinen Schriften als ein Provokationstherrapeut auf, der mit gezielten Vergiftungen arbeitet. Diese Konnotationen klingen in meinem Titel mit.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 9

„Was Kritische Theorie im Habermas-Stil eigentlich ist und seit seit jeher war: der Entwurf einer Zivilreligion für die deutsche Nachrkriegsgesellschaft auf der Basis eines intersubjektiven Idealismus. Zivilreligionen sind Entwürfe für erwünschte Illusionen.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 64

„Zunächst sind Menschen einbezogen in eine bipolare Sphäre, einen intim getönten Beziehungsraum, den es nur geben kann kraft der Zugehörigkeit und der Zugewandtheit von Zusammenlebenden zueinander - einen Nähe-Raum also, den man kaum bemerkt, solange man ihm angehört, und den man vermißt, wenn man ihn verloren hat. Damit Sphären als solche auffallen, müssen sie zerplatzt sein, und erst als verlorene werden sie theoriefähig.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 143

„Mir geht es ... darum, Menschen als Teile eines akuten Beziehungsgeheimnisses zu beschreiben. Darum sage ich, es gibt keine Individuen, sondern nur Dividuen – es gibt die Menschen nur als Partikel oder Pole von Sphären.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 144

„Ich lasse die ganze Ontologie mit der Zwei-Zahl beginnen. .... Der Spuk fällt weg, wenn wir mit der Zwei beginnen. Mit dem Denken der Zwei beziehe ich den Standpunkt einer minimalpluralistischen Ontologie. Was ich die Sphäre nenne, ist von Anfang an nur als dyadische Form, als Zweieinigkeitsstruktur gegeben.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 147

„Man muß das Vorurteil überwinden, das in den Köpfen des veralteten Kritizismus festsitzt, das Interesse am Raum sei konservativ und gegenmodern, das an der Zeit dagegen progressiv und emanzipatorisch.“
Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 256

„Skepsis ist der Habitus, das Überzogene am Gewöhnlichen auflaufen zu lassen und endgültige Ergebnisse stets als vorläufige hinzustellen. .... Anders als der Kritizismus, der an Herabsetzungen interessiert bleibt, hegt die Skepsis Sympathien für Übertreibungen aller Art, im Bewußtsein, ihnen nicht erliegen zu müssen. Die Voraussetzung hierfür schafft der freie Geist, der zur Verführung Abstand hält.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 263, 273

„Das Projekt »Sphären« läßt sich auch als Versuch verstehen, das in Heideggers Frühwerk subthematisch eingeklemmte Projekt Sein und Raum - in einem wesentlichen Aspekt zumindest - aus seiner Verschüttung zu bergen. Wir sind der Meinung, daß von Heideggers Interesse an Verwurzelung durch eine Theorie der Paare, der Genien, der ergänzten Existenz soviel zu seinem Recht kommt, wie überhaupt von ihm gerettet werxden kann.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 403

„Die Luxusviktimologien beruhen auf der Entdeckung, daß die moralische Sensibilität der Öffentlichkeit in der Superinstallation eine symbolische Ressource ist, die sich materiell bewirtschaften läßt. Weil Helden nach der Aufklärung nur noch als Opfer möglich sind, muß der Ehrgeiz den Umweg über den Viktimismus nehmen. Dies gilt für Einzelne wie für Korporationen und Staaten. Unzählige wetteifern mit amateurischen und professionellen Mitteln um den Vorzug, sich auf diversen Bühnen als Opfer präsentieren zu dürfen - besser noch als Super-Opfer, als Angegriffener der Angegriffenen, als Jude der Juden, als Paria der Parias, als Verdammter der Verdammten dieser Erde. .... Aber es versteht sich, daß diese Phänomene außer psychologischen Motiven massive ökonomische Gründe haben.“
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 841, 842

„Die Demokraten nach 1945 haben in ihrem antifaschistischen Eifer das Faschismusphänomen in seiner globalen Ausdehnung chronisch unterschätzt. Die Wahrheit ist, daß der Faschismus von Lissabon bis nach Shanghai reichte. Das ganze 20. Jahrhundert ist vom faschistischen Affekt, vom Enthusiasmus des Ressentiments durchzogen.“
Peter Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54

„Daß sich der linke Faschismus als Kommunismus zu präsentieren beliebte, war eine Falle für Moralisten. Mao Tse-tung war nie etwas anderes als ein linksfaschistischer chinesischer Nationalist, der anfangs den Jargon der Moskauer Internationale pflegte. Gegen Maos fröhlichen Exterminismus gehalten, erscheint Hitler wie ein rachitischer Briefträger. Doch man scheut noch immer den Vergleich der Monstren.“
Peter Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54

„Das massivste ideologische Manöver des Jahrhunderts bestand ja darin, daß der linke Faschismus nach 1945 den rechten lauthals anklagte, um ja als dessen Opponent zu gelten. In Wahrheit ging es immer nur um Selbstamnestie. Je mehr die Unverzeihlichkeit der Untaten von rechts exponiert wurde, desto mehr verschwanden die der Linken aus der Sichtlinie.“
Peter Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54

„In dem Zusammenhang muss man die Mao-Plakate über den Köpfen der Revoltierenden von damals verstehen. Die radikale Linke hatte sich selbst die Absolution erteilt, und die Ikone Mao war ein Garant ihres Verständnisses für den guten Terror. Die Zersetzungsprodukte dieser Hyperlüge gehen uns bis heute auf die Nerven.“
Peter Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54

„Eine bleibende Kulturleistung der »68er« besteht darin, daß sie die ... Gesellschaft in ein Kollektiv von Halbkranken umgeschaffen haben. Damals wurde die Therapiegesellschaft auf den Weg gebracht, in der jeder seine verunglückte Libido erforschen und dem Echo seiner »verbrecherischen« Familiengeschichte nachhorchen konnte. Doch seit der Sport als Alternative zur ewigen Therapie aufkam ..., hat sich die Lage an der inneren Front entspannt.“
Peter Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 51

„Kaum treten bei Individuen oder Gruppen »Symptome« wie Stolz, Empörung, Zorn, Ambition, hoher Selbstbehauptungswille und akute Kampfbereitschaft auf, nimmt der Parteigänger der thymós-vergessenen Kultur Zuflucht zu der Vorstellung, diese Leute müßten Opfer eines neurotischen Komplexes sein. Die Therapeuten stehen hier in der Tradition der christlichen Moralisten, die von der natürlichen Dämonie der Selbstliebe sprechen, sobald die thymotischen Energien sich offen zu erkennen geben. Haben die Europäer über den Stolz wie den Zorn nicht von den Tagen der Kirchenväter an zu hören bekommen, solche Regungen seien es, die den Verworfenen den Weg in den Abgrund weisen?“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 32

„Die Aufgabe lautet also, eine Psychologie des Eigenwertbewußtseins und der Selbstbehauptungskräfte wiederzugewinnen, die den psychodynamischen Grundgegebenheiten eher gerecht wird. Das setzt die Korrektur des erotologisch halbierten Menschenbildes voraus, das die Horizonte des 19. und 20. Jahrhunderts umstellt. Zugleich wird eine empfindliche Distanzierung von tief eingeschliffenen Konditionierungen der westliuchen Psyche notwendig, in ihren älteren religiösen Ausprägungen ebenso wie ihren jüngeren Metamorphosen.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 34-35

„Zunächst und vor allem ist Abstand zu gewinnen von der unverhüllten Bigotterie der christlichen Anthropologie, nach welcher der Mensch in seiner Eigenschaft als Sünder das hochmutkranke Tier abgibt, dem nur durch Glaubensdemut geholfen werden kann. Man soll sich nicht einbilden, eine hiervon Distanz schaffende Bewegung wäre leicht auszuführen oder gar schon vollzogen. Wenngleich die Phrase »Gott ist tot« jetzt schon von Journalisten geläufig in den Computer eingegeben wird, bestehen die theistischen Demutsdressuren im demokratischen Konsensualismus nahezu ungebrochen fort. Es ist, wie man sieht, ohne weiteres möglich, Gott sterben zu lassen und doch ein Volk von Quasi-Gottesfürchtigen zu behalten. Mögen die meisten Zeitgenossen von anti-autoritären Strömungen erfaßt sein und gelernt haben, eigene Geltungsbedürfnisse auszudrücken, so halten sie doch in psychologischer Sicht an einem Verhältnis semirebellischer Vasallität gegenüber dem versorgenden Herrn fest. Sie verlangen »Respekt« und wollen auf die Vorteile der Abhängigkeit nicht verzichten. Noch schwieriger dürfte es für viele sein, sich von der verhüllten Bigotterie der Psychoanalyse zu emanzipieren, nach deren Dogmatik auch der kraftvollste Mensch nicht mehr sein kann als der bewußte Dulder seiner liebeskranken Kondition, die Neurose heißt. Die Zukunft der Illusionen ist durch die große Koalition gesichert: Das Christentum wie die Psychoanalyse können ihren Anspruch, die letzten Horizonte des Wissens vom Menschen zu umschreiben, mit Aussicht auf Erfolg verteidigen, solange sie sich darauf verstehen, ein Monopol für die Definition der menschlichen Kondition durch den konstitutiven Mangel, vormals besser bekannt als Sünde, aufrechtzuerhalten. Wo der Mangel an der Macht ist, führt die »Ethik der Würdelosigkeit« das Wort.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 35

„Solange also die beiden klugen Bigotteriesysteme die Szene beherrschen, ist die Sicht auf die thymotische Dynamik menschlicher Existenz verstellt, in bezug auf Individuen nicht weniger als in bezug auf politische Gruppen. Folglich ist der Zugang zum Studium der Selbstbehauptungs- und Zorndynamik in psychischen und sozialen Systemen praktisch blockiert. Stets muß man mit den ungeeigneten Konzepten der Erotik auf die thymotischen Phänomene zugreifen. Unter der bigotten Blockade kommt die direkte Intention nie wirklich zur Sache, da man sich nur noch mit schrägen Zügen den Tatsachen nähern kann - immerhin sind diese, ihrer erotischen Fehlauffassung zum Trotz, nie ganz zu verdunkeln. Ist diese Verlegenheit beim Namen genannt, wird klar, daß ihr allein durch die Umstellung des grundbegrifflichen Apparats abzuhelfen ist.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 35-36

„Geht man von dem natürlichen Pluralismus thymotischer Kraftzentren aus, muß mna ihre Beziehungen gemäß deren spezifischen Feldgesetzlichkeiten untersuchen. Wo reale Kraft-Kraft-Beziehungen gegeben sind, hilft der Rekurs auf die Selbstliebe der Akteure nicht weiter - oder doch nur in übergeordneten Aspekten. Statt dessen ist zunächst zu statuieren, daß politische Einheiten (konventionell als Völker und deren Untergruppen aufgefaßt) in systemischer Sicht metabolische Größen sind. Sie haben allein als produzierende und konsumierende, streßverarbeitende, mit Gegnern und anderen entropischen Faktoren kämpfende Entitäten Bestand. Bemerkenswerterweise haben christlich und psychoanalytisch geprägte Denker bis heute Mühe zuzgeben, daß Freiheit ein Begriff ist, der nur im Rahmen einer thymotischen Menschensicht Sinn ergibt. Ihnen sekundieren mit hohem Eifer die Ökonomen, die den Menschen als das konsumierende Tier ins Zentrum ihrer Appelle stellen - sie wollen dessen Freiheit nur bei der Wahl der Futternäpfe am Werk sehen.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 37

„Durch Stoffwechseltätigkeiten werden in einem vitalen System erhöhte Innenleistungen stabilisiert, auf der physischen wie der psychischen Ebene. Das Phänomen Warmblütigkeit ist hiervon die eindrucksvollste Verkörperung. Mit ihm vollzog sich, etwa zur »Halbzeit der Evolution«, die Emanzipation des Organismus von den Umgebungstemperaturen - der biologische Aufbruch in die Freibeweglichkeit. Von ihr hängt alles ab, was später in den unterschiedlichsten Sinnabschattungen Freiheit heißen wird. Biologisch betrachtet, bedeutet Freiheit das Vermögen, das gesamte Potential spontaner Bewegungen zu aktualisieren, die einem Organismus eigentümlich sind.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 38

„Die Lossagung des warmblütigen Organismus vom Primat des Milieus findet ihr mentales Gegenstück in den thymotischen Regungen der Einzelnen wie der Gruppen. Als moralischer Warmblüter ist der Mensch auf die Aufrechterhaltung eines gewissen internen Selbstachtungsniveaus angewiesen - auch dies setzt eine Tendenz zur Loslösung des »Organismus« vom Vorrang des Milieus in Gang. Wo sich die stolzen Regungen geltend machen, entsteht auf der psychischen Ebene ein Innen-Außen-Gefälle, in dem der Selbstpol naturgemäß den höheren Tonus aufweist. Wer die untechnischen Ausdrucksweisen bevorzugt, kann dieselbe Vorstellung durch die These wiedergeben, die Menschen besäßen einen angeborenen Sinn für Würde und Gerechtigkeit. Dieser Intuition hat jede politische Organisation gemeinsamen Lebens Rechnung zu tragen.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 38

„Zum Betrieb moralisch anspruchsvoller Systeme, alias Kulturen, gehört die Selbststimulierung der Akteure durch die Hebung thymotischer Ressourcen wie Stolz, Ehrgeiz, Geltungswille, Indignationsbereitschaft und Rechtsempfinden. Einheiten dieser Art bilden in ihrem Lebensvollzug lokalspezifische Eigenwerte aus, die bis zum Gebrauch universalistischer Dialekte führen können. Es läßt sich durch empirische Beobachtung schlüssig nachweisen. wie erfolgreiche Ensembles durch einen höheren inneren Tonus in Form gehalten werden - an dem im übrigen häufig der aggressive oder provozierende Stil des Umweltbezugs auffällt. Die Stabilisierung des Eigenwertbewußtseins in einer Gruppe obliegt einem Regelwerk, das die jüngere Kulturtheorie als das Decorum bezeichnet. (Vgl. Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen - Entwurf einer kulturdynamischen Theorie, 1996). In Siegerkulturen wird das Decorum verständlicherweise an den polemischen Werten geeicht, denen man die bisherigen Erfolge verdankt. Daher die enge Liaison zwischen Stolz und Sieg in allen aus erfolgreich geführten Kämpfen hervorgegangenen Gemeinwesen. Stolzdynamisch bewegte Gruppen haben es manchmal sogar nicht ungern, bei ihren Nachbarn und Rivalen unbeliebt zu sein, solange das ihrem Souveränitätsgefühl Auftrieb gibt.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 38-39

„Sobald die Stufe der anfänglichen Interignoranz zwischen mehreren metabolischen Kollektiven überschritten ist, das heißt, wenn die gegenseitige Nichtwahrnehmung ihre Unschuld verloren hat, geraten sie unvermeidlich unter Vergleichsdruck und Beziehungszwang. Dadurch wird eine Dimension erschlossen, die man im weiteren Sinn als die der Außenpolitik bezeichnen kann. Infolge ihres Füreinanderwirklich-Werdens fangen die Kollektive an, sich gegenseitig als koexistierende Größen zu begreifen. Durch Koexistenzbewußtsein werden die Fremden als chronische Stressoren wahrgenommen, und die Beziehungen zu ihnen müssen zu Institutionen ausgebaut werden - in der Regel unter der Form von Konfliktvorbereitungen oder der diplomatischen Bemühung um das Wohlwollen der anderen Seite. Von da an reflektieren die Gruppen ihr eigenes Wertverlangen in den manifesten Wahrnehmungen der anderen. Die Gifte der Nachbarschaft sickern in die aufeinander bezogenen Ensembles ein. Diese moralische Reflexion ineinander hat Hegel mit dem folgenreichen Begriff der Anerkennung bezeichnet. Er weist damit hellsichtig auf eine mächtige Quelle von Satisfaktionen oder Satisfaktionsphantasien hin. Daß er damit zugleich den Ursprung zahlloser Irritationen benannt hat, versteht sich aus der Natur der Sache. Auf dem Feld des Kampfs um Anerkennung wird der Mensch zu dem surrealen Tier, das für einen bunten Fetzen, eine Fahne, einen Kelch sein Leben riskiert.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 39.40

„Wir sehen im gegebenen Kontext, daß Anerkennung besser als eine Hauptachse interthymotischer Beziehungen neu beschrieben werden sollte. Was die zeitgenössische Sozialphilosophie mit wechselndem Erfolg unter dem Stichwort Intersubjektivität verhandelt hat, meint häufig nichts anderes als das Gegeneinanderwirken und Ineinanderspielen von thymotischen Spannungszentren. Wo der landläufige Intersubjektivismus die Transaktionen zwischen Akteuren in psychoanalytischen und somit letztlich erotodynamischen Begriffen darzustellen gewohnt ist, empfiehlt es sich künftig eher, zu einer thymotologischen Theorie des Aufeinanderwirkens mehrerer Ambitionsagenturen überzugehen. Ambitionen sind zwar durch erotische Abschattungen modifizierbar, für sich genommen gehen sie jedoch aus einem Regungsherd ganz eigenen Typs hervor und sind nur von diesem her zu durchleuchten.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 40

„Sofern der bürgerlich konditionierte Thymos der psychologische Sitz des von Hegel dargestelletn Strebens nach Anerkennung ist, wird verständlich, warum ausbleibende Anerkennung durch relevante Andere Zorn erregt.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 42-43

„Vor allem muß heute, gegen Nietzsches ungestümes Resümee, bedacht werden, daß die christliche Ära, im ganzen genommen, gerade nicht das Zeitalter der ausgeübten Rache war. Sie stellte vielmehr eine Epoche dar, in der mit großem Ernst eine Ethik des Racheaufschubs durchgesetzt wurde. Der Grund hierfür muß nicht lange gesucht werden: Er ist gegeben durch den Glauben der Christen, die Gerechtigkeit Gottes werde dereinst, am Ende der Zeiten, für eine Richtigstellung der moralischen Bilanzen sorgen. Mit dem Ausblick auf ein Leben nach dem Tode war in der christlichen Ideensphäre immer die Erwartung eines überhistorischen Leidensausgleichs verbunden. Der Preis für diese Ethik des Verzichts auf Rache in der Gegenwart zugunsten einer im Jenseits nachzuholenden Vergeltung war hoch -hierüber hat Nietzsche klar geurteilt. Er bestand in der Generalisierung eines latenten Ressentiments, das den aufgehobenen Rachewunsch selbst und sein Gegenstück, die Verdammnisangst, ins Herzstück des Glaubens, die Lehre von den Letzten Dingen, projizierte. Auf diese Weise wurde die Bestrafung der Übermütigen in alle Ewigkeit zur Bedingung für das zweideutige Arrangement der Menschen guten Willens mit den schlimmen Verhältnissen. Die Nebenwirkung hiervon war, daß die demütigen Guten selbst vor dem zu zittern begannen, was sie den übermütigen Bösen zudachten. Wir werden hiervon unten im Kapitel über den Zorn Gottes und die Errichtung der jenseitigen Rachebank ausführlicher handeln.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 49

„Bei Kränkungen, die krank machen, ist Rache doch die beste Therapie.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 84

„Alle Geschichte ist die Geschichte von Zornverwertungen.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 100

„Aus dem Zorn Gottes sollte die menschliche Rache werden - und aus dem Warten auf die jenseitige Vergeltung eine diesseitige Praxis ....“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 276

„Rache ..., was sie ihrer thymotischen Natur nach seit je bedeutet - ... die Behebung des unerträglichen Mangels an Leiden, der in einer Welt voll ungesühnten Unrechts herrscht.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 276

„Die Philosophen sind von Berufs wegen ja als Welterklärer angetreten. Und sie bekennen sich zunächst und zumeist dazu, einen unbescheidenen Beruf auszuüben, wobei Unbescheidenheit hier, wenn möglich, von der Sache her motiviert wird und nicht vom persönlichen Drang dessen, der sich zu diesem Beruf gemeldet hat - so wie man ja auch bei Polizisten eigentlich nicht unterstellt, daß sie eine natürliche Affinität zum Verbrechen haben, sondern mehr zu seiner Bekämpfung, so hat auch der Philosoph einen natürlichen Drang zur Vielwissenheit und nicht zur Unwissenheit.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Lesezeichen, 2006

„Man soll den Anspruch, die Welt besser zu machen, nicht aufgeben, wenn man sich vorher darüber verständigt hat, was »besser« bedeutet, und ich würde sagen: Das Bessere muß als Funktionsbegriff, nicht als Substanzbegriff, aber als Funktionsbegriff verstanden werden, nämlich, daß die verschiedenen um Verwirklichung ringenden Kräfte im Menschen in eine Balance miteinander gebracht werden. Und wir sind im Moment stark unbalanciert; der Westen ist ... ein »Kontinent« der Gier geworden, also er ist durch und durch erotisiert im ... schlechten Sinne des Wortes. Wir erleben im Moment in einem geschichtlich beispiellosen Ausmaß eine Weltherrschaft der Gier, und gegen die müßte ... das Stolzzentrum seinen Einspruch anmelden und sagen: »Wer bin ich denn, daß ich mich bei der Vorherrschaft gieriger Impulse ertappen lasse?«  Also: der Thymotiker wäre der Mensch, der zeigen möchte, daß er nicht nur ein großer Gieraffe ist und ein Verschlinger, eine große Verdauungsmaschine, sondern daß er ein Spender ist, ein Geber.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Lesezeichen, 2006

„Seltsam, man darf nicht den Israelis empfehlen, Israel aufzugeben, aber der Menschheit darf man nahe legen, sich einen anderen Planeten zu suchen.“
Peter Sloterdijk, in: Zeit, 2006

„Seit Heidegger wissen wir, daß die Krümmung des Seins als Krümmung der Zeit verstanden werden muß. Was man die Existenz des Menschen nennt, ist keine Gerade zwischen Anfang und Ende. Vielmehr wird die existentiale Linie durch eine seltsame Spannung verbogen: Die »Enden der Parabel«, die ein einzelnes Leben ausmacht, markieren Abschnitte im Kreis des Seins.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 20

„Deutscher Idealismus .... In philosophische Hinsicht war der Idealismus eine logische und ethische Ambition, die vor keiner Zuspitzung zurückschreckte, nämlich die paradoxe Unternehmung, Freiheit zum Zentralmotiv von strenger Systembildung zu machen. .... Der Idealismus wollte sich unentbehrlich machen als ein Beweisverfahren, mit dem dargelegt wurde, daß auch die Bürgerlichen machttauglich und machtwürdig sind, sofern es ihnen nur gelingt, an einem geschichtlich neuen Typus von Adel teilzuhaben. .... Damit trat Idealismus hervor als der Versuch, die Welt im Ganzen auf die Spitze zu stellen, eine Spitze, die einen ontologisch anspruchsvollen Namen trug, den des »Subjekts« - was heißen soll: das, was zugrunde liegt oder modern verstanden: was zugrunde tut, was »an der Basis« aller Lagen alles vollbringt. Wo so gedacht wird, kommt das Höchste als das Breiteste daher. Was das Oberste war, soll nun etwas sein, was jedem zukommt. Was höchste Auszeichnung war, wird allegmeines Merkmal und alltägliche Anrede. Das Geheimnis der Enthusiasmupolitik ist demnach, daß sie die ganze Gesellschaft in den Adelsstand erhebt - oder wie Schiller in der ersten Fassung der Ode sagt -, daß Bettler Fürstenbrüder werden.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 35-37

„Die Musik des Zur-Welt-Kommens ist ein Wille zur Macht als Klang, der sich auf der Linie eines von innen kommenden Kontinuums hervorbringt und der sich selbst will wie eine nichtunterlaßbare Lebensgebärde; die Musik des Rückzugs hingegen strebt, nach dem Zerbrechen des Kontinuums, in den akosmischen Schwebezustand zurück, in dem sich das verletzte Leben, als Unwille zur Macht, sammelt und heilt. Darum gibt es in der Primärgestik aller Musik einen Dualismus von Ausfahrt und Heimkehr. Dem ersten Pol entspricht ein adventisches Motiv, das ganz auf Exodus, Ertönenwollen und Vortreten an die Rampe angelegt ist, dem zweiten ist ein nirwanischer Zug eigentümlich, der auf Einkehr und Zustandekommen, auf Erlöschen und Ruhen zielt.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 57

„Das Denken ist im Subjekt wie der Ton in der Violine - kraft eines Schwingungsverhältnisses. Menschen sind, sofern sie denken, gleichsam Musikinstrumente für Vorstellungen, die die Welt bedeuten. Wenn das »Instrument« auf sich selbst achtgibt, so ist ihm klar: Ich bin kein funadementum inconcussum, sondern ein medium percussum.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 68

„Emanzipation von Wortschatz, Grammatik, Rhetorik und Phonetik. .... Entbunden von semantischer Sklaverei, tritt der Klang aus dem Schatten und gibt mit einer unerhörten Frische und Nacktheit sich selbst zu hören. .... Von der ersten bis zur letzten Zeile lautet seine Botschaft: Ich bin nur zu hören; ich bin ein Text, der die frohe Botschaft vom Nicht-Bedeuten in die Welt setzt. .... Bedeutungslosigkeit bedeutet.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 71

„Im Anthropologie-Kapitel aus Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1817, finden sich im Abschnitt über die »fühlende Seele« einige Formulierungen, die mit den Mitteln philosophischer Psyhologie den Entwicklungen moderner Tiefenpsychologie um mehr als hundertfünfzig Jahre vorgreifen. Hegel artikuliert zum ersten Mal die Idee, daß eine noch völlig leere, erfahrungslose, leidlose und daher unbestimmte Seele von den Vibrationen des mütterlichen Mediums bestimmend und prägend durchdrungen wird.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 72

„Die auditive Geburt des Kindes geht, wie man heute weiß, dem physischen Austritt um einige Monate voraus.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 74

„Bei Schopenhauer vollzieht sich ein Durchbruch, nach dem der Weltgrund selbst, der Wille, als unmittelbar musikalischer vorgestellt wird.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 76

„Als ein Wesen, das im Kommen ist, ist der Mensch wesenhaft ein Tier, das von innen kommt. »Innen« bedeutet hier: Fötalität, Nicht-Manifestation bzw. Latenz, Verborgenheit, Wasser, Familiarität, Schoßhaftigkeit und Häuslichkeit. Zur-Welt-Kommen muß demnach fünffach verstanden werden - gynäkologisch als Geburt, ontologisch als Welteröffnung, anthropologisch als Elementwechsel vom Flüssigen ins Feste, psychologisch als Erwachsenwerden, politisch als Einrücken in Machtfelder.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 87-88

„Auch das Licht der Aufklärung macht Erfahrungen mit seinem Schatten. Es ... entdecken die meisten Kommentataoren die Notwendigkeit einer »Abklärung der Aufklärung« bzw. einer Kritik der lichtbringerischen Vernunft. Was landläufig Postmoderne genannt wird, hat eines seiner überzeugendtsen Motive in dieser Nachuntersuchung von Aufklärungsfolgen.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 99

Aus der Synthese von Marktkapitalismus und Wohlfahrtsstaat ... der »aufgeklärten« westlichen Industrienationen ... entspringt gleichfalls kein Zustand allgemeiner Genugtuung, sondern eine ... Zweideutigkeit, der die großen Perspektiven und Projektionen abhanden gekommen zu sein scheinen.
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 99-100

Im Rückblick auf die Geschichte des optischen Idealismus ... zeigt sich, daß inzwischen die gesamte verwestlichte Hemisphäre der Welt zu einem »Abend«land geworden ist.
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 100

Ist nun in Reaktion auf das Unbehagen am Zwielicht mit einer postmodernen Wiederkehr der Lichtreligionen zu rechnen? Gewisse Indizien sprechen hierfür.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 100-101

Ist die letzte Sicht nichts anders als das ewige Blinzeln der letzten Menschen, die in die glutlose Abendsonne schauen? .... Wenn zutrifft, daß nichts in der Technologie ist, was nicht schon zuvor in der Metaphysik gewesen war, dann hat eine lichtmetaphysisch vorgeformte Menschheit Aussicht darauf, zuletzt in ein selbstgemachtes großes Licht zu blicken - »heller als tausend Sonnen«.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 102

Der moderne Könner kann immer weniger immer besser.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 143

„»Wir sind nie revolutionär gewesen.« .... Man muß zwei gefährliche Kategorien aus seinem Wortschatz herausnehmen: Die eine ist der Begriff der Revolution, ... die andere ist der Begriff der Massen .... Sollte es tatsächlich so etwas wie effektive (so genannte revolutionäre) Wirklichkeitsveränderung geben, dann wird sie sich daran zeigen, daß eine neue Technologie einen Lebenslauf expliziert und dadurch verändert und vorantreibt. .... Ein Techniker entscheidet sich immer für das Vorantreiben der Technologie. Alles Erfolgreiche ist operativ ....“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 235

„So kommt es, daß sich die moderne Kunstausstellungskunst in ihrer Tautologisierung festschraubt: Das Herstellen von Kunst dreht sich um ein Ausstellen von Kunst, das sich um ein Herstellen von Ausstellungen dreht.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 413-414

„Die Selbstaufstellung von Messen, Museen, Galerien ist der Selbstoffenbarung der Werke zuvorgekommen; sie hat den werken die Seinsweise der Selbstreklame aufgezwungen. Seither müssen Werke selbstapplaudierend sein. In der Reklame besitzt die aletheia ihren äußersten Vorposten. .... Sicher ist nur: Kein Bild kann noch so viel bedeuten wie der wiederverwendbare Haken, an dem es vorübergehend hängt.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 415

„Ich komme hier auf das zurück, was ich in der Kritik der zynischen Vernunft als Anlauf zu einer philosophischen Antiphilosophie versucht habe. Ich zeigte dort die Notwendigkeit einer Geistesgegenwart, die sich jenseits der moralischen vorstellenden Automatismen entfaltet, auch jenseits der genormten Diskurse, die sich als Theorie präsentieren, und jenseits der routinierten und reflexhaften Aktivitäten, die sich beim gesunden Menschenverstand als »Praxis« beliebt machen wollen. Die Kritik der zynischen Vernunft war ein wie auch immer fehlerhafter Versuch, die Philosophie in Richtung auf eine Schule der Geistesgegenwart voranzubringen.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 485

„Es ist jetzt vielleicht eine Woche her, da erschien mir Einstein im Traum. .... Er erzähle mir, daß er mit sinem Kollegen Gott, genauer gesagt, mit dessen dritter Person seine viel mißverstandene Energiegleichung noch einmal durchgerechnet habe. Und da habe es ihm um ein Haar den Kopf zersprengt, als er plötzlich, durch eine kleine Umstellung der Faktoren, die Weltformel fand, ja vielmehr, als er selber die Weltformel wurde. .... Ich fürchtete schon, er würde im nächsten Augenblick ganz formellos verschwinden. Aber dann nahm sich Einstein noch einmal zusammen, und er schrieb sich selbst an eine schwarze Tafel, wobei mir Hören und Sehen verging, denn er sdchrieb, wenn ich es mir richtig gemerkt habe: Universum (U) gleich Intelligenz (I) minus Antiintelligenz (AI), wobei gilt: I gleich Meditation durch den Widerstandsfaktor der Vorstellung in der Zeit; AI gleich Wiederholungsmaterie multipliziert mit dem Quadrat des Sitzfleischdurchmessers. Als Einstein sich schon fast ganz an die Tafel geschrieben hatte, deutete er noch an, daß der Kollege von Weizsäcker schon auf der richtigen Spur zur Weltformel sei, nur daß er doch um alles in der Welt den Beharrungskoeffizienten an eine andere Stelle setzen sollte. Dann explodierte Einstein mitsamt der schwarzen Tafel, und es blieb von der ganzen Erscheinung nichts anders übrig als ein gewisses Kitzeln in der Atmosphäre, das ich trotz meiner dürftigen physikalischen Kenntnisse sofort als das kosmische Hintergrundkitzeln identifizierte.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 487, 488-489

„Saint-Just ... hatte in seinen Überlegungen der republikanischen Institutionen ... geschrieben ...: »Die Kinder gehören bis zum 5. Lebensjahr der Mutter, danach bis zu ihrem Tode der Republik«. Das heißt: Das ist die Abschaffung der Freiheit im Namen der Immanenz bzw. im Namen der Abschaffung der Zwei-Welten-Theorie.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2007

„Geschichte ist ... genau der Prozeß, in dem man nie ausgelernt haben wird.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise, 2008

„Wir haben seit 200 Jahren eine Wirtschaftswissenschaft, die gar keine Wissenschaft ist. Es ist eine ... verkappte Theologie - in vielen Fällen -, eine Wissenschaft, die ihre Unwissenschaftlichkeit hinter einem riesigen Aufwand an Mathematik verbirgt. Das kann man ja übrigens in allen Wissenschaften beobachten: je unwissenschaftlicher sie sind, desto mathematischer werden sie. Auch die positivistische Psychologie unserer Tage, die den Menschen überhaupt nicht mehr kennt, arbeitet sehr gern mit mathematischen Modellen, und die Wirtschaftswissenschaft im letzten halben Jahrhundert ist ja ein reines Spielfeld für mathematisierende Spinner geworden.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise, 2008

„Wir haben ungefähr 10 Millionen Menschen, die in der Millionärskategorie leben. Wir haben etwa 1000 Milliardäre. Wir haben etwa 10 Millionen, die in der Kategorie der Multimillionäre operieren. Da entsteht ein neues, abstraktes Übervolk, das dieselben Eigenschaften aufweist wie der alte europäische Adel .... Wir ersetzen Grundbesitz heute durch Zugang zu Informationsmitteln, zu Lebensmitteln, zu Privelgien .... Wir sind in einer rasanten Refeudalisierung - das ist völlig klar, aber sie geht nicht mehr über Grund und Boden, sondern sie läuft über Zugangsprivilegien. Und natürlich ist niemand privilegierter als derjenige, der innerhalb des 10-Millionen-Volkes mit seinesgleichen auf gleicher Ebene kommunzieren kann.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise, 2008

„Auf der einen Seite die Refeudalisierung und auf der anderen Seite die Konversion in den autoritären Kapitalismus.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise, 2008

„Der Staat bedroht die Bürger mit seiner Schwäche.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2008

„Viele Diagnostiker verstecken sich ja heute hinter einer Komplexitätsrhetorik, indem sie sagen: »Die Dinge sind so kompliziert, daß wir sie nicht lösen können. Gott sei Dank müssen wir sie nicht lösen und können deswegen weitermachen.« .... Ein Habitus, der sich in unserer Gesellschaft breit gemacht hat, Komplexität als Ausrede dafür zu verwenden, daß man Passivität einübt.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2008

„Es gibt ein starkes Argument eines deutschen Staatsrechtlers ...: »Wer ›Menschheit‹ sagt, will betrügen« (Carl Schmitt). Das heißt, man täuscht ein »Super-Wir« vor, daß es noch gar nicht gibt, daß in Wirklichkeit wiederum eine maskierte partikulare Stimme ist. Nach dem Schema hat ja übrigens auch die Ideologiekritik in den letzten 200 Jahren funktioniert. Da treten z.B. so ein paar französische Rechtsannwälte ... auf - es sind vielleicht ein paar 100 Leute - und nennen sich selbst »die Menschheit«. Daraus ist die französische Revolution hervorgegangen. Und so funktioniert das immer. Es gibt immer eine kleine Avantgarde - die nennt sich selbst »Menschheit« - und trägt sozusagen die Flamme vor allen anderen her und sagt: »Alles hört auf mein Kommando!«“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2008

„Carl Schmitt würde sagen: der erfolgreichste Superorganismus, den wir bisher hervorgebracht haben, ist dieser ... zweipolige Nationalstaat, in dem der Markt und ein hinreichend regulierungsfähiger staatlicher Apparat eine sinnvolle Synergie miteinander erzeugen. Alles, was darüber hinaus liegt, gelingt uns noch nicht.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2008

„Der Theologe ist der Anwalt der Gläubigen vor der Vernunft.“
Peter Sloterdijk, in Sat 1, 18.05.2008, 23.35 Uhr

„Neben Alan Greenspan ist Onkel Dagobert ein Charaktertitan.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Was heute Krise heißt, ist die Weltverschwörung der Spießer.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Diese vorgeblich heftigste Wirtschaftskrise der jüngeren Geschichte: sie ist die spießigste und muffigste Angelegenheit, die sich seit Menschengedenken zugetragen hat. Die Art und Weise, wie regierende Hausmeister im Dunkeln Megamilliarden hin- und herschieben, ist eine Beleidigung für jede Intelligenz. Demgegenüber waren der Schwarze Freitag und die Weltwirtschaftskrise nach 1929 ein Shakespeare-Drama.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Heute sehen wir nur noch Aktenkofferträger in viel zu hohen Positionen, die hinterm Schalter große Politik machen. Obendrein redet man immerzu von der Gier, als ob sie die Vorgänge auch nur von fern erklärte. Die Wahrheit ist, der viel zitierte Bereicherungstrieb spielt in der Angelegenheit eine völlig untergeordnete Rolle. Es ist nicht die Gier, die das System antreibt, die Fehlsteuerung geht von den Zwängen des Billigkreditsystems aus: Wenn die Zentralbanken kostenloses Geld ausspucken, wäre es für echte Global Player ruinös, es nicht zu nehmen.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Heute sehen wir nur noch Aktenkofferträger in viel zu hohen Positionen, die hinterm Schalter große Politik machen.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Obendrein redet man immerzu von der Gier, als ob sie die Vorgänge auch nur von fern erklärte. Die Wahrheit ist, der viel zitierte Bereicherungstrieb spielt in der Angelegenheit eine völlig untergeordnete Rolle. Es ist nicht die Gier, die das System antreibt, die Fehlsteuerung geht von den Zwängen des Billigkreditsystems aus: Wenn die Zentralbanken kostenloses Geld ausspucken, wäre es für echte Global Player ruinös, es nicht zu nehmen.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Im übrigen könnte man behaupten, in jedem Europäer steckt ein Inflationist: Seit dem Beginn der Neuzeit hat sich in den Menschen Europas das Märchenmotiv vom leistlosen Einkommen mit archetypischer Gewalt festgesetzt. Von unserer psychischen und kulturellen Struktur her sind wir Schatzsucher, die den Schatz nicht mehr im Jenseits, sondern auf der Erde vermuten. Wenn es um Reichtum geht, neigen wir zum Wunderglauben - daneben sind mittelalterliche Menschen pure Rationalisten.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Unzählige meinen allen Ernstes, das Leben sei ihnen einen Schatzfund schuldig.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Die Reichen sind gegenwärtig noch eine Klasse und keine Spezies, aber könnten es werden, wenn man nicht aufpaßt. Es dürfte gegenwärtig auf der Erde rund 10 Millionen Menschen in der Millionärs- und Multimillionärskategorie geben, dazu schon über 1000 Milliardäre. Aus diesen Vermögenseliten bildet sich ein neues abstraktes Übervolk, das dieselben Eigenschaften aufweist, die man vom alten europäischen Adel kannte: Sie denken kosmopolitisch, sie reisen viel, sie leben mehrsprachig, sie sind gut informiert und beschäftigen die besten Berater, sie reden ständig über Beziehungen, Sport, Kunst und Essen. Beim Volksthema Sex bleiben sie diskret. .... Jeremy Rifkin hat vor ein paar Jahren ein Buch (»Access - Das Verschwinden des Eigentums«, 2000) vorgelegt, das indirekt die Entstehung des neofeudalen Systems behandelt: Wir ersetzen, so seine These, heute Grundbesitz durch Zugang zu privilegierten Gütern, zu wertvollen Informationen, zu Luxusobjekten, zu elitären Adressen, zu exquisiten Kanälen und machtnahen Korridoren. Zugangskompetenz ist heute das Schlüsselgut, nicht Grundeigentum. Wir beobachten eine rasante Refeudalisierung auf überterritorialem Niveau. Und naturgemäß lebt niemand feudaler als jemand, der innerhalb des neuen Metavolks, des 10-Millionen-Volkes der Reichen, von gleich zu gleich kommuniziert.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Den Armen erscheint die Welt als ein Ort, an dem die nehmende Hand der anderen sich schon alles angeeignet hat, bevor sie selber den Schauplatz betraten.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Der Sündenfall geschieht, sobald der Privatbesitz aus dem Gemeinsamen ausgegrenzt wird. Er zeugt sich fort in jedem späteren ökonomischen Akt.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Auf dem Grund jeder revolutionären Respektlosigkeit findet man die Überzeugung, daß das Früher-Dagewesensein der jetzigen »rechtmäßigen« Besitzer letztlich nichts bedeutet. Von der Respektlosigkeit zur Enteignung ist es nur ein Schritt.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Alle Avantgarden verkünden, man müsse mit der Aufteilung der Welt von vorn beginnen.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Wer bei der anfänglichen Landnahme zugegriffen hat, wird auch bei späteren Machtnahmen ganz vorn sein.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Das Movens der modernen Wirtschaftsweise ist ... keineswegs im Gegenspiel von Kapital und Arbeit zu suchen. Vielmehr verbirgt es sich in der antagonistischen Liaison von Gläubigern und Schuldnern. Es ist die Sorge um die Rückzahlung von Krediten, die das moderne Wirtschaften von Anfang an vorantreibt - und angesichts dieser Sorge stehen Kapital und Arbeit auf derselben Seite.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Immerhin, in diesen Finanzkrisentagen erfährt man es schon aus den Boulevardzeitungen: Der Kredit ist die Seele jedes Betriebs, und die Löhne sind zunächst und zumeist von geliehenem Geld zu bezahlen - und nur bei Erfolg auch aus Gewinnen. Das Profitstreben ist ein Epiphänomen des Schuldendienstes, und die faustische Unruhe des ewig getriebenen Unternehmers ist der psychische Reflex des Zinsenstresses.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Es würde sich an dieser Stelle nicht lohnen, die Irrtümer und Mißverständnisse aufzuzählen, die der abenteuerlichen Fehlkonstruktion des Prinzips Eigentum auf der von Rousseau über Marx bis zu Lenin führenden Linie innewohnen. Der letztgenannte hat vorgeführt, was geschieht, wenn man die Formel von der Expropriation der Expropriateure aus der Sphäre sektiererischer Traktate in die des Staatsparteiterrors übersetzt. Ihm verdankt man die unüberholte Einsicht, daß die Schicksale des Kapitalismus wie die seines vermeintlichen Gegenspielers, des Sozialismus, untrennbar sind von der Ausgestaltung des modernen Staates.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Um die unerhörte Aufblähung der Staatlichkeit in der gegenwärtigen Welt zu ermessen, ist es nützlich, sich an die historische Verwandtschaft zwischen dem frühen Liberalismus und dem anfänglichen Anarchismus zu erinnern. Beide Bewegungen wurden von der trügerischen Annahme animiert, man gehe auf eine Ära geschwächter Staatswesen zu. Während der Liberalismus nach dem Minimalstaat strebte, der seine Bürger nahezu unfühlbar regiert und sie bei ihren Geschäften in Ruhe läßt, setzte der Anarchismus sogar die Forderung nach dem vollständigen Absterben des Staates auf die Tagesordnung. In beiden Postulaten lebte die für das 19. Jahrhundert und sein systemblindes Denken typische Erwartung, die Ausplünderung des Menschen durch den Menschen werde in absehbarer Zeit an ein Ende kommen: im ersten Fall durch die überfällige Entmachtung der unproduktiven Aussaugungsmächte Adel und Klerus; im zweiten durch die Auflösung der herkömmlichen sozialen Klassen in entfremdungsfreie kleine Zirkel, die selber konsumieren wollten, was sie selber erzeugten.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, daß Liberalismus wie Anarchismus die Logik des Systems gegen sich hatten. Wer eine gültige Sicht auf die Tätigkeiten der nehmenden Hand hätte entwickeln wollen, hätte vor allem die größte Nehmermacht der modernen Welt ins Auge fassen müssen, den aktualisierten Steuerstaat, der sich auch mehr und mehr zum Schuldenstaat entwickeln sollte. Ansätze hierzu finden sich de facto vorwiegend in den liberalen Traditionen. In ihnen hat man mit beunruhigter Aufmerksamkeit notiert, wie sich der moderne Staat binnen eines Jahrhunderts zu einem geldsaugenden und geldspeienden Ungeheuer von beispiellosen Dimensionen ausformte.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Dies gelang ihm vor allem mittels einer fabelhaften Ausweitung der Besteuerungszone, nicht zuletzt durch die Einführung der progressiven Einkommensteuer, die in der Sache nicht weniger bedeutet als ein funktionales Äquivalent zur sozialistischen Enteignung, mit dem bemerkenswerten Vorzug, daß sich die Prozedur Jahr für Jahr wiederholen läßt - zumindest bei jenen, die an der Schröpfung des letzten Jahres nicht zugrunde gingen. .... Inzwischen hat man sich längst an Zustände gewöhnt, in denen eine Handvoll Leistungsträger gelassen mehr als die Hälfte des nationalen Einkommensteuerbudgets bestreitet.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Voll ausgebaute Steuerstaaten reklamieren jedes Jahr die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für den Fiskus, ohne daß die Betroffenen zu der plausibelsten Reaktion darauf, dem antifiskalischen Bürgerkrieg, ihre Zuflucht nehmen.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Angesichts der bezeichneten Verhältnisse ist leicht zu erkennen, warum die Frage, ob der »Kapitalismus« noch eine Zukunft habe, falsch gestellt ist.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Wir leben gegenwärtig ja keineswegs »im Kapitalismus« - wie eine so gedankenlose wie hysterische Rhetorik neuerdings wieder suggeriert -, sondern in einer Ordnung der Dinge, die man cum grano salis als einen massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage definieren muß. Offiziell heißt das schamhaft »Soziale Marktwirtschaft«. Was freilich die Aktivitäten der nehmenden Hand angeht, so haben sich diese seit ihrer Monopolisierung beim nationalen und regionalen Fiskus überwiegend in den Dienst von Gemeinschaftsaufgaben gestellt. Sie widmen sich den sisyphushaften Arbeiten, die aus den Forderungen nach »sozialer Gerechtigkeit« entspringen. Allesamt beruhen sie auf der Einsicht: Wer viel nehmen will, muß viel begünstigen.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„So ist aus der selbstischen und direkten Ausbeutung feudaler Zeiten in der Moderne eine beinahe selbstlose, rechtlich gezügelte Staats-Kleptokratie geworden. Ein moderner Finanzminister ist ein Robin Hood, der den Eid auf die Verfassung geleistet hat. Das Nehmen mit gutem Gewissen, das die öffentliche Hand bezeichnet, rechtfertigt sich, idealtypisch wie pragmatisch, durch seine unverkennbare Nützlichkeit für den sozialen Frieden - um von den übrigen Leistungen des nehmend-gebenden Staats nicht zu reden. Der Korruptionsfaktor hält sich dabei zumeist in mäßigen Grenzen, trotz anderslautenden Hinweisen aus Köln und München. Wer die Gegenprobe zu den hiesigen Zuständen machen möchte, braucht sich nur an die Verhältnisse im postkommunistischen Rußland zu erinnern, wo ein Mann ohne Herkunft wie Wladimir Putin sich binnen weniger Dienstjahre an der Spitze des Staates ein Privatvermögen von mehr als 20 Milliarden Dollar zusammenstehlen konnte.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Den liberalen Beobachtern des nehmenden Ungeheuers, auf dessen Rücken das aktuelle System der Daseinsvorsorge reitet, kommt das Verdienst zu, auf die Gefährdungen aufmerksam gemacht zu haben, die den gegebenen Verhältnissen innewohnen. Es sind dies die Überregulierung, die dem unternehmerischen Elan zu enge Grenzen setzt, die Überbesteuerung, die den Erfolg bestraft, und die Überschuldung, die den Ernst der Haushaltung mit spekulativer Frivolität durchsetzt - im Privaten nicht anders als im Öffentlichen.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Autoren liberaler Tendenz waren es auch, die zuerst darauf hinwiesen, daß den heutigen Bedingungen eine Tendenz zur Ausbeutungsumkehrung innewohnt: Lebten im ökonomischen Altertum die Reichen unmißverständlich und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne dahin kommen, daß die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben – und dies zudem auf mißverständliche Weise, nämlich so, daß sie gesagt bekommen und glauben, man tue ihnen unrecht und man schulde ihnen mehr.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Tatsächlich besteht derzeit gut die Hälfte jeder Population moderner Nationen aus Beziehern von Null-Einkommen oder niederen Einkünften, die von Abgaben befreit sind und deren Subsistenz weitgehend von den Leistungen der steueraktiven Hälfte abhängt. Sollten sich Wahrnehmungen dieser Art verbreiten und radikalisieren, könnte es im Lauf des 21. Jahrhunderts zu Desolidarisierungen großen Stils kommen. Sie wären die Folge davon, daß die nur allzu plausible liberale These von der Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven der längst viel weniger plausiblen These von der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital den Rang abläuft. Das zöge postdemokratische Konsequenzen nach sich, deren Ausmalung man sich zur Stunde lieber erspart.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Die größte Gefahr für die Zukunft des Systems geht gegenwärtig von der Schuldenpolitik der keynesianisch vergifteten Staaten aus. Sie steuert so diskret wie unvermeidlich auf eine Situation zu, in der die Schuldner ihre Gläubiger wieder einmal enteignen werden - wie schon so oft in der Geschichte der Schröpfungen, von den Tagen der Pharaonen bis zu den Währungsreformen des 20. Jahrhunderts. Neu ist an den aktuellen Phänomenen vor allem die pantagruelische Dimension der öffentlichen Schulden. Ob Abschreibung, ob Insolvenz, ob Währungsreform, ob Inflation - die nächsten Großenteignungen sind unterwegs. Schon jetzt ist klar, unter welchem Arbeitstitel das Drehbuch der Zukunft steht: Die Ausplünderung der Zukunft durch die Gegenwart. Die nehmende Hand greift nun sogar ins Leben der kommenden Generationen voraus - die Respektlosigkeit erfaßt auch die natürlichen Lebensgrundlagen und die Folge der Generationen.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Die einzige Macht, die der Plünderung der Zukunft Widerstand leisten könnte, hätte eine sozialpsychologische Neuerfindung der »Gesellschaft« zur Voraussetzung. Sie wäre nicht weniger als eine Revolution der gebenden Hand. Sie führte zur Abschaffung der Zwangssteuern und zu deren Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit - ohne daß der öffentliche Bereich deswegen verarmen müßte. Diese thymotische Umwälzung hätte zu zeigen, daß in dem ewigen Widerstreit zwischen Gier und Stolz zuweilen auch der Letztere die Oberhand gewinnen kann.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Ich werde zeigen, daß eine Rückwendung zur Religion ebensowenig möglich ist wie eine Rückkehr der Religion - aus dem einfachen Grund, weil es keine »Religion« und keine »Religionen« gibt, sondern nur mißverstandene spirituelle Übungssysteme ....“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 12

„Wir haben Grund, bei Menschen nicht bloß mit einem einzigen Immunsystem zu rechnen, dem biologischen, das in evolutionärer Sicht an erster, in entdeckungsgeschichtlicher jedoch an letzter Stelle steht. In der Humansphäre existieren nicht weniger als drei Immunsysteme, die in starker kooperativer Verschränkung und funktionasler Ergänzung übereinandergeschichtet arbeiten: Über den weitgehend automatisierten und bewußtseinsunabhängigen biologischen Substrat haben sich beim Menschen im Lauf seiner mentalen und soziokulturellen Entwicklung zwei ergänzende Systeme zur vorwegnehmenden Verletzungsverarbeitung herausgebildet: zum einen die sozio-immunologsichen Praktiken, insbesondere die juristischen und solidarischen, aber auch die militärischen, mit denen Menschen in »Gesellschaft« ihre Konfrontationen mit fern-fremden Aggressoren und benachbarten Beleidigern oder Schädigern abwickeln; zum anderen die symbolischen beziehungsweise psycho-immunologischen Praktiken, mit deren Hilfe es den Menschen von alters her gelingt, ihre Verwundbarkeit durch das Schicksal, die Sterblichkeit inbegriffen, in Form von imaginären Vorwegnahmen und mentalen Rüstungen mehr oder weniger gut zu bewältigen.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 21-22

„Weil es sich so verhält, ist Kulturwissenschaft möglich; und weil nicht-naiver Umgang mit symbolischen Immunsystemen heute zu einer Überlebensbedingung der Kulturen selbst geworden ist, ist Kulturwissenschaft nötig.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 22-23

„Der Übergang von der Natur in die Kultur und umgekehrt steht seit jeher weit offen. Er führt über eine leicht zu betretende Brücke - das übende Leben.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 25

„Die effektivsten Anthroptechniken entstammen der Welt von gestern - und die heute lautstark angepriesene oder verworfene Gentechnik wird für lange Zeit, selbst wenn sie in größerem Maßstab beim Menschen praktikabel und akzeptabel würde, am Umfang dieser Phänomenen gemessen nur eine Anekdote bleiben.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 126

Religionen gibt es nicht.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 133

„Ich erinnere an die in der Einleitung erläuterte These, daß es beim Menschen nicht nur ein Immunsystem gibt, sondern deren drei, wobei die religiösse Komplex fast ganz in den Funktionskreis des dritten Immunsystems fällt.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 134

„Nietzsches »Artisten-Metaphysik« kann an den Vorgaben der darwinistischen Biologie unbemüht anknüpfen. Unter dem Aspekt der Unwahrscheinlichkeitsbetrachtung sind natürliche Arten und »Kulturen« - letztere definiert als traditionstüchtige Menschengruppen mit einem hohen Dressur- und Kunstfertigkeitsfaktor - Phänomene auf demselben Spektrum. In der Naturgeschichte der Artifizalität stellt die Natur-Kultur-Schwelle keinen besonders nennenswerten Einschnitt dar; allenfalls einen Höcker in einer Kurve, die von diesem Punkt an schneller steigt. Das einzige Privileg der Kultur gegenüber der Natur besteht in ihrer Fähigkeit, die Evolution als Kletterpartie auf dem Mount Improbable zu beschleunigen. Beim Übergang von der genetischen zur symbolischen oder »kulturellen« Evolution akzeleriert sich der Gestaltprozeß bis zu dem Punkt, an dem die Menschen auf die Erscheinung des Neuen zu eigenen Lebzeiten aufmerksam werden. Von da an nehmen Menschen zu ihrer eignen Innovationsfähigkeit Stellung - und zwar bis vor kurzem fast immer ablehnend.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 188-189

„Während Fortpflanzung bisher immer dem Primat der erzeugenden Seite unterstand und an der geglückten Wiederkehr des Alten im Jüngeren sein Erfolgskriterium besaß, soll in Zukunft das Kind den Vorrang genießen - diesen erlangt es, wenn es, wie Nietzsche unmißverständlich sagt, das Eine wird, das mehr ist als die zwei, die es schufen. Diejenigen, die das nicht wollen, heißen letzte Menschen.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 191

„Wie die westliche Welt den Schrecken der Arbeitslosigkeit kennt (der soziologische Name der Depression), so die östliche den Horror der Übungslosigkeit.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 421-422

„Auf der Wiederholung ruht der Bestand der Welt - womit gegen das Einmalige nichts gesagt ist, außer daß man es mißbraucht, wenn man nur um das Goldene Kalb »Ereignis« tanzt. Es liegt in der Natur der Naturen, Wiederholungssysteme für das Bewährte zu sein, und für Kulturen gilt das in nahezu gleichem Maß.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 505

„Wer Belege für die explizite Aufhebung des 5. Gebots im 20. Jahrhundert sucht, wird zuerst bei den intellektuellen Interpreten der russischen Revolution fündig.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 623

„Der Mensch ist ein Lebewesen, das zur Unterscheidung der Wiederholung verdammt ist. .... Was seine Vernunft trübt, sind ncht zufällige Irrtümer und okkasionelle Wahrnehmungefehler - es ist die ewige Wiederkehr der Klischees, die wahres Denken und freies Wahrnehmen verunmöglichen.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 639, 640

„Das ursprüngliche ethische Leben ist reformatorisch. Stets will es die schlechte Wiederholung gegen die gute tauschen. Es möchte korrupte Lebensformen durch integre ersetzen. Es strebt danach, dem Unreinen auszuweichen und ins Reine einzutauchen. .... In diesem Rahmen emergiert individualisierte Freiheit in ihrer ältesten und heftigsten Gestalt.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 641

„Durch die Sezession der Übenden wird das gesamte Ökosystem menschlichen Verhaltens auf veränderte Grundlagen gestellt. Wie alle Explizitmachungen bewirkt auch das Auftauchen der frühen Übungssysteme eine radikale Modifikation des jeweiligen Bereichs ....“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 642

„Der Mensch ist ein Lebewesen, das nicht nicht üben kann - wenn üben heißt: ein Aktionsmuster so wiederholen, daß infolge seiner Ausführung die Disposition zur nächsten Wiederholung verbessert wird.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 643

„Immunsysteme sind verkörperte bzw. institutionalisierte Verletzungs- und Schädigungserwartungen, die auf der Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem beruhen. Während sich die biologische Immunität auf die Ebene des Einzelorganismus bezieht, betreffen die beiden sozialen Immunsysteme die überorganismischen, sprich die kooperativen, transaktionalen, konvivialen Dimensionen menschlicher Existenz. Das solidaristische System garantiert Rechtsicherheit, Daseinsvorsorge und Verwandtschaftsgefühle jenseits der jeweils eigenen Familien; das symbolische gewährt Weltbildsicherheit, Kompensation der Todesgewißheit und generationenübergreifende Normenkonstanz. Auch auf dieser Ebene gilt die Definition: »Leben« ist die Erfolgsphase eines Immunsystems.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 709-710

„»Leben« ist die Erfolgsphase eines Immunsystems. Wie das biologische Immunsystem können auch das solidaristische und das symbolische Phasen der Schwäche, ja sogar der Beinahe-Erfolglosigkeit durchlaufen. Solche äußern sich in der Selbst- und Welterfahrung der Menschen als Labilität des Wertbewußtseins und als Ungewißheit hinsichtlich der Belastbarkeit unserer Solidaritäten. Ihr Zusammenbruch ist mit dem Kollektivtod gleichbedeutend.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 710

„Alle Geschichte ist die Geschichte von Immunsystemkämpfen.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 712

„Vermutlich sind Fragen des Nehmens und Gebens - neben der Sexualität - die sensitivsten Angelegenheiten, die überhaupt vor Publikum verhandelt werden können. Es sind die Fragen, die unverkennbar die thymotischen (die stolzhaften, die zornhaften und die ressentimenthaften) Leidenschaften aufwühlen - Affekte, denen ich in meinem Buch »Zorn und Zeit« einigermaßen umfangreiche Überlegungen gewidmet habe.“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Ich stelle noch einmal in Kürze dar, worauf mein aktueller Aufsatz im Rahmen der »Krise-des-Kapitalismus-Debatte« der F.A.Z. hinaus wollte: Der moderne Steuerstaat hat das Zeitalter der einseitigen Plünderung der Armen durch die Mächtigen beendet - eine Tatsache, die schlechthin niemand auf der Welt bedauern dürfte. Der Proudhonsche Satz: »Eigentum ist Diebstahl« hatte die alte Ordnung der Dinge polemisch auf den Begriff gebracht. Seither hat die politische Moderne ein weltgeschichtlich beispielloses System der Umverteilung erarbeitet, in dem der zugleich liberale und soziale Staat sich Jahr für Jahr rund die Hälfte aller Wertschöpfungsergebnisse der wirtschaftenden Gesellschaft aneignet und diese nach Maßgabe seiner Funktionen und Pflichten neu verteilt - in der Bundesrepublik Deutschland macht die Abschöpfungsmasse seit dem Jahr 2000 regelmäßig eine Summe von etwa 1000 Milliarden Dollar aus. Der »nehmende Staat« beruft sich - zumindest auf dem linken Parteienspektrum - noch heute auf die Überzeugung, daß gegen den ungerechten primären Diebstahl nur ein korrigierender gerechter Gegendiebstahl Abhilfe schafft: Marxistisch heißt diese Prozedur seit dem 19. Jahrhundert „Expropriation der Expropriateure.“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Mein Aufsatz nimmt gegenüber dieser Entwicklung eine bedingungslos bejahende Perspektive ein. Seit Jahren werde ich nicht müde, auf einschlägigen Konferenzen meine Überzeugung zu bekennen, daß die progressive Einkommenssteuer die maßgeblichste moralische Errungenschaft seit den Zehn Geboten darstellt. Weil ich die Denkfigur des Gegendiebstahls wichtig, um nicht zu sagen: epochal bedeutsam finde (sie hat von Rousseau über Marx und Lenin bis hin zu Steinbrück Geschichte gemacht), verwende ich für sie gelegentlich auch das provozierende Wort »Kleptokratie« - ein Ausdruck, der geeignet ist, Habende und Nichthabende aus ihrem dogmatischen Schlummer zu wecken.“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Als unverbesserlicher Verteidiger einer sozialdemokratischen (oder wie ich der Deutlichkeit zuliebe sage: semi-sozialistischen) Logik habe ich nur einen einzigen, allerdings schwerwiegenden Einwand gegen die bestehenden Verhältnisse vorzubringen: Ich nehme daran Anstoß, daß niemand das aktuelle System der Zwangsbesteuerung als solches in Frage stellt - auch wenn man hin und wieder über die »Vereinfachung« der Besteuerungsverfahren und über deren Reform im Sinne der »sozialen Gerechtigkeit« diskutiert. Nirgendwo wird auch nur hypothetisch darüber nachgedacht, ob es nicht besser insgesamt durch eine geregelte Praxis der öffentlichen Spenden zu ersetzen wäre. Tatsächlich endet mein Aufsatz mit dem Aufruf zu einem moralisch und politisch anspruchsvollen Gedankenexpriment: Angenommen, der moderne Staat brauchte tatsächlich genau die Summen, die er heute durch Zwangssteuern eintreibt: So soll er sie erhalten.“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Jedoch: Wäre es dann nicht viel würdevoller und sozialpsychologisch produktiver, dieselben Beträge würden nicht durch fiskalische Zwangsabgaben aufgebracht, sondern in freiwillige Zuwendungen von aktiven Steuerbürgern an das Gemeinwesen umgewandelt? Würde man nicht erst nach dieser Umstellung von Enteignung auf Spende wirklich von einer Zivilgesellschaft sprechen dürfen, in der die Bürger mit dem Gemeinwesen durch eine permanente Selbstüberwindung und eine stetige Bestätigung des Etwas-Übrig-Habens fürs Allgemeine und Gemeinsame verbunden sind? Würde nicht erst durch eine solche Veränderung die Wende von einer gierbeherrschten zu einer stolzbewegten Gesellschaftsform bewirkt, von der so viele Kritiker der bestehenden Verhältnisse - gerade auch im linken Spektrum - zu träumen schienen? Was soll überhaupt aus einer Linken werden, die exklusiv an den Begriffen »Enteignung« und »Besteuerung« klebt und der zu einer Ethik der Gabe schlechterdings nichts einfällt?“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Ein letztes Wort zu dem von Ihnen geäußerten Wunsch, eine breite Debatte über den Gegensatz von »Professorenphilosophie“ und »literarischer Philosophie“ in Gang zu setzen: Dies könnte nur dann zu einer erhellenden Auseinandersetzung führen, wenn es den so bezeichneten Gegensatz wirklich gäbe. In Wahrheit, fürchte ich, existiert eine solche Front allein in der Einbildung von verständnislosen externen Beobachtern. Es gibt nur plausible und unplausible Argumente, kreatives und stagniertes Denken, mutige und feige Reflexion, großzügige und bornierte Gesinnung, interessante und langweilige Schreibweise. Es wäre verrückt zu glauben, solche Gegensätze hätten etwas mit dem »Gattungsunterschied« zwischen akademischem und literarischem Theorie-Stil zu tun. Dies wäre eine Beleidigung für die guten Autoren auf beiden Seiten und ein Affront gegen die guten Leser hier wie dort. Nun urteilen Sie selbst, wo unser ziemlich boshafter und sehr leseschwacher Philosophieprofessor (Axel Honneth aus der »Frankfurter Schule«; Anm. HB) einzuordnen ist.“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Was lernt man aus der ganzen Affäre? Ich denke: nichts, was nicht längst offenkundig war. Ich besitze seit längerer Zeit eine beachtliche Sammlung an Beispielen dafür, wie weit manche abgehängte Kollegen bei der Zurschaustellung ihrer Stagnation und Frustration zu gehen bereit sind. Nun hat unser unglücklicher Frankfurter Professor (Axel Honneth aus der »Frankfurter Schule«; Anm. HB) ein neues Beispiel hinzugefügt. Enthält es eine neue Information? Ich sehe keine, außer vielleicht dieser: So, wie es kein staatlich festlegbares Limit für die Gier von Finanzmanagern gibt, so gibt es auch keine legale Obergrenze für Giftkonzentrationen in glücklosen Philosophieprofessoren.“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Ein Gutes hat die Krise ja: sie führt zu einem rapiden Vertrauensverlust in die Standardtheorien der Volkswirtschaft, wir wie sie seit 200 Jahren gekannt haben. Ich habe noch nie so viele offene Bankrotterklärungen für kursierende Theorien gelesen wie während des letzten Jahres. Ich muß zugeben: ich habe die immer mit Genugtuung gelesen, weil ich zweifellso nicht der einzige Konsument dieser Theorien bin, der seit langem von dem Gefühl begleitet worden ist, daß ... - in diesen 200 Jahren, die wir Volkswirtschaftstheorien betreiben - ... wir überhaupt noch nicht zur Sache gekommen sind. Weswegen ich ja auch immer wieder auf dieses Buch von Otto Steiger und Gunnar Heinsohn (Eigentum, Zins und Geld) hinweise, wo ich das Gefühl habe: da kippt die Theorieszene in eine schlüssige Figur um, die offenbar das Zeug dazu hat, ein stabiles Modell zu liefern, an dem man sich in Zukunft orientieren kann.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2009

„Also: Theorien sterben auf breiter Front; wir sind in einer »Darwinistischen Idealsituation«, auch wenn zum Theoriesterben noch sehr viele Pensionierungen stattfinden müssen. .... Es könnte sein, daß diese neuen Theorien, die eine Art Verhaltensforschung im Bereich des irrationalen Verhaltens von Menschen ansiedeln, und eine sehr stark rational strukturierte Theorie des Wirtschaftszusammenhangs ..., die den Zusammenhang zwischen Eigentum, Zins und Geld betrifft: da gibt es möglicherweise ein konvergente Bewegung. Ich meine, dies wahrzunehmen, zumindest in der Hinsicht, daß die Skepsis gegen die traditionellem Theorien immer mehr um sich greift. Und immer mehr Bankleute geben doch offen zu, daß sie nicht verstehen, was sie tun.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2009

„Was macht aber das breite Publikum ... in dieser spannenden und tragischen Welt? Die Menschen fordern ja doch ihre Rechte auf Wohlstand ein, aber noch mehr vielleicht sogar ihre Rechte auf Illusionen. Und dabei denkt man - im Blick auf diese kollektiven Stimmungen - an ein starkes Bild, das Friedrich Nietzsche geprägt hat, in dem er den Menschen beschreibt als ein Geschöpf, das auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängt und der erwachend nicht weiß, ob er absteigen soll oder besser in seine Träumerei zurückkehrt. Ich glaube, wir stehen heute vor der Wahl, entweder weiter zu träumen oder zu lernen, wie man Tiger domestiziert. - Guten Abend.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2009

„Im finanztheoretischen Jargon heißen Leistungsträger die 25 Millionen Steueraktiven, die vorläufig noch damit einverstanden sind, in Deutschland zu leben, und aus deren Einkommen sowie aus den davon abzuführenden Abgaben praktisch alles stammt, was die 83-Millionen-Population des Landes am Leben hält. Wer es genauer wissen will, kann offiziellen Tabellen die aktuellen Zahlen entnehmen: Allein das obere Zwanzigstel der Leistungsträger bestreitet gut 40% des Gesamtaufkommens an Einkommenssteuern, das obere Fünftel 70%.“
Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 106

„Insbesondere haben Ricardo und Marx die folgenschwerste Verwirrung gestiftet, als sie dozierten, die »Wertschöpfung« gehe letztlich ausschließlich au den Faktor »Arbeit« zurück. Es gibt vermutlich keine zweiten Fall in der Geschicht der Ideen, in dem ein theoretischer Irrtum so große praktische Folgen nach sich zog. Auf ihm basiert ein bis heute virulentes System der Leistungsträgerverleumdung, das sich über zweihundert Jahre von den Frühsozialisten bis zu den Postkommunisten erstreckt. Der Zeitpunkt scheint gekommen, den Pflock endlich tief genug in den Boden einzuschlagen, damit nie wieder hinter die entscheidende Erkenntnis zurückgegangen wird: daß in der modernen objektiv sozialdemokratisierten Staats- und Gesellschaftswirklichkeit die Leistungsträger im genannten Sinn summa summarum zu einer gebenden Größe geworden sind. Sie können auf der Geberseite mit eindrucksvollen Summen in Erscheinung treten, weil sie und solange sie als Erwirtschafter von Einkommen nicht unbelohnt bleiben. Gewiß, es gab und gibt hierbei Exzesse, die nach Korrektur verlangen, im 21. Jahrhundert nicht anders als im 19. Wer aber reflexhaft »Kapitalismus« ruft, beweist nur, daß er nichts begriffen hat. Wir brauchen statt ökonomischer Halbgedanken ein neues und zu Ende durchdachtes Modell vom Nexus zwischen Eigentum, Zins und Geld. Im Klartext: Es ist Zeit, Gunnar Heinsohn zu lesen.“
Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 106

„Bürgertum bedeutet eigentlich so etwas wie »Adel für Alle«, nämlich: Staatsbürgertum.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Mai 2010

„Die Mitte wird von zwei Seiten unter Druck gesetzt. Die Mitte läßt sich von den Spekulanten viel Geld abnehmen und führt ihrerseits enorme Summen ... in dieses soziale Segment ab, das wir hier die Transferempfänger genannt haben.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Mai 2010

„Wie wir noch längst nicht alle Konsequenzen aus dem Satz »Gott ist tot« gezogen haben, sind uns auch bei weitem noch nicht sämtliche Implikationen des Satzes »der reine Beobachter ist tot« bewußt.“
Peter Sloterdijk, Scheintod im Denken, 2010, S. 14

„Man könnte die historischen Komplikationen im Verhältnis zwischen Philosophie und Politik am besten durch vier Modifikationen der Herrin-Magd-Beziehung wiedergeben: Die antike Philosophie stellte sich als eine Herrin vor, die die Politik zu ihrer Magd machen wollte. Im christlichen Weltalter wurde sie selbst zur Magd der Theologie. Die neuzeitliche Philosophie unternahm einen neuen Anlauf, zur Herrin der Welt zu werden, konnte diesen Anspruch jedoch nur verwirklichen, indem sie die Wissenschaften aus sich entließ, die ihrerseits zu Mägden der faktischen Herrin Technik wurden. Die Philosophie verliert schließlich den Kampf um die Macht auf der ganzen Linie ....“
Peter Sloterdijk, Scheintod im Denken, 2010, Anmerkung 32, S. 83

„In jedem authentischen Austausch zwischen Menschen ist der Vorsprung des Gebens uneinholbar. Gerechtigkeit kann nur jenseits der Symmetrie von Nehmen und Geben gedacht werden. Sie läßt sich nie ohne Ungleichheit und Einseitigkeit vorstellen.“
Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 45

„Und je weiter man heute nach links schaut, desto reaktionärere Konzepte blicken zurück.“
Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 50

„Mitte sein heißt heute: riskieren, zwischen zwei Undankbarkeiten zerrieben zu werden.“
Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 52

„Es ist nicht ganz einfach, vor unseren christlich-miserabilistischen Hintergrund ein positives Verhältnis zum Reichtum zu entwickeln. Wir sprechen leiber Arme selig als Millionäre.“
Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 63

„Einwanderung ohne Bedingungen ..... Die Bundesrepublik Deutschland ist der karikativste Staat der Menschheitsgeschichte ....“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2010

„Je weiter man heute nach links schaut, desto reaktionärere Konzepte blicken zurück.“
Peter Sloterdijk, Warum ich doch recht habe, in: Die Zeit, 02.12.2010

„Die gute Nachrhicht heute lautet: Die Renaissance ist nicht vorüber.“
Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 64

„In Wahrheit ist Freiheit nur ein anderes Wort für Vornehmheit, das heißt für die Gesinnung, die sich unter allen Umständen am Besseren, am Schwierigeren orientieren, eben weil sie frei genug ist für das weniger Waharscheinliche, das weniger Vulgäre, das weniger Allzumenschliche..“
Peter Sloterdijk, Streß und Freiheit, 2011, S. 57-58

„Ich habe nur die Judikative, die Legislative und die Exekutive genannt, aber die Spekulative habe ich nicht bemerkt.“
Peter Sloterdijk, „Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief durch“, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011

„Niemand mehr ist heute Nationalsozialist, aber alle sind Sozialnationalisten.“
Peter Sloterdijk, „Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief durch“, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011

„Habermas ... baut – wie immer – seine Häuser vom Dach aus.“
Peter Sloterdijk, „Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief durch“, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011

„Es gibt ja längst die ganz große Koalition der Postdemokraten, die heute die europäischen Schicksale unter sich aushandeln. Natürlich ist es eine wohlwollende Postdemokratie, aber es ist eine, die die Mitwirkung des Bürgers an all den Manövern nach wie vor nur in dieser würdelosen, vom Absolutismus abgeleiteten Form der Zwangsfiskalität erzwingen will. Bei Habermas gäbe es mehr Parlamentsbetrieb und mehr Wahlen, aber im Grunde wäre sein Europa dasselbe Monster aus 27 Zwangssteuerstaaten, bei dem jetzt schon den Bürgern Hören und Sehen vergeht, nur mit mehr symbolischem Überbau. Wenn die Europäer noch etwas mehr Stolz hätten, könnte man dieses Spiel mit ihnen nicht mehr treiben.“
Peter Sloterdijk, „Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief durch“, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011

„Ich glaube, der Staat hat mit seinem Zentralbankwahn in den letzten 20 Jahren kapitale Fehler gemacht, und jetzt, da man die Folgen der Fehler sieht, will er sie beheben, indem er die Fehler in noch größerem Maßstab wiederholt. Man muß ja nur die Ergebnisse dieses Flutens der Märkte einigermaßen aufmerksam studieren. Das Resultat ist, daß dieses Geld ja zum allergrößten Teil, zu etwa 80 bis 90 Prozent, nicht in die reale Wirtschaft geht, sondern in die Finanzspekulation. Wir haben es also mit rein technischen Zentralbankfehlern zu tun .... Es sind die Zentralbankfehler, die der Spekulation Tür und Tor geöffnet haben. Ich glaube deswegen auch kein Wort von dieser Gierpsychologie, die im Augenblick so gesellschaftsfähig ist. Natürlich gibt es einen Haben-wollen-Reflex in den Menschen, vor allem in der Form von Auch-Haben. Es gibt den Sammeltrieb bei den Frauen und die Beuteerwartung bei den Männern, und in unserem hermaphroditischen Zeitalter gehen beide Aneignungsreflexe ständig durcheinander. Aber wer hat denn das leichte Geld so hingelegt, daß jeder Passant ein Idiot sein müßte, der es nicht mitnimmt? Es sind letztlich die Zentralbanker gewesen, die die Spekulation ermöglicht haben.“
Peter Sloterdijk, „Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief durch“, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011

„Die Wirtschaftswissenschaft macht auf mich den Eindruck einer Disziplin, die ihre Grundlagen verloren hat. Die ganze Fakultät ist in einem desolaten Zustand. Man bekommt mehr und mehr das Gefühl, die Theorien als solche sind sich selbst wahrmachende Fiktionen, die man an keinem äußeren Maßstab festmachen kann. Für den Erkenntnistheoretiker ist das keine ganz neue Beobachtung. Niklas Luhmann hat schon vor 20 Jahren statuiert: Gute Theorie ist wie Instrumentenflug über einer geschlossenen Wolkendecke. Sichtflug ist nur für Amateure, der Durchblick bis auf den Grund ist für den Sozialwissenschaftler immer schädlich, weil er den Einflüsterungen seiner Subjektivität und Sentimentalität erliegt.“
Peter Sloterdijk, „Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief durch“, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011

„Sie kennen sicher Sebastian Haffners Buch Erinnerungen eines Deutschen. Darin wird berichtet, wie gebannt die 14- bis 16-Jährigen während des Ersten Weltkriegs die tägliche Frontberichterstattung verfolgten. Das brachte rezeptionspsychologisch einen historisch neuen Effekt hervor: die Zwangskollektivierung der Aufmerksamkeit. Es war, als verfolgte das Volk der Jüngeren ein jahrelanges Champions-League-Turnier. Die Jungen von 1914 bis 1918 waren daher medial indirekt darauf vorbereitet, als Hitler seine Rückrunde verlangte. Aus der im Sommer 1914 über uns verhängten Zwangskollektivierung durch Erregungsmedien sind wir bis heute nicht ausgestiegen.“
Peter Sloterdijk, „Vielleicht waren wir zu früh“, Gespräch, in: Zeit-Online, 11. Mai 2012

„Aufmerksamkeit auf sich selbst - das ist ja einfach die Art und Weise, wie moderne Subjekjtivität funktioniert. Wirr sind zur Selbstbezüglichkeit verurteilt beziehungsweise zu ihr erzogen worden. Das hat vor allem mit den Egotechniken zu tun, die unser Leben seit 200 Jahren prägen.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 37

„Die menschliche Existenz ist immer durch eine Art anthropologische Differenz bestimmt: Auf der einen Seite gibt es Menschen, denen es schon gelungen ist, Menschen zu sein in diesem erhöhten Sinn, und solchen, die im Bereich der Vorstufen herumwerkeln. Seit dem zweiten Jahrtausend vor Christus hat sich die anthropologische Differenz vor allem in der Differenz zwischen dem heiligen und dem profanen Menschen zum Ausdruck gebracht. Indien ist das Mutterland dieser Differenz ..., in der Antike nimmt sie in einer indogermanischen Interpretation die Idee des Weisen an. Die ganze Geschichte ist die Geschichte einer anthropologischen Differenz zwischen Menschen, die es in einer spezifischen Hinsicht etwas weiter gebracht haben, und Menschen, die es nicht so weit gebracht haben.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38

„Gautama Buddha hat etwas erreicht - das haben alle seine Mitmenschen gemerkt -, was er niemandem auf gezwungen hat. Sondern er hat andere immer nur belehrt und damit ein natürliches Gefälle des Seins und des Wissens mitgeteilt, das für all diejenigen, die in den Bereich seiner Lehre gekommen sind, quasi unwiderstehlich gewirkt hat. .... Das Anziehende ist daran, daß Buddha keine bloßen Verhaltensimperative gibt, sondern jeder Imperativ immer auch mit einer Art Übungsregel verknüpft wird.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38

„Auch das Christentum hat eine Übungskultur um sich herum ausgebildet, die die anthropologische Unwahrscheinlichkeit des Christseinkönnens mit einer unglaublichen Heftigkeit zum Ausdruck gebracht hat. Da kamen nämlich dann die Hochleistungschristen auf die Bühne, haben sich von den griechischen Athleten das ganze Vokabular ausgeliehen bis hin zum Gebrauch der beiden griechischen Trainingswörter »melete« und »askesis«. Die ersten Mönche haben sich offen heraus die Athleten Christi genannt. Und für ein ganzes Jahrtausend, eigentlich bis zu Luther, war ja das Christentum in erster Linie Mönchsreligion. Mit anderen Worten: Die Übermenschforderung ist die Substanz der Anthropologie der alten Hochkulturen.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38

„Die Moderne baut die Übermensch-Problematik ab, nicht auf. Wir versuchen ja eher, einen egalitären Ausgleich zwischen den Hochleistern und den Nichtleistern herbeizuführen. Wir haben eine Fülle von Lebensformen geschaffen, um diese Differenz abzubauen. Das Zeitalter der anthropologischen Differenz ist für uns im wesentlichen beendet: Wir geben nicht zu, daß es substanzielles Königtum gibt. Wir geben nicht zu, daß es substanzielle Weisheit gibt. Wir geben nicht zu, daß es substanzielle Heiligkeit gibt. Und wir geben auch nicht zu, daß es substanzielle Genies gibt. Also die vier Formen der anthropologischen Differenz, die ... prägend gewesen sind, sind jetzt mehr oder weniger erledigt. Darum hat Max Scheler vom Zeitalter des Ausgleichs gesprochen - er meinte damit, die alte Spannung zwischen Geist und Leben komme an ihr Ende.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38

„Sobald so eine Höhenposition errichtet ist, ist der Inhaber dieser Position eigentlich mehr ein Zeuge dieser Differenz und nicht so sehr ihr Propagandist. Er ist mehr ein Zeuge dafür, daß es Vertikalspannungen gibt. Die ruft das Ressentiment auf den Plan, und daher haben wir, seit es Hochkultur gibt, auch eine Ressentimentindustrie. Deshalb kann man den Beruf des Philosophen auch nicht ausüben, wenn man nicht das Schierlingsbechertrinken täglich mitübt.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 39

„Als öffentliche Person muß man ein ständiges Training absolvieren in der Unterscheidung zwischen dir selber und deinem Medienbild, diesem Avatar, der da draußen zirkuliert. In meinen nun veröffentlichten Tagebuchnotizen gibt es auch eine lustige Passage, in der ich mich selber als eine Art Voodoo-Puppe beschreibe, die von gutartigen Menschen mit Nadeln gespickt wird und dazu benutzt wird, guten Menschen zu Überlegenheitsgefühlen zu verhelfen. Menschen lieben ja ihre Meinungen und vor allen Dingen ihre Ablehnungen. Meine Beobachtung sagt mir, wenn ein Mensch einmal zu einer Art bevorzugter Ablehnung in Bezug auf irgendeine Person gekommen ist, dann hält er an einer solchen Position mit einer gewissen Leidenschaft fest, weil sie ein Teil der eigenen Persönlicjkeit ist. Haß ist identitätsstiftend.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 39

„Meine Primärwahrnehmung ist, daß nur wirklich wenige Menschen in einer authentischen Vertikalspannung leben.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 40

„Früher war es ja eher so, daß der Köder durch eine exemplarische Persönlichkeit ausgelegt worden ist. Meistens aus dem Feld der vierfachen Eminenzen - die Heiligen, die Könige, die Helden und die Genies. Das ist diese Vierfaltigkeit der menschlichen Köder, die den anderen Menschen zeigen, was nach vorne und oben möglich ist. Wenn man sich aber vor dieser Köderung in Sicherheit bringen möchte, dann entsteht ein ganz anderes Regime, das zum großen Teil identisch ist mit dem, das wir heute beobachten. Da wird die Vertikaldifferenz nicht durch diese vier Höhenpositionen repräsentiert, sondern durch Ranking -dieses zeitgenössische Instrument zur Interpretation von Vertikaldifferenz. Aber hinter allem Ranking steht ja die nihilistische Vermutung, daß a) dies alles nur äußere Evaluierungen sind und b) dies über den wirklichen Wert der Dinge nichts aussagt. Soziologisch gesprochen tritt an die Stelle des Vorbilds der Promi.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 40

„Darauf möchte ich auch hinaus. Ich sage, das einzige, was vor den verrücktmacherischen Dimensionen des Lebens in Vertikalspannung retten kann, ist, daß man sie zwar anerkennt, aber sich nicht in selbstdestruktive Formen des Vergleichs hineinbegibt. Die Menschheit hat bis auf den heutigen Tag kein stärkeres Mittel, unglücklich zu machen, entdeckt, als den direkten Vergleich mit Überlegenen. Gleichzeitig ist das ganze Leben eine einzige Veranstaltung zur Demonstration von Differenzen zwischen Menschen, die die Sache so gut machen, wie sie können, und anderen, die es besser machen. Man muß wissen, daß der Vergleich die moralische Höllenmaschine ist, die das menschliche Leben verwüstet. Zugleich ist er unausweichlich. Man muß wissen, wie man die schädlichen Vergleiche stoppt, um den langen Lauf des Lebens genau in der Geschwindigkeit zu bewältigen, die für mich die jetzt mögliche und richtige ist.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41

„Der Sportkörper und der Geistkörper sind nicht unabhängig voneinander zu denken. Das Gehirn ist ein überwältigend aktives Marathonorgan, so daß jeder Denkende gar nicht anders kann als sich mit den Äußerungen der übrigen Läufer - die nicht notwendigerweise Konkurrenten sind - auseinanderzusetzen. Das ist das größte moralische Geheimnis: Wie man dem Gift des Vergleichs zugleich heilsame Wirkung abverlangt. Man kann das Gift als Gegengift verwenden, indem man begreift, du könntest an keiner anderen Stelle laufen, als du es jetzt tust, und angesichts deines Trainingsniveaus auch nicht schneller.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41

„Die Urform der Anthropotechnik ist die Pädagogik. Die Pädagogen wollten aus Kindern, die man sich als polymorphe Nichtskönner vorgestellt hat, Alleskönner machen. Die Grundidee der sophistischen Pädagogik ist, daß der vollendete Mensch alles können soll. Dies ist das Ziel der klassischen Paideia: Das Leben strebt nach Vollständigkeit, das Leben selber ist per se Vielseitigkeit.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41

„Ja, das Leben ist Dekathlon, der allgemeine Zehnkampf. Daß jeder Mensch in seiner Zehnkämpfer- oder Allkämpfer-Eigenschaft ernst genommen wird und deswegen nach allen Seiten lernen muß, das ist die große Intuition der Sophisten gewesen. Das erstaunliche Ideal der sophistischen Erziehungsprogramme ist, aus dem Menschen ein Wesen zu machen, das der größten Bedrohung des Menschseins bis ins Äußerste widersteht, nämlich der Amechania. Griechisch: die Hilflosigkeit - wenn man keine mechane mehr hat, keine List, keinen Trick, kein Hilfsmittel. Amechania ist der Zustand, in dem sich das menschliche Wesen schlechterdings niemals befinden soll. Alle Erziehung ist Überwindung der Amechania.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41

„Wenn der Sophist der Prototyp des Erziehers ist, und wenn das Wesen der Erziehung darin besteht, den Menschen Hilfsmittel gegen das Versinken in Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit anzubieten, dann sollte man mit Leib und Seele Sophist sein.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41

„Im Oberseminar kommt die Debatte auf Otto Röslers Überlegungen zu den Risiken der CERN-Experimente, die 2009 beginnen sollen. Rösler führt aus, es sei nicht mit absoluter Gewißheit auszuschließen, daß sich bei den Teilchenkollisionen in dem Large Hadron Collider ein winziges Schwarzes Loch bildet, das nicht sofort (wie man allgemein erwartet) zerstrahlt, sondern sich irgendwie stabilisiert. Träte das ein, so würde es die typischen Eigenschaften eines solchen Objekts entwickeln, nämlich alle Materie um sich herum aufzufressen. Die Vorstellung ist in ihren Konsequenzen furchterregend, obschon die Idee eines Weltuntergangs durch physikalische Grundlagenforschung auch etwas Erhabenes besitzt. Das Schwarze Loch made in Swizzerland würde aufgrund seiner noch sehr kleinen, aber schon überdichten Masse im freien Fall zum Erdmittelpunkt hinuntersausen und von dort aus sein Werk verrichten - zur Enttäuschung derer, die meinten, aus Gründen der Fairneß müßten Genf und Umgebung zuerst eingesaugt werden. Die Implosion beträfe alle Orte an der Peripherie des Planeten gleichzeitig und symmetrisch. Die Materie der Erde würde gerade mal ausreichen, um auf eine Kugel von der Größe einer Honigmelone zu schrumpfen. Im Zusammenhang mit diesen Visionen tauchte unter den Teilnehmern des Seminars die Frage auf, ob es ein bürgerliches Widerstandsrecht in bezug auf Risiken von Forschung gibt. Wer den Eigenwillen des Wissenschaftsbetriebs kennt, wird an ein solches Recht nicht glauben, geschweige denn an seine Umsetzung. Wie sollte das geschehen? Können Bürger gegen Elementarteilchen auf die Straße gehen?“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 44

„Schlechte Nachrichten von der Europa-Front: Die Iren haben beim Referendum über den Lissabon-Vertrag mit Nein votiert wie vor ihnen schon die Franzosen und die Holländer. Da sieht man einmal mehr, wie sehr die Völker auf der Baustelle Europa stören. Man möchte meinen, im irischen Nein komme ein verblüffender Zusatz an Undankbarkeit zum Tragen, da ja die Iren als die größten Nutznießer der EU gelten. Das Elend ist, daß die Neinsager überall so tun können, als hätten sie nur das vertrackte Vertragswerk von Lissabon abgelehnt, seien aber ansonsten die besten aller Europäer. In Wahrheit liegt dem Nein alles mögliche zugrunde, auch Giftiges und Ungestehbares. In Frankreich war es seinerzeit besonders der zähe souveränistische Reflex gewesen, in Verbindung mit dem sehr verständlichen Wunsch, dem alten Staatskasper Chirac eins auszuwischen, zudem ein diffus populäres anti-europäisches Ressentiment. Der französische Nein-Cocktail von 2005 war komplizierter, als ein Leitartikel fassen kann - ein Gebräu aus landeseigenen Widerstandsmythen, anti-brüsseler Trotzgesten, germanophoben Reflexen, ironischen Elysee-Verhöhnungen, bedeutsam-philisterhaften Besserwissereien, konspirationsfrohen Internetaktionen, spätjakobinischem Negationseifer und anarchistischer Freude am Debakel- die Agitationen des Sozialisten Fabius nicht zu vergessen, der sich von der Nein-Welle ins Präsidentenamt tragen lassen wollte. “
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 44-45

„Geschichte ist für uns in erster Linie das Reich der Enttäuschungen. Das wollen die nicht einsehen, die heute affirmativ hinausposaunen: Die Geschichte geht weiter - als ob dies eine gute Nachricht wäre. In den letzten Jahren sind zwei Dutzend Anti-Fukuyama-Bücher erschienen (unter anderem von Ralf Dahrendorf und Joschka Fischer), fast alle von biederer Tendenz und ohne das geringste Gespür für die interessante Pointe der These vom Ende der Geschichte. Wer für die Konservierung der Geschichte plädiert, bekennt sich, ohne es zur Kenntnis zu nehmen, zu den kommenden Enttäuschungen - und zu den Illusionen, die ihnen vorausgehen. Die wichtigste Voraussetzung für den Fortgang der Geschichte ist seit jeher die nachwachsende Naivität der folgenden Generationen. Es ist der Anfängergeist, der die Dinge immer wieder von vorne startet. Die Jugend zerstört die Erfahrungen der Älteren durch ihre fatale Fähigkeit, bei Null zu beginnen. Sie entwertet die mühsam erworbenen Enttäuschungen, die doch das Beste waren, was die Alten besaßen. Die ungebrannten Kinder werfen die Weisheit der Eltern auf den Müll. Das einzige, was hoffen ließe, wäre eine Jugend, die durch Mißtrauen wettmacht, was ihr an Enttäuschung fehlt. “
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 45-46

14. Juni 2008, Wien. .... Mit dem Rad die größere Runde an der Donau bis Tulln und zurück. Bin rechtzeitig wieder zu Hause, um a) die Zahnschmerzen, die seit Monaten nie ganz verschwunden waren, wieder mit einer Dosis Ibu niederzukämpfen, b) mir ein Glas Burgenland-Roten zu genehmigen, c) das Spiel zwischen Spanien und Schweden anzusehen, d) speziell für Günther Netzer die Zeitmaschine neu erfinden zu wollen, damit er in seine Spielerzeit zurückreist statt zu kommentieren.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 46

„Was Fatalismus bedeutet, kann man beim Sport erleben -und nirgendwo so klar wie in der Unumkehrbarkeit der Fehlentscheidungen von Schiedsrichtern. Im Deutschen hat man dafür das herrlich absurde Wort »Tatsachenentscheidung« erfunden, das passive Gegenstück zu Fichtes überdrehtem Begriff »Tathandlung«, der ein Vorbote des Hyperaktivitätssyndroms in der Philosophie war. In Wahrheit wird durch die irreversiblen Entscheidungen der Schiedsrichter eine religiöse, genauer eine ontologische Disposition angesprochen - die Bereitschaft zur Unterwerfung unter die Macht des Faktischen. Die Pointe dabei: Die Unterwerfung muß auch dann vollzogen werden, wenn du mit eigenen Augen gesehen hast, daß die Entscheidung falsch war. Das ist ohne die abstrakte Ehrfurcht vor der lenkenden Instanz nicht zu denken, erst recht nicht ohne die Dressur, sich protestlos unter Verfahren und Diktate zu beugen. (Man könnte über eine gemeinsame Wurzel von Rechtsprozeduren, Gottesurteilen und Spielregeln nachdenken.) Nur die Unterwerfung (»Kastration«) löst in den Menschen die »ontologische Reaktion « aus, sprich die Hinnahme eines Resultats, bei welcher der Gedanke an Revision nicht mehr aufkommt. Im Licht dieser Überlegungen wird klar, wie abwegig die Versuche sind, die Schiedsrichterrolle durch Torkameras, Videobeweise usw. zu objektivieren. Zum Fußball als reguliertem Schicksalsdrama auf dem Rasen gehören drei Mannschaften. Nimmt man der Mannschaft im schwarzen Trikot die Freiheit, falsch zu pfeifen, hat man das Spiel ruiniert.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 46-47

„Das Referendum-Nein (in Irland und anderswo) ist die staatliche zugesicherte Form der Revolte. Um 1900 hätte man das vielleicht den weiblichen Widerstand genannt. Der geht darauf aus, dem Herrn einen Streich zu spielen, wenn er am großzügigsten war. Man überrascht ihn mit Negativität, wo er es am wenigsten erwartet. Für einmal hat die Psychoanalyse recht: Hysteriker sind auf der Suche nach einem Herrn, um ihn tyrannisieren zu können.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 47

„Der erste Schurkenstaat der Moderne, das revolutionäre Frankreich ....“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 53

„Nach jüngeren Statistiken gibt es in Deutschland 826000 »Millionäre«, sprich Personen, die mehr als 1 Million Euro an Privatvermögen besitzen. Weltweit sollen es 10,1 Millionen sein. Nach herkömmlichem Sprachgebrauch sind diese Leute natürlich keine echten Millionäre mehr, sondern gewöhnliche Wohlhabende, das bequeme 1 Prozent jeder Population. Die früher so genannten Millionäre haben sich nach oben abgesetzt, in die Vermögensstratosphäre, wo man mit dem Hundertfachen, dem Tausendfachen der simplen Million rechnet. Von den Lebenswirklichkeitendieser sehr kleinen Gruppen wissen wir weniger als von verlorenen Stämmen am Amazonas.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 55

3. Juli 2008, Karlsruhe. Regentag. Man liest, der Menschenrechtsrat der United Nations habe den »Schutz religiöser Gefühle« höher eingestuft als das Recht auf Meinungsfreiheit. Ein historisches Datum. Die Schutzidee hat die höchste Ebene erreicht. Von jetzt an wird alles Immunologie. Die Welt ist die Summe aller Protektionismen. Die Protektionisten selbst nehmen hiervon zumeist nicht Kenntnis, weil wohlwollende Verhältnisse, indem sie reziprok schützend sind, den Schein von Schutz-nicht-nötig-Haben erzeugen.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 59

„Der Verfasser der Petersburger Gespräche ahnte nicht, daß bei seinem protestantischen Zeitgenossen Hegel die stärkere Lösung des Rätsels gefunden worden war: Gott läßt die Ereignisse der Geschichte nicht bloß zu, er verwirklicht sich in ihnen. Die Prüfung besteht nicht darin, ihnen zu widerstehen, sondern darin, sich an ihre Spitze zu setzen.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 114

„Gäbe es eine objektive Geschichte der »Kritik«, würde man erkennen, wie einseitig man den Begriff zumeist gebrauchte. Man verstand darunter bis heute fast immer die Abrechnung der Gerechten und Progressiven mit dem schlechten »Bestehenden« und die Attacke dert Vernunft gegen das mißratene Alte. Was dabei übersehen wird, ist die Tatsache, daß seit 1789 der größere Teil der »Kritik« von konservativer Seite vorgebracht wird. Unentwegt geht man mit dem schelchten »Bewegenden« ins Gericht und findet tausend Gründe, über dem mißratenen Neuen den Stab zu brechen.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 114

„Inwiefern die Biologie bei Homo sapiens verquere Wege geht: Die Fixierung der juvenilen Merkmale beim Menschen, bis hin zu der ... sogenannten Neotenie, die mysteriöserweise die Beibehaltung mancher fötalen Züge in der menschlichen Physiologie bedeutet, bringt es mit sich, daß der Behaarungsbefehl nicht ausgeführt wird, durch den wir ein dichtes Fell bekämen - wahrscheinlich wird ein hormonelles Signal unterdrückt, das die Behaarung auslösen würde. Dazu muß man bedenken: Neugeborene Affen sind zunächst so nackt wie wir und legen sich ein Fell zu, wenn es an der Zeit ist. Diese Zeit kommt bei uns nicht mehr. Wir bleiben so minimal behaart, daß man mit einiger Berechtigung sagt, wir seien nackt - was man von keinem erwachsenen Tier behaupten würde. Auch der Schnauzenbildungsbefehl wird nicht mehr ausgeführt, wir behalten die infantilen Gesichter und können uns von Angesicht zu Angesicht anchauen. Der Befehl, die weiblichen Genitalien, die bei den weiblichen Jungaffen wie bei den Menschenfrauen zuerst vorne in subventraler Position liegen, in die hintere, subcaudale Position zu verschieben, wird ebenfalls nicht mehr beachtet. Von der Biologie der Befehlsverweigerung versteht man noch wenig. Es scheint, der Menschenkörper antwortet auf die Anordnungen der animalischen Natur, die zu einem erwachsenen Tier führen sollten, mit der Melvilleschen Formel: » I would prefer not to«. Mit der Weigerung, ein Fell zu tragen, beginnt die Mutation zum nackten Affen, der Amulette und Seidenstoffe bevorzugt.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 123-124

„Nach Luther kann jeder, der es wissen will, verstehen, wie, wann und warum dienen und rebellieren dasselbe bedeuten.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 126

„Die Sphärologie ist die Methode, die Geräumigkeit der Welt millionenfach zu erhöhen, während die üblichen Diskurse der Globalisierung die Welt degoutant verkleinern.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 131

„Der weltweite Erfolg der Psychoanalyse beruht nicht zuletzt auf der kollektiven und teilweise mutwilligen Ignorierung des Westermarck-Effekts, den man in dem Satz: »Frühe häusliche Vertrautheit zwischen Personen blockiert erotisches Begehren« zusammenfassen kann. Dieses Theorem, das von dem finnischen Soziologen ... (er starb ... im September 1939) vor allem mit Blick auf Geschwisterbeziehungen entwickelt worden war, läßt sich plausibel auf die Eltern-Kind-Beziehungen ausweiten. Der Mann Ödipus konnte seine Mutter nur zur Frau nehmen, weil er sie für eine Fremde hielt. Bei ihm war die erotische Neutralisierung durch Vertrautheit nicht eingetreten.  –  Trifft diese Beobachtung zu (und sie trifft zu! Anm. HB), kann es keinen allgemein verbreiteten Ödipus-Komplex geben, weil normale Jungen im nahen Umgang mit ihren Mütter aufwachsen und als begehrende Subjekte in der »ödipalen« Konstellation nicht in Frage kommen. Folglich wird die Ablenkung des Begehrens von der Mutter nicht durch das väterliche Verbot bewirkt .... Vielmehr geht das erotische Verlangen, wenn es erwacht, von sich aus exogame Wege, der Vater spielt bei Ablenkung des Eros vom Primärobjekt so gut wie keine Rolle, allenfalls als Modell dafür, wie man sich als Interessent gegenüber einer weiblichen Person zu benehmen hat - und selbst das ist nicht überzeugend erwiesen ....“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 136-137

„Goethe selbst war eine Kraft, die alles tat und immer wieder tat, was nötig war, um aus einen unfertigen Goethe einen weniger unfertigen zu machen. Das prinzip des höheren Lebens ist übender Fleiß. Geboren sind wir schon, zur Welt aber kommt nur, wer sich vorwärtsarbeitet. Kreatives Leben gebiert sich selbst. Weil dabei nicht alle gleich weit kommen, gibt es eine Ungleichheit zwischen Menschen, von der die Soziologie nichts weiß. Das ist es, was ich in meinem Buch als Anthropotechnik beschreibe. Goethe hat deren Prinzip in einem enoremen Satz festgelegt: »Eine tätige Skepsis: welche unablässig bemüht ist, sich selbst zu überwinden, um durch geregelte Erfahrung zu einer Art von bedingter Zuverlässigkeit zu gelangen.« (Maximen und Reflexionen 1203).“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 150-151

„Wovon träumt Frankreich denn seit 1871, wenn nicht von den Zeiten vor der Niederlage?“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167

„Cioran ... läßt Spenglers Thesen über das Schicksal des Abendlandes aufs französische Format schrumpfen.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167

„Cioran ... ware ja der Anti-Soziologe par excellence ....“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167

„Wie die Franzosen nach der libération plötzlich neben den Siegern aufmarschierten, als ob nie etwas gewesen wäre, in dopppelter Heuchelei ..., so haben die Niederländer nach 1945 sich etwas vorgemacht und ihre Nachkriegswirklichkeit auf einen nicht selbst erfochtenen Sieg aufgebaut. Die nachträgliche nukleare Großmannssucht der Franzosen ist das formale Äquivalent der nachträglichen kosmopolitischen Umarmungssucht der Holländer.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 176

„Worauf die bürgerliche Gesellschaft hinaus will, nämlich auf die Aufhebung des Zwangs zur Arbeit unter beibehaltung ihrer Belohungen ....“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 184

„Lizenz zum Genießen .... Die Anfänge des Konsums liegen in der europäischen Romantik, nachdem Rousseau ... das Recht des Einzelnen auf eine sich selbst genießende Nutzlosigkeit proklamiert hatte.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 186

„Die hölheren Positionen ... werden im allgemeinen von Individuen innegehalten, von denen kein Mensch imstande wäre zu sagen, worin sie sich ausgezeichnet hätten.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 192

„Hegel: »Der freie Mensch ist nicht neidisch, sondern anerkennt das gern, was groß und erhaben ist, und freut sich, daß es ist.« (Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 47).“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 194

„Norbert Bolz ...: »Der Haß auf den Feind wird ersetzt durch den Neid auf den Erfolgreichen.« (Diskurs über die Ungleichheit, S. 113).“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 1947

„Woran würde man das Ende der Geschichte erkennen? Vielleicht am Aufhören der Sorge.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 197

„Weil Kunst in Überproduktion schwimmt, muß sie die Flucht in die Überbewertung des Wertlosen antreten - eine Form der Umwertung der Werte ....“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 204

„Philosophie ist Training in Sterblichkeit, hierin dem älteren Christentum verwandt.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 207

„Goethe über die Folgem der französischen Revolution: Bis dahin war alles Streben, danach war alles Fordern.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 478

„Das potentiell viel wichtigere Buch Thymos and Civilisation fand nie seinen Autor. Fukuyama hätte es beinahe vorgelegt, doch verpaßte er die Chance, indem er die Materialien zu dem Werk in seinem hochtönenden Traktat über das Ende der Geschichte versteckte - neben Spenglers Untergang des Abendlandes der Anwärter auf den Titel des meistzitierten ungelesenen Buchs des 20. Jahrhunderts.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 480

„Bei Norbert Bolz eine schöne Idee: das Eigentum sei als »Exoskelett« des Individuums aufzufassen. Das Wort verwendet man sonst für die Hülle von Insekten oder weichen Tieren mit harter Umschalung.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 488

„Um den ursprünglichen Sinnumfang des Worts »Menschenrechte« richtig einzuschätzen, ist es nüttzlich, zu wissen, daß sich z.B. unter den ersten 16 Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, die zwischen 1788 und 1848 amtierten, 12 sklavenhaltende Patrizier aus den Südstaaten befanden, darunter Thomas Jefferson, der Autor der Unabhängigkeitserklärung, und George Washington, der Übervater der US-Amerikaner.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 578

„Von Heinsohn ein Papier, in dem es heißt:, Europa ist ... ein Sozialhilfebündnis. Es sollte nicht verboten sein, über seine Zerlegung und Neukonfiguration nachzudenken. Heinsohn zerschneidet es fröhlich in drei neue Blöcke: ein Bündnis der nördlichen Monarchien, eine hochpotente Alpenkonföderation und einen südlichen Block, in dem die Mittelmeerländer unter sich wären. Eine jede der neu zugeschnittenen Einheiten könnte sich als lebensfähiger erweisen als die Brüsseler Union, die ein Gesamtkunstwerk aus gegenseitiegn Behinderungen darstellt.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 583

„Die ... 100 Millionen arbeitslosen Jugendlichen ..., die bis zum Jahre 2020 die »Länder des Halbmonds« unter Streß setzen. Wer zudem die USA dafür tadelt, sie hätten ebenfalls die Chance zu einem ermunternden Signal an die jungen Ägypter verpaßt, begreift nichts vom strategischen Wert der nordafrikanischen Vorgänge auf dem us-amerikanischen Schachbrett. Für die Spielmacher in Washington laufen die Dinge, wie sie sollen, solange sie in ihrer Summe dafür sorgen, daß die Europäer in den kommenden Jahrzehnten den nordafrikanischen Klotz am Bein haben werden.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 586-587

„Es muß in Goethes Leben einen Tage gegeben haben, von dem an er sich zum Goethe-Experten wandelte.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 589

„Nur Goethe weiß, wie Goethes Werk zu rezipieren ist.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 590

„Permanent macht Goethe das Große Graecum, das Große Persicum, das Große Sinologicum. Zuletzt ist er ganz Chinese und spielt mit sich selbst Verbotene Stadt.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 590

„Schon jetzt setzt Italien die nördlichen Nachbarn unter Druck, ihm die unwillkommenen Zuwanderer so bald wie möglich abzunehmen.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 596

„Im übrigen hatte Muammar al-Gaddafi bei seinem Staatsbesuch in Italien im Auigust 2010 die Europäer vor potentiellen Millionenheeren afrikanischer Zuwanderer in den kommenden Jahren gewarnt und zu deren Ruhigstellung am Ort Bleibegelder in Höhe von vielen Milliarden Euro aus europäischen (sprich: deutschen; Anm. HB) Kassen gefordert. Von offiziellen Reaktionen der EU auf diesen Droh-Hinweis wurde nichts bekannt.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 596

„Weil es keine Buchstaben gibt, bleibt dem chinesischen Denken der Elementarismus bzw. der Atomismus unbekannt.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 597

„Die arabischen Revolten erzeugen ein Nebenprodukt, das von den Wirtschaftsblättern noch nicht erfaßt wurde: Sie stellen die Forbes-Listen der größten Vermögen in einem wesentlichen Segment als Fiktionen bloß. In die Spitzenzone der Tabellen gehören seit längerem die despotischen Kleptokraten von Mubarak und Ben Ali bis zu Putin und Gaddafi, die in den gängigen Listen der reichsten Royals von König Bhumipol bis Hans Adam II. naturgemäß nicht auftauchen (ebenso die noch reicheren, also mächtigeren Kleptokraten; Anm. HB). Auch ein gut Teil der großen Vermögen ist bastardisch geworden.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 600

„Was die Moderne in moralgeschichtlicher Sicht bedeutet: Sie emanzipiert die Schuldner, zumal den großen, mehr und mehr von der Verfolgung durch den Gläubiger und spricht den sozialen Versager von eigener Schuld frei. Mehr noch, das Leiden-Machen als Vergeltung für unreturnierte Schulden wird verpönt, der Bankrotteur kommt schmerzlos davon, ein Leidensausgleich findet nicht mehr statt. Wenn es der Staat ist, der sich bis zum Bankrott überschuldet, heißt es sogar, nicht der Schuldner, der Gläubiger ist schuldig.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 610

„Es soll in Deutschland im Jahr 2010 circa 110000 legale und gemeldete Abtreibungen gegeben haben, davon nicht mehr als 3% aufgrund von medizinischer und kriminologischer Indikation. Der Umfang der Dunkelziffer wird auf 200% geschätzt, wonach die Gesamtzahl der Schwangerschaftsabbrüche bei 300000 gelegen haben dürfte (eher bei 400000; Anm. HB). Das bedutet bei 675000 Lebendgeburten im selben Zeitraum, daß jedes dritte Kind an der Wand der Unwillkommenen zerschellte. (In der EU, den USA und Kanada zusammen sind es übrigens rd. 4 Millionen an der Wand der Unwillkommenen Zerschellte! Anm. HB).“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 613

„Wenn wir gehen werden, werden wir das Gefühl haben, wir hätten unsere Kindheit in der Antike verbracht, unsere mitteleren Jahre in einem Mittelalter, das man die Moderen nannte, und unsere älteren Tage in einer monströsen Zeit, für die wir noch keinen Namen haben.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 639

„Augustinus ... löste mit seiner veschärften Sünden-Doktrin eine Verdüsterung aus, von der sich die westliche Welt bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt. Er wollte sich nicht damit zufriedengeben, den außerparadiesische status quo der Menschen demütig zur Kenntnis zu nehmen. Er drängte darauf, den Fall tiefer zu motivieren, indem er ihn zu einem Entfremdungsdrama zwischen Mensch und Gott übderhöhte, bei dem die Rolle des böse lachenden Drittem dem Satan zufiel, dem selbstverliebeten Anführer der aufrührerischen Engel.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 12

„Den Hebelpunkt für seine Lehre von der anhaltenden Erblichkeit der Sünde findet Augustinus im Generationenprozeß: Wie das zweigeschlechtliche Leben als solches ist die Sünde eine sexuell übertragbare Krankheit. Mehr noch: Der Modus der Übertragung, der Geschlechtsakt, beinhaltet die Wiederholung der ersten Sünde, weil er nicht ohne superbia, das heißt nicht ohne die überhebliche Selbstbevorzugung des Geschöpfs vor seinem Schöpfer, zustande kommt. Der sexuelle Höhepunkt ist die Spur des teuflischen Hochmuts, in dem sich die Kreatur von ihrem Ursprung abwendet, um sich selber an die erste Stelle zu rücken. (Vgl.: De Civitate Dei, 14. Buch, Abschnitt 15: »Der Hochmut der Übertretung ist schlimmer als die Übertretung selbst,«) Wären die Menschen fähig geblieben, sich fortzupflanzen, ohne ihren sinnlichen Aufruhr zu genießen, wären sie dem Heil näher geblieben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 16

„Es gehört zu Augustinus' problematischen Verdiensten, wenn die westliche Zivilisation durch seine Anregungen einen Gedanken der Erblichkeit von Schuld, Sünde und Korruption zu entwickeln vermochte, der es mit dem indischen Konzept des Karma von ferne aufnehmen konnte. Indem Augustinus alle spontanen Intuitionen der moralischen Alltagsvernunft auf den Kopf stellte, konzipierte er eine Form von Sündigkeit, die durch die Tatsachen der Fortpflanzung unmittelbar auf sämtliche Nachkommen Adams überging - einzig den jungfräulich empfangenen Erlöser ausgenommen. Mit Hilfe seines Erbsünde-Konzepts gelang dem melancholischen Bischof die Konstruktionm eines Kontinuums irdischer Geschichte, das ganz im Zeichen der zugleich angeborenen und immer spontan erneuerten Auflehung der Einzelnen gegen Gott stünde. .... Der Mensch wird wie Gott, indem er dessen Privileg, nein sagen zu können, auf Gott selbst anwendet.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 17-18

„Erbsündenlehre in moderner Zeit .... Schon Rousseau lieferte eine weltliche Umschreibung der Doktrin, indem er die Vertreibung aus dem Paradies der Eigentumslosigkeit als den Gründungsakt der bürgerlichen Gesellschaft auslegte: An die Stelle der Erbsünde tritt die erste Regung des Sinns für Privatbesitz: Mit dem Satz: »Dies gehört mir« beginnt die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, die nach Rousseau eine einzige Sequenz von Entfremdungen und Verkünstlichungen darstellt. .... Er enttheologisiert das Böse und verlagert die Quelle der Korruption auf das Feld des Sozialen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 19-20

„Erblichkeit als solche erscheine jetzt als Makel, gegen den die Modernen sich auflehnen, wo immer es ihnen gelingt, einen Widerstandspunkt zu entdecken. Sie weisen immer öfter zurück, was sie an alten Mitgiften bedrückt - ob es die Versklavung durch biologische Determinierungen ist oder die Prägungnen durch Klasse, Schule, Kultur und Familie. Das solche »Versklavungen« durch das Herkommen zugleich positive Bedingungen konkreten, geglückten, bestimmten Lebens sein könnten, mögen die Agenten der Losreißung nicht gerne wahrhaben. Im übrigen gesellen sich zu diesem Ensemble von Fatalitäten in der neuzeitlichen Kreditwirtschaft die Gläubiger, die auf der Rückzahlung von Darlehen so hartnäckig bestehen wie vormals die Rachegöttinnen auf der Exekution eines Fluchs.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 23-24

„Wo immer das Interesse an Enterbung und Neubeginn aufflammt, stehen wir auf dem Boden der authentischen Moderne. Dynamit, Utopie, Arbeitsniederlegung, Familienrecht, genetische Manipulation, Drogen und Pop sollen die Sprengstoffe liefern, um die Erbmasse des sogenannten Bestehenden in die Luft zu jagen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 24

„Die Säkularisation der Erbsünde hat zwar das metaphysische Gift neutralisiert, das, destilliert in der Hexenküche des Augustinismus, im »Abendland« über anderthalb Jahrtausende weitergereicht wurde. Doch hat die Ausschaltung der Erb-Belastung a priori zugleich den Blick auf zahlreiche Formen ambivalenter Erblichkeiten im säkularen Bereich freigegeben. Um vorsichtiger zu reden: Sie hat das Bewußtsein von den Schwierigkeiten des Erbe-, Nachkomme- und Schuldner-Seins auf neue Bahnen gelenkt. Ein Massenansturm auf Positionen des »voraussetzungslosen Lebens« garantiert den Modernisierungen ihren Zulauf. In diesem Punkt ist die entente cordiale zwischen dem Liberalismus und dem Sozialismus mit Händen zu greifen. Die scheinbar unversöhnlichen Gegenspieler sind die besten Freunde, wenn es darum geht, die familialen, genealogischen und in erfolgreihen Filiationen gegründeten Prämisen des »sozialen Lebens« zu verdunkeln.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 24-25

„Zum Verständnis der modernen Welt gehört ... eine säkulare Hermeneutik der Korruption. .... Man muß demonstrieren, warum der mensch ... als das korrumpierbare Tier existiert .... Ebenos ist darzustellen, wodurch er sich von Korruption befreit. Eine zeitgenössische Ethik soll erläutern können, wie Korruption durch Wandlungen und Erholungen korrigierbar sind.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 27-28

„In den Tagen von Madame (de Pompadour [1721-1764]; HB) ist der Futurismus vage und unentschieden. Noch bezeichnet das Wort »Geschichte« wie seit jeher die Kunde davon, wie es vorzeiten eigentlich gewesen ist. Man schreibt sie wie in alter Zeit, um zu erfahren, was früher war und warum man im Gewesenen die Richtlinien für das Heutige findet. Historia magistra vitae. Zunächst sind es wenige, die Zweifel am Primat des Geschehenen vor dem Kommenden anmelden. Noch weniger zahlreich sind die Abgeklärten, die schon verstanden haben, das aus gewesener Geschichte zu keiner Zeit etwas gelernt wurde, allen Sammlungen exemplarischer Erzählungen zum Trotz. Gleichwohl, auf diese kleine Zahl von Zweiflern und ihre Werbung für die Blickwende ins Noch-Nicht werden die ungeborenen Generationen hören.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 33

„Hegel hatte es als erster begriffen: In einer epochalen Formulierung nennt er die Wirklichkeit die »Möglichkeit des Folgenden« (Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse, 1808-1811, § 151).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 34

„Der revolutionäre Hiatus riß das konventionelle Band der Epochen entzwei. Wo Filiationen geherrscht hatten - getreue Übergaben des väterlichen Erbes auf Nachkommen und Nachkommen von Nachkommen, wie fiktiv auch immer -, hoben die Unterbrechungen des Herkommens tiefe Gräben aus. Alles Leben wird neu datiert: Was später lebt, lebt nach dem Einschnitt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 37-38

„Über Nacht hatten die Haupt- und Staatsaktionen der großen Welt sich in ein Improvisationstheater gewndelt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 38

„Was bestehet und beharrt, wird im Unrecht sein; was vorwärts geht und für Freiheiten trommelt, hat alles Recht auf seiner Seite. Das erwachende Ungeheuer erweist sich als ein moralisierendes Geschöpf. Von Anfang an verfügt es über Wege und Mittel, das Gewesene ins Unrecht zu setzen. Die Welt der Väter scheint entrechtet, die Könige werden der Despotie bezichtigt ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.38-39

„Auch die neueste Gegenwart nimmt an der Entmündigung der Vergangenheit teil, insofern sie selber schon morgen die die Vergangenheit seiner zukünftigen Gegenwart sein wird..“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 39

„Das Unrecht, bestehen zu wollen, ist das neue Gesicht der Erbsünde.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 39

„Leo Trotzki sprach später von der »permanenten Revolution«, um Stalins Politik des »Sozialismus in einem Land« (die er folgerichtig als einen »Nationalsozialismus« im sowjetischen Gewand bezeichnete) zurückzuweisen und einen anderen Modus internationalisierter Umwälzung zu fordern.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 40

„Aus der Sicht des ultrakatholischen savoyardischen Diplomaten (Joseph de Maistre; HB), von 1802 bis 1816 im Dienste des Hauses Piemont-Sardinien ... in Sankt Petersburg tätig, bedeutete die französische Revolution mitsamt ihrem Umschlagen in den napoleonischen Expanionismus ... eine neue Qualität der Allianz zwischen dem Menschlichen und dem Infernalischen, ja sie erschien ihm geradezu als ein Totentanz, aufgeführt von menschengestaltigen Puppen: Deren Schrittfolgen seien ihm in die Glieder gefahren, nachdem die Kirche in Frankreich ihe Macht verloren hatte, die auf dem Grund der Seelen lauernden Traumbosheiten in Schach zu halten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 55-56

 

„Napoleon selbst hatte nicht versäumt, die Devise seines Handelns auszusprechen, als er im Dresdener Dialog mit Metternich bemerkte: »Ein Mann wie ich pfeift auf das Leben von einer Million Menschen«.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 58

„Im Kopier-Vorgang ist die Möglichkei, das Nachkommen »aus der Art schlagen«, seit jeher angelegt. Kulturen kennen wie Gene die Mutation als Normalrisiko. Die Gefahr, die eigenen Kinder könnten zu »schrecklichen Kindern« werden, ist so alt wie die höhere Kultur ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 78

„Die Bannung der Gefahr der Fehkopie brachte den älteren »Konservatismus« hervor ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 78

„Alle Generationen nach dem Hiatus tragen das Risiko riskanter und schädlicher Mutation in unvergleichlich höherem Maß in sich als ihre Vorgänger.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 79

„Den schrecklichen Kindern gehen oft ratlose Eltern, manchmal perverse Eltern, voraus.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 79

„Die moderne Freiheit ist ... die innere Spur des allzu weit geöffneten Hiatus zwischen den Verhältnissen der Vergangenheit und den Möglichkeiten, die die Zukunftswelt offeriert.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 83

„Der zivilisationsdynamische Hauptsatz lautet: Im Weltprozeß nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können.
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 85

„Das heißt: Der chronische Überschuß an Mobilisierungen von Aktivitäten und die fortschreitende Auslösung tatbewegter Ereignisströme, die sich in objektiven Relikten niedercshlagen, treibt das Weltverhältnis und Wirklichkeitserlebnis der Modernen in stetig wachsende Asymmetrien.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 85

„Aus dem zivilisationsdynamischen Hauptsatz, wonach die Summe der Freisetzungen von Energien im Zivilisationsprozeß regelmäßig die Leistungsfähigkeit kultivierender Bindekräfte übersteigt, lassen sich, je nach Grundstimmung und Geschmack des Interpreten, mehr als zwanzig tragische und erheiternde Folgesätze ableiten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 87

„Der zivilisationsdynamische Hauptsatz und seine fünfundzwanzig Untersätze ergänzen die Thesen Niklas Luhmanns über die Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme in der Moderne durch eine systemhistorische Dimension, wobei sie den Akzent auf die »Emissionen« bzw. die Wirkungsüberschüsse modernisierter Praxisspiele setzen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 91

„War die Moderne das Weltalter der Projekte, erweist sich die Postmoderne als das Zeitalter der Reparaturen (die Postmoderne hat noch lange nicht angefangen, es sind überhaupt keine Reparaturen in Sicht, also geht die Moderne erst einmal noch weiter - spätmodern; HB).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 93

„Waren Fortschritt und Reaktion die Leitbegriffe des 19., sind Pfusch und Reparatur die des 21. Jahrhunderts (keine Reparaturen in Sicht; HB).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 93

Global Governance. Der Ausdruck bezeichnet ein Vorhaben, das praktisch und faktisch nicht gelingt, weil in der Welt der lokal zersplitterten Agenden immer anderes wichtiger sein wird als die Sorge ums Ganze.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 93

„Auf den nach wie vor anarchisch verfaßten bzw. unverfaßten höheren Ebenen des Weltgeschehens ist die Koordination von Störfall und Reparatur noch schwerer zu erreichen als auf nachgeordneten Stufen..“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 93

„Zunehmend erweisen sich die staatlichen Agenturen als Figuren der Drift von labilen zu labileren Zuständen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 94

„Der altaufklärerische Glaube an eine seinsgesetzlich garantierte Symmetrie von Problemen und Lösungen erodiert mit jedem Tag mehr.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 94

„Man sitzt meistens in der ersten Reihe, wenn es gilt, dem überdehnten Staat bei der Selbstverwaltung seiner Ohnmacht zuzusehen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 94

„Ob Wahrnehmungen dieser Art einen zureichenden Grund bieten, die Möglichkeit des Lernens aus der Geschichte insgesamt in Abrede zu stellen - wie es von Hegel bis Gumbrecht gelegentlich erwogen wurde -, mag offenbleiben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 94

„Napoleon ... will die Dynastie schaffen, von der widerwillig schon verstanden haben muß, daß es sie niemals geben kann. Er weiß und will nicht wissen, daß Monstren keine Kinder haben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 121

„Wie beiläufig gelang ihm (Walter Serner; HB) in der älteren Version der Lockerung die bedeutendste Begriffsbildung seines Jahrzehnts für die Existenz im aufklaffenden Raum: »Lückenwut«. Sie ist die stärkste Version dessen, was Heidegger fast zur selben Zeit als »Geworfenheit« bezeichnete.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 141-142

„Man findet den faschistischen Impuls - den Willen zum Weiterkämpfen nach dem Krieg der Kriege - an vielen Orten, auch solchen, an denen er sich nicht so nennt, nicht zuletzt bei denen, die sich besonders lauthals als dessen Gegenteil deklarieren (die wahren Faschisten sind stets die Linken, erst recht dann, wenn sie sich »Antifaschisten« nennen; HB). Faschismus ist die Zustimmung zur Unmöglichkeit der Demobilisierung. Er manifestiert sich in dem Bestreben, unter Waffen und im Angriff zu bleiben ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 146-147

„Faschismus ist der Wille zum Dasein im ununterbrochenen Aufmarsch - Mussolini definierte ihn als den »Horror vor dem bequemen Leben«. Faschismus ist die Stimmung, die sich in der Überzeugung kondensiert, das Wort »Nachkriegszeit« sei nicht mehr als eine Verbindung sinnloser Silben (Morpheme; HB). ER gründet in dem nach 1917 und 1918 links wie rechts epidemisch gewordenen Glauben, ein Krieg ohne ein Danach habe begonnen, ja, dieser umfassendere Krieg sei seit jeher in Gang gewesen. Man dürfe sich der Einberufung in ihn nicht entziehen. Er speist sich aus dem Antrieb, der dem Dadaismus diametral entgegengesetzt ist. Um mit Oswald Spengler zu reden: Faschismus ist die Pose von Leuten, die die Mobilmachung mit dem Sieg verwechseln.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 147

„Ohne Zweifel war Lenin einer der wichtigsten Impulsgeber für sämtliche Bewegungen, die den Weltkrieg in einen Folgekrieg weitertragen wollten. “
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 148

„Der Bezugsrahmen der Oktoberereignisse (von 1917; HB) war die »historische« Selbstermächtigung einer zahlenmäßig unbedeutenden Gruppe von Putschisten, die im Falle ihres Erfolgs als Revolutionäre gelten wollten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 149

„Für Lenins magisch-analoges Denken bedeutete die »Februar-Revolution« (Anführunsgstriche von mir; HB) nichts anderes als das Gegenstück zu der von Radikalen seit jeher verachteten »bürgerlichen« Revolution von 1789 (allerdings gab und gibt es es in Rußland gar kein Bürgertum! HB). Der Führer der Ereignisse nach dem Oktober 1917 war entschlossen, direkt vom 14. Juli 1789 in den September 1793, den Beginn des Terrors (der Schreckensherrschaft; HB), überzugehen, ohne den Fehler der Jakobiner zu wiederholen: daß sie eben den Männern des Thermidor (... als der zivile Rückschlag gegen den Terrorherrscher um Robespierre begann) zuviel Spielraum für Oppsition gegen die Diktatur gelassen hatten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 151

„Das wichtigste Instrument zur Implantierung einer Politik à la 1793 in die russische Nachkriegsrealität war die von Lenin ersonnene »Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen die Konterrevolutionäre und Sabotage« (abgekürzt WeTscheKa oder Tscheka): Mit ihrer Gründung im Dezember 1917 - nur wenige Wochen nach dem Putsch - stellte er unter Beweis, wie gründlich er die Lektion des französischen Terrors gelernt hatte. Er wußte, daß die Vollbeschäftigung der Guillotine seinerzeit nicht genügt hatte, um die Diktatur der Tugend zu festigen: Nie w+ürde eine Revolution in Sicherheit sein, solange sie Individuen am Leben ließ, die zu einer Aktion wie der des Thermidor fähig bleiben. Die Gefahr für die junge Revolution ging nach seiner Analyse nicht so sehr vom Einsatz terroristischer Mittel und dem Widerwillen der »Bourgeoisie« (Anführunsgstriche von mir, denn, wie gesagt, eine Bürgertum gab und gibt es in Rußland nicht; HB) gegen sie aus, sondern von ihrer halbherzigen Anwendung. Seine historische Aufgabe würde den Terror erst in dem Augenblick erfüllen, wenn es niemand mehr wagte, sich gegen ihn aufzulehnen. Die historische Mission der Tscheka bestand darin, den Mut zur Verneinung der bolschewistischen Herrschaft im Lauf der Zeit zu einer unrussischen Eigenschaft zu machen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 152-153

„ In diesem Land würde es niemals einen Thermidor geben: Lenisn Entschlüsse von 1917 und 1918 ergeben erst Sinn im Licht dieses psychopolitischen Axioms. Die »Dekrete über den Roten Terror« vom September 1918 schrieben nicht nur der Geheimpolizei scharfe Direktiven vor, sie schufen darüber hinaus die doktrinalen Anfänge des Systems der »Besserungslager« (GULag), in denen das Konzept der Lebensvernichtung durch Arbeit unter dem Vorwand der politischen Erziehung in die Praxis umgesetzt wurde. Noch ahnte niemand, was die Erschaffung einer solchen Gegenwelt bewirken würde: In den lagern entwickelte sich ein zweiter Arbeitsbegriff, der den ersten bloßstellte. Die Strafarbeitswelt bildete die Parodie auf den Archipel der Normalarbeit und verlieh dem Begriff »Arbeiterklasse« einen sklavischen Klang, während diese in offiziellen Reden zum Träger aller Tugenden erhoben wurde.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 153

„Lenins Verlautbarungen des hektischen Jahres 1918 verraten, wie schnell sich für ihn der Stil des zweiten Krieges verdeutlichte. Aus der Sicht des Schreibtisch-Liguidators sollten sich Exekutionen in Desinfektionsmaßnahmen verwandeln: Die Exterminierung von Gegnern glich glich für ihn der Beseitigung von schädlichen Insekten. Lenins Artikel vom 7. und 10. Januar 1918 über die »Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer« erwiesen sich auch terminologisch als riichtungweisend.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 160

„Niemand hat die Informalisierung des Scharfrichter-Wesens in der russischen »Oktober-Revolution« (Anführunsgstriche von mir; HB) und seine in der Stalin-Ära erreichte Inflation präziser erfaßt als Alexander Solschenyzin: »Die Tscheka ... war ein in der menschheitsgeschichte einmaliges Straforgan, das in einer einzigen Instanz die Kompetenzen der bespitzelung, der Verhaftung, der Voruntersuchung, der Anwaltschaft, des Gerichts und der Urteilsvollstreckung vereinigte.« (Ders., Der Archipel Gulag, Band 1, a.a.O., S. 39).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 160-161

„Stalins Diktum »Menschen weg, Problem weg« formuliert den russischen Weg zur Sachlichkeit.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 165

„Generalstaatsanwalt Januarjewitsch Wyschinsky - ein kunstgerecht nach oben Gestürzter - ... schloß ... seine Ausführungen am 11. März 1938 mit den Worten, daß alle anderen (er hatte für zwei der Angeklagten nur langjährige Lagerstrafen gefordert) »wie räudige Hunde ersxchossen werden müssem! Unser Volk verlangt das eine: Zertretet das verfluchte Nattrengezücht"! Die Zeit wird vergehen, Unkraut und Disteln werden die Gräber der abscheulichen Verräter überwuchern .... Wir, unser Volk, werden weiterhin mit unserem geliebten Führer und Lehrer, dem großen Stalin, den vom letzten Abschaum und Unrat der Vergangenheit gesäuberten Weg beschreiten, vorwärts und immer weiter vorwaärts, dem Kommunismus entgegen!«“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 167, 168-169

„»Ich gestehe alle meine Verbrechen. Was für eine Rolle würde es für die Bedeutung dieses Falls spielen, wenn ich hier vor Ihnen versuchen wollte, die Tatsache zu beweisen, daß ich von vielen der Verbrechen ... erst hier im Gerichtssaal etwas erfahren habe?« (Christian Rakowski, zitiert nach: Robert Conquest, Der Große Terror, a.a.O., S, 445).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 169

„Die nach-stalinistische Sowjetunion hätte ihre revolutionäre Dynamik allein in einem noch weiter forcierten Sturz nach vorn absichern können. Ein Subjekt für diese Wahnbewegung jedoch ließ sich nicht finden (weil sie gar nicht mehr steigerbar war; HB), ein drittes Stockwerk der Terror-Überbietung war nicht mehr zu errichten - es hätte den nuklearen oder chemischen Krieg gegen das noch immer unzufriedene Sowjetvolk erfordert. Als einziger kam Mao Tse-tung diesem Ansatz indirekt nahe, als er gegenüber Chruschtchov gelegentlich die Idee äußerte, er würde gern die Hälfte des chinesischen Volks, das damals 600 Millionen Menschen zählte, für einen siegreichen Atomkrieg gegen die USA opfern, wenn damit die Hegenomie des Kommunismus zu sichern wäre.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 178

„Da nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an weitere Steigerungen der Gewalt nach innen nicht ernsthaft zu denken war, so intensiv auch in den Lagern die Routinen der Lebensvernichtung durch Arbeit weitergingen, zwang sich statt dessen die von Chruschtchov eingeleitete Wende in die Entstalinisierung auf. .... Sie brachte einen verzögerten Thermidor hervor ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 178-179

„Der Kalte Krieg ließ sich ... als Ersatz für die ausbleibende Iteration des Stalinismus verwenden, doch taugte er nicht zur Fortsetzung des Mythos vom großen Oktober. Immerhin konnten sich Lenin und Stalin gemeinsam der Leistung rühmen, einen Thermidor zu ihren Lebzeiten unmöglich gemacht zu haben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 179

„Mit der Zäsur der Moderne werden im Bereich der bildenden Künste die erreichten Standards außer Kraft gesetzt und als »akademische« Hemnisse kreativer Fähigkeiten verspottet. An die Stelle des selbstverstärkenden Könnens-Kreises tritt ein Regime selbstverstärkender Regelverletzungen, ja eine Meta-Regel der selbstverstärkenden Abweichungen vom Erwarteten, bis hin zu mutwilligen Unterbietung aller Erwartungen an das artistische Wesen der Kunst. Seither operiert das Pop-Segment des modernen Kunstbetriebs offensiv auf der Abfall-Stufe, als sollte die Doktrin aingeübt werden, nur das, was weniger als Kunst ist, könne noch wirkliche Kunst, ja mehr als Kunst sein.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 198

„Die Allianz der beiden Selbstverstärkungssysteme aus kreditbasiert-zinsgetriebener Wirtschaft und innovations-getriebenem Maschinenbau resultierte in dem bis heute mächtigsten Komplex halbblind vorwärtsstrebender Tendenzen, die man noch immer unter dem ungeschickten Terminius »Kapitalismus« zusammenfaßt, obschon es, wäre es um einen wahren Namen gegangen, von Anfang an Techno-Kreditismus hätte heißen müssen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 199

„Durch die Aufhebung der Golddeckung im Jahr 1971 war ... demonstriert worden, wie wenig die USA gesinnt waren, ihren Drang zur Überdehnung ihrer Ausgaben zu zügeln - ihr Leitwährungsprivileg bot ihnen auch ohne Goldmagie weiterhin die Chance zu Kontoüberziehungen ohne Limit.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 209

„Daher kann der 15. August 1971 als das zweite Schicksalsdatum der jüngeren Wirtschafts- und Sozialgeschichte gelten. Damals gab der US-Präsident Richard Nixon (1913-1994) die Abkehr der Vereinigten Staaten vom Prinzip der Golddeckung des Dollars bekannt. An eben dem Tag, an dem die katholische Kirche die Aufnahme der Mutter Gottes in den Himmel feiert, begannvor den Augen der ganzen Welt die Höllenfahrt des »postmodernisierten« (Anführunsgstriche von mir; HB) Geldes, das sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte nicht nur von der Bindung an Edelmetalle losmachte. Es ließ auch mehr und mehr die Grundlage in der Besicherung durch verpfändbares Eigentum hinter sich (Gunnar Heinsohn & Otto Steiger, Eigentum, Zins und Geld, 1996), um sich einem phantomhaften System von Erwartungs-Erwartungen und Brutto-Inlands-Prognosen anzuvertrauen - was man den makroökonomischen Stil des kontrollierten Sturzflugs nennen könnte.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 209-210

„Die Kluft zwischen dem Goldpreis von einst und dem von jetzt verrät nicht nur die Machtergreifung des Inflationismus, der von der Mainstream-Ökonomie gern bagatellisiert wird, sofern man seine Existenz nicht rundweg leugnet; auch bringt sie nicht bloß das steige Mißverhältnis zwischen knappen Beständen und hoher Nachfrage zum Ausdruck. Die wahre Bedeutung der Erhöhung des Goldpreises um das fast 50fache des garantierten Anfangswerts binnen weniger jahrzehnte liegt darin, daß sie einen abgründigen Wandel der Glaubensverhältnisse hinsichtlich ökonomischer Wertbestände bezeugt. Der Wertglaube selbst ist seit geraumer Zeit in die inflationäre Drift einbezogen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 210

„Einen angemesserenen Begriff für die aktuellen Zustände hat jüngst der Publizist Gabor Steingart in die Debatte geworfen, als er zur Charakterisierung der überspannten Ungleichgewichtswirtschaft den Terminus »Bastardökonomie« vorschlug: Er bezeichnet die zutiefst illegitime, von den Akeuren regelmäßig geleugnete, sachlich jedoch evidente Komplizenschaft zwischen Regierungen, Notenbank-ouverneuren und Hochfinanz-Agenturen, die - wahrscheinlich ohne einem Masterplan zu folgen - kein anderes Ziel verfolgt, als den erreichten Grad an Unhaltbarkeit durch den Übergang zu einem noch höheren Grad derselebn Verlegenheit zu »stabilisieren«. Der »Bastard« ist in diesem Fall der circulus vitiosus, der aus der pervers-intimen Beziehung eines enthemmten Staatsausgabensystems mit einem aus den Fugen geratenen Bankensystem entsprang. (Gabor Steingart, Unser Wohlstand und seine Feinde, 2013, S. 135 ff., besonders S, 203.)“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 214

„Immer häufiger erreichen Staaten, Unternehmen und Privathaushalte den Punkt, von dem an der Kredit auch dem Tüchtigen die Zukunft nicht mehr erschließt, sondern versperrt: Wachsende Schuldendienste zehren immer größere Teile aktueller Einkünfte auf - bis die Linie überschritten ist, jenseits welcher ältere Schulden nur noch durch eine Kaskade neuer Schulden in ein auf Dauer paralysiertes Morgen verschoben werden. Diese Situation verdient es, »posthistorisch« genannt zu werden: Von ihr wird Arnold Gehlens klassische Definition der Posthistoire als Zustand hoher »Beweglichkeit über stationären Grundlagen« vollendet erfüllt - indes man das Wort »stationär« gern durch das Wort »unhaltbar« ersetzen möchte.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 218

„Frühe »Kulturen« - aufgefaßt als Ensembles von Obsessionen, die mehraltrige menschliche Kollektive im Griff halten, gleich ob es sich um Sippen, Stämme oder Ethnien handelt - erleben die unverhandelbare Notwendigkeit ihres Daseins in der von ihnen selbst generierten und ihren Teilnehmern ungefragt aufgedrungenen Überzeugung, daß die Lebensweise, die den Mitgliedern des Kollektivs eingeprägt wurde, es unter allen Umständen verdient, im Dasein der Nachkommen wiederholt zu werden. Wer einer Kultur in diesem Sinn »angehört«, muß sich früher oder später dazu bereit erklären, eine durch Elternschaft zu bestätigende Besessenheit weiterzureichen. Was man von den Alten selber empfangen und erlitten hat, soll um jeden Preis in den Jungen fortleben. - Kein Mensch der alten Welt hat dieses Axiom bezweifelt. Für die Angehörigen der älteren Fortpflanzungsketten sind Wiederholbarkeit und Wahrheit ihres modus vivendi ein und dasselbe. Eigene Kinder haben, das heißt zunächst nicht mehr und nicht weniger als dafür sorgen, daß hinreichend ähnliche Kopien der Älteren in den Jungen entstehen. Ähnlich genug scheinen die Nachkommen geraten zu sein, wenn die unvermeidlichen mutativen Variationen, genetisch wie kulturell, durch die konstanten Muster in Schach gehalten werden. (Vor dem Zeitalter der Schrift wird dieser Effekt durch die Unduldsamkeit des »Habitus« bzw. der neuronal gefestigten Verhaltensmuster garantiert. Schrift erlaubt die Auslagerungen von Intolereanz ins äußere Medium bzw. in die »Institutionen«. Sie setzt die Flexibilisierung frei, die man eines Tages als Navigation in den »Spielräumen des Verstehens«, das heißt als Hermeneutik bzw. als Ausübung des Rechts auf Subjektivität, beschreibt.)“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 222

„An Mut zur Erziehung hat es den Alten nie gefehlt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 223

„In den kulturspezifischen Imperativen fand (und findet; Anm. HB) alles wesentliche Sollen im Modus der Vorentschiedenheit Platz.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 223

„Der größte Teil des relevanten Wissens ältester Tage war in obligatorischen Erzählungen niedergelegt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 223

„Von Urzeiten her galten die fortpflanzungsbereiten Besessenen als Inbegriff der normalen Menschen. Normalität ist Besessenheit ohne Trance. Was war homo sapiens in früheren Tagen anderes als ein von Silben, Jagdtechniken und Heiratsregeln bewohntes Tier?“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 223

„Die Normalen der ältesten Zeiten hatten nie eine Wahl, indessen sie in der Nuzeit durchwegs Menschen sind, die anders könnten, indes sie vorgeben, der Notwendigkeit zu gehorchen. Während die Modernen sich darauf berufen, durch Arbeiten, Bedürfnisse und Projekte besessen - das heißt »beschäftigt« - zu sein, äußert sich die jede zweite Möglichkeit ausschließende Besessdenheit der frühen Menschen in ihrer Sorge um die modellnahe Reproduktion ihrer ererbten Lebensweise. Für sie sind Fortpflanzung und Wirklichkeit dasselbe. Obsession und Beschäftigung sind für sie noch nicht zu unterscheiden. Wer damals nicht Vehikel seiner Kultur sein konnte, hatte keine »Wirklichkeit« zu vermitteln. Kulturvehikel wurde, wer seine Kinder aus der Ahnenwelt in die Nachkommenwelt beförderte - und so dafür sorgte, daß die Kette der Nachahmungen nicht reißt, weder genetisch noch didaktisch.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 223-224

„Die frühe Kultur überwältigt die Ihren durch Alternativlosigkeit, und nur als überwältigende hält sie sich am Leben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 224

„Die »Wirklichkeit« der Modernen wird dagegen überwiegend aus der Nachahmung von modellgebenden Zeitgenossen bestimmt. Mit der Heraufkunft des Aktualismus geht im Zivilisationsprozeß die nicht-genealogische Nachahmung in Führung. Gabriel Tarde (1843-1904) war der erste Soziologe, der im unabwendbaren Sieg der Mode über die Sitte das starke Merkmal der zeitgenössischen Zivilisationsdynamik erkannte. Seit dem Erscheinen seines Werks Über die Nachahmung, 1890, stünden der modernen »Gesellschaft«, wäre sie die lernende Kommune, die zu sein sie vorgibt, die Konzepte zur Verfügung, um die Ablösung der Nachahmung von den generativen Übermittlungen und ihre Umstellung auf außergenealogische, mehr oder weniger gleichzeitige Ausgangspunkte zu begreifen. Daß sie davon bis heute nichts hören wollte, zählt zu dem Merkwürdigkeiten moderner Wissenskultur.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 225

„Durch die überwiegende Nachahmung des Neuen gerät das, was man das »kulturelle Erbe« - die mehraltrig bewährte Nachahmung - nannte (und nennt; Anm. HB), in jähen Verfall und macht der einaltrigen Nachahmung, der Orientierung an aktuellen und unerwiesenen Mustern, Platz.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 226

„Hauptfaktoren des Mimesis-Wechsels ...: zum einen die Preisgabe eigener Überlieferungen aufgrund des Anschlusses an eine überlegene Zivilisation (Ökumenismus), zum anderen die erzwungene Teilnahme an einer Hybridisierung von oben (Imperialismus), an dritter Stelle die Sezession einer Teilkultur von der Leitkultur unter dem Vorwand der Rückkehr zu den wahren Quellen (Reformation und Renaissance).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 227

„Alle drei Formen des Nachahmungswechsels erweisen sich in zivilisationsgeschichtlicher Sicht als Nährböden der Abweichung und der Mehrdeutigkeit. Aus ihm erwuchsen unter den Nachkommen entwickelter Völker jene unvorhersehbaren, in Hegels Terminologie »welthistorischen« »Individuen«, die weder willens noch fähig waren (und sind; Anm. HB), der prekär gewordenen Wiederholung aus subalterner Psoition zu dienen. Nota bene: »Individuum« im spezifischen, nicht bloß genetischen Sinn ist, wer im eigenen Dasein einen Kulturwandel austrägt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 227

„Jene unruhigen Einzelnen, die aufgrund imposanter »personaler« Inspirationen anderes im Sinn hatten (und haben; Anm. HB) als die unveränderte Weitergabe des Bisherigen - merke ebenso: Inspiration ist Resultat des Zusammenstoßes widersprüchlicher Codes in einer Psyche -, jene Beunruhiger also, die es wagten (und wagen; Anm. HB), an moralische Verwandlung, an kollektive Metanoia, an politische »Verwirklichung« philosophisch-kosmologischer Konzepte zu denken: Sie rückten (und rücken; Anm. HB), seit früh-hochkulturellen Tagen ein in die Kohorten der »schrecklichen Kinder« - all dieser aus der Art Geschlagenen, der Verräter am Herkommen und Totengräber des Habitus, von denen moderne Zeiten behaupten werden, sie hätten die Menschheit »vorangebracht« (Anführunsgstriche von mir; HB). Sie waren es, die ihre Herkunftskulturen mit unwillkommener Variation in Unruhe versetzten (und versetzen; Anm. HB): in der Antike selten, im Übergang zwischen Mittelalter und Renaissance bereits in höherer Frequenz, in der Moderne chronisch und mit unbeirrbarer Angriffslust, um nicht von Angriffspflicht zu reden.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 227-228

„Hatte nicht einer Wortführer der Jugendbewegung um 1900 in Deutschland allen Ernstes davon gesprochen, daß die Menschheit von jeher ständig sich selbst einen feind gebiert: »ihre junge Generation, ihre Kinder« (Gustav Wyneken, Schule und Jugendkultur, a.a.O., S. 13)?“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 228

„Hat man zugegeben, daß das Eigentümliche von Kultur in Replikationskompetenz besteht, wird der hartnäckige Konservatismus der frühen Völker umittelbar verständlich. Whitehead: »Es ist der Anfang der Weisheit, wenn man begreift, daß die Routine das Fundament des sozialen Lebens ist« (ders., Abenteuer der Ideen, a.a.O., S. 207). Ohne den Willen zur selbstähnlichen Wiederholung in nachkommenden Generation und ohne die wache Sorge um die Eliminierung maligner Variation hätten die älteren Träger kultureller Lebensmuster ... ihre langen Reisen im Zeitenstrom nicht bewältigen können. Paläontologen wollen anhand von Knochenfunden herausgefunden haben, daß steinzeitliche Hirschjäger in Nordwesteuropa ihre Ritual bei der Opferung der Beute über zehntausend Jahre hin konstant wiederholten, was einer Reproduktionserfolgsreihe von vierhundert Generationen entspricht.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 233

„Andererseits gilt: Seit dem Auftreten der ersten großen Originellen in der Antike ist dem Zivilisationsprozeß das fortschreitende Riskantwerden der Kopiervorgänge inhärent. Man könnte auch sagen: der neue Modus der Überlieferung - die Verdoppelung der Kultur durch die alphabetisierende Schule und die Infiltrierung erster Formen von »Wissenschaft« - fördert die zunehmende Widerständigkeit neuer Generationen gegen ihre Prägung durch die Autorität der Vorfahren, bis schließlich in der Moderne mit den Super-Institutionen ... prinzipiell innovationsorientiertze Kräfte auftreten. Sie bieten der Parteinahme für die herrschende Sitte selbstbewußt Paroli ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 235

„Ob er will oder nicht, der von der Sittenmacht überwältigte Mensch küßt immer den Stiefel der Überlieferung. .... Er findet seine Genugtuung darin, aus sich selbst nichts anderes zu machen als das, was das Herkommen aus ihm gemacht hat. Die Ehre des Einzelnen besteht in den älteren Kulturen darin, ein Sproß seiner Eltern oder ein Exemplar seines Stammes zu sein. Du brauchst nur den Namen deines Vaters oder deines Volks oder deiner Polis zu nennen, und jeder weiß, mit wem er es zu tun hat. .... Das Verfehlen der ethnischen Norm wäre die Schande, die das mißglückte Exemplar seines Stammes unter den Erdboden versinken ließe.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 238-239

„Die Bejahung der lokalen Präge-Gewalt ist das Wesen der ursprünglichen Ethik, sofern sie überall den impliziten Grundsatz: »Du sollst der Nachkomme deiner Vorfahren sein« ins Fleisch der nächsten Generation einbrennt - je impliziter, desto automatischer und wirksamer.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 239

„Der Kopierfehler zwischen den Generationen, gewollt und ungewollt, kommt dem Effekt gleich, den man nach Augustinus als die Erbsünde bezeichnet. Kopierfehler wiederholen und verstärken sich in der Folge - zunächst nur in der westlichen Welt, die vom 14. und 15. Jahrhundert als erste Zivilisation sytematisch auf Neuerung ausgeht - so oft und so lange, bis das Kollektiv in seiner Mehrheit nur noch ein Aggregat aus Deserteuren aus dem älteren Herkommen darstellt -, womit die Definition einer modernen »Gesellschaft« geboten wäre. Modern ist diese in dem Maß, wie sie ihre Vorbilderr und Verhaltensmuster im Einaltrigen und Gleichzeitigen findet.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 240-241

„In Wahrheit ist die die Neigung der Vatermacht-Ordnung zur maskulinen Seite hin nur eine bewährte List der kulturellen Evolution - so wie die Bevorzugung der weiblichen Seite bei der Betreuung der Nachkommenschaft unter den Lebendgebärenen eine andere List der biologisch-präkulturellen Evolution darstellt, um Fortpflanzungserfolge langfristig zu optimieren. Der weisungsbefugte Vater verkörpert vielmehr die Humanisierung der Wiederholung unter den Bedingungen der förmlichen Transmission. Für die Weitergabe einer Kultur ist es von einer bestimmten Stufe der Evolution an nicht mehr damit getan, wenn die Typen eines lokalen symbolischen Systems im Copy-Shop der Sozialisation auf die Nervensysteme der nachfolgenden Generationen überspielt werden, mitsamt den Härte-Dressuren, die in alter Zeit zur psychischen Grundausrüstung der Nachkommenschaft gehörten. Der Kopiervorgang muß über die mechanisch-imitative Dimension hinaus personalisiert werden: Er übersetzt sich in ein Geschehen, das uaf dre Vaterseite die Geste der Übergabe, auf der Sohnesseite die Geste der Übernahme ins Spiel bringt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 245

„Die humanisierte Wiederholung zwischen Vätern und Söhnen gerät zu einem Psychodrama, das nie ohne Risiko des Mißlingens auszuführen ist. Nur die erbrechtlich und psychodynamisch komplette Figur der Weitergabe, die sich bei den juristisch begabten Römern aus traditio - wörtlich: der Aushändigung eines Guts - und successio - dem Nachrücken des Rechtssubjekts in die Würden, Rechte und Pflichten des Erbes - erfüllt den Tatbestand der personalisierten Wiederholung, den man im starken Sinn des Wortes Überlieferung nennt. Ihr richtiger Name lautet Transmission - wörtlich: die Weitersendung.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 246

„Durch Transmissionsrituale gelngt es älteren Hochkulturen, das Intervall zwischen den Generationen zu formalisieren und am schädlichen Aufklaffen zu hindern.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 246

„In diesem Vorgang erweisen sich Psotionoerung und Personen-Schöpfung als dasselbe. Es genügt für den Vater nicht, einen leiblichen Sohn gezeugt zu haben - er muß ihn auch als solchen »annehmen«.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 246

„Die erfolgreichsten Traditionskulturen snd jene, die sich daruif verstanden, das Sensibelste mit dem Stabilsten in eins zu setzen: Si bauen darauf, die Seelenarbeit der Söhne werde die Stärken des Vaters integrieren und ihre Schwächen ausgleichen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 251

„Die Botschatt des Mythos ist rational zu entziffern: Läßt man den Abgrund zur Fortpflanzung zu, so legt er unvermeidlich sein stärkstes Wesensmerkmal, das Prinzip Diskontinuität, in seine Brut. Die setzt sich nicht umsonst aus lauter vom Herkommen losgerissenen Mißgestalten zusammen, von denen die Mehrzahl zugleich die ersten, die einzigen und eo ipso die letzten ihrer »Art« sind. Der wahre Name des väterlichen Tartaros ist Bodenlosigkeit: Nach Hesiod würde ein eherner Amboß neun Tage und Nächte im freien Fall stürzen, bevor er auf dem Grund aufschlüge.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 261

„Wenn der Abgrund Vater wird, trItt sem »Erbgut« in einer Nachkommenschaft aus Lebewesen zutage, die keinen Halt in gattungs- und artgemäßen Formen finden. Allen diesen Monstren, Abgrundwesen und grellen Schimären ist ihre mahnende Funktion im Imaginären der griechischen Kultur gemeinsam. Da die Selbstauffassung der Griechen durchwegs auf der Entgegensetzung von Zivilisation und Wildnis oder besser: von Stadt und undomestizierter Natur beruht, verkörpern die monströsen Lebewesen der Urzeit nicht anders als die Mischgeschöpfe am Rand der Welt, von denen Herodot soviel Seltsames zu berichten weiß - die zivilisatorisch unverzichtbare Aufgabe, die Menschen der kultivierten Zone unablässig an ihr Engagement zugunsten des human-politischen modus vivendi zu erinnern. (Dem vorsokratischen Philosophen Empedokles (ca. 495 - ca. 435) sind Ansätze einer Evolutionstheorie zu verdanken, in der hesiodische Motive rationalisiert werden. Ihm zufolge brachte die Erde anfangs zusammenhanglose Glieder hervor: »Ihr entsprossen viele Köpfe ohne Hälse, Arme irrten für sich allein umher, ohne Schultern, und Augen schweiften allein herum, der Stirnen entbehrend.« [Die Vorsokratiker, übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, 1968, S. 216]. Empedokles führt die hesiodischen Komposit-Monstren auf disiecta membra zurück, die alle möglichen Zusammensetzungen erproben, ehe sie sich zur stimmigen Gestalt fügen. Man könntein seinen isolierten Gliedern eine organische Vorübung zum Elementarismus sehen. Die wohldefinierte Spezies ist auch bel diesem Denker spätes Resultat, nicht Ausgangspunkt der Entwicklung. Noch in Johann Gottlieb Herders Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1784-1791], Band I, S. 273 f., wirkt das vorsokratische Motiv einer experimentierenden Natur weiter, in welcher die »Buchstaben« der organischen Gestalten sich schließlich zu einem »natürlichen Consensus der Formen« bzw. zu wohldefinierten Spezies und Gattungen zusammensetzen, indes Mißgestalten oder »Bastardarten« wie der Centaur, der Satyr, die Scylla, die Meduse nicht reproduktionsfähig sind.)“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 261-262

„Ja, die Zivilisation selbst ist nach der Auffassung ihrer antik-hellenischen Mitglieder nichts anderes als ein Bollwerk gegen die Auflösung der Grenzen zwischen den Arten und Ordnungen. Auch die ständige Warnung vor der Hybris jener kategorische Imperativ des griechischen ethos verfolgt kein anderes Ziel, als die Sterblichen zur Respektierung der Grenzen nach oben, nach unten und nach außen zu ermahnen: Sie sollen sich weder mit den Göttern verwechseln noch mit den Tieren und den Barbaren vermischen. Das Leben der Polis setzt die ständige Zurückweisung des Abgrunds voraus, der sich virtuell jedesmal auftut - bessser: der immer dann seine Chance wittert -, sobald Individuen einer wohldefinierten Spezies, namentlich ein Paar von Angehörigen des menschengestaltigen zoon politikon, den Versuchunternehmen, ihre Art und ihre Lebensweise in eigenen Nachkommen formkonstant zu wiederholen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 262

„Mit diesem Hinweis vor Augen läßt sich die Frage untersuchen, ob nicht auch in den geglückt scheinenden Generationsprozessen traditionsgerecht hervorgebrachter Menschenein monströses Moment zum Vorschein kommen kann, sobald die sozialen Verhältnisse es zulassen, daß der unter allen Umständen zu verdeckende Hiatus sich im Übergangvon Vätern zu ihren Söhnen erneut in aggressiveren Formen manifestiert.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 262-263

„Mögen die Väter in der Polis scheinbar wohlgeratene Nachkommen in die Welt setzen - gegen das Risiko der psychischen und moralischen Monstrosität bei ihren Kindern bleiben sie nur unzulänglich geschützt. Gerade in der riskanten Lebensform der großen Macht-Stadt, in der sich Völker, Mythen, Finten und Ambitionen mischen, macht sich das zivilisationsdynamische Grundgesetz bemerkbar, wonach durch den aktuellen modus vivendi unvermeidlich mehr unvorhersehbare Energien, mehr unbekannte Unruhen und mehr neuartige Störungen der bestehenden Ordnung freigesetzt werden, als diese mit ihren bordeigenen Mitteln unter Kontrolle bringen kann.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 263

„Zur Bewältigung dieser Herausforderung hatten die Griechen die in ihrer Zeit neuartige Disziplin der paideia geschaffen, die als die Matrix der okzidentalen Pädagogik gilt. Das Wort paidagogós weckte im athenischen Altertum durchaus keine noblen Vorstellungen: Es bezeichnete den Sklaven, der dafür zu sorgen hatte, daß sich die Jungen auf dem Weg zur Schule anständig benahmen. Sie sollten mit gesenktem Blick zum Unterricht streben, ohne den lüsternen Augen der erfahrenen Päderasten mit Gegenblicken zu antworten. Die paidagogoi waren in erster Linie Aufseher und Dompteure, damit beauftragt, die Knabenwildheit zu dämpfen wobei häufige Schläge als das allgemein empfohlene Mittel zur Erzeugung tugendhafter Verhaltenheit geschätzt waren. Die wirklichen Lehrer der Jugend, die didáskoloi, traten hingegen als »Sophisten«, sprich als Weisheitsvermittler oder »Klugmänner«, auf, bevor sie von ihren Konkurrenten, die sich in plakativer Bescheidenheit »Philosophen«, Liebhaber der Weisheit, nannten, in die Schranken gewiesen wurden. Der Wettbewerb zwischen den beiden Typen von Lehrern um ihre junge Klientel und deren schwankende Eltern wurde auf kürzeie Sicht von den Sophisten zu ihren Gunsten entschieden, da sie ihre Kunst der Knabenlenkung plausibler und ohne Rücksicht auf die Herkunft der Kinder, wenn auch teurer, anzupreisen wußten, während in ideengeschichtlicher Perspektive die Philosophen aus ihm als Sieger hervorgingen. Erst in jüngerer Zeit erlebt die Sophistik ein diskretes Comeback, bei dem sie als Quelle von Design, Rhetorik, Reklame und Demokratie rehabilitiert wird.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 263-264

„Erziehung beruhte in den griechischen poleis der klassischen Zeit auf dem Konzept der gespaltenen Vaterschaft, wonach der leibliche Vater den Knaben in einem geeigneten Alter der Lenkung durch einen »Lehrer« zu übergeben hatte. (Vgl. Dieter Lenzen, Vaterschaft, a.a.O., S. 76f.. Die antike Übergabe des Zöglings an den Lehrer präfiguriert von ferne die in der Neuzeit sich aufzwingende Arbeitsteilung zwischen Elternhaus und Staat, wobei der letztere die Tendenz erkennen läßt, immer mehr vormals familiäre Aufgaben an seine Funktionäre, namentlich Erzieher, Lehrer, Therapeuten und Sozialarbeiter, zu übertragen.) Dieser sollte von da an die Funktionen geistiger Vaterschaft ausüben und die Jungen bis zum Epheben-Alter von 18 Jahren in die Künste des polis-gemäßen Erwachsenenlebens initiieren - dem schloß sich eine teils militärische, teils musische Weiterbildung an.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 264

Paideia bedeutete an erster Stelle die höhere Kultivierung der Redefähigkeit, ohne welche die Existenz des zoon politikón nicht zu denken war. Auf dem Umweg über das hellenisierte Rom, das vorchristliche wie das christianisierte, wurde das griechische System der Doppelvaterschaft für die alteuropäische Erziehungskultur folgenreich: Die in der athenischen Antike erprobte Arbeitsteilung zwischen Vätern und Lehrern behielt ihre Kraft bis zum Beginn der nahezu ungebrochen, von den seltenen Fällen abgesehen, in denen Vaterschaft und Lehramt konvergierten wie in den rabbinischen Familien und den protestantischen Pfarrhäusern. Funktionslos wurde das klassische Arrangement erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Feminisierung der Lehrberufe die männlichen Lehrer marginalisierte und ihren Zweitväterstatus zerstörte - um von der allgemeinen Degradierung der Vaterposition in den modernen »Gesellschaften« noch nicht zu reden.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 264-265

„Daß sich die Bevölkerung der griechischen Städte schon um die Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts über die ethischen Risiken und politischen Nebenwirkungen desneuen sophistischen paideia-Betriebs Gedanken machte, läßt sich unter anderem an den Produktionen des athenischen Theaters ablesen: In seiner Komödie Die Wolken, im Jahr 423 erstmals aufgeführt- ohne Erfolg im Dramatiker-Wettbewerb -, bringt Aristophanes den Betrieb einer Sophisten-Anstalt auf die Bühne, wobei er sich auf Kosten des Erz-Sophisten Sokrates über die amoralischen Tendenzen der Rhetorik- und Dialektik-Schulen in der aggressivsten Weise lustig macht. Für den unerbittlichen Komödiendichter steht fest, daß die neuerdings so erfolgreiche Zunft der Lehrer nichts anderes ist als eine Organisation von Profiteuren der Krise, die aus dem raschen Zerfall der städtischen Sitten Vorteil ziehen: Sie unterweisen ihre Schüler inder bedenklichen, um nicht zu sagen korrupten, gleichwohlzeitgemäßen Kunst, als Anwälte einer schlechten Sache vor Gericht und in der Volksversammlung zu siegen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 265

„Aristophanes gelingt in seinem Stück eine Entdeckung, die man im Licht heutiger Erfahrungen als prophetisch bezeichnen kann: Er legt den inneren Zusammenhang zwischen dem urbanen Kreditsystem und den ideologischen Künsten seiner Zeit offen, die in der Verdrehung überlieferter Kulturmuster gründen - in der Tradition Brechts wäre hier von einer »Umfunktionierung« zu sprechen. Bei dem athenischen Komödiendichter fragen an erster Stelle die zahlungsunwilligen Schuldner nach den Diensten der Sophisten, um sichihrer Pflichten gegen die Gläubiger zu entledigen. Wenn sie jedoch - wie der attische Bauer Strepsiades, die Hauptfigur der genannten Komödie - außerstande sind, die Kunst der Wort- und Sinnverdrehung im Rechtsstreit noch selber zu erlernen, so schicken sie eben ihre Söhne, im gegebenen Fallden jungen Pheidippides, in die Sophisten-Schule, damit siesich dort zu unbesiegbaren Advokaten ausbilden lassen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 265-266

„Es sind demnach zwei Arten von Unredlichkeit, die inder Komödie dem Spott der Öffentlichkeit preisgegeben werden - die des betrügerischen Schuldners, der seine Gläubiger täuschen möchte, und die des skrupellosen Rhetoriklehrers, der die legitimen Ansprüche der Gläubiger durch Verfahrensfinten und Wortverdrehungen wirkungslos machen soll. Der junge Mann erscheint somit - über seine eigenen Tendenzen zur Verwahrlosung hinaus - als das Opfer und Medium von zwei gleichzeitigen Korruptionen, die sich in ihm zu einer monströsen Individualität vereinen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 266

„Was Aristophanes in Die Wolken vorführt, ist nicht nur eine »wertkonservative« Satire über das moralische Abdriften der Polis, das augenfällig wurde, seit vor Gericht wie in der Volksversammlung die offensichtlich schlechte Sache die erfolgreiche wurde - eine Beobachtung, die als frühes Indiz für die zunehmende Abspaltung des förmlichen Prozeßrechts von den alltäglichen Gerechtigkeits-Intuitionen streitender Parteien gewertet werden kann. Das Bühnengeschehen reflektiert darüber hinaus die Auflösung des griechischen Patriarchats im Verlauf städtischer Aufklärung, zuder die neuen Erziehungsangebote aus der »Denkerei« der Sophisten das Ihre beitragen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 266

„In ihren letzten Szenen legt die bittere Komödie den Hiatus inmitten der bürgerlichen Gesellschaft ohne Umschweife offen: Der Abgrund zwischen dem zeugenden und dem gezeugten Element klafft unter zivilisierten Menschen wieder auf, als ob erneut die Monstren-Generierung auf dem Planstünde, nicht eine humane Filiation in der kulturstolzestender Städte Attikas.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 266-267

„Um den Einbruch des diskontinuierlichen Faktors in das generative Geschehen zu demonstrieren, stellt Aristophanes dem Publikum Athens zunächst die basale pädagogischeTriade vor: den Vater Strepsiades, den Lehrer Sokrates und den Sohn Pheidippides. Hierbei achtet er darauf, daß es der Vater ist, der seinen Sohn dem Lehrer in aller Form zuführt, damit dieser an ihm die im häuslichen Milieu begonnene Erziehungsarbeit vollende. Freilich werden Vater und Lehrer von Anfang an als selbstsüchtige Parteigänger der schlechten Sache präsentiert - weswegen dIe Aushändigung des Sohns[ an den Lehrer kein anderes Resultat erbringt, als daß dieser seinerseits in die Korruption initiiert wird.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 267

„Aus diesen Ausgangsbedingungen folgt nicht bloß die gewöhnliche Schlechtigkeit, wie sie vom unredlichen Schuldner verkörpert wird, es entsteht eine Kunstform der Korruption, die nur als Ergebnis der sophistischen Rhetorik erlangt werden kann: Die wortverdreherische Ungerechtigkeit wird zur Grundlage eines ertragreichen Berufs. Bei diesem Erziehungsversuch erweist sich der junge Pferdenarr Pheidippides als Naturtalent: Hatte er bis dahin sein Leben als Tagedieb und Verschwender des väterlichen Vermögenszugebracht, so entwickelt er sich in der Schule des Sokrates über Nacht zu einem diplomierten Monstrum, entschlossen,die neuerworbene Kunstfertigkeit am eigenen Vater zu erproben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 267

„Pheidippides hatte die Quelle der Ungerechtigkeit durch den Anschauungsunterricht seines Vaters erfaßt - sein Sprung an die Mündung jedoch setzt eine Beihilfe zum höheren Betrug voraus, wie nur die neue »Bildung« sie liefert: Wenn der alte Strepsiades seinem Sohn vorgemacht hatte,wie das erste Unrecht aus der Gesinnung des zahlungsunwilligen Schuldners entpringt, so wird Sokrates dem verblüfften Zögling erklären, wie Unrecht sich vollenden läßt, indem man die Idee der Zurückzahlung als solche mit den Mitteln sophistischer Umkehrung unterwandert. Durch solche Nachhilfe gewitzt, wendet der junge Mann seine neuen Erkenntnisse unmittelbar auf sein persönliches Verhältnis zum Vater an, indem er sich zynisch als dessen loyalen Schuldner präsentiert: »Wohl ist's ein Glück, vertraut zu sein mit dem System des Tages, // Und hoch herabzusehen auf den Quark der alten Sitte: // Solang ich die Gedanken nur auf Roß und Wagen lenkte, // Vermocht ich ohne Anstoß nicht drei Worte vorzubringen. // Seit mich mein Vater selbst von all den Possenabgezogen, // Und ich mir Dialektik und Rhetorik angeeignet, // Da zeig ich klar: der Sohn hat recht, der seinen Vater prügelt! // ... Ich ... frage dich vor allem: hast du mich als Kind geschlagen?« // Strepsiades: »Nun ja, aus Lieb und Sorge nur für dich!« // Pheidippides: Aha! Nun sage, // Ist's da nicht billig, daß auch ich dir meine Liebe zeige, // Und prügle dich, da offenbar dies Lieben heißt: das Prügeln?“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 267-268

„Gegen den Einwand des Vaters, es sei in aller Welt verboten, daß Kinder die Hand gegen die Eltern erheben, plädiert Pheidippides in bestem sophistischem Stil dafür, dieses veraltete Gesetz durch ein Gesetz von heute abzulösen, wonach der Sohn dem Vater künftig die Schläge heimzahlen solle, die er in seiner Kindheit von ihm erhalten hat. Ganz unverkennbar parodiert der bedenkliche Sohn die in der Zurückzahlungspflicht gegründete Idee des Kredits, indem er an falscher Stelle zurückzahlen möchte. Auch läßt er das Argument des Vaters nicht gelten, er, Pheidippides, besitze ja seinerseits das Züchtigungsrecht, falls ihm einmal ein Sohn geboren werde: Sollte er nämlich kinderlos bleiben, so habe er in seinen jungen Tagen »ganz umsonst geheult«.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 268-269

„Zu guter oder schlimmer Letzt läßt Pheidippides den Vater wissen, es sei mit der Androhung von Schlägen für ihn selbst nicht genug: Er habe vor, ebenso die Mutter zu verprügeln wie den eigenen Erzeuger. Strepsiades: Wie, was? Was sagst du? Noch einen ärgern Frevel! Pheidippides: Wie? Und wenn ich nun als Anwalt der schlechten Sach erhärten kann, Pflicht sei's, die Mutter durchzubleun? Strepsiades: Vermagst du das, dann bleibt dir nichts mehr übrig, als vom Felsen dich zu stürzen ins Verbrecherloch, mit Sokrates und deiner schlechten Sache! (Vgl. Aristophanes, Die Wolken, in: Sämtliche Komödien, a.a.O.,; Neubearbeitung der Ubersetzung von Ludwig Seeger [1845-1848], S. 166-168.)“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 269-270

„Daß der Komödiendichter nicht eine bloße Satire auf das Schulwesen seiner Zeit im Sinn hat, ist kaum zu bezweifeln. Er bringt das Resultat einer mißlungenen Filiation zur Anschauung, indem er den sophistisch aufgeklärten Sohn metaphorisch unter die Monstren versetzt: Das Geschöpf, das sich, seinem Schicksal gehorchend, vom Felsen in die Tiefe stürzen soll, ist ja kein anderes als die Sphinx, die Tochter der Echidna und des Typhon, die einst als Stadtgöttin Thebens ihre Tyrannei ausübte und vom Rätseldeuter Ödipus überwunden worden war. Strepsiades begreift, daß sein Sohn zu einer Kreatur des Abgrunds geworden ist, seit er ihn der Sophistenschule ausgeliefert hatte. Die erwies sich nicht nur als ein Seminar der Respektlosigkeit, vielmehr geradewegs als ein Treibhaus genealogischer Verwirrungen. In ihm wird der Sinn für Transmission und Erbe durch eine unangebrachte Konzeption von symmetrischen Transaktionen zwischen Vorgänger und Nachfolger verdrängt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 270

„Zugleich dürfte Aristophanes einer der wenigen Zeugen sein, die den latent muttermörderischen Grundimpuls der Philosophie als solcher in deren Entstehungszeit bemerkten und komödiantisch zu Protokoll gaben: Der Sohn, der beweisen kann, daß er jetzt auch die Mutter schlagen müsse, hat das Geheimnis der Schule im Schnelldurchgang begriffen. Nachdem der unbußfertige Schuldner den Ur-Meter der Polis-Gerechtigkeit, die Zurückzahlung des Kredits, in Gefahr gebracht hat, unterhöhlt die Sophistik den Archetypus der Moral, die Kindestreue zu den Eltern - die im übrigen auch in der konfuzianischen wie in der römischen Ethik den Grundpfeiler alles Wohlverhaltens bildete. Über dem Portal der platonischen Akademie hätte nicht nur die bekannte Ausladung an die Adresse der mathematisch Ungebildeten (ageometroi) stehen können, sondern ebenso die Devise: »Willkommen im Muttermord-Labor!«“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 270

„Beobachtungen dieser Tendenz bilden den harten Kern des Vorwurfs der »Gottlosigkeit« - aseheia -, der gut zwanzig Jahre später im Prozeß gegen Sokrates (399 v. Chr.) erhoben wird. Der Vorwurf ist nicht ganz unbegreiflich, wenn man weiß, daß die athenische öffentliche »Religion« (eusebeia) auf der Ehrfurcht vor den Göttern, den Eltern und den Vorfahren beruhte. Wurde eines dieser Elemente angegriffen, rückte der Sturz der übrigen Größen in drohende Nähe. Von nichts anderem handeln die aristophanischen Wolken: Sie stellen der Sache nach einen theatralisierten Asebie-Prozeß dar, an dessen Ende die Höchststrafe: Gelächter gegen die Schuldigen, verhängt wird.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 270-271

„Wie tief die Griechen bereits in klassischer Zeit das Aufklaffen des Hiatus in den generativen Prozessen verspürten, drückt sich in einer Vielzahl von mythischen und anekdotischen Motiven aus, die das prekäre genealogische Band zwischen der Stadtkulturfamilie und ihren schrecklichen Kindern umkreisen. Waren nicht auch die zahlreichen Geschichten, die über Alkibiades, den glänzendsten und unberechenbarsten der Söhne Athens, im Umlauf waren, im Grunde nur besorgte Hinweise auf den Einbruch des Monströsen in die biedere Stadt - in diesem Fall des Genialisch-Monströsen, das in der Gestalt eines überbegabten jungen Mannes über die bestehende Ordnung hinausdrängte? Nichts bezeugt die zivilisationsdynamische Verwandtschaft zwischen Sokrates, dem beunruhigenden Sophisten, undAlkibiades, dem übermobilen Strategen, nachdrücklicherals die Tatsache, daß gegen beide von ihrer Vaterstadt der Vorwurf religiöser Unkorrektheit erhoben wurde. Alkibiades selbst hatte zudem die Monstrosität des Sokrates durch den Vergleich mit den Silenen offengelegt. Es scheint plausibel zu vermuten, Sokrates sei nach dem über ihn verhängtenTodesurteil auch deswegen in Athen geblieben, weil er sich auf keinen Fall nachsagen lassen wollte, er habe sich seinen hochverräterischen Schüler zum Vorbild genommen, der nach seinem mit einem Schuldspruch beendeten Asebie-Prozeß (415 v. Chr.) aus der Stadt geflohen und ins Lager des spartanischen Erzfeinds übergelaufen war, um von dort aus, horribile dictu, auf die Seite des Überfeindes aller Griechen, der Perser, zu wechseln.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 271

„In Alkibiades war für die Hellenen das Problem der Spätkultur« spürbar geworden: Diese bringt unvermeidlich das Herauswachsen der schrecklichen Kinder aus den patrioi nomoi mit sich. Alkibiades tauchte als Vorbote des »freien Individuums« unter seinen Landsleuten auf - frei nicht nur von den vergilbten Vätersitten, sondern auch vonden Loyalitätspflichten gegenüber der eigenen Polis. Seine verheerende Modernität zeigte sich in dem Umstand, daß er über die Gabe verfügte, allen alles zu sein - ein inspirierender Redner, solange er zu Athenern sprach, ein frugaler Kriegsmann, wenn er mit Spartanern ins Feld zog, ein prunkvoller Asiate, sobald er inmitten von Persern tafelte. In ihm kündigte sich der Sieg der Mode über die Sitte an. Schon im 5. Jahrhundert vor Christus begann in der polyvalenten Stadt die Nachahmung des Gegenwärtigen die Nachahmung des Alten zu übertreffen. Gegen einen Mann von solcher Statur und Tendenz sollte den Geistern von gestern allein noch der Auftragsmord Abhilfe schaffen: vollstreckt im Jahr 404 im Namen der herrschenden Biederkeit Athens.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 271-272

„Der erzwungen-freiwillige Tod des Sokrates im Jahr 399 hingegen bezeichnet die Schwelle, von welcher an die neuen »freien Individuen« den Auftrag verspürten, die von altersher bestehenden Sitten im Namen von empirisch unerwiesenen, doch schon allgemein Geltung beanspruchenden Prinzipien zu unterwandern. Nichts anderes war der soziale Effekt der post-sokratischen Aufklärung und ihrer Konsolidierung in den kanonischen Philosophenschulen. Was man in römischer Zeit das »Abendland« und später »Europa« nennen wird, ist die politische Konsequenz des individualistischen Martyriums, das ein gesprächsfreudiger Stadtstreicher auf sich nahm, um die Legitimität des im universalistischen Dialekt vorgebrachten Neuen gegen die entkräfteten lokalen Sitten zu demonstrieren.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 272

„Der Name Platons erinnert daran, daß nach 399 v. Chr. der »wahre Schüler« seines Meisters zur Schlüsselfigur des weiteren Kulturprozesses werden sollte: Er zeigte seine souveräne Lehrbefugnis aus der Position des Schüler-gewesen-Seins vor, indem er die eigene umstürzend neue Lehre von den Ideen dem Lehrer Sokrates unterschob. Als Paulus fast ein halbes Jahrtausend später die Figur des »Apostels« erfand, um seine Botschaft vom Kreuz in die Welt hinauszutragen, war die rebellisch umgebaute Autoritätsmaschine komplett, um die zivilisatorische Ausnahme, die Europa heißt, auf ihre unverwechselbare Weise in Gang zu setzen. Europa ist das Resultat einer Jahrtausende währenden Unterwanderung väterlicher Transmissionen durch die kombinierten Wirkungen von machthabenden Schülern und etablierten Aposteln - mithin von Söhnen, die aus dem Schatten der Väter treten, um die Überlieferung in unvorhergesehene Richtungen zu lenken. Was man heute das »freie Individuum« nennt, ist der Endverbraucher von Subversionen, an deren Anfänge sich niemand erinnert. Ob der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, ist nicht wichtig, solange er ins Bodenlose fällt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 272-273

„Auch der wirkungsmächtigste Mythos des griechischen Theaters die Geschichte vom König Ödipus, läßt sich unterdem Licht der Sorge um die drohende genealogische Deregulierung mit erneuertem Verständnis wiederlesen: Sie spiegelt das Monströs-Werden des Helden wider, dem es durch eine Laune des Schicksalsloses bestimmt worden war, mitseiner ihm unbekannten Mutter Nachkommen zu zeugen. Hierdurch verletzte er, ohne es zu wollen und zu wissen, die sakrale Asymmetrie zwischen den Generationen, die eine rückwärtsgewandte Paarung als Rückfall in den Abgrund der Animalität untersagt, mehr noch: Er ließ die Diskretion vermissen, die praktisch jede Zeugung zwischen Verwandten ersten Grades als Sturz in den Höllenschlund einer titanischen Chaotik verbannt. Wo man die konstitutive Asymmetrie des Generationengeschehens mißachtet, werden die zur falschen Fortpflanzung verführten Individuen in die Position von letzten Menschen katapultiert, die sich in perverser Gleichzeitigkeit nebeneinander positionieren und miteinander paaren, statt nach dem heilsamen Gesetzen aufeinanderzufolgen. - Die Paarung von Mutter und Sohn ist weit davon entfernt, nur eine erotische Aberration zu bilden - sie steht für eine Mesalliance von ontologischer Mächtigkeit: Sie zieht Wahnsinn, Reue und Irrfahrt nach sich, weil sie das Subjekt aus der positionellen Ordnung des Lebens entwurzelt. Indem sie die genealogische consecutio temporum auf den Kopf stellt, lädt sie das Anfangschaos ein, sich inmitten der humanen Ordung einzunisten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 273-274

„Es besteht kein Zweifel, daß man eines Tages begreifen wird, wodurch Sigmund Freuds epoche-machende Fehllektüre des Ödipus-Mythos bedingt war. .... Auf das 20. Jahrhundert zurückblickend, das als historisches Eldorado der Halbwahrheiten auch die Ära der Psychoanalyse war, stellt sich die Frage, welche Verbrechen alle diese zahllosen Analysanden begangen haben könnten, um so viele mit der Fahndung nach den Tätern unbegangener Untaten verbrachte Stunden zu rechtfertigen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 276, 277

„Das gesamte Schriftwerk des Paulus kann gelesen werden, als habe er unablässig den für ihn nicht aussprechbaren Satz umkresit: »Wo Generation war, soll imitative Nachfolge werden«. Wir zeugen nicht mehr, wir taufen undb rufen hervor. Wir pflanzne uns nicht fort, wir lehren und bekehren. Wir glauben nicht mehr an eine Zukunft, die in eigenen Kindern liegt, wir bereiten uns für eine völlig andere Welt vor, die sich uns durch das baldige Ende des aktuellen Äons erschließen wird.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 291

„Der Übergang zum Dasien christlicher Zeit hatte seinen Preis: Mit der Erfindung der Geschichte als der Zeitspanne »nach Christus«.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 298

„In den Redaktionen der Evangelisten Matthäus und Lukas kündigen sich die späteren Schicksale des Christentums an: Sie sind am besten mit der Formel »Re-Genealogisierung der anti-genealogischen Revolte« zu umschreiben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 302

„Der Sinn der Reformation bestand nicht zuletzt darin, die brüdergemeindliche Anarchie gegen die politische Patristik der katholischen Kirche - von Carl Schmitt als Macht der römischen »Form« verteidigt - wieder ins Recht zu setzen. - und dies im leben jedes einzelnen Gläubigen, außerhalb der Klostermauern, zwischen lärmerfüllten Werkstätten und choralsingenden Gemeinden.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 304

„Im Wirkungsbereich des Modells »Heilige Familie“ wird mithin jeder christlich erzogene Sohn kraft seiner Einführung in die jesuanische Position dazu angeleitet, sein Dasein potentiell als das eines von Gott gezeugten Bastards zu verstehen ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 306

„Den Gedanken, wonach Zivilisation von einer gewissen Entwicklungsstufe an die »Integration« eines Elements an Störendem, Heterogenem, Fremdem zu ihren Voraussetzungen zählt, hat zuerst Hegel in seinen Reflexionen über das frühe Griechentum als Einheit von »aufgehobenen« Gegensätzen ausgesprochen: »Der wahrhafte Gegensatz, den der Geist haben kann, ist geistig; es ist eine Fremdartigkeit in sich selbst, durch welche allein der Geist die Kraft zu sein, gewinnt .... Jedes welthistorische Volk ... hat sich auf diese Weise gebildet. So haben sich die Griechen, wie die Römer, aus einer coluvies, aus einem Zusammenfluß verschiedener Nationen entwickelt.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philsosophie der Geschichte, 1. Abschnitt, Die Elemente des griechischen Geistes).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 314

„Es war Gabriel Tarde, der den Strukturwandel der Nachahmungen an den tag förderte, indem er die Überordnung der Mode über die Sitte als ein Merkmal modernisierter Verhältnisse hervorkehrte. In dem Begriff der Mode ... verbirgt sich, wie oben ausgeführt, der zivilisationsdynamische explosive Sachverhalt, daß in ihr die Nachahmung des Gleichzeitigen die Oberhand gewinnt, während im passéistisch strukturierten Universum der Sitte die Nachahmung von Vorfahren den Ton angab. “
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 327

„Aus dem Dispens-Betrieb der römischen Kirche entwickelte sich im Spätmittelalter ein mit einzigartiger Routiniertheit ausgebauter Wirtschaftszweig: Gemeinsam mit dem Reliquiengeschäft umd dem Ablaßhandel rief er am Vorbaend der Reformation eine veritable Volkswirtschaft der Sünde ins Leben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 333-334

„Der Angriff auf die erblichen Differenzen wird mit der Freisetzung eines permanenten Wettbewerbs zwischen neuen, vorgeblich chancengleichen Kandidaten auf die besseren Plätze bezahlt, der unvermeidlich zahllose Verlierer produziert. Dies mag den sozialpsychologisch paradoxen Effekt erklären, warum moderne Gesellschaften bei historisch beispiellosem hohem Wohlstand, massiver Umverteilung und explodierender Lebenserwartung mit der chronischen Verdüsterung ihrer Grundstimmung zu ringen haben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 392

„Was man in heutigen Diskursen den Egalitarismus nennt, ist in seinen konkreteren Anfängen rückblickend leicht als die Offensive der Bastarde und anderen Trägern von Erbnachteilen gegen das bestehende System rechtlich verfestigter Diskriminierungen zu erkennen. Wer in das Wort »Gleichberechtigung« hineinhorcht, wird Chöre des Ressentiments und der Bitterkeit bemerken.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 395

„Erklärungen allgeminer »Menschenrechte« am Ende des 18. Jahrhunderts. Mit diesen Sprechakten, zeitgemäß, unumgänglich, hochherzig und uneinlösbar, wie sie waren, setzte das nie mehr zu beendende Weltalter der Reklamationen ein.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 425

„Wie Hegel vorhersah, hatte die Geschichte tatsächlich aufgehört, die Lehrmeisterin des Lebens zu sein.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 446

„Ist es noch nötig zu betonen, daß das, was Sigmund Freud in seiner metapsychologischen Studie Das Ich und das Es von 1923 das Über-Ich nennen wird, nichts anderes ist als eine affirmative Formulierung dessen, was in Stirners Diktion von 1844 unverblümt »Besessenheit« durch verinnerlichte kollektive Normen hieß? Das Freudsche Über-Ich ist die Formalisierung der Instanz, die das Ich in den Status des Angeklagten versetzt. Was Freud in seiner Rolle als Generalstaatsanwalt der Zivilisation nicht zu den Akten nahm, ist die fast 80 Jahre zuvor getätigte Aussage des Zeugen Stirner, in der sich das ich zu seiner Unanklagbarkeit geäußert hatte.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 456

„Stirner ... wählt die Position der strikt lokalen und von jeder Verallgemeinerung himmelweit entfernten, hier und da erneuerten selbstgenießenden Selbsterzeugung. So tritt er aus der Geschichtszeit aus und wechselt in die Sphäre des nachgeschichtlichen Rentenbezugs über. Er meidet die Überanstrengung, idem er sich implicite auch bei der Selbstproduktion das Recht auf Faulheit zuspricht: Zwar setzt das Ich sich selbst, aber nur, wenn es dazu Lust hat.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 460

„Wo Fichte doziert hatte: »Handle wie keiner!«, repliziert Stirner: »Tu, was allein du auf der Welt tun kannst: Genieße dich selbst!«.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 461

„In Stirners Der Einzige und sein Eigentum erreicht das schreckliche Kind der Neuzeit seine Reflexionsgestalt. Er tritt als Endverbraucher von Chancen, Gütern und Beziehungen auf. Der unbußfertige fröhliche Egoist schneidet seine Verbindungen nach rückwärts wie vorwärts förmlich, mit expressiver Unhöflichkeit ab. Seine erste Regung ist das Bedürfnis, niemandem zu Dank verpflichtet zu sein.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 468

„»Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie. Das Rhizom geht durch Wandlung, Ausdehnung, Eroberung, Fang und Stich vor sich .... Im Rhizom geht es um ... ›Werden aller Art‹.« (Gilles Deleuze & Félix Guattari, Rhizom, S. 35.) Das unsichtbare unterirdische Geflecht gegen den sichtbar aufsprossenden, nach oben strebenden Baum ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 472

„Die ererbte und erworbene Blindheit der konventionellen westlichen Kulturwissenschaften für Fragen der Filiation kehrt ... in den post-colonial studies schematisch wieder. Sie wiederholen den Basisfehler der westlichen Moderne, die immer die “
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 480

„Man kann den Ausdruck »Weltzivilisation« nicht verwenden, ohne daß Benutzungsgebühren anfallen. Macht man sich eine prozessule Sicht auf die globale Dynamik zu eigen, kommt man nicht umhin, das Gesetz wachsender Fragilität bei zunehmender Verfestigung zu unterschreiben. Die Systemarchitektur des Globalitätsgebäudes wird sich infolge machtgetriebener Gegenseitigkeiten auf absehbare Zeit dem aktuellen modus operandi gemäß replizieren, maifester Einsturztendenzen ungeachtet. Der Weltinnenraum des Kapitals dehnt sich unaufhaltsam aus.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 484

„Die Ausweitung der Staatsdienste inden rund 200 im Uno-Raum angemeldeten politischen Körpern zieht die Modernisierung der Korruption nach sich - für diesmal konventionell verstanden als Unterwanderung des Rechts durch Angehörige der öffentlichen Dienste, die nicht sehen, was dem Charme eines zweiten Einkommen widerstehen könnte. Die wachsende Aktivität der »Staatsdiener« in staatsunfähigen Kulturen wird ohne explodierende Korruption - und mitwachsende Klagen gegen sie - nicht zu haben sein. Als Garanten der Korruption wird die Mehrheit der etablierten wie der improvisierten Nationalstaaten das 21. Jahrhundert zu dem machen, was aes aus der Sicht des 22. gewesen sein wird. Sie bereiten ihr Versagen vor, das man ihnen vorwerfen wird, sollten die Bilanzen eines Tages offengelegt werden.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 484-485

„Kurzum, in unseren Tagen kann niemand wissen, was den Sachgehalt von sirenischen Wörtern wie »Nachhaltigkeit« und »Zukunftsfähigkeit« ausmacht. Wer imstande wärfe, zwischen Gang, Drift und Sturz zu unterscheiden, müßte prophetisch begabt sein. Dies ist der Zustand, auf den Heidegger anspielte, als er seine Bemerkung aussprach, nur noch ein Gott könne uns retten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 488

 

 

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- Literaturverzeichnis -