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Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel (Hrsg.: Eckart Voland; 1992)

- Auszüge -

lVorwort (Eckart Voland)
lDie bevölkerungswissenschaftlichen Deutungen von Fruchtbarkeitsunterschieden und ihre bevölkerungspolitischen Konsequenzen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts (Peter Marschalck)
lPolitik und Vererbung (Peter Weingart)
lSoziobiologie: Wissenschaftliche Innovation oder ideologischer Anachronismus? (Volker Sommer)
lLebensstrategien, Fortpflanzungsunterschiede und biologische Optimierung (Paul Schmid-Hempel)
lFortpflanzungsstrategien im Tierreich (Barbara König)
lFortpflanzungsstrategien männlicher und weiblicher Berberaffen (Andreas Paul / Jutta Küster)
lDie Rolle der Familie im biogenetischen Geschehen (Christian Vogel)
lGeburtenrückgang und Kinderwunsch (Ivonne Schütze)
lDifferentielle Reproduktion aus der Sicht der biographischen Theorie der Fertilität (Herwig Birg)
lEvolutionsbiologie und historische Wissenschaften (Nancy Wilmsen-Thornhill)
lFruchtbarkeitsunterschiede in der Bundesrepublik und in der Türkei (Bernhard Nauck)
lKulturziele und Fortpflanzungsunterschiede (Miachael J. Casimir / Aparna Rao)
lReproduktive Konsequenzen sozialer Strategien (Eckart Voland)
lWirtschaftliche Lage und familiäre Reproduktion (Sylivia Schraut)
lSozialstruktur und Fortpflanzung bei der ländlichen Bevölkerung Deutschlands im 18. und 19. Jahrhundert (Jürgen Schlumbohm)
l Fazit - Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel (Eckart Voland)

 

Die bevölkerungswissenschaftlichen Deutungen von Fruchtbarkeitsunterschieden und ihre bevölkerungspolitischen Konsequenzen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts (Peter Marschalck)

–   Einleitung (S. 13-14)
–   Malthusianismus und Biologismus im 19. Jahrhundert (S. 15-16)
–   Geburtenrückgang und Überfremdungsängste (S. 16-18)
–   Neomalthusianismus und Arbeiterbewegung (S. 19-20)
–   Geburtenrückgangstheorien (S. 20-23)
–   Geburtenrückgang und Ausländerfeindlichkeit im Nachkriegsdeutschland (S. 23-24)
–   Theoriebildung in der Demographie (S. 24-25)

Einleitung

„Die Entwicklung des Verhältnisses von Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik, von Kenntnissen über Bevölkerungsvorgänge einerseits und politischen Maßnahmen mit dem Ziel der Veränderung von Stärke oder Richtung der Bevölkerungsbewegung andererseits gehört zu den interessantesten, aber auch zu den noch immer nicht ausreichend untersuchten Kapiteln der demographischen »Dogmengeschichte«. Beide, Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik, wurden bisher maßgeblich von der jeweiligen realen Bevölkerungsentwicklung beeinflußt; Bevölkerungspolitiker scheinen sich im allgemeinen jedoch eher nach nicht-demographischen Begründungen und häufig auch nicht-demographischen Zielen zu richten, als daß sie ihren Maßnahmen bewährte Erkenntnisse der Bevölkerungswissenschaft zugrunde gelegt hätten. Das läßt sich gerade auch an dem Wandel in der wissenschaftlichen Interpretation differentieller Fruchtbarkeit seit dem 18.Jahrhundert aufzeigen.“ (Ebd., S. 13).

„Nationale und regionale Differenzierungen des Bevölkerungswachstums waren schon früh Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung und Anlaß für politische Reaktionen gewesen; es sei hier nur auf die Aussagen der merkantilistischen Schriftsteller und auf die Peuplierungspolitiken ... hingewiesen. Für regionale und im weitesten Sinne auch soziale Differenzierungen (nämlich Stadt-Land-Unterschiede) der Sterblichkeit wurden ebenfalls schon im 18.Jahrhundert Ursachen gesucht und Erklärungen geliefert: Johann Peter Süßmilch etwa zählt eine ganze Reihe von Ursachen auf, die für die höhere Sterblichkeit in den Städten verantwortlich gewesen sein sollten, etwa Liederlichkeit, Ammenwesen, Geschlechtskrankheiten, völlerei, Trunksucht, Enge der Wohnungen, usw ., eine Liste, die eher von Stadtkritik (später Großstadtkritik) zeugt als von demographisch relevanten Verursachungsmechanismen, wenn auch die diesen Merkmalen zugrundeliegenden Beobachtungen durchaus zutreffend gewesen sein mögen (vgl. Johann Peter Süßmilch, Die Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, Tod und Fortpflanzung desselben erwiesen, 1741, Kapitel II/III).“ (Ebd., S. 13-14).

„Soziale Unterschiede der Fruchtbarkeit wurden dagegen erst zu Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend Gegenstand bevölkerungswissenschaftlicher Analyse und geradezu konstituierendes Element bevölkerungstheoretischer Konzeptionen. Das heißt jedoch nicht, daß solche Unterschiede nicht schon früher bemerkt worden wären. Für Süßmilch (ebd., Kap. V) zum Beispiel sind sie noch lediglich statistische Abweichungen vom (Schwankungen um den) als Ausdruck göttlicher Gesetzmäßigkeit angesehenen Mittelwert der ehelichen Fruchtbarkeit. Diese naturwissenschaftliche Interpretation von Fruchtbarkeitsunterschieden (und nichts anderes ist der Rekurs auf die statistische Regelmäßigkeit) wurde dann durch Thomas Robert Malthus, der ebenfalls dem naturwissenschaftlichen Denken verpflichtet gewesen ist, modifiziert: In seinen ausführlichen empirischen Betrachtungen über die in den verschiedensten Gesellschaften wirksamen Hemmnisse der Bevölkerungsvermehrung haben die sozialen Aspekte (die vorbeugenden Hemmnisse, preventive checks) durchaus hervorgehobene Bedeutung neben denen der natürlichen Ressourcen (der nachwirkenden Hemmnisse, positive checks).“ (Ebd., S. 14).

„Malthus hatte vor allem die sozialen Bedingungen von Fruchtbarkeitsunterschieden (von Unterschieden im Bevölkerungswachstum) hervorgehoben: der jeweilige Zivilisationsstand und die vernunftgemäße Einsicht in die von diesen sozioökonomischen Strukturen vorgegebenen Grenzen der Familiengröße (oder das Fehlen dieser Einsicht) waren von ihm als Ursachen differentieller Reproduktion beschrieben worden. Und Malthus' bevölkerungspolitische Empfehlungen (konkret die Ablehnung der Armenunterstützung) zielten deshalb auch darauf, die von ihm diagnostizierte fehlende Einsicht (der Armen, ihre Familien klein zu halten oder erst gar nicht zu heiraten) nicht auch noch zu belohnen, anders ausgedrückt: die Konsequenzen eines vernunftgernäßen Handelns eben durch Hunger und Not zu erzwingen. Die frühen englischen und amerikanischen Malthusianer schlugen eine weniger rigorose Richtung ein; sie bemühten sich besonders darum, den »Uneinsichtigen« (das heißt vor allem den Arbeitern) die Notwendigkeit zur Kleinhaltung ihrer Familien und die dafür notwendigen Kenntnisse zu vermitteln.“ (Ebd., S. 14).

Malthusianismus und Biologismus im 19. Jahrhundert

„Während des ganzen 19. Jahrhunderts waren die Diskussionen über Bevölkerung maßgeblich durch den Malthusianismus bestimmt gewesen, durch einen Malthusianismus allerdings, der sich von Anfang an, das heißt noch zu Malthus' Lebzeiten, in zwei Richtungen auseinanderzuentwickeln begann: in den wissenschaftlichen Malthusianismus mit vorwiegend wirtschaftstheoretischem Ansatz einerseits und einen praktischen Malthusianismus mit starken sozialpolitischen und sozialreformerischen Komponenten andererseits. Bevölkerungspolitische Umsetzungen des wissenschaftlichen Malthusianismus lassen sich in Deutschland allerdings kaum nachweisen, wenn auch verschiedene Maßnahmen - wie zum Beispiel die Wiedereinführung von Heiratsbeschränkungen in einigen deutschen Staaten in den 1830er Jahren (den Jahren zunehmender Massenverarmung) durchaus den Malthusschen Politikempfehlungen entsprochen hätten. Der praktische Malthusianismus, dessen Ziel vor allem in der Verbreitung von Kenntnissen über Geburtenbeschränkung bestanden hatte, fand erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Resonanz, die ihn in der Folgezeit unter dem Namen Neomalthusianismus zu einer sozialpolitischen Bewegung hatte werden lassen. Bei diesem Übergang zum Neomalthusianismus war der praktische Malthusianismus nicht unberührt geblieben von den Fortschritten der Naturwissenschaft, insbesondere der Biologie im 19. Jahrhundert. Die neuen Erkenntnisse waren zugleich Grundlage und Rechtfertigung für die Biologisierung gesellschaftlicher Phänomene, wie sie etwa in der Rassentheorie Gobineaus (1816-1882), in der Eugenik Francis Galtons (1822-1911) und schließlich im Sozialdarwinismus vorgenommen wurde (vgl. dazu die Beiträge von Sommer und Weingart in diesem Band). Diese theoretischen Konzeptionen hatten außerordentliche Bedeutung für das Denken über Bevölkerungsprobleme, lieferten sie doch die Begründung für ein Wachstum der jeweiligen nationalen Bevölkerung wie für biologisch-soziale Auslesemaßnahmen mit dem Ziel der Höherzüchtung der menschlichen Population. Dem rigorosen Züchtungsgedanken verschlossen sind allerdings die deutschen Neomalthusianer, die die Höherentwicklung der Menschheit durch Geburtenkontrolle voranzutreiben gedachten, durch die Beschränkung der Nachkommenschaft, die allein es möglich mache, sittliche, kulturelle und soziale Werte zu pflegen und zu tradieren (zum Beispiel Otto Zacharias, Die Bevölkerungsfrage in ihrer Beziehung zu den socialen Nothständen der Gegenwart, 1880, S. 38).“ (Ebd., S. 15-16)

„Daß die neomalthusianischen Bemühungen um die Verbreitung von Kenntnissen der Geburtenbeschränkung, die sich besonders an die Arbeiterschaft richteten, Argwohn erregten, daß man ihnen organisatorisch, propagandistisch und mit Hilfe von Rechtsprechung und Staatsgewalt zu begegnen suchte, darf nicht verwundern, widersprach doch die Verminderung der Geburtenzahlen, diese als Antinatalismus apostrophierte Haltung, schon von jeher einem jeden nationalen, politischen und wirtschaftlichen Interesse der betroffenen Regierungen. Nach Einsetzen des Geburtenrückgangs - der Begriff erscheint 1911 zum erstenmal in der wissenschaftlich-politischen Diskussion (vgl. Karl Oldenberg, Über den Rückgang der Geburten- und Sterbeziffer, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 1911) und weist darauf hin, daß nun nicht mehr nur, wie schon seit längerem, die Geburtenziffern, sondern (seit 1909) auch die absoluten Geborenenzahlen im Deutschen Reich sanken -, erst seit dieser Zeit begann man in Deutschland intensiver die Ursachen dieses Phänomens zu benennen, die Gefahren einer Verminderung der Bevölkerungszahl zu erörtern und Maßnahmen zur Abhilfe dieser Gefahren vorzuschlagen: die - publizistische - Bekämpfung des Geburtenrückgangs hatte begonnen. Während des Ersten Weltkriegs entstanden dann auch pronatalistische Organisationen wie die von Julius Wolf initiierte Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungspolitik in Berlin (1915-18), der Bund für Erhaltung und Mehrung der deutschen Volkskraft in Halle (1916) oder der Bund für deutsche Familie und Volkskraft in Karlsruhe (1918) und viele andere mehr.“ (Ebd., S. 16).

Geburtenrückgang und Überfremdungsängste

„Der Krieg war aber auch Anlaß dafür, einem anderen Phänomen verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen: Schon um die Jahrhundertwende war Deutschland von einem Auswanderungsland zu einem Einwanderungsland geworden; ausländische Arbeitskräfte wurden vor allem in der Landwirtschaft, aber auch im Bergbau und in der Industrie beschäftigt, und sie wurden gerade auch während des Krieges zur Aufrechterhaltung der Nahrungsmittelproduktion dringend benötigt. Wenn dennoch der Alldeutsche Verband 1916 - noch im Bewußtsein des unzweifelbar bevorstehenden deutschen Sieges - die deutschen Regierungen ermahnte, der nach dem Krieg mit Sicherheit einsetzenden Zuwanderung und besonders den Einbürgerungswünschen jener Zuwanderer gesetzliche Dämme entgegenzusetzen, so deutet das auf eine weitere Befürchtung hin: Neben die Furcht vor dem Bevölkerungsrückgang trat nun auch die Furcht vor der Überfremdung, vor der Umvolkung, vor der »Minderung des Durchschnittswertes wie der Durchschnittsleistung des ganzen Volkskörpers« (Denkschrift des Alldeutschen Verbandes an die deutschen Bundesregierungen vom 12.02.1916 betr. Schluß der Reichsgrebzen gegen unerwünschte Einwanderer, 1916, S .4).“ (Ebd., S. 16-17).

„Es schien sich also um eine dreifache Bedrohung zu handeln, die zu jener Zeit empfunden wurde und der zu begegnen geboten schien:
1.um die der quantitativen Implosion als notwendige Folge des Geburtenrückgangs;
2.um die der qualitativen Implosion als Folge der Degeneration durch negative Auslese, die durch neomalthusianistische Geburtenbeschränkungsmaßnahmen hervorgerufen werde;
3.um die des rassischen Untergangs, das Verschwinden von Volkstum und nationaler Identität durch das Zusammenwirken von Bevölkerungsrückgang, Degeneration und Überfremdung.
Geburtenfördernde Maßnahmen, rassenhygienische Maßnahmen und Maßnahmen zur Abwehr unerwünschter Ernwanderung: das waren dann auch die Forderungen, die zum Teil noch während des Krieges, verstärkt und deutlicher dann aber in den 1920er und 1930er Jahren, diskutiert wurden. Die Forderungen nach bevölkerungspolitischen Maßnahmen, nach staatlichen Eingriffen in das Bevölkerungsgeschehen, waren nur selten- und wenn überhaupt, dann im allgemeinen nur unzulänglich - an gründlichen Ursachenanalysen für das in Betracht gezogene Übel (sei es die Gefahr des Bevölkerungsrückgangs, sei es die der Degeneration) orientiert. Es scheint im Gegenteil eher die Regel gewesen zu sein, die Ursachen, mit denen man die vorgeschlagenen Maßnahmen zu begründen versuchte, auf diese Maßnahmen hin auszuwählen; die Ursachen für das jeweils konstatierte Übel wurden damit in gewisser Weise beliebig und austauschbar.“ (Ebd., S. 17).

„Allerdings bestand häufiger Einigkeit über die anzustrebenden bevölkerungspolitischen Ziele als über die einzuschlagenden Wege dahin. Eine seltene Übereinstimmung von Zielen und Maßnahmen auf durchaus unterschiedlicher ideologischer Grundlage gab es zum Beispiel zwischen dem Sozial-(und Rassen- )hygieniker Alfred Grotjahn (1914, passim) und der wichtigsten Propagandistin der neomalthusianischen Position in Deutschland Helene Stöcker (1914, passim). Beide befürworteten 1914 das Ziel der Höherentwicklung des Menschen, sie waren sich auch einig in der NotWendigkeit, die Vererbung von »Minderwertigkeit«, letztlich auch die Existenz von »Minderwertigen« zu verhindern, und beide wollten das Mittel der Geburtenregelung für die Verfolgung dieser Ziele einsetzen. Grotjahn allerdings lehnte die Regelung des Neomalthusianismus, die er als Zweikindersystem diagnostizierte, ab und forderte den moralischen Zwang zur bestandserhaltenden Fortpflanzung.“ (Ebd., S. 17-18).

„Ließ sich das Ziel der Rassenverbesserung und der Rassenveredelung bei den als antinatalistisch gekennzeichneten Neomalthusianern noch allein durch Geburtenbeschränkung und damit verbundener besserer familiärer Fürsorge und Pflege in kleineren Familien erreichen, so war es für die Vertreter des pronatalistischen Katholizismus allein der Kinderreichtum, durch den die Qualität der Bevölkerung zu bewahren oder zu verbessern war. Der »Unsittlichkeit« und »Gottlosigkeit« geburtenbeschränkender Maßnahmen, wie sie von den Neomalthusianern propagiert worden seien, setzte die katholische Kirche die sittlich reife Ehe und unverderbte Familie entgegen, mithin ein Familienbild, ein Familienideal, das schon zur Zeit des Ersten Weltkriegs auch für die Kirche nur noch ein Wunschtraum gewesen war. Der Verfall der Familie - durch Entkirchlichung und Entsittlichung herbeigeführt - galt neben der femistischen Frauenbewegung emerseits und der sozialistischen Arbeiterbewegung andererseits als das grundlegende Übel jener Zelt, die alle zusammen natürlich auch als die wesentlichen Ursachen des Geburtenrückgangs angesehen wurden (vgl. M. Fassbender, Des deutschen Volkes Wille zum Leben, 1917; vgl. Franz Hitze, Geburtenrückgang und Sozialreform, 1917).“ (Ebd., S. 18).

Neomalthusianismus und Arbeiterbewegung

„Die Stellung der Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie zu den Fragen der Geburtenbeschränkung und der Rassenhygiene war nicht einheitlich gewesen. Waren im Neomalthusianismus die Geburtenkontrollbewegung und die »neue Ethik« der bürgerlich-radikalen Frauenbewegung noch eine Synthese eingegangen, die deutlich das Interesse der Mütter in den Vordergrund ihrer Bemühungen gestellt hatte, so war die proletarische Frauenbewegung um die Jahrhundertwende sozialistisch -und das heißt auch antifeministisch- gewesen. Der Sozialismus wies den Frauen die Rolle der Mutter, Ehefrau und Hausfrau zu, die dem proletarischen Arbeiter die Reproduktion seiner Arbeitskraft zu ermöglichen habe, der Kraft, die er benötigte; um im Klassenkampf seinen Mann zu stehen.“ (Ebd., S. 19).

„Die Rolle der Mutter schloß auch den Verzicht auf Geburtenbeschränkung ein. Das zeigte die Berliner Gebärstreikdebatte von 1913 besonders deutlich. Namentlich Clara Zetkin und Rosa Luxemburg wiesen in einer öffentlichen Versammlung der Sozialdemokratischen Partei gegen den Gebärstreik nachdrücklich darauf hin, daß »nicht die Vermeidung der Kinderzeugung, sondern nur der organisierte Kampf gegen die Zustände, die das Elend kinderreicher Familien verschulden, helfen könne«, daß es sich für die proletarische Frau nicht darum handle, die Zahl der Kinder zu beschränken, sondern »in der kapitalistischen Gesellschaft alles das zu erringen, was nötig sei in bezug auf den Haushalt, die Versorgung der Kinder usw.« »Daß die proletarische Frau überbürdet werde durch die Kinderzahl, daran sei nicht der Kapitalismus an sich schuld, sondern der Umstand, daß der Kapitalismus ihr nicht genügend gebe von dem, was die faulenzenden Weiber der Bourgeoisie verschwenderisch hätten«; um das Ideal des Sozialismus in die Wirklichkeit umzusetzen, dazu hülfen »keine kleinen Mittelchen, sondern nur der klare Weg des wirtschaftlichen und politischen Klassenkampfes«; und wenn die Frauen aufhörten, »Soldaten (für den Krieg) zu zeugen, dann hören sie auch auf, Soldaten der Revolution zu zeugen«.“ (Ebd., S. 19).

„In dieser Pflicht der Frauen in der sozialistischen Arbeiterbewegung, mit zahlreicher Nachkommenschaft dafür zu sorgen, daß es auch in Zukunft ein starkes revolutionäres Potential gebe, in dem Bemühen der sozialdemokratischen Parteiorganisationen, individuell-emanzipatorische Bestrebungen der Frauen völlig zu unterdrücken, die Frauen auf ihre familialen Rollen festzulegen und sie gleichzeitig in die politische Bewegung einzubinden, wird auch eine sozialdarwinistische Komponente deutlich.“ (Ebd., S. 19-20).

„Die weitere Aufnahme solcher biologisierter sozialtheoretischer Versatzstücke - der nächste Schritt wäre die Hinwendung zur Rassenhygiene gewesen, wie ihn etwa schon früh Alfred Grotjahn getan hatte - wurde in der sozialistischen Arbeiterbewegung nicht zuletzt auch wegen der festen ideologischen Einbindung in die Milieutheorie vermieden, mit einer Ausnahme allerdings: Karl Kautsky (vgl. ders., Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft, 1880, S. 263 f.) hatte vermutet, daß es zumindest bis zum Übergang zur sozialistischen Gesellschaftsordnung, möglicherweise aber auch noch später, unerläßlich sein würde, rassenhygienische Überlegungen zur Vermeidung von solcher Entartung, die durch die Zunahme von Krüppeln und Siechen eintreten würde, nicht zu vernachlässigen: Er empfahl »die Ersetzung der natürlichen Zuchtwahl, die der Kampf ums Dasein bewirkt, durch eine künstliche Zuchtwahl in der Weise, daß alle kränklichen Individuen, die kranke Kinder zeugen könnten, auf die Fortpflanzung verzichten, was bei dem heutigen Stande der medizinischen Technik, wie wir wissen, nicht mehr den Verzicht auf die Ehe in sich zu schließen braucht«.“ (Ebd., S. 20).

„Mit dem Ersten Weltkrieg trat auch in der Arbeiterbewegung ein Umschwung in der Einstellung zur Geburtenkontrolle ein: der Mutterschutz gewann an Bedeutung, und die sozialistischen (sozialdemokratischen und kommunistischen) örtlichen Organisationen gehörten bis 1933 dann zu den wichtigsten Verbreitem von Kenntnissen zur Geburtenregelung.“ (Ebd., S. 20).

Geburtenrückgangstheorien

„Die oben angesprochene Beliebigkeit und Austauschbarkeit von Geburtenrückgangsursachen hatte ihren Grund nicht zuletzt in der Tatsache, daß die demographischen Veränderungen, konkret die mit dem Geburtenrückgang erwartete Tendenz zum Bevölkerungsrückgang, der Malthusschen Hypothese von der »naturgesetzlichen Tendenz zur Ubervölkerung und der damit verbundenen« Notwendigkeit von Hemmnissen des Bevölkerungswachsturns die reale Basis entzogen hatten. Ob als Anhänger oder als Gegner des Malthus waren die Nationalökonomen bis dahin gewissermaßen Verwalter der Bevölkerungswissenschaft und der Bevölkerungstheorie gewesen, einer Theorie, die in jedem Fall an einer starken Vermehrungstendenz der Bevölkerung und, je nachdem, an optimistischer oder eher pessimistischer Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklungspotentiale orientiert war. Die gewandelte demographische Situation stellte die Wissenschaft vor die Aufgabe, ein neues theoretisches Konzept zur Erklärung des Geburtenrückgangs zu entwerfen, ein Konzept, das - wie es Ende der 1930er Jahre bei Werner Sombart (vgl. ders., Vom Menschen, 1938, S.323) anklang - die Frage nach den Hemmnissen für eine von Natur aus sehr starke Bevölkerungsvermehrung ersetzt durch die Frage nach den Ursachen dafür, daß die reale Bevölkerungsentwicklung trotz der geringen Neigung der Eltern, viele Kinder in die Welt zu setzen, nicht zum Aussterben der Menschheit geführt habe. Ging es also in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts recht eigentlich darum, die Gründe dafür zu finden, warum die Menschen überhaupt (so viele) Nachkommen haben, so war die tatsächlich durchgeführte Ursachenforschung immer noch und ganz im Malthusschen Sinne auf die Hemmnisse gerichtet - nun nicht mehr die Hemmnisse, die es ermöglichen sollten, ein zu großes Bevölkerungswachstum zu verlangsamen, sondern auf die Hemmnisse, die es verhinderten, daß eine erwartete Bevölkerungsvermehrung eintritt. Das Ergebnis war eine Vielfalt von Geburtenrückgangstheorien, die die unterschiedlichsten Phänomene zu den jeweils wirksamen Ursachen der verringerten Kinderzahlen erklärten (vgl. Horst Wagenführ, Klassifikation der Theorien über die Ursachen des Geburtenrückganges, 1933). “ (Ebd., S. 20-21).

„Die Ursachen des Geburtenrückgangs wurden gefunden in zunehmendem Wohlstand, in der Verbreitung von Kenntnissen über Geburtenkontrolle, im Sozialismus, im Kinematographen, in der Frauenemanzipation, in der Kleidermode, in der Entfremdung von Kirche und Religion, im Liberalismus, im Materialismus, in der Siedlungsdichte, usw. usw. - die Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Diese Vielfalt der Antworten auf die alte bevölkerungswissenschaftliche Grundfrage belegt die vorher angesprochene Beliebigkeit und Austauschbarkeit in bezug auf die Begründung bevölkerungspolitischer Ziele und Maßnahmen. Wichtiger als diese Vielfalt scheint mir aber das Verbindende aller dieser Erklärungsansätze zu sein; gemeinsam ist ihnen allen nämlich die Voraussetzung unterschiedlicher Fruchtbarkeit in freilich jeweils anders definierten sozialen Gruppen.“ (Ebd., S. 21-22).

„Neben den sozialen und kulturellen Gruppendefinitionen spielte die nach biologischen Gesichtspunkten differentielle Fruchtbarkeit in der gesamten Geburtenrückgangsdiskussion nur eine untergeordnete Rolle. Früh allerdings schon - vor dem Ersten Weltkrieg - wurde auf die hohen Kosten hingewiesen, die dem Staat aus der Sorge um die schwachsinnigen »Minderwertigen« erwüchsen (vgl. Helene Stöcker, »Staatlicher Gebärzwang« oder »Rassenhygiene«? 1914, a.a.O., S. 144); ein Argument, das später dann - 1931 - in der Diskussion um eugenische Maßnahmen im preußischen Staatsrat erhebliches Gewicht erlangte (vgl. Verminderung 1933). Wenn auch im allgemeinen biologische Ursachen des Geburtenrückgangs - etwa verminderte Zeugungsfähigkeit - ausgeschlossen wurden, so wird doch der Einfluß weniger eugenischer als vielmehr sozialdarwinistischer und rassistischer Argumente bei dem Versuch, den Geburtenrückgang zu erklären, nur allzu deutlich, wenn etwa Kriminalität, Alkoholismus, Prostitution usw. als quasi-biologische Merkmale für höhere Fruchtbarkeit und demzufolge für stärkeres Wachstum solcher Gruppen verahtwortlich gemacht wurde - oder wenn zum Beispiel »die stärkere Fruchtbarkeit von Bergarbeitern und landwirtschaftlichen Arbeitern (z. B. im Grenzgebiet zu Polen) ... in erster Linie auf slawischen Blutanteil zurückgeführt werden« müsse (vgl. Otto Helmut, Volk in Gefahr, 1933, S. 36).“ (Ebd., S. 22).

„Es scheint, als habe das Denken über Bevölkerungspolitik den demographischen Paradigmenwechsel nicht mitvollzogen. Zwar hatten sich die bevölkerungspolitischen Ziele verändert: nicht mehr die Verhinderung eines allzu starken Bevölkerungswachstums, sondern dessen Förderung schien angezeigt. Zwar hatte auch die Rassenhygiene eigene Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung entwickelt. Die Maßnahmen der quantitativen Bevölkerungspolitik allerdings - obwohl natürlich den veränderten Zielen angepaßt - waren weiterhin einem theoretischen Konzept, einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang verhaftet, der dem Denken über Bevölkerung vor dem Paradigmenwechsel entsprach. In der Bevölkerungswissenschaft war Malthus seit der Jahrhundertwende überwunden, wenn auch nicht ersetzt; aber nicht nur im Neomalthusianismus, sondern mehr noch bei den pronatalistischen Gegnern der Geburtenkontrollbewegung war er weiterhin präsent.“ (Ebd., S. 22).

„Die in den 1920er und 1930er Jahren immer stärker werdenden Forderungen nach geburtenfördernden wie eugenischen Maßnahmen fanden ab 1933 dann ihren Niederschlag in der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik, die diesen beiden Komplexen dann noch den der Rassenvernichtungsmaßnahmen zugliederte. Die Maßnahmen zur Erhöhung der Fruchtbarkeit sind jedoch nicht nur auf den eigentlichen quantitativen Aspekt beschränkt gewesen; von Anfang an wurden auch qualitative Gesichtspunkte zum Beispiel dadurch berücksichtigt, daß die Gewährung von Ehestandsdarlehen, Kinderbeihilfen usw. auch an rassenhygienische und rassenpolitische Voraussetzungen gebunden wurde.“ (Ebd., S. 22-23).

Geburtenrückgang und Ausländerfeindlichkeit im Nachkriegsdeutschland

„Mit Beginn des Geburtenrückgangs der 1960er Jahre setzten erneut Geburtenrückgangsdiskussion, Analyse der Daten und Ursachenforschung ein, und parallel dazu wurden wieder Forderungen zu seiner Bekämpfung erhoben. Und auch die alten Befürchtungen, die vor dem Aussterben und die vor der Überfremdung, wurden wieder geäußert.“ (Ebd., S. 23).

„1974 ... wies zum Beispiel Heinrich Schade darauf hin, daß »bei den augenblicklichen Geburtenverhältnissen im deutschen Raum ... es nach ein bis zwei Generationen ein so erhebliches Defizit geben (werde), daß ein Vakuum in Mitteleuropa entstände. Natürlich würde es sich mit Ausländern auffüllen« (Heinrich Schade, Völkerflut und Völkerschwund, 1974, S. 108). Und »Verlust des Bewußtseins der nationalen Identität mit Volk und Familie« der Deutschen würde »andere westeuropäische Völker in der kulturellen und biologischen Selbstaufgabe bald folgen« lassen (vgl. ebd., S. 108 f.).“ (Ebd., S. 23).

„Fruchtbarkeitsunterschiede dagegen standen bei dem als Zigeunerforscher bekannt gewordenen Landauer Mediziner H. Arnold im Vordergrund seiner Betrachtungen zu einer pronatalistischen Bevölkerungspolitik, indem er nachdrücklich auf die »möglichen qualitativen Auswirkungen« solcher Maßnahmen hinwies, zum Beispiel eine negative Auslese und damit eine zahlenmäßige Zunahme sozialer Randgruppen (vgl. Hermann Arnold, Materialien zu qualitativen Aspekten des Bevölkerungsprozesses, 1978, S. 41 ff.).“ (Ebd., S. 23).

„Die Ursachen des Geburtenrückgangs, und zwar sowohl des säkularen Rückgangs, der um 1900 eingesetzt hatte, als auch des neueren seit den 1960er Jahren, hatte Theodor Schmidt-Kaler in den jeweils wenige Jahre zuvor eingetretenen Änderungen des Sozialversicherungssystems gefunden, und er schlug deshalb eine Steuerung des generativen Verhaltens mit den Mitteln der Rentenpolitik vor, um »das zeitweilig schrumpfende Volk« vor dem »point of no return« zu bewahren (und ein ökonomisch tragbares Verhältnis von Erwerbsbevölkerung zu Rentenempfängern zu bewahren). Einwanderung als Alternative zur Erhöhung der Geburtenzahlen der deutschen Bevölkerung biete »keinen Ausweg aus dem Dilemma«, denn bei einem dann notwendigen Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung von »weit mehr als einem Drittel« komme es wegen des »Fruchtbarkeitsgefälles« zwischen ausländischer und deutscher Bevölkerung »in ein bis zwei Generationen (zu einer) Pseudomorphose im Sinne Oswald Spenglers« (Theodor Schmidt-Kaler, Rentengesetzgebung als Instrument zur nationalen Steuerung und Rückkoppelung des Bevölkerungsprozesses, 1978, a.a.O., S. 77ff.).“ (Ebd., S. 24).

„Den Höhepunkt dieser in wechselnder Gewichtung die Argumente differentieller Fruchtbarkeit mit denen der Einwanderungsfolgen verquickenden Diskussion bildete zweifellos das sogenannte »Heidelberger Manifest« einer Gruppe von Hochschullehrern unterschiedlicher Disziplinen (deren Pressesprecher Theodor Schmidt-Kaler war) vom Januar 1982, das die »Unterwanderung« und »Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums« beklagte. Genetische Unterschiede zwischen den Völkern seien der Grund dafür, daß »die Integration großer Massen nichtdeutscher Ausländer nicht möglich« sei und »zu den bekannten ethnischen Katastrophen multikultureller Gesellschaften« führte (vgl. Heidelberger Manifest, 1982, Unterzeichnerfassung, in: Frankfurter Rundschau, 04.03.1982).“ (Ebd., S. 24).

Theorienbildung in der Demographie

„Bevölkerungspolitische Maßnahmen sind gewöhnlich an den verfügbaren Kenntnissen für die Ursachen der demographischen Zustände und Entwicklungen orientiert, die man herbeiführen oder vermeiden möchte. Die Erkenntnisse über die Ursachen des Geburtenrückgangs bestanden aber bis in die 1930er Jahre allein in der angedeuteten Vielfalt von Geburtenrückgangstheorien. Die in ihnen angebotene Mischung aus Kulturkritik und auf Fruchtbarkeitsunterschieden beruhenden statistischen Korrelationen reichte allerdings nicht aus, die Lücke zu füllen, die der überwundene Malthusianismus (oder die beiseite gelegte naturgesetzliche Übervölkerungstendenz) hinterlassen hatte. Zudem waren die Geburtenrückgangstheorien weiterhin der grundlegenden malthusianischen Fragestellung verhaftet, der Frage nach den jeweiligen Hemmnissen (**), die man nur aufbauen oder wegräumen müsse, um den gewünschten Erfolg zu erzielen.“ (Ebd., S. 24-25).

„Auch die seit den 1940er J ahren diskutierte »Theorie des demogrphischen Übergangs« (**) blieb dieser Fragestellung verhaftet. Erst jüngst wurden mit ihrer Umkehrung die alten (malthusianischen) Denkmuster obsolet: Die Frage nach den Gründen dafür, warum Menschen überhaupt Kinder haben (wollen), hat neue Denkanstöße für die Erklärung des generativen Verhaltens gegeben.“ (Ebd., S. 25).

„Differentielle Fruchtbarkeit war seit der Jahrhundertwende zentrales Thema der demographischen Analyse und Theonebudung gewesen. Sie ist es noch heute. Und auch heute noch scheinen die Ergebnisse solcher Forschungen eher in die immer neue Benennung der ... bekannten malthusianischen checks (**) einzumünden, als daß ihre Vielfalt und Heterogenität ein einheitliches Konzept darstellen könnte. Unter Beibehaltung der Annahme einer gewissermaßen von der Natur vorgegebenen hohen Fruchtbarkeitsnorm scheinen die malthusianischen checks in ihrer Mischung aus kulturellen, biologischen und ökonomischen Argumenten durchaus plausible Erklärungsansätze für die Bevölkerungsvorgänge zu sein. Das Festhalten an diesem hohen »natürlichen« Fortpflanzungsdrang scheint allerdings auch die demographische Theoriebildung zu behindern. Nur dann, wenn nicht mehr ausdrücklich nach den Hemmnissen des Fortpflanzungsvorgangs gesucht wird, dürften neue Bevölkerungstheoretische Konzepte - wie das von Herwig Birg in diesem Band vorgestellte biographische Erklärungsmuster - auch in der öffentlichen Diskussion von Bevölkerungsfragen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Ob allerdings eine solche rationalistischere Betrachtungsweise verhindern könnte, daß die demographischen Entwicklungen als politische Argumente in der Auseinandersetzung um Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit (mit den Hinweisen auf das vermeitlich drohende Aussterben oder die zu erwartende Überfremdung) weiterhin öffentlich Karriere machen, daran darf füglich gezweifelt werden.“ (Ebd., S. 25).

Soziobiologie: Wissenschaftliche Innovation oder ideologischer Anachronismus? (Volker Sommer)

„Herbert Spencer (1820-1903) wurde zum Hauptvertreter des in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden, eher gesellschaftswissenschaftlich-philosophisch orientierten Evolutionismus. In einem zehnbändigen Opus magnum A System of Synthetic Philosophy prägte er den gemein Darwin zugeschriebenen Begriff vom »Überleben des Tauglichsten«, dem survival of the fittest .... Dieser galt Spencer als die differenzierende Kraft in der Entwicklung frühmenschlichen Lebens bis zu »höheren« Stufen der Zivilisation (Kultur). Spencer faßte die Auslese als einen individuellen Kampf ums Dasein auf, der - weil quasi naturrechtlich den Abläufen inhärent - an und für sich nützlich und wünschenswert sei. Insbesondere dürfe er nicht durch staatliches - etwa sozialpolitisches - Eingreifen behindert werden.“ (Ebd., S. 54-55).

„Die weitreichende Rezeption solcher Ideen wurde wohl auch dadurch gefördert, daß sie mit dem Puritanismus kompatibel waren. Wegbereitend für diese Koexistenz wirkte hier - worauf Max Weber mit Nachdruck hinwies - im Grunde bereits die Prädestinationslehre des schweizerischen Reformators Johannes Calvin. Calvins Auffassung von der göttlichen Vorsehung unterschied sich scharf von der katholischen Lehre der Werkgerechtigkeit und nahm ethische Grundprinzipien vorweg, wie sie charakteristisch werden sollten für den englischen Puritanismus und den modernen Kapitalismus westlicher Prägung. Das Schicksal eines Menschen galt Calvin als schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschlichen Willen vorherbestimmt: entweder- ohne Verdienst - als Gnadenwahl zur Seligkeit, oder - ohne Schuld - als Prädamnation zur Verdammnis. Ihren irdischen Status quo verdankten die Menschen daher allein Gottes freier Entscheidung.“ (Ebd., S. 55).

„Diese Lehre deckt sich mit Extrempositionen, die sich Spencers Nachfolger zu eigen machen. sollten - beispielsweise wenn das besitzlose Proletariat als ein Rückstandsprodukt der »natürlichen Auslese« erscheint und das Zugrundegehen der Armen als ein Naturgesetz. Insbesondere der (us-)amerikanische Sozialdarwinismus - wie ihn etwa William Graham Sumner (1840-1910) an der Yale-Universität und William James (1842-1910) an der Harvard-Universität propagierten - machte in letzter Konsequenz den gesellschaftlichen Erfolg von Individuen oder den geschichtlichen Erfolg von Gruppen zum Kriterium der Lebensbewährung und biologischen Wertigkeit, baute er doch auf folgende Argumentationsstränge: (A) Struggle tor existence und survival of the fittest sind ein Teil der Gesamtökonomie der Natur. Da die menschliche Gesellschaft ihrerseits Teil der Natur ist, gelten auch für sie eben diese Naturgesetze. (B) Die Menschen sind von Natur aus ungleich, weshalb die soziale Stufenleiter diese Ungleichheit widerspiegelt. (C) Da der soziale Fortschritt sich nach Naturgesetzen vollzieht, soll man ihn ungehindert vonstatten gehen lassen. (D) Hieraus resultiert eine streng deterministische Auffassung der Gesellschaft. Staatliche Interventionen sind in gewissem Sinne gegen die Religion, da das Walten der Naturgesetze mit dem Willen Gottes zusammenfällt (Wilhelm E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, 1984, S. 110-115). Auch dem Lebenswerk von Darwins Vetter Francis Galton (1822-1911) liegen sozialdarwinistische Ideen zugrunde. Seine auf das Zustandekommen von Hoch- und Höchstbegabungen ausgerichteten Familienstudien überzeugten Galton davon, die Erblichkeit habe für schöpferische Leistungen mehr Bedeutung als die Umwelt. Die Auffassung, nature dominiere über nurture, machte Galton zum Begründer der Eugenik.“ (Ebd., S. 55-56).

„Der Darwinsismus wurde also in dem Moment zum Steinbruch von Moral und Ideologie, als die Spenceristen und Sozialdarwinisten aus dem survival of the fittest unbedenklich ein survival of the best machten.“ (Ebd., S. 56).

„Der temporäre Verzicht ist auf direkte eigene Reproduktion bei gleichzeitiger Unterstützung der Aufzucht genetisch naher Verwandter mittlerweile von etlichen Tierarten bekannt - beispielsweise bei einigen Vogelarten, wo die älteren Geschwister - anstelle selbst ein Nest zu bauen - ihren Eltern bei der Aufzucht jüngerer Geschwister helfen. Hamiltons Prinzip der kin selection ließ sich ebenfalls bei taxonomisch so verschiedenen Gruppen wie Hautflüglern, Zwergmungos, Nacktmullen, Wildhunden oder Krallenaffen nachweisen, bei denen sich einige Individuen unter Verzicht auf direkte Reproduktion als »Helfer-am-Nest« betätigen.“ (Ebd., S. 69).

Die Rolle der Familie im biogentischen Geschehen (Christian Vogel)

„Die menschliche Famielie ist eine kulturelle Institution auf biologischer Basis. Biologisch betrachtet, obliegt ihr die Funktion, die Reproduktion sicherzustellen, das heißt Nachwuchs zu zeugen, ihn aufzuziehen und möglichst gut ausgerüstet und vorbereitet in die Selbständigkeit zu entlassen, was in evolutionsbiologischer Perspektive wiederum bedeutet, dem Nachwuchs seinerseits gute Reproduktionschancen mit auf den Weg zu geben. Die Familie soll für diesen Prozeß ein in biologischer, ökonomischer und soziokultureller Hinsicht möglichst optimales Milieu herstellen, und so wird es nicht wundern, daß die Familienstruktur, den jeweiligen Bedingungen angepaßt, durchaus unterschiedliche Formen annehmen kann.“ (Ebd., S. 145).

„Durch ihre biologische Hauptfunktion, Fortpflanzung abzusichern, ist die Familie unmittelbar in den biogenetischen Evolutionsprozeß eingespannt und unterliegt somit den Bedingungen der natürlichen Selektion. Natürliche Selektion arbeitet über differentiellen Reproduktionserfolg, und das ist der Grund, weshalb alle Organismen (Menschen eingeschlossen) via Selektion programmiert sind, mit ihren benachbarten Artgenossen um jeweils höheren Reproduktionserfolg zu konkurrieren. Das steckt zwangsläufig in ihren Erbprogrammen und bedarf ebensowenig einer bewußten Intention, wie es jemals des Wunsches der Giraffe bedurfte, längere Hälse zu entwickeln.“ (Ebd., S. 145).

„Die Währung der Evolution sind die Nachkommen, und die Gewinne des Konkurrenzkampfes werden nicht den konkurrierenden Individuen gutgeschrieben, sondern ihren genetischen Programmen. .... Jene genetischen Programme hatten von jeher die besseren Ausbreitungschancen, die ihre individuellen Träger dazu veranlaßten, sich auch ohne Rücksicht auf etwaige eigene Nachteile und Risiken für die optimale Produktion von Nachwuchs einzusetzen: Wen könnte es da wundern, daß der Drang zur Fortpflanzung allen Organismen genetisch seit Jahrmilliarden so unauslöschlich eingepflanzt ist?  Und noch etwas ist wichtig, um den auch die Familie betreffenden Selektionsprozeß zu verstehen: Da es in der Evolution letztlich nicht um Individuen geht, sondern um die genetischen Programme, werden sich jene genetischen Programme via natürliche Selektion besonders erfolgreich ausbreiten können, die ihre Träger dazu veranlassen, andere Träger identischer Erbprogramme in ihrer Reproduktion intensiv zu unterstützen. Daraus resultiert der im Organismenreich (wie in allen menschlichen Gesellschaften) so weit verbreitete Nepotismus, die bevorzugte Verwandten-Unterstützung (kin selection), sorgfältig abgestuft nach Maßgabe des genetischen Verwandtschaftsgrades (je näher verwandt, deso höher der Wahrscheinlichkeitsgrad gemeinsamer identischer Gene), jeweils im Dienste der eigenen Gesamtfitneß (inclusive fitness), also letztlich genetisch eigennützig. Es ist daher evolutionsbiologisch geradezu vorhersagbar, daß menschliche Gesellschaften in nepotistische Verwandtschaftssysteme gegliedert sind und daß Muster abgestufter Verwandtschaft eine zentrale Rolle für die Art und Intensität des Miteinanders spielen, kurz, daß sich Familienstrukturen in mehr oder weniger erweiterter Form herausbilden. Die Familie liefert also zugleich das sozio-ökonomische Milieu für die biogenetische Reproduktion und das strukturelle Netz nepotistischer Interaktionen.“ (Ebd., S. 145-146).

Differentielle Reproduktion aus der Sicht der biographischen Theorie der Fertilität (Herwig Birg)

„Der Begriff »differentielle Reproduktion« läßt sich auf der Grundlage der drei Elemente (1) abhängige Variable, (2) unabhängige Variable sowie (3) Zusammenhang zwischen beiden auf dreierlei Art definieren. ... Die dritte Definition, die hier verwendet wird, stützt sich auf die Art des Zusammenhangs zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen. Auf der Grundlage dieser Definition sprechen wir von »differentieller Reproduktion«, wenn sich das Bündel der Einflußfaktoren auf das generative Verhalten eines Individuums A aus anderen Gründen zusammensetzt als bei Individuum B - oder, eine Variante davon, wenn sich die beiden Bündel zwar aus den gleichen Faktoren zusammensetzen, aber die einzelnen Faktoren in bezug auf die Richtung oder Intensität ihrer Wirkung verschieden sind.“ (Ebd., S. 194-195).

„Wir nehmen im folgenden an, daß nicht nur die biologische, sondern auch die kulturelle Evolution Variabilität voraussetzt und hervorbringt. Das Argument, daß es gerade auf kulturellem Gebiet häufig zur Ausbildung von Individualität und zu großer Uniformität kommt, beispielsweise bei politischen oder religiösen Massenphänomenen, ist kein Gegenargument, sondern stützt die These fortschreitender Variabilität in der Kulturentwicklung, denn man kann - wie schon gsagt - eine Weltanschauung oder einen Glauben nur übernehmen. indem man ihm den Sinn gibt, den er hat: ein Vorgang, der einen individuellen Akt voraussetzt, auch wenn das Ergebnis des Aktes nicht zu weniger, sondern zu mehr Uniformität führt.“ (Ebd., S. 196).

„Generatives Verhalten ist also als ein spezifisch menschliches Verhalten ein Individualitätsverhalten, dessen theoretische Erklärung auf der Ebene des Individuums, auf der sogenannten Mikroebene, ansetzen muß (wir nehmen das mal so hin und merken an, daß auch diese individuellen Entscheidungen immer schon von anderen - zumeist ebenfalls nicht individuell getroffenen - Entscheidungen vorentschieden sind, also gar nicht individuell sind und deswegen auch das ›generative Verhalten als ein spezifisch menschliches Verhalten‹ kein ›Individualitätsverhalten‹ sein kann! Anm. HB*).“ (Ebd., S. 196).

„Wir leben in einer Epoche, in der die persönlichkeitsorientierten Werte über die gruppenorientierten dominieren (dito ! Auch wenn man es sich noch so einbildet, ist dieses Verhalten noch kein individuelles Verhalten! Anm. HB*). Dieser Umstand ... macht es unabdingbar, bei der Diskussion von Problemen der differentiellen Reproduktion von der oben dargestellten dritten Definition des Begriffs »Unterschied« auszugehen, also anzunehmen, daß es Unterschiede bezüglich der Art und Weise gibt, in der die unabhängigen Variablen auf die abhängigen einwirken. Ökonomische Variablen wie das Individualeinkommen einer Frau bzw. das gemeinsam erwirtschaftete Haushaltseinkommen eines Paares haben ebenso wie andere Verhaltensbedingungen, zum Beispiel die Verfügbarkeit von Kindergartenplätzen, tendenziell die gleiche Einflußrichtung auf die Wahrscheinlichkeit von Kindergeburten, aber die Intensität der Wirkung dieser Variablen wird ebenso wie die Intensität der Wirkung von »Werten« bei verschiedenen Menschen unterschiedlich sein. (›Unterschied‹ ist - noch - nicht ›Individualität‹! Ähnlich ist es übrigens auch in der Werbung: Einfluß mit gleicher ›Richtung‹, aber unterschiedlicher ›Intensität‹, und der Kunde glaubt [glaubt !], ›individuell› entschieden zu haben, dabei ist längst für ihn ›entschieden‹ worden, denn ›entscheidend‹ ist, daß er sich wie ein Gruppenmitglied verhält und ansonsten als außen vor, als unangepaßt, als Aussteiger, als nicht zur Gruppe gehörig gilt - und übrigens nur dann anerkannt wird, wenn es ihm gelingt, selbst einen Trend zu setzen [mit anderen Worten: wir sind viel angepaßter als wir zugeben wollen, besonders seit wir in einer scheinbar ›persönlichkeitsorientierten‹ Epoche leben], denn es gilt, den Schein zu bewa(h)ren, und so ist auch der scheinbar Unangepaßte nicht der ›Individualist‹, für den er ja nur gehalten werden soll, sondern doch wieder nur der Angepaßte! Anm. HB*).“ (Ebd., S. 197).

„In Übereinstimmung mit der mikroökonomischen Theorie geht die biographische Theorie von der Sichtweise aus, daß der Mensch unaufhörlich zwischen Alternativen wählt, aber im Unterschied zur mikroökonomischen Theorie wird in der biographischen Theorie das Faktum in die Betrachtung einbezogen, daß der Mensch im allgemeinen die Alternativen nicht wählt, zwischen denen er eine Auswahl trifft. Die biographische Theorie betrachtet die Alternativen als das Ergebnis kumulativer biographieinterner Verdichtungen von Handlungen und Ereignisse sowie das Ergebnis von biographieexternen Vorgaben, die in jedem Lebenslauf eine Rolle spielen.“ (Ebd., S. 198-199).

„Eine generatie Entscheidung ist nicht nur eine Entscheidung für bzw. gegen ein Kind, sondern für bzw. gegen einen bestimmten Lebenslauf als Ganzes. Sie ist eine langfristige Festlegung mit irreversiblen Folgen für den ganzen Lebenslauf: In entwickelten Ländern trifft jede Frau (die aber in Wirklichkeit nicht allein, nicht selbst, nicht einzeln, nicht individuell entscheidet; Anm. HB*) mit der Entscheidung (die eben andere Menschen beeinflussen, also vor- bzw. mit-entscheiden; Anm. HB*) für ein Kind gleichzeitig eine Vorenstscheidung über die Art und Menge der Entscheidungsalternativen im beruflichen Bereich, und umgekehrt bestimmt das Ergebnis einer beruflichen Entscheidung, welche Alternativen bei familialen bzw. generativen Entscheidungen in den Wahlmengen künftiger Entscheidungssituationen vorkommen können und welche nicht.“ (Ebd., S. 199).

„Die These lautet: Der Industrialisierung- und Modernisierungsprozeß hat zu einer explosionsartigen Erweiterung des biographischen Entwicklungsspielraums ... geführt.“ (Ebd., S. 204).

„Urbanisierung einerseits und Realeinkommenssteigerungen andererseits führten zu einem Wandel der Verbrauchs- und Produktionsstrukturen in Richtung einer Zunahme des tertiären Sektors (Handel, Verkehr, Dienstleistungen; Anm. HB*). In den Dienstleistungssektoren wurden neue Arbeitsplätze geschaffen, vor allem in den Städten, die zunehmend von Frauen besetzt werden.“ (Ebd., S. 205).

„Biologie und Bevölkerungstheorie waren in ihrer geschichtlichen Entwicklung aufs engste miteinander verknüpft. Charles Darwin stütze sich beispielsweise auf das »Bevölkerungsgesetz« von Thomas R. Malthus. Die Zusammenarbeit zwischen Demographie und Biologie könnte sich auch heute als fruchtbar erweisen. .... Die Expansion des biographischen Universums im historischen Prozeß der Industrialisierung und Modernisierung erhöhte sich in den Wirtschaftsgesellschaften, in denen das ... Verhalten auf dem Konkurrenzprinzip beruht, das Risiko irreversibler biographischer Festlegungen und führte auf dem Weg der Risikovermeidung zu einer Selbstbeschränkung bei Reproduktionsentscheidungen. Die reproduktive Selbstbeschränkung ist bei Frauen mit hohem Ausbildungsabschluß (und/oder im städtischen Raum;  Anm. HB*) ... größer als bei Frauen mit niedrigem Ausbildungsgrad (und/oder im ländlichen Raum;  Anm. HB*) .... Das Ergebnis reproduktiver Selbstbeschränkung ist die kohorten-, regions- und lebenslaufspezifische differentielle Reproduktion, die in den hochentwickelten Konkurrenzwirtschaften zu einem Rückgang des allgemeinen Fertilitätsniveaus bis zur Unterschreitung des Bestandserhaltungsniveaus geführt hat.“ (Ebd., S. 213-214).

Fazit - Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel (Eckart Voland)

„In jüngster Zeit setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß - obwohl die natürliche Selektion an der Variabilität der Phänotypen ansetzt - die Ebene biologischer Anpassungsvorgänge die der Gene ist und nicht etwa die der Individuen ... Beim Studium der Evolution und gerade auch beim Studium biologischer Verhaltensanpassungen ist deshalb deutlich zu unterscheiden zwischen den Replikationen (Genen), in denen die stammesgeschichtlich akkumulierte Information gespeichert ist und deren potentielle Unsterblichkeit die Kontinuität der biologischen Evolution begründet, einerseits und den vergänglichen Individuen (Phänotypen) andererseits, die als kurzlebige Vehikel den evolutiv einzigen Zweck verfolgen, ein optimales Medium für maximale Genreplikation zu liefern.“ (Ebd., S. 347-348).

„Interessant erscheint mir, daß bei aller intrapersonalen Komplexität von Fruchtbarkeitsentscheidungen sozioökonomische Gesichtspunkte als die letztlich wohl doch bedeutsamsten Einzelfaktoren zu wirken. Die Entscheidung für oder gegen (weitere) Kinder ist auf diese Weise eingebunden in die Szenerie gesellschaftlicher Konkurrenz, in eine Szenerie also, deren Funktionslogik vom fitneßmaximierenden Darwinischen Prinzip geprägt wurde. Die Entscheidung für Kinder oder sozialen Erfolg ist deshalb keine Entscheidung für oder gegen den biogentischen Imperativ, sondern lediglich eine taktische Entscheidung für oder gegen eine bestimmnte Strategie, ihm zu gehorchen!“  (Ebd., S. 354-355).

„Es erscheint nicht abwegig, daß während des Pleistozäns, also während jener 99,7% unserer Geschichte, in der Menschen als Wildbeuter den formenden Einflüssen der natürlichen Selektion ausgesetzt waren, die individuellen Reproduktionserfolge nicht durch die Anzahl der Konzeptionen beschränkt waren, sondern von der Verfügbarkeit der immer irgendwie knappen Ressourcen. Nicht Maximierung der Fertilität, sondern Maximierung der Aufzuchtleistung wurde genetisch belohnt ....“ (Ebd., S. 355).

„Vielleicht zéigt sich in der bevorzugten Wahrnehmung ökonomischer Opportunitäten, die für Frauen zu Lasten reproduktiver Erfolge geht, eine im Pleistozän erworbene und evolutiv fixierte, an Bedingungen latenter Ressourcenknappheit angepaßte Präferenz, die unter modernen Bedingungen im Durchschnitt nicht mehr zu fitneßmaximierenden Resultaten führt.“ (Ebd., S. 355).

„Wie dem auch sei, eine mögliche Diskrepanz zwischen einem theoretisch maximal möglichen und dem tatsächlichen Reproduktionserfolg ändert nichts an der Tatsache, daß die Mechanismen der Verhaltnessteuerung aus der Stammesgeschichte resultieren und Bestandteil unserer adaptiven bilogischen Ausstattung sind. Das ökologische und soziokulturelle Milieu, in dem sich die Hominisation mit den sie kennzeichnenden Anpassungsvorgängen abgespielt hat, ist nicht identisch mit den zeitgenössischen oder historisch noch halbwegs überschaubaren Lebensbedingungen, also mit jenem überaus kurzen Ausschnitt aus der menschlichen Geschichtlichkeit ....“ (Ebd., S. 356).

„Zu den frühesten Ergebnissen verhaltensökologischer Theoriebildung gehört die Einsicht, daß Organismen in ihrem Leben entweder viele Nachkommen zeugen, in die sie dann allerdings vergleichsweise wenig investieren, oder aber im reproduktionsgeschäft auf weniger, dafür aber gut ausgestattetet Nachkommen setzen. Dieser Quantität/Qualität-Abgleich ist zwangsläufig notwendig, weil elterliche Investmentmöglichkeiten immer irgendwie begrenzt sind. Je nach Art der Selektionsfaktoren favorisiert die natürliche Selektion eher die eine oder die andere Strategie.“ (Ebd., S. 356).

„Im Verlauf ihrer Stammesgeschichte haben Menschen generell eher die zweite Option verfolgt und damit einen Evolutionstrend innerhalb der Primatenreihe fortgesetzt.“ (Ebd., S. 357).

„Aber auch innerhalb der Kollektive kommt es je nach sozialer Schichtzugehörigkeit der Eltern zu unterschiedlichen Justierungen in der Quantität/Qualität-Koordinate. Dabei zeigt sich interessanterweise, daß genau die Gruppen, die aufgrund ihrer sozialen Potenz besser als andere das zukünftige Schicksal ihrer Kinder beeinflussen konnten, auch tatsächlich diejenigen waren, die historisch damit begonnen haben, auf Kosten der Kinderzahl vermehrt in die soziale Konkurrenzfähigkeit ihrer Nachkommen zu investieren. (Demographisch-ökonomisches Paradoxon: Je mehr Kinder die Menschen sich leisten könnten, desto weniger haben sie!). Der mit dem demographischen Übergang (**) verbundene Rückgang der durchschnittlichen Kinderzahl pro Familie ist aus biologischer Sicht eine durchaus angepaßte reproduktionsstrategische Antwort auf veränderte Investitionsmöglichkeiten ....“ (Ebd., S. 358).

„Die auf Kosten/Nutzen-Abwägungen beruhende »Quasi-Rationalität« menschlicher Reproduktion manifestiert sich freilich nicht allein in Fruchtbarkeitsentscheidungen, sondern umfaßt auch das postnatale Fürsorgeverhalten. .... Das menschliche Brutpflegesystem ist von der natürlichen Selektion so modelliert worden, daß es - unter gegebenen Umständen - je nach Geschlecht der Kinder, ihrem Geburtstag und der genetischen Verwandtschaft zu ihnen (um nur einige der wichtigsten Merkmale zu nennen) zu unterschiedlichen Fürsorgeverhalten motiviert.“ (Ebd., S. 358-359).

 

 

Zitate: Hubert Brune, 2001 (zuletzt aktualisiert: 2010).

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- Literaturverzeichnis -