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Wochenschau Tagesschau
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Spengler Spengler-Zitate Spengler
„DER UNTERGANG DES ABENDLANDES“, 1918 und 1922
(„Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“)
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„Vorwort“ (S. I-X)
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Band I) „Gestalt und Wirklichkeit“
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„Einleitung“ (S. 3-70)
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Tafeln, die von mir allerdings nur grob und kontrastiv dargestellt sind (HB)
„Tafeln zur vergleichenden Morphologie der Weltgeschichte“ (S. 70)
Tafeln, die von mir allerdings nur grob und kontrastiv dargestellt sind (HB)
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„Vom Sinn der Zahlen“ (S. 71-124)
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„Das Problem der Weltgeschichte“ (S. 125-209)
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„Makrokosmos“ (S. 210-281)
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„Musik und Plastik“ (S. 282-380)
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„Seelenbild und Lebensgefühl“ (S. 381-481)
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„Faustische und apollinische Naturerkenntnis“ (S. 482-553)
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Band II) „Welthistorische Perspektiven“
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„Ursprung und Landschaft“ (S. 557-655)
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„Städte und Völker“ (S. 656-783)
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„Probleme der arabischen Kultur“ (S. 784-960)
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„Der Staat“ (S. 961-1144)
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„Die Formenwelt des Wirtschaftslebens“ (S. 1145-1195)
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NACH OBEN „Vorwort“ (S. I-X):

„Zum Schlusse drängt es mich, noch einmal die Namen zu nennen, denen ich so gut wie alles verdanke: Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen, und wenn ich mein Verhältnis zu diesem in eine Formel bringen soll, so darf ich sagen: ich habe aus seinem Augenblick einen Überblick gemacht. Goethe aber war in seiner ganzen Denkweise, ohne es zu wissen, ein Schüler von Leibniz gewesen. So empfinde ich das, was mir zu meiner eigenen Überraschung zuletzt unter Händen entstanden ist, als etwas, das ich trotz des Elends und Ekels dieser Jahre mit Stolz nennen will: als eine deutsche Philosophie.“ (Ebd., S. IXSpengler).

„Dies Buch, das Ergebnis dreier Jahre, war in der ersten Niederschrift vollendet, als der große Krieg ausbrach. Es ist bis zum Frühling 1917 noch einmal durchgearbeitet und in Einzelheiten ergänzt und verdeutlicht worden. Die außerordentlichen Verhältnisse haben sein Erscheinen weiterhin verzögert.“ (Ebd., S. XSpengler).

„Der Titel, seit 1912 feststehend (1912), bezeichnet in strengster Wortbedeutung und im Hinblick auf den Untergang der Antike eine welthistorische Phase vom Umfang mehrerer Jahrhunderte ....“ (Ebd., S. XSpengler).

„Es handelt sich nach meiner Überzeugung nicht um eine neben andern mögliche und nur logisch gerechtfertigte, sondern um die, gewissermaßen natürliche, von allen dunkel vorgefühlte Philosophie der Zeit. Das darf ohne Anmaßung gesagt werden. Ein Gedanke von historischer Notwendigkeit, ein Gedanke also, der nicht in eine Epoche fällt, sondern der Epoche macht, ist nur in beschränktem Sinne das Eigentum dessen, dem seine Urheberschaft zuteil wird. Er gehört der ganzen Zeit; er ist im Denken aller unbewußt wirksam und allein die zufällige private Fassung, ohne die es keine Philosophie gibt, ist mit ihren Schwächen und Vorzügen das Schicksal - und das Glück - eines Einzelnen.“ (Ebd., S. XSpengler).

„Ich habe nur den Wunsch beizufügen, daß dieses Buch neben den militärischen Leistungen Deutschlands nicht ganz unwürdig dastehen möge.“ (Ebd., S. XISpengler).
München, im Dezember 1917
Oswald Spengler

NACH OBEN
- Band I -
„Gestalt und Wirklichkeit“
Text „Einleitung“ Text
Text „Vom Sinn der Zahlen“ Text
Text „Das Problem der Weltgeschichte“ Text
Text „Makrokosmos“Text
Text „Musik und Plastik“ Text
Text „Seelenbild und Lebensgefühl“ Text
Text „Faustische und apollinische Naturerkenntnis“ Text

NACH OBEN „Einleitung“ (S. 3-70):

• Die Aufgaben [S. 3] • Morphologie der Weltgeschichte – eine neue Philosophie [S. 6] • Für wen gibt es Geschichte?  [S. 10] • Die Antike und Indien unhistorisch [S. 12] • Ägypten: Mumie und Totenverbrennung [S. 17] • Die Form der Weltgeschichte. Altertum – Mittelalter – Neuzeit [S. 21] • Entstehung dieses Schemas [S. 24] • Seine Zersetzung [S. 29] • Westeuropa kein Schwerpunkt [S. 31] • Goethes Methode die einzig historische [S. 35] • Wir und die Römer [S. 36] • Nietzsche und Mommsen [S. 39] • Probleme der Zivilisation [S. 43] • Imperialismus als Ausgang [S. 51] • Notwendigkeit und Tragweite des Grundgedankens [S. 54] • Verhältnis zur heutigen Philosophie [S. 57] • Deren letzte Aufgabe [S. 62] • Entstehung des Buches [S. 64].

„In diesem Buche wird zum erstenmal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen.“ (Ebd., S. 3Spengler). SpenglerSpenglerSpenglerMehr

„Gibt es eine Logik der Geschichte?  Gibt es jenseits von allen Zufällen und Unberechenbaren der Einzelereignisse eine sozusagen metaphysische Struktur der historischen Menschheit, die von den weithin sichtbaren, populären geistig-politischen Gebilden der Oberfläche wesentlich unabhängig ist?  Die diese Wirklichkeit geringeren Ranges vielmehr erst hevorruft? Und wenn - wo liegen die Grenzen derartiger Folgerungen? Ist es möglich, im Leben selbst - denn menschliche Geschichte ist der Inbegriff von ungeheuren Lebensläufen, als deren Ich und Person schon der Sprachgebrauch unwillkürlich Individuen höherer Ordnung wie »die Antike«, »die chinesische Kultur« oder »die moderne Zivilisation« denkend und handelnd einführt - die Stufen aufzufinden, die durchschritten werden müssen, und zwar in einer Ordnung, die keine Ausnahme zuläßt? Haben die für alles Organische grundlegenden Begriffe, Geburt, Tod, Jugend, Alter, Lebensdauer, in diesem Kreise vielleicht einen strengen Sinn, den noch niemand erschlossen hat?  Liegen, kurz gesagt, allem Historischen allgemeine biographische Urformen zugrunde?“ (Ebd., S. 3Spengler). SpenglerSpenglerSpenglerMehr

„Der Untergang des Abendlandes, zunächst ein örtlich und zeitlich beschränktes Phänomen wie das ihm entsprechende des Untergangs der Antike, ist, wie man sieht, ein philosophisches Thema, das in seiner ganzen Schwere begriffen alle großen Fragen des Seins in sich schließt.“ (Ebd., ebd., S. 4Spengler).

„Will man erfahren, in welcher Gestalt sich das Schicksal der abendländischen Kultur erfüllen wird, so muß man zuvor erkannt haben, was Kultur ist, in welchem Verhältnis sie zur sichtbaren Geschichte, zum Leben, zur Seele, zur Natur, zum Geiste steht, unter welchen Formen sie in Erscheinung tritt und inwiefern diese Formen ... Symbole und als solche zu deuten sind.“ (Ebd., ebd., S. 4Spengler).

„Das Mittel, tote Formen zu erkennen, ist das mathematische Gesetz. Das Mittel, lebendige Formen zu verstehen, ist die Analogie. Auf diese Weise unterscheiden sich Polarität und Periodizität der Welt.“ (Ebd., S. 4Spengler). SpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpengler

„Das Bewußtsein davon, daß die Zahl der weltgeschichtlichen Erscheinungsformen eine begrenzte ist, daß Zeitalter, Epochen, Lagen, Personen sich dem Typus nach wiederholen, war immer vorhanden.“ (Ebd., S. 4Spengler).

„Die Archäologie ist ja selbst ein Ausdruck des Gefühls, daß Geschichte sich wiederholt ....“ (Ebd., S. 4-5Spengler).

„So sind die Vergleiche Rankes, eines Meisters der kunstvollen Analogie, ... aus einem plutarchischem, d.h. volkstünlich romantischen Geschmack gezogen worden, der lediglich die Ähnlichkeit der Szene auf der Weltbühne ins Auge faßt, nicht mit der Strenge des Mathematikers, der die innere Verwandtschaft zweier Gruppen von Differentialgleichungen erkennt, an denen der Laie nichts sieht als die Verschiedenheit der äußeren Form.“ (Ebd., S. 5Spengler).

„Und so erweitert sich die Aufgabe, die ursprünglich ein begrenztes Problem der heutigen Zivilisation umfaßte, zu einer neuen Philosophie (sie ist nicht ganz neu! Goethe), der Philosophie der Zukunft, soweit aus dem metaphysisch erschöpften Boden des Abendlandes noch eine solche hervorgehen kann, der einzigen, die wenigstens zu den Möglichkeiten des westeuropäischen Geistes in seinen nächsten Stadien gehört: zur Idee einer Morphologie der Weltgeschichte, der Welt als Geschichte, die im Gegensatz zur Morphologie der Natur, bisher fast dem einzigen Thema der Philosophie, alle Gestalten und Bewegungen der Welt in ihrer tiefsten und letzten Bedeutung noch einmal, aber in einer ganz andern Ordnung, nicht zum Gesamtbilde alles Erkannten, sondern zu einem Bilde des Lebens, nicht des Gewordenen, sondern des Werdens zusammenfaßt. - Die Welt als Geschichte, aus ihrem Gegensatz, der Welt als Natur begriffen, gestaltet - das ist ein neuer Aspekt des menschlichen Daseins auf dieser Erde, dessen Herausarbeitung in ihrer ungeheuren praktischen und theoretischen Bedeutung als Aufgabe ... nie gewagt worden ist. Hier liegen zwei mögliche Arten vor, wie der Mensch seine Umwelt innerlich besitzen und erleben kann. Ich trenne der Form, nicht der Substanz nach mit vollster Schärfe den organischen vom mechanischen Welteindruck, den Inbegriff der Gestalten von dem der Gesetze, das Bild und Symbol von der Formel und dem System, das Einmalig-Wirkliche vom Beständig-Möglichen, das Ziel der planvoll ordnenden Einbildungskraft von dem der zweckmäßig zergliedernden Erfahrung oder, um einen noch nie bemerkten, sehr bedeutungsvollen Gegensatz schon hier zu nennen, den Geltungsbereich der shronologischen von dem der mathematischen Zahl. (Es war ein noch heute nicht überwundener Mißgriff Kants von ungeheurer Tragweite, daß er den äußern und innern Menschen zunächst mit den vieldeutigen und vor allem nicht unveränderlichen Begriffen Raum und Zeit ganz schematisch in Verbindung brachte und weiterhin damit in vollkommen falscher Weise Geometrie und Arithmetik verband, an deren Stelle hier der viel tiefere Gegensatz der mathematischen und chronologischen Zahl wenigstens genannt sein soll. Arithmetik und Geometrie sind beides Raumrechnungen und in ihren höheren Gebieten überhaupt nicht mehr unterscheidbar. Eine Zeitrechnung, über deren Begriff der naive Mensch sich gefühlsmäßig durchaus klar ist, beantwortet die Frage nach dem Wann, nicht dem Was oder Wieviel.)“ (Ebd., S. 6-7Spengler).

„Es kann sich demnach in einer Untersuchung wie der vorliegenden nicht darum handeln, die an der Oberfläche des Tages sichtbar werdenden Ereignisse geistig-politischer Art als solche hinzunehmen, nach »Ursache« und »Wirkung« zu ordnen und in ihrer scheinbaren, verstandesmäßig faßlichen Tendenz zu verfolgen. Eine derartige – »pragmatische« – Behandlung der Geschichte würde nichts als ein Stück verkappter Naturwissenschaft sein, woraus die Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung kein Hehl machen, während ihre Gegner sich nur der Gleichheit des beiderseitigen Verfahrens nicht hinreichend bewußt sind. Es handelt sich nicht um das, was die greifbaren Tatsachen der Geschichte an und für sich, als Erscheinungen zu irgendeiner Zeit sind, sondern um das, was sie durch ihre Erscheinung bedeuten, andeuten. Die Historiker der Gegenwart glauben ein übriges zu tun, wenn sie religiöse, soziale und allenfalls kunsthistorische Einzelheiten heranziehen, um den politischen Sinn einer Epoche zu »illustrieren«. Aber sie vergessen das Entscheidende – entscheidend nämlich, insofern sichtbare Geschichte Ausdruck, Zeichen, formgewordenes Seelentum ist. Ich habe noch keinen gefunden, der mit dem Studium der morphologischen Verwandtschaft, welche die Formensprache aller Kulturgebiete innerlich verbindet, Ernst gemacht hätte, der über den Bereich politischer Tatsachen hinaus die letzten und tiefsten Gedanken der Mathematik der Hellenen, Araber, Inder, Westeuropäer, den Sinn ihrer frühen Ornamentik, ihrer architektonischen, metaphysischen, dramatischen, lyrischen Grundformen, die Auswahl und Richtung ihrer großen Künste, die Einzelheiten ihrer künstlerischen Technik und Stoffwahl eingehend gekannt, geschweige denn in ihrer entscheidenden Bedeutung für die Formprobleme des Historischen erkannt hätte. Wer weiß es, daß zwischen der Differentialrechnung und dem dynastischen Staatsprinzip der Zeit Ludwigs XIV., zwischen der antiken Staatsform der Polis und der euklidischen Geometrie, zwischen der Raumperspektive der abendländischen Ölmalerei und der Überwindung des Raumes durch Bahnen, Fernsprecher und Fernwaffen, zwischen der kontrapunktischen Instrumentalmusik und dem wirtschaftlichen Kreditsystem ein tiefer Zusammenhang der Form besteht? Selbst die nüchternsten Tatsachen der Politik nehmen, aus dieser Perspektive betrachtet, einen symbolischen und geradezu metaphysischen Charakter an, und es geschieht hier vielleicht zum ersten Male, daß Dinge wie das ägyptische Verwaltungssystem, das antike Münzwesen, die analytische Geometrie, der Scheck, der Suezkanal, der chinesische Buchdruck, das preußische Heer und die römische Straßenbautechnik gleichmäßig als Symbole aufgefaßt und als solche gedeutet werden.“ (Ebd., S. 7-9Spengler).

„An diesem Punkte stellt es sich heraus, daß es eine theoretisch durchleuchtete Kunst der historischen Betrachtung noch gar nicht gibt. Was man so nennt, zieht seine Methoden fast ausschließlich aus dem Gebiete des Wissens, auf welchem allein Methoden der Erkenntnis zur strengen Ausbildung gelangt sind, aus der Physik. Man glaubt Geschichtsforschung zu treiben, wenn man den gegenständlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung verfolgt. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Philosophie alten Stils an eine andere Möglichkeit der Beziehung zwischen dem verstehenden menschlichen Wachsein und der umgebenden Welt nie gedacht hat. Kant, der in seinem Hauptwerk die formalen Regeln der Erkenntnis feststellte, zog, ohne daß er oder irgendein anderer es je bemerkt hätte, allein die Natur als Objekt der Verstandestätigkeit in Betracht. Wissen ist für ihn mathematisches Wissen. Wenn er von angeborenen Formen der Anschauung und Kategorien des Verstandes spricht, so denkt er nie an das ganz anders geartete Begreifen historischer Eindrücke, und Schopenhauer, der von Kants Kategorien bezeichnenderweise allein die der Kausalität gelten läßt, redet nur mit Verachtung von der Geschichte. (Man muß es fühlen können, wie sehr die Tiefe der formalen Kombination und die Energie des Abstrahierens auf dem Gebiete etwa der Renaissanceforschung oder der Geschichte der Völkerwanderung hinter dem zurückbleibt, was für die Funktionentheorie und theoretische Optik selbstverständlich ist. Neben dem Physiker und Mathematiker wirkt der Historiker nachlässig, sobald er von der Sammlung und Ordnung seines Materials zur Deutung übergeht.) Daß außer der Notwendigkeit von Ursache und Wirkung – ich möchte sie die Logik des Raumes nennen – im Leben auch noch die organische Notwendigkeit des Schicksalsdie Logik der Zeit – eine Tatsache von tiefster innerer Gewißheit ist, eine Tatsache, welche das gesamte mythologische, religiöse und künstlerische Denken ausfüllt, die das Wesen und den Kern aller Geschichte im Gegensatz zur Natur ausmacht, die aber den Erkenntnisformen, welche die »Kritik der reinen Vernunft« untersucht, unzugänglich ist, das ist noch nicht in den Bereich theoretischer Formulierung gedrungen. Die Philosophie ist, wie Galilei an einer berühmten Stelle seines »Saggiatore« sagt, im großen Buche der Natur »scritta in lingua matematica«. Aber wir warten heute noch auf die Antwort eines Philosophen, in welcher Sprache die Geschichte geschrieben und wie diese zu lesen ist.“ (Ebd., S. 9-10Spengler). SpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpengler

„Die Mathematik und das Kausalitätsprinzip führen zu einer naturhaften, die Chronologie und die Schicksalsidee zu einer historischen Ordnung der Erscheinung. Beide Ordnungen umfassen, jede für sich, die ganze Welt. Nur das Auge, in dem und durch das sich diese Welt verwirklicht, ist ein anderes.“ (Ebd., S. 10Spengler). SpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpengler

„Was die antike Geschichtsschreibung betrifft, so richte man seinen Blick auf Thukydides. Die Meisterschaft dieses Mannes besteht in der echt antiken Kraft, Ereignisse der Gegenwart aus sich selbst heraus verstehend zu erleben, und dazu kommt jener prachtvolle Tatsachenblick des geborenen Staatsmannes, der selbst Feldherr und Beamter gewesen war. Diese praktische Erfahrung, die man leider mit historischem Sinn verwechselt, läßt ihn geschichtsschreibenden bloßen Gelehrten mit Recht als unerreichtes Muster erscheinen. Was ihm aber vollkommen verschlossen bleibt, ist jener perspektivische Blick über die Geschichte von Jahrhunderten hin, der für uns mit Selbstverständlichkeit zum Begriff des Historikers gehört. Alle guten Stücke antiker Geschichtsdarstellung beschränken sich auf die politische Gegenwart des Autors, im schärfsten Gegensatz zu uns, deren historische Meisterwerke ohne Ausnahme die ferne Vergangenheit behandeln.“ (Ebd., S. 12-13Spengler).

„Die indische Kultur, deren Idee vom (brahmanischen) Nirwana der entschiedenste Ausdruck einer vollkommen ahistorischen Seele ist, den es geben kann, hat nie das geringste Gefühl für das »Wann« in irgendeinem Sinne besessen. Es gibt keine echte indische Astronomie, keine indischen Kalender, keine indische Historie also, insofern man darunter den geistigen Niederschlag einer bewußten Entwicklung versteht.“ (Ebd., S. 15Spengler).

„Die ägyptische Seele, eminent historisch veranlagt und mit urweltlicher Leidenschaft nach dem Unendlichen drängend, empfand die Vergangenheit und Zukunft als ihre ganze Welt, und die Gegenwart, die mit dem wachen Bewußtsein identisch ist, erschien ihr lediglich als die schmale Grenze zwischen zwei unermeßlichen Fernen. Die ägyptische Kultur ist eine Inkarnation der Sorge - dem seelischen Gegenwert der Ferne -, der Sorge um das Künftige, wie sie sich in der Wahl von Granit und Basalt als künstlerischem Material (Spengler), in den gemeißelten Urkunden, in der Ausbildung eines peinlichen Verwaltungssystems und dem Netz von Bewässerungsanlagen ausspricht (Spengler), und der notwendig damit verknüpften Sorge um das Vergangene. Die ägyptische Mumie ist ein Symbol vom höchsten Range. Man verewigte den Leib des Toten, wie man seiner Persönlichkeit, dem »Ka«, durch die oft in vielen Exemplaren ausgeführten Bildnisstatuen, an deren in einem sehr hohen Sinne aufgefaßte Ähnlichkeit sie gebunden war, ewige Dauer verlieh.“ (Ebd., S. 16Spengler).

„Unter den Völkern des Abendlandes waren es die Deutschen, welche die mechanischen Uhren erfanden, schauerliche Symbole der rinnenden Zeit, deren Tag und Nacht von zahllosen Türmen über Westeuropa hin hallende Schläge vielleicht der ungeheuerste Ausdruck sind, dessen ein historisches Weltgefühl überhaupt fähig ist. Abt Gerbert (als Papst Sylvester II.Silvester II.), der Freund Kaisers Ottos III., hat um 1000, also mit Beginn des romanischen Stils und der Kreuzzugsbewegung ..., die Konstruktion der Schlag- und Räderuhren erfunden. In Deutschland entstanden auch um 1200 die ersten Turmuhren und etwas später die Taschenuhren. Man bemerke die bedeutsame Verbindung der Zeitmessung mit dem Gebäude des religiösen Kultus.“ (Ebd., S. 19Spengler).

Altertum - Mittelalter - Neuzeit (Spengler): das ist das unglaubwürdig dürftige und sinnlose Schema, dessen unbedingte Herrschaft über unser geschichtliches Denken uns immer wieder gehindert hat, die eigentliche Stellung der kleinen Teilwelt, wie sie sich seit der deutschen Kaiserzeit auf dem Boden des westlichen Europa entfaltet, in ihrem Verhältnis zur Gesamtgeschichte des höheren Menschentums nach ihrem Range, ihrer Gestalt, ihrer Lebensdauer vor allen aufzufassen. Es wird künftigen Kulturen kaum glaublich erscheinen, daß dieser Grundriß mit seinem einfältigen geradlinigen Ablauf, seinen unsinnigen Proportionen, der von Jahrhundert zu Jahrhundert unmöglicher wird und eine natürliche Eingliederung der neu in das Licht unseres historischen Bewußtseins tretenden Gebiete gar nicht zuläßt ....“ (Ebd., S. 21Spengler).

„Es (das Schema: Altertum-Mittelalter-NeuzeitSpengler) beschränkt den Umfang der Geschichte, aber schlimmer ist, daß es auch ihren Schauplatz begrenzt. Hier bildet die Landschaft des westlichen Europa den ruhenden Pol (mathematisch gesprochen, einen singulären Punkt auf einer Kugeloberfläche) - man weiß nicht warum, wenn nicht dies der Grund ist, daß wir, die Urheber dieses Geschichtsbildes, gerade hier zu Hause sind -, um den sich Jahrtausende gewaltigster Geschichte und fernab gelagerte ungeheure Kulturen in aller Bescheidenheit drehen.“ (Ebd., S. 22Spengler).

„Hier steht der Historiker auch unter dem verhängnisvollen Vorurteil der Geographie (um nicht zu sagen unter der Suggestion eines Landkartenbildes), die einen Erdteil Europa annimmt, worauf er sich verpflichtet fühlt, auch eine entsprechende ideelle Abgrenzug gegen »Asien« vorzunehmen. Das Wort Europa sollte aus der Geschichte gestrichen werden. Es gibt keinen »Europäer« als historischen Typus. Es ist töricht, im Falle der Hellenen vom »europäischen Altertum« (Homer, Heraklit, Pythagoras waren also »Asiaten« ?) und von ihrer »Mission« zu reden, Asien und Europa kulturell anzunähern. Das sind Worte, die aus einer oberflächlichen Interpretation der Landkarte stammen und denen nichts Wirkliches entspricht.“ (Ebd., S. 22Spengler).

„Orient und Okzident sind Begriffe von echtem historischem Gehalt. »Europa« ist leerer Schall. Alles, was die Antike an großen Schöpfungen hervorbrachte, entstand unter Negation jeder kontinentalen Grenzen zwischen Rom und Cypern, Byzanz und Alexandria. Alles, was europäische Kultur heißt, entstand zwischen Weichsel, Adria und Guadalquivir. Und gesetzt, daß Griechenland zur Zeit des Perikles »in Europa lag«, so liegt es heute nicht mehr dort.“ (Ebd., S. 22Spengler).

„Daß für die Kultur des Abendlandes das Dasein von Athen, Florenz, Paris wichtiger ist als das von Lo-yang und Pataliputra, versteht sich von selbst. Aber darf man solche Wertschätzungen zur Grundlage eines Schemas der Weltgeschichte machen?  Dann hätte der chinesische Historiker das Recht, eine Weltgeschichte zu entwerfen, in der die Kreuzzüge und die Renaissance, Cäsar und Friedrich der Große als belanglos mit Stillschweigen übergangen werden. Warum soll, morphologisch betrachtet, das 18. Jahrhundert wichtiger sein als eins der sechzig voraufgehenden?  Ist es nicht lächerlich, eine »Neuzeit« vom Umfang einiger Jahrhunderte, noch dazu wesentlich in Westeuropa lokalisiert, einem »Altertum« gegenüberzustellen, das ebensoviel Jahrtausende umfaßt und dem die Masse aller vorgriechischen Kulturen ohne den Versuch einer tieferen Gliederung einfach als Anhang zugerechnet wird?“ (Ebd., S. 23Spengler).

„Ich nenne dies dem heutigen Westeuropäer geläufige Schema (Altertum-Mittelalter-Neuzeit Spengler), in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen um uns als den vermeintlichen Mittelpunkt alles Weltgeschehens ziehen, das ptolemäische System der Geschichte und ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß in diesem Buche ein System an seine Stelle tritt (), in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon (Mesopotamien/Sumer), China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen (Maya/Inka) Kultur - Einzelwelten des Werdens (), die im Gesamtbilde der Geschichte ebenso schwer wiegen, die an Großzügigkeit der seelischen Konzeption, an Gewalt des Aufstiegs die Antike vielfach übertreffen - eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen.“ (Ebd., S. 24Spengler).

„Man war, ohne es auszusprechen, der Meinung, daß hier jenseits von Altertum und Mittelalter etwas Endgültiges beginne, ein drittes Reich, in dem irgendwie eine Erfüllung lag, ein Höhepunkt, ein Ziel, das erkannt zu haben von den Scholastikern an bis zu den Sozialisten unserer Tage jeder sich allein zuschrieb.“ (Ebd., S. 26Spengler).

„Von jedem Organismus wissen wir, daß Tempo, Gestalt und Dauer seines Lebens und jeder einzelnen Lebensäußerung durch die Eigenschaften der Art, zu welcher er gehört, bestimmt sind. Niemand wird von einer tausendjährigen Eiche vermuten, daß sie eben jetzt im Begriff ist, mit dem eigentlichen Lauf ihrer Entwicklung zu beginnen. Niemand erwartet von einer Raupe, die er täglich wachsen sieht, daß sie möglicherweise ein paar Jahre damit fortfährt. Hier hat jeder mit unbedingter Gewißheit das Gefühl einer Grenze, das mit einem Gefühl für die innere Form identisch ist. Der Geschichte des höhern Menschentums gegenüber aber herrscht ein zügelloser, alle historische und also organische Erfahrung verachtender Optimismus in bezug auf den Gang der Zukunft, so daß jedermann im zufällig Gegenwärtigen die »Ansätze« zu einer ganz besonders hervorragenden linienhaften »Weiterentwicklung« feststellt, nicht weil sie wissenschaftlich bewiesen ist, sondern weil er sie wünscht. Hier wird mit schrankenlosen Möglichkeiten – nie mit einem natürlichen Ende – gerechnet und aus der Lage jedes Augenblicks heraus eine völlig naive Konstruktion der Fortsetzung entworfen.“ (Ebd., S. 28Spengler).

„Aber »die Menschheit« hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. »Die Menschheit« ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort. (»Die Menschheit? Das ist ein Abstraktum. Es hat von jeher nur Menschen gegeben und wird nur Menschen geben« [Goethe zu Luden].) Man lasse dies Phantom aus dem Umkreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen überraschenden Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen. Hier ist eine unermeßliche Fülle, Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen, die bis jetzt durch ein Schlagwort, durch ein dürres Schema, durch persönliche »Ideale« verdeckt wurde.“ (Ebd., S. 28-29Spengler).

„Ich sehe statt jenes öden Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn man vor der überwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schließt, das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden bleibt, aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschentum, ihre eigne Form aufprägt, von denen jede ihre eigne Idee, ihre eignen Leidenschaften, ihr eignes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eignen Tod hat. Hier gibt es Farben, Lichter, Bewegungen, die noch kein geistiges Auge entdeckt hat. Es gibt aufblühende und alternde Kulturen, Völker, Sprachen, Wahrheiten, Götter, Landschaften, wie es junge und alte Eichen und Pinien, Blüten, Zweige und Blätter gibt, aber es gibt keine alternde »Menschheit«. Jede Kultur hat ihre neuen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren. Es gibt viele, im tiefsten Wesen völlig voneinander verschiedene Plastiken, Malereien, Mathematiken, Physiken, jede von begrenzter Lebensdauer, jede in sich selbst geschlossen, wie jede Pflanzenart ihre eigenen Blüten und Früchte, ihren eigenen Typus von Wachstum und Niedergang hat. Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf wie die Blumen auf dem Felde. Sie gehören, wie Pflanzen und Tiere der lebendigen Natur Goethes, nicht der toten Natur Newtons an. Ich sehe in der Weltgeschichte das Bild einer ewigen Gestaltung und Umgestaltung, eines wunderbaren Werdens und Vergehens organischer Formen. Der zünftige Historiker aber sieht sie in der Gestalt eines Bandwurms, der unermüdlich Epochen »ansetzt«.“ (Ebd., S. 29Spengler).

„Vor allem läßt sich der Umstand nicht länger verhehlen, daß diese angebliche Geschichte der Welt sich anfangs tatsächlich auf die Region des östlichen Mittelmeeres und später, seit der Völkerwanderung (), einem nur für uns wichtigen und deshalb stark überschätzten Ereignis, das eine rein abendländische Bedeutung besitzt und schon die arabische Kultur nichts angeht, mit einem plötzlichen Wechsel des Schauplatzes auf das mittlere Westeuropa beschränkt. Hegel hatte in aller Naivität erklärt, daß er die Völker, die in sein System der Geschichte nicht paßten, ignorieren werde. Aber das war nur ein ehrliches Eingeständnis von methodischen Voraussetzungen, ohne die kein Historiker zum Ziele kam. Man kann die Disposition sämtlicher Geschichtswerke daraufhin prüfen. Es ist heute in der Tat eine Frage des wissenschaftlichen Taktes, welche der historischen Entwicklungen man ernsthaft mitzählt und welche nicht. Ranke ist ein gutes Beispiel dafür.“ (Ebd., S. 30Spengler).

„Wir denken heute in Erdteilen. Nur unsere Philosophen und Historiker haben das noch nicht gelernt. Was können uns da Begriffe und Perspektiven bedeuten, die mit dem Anspruch auf universale Gültigkeit hervortreten und deren Horizont doch über die geistige Atmosphäre des westeuropäischen Menschen nicht hinausreicht?  Man sehe sich daraufhin unsre besten Bücher an. Wenn Plato von der Menschheit redet, so meint er den Hellenen im Gegensatz zum Barbaren. Das entspricht durchaus dem ahistorischen Stil des antiken Lebens und Denkens und führt unter dieser Voraussetzung zu Ergebnissen, welche für Griechen richtig und bedeutsam sind. Wenn aber Kant philosophiert, über ethische Ideale zum Beispiel, so behauptet er die Gültigkeit seiner Sätze für die Menschen aller Arten und Zeiten. Er spricht das nur nicht aus, weil es für ihn und seine Leser selbstverständlich ist. Er formuliert in seiner Ästhetik nicht das Prinzip der Kunst des Phidias oder der Kunst Rembrandts, sondern gleich das der Kunst überhaupt. Aber was er an notwendigen Formen des Denkens feststellt, sind doch nur die notwendigen Formen des abendländischen Denkens. Ein Blick auf Aristoteles und dessen wesentlich andere Resultate hätte lehren sollen, daß hier nicht ein weniger klarer, sondern ein anders angelegter Geist über sich reflektiert. Dem russischen Denken sind die Kategorien des abendländischen ebenso fremd wie diesem die des chinesischen oder griechischen. Ein wirkliches und restloses Begreifen der antiken Urworte ist uns ebenso unmöglich wie das der russischen und indischen, und für den modernen Chinesen und Araber mit ihren ganz anders gearteten lntellekten hat die Philosophie von Bacon bis Kant lediglich den Wert einer Kuriosität.“ (Ebd., S. 31Spengler).

„Das ist es, was dem abendländischen Denker fehlt und gerade ihm nicht fehlen sollte: die Einsicht in den historisch-relativen Charakter seiner Ergebnisse, die selbst Ausdruck eines einzelnen und nur dieses einen Daseins sind, das Wissen um die notwendigen Grenzen ihrer Gültigkeit, die Überzeugung, daß seine »unumstößlichen Wahrheiten« und »ewigen Einsichten« eben nur für ihn wahr und in seinem Weltaspekt ewig sind und daß es Pflicht ist, darüber hinaus nach denen zu suchen, die der Mensch anderer Kulturen mit derselben Gewißheit aus sich selbst heraus entwickelt hat. Das gehört zur Vollständigkeit einer Philosophie der Zukunft. Das erst heißt die Formensprache der Geschichte, der lebendigen Welt verstehen. Es gibt hier nichts Bleibendes und Allgemeines. Man rede nicht mehr von den Formen des Denkens, dem Prinzip des Tragischen, der Aufgabe des Staates. Allgemeingültigkeit ist immer der Fehlschluß von sich auf andere.“ (Ebd., S. 31-32Spengler).

„Sehr viel bedenklicher wird das Bild, wenn wir uns den Denkern der westeuropäischen Modernität von Schopenhauer an zuwenden, dort, wo der Schwerpunkt des Philosophierens aus dem Abstrakt-Systematischen ins Praktisch-Ethische rückt und an Stelle des Problems der Erkenntnis das Problem des Lebens (des Willens zum Leben, zur Macht, zur Tat) tritt. Hier wird nicht mehr das ideale Abstraktum »Mensch« wie bei Kant, sondern der wirkliche Mensch, wie er in historischer Zeit, als primitiver oder als Kulturmensch völkerhaft gruppiert die Erdoberfläche bewohnt, der Betrachtung unterworfen, und es ist sinnlos, wenn auch da noch die Struktur der höchsten Begriffe durch das Schema Altertum-Mittelalter-Neuzeit (Spengler) und die damit verbundene örtliche Beschränkung bestimmt wird. Aber das ist der Fall.“ (Ebd., S. 32Spengler).

„Betrachten wir den geschichtlichen Horizont Nietzsches. Seine Begriffe der Dekadenz, des Nihilismus, der Umwertung aller Werte, des Willens zur Macht, die tief im Wesen der abendländischen Zivilisation begründet liegen und für ihre Analyse schlechthin entscheidend sind - welches war die Grundlage ihrer Schöpfung ?  Römer und Griechen, Renaissance und europäische Gegenwart, einen flüchtigen Seitenblick auf die indische Philosophie eingerechnet, kurz: Altertum-Mittelalter-Neuzeit. (Spengler). Darüber ist er, streng genommen, nie hinausgegangen und die andern Denker seiner Zeit so wenig wie er. Aber in welcher Beziehung steht denn sein Begriff des Dionysischen zum Innenleben der hochzivilisierten Chinesen aus der Zeit des Konfuzius oder eines modernen Amerikaners?  Was bedeutet der Typus des Übermenschen für die Welt des Islam?  Oder was sollen die Begriffe Natur und Geist, heidnisch und christlich, antik und modern als gestaltende Antithese im Seelentum des Inders und Russen bedeuten?  Was hat Tolstoi, der aus seiner tiefen Menschlichkeit heraus die ganze Ideenwelt des Westens als etwas Fremdes und Fernes ablehnte, mit dem »Mittelalter«, mit Dante, mit Luther, was hat ein Japaner mit dem Parsifal und dem Zarathustra, was ein Inder mit Sophokles zu schaffen ?  Und ist die Gedankenwelt Schopenhauers, Comtes, Feuerbachs, Hebbels, Strindbergs etwa weiträumiger?  Ist ihre gesamte Psychologie trotz aller Absichten auf Weltgeltung nicht von rein abendländischer Bedeutung? (Spengler). Wie komisch wirken Ibsens Frauenprobleme, die ebenfalls mit dem Anspruch auf die Aufmerksamkeit der ganzen »Menschheit« auftreten, wenn man an die Stelle der berühmten Nora, einer nordwesteuropäischen Großstadtdame, deren Gesichtskreis etwa einer Mietwohnung von 2000 bis 6000 Mark und einer protestantischen Erziehung entspricht, Cäsars Frau, Madame de Sévigné, eine Japanerin oder eine Tiroler Bäurin setzt?  Aber Ibsen selbst besitzt den Gesichtskreis der großstädtischen Mittelklasse von gestern und heute. Seine Konflikte, deren seelische Voraussetzungen etwa seit 1850 vorhanden sind und 1950 kaum überdauern werden, sind weder die der großen Welt noch die der unteren Masse, geschweige denn die von Städten mit nichteuropäischer Bevölkerung. „Alles das sind episodische und örtliche, meist sogar auf die augenblickliche Intelligenz der Großstädte von westeuropäischem Typus beschränkte, nichts weniger als welthistorische und »ewige« Werte, und wenn sie der Genereation Ibsens und Nietzsches noch so wesentlich sind, so heißt es eben doch dem Sinn des Wortes Weltgeschichte - die keine Auswahl, sondern eine Totalität darstellt - mißverstehen, wenn man die außerhalb des modernen Interesses liegenden Faktoren ihnen unterordnet, sie unterschätzt oder übersieht. Und das ist in einem ungewöhnlicheh hohem Grade der Fall. Was im Abendlande bisher über die Probleme des Raumes, der Zeit, der Bewegung, der Zahl, des Willens, der Ehe, des Eigentums, des Tragischen, der Wissenschaft gesagt und gedacht worden ist, blieb eng und zweifelhaft, weil man immer darauf aus war, die Lösung der Frage zu finden, statt einzusehen, daß zu vielen Fragenden viele Antworten gehören, daß jede philosophische Frage nur der verhüllte Wunsch ist, eine bestimmte Antwort zu erhalten, die in der Frage schon beschlossen liegt, daß man die großen Fragen einer Zeit gar nicht vergänglich genug fassen kann und daß demnach eine Gruppe historisch bedingter Lösungen angenommen werden muß, deren Übersicht erst - unter Ausschaltung aller eigenen Wertmaßstäbe - die letzten Geheimnisse aufschließt. Für den echten Menschenkenner gibt es keine absolut richtigen oder falschen Standpunkte. Es genügt nicht, angesichts so schwerer Probleme wie dem der Zeit oder der Ehe die persönliche Erfahrung, die innere Stimme, die Vernunft, die Meinung der Vorgänger oder Zeitgenossen zu befragen. So erfährt man, was für den Frager selbst und seine Zeit wahr ist, aber das ist nicht alles. Die Erscheinung andrer Kulturen redet eine andre Sprache. Für andere Menschen gibt es andere Wahrheiten. Für den Denker sind sie alle gültig oder keine.“ (Ebd., S. 32-34Spengler).

„Man begreift, welcher Erweiterung und Vertiefung die abendländische Weltkritik fähig ist und was alles über den harmlosen Relativismus Nietzsches und seiner Generation hinaus in den Kreis der Betrachtung gezogen, welche Feinheit des Formgefühls, welcher Grad von Psychologie, welche Entsagung und Unabhängigkeit von praktischen Interessen, welche Unumschränktheit des Horizonts erreicht werden muß, bevor man sagen darf, man habe die Weltgeschichte, die Welt als Geschichte, verstanden.“ (Ebd., S. 34Spengler).

„Diesem allem, den willkürlichen, engen, von außen gekommenen, von eigenen Wünschen diktierten, der Historie aufgezwungenen Formen, stelle ich die natürliche, die »kopernikanische« Gestalt des Weltgeschehens entgegen, die ihm in der Tiefe innewohnt und sich nur dem nicht voreingenommenen Blick offenbart. (Spengler).“ (Ebd., S. 34Spengler).

„Ich erinnere an Goethe. (). Was er die lebendige Natur genannt hat, ist genau das, was hier Weltgeschichte im weitesten Umfange, die Welt als Geschichte genannt wird. Goethe, der als Künstler wieder und immer wieder das Leben, die Entwicklung seiner Gestalten, das Werden, nicht das Gewordne, herausbildete, wie es der »Wilhelm Meister« und »Wahrheit und Dichtung« zeigen, haßte die Mathematik. Hier stand die Welt des Mechanismus der Welt als Organismus, die tote der lebendigen Natur, das Gesetz der Gestalt gegenüber. Jede Zeile, die er schrieb, sollte die Gestalt des Werdenden, »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«, vor Augen stellen. Nachfühlen, Anschauen, vergleichen, die unmittelbare innere Gewißheit, die exakte sinnliche Phantasie - das waren seine Mittel, dem Geheimnis der bewegten Erscheinung nahe zu kommen. Und das sind die Mittel der Geschichtsforschung überhaupt. Es gibt keine andern. Dieser göttliche Blick ließ ihn am Abend der Schlacht von Valmy (* 20. September 1792) am Lagerfeuer jenes Wort aussprechen: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.« Kein Heerführer, kein Diplomat, von Philosophen zu schweigen, hat Geschichte so unmittelbar werden gefühlt. Es ist das tiefste Urteil, das je über einen großen Akt der Geschichte in dem Augenblick ausgesprochen wurde, als er sich vollzog.“ (Ebd., S. 35Spengler).

„Und so wie er die Entwicklung der Pflanzenform aus dem Blatt, die Entstehung des Wirbeltiertypus, das Werden der geologischen Schichten verfolgte - das Schicksal der Natur, nicht ihre Kausalität - soll hier die Formensprache der menschlichen Geschichte, ihre periodische Struktur, ihre organische Logik aus der Fülle aller sinnfälligen Einzelheiten entwickelt werden.“ (Ebd., S. 35Spengler).

„Kehren wir zur engeren Aufgabe zurück, so ist aus diesem Weitblick die westeuropäisch-amerikanische Lage zunächst zwischen 1800 und 2000 morphologisch zu bestimmen. Das Wann dieser Zeit innerhalb der abendländischen Gesamtkultur, ihr Sinn als biographischer Abschnitt, der in irgend einer Gestalt mit Notwendigkeit in jeder Kultur anzutreffen ist, die organische und symbolische Bedeutung ihrer politischen, künstlerischen, geistigen, sozialen Formensprache soll festgestellt werden.“ (Ebd., S. 36Spengler).

„Eine vergleichende Betrachtung ergibt die »Gleichzeitigkeit« dieser Periode mit dem Hellenismus, und zwar im besonderen die ihres augenblicklichen Höhepunktes – bezeichnet durch den Weltkrieg – mit dem Übergang der hellenistischen in die Römerzeit. Das Römertum, von strengstem Tatsachensinn, ungenial, barbarisch, diszipliniert, praktisch, protestantisch, preußisch, wird uns, die wir auf Vergleiche angewiesen sind, immer den Schlüssel zum Verständnis der eigenen Zukunft bieten. Griechen und Römer – damit scheidet sich auch das Schicksal, das sich für uns schon vollzogen hat, von dem, welches uns bevorsteht. Denn man hätte längst im »Altertum« eine Entwicklung finden können und sollen, die ein vollkommenes Gegenstück zur eignen, westeuropäischen, bildet, in jeder Einzelheit der Oberfläche verschieden, aber völlig gleich in dem inneren Drang, der den großen Organismus seiner Vollendung entgegentreibt. Wir hätten Zug um Zug vom »Trojanischen Krieg« und den Kreuzzügen, Homer und dem Nibelungenlied an über Dorik und Gotik, dionysischer Bewegung und Renaissance, Polyklet und Sebastian Bach, Athen und Paris, Aristoteles und Kant, Alexander und Napoleon bis zum Weltstadtstadium und Imperialismus beider Kulturen hier ein beständiges alter ego der eignen Wirklichkeit gefunden.“ (Ebd., S. 36-37Spengler).

„In der Tat haben sich unsere besten Geister ohne Ausnahme vor dem Bilde der Antike in Ehrfurcht gebeugt und in diesem einzigen Falle der schrankenlosen Kritik entsagt. Die Untersuchung des Altertums ist immer durch eine gewisse, fast religiöse Scheu in ihrer Freiheit und Stärke gehemmt und in ihren Ergebnissen verdunkelt worden. Es gibt in der gesamten Geschichte kein zweites Beispiel für einen so leidenschaftlichen Kultus, den eine Kultur mit dem Gedächtnis einer andern treibt. Daß wir Altertum und Neuzeit durch ein »Mittelalter« idealisch verknüpften, über ein Jahrtausend gering gewerteter, fast verachteter Historie hinweg, ist seit der Renaissance auch ein Ausdruck dieser Devotion. Wir Westeuropäer haben »den Alten« die Reinheit und Selbständigkeit unserer Kunst zum Opfer gebracht, indem wir nur mit einem Seitenblick auf das »hehre Vorbild« zu schaffen wagten; wir haben in unser Bild von den Griechen und Römern jedesmal das hineingelegt, hineingefühlt, was wir in der Tiefe der eigenen Seele entbehrten oder erhofften.“ (Ebd., S. 40-41Spengler).

„Was den einzelnen Tatsachen ihren Rang gibt, ist lediglich die größere oder geringere Reinheit und Kraft ihrer Formensprache, die Stärke ihrer Symbolik – jenseits von gut und böse, hoch und niedrig, Nutzen und Ideal.“ (Ebd., S. 43Spengler).

„Der Untergang des Abendlandes, so betrachtet, bedeutet nichts Geringeres als das Problem der Zivilisation. Eine der Grundfragen aller höheren Geschichte liegt hier vor. Was ist Zivilisation, als organisch-logische Folge (Spengler), als Vollendung und Ausgang einer Kultur begriffen?  Denn jede Kultur hat ihre eigne Zivilisation.“ (Ebd., S. 43Spengler).

„Eine der Grundfragen aller höheren Geschichte liegt hier vor. Was ist Zivilisation, als organisch-logische Folge, als Vollendung und Ausgang einer Kultur begriffen?“ (Ebd., S. 43Spengler).

„Denn jede Kultur hat ihre eigne Zivilisation. Zum ersten Male werden hier die beiden Worte, die bis jetzt einen unbestimmten Unterschied ethischer Art zu bezeichnen hatten, in periodischem Sinne, als Ausdrücke für ein strenges und notwendiges organisches Nacheinander gefaßt. “ (Ebd., S. 43Spengler).

„Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur. Hier ist der Gipfel erreicht, von dem aus die letzten und schwersten Fragen der historischen Morphologie lösbar werden. Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist. Sie sind ein Abschluß; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die Starrheit, dem Lande und der seelischen Kindheit, wie sie Dorik und Gotik zeigen, als das geistige Greisentum und die steinerne, versteinernde Weltstadt. Sie sind ein Ende, unwiderruflich, aber sie sind mit innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht worden.“ (Ebd., S. 43Spengler).

„Damit erst wird man den Römer als den Nachfolger des Hellenen verstehen. Erst so rückt die späte Antike in das Licht, das ihre tiefsten Geheimnisse preisgibt. Denn was hat es zu bedeuten – was man nur mit leeren Worten bestreiten kann –, daß die Römer Barbaren gewesen sind, Barbaren, die einem großen Aufschwung nicht vorangehen, sondern ihn beschließen? Seelenlos, unphilosophisch, ohne Kunst, rassehaft bis zum Brutalen, rücksichtslos auf reale Erfolge haltend, stehen sie zwischen der hellenischen Kultur und dem Nichts. Ihre nur auf das Praktische gerichtete Einbildungskraft – sie besaßen ein sakrales Recht, das die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen wie zwischen Privatpersonen regelte, aber keine einzige echt römische Göttersage – ist ein Zug, den man in Athen überhaupt nicht antrifft. Griechische Seele und römischer Intellekt – das ist es. So unterscheiden sich Kultur und Zivilisation. Und das gilt nicht nur von der Antike. Immer wieder taucht dieser Typus starkgeistiger, vollkommen unmetaphysischer Menschen auf. In ihren Händen liegt das geistige und materielle Geschick einer jeden Spätzeit. Sie haben den babylonischen, ägyptischen, indischen, chinesischen, römischen Imperialismus durchgeführt. In solchen Zeiten sind der Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus zu endgültigen Weltstimmungen herangereift, die ein erlöschendes Menschentum in seiner ganzen Substanz noch einmal zu ergreifen und umzugestalten vermögen. Die reine Zivilisation als historischer Vorgang besteht in einem stufenweisen Abbau anorganisch gewordener, erstorbener Formen.“ (Ebd., S. 44Spengler).

„Der Übergang von der Kultur zur Zivilisation vollzieht sich in der Antike im 4., im Abendland im 19. Jahrhundert. Von da an fallen die großen geistigen Entscheidungen nicht mehr wie zur Zeit der orphischen Bewegung und der Reformation in der »ganzen Welt«, in der schließlich kein Dorf ganz unwichtig ist, sondern in drei oder vier Weltstädten, die allen Gehalt der Geschichte in sich aufgesogen haben und denen gegenüber die gesamte Landschaft einer Kultur zum Range der Provinz herabsinkt, die ihrerseits nur noch die Weltstädte mit den Resten ihres höheren Menschentums zu nähren hat. Weltstadt und Provinz (Spengler) – mit diesen Grundbegriffen jeder Zivilisation tritt ein ganz neues Formproblem der Geschichte hervor, das wir Heutigen gerade durchleben, ohne es in seiner ganzen Tragweite auch nur entfernt begriffen zu haben. Statt einer Welt eine Stadt, ein Punkt, in dem sich das ganze Leben weiter Länder sammelt, während der Rest verdorrt; statt eines formvollen, mit der Erde verwachsenen Volkes ein neuer Nomade, ein Parasit, der Großstadtbewohner, der reine, traditionslose, in formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch, irreligiös, intelligent, unfruchtbar, mit einer tiefen Abneigung gegen das Bauerntum (und dessen höchste Form, den Landadel), also ein ungeheurer Schritt zum Anorganischen, zum Ende – was bedeutet das? Frankreich und England haben diesen Schritt vollzogen und Deutschland ist im Begriff, ihn zu tun. Auf Syrakus, Athen, Alexandria folgt Rom. Auf Madrid, Paris, London folgen Berlin und New York. Provinz zu werden ist das Schicksal ganzer Länder, die nicht im Strahlenkreis einer dieser Städte liegen wie damals Kreta und Makedonien, heute der skandinavische Norden.“ (Ebd., S. 44-45Spengler).

„Das Geld als anorganische, abstrakte Größe, von allen Beziehungen zum Sinn des fruchtbaren Bodens, zu den Werten einer ursprünglichen Lebenshaltung gelöst – das haben die Römer vor den Griechen voraus. Von hier an ist eine vornehme Weltanschauung auch eine Geldfrage. Nicht der griechische Stoizismus des Chrysipp, aber der spätrömische des Cato und Seneca setzt als Grundlage ein Vermögen voraus, (deshalb verfielen dem Christentum zuerst die Römer, die es sich nicht leisten konnten, Stoiker zu sein) und nicht die sozialethische Gesinnung des 18. Jahrhunderts, aber die des 20. ist, wenn sie über eine berufsmäßige – einträgliche – Agitation hinaus Tat werden will, eine Sache für Millionäre. Zur Weltstadt gehört nicht ein Volk, sondern eine Masse. Ihr Unverständnis für alles Überlieferte, in dem man die Kultur bekämpft (den Adel, die Kirche, die Privilegien, die Dynastie, in der Kunst die Konventionen, in der Wissenschaft die Grenzen der Erkenntnismöglichkeit), ihre der bäuerlichen Klugheit überlegene scharfe und kühle Intelligenz, ihr Naturalismus in einem ganz neuen Sinne, der über Sokrates und Rousseau weit zurück in bezug auf alles Sexuelle und Soziale an urmenschliche Instinkte und Zustände anknüpft, das panem et circenses, das heute wieder in der Verkleidung von Lohnkampf und Sportplatz erscheint – alles das bezeichnet der endgültig abgeschlossenen Kultur, der Provinz gegenüber eine ganz neue, späte und zukunftslose, aber unvermeidliche Form menschlicher Existenz“ (Ebd., S. 46Spengler).

„Ich sehe Symbole ersten Ranges darin, daß in Rom, wo der Triumvir Crassus der allmächtige Bauplatzspekulant war, das auf allen Inschriften prangende römische Volk, vor dem Gallier, Griechen, Parther, Syrer in der Ferne zitterten, in ungeheurem Elend in den vielstöckigen Mietskasernen lichtloser Vorstädte (Spengler) hauste und die Erfolge der militärischen Expansion mit Gleichgültigkeit oder einer Art von sportlichem Interesse aufnahm; daß manche der großen Familien des Uradels, Nachkommen der Sieger über die Kelten, Samniten und Hannibal, weil sie sich an der wüsten Spekulation nicht beteiligten, ihre Stammhäuser aufgeben und armselige Mietwohnungen beziehen mußten; daß, während sich längs der Via Appia die noch heute bewunderten Grabmäler der Finanzgrößen Roms erhoben, die Leichen des Volkes zusammen mit Tierkadavern und Großstadtkehricht in ein grauenhaftes Massengrab geworfen wurden, bis man unter Augustus, um Seuchen zu verhüten, die Stelle zuschüttete, auf der Mäcenas dann seinen berühmten Park anlegte; daß in dem entvölkerten Athen, das von Fremdenbesuch und den Stiftungen reicher Ausländer (wie des Judenkönigs Herodes) lebte, der Reisepöbel allzu rasch reich gewordener Römer die Werke der perikleischen Zeit begaffte, von denen er so wenig verstand wie die amerikanischen Besucher der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo, nachdem man alle beweglichen Kunstwerke fortgeschleppt oder zu phantastischen Modepreisen angekauft und dafür kolossale und anmaßende Römerbauten neben die tiefen und bescheidenen Werke der alten Zeit gesetzt hatte. In diesen Dingen, die der Historiker nicht zu loben oder tadeln, sondern morphologisch abzuwägen hat, liegt für den, welcher zu sehen gelernt hat, eine Idee unmittelbar zutage.“ (Ebd., S. 47-48Spengler).

„Denn es wird sich zeigen, daß von diesem Augenblick an alle großen Konflikte der Weltanschauung, der Politik, der Kunst, des Wissens, des Gefühls im Zeichen dieses einen Gegensatzes stehen. Was ist zivilisierte Politik von morgen im Gegensatz zur kultivierten von gestern? In der Antike Rhetorik, im Abendlande Journalismus, und zwar im Dienste jenes Abstraktums, das die Macht der Zivilisation repräsentiert, des Geldes (Spengler). Sein Geist ist es, der unvermerkt die geschichtlichen Formen des Völkerdaseins durchdringt, oft ohne sie im geringsten zu ändern oder zu zerstören. Der römische Staat ist der Form nach vom älteren Scipio Africanus bis auf Augustus in viel höherem Grade stationär geblieben, als dies in der Regel angenommen wird. Aber die großen Parteien sind nur noch scheinbar Mittelpunkte der entscheidenden Aktionen. Es ist eine kleine Anzahl überlegener Köpfe, deren Namen in diesem Augenblick vielleicht nicht die bekanntesten sind, die alles entscheidet, während die große Masse der Politiker zweiten Ranges, Rhetoren und Tribunen, Abgeordnete und Journalisten, eine Auswahl nach Provinzhorizonten, nach unten die Illusion einer Selbstbestimmung des Volkes aufrecht erhält.“ (Ebd., S. 48Spengler).

„Und die Kunst? Die Philosophie? Die Ideale der platonischen und der kantischen Zeit galten einem höhern Menschentum überhaupt; die des Hellenismus und der Gegenwart, vor allem der Sozialismus, der ihm innerlich ganz nahe verwandte Darwinismus mit seinen so ganz ungoetheschen Formeln vom Kampf ums Dasein und der Zuchtwahl, die damit wiederum verwandten Frauen- und Eheprobleme bei Ibsen, Strindberg und Shaw, die impressionistischen Neigungen einer anarchischen Sinnlichkeit, das ganze Bündel moderner Sehnsüchte, Reize und Schmerzen, deren Ausdruck die Lyrik Baudelaires und die Musik Wagners ist, sind nicht für das Weltgefühl des dörflichen und überhaupt des natürlichen Menschen, sondern ausschließlich für den weltstädtischen Gehirnmenschen da. Je kleiner die Stadt, desto sinnloser die Beschäftigung mit dieser Malerei und Musik. Zur Kultur gehört die Gymnastik, das Turnier, der Agon, zur Zivilisation der Sport. Auch das unterscheidet die hellenische Palästra vom römischen Zirkus. (Spengler Die deutsche Gymnastik ist seit 1813 und den sehr provinzialen, urwüchsigen Formen, die ihr Jahn damals gab, in rascher Entwicklung zum Sportmäßigen begriffen. Den Unterschied eines Berliner Sportplatzes an einem großen Tage von einem römischen Zirkus war schon 1914 sehr gering. Spengler) Die Kunst selbst wird Sport – das bedeutet l'art pour l'art – vor einem hochintelligenten Publikum von Kennern und Käufern, mag es sich um die Bewältigung absurder instrumentaler Tonmassen oder harmonischer Hindernisse, mag es sich um das »Nehmen« eines Farbenproblems handeln. Eine neue Tatsachenphilosophie erscheint, die für metaphysische Spekulationen nur ein Lächeln übrig hat, eine neue Literatur, dem Intellekt, dem Geschmack und den Nerven des Großstädters ein Bedürfnis, dem Provinzialen unverständlich und verhaßt. Weder die alexandrinische Poesie, noch die Freilichtmalerei gehen das »Volk« etwas an. Der Übergang wird damals wie heute durch eine Reihe nur in dieser Epoche anzutreffender Skandale bezeichnet. Die Entrüstung der Athener über Euripides und die revolutionären Malweisen z.B. des Apollodor wiederholt sich in der Auflehnung gegen Wagner, Manet, Ibsen und Nietzsche.“ (Ebd., S. 48-49Spengler).

„Man kann die Griechen verstehen, ohne von ihren wirtschaftlichen Verhältnissen zu reden. Die Römer versteht man nur durch sie. Bei Chäronea und bei Leipzig wurde zum letzten Male um eine Idee gekämpft. Im ersten punischen Kriege und bei Sedan sind die wirtschaftlichen Momente nicht mehr zu übersehen. Erst die Römer mit ihrer praktischen Energie haben der Sklavenhaltung jenen riesenhaften Stil gegeben, der für viele den Typus der antiken Wirtschaftsführung, Rechtsbildung und Lebensweise beherrscht und jedenfalls den Wert und die innere Würde der daneben stehenden freien Lohnarbeit gewaltig herabgesetzt hat. Erst die germanischen, nicht die romanischen Völker Westeuropas und Amerikas haben dementsprechend aus der Dampfmaschine eine das Bild der Länder verändernde Großindustrie entwickelt. Man wird die Beziehung beider zum Stoizismus und zum Sozialismus nicht übersehen.“ (Ebd., S. 49Spengler).

„Erst der römische, durch C. Flaminius († 217 v. Chr.) angekündigte, in Marius (156-86) zum ersten Mal Gestalt gewordene Cäsarismus hat innerhalb der antiken Welt die Erhabenheit des Geldes - in der Hand starkgeistiger, groß angelegter Tatsachenmenschen - kennen gelehrt. Ohne das ist weder Cäsar noch das Römertum überhaupt verständllich.“ (Ebd., S. 49-50Spengler).

„Jeder Grieche hat einen Zug von Don Quijote, jeder Römer einen von Sancho Pansa - was sie sonst noch waren, tritt dahinter zurück.“ (Ebd., S. 50Spengler).

„Was die römische Weltherrschaft betrifft, so ist sie ein negatives Phänomen, nicht das Ergebnis eines Überschusses an Kraft auf der einen - den hatten die Römer nach Zama (202 v. Chr.) nicht mehr -, sondern das eines Mangels an Widerstand auf der andern Seite. Die Römer haben die Welt gar nicht erobert. Sie haben nur in Besitz genommen, was als Beute für jedemann dalag. Das Imperium Romanum ist nicht durch die äußerste Anspannung aller militärischen und finanziellen Hilfsmittel, wie es einst gegenüber Karthago der Fall gewesen war, sondern durch den Verzicht des alten Ostens auf äußere Selbstbestimmung entstanden. .... Die Römer haben nach Zama keinen Krieg gegen eine große Militämacht mehr geführt und hätten keinen führen können.“ (Ebd., S. 50Spengler).

„Die Eroberung Galliens durch Cäsar war ein ausgesprochener Kolonialkrieg. d.h. von einseitiger Aktivität. Daß er trotzdem den Höhepunkt der späteren römischen Kriegsgeschichte bildet, bestätigt nur deren rasch abnehmenden Gehalt an wirklichen Leistungen.“ (Ebd., S. 50Spengler).

„Ich lehre hier den Imperialismus, als dessen Petrefakt Reiche wie das ägyptische, chinesische, römische, die indische Welt, die Welt des Islam noch Jahrhunderte und Jahrtausende stehen bleiben und aus einer Erobererfaust in die andere gehen können - tote Körper, amorphe, entseelte Menschenmassen, verbrauchter Stoff einer großen Geschichte -, als das typische Symbol des Ausgangs begreifen. Imperialismus ist reine Zivilisation. In dieser Erscheinungsform liegt unwiderruflich das Schicksal des Abendlandes. Der kultivierte Mensch hat seine Energie nach innen, der zivilisierte nach außen. Deshalb sehe ich in Cecil Rhodes den ersten Mann einer neuen Zeit. Er repräsentiert den politischen Stil einer ferneren, abendländischen, germanischen, insbesondere deutschen Zukunft. Sein Wort »Ausdehnung ist alles« enthält in dieser napoleonischen Fassung die eigentlichste Tendenz einer jeden ausgereiften Zivilisation. Das galt von den Römern, den Arabern, den Chinesen. Hier gibt es keine Wahl. Hier entscheidet nicht einmal der bewußte Wille des einzelnen oder ganzer Klassen und Völker. Die expansive Tendenz ist ein Verhängnis, etwas Dämonisches und Ungeheures, das den späten Menschen des Weltstadiums packt, in seinen Dienst schwingt und verbraucht, ob er will oder nicht, ob er es weiß oder nicht. Leben ist die Verwirklichung von Möglichkeiten (SpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpengler), und für den Gehirnmenschen gibt es nur extensive Möglichkeiten. (So war vielleicht das bedeutende Wort Napoleons an Goethe gemeint: »Was will man heute mit Schicksal?  Die Politik ist das Schicksal.«). So sehr der heutige, noch wenig entwickelte Sozialismus sich gegen die Expansion auflehnt, er wird eines Tages mit der Vehemenz eines Schicksals ihr vornehmster Träger sein. Hier rührt die Formensprache der Politik - als unmittelbarer intellektueller Ausdruck einer Art von Menschentum - an ein tiefes metaphysisches Problem: an die durch die unbedingte Gültigkeit des Kausalitätsprinzips bestätigte Tatsache, daß der Geist das Komplement der Ausdehnung ist.“ (Ebd., S. 51-52Spengler).

„Es war völlig aussichtslos, wenn in der dem Imperialismus zutreibenden chinesischen Staatenwelt zwischen 480 und 230 (antik etwa 300–50) das vor allem von dem »Römerstaate« Tsin (der denn auch dem Imperium endlich seinen Namen gab: Tsin = China) praktisch und von dem Philosophen Dschang-yi theoretisch vertretene Prinzip des Imperialismus (lienheng) durch den Gedanken eines Völkerbundes (hohtsung) bekämpft wurde, der sich auf manche Gedanken des Wang-hü stützte, eines tiefen Skeptikers und Kenners der Menschen und der politischen Möglichkeiten dieser Spätzeit. Sie sind beide Gegner der Ideologie des Laotse und seiner Abschaffung der Politik, aber der lienheng hatte den natürlichen Gang der expansiven Zivilisation für sich. (Vgl. Bd. II, S. 1081 f. [Spengler], 1099).“ (Ebd., S. 52Spengler).

„Rhodes erscheint als der erste Vorläufer eines abendländischen Cäsarentypus, für den die Zeit noch lange nicht gekommen ist. Er steht in der Mitte zwischen Napoleon und den Gewaltmenschen der nächsten Jahrhunderte, wie jener Flaminius, der seit 232 (v.C.) die Römer zur Unterwerfung der cisalpinen Gallier und damit zum Beginn ihrer kolonialen Ausdehnungspolitik drängte, zwischen Alexander und Cäsar. Flaminius war streng genommen (denn seine wirkliche Macht entsprach nicht mehr dem Sinn irgendeines Amtes) ein Privatmann von staatsbeherrschendem Einfluß in einer Zeit, wo der Staatsgedanke der Gewalt wirtschaftlicher Faktoren erliegt, in Rom sicherlich der erste vom cäsarischen Oppositionstypus. Mit ihm endet die Idee des Staatsdienstes und es beginnt der nur mit Kräften, nicht mit Traditionen rechnende Wille zur Macht. Alexander und Napoleon waren Romantiker, an der Schwelle der Zivilisation und schon von ihrer kalten und klaren Luft angeweht; aber der eine gefiel sich in der Rolle des Achilles und der andere las den Werther. Cäsar war lediglich ein Tatsachenmensch von ungeheurem Verstande.“ (Ebd., S. 52Spengler).

„Aber schon Rhodes verstand unter erfolgreicher Politik einzig den territorialen und finanziellen Erfolg. Das ist das Römische an ihm, dessen er sich sehr bewußt war. In dieser Energie und Reinheit hatte sich die westeuropäische Zivilisation noch nicht verkörpert. Nur vor seinen Landkarten konnte er in eine Art dichterische Ekstase geraten, er, der als Sohn eines puritanischen Pfarrhauses mittellos nach Südafrika gekommen war und ein Riesenvermögen als Machtmittel für seine politischen Ziele erworben hatte. Sein Gedanke einer transafrikanischen Bahn vom Kap nach Kairo, sein Entwurf eines südafrikanischen Reiches, seine geistige Gewalt über die Minenmagnaten, eiserne Geldmenschen, die er zwang, ihr Vermögen in den Dienst seiner Ideen zu stellen, seine Hauptstadt Buluwayo, die er, der allmächtige Staatsmann ohne ein definierbares Verhältnis zum Staate, als künftige Residenz in königlichem Maßstab anlegte, seine Kriege, diplomatischen Aktionen, Straßensysteme, Syndikate, Heere, sein Begriff von der »großen Pflicht des Gehirnmenschen gegenüber der Zivilisation« – alles das ist, groß und vornehm, das Vorspiel einer uns noch vorbehaltenen Zukunft, mit der die Geschichte des westeuropäischen Menschen endgültig schließen wird.“ (Ebd., S. 52-53Spengler).

„Wer nicht begreift, daß sich an diesem Ausgang nichts ändern läßt, daß man dies wollen muß oder gar nichts, daß man dies Schicksal lieben oder an der Zukunft, am Leben verzweifeln muß, wer das Großartige nicht empfindet, das auch in dieser Wirksamkeit gewaltiger Intelligenzen, dieser Energie und Disziplin metallharter Naturen, diesem Kampf mit den kältesten, abstraktesten Mitteln liegt, wer mit dem Idealismus eines Provinzialen herumgeht und den Lebensstil verflossener Zeiten sucht, der muß es aufgeben, Geschichte verstehen, Geschichte durchleben, Geschichte schaffen zu wollen.“ (Ebd., S. 53Spengler).

„So erscheint das Imperium Romanum nicht mehr als ein einmaliges Phänomen, sondern als normales Produkt einer strengen und energischen, weltstädtischen, eminent praktischen Geistigkeit und als typischer Endzustand, der schon einige Male dagewesen, aber bisher nicht identifiziert worden ist. Begreifen wir endlich, daß das Geheimnis der historischen Form nicht an der Oberfläche liegt und nicht durch Ähnlichkeiten des Kostüms oder der Szene zu fassen ist, daß es in der menschlichen so gut wie in der Tier- und Pflanzengeschichte Erscheinungen von täuschender Ähnlichkeit gibt, die innerlich nichts Verwandtes besitzen – Karl der Große und Harun al Raschid, Alexander und Cäsar, die Germanenkriege gegen Rom und die Mongolenstürme gegen Westeuropa – und andere, die bei größter äußerer Verschiedenheit Identisches zum Ausdruck bringen wie Trajan und Ramses II., die Bourbonen und der attische Demos, Mohammed und Pythagoras. Kommen wir zur Einsicht, daß das 19. und 20. Jahrhundert, vermeintlich der Gipfel einer geradlinig ansteigenden Weltgeschichte, als Altersstufe tatsächlich in jeder bis zum Ende gereiften Kultur nachzuweisen ist, nicht mit Sozialisten, Impressionisten, elektrischen Bahnen, Torpedos und Differentialgleichungen, die nur zum Körper der Zeit gehören, sondern mit seiner zivilisierten Geistigkeit, die auch ganz andere Möglichkeiten äußerer Gestaltung besitzt, daß die Gegenwart also ein Durchgangsstadium darstellt, das unter gewissen Bedingungen mit Sicherheit eintritt, daß es mithin auch ganz bestimmte spätere Zustände als die heutigen westeuropäischen gibt, daß sie in der abgelaufenen Geschichte schon mehr als einmal dagewesen sind und daß damit die Zukunft des Abendlandes nicht ein uferloses Hinauf und Vorwärts in der Richtung unserer augenblicklichen Ideale und mit phantastischen Zeiträumen ist, sondern ein in Hinsicht auf Form und Dauer streng begrenztes und unausweichlich bestimmtes Einzelereignis der Historie vom Umfange weniger Jahrhunderte, das aus den vorliegenden Beispielen übersehen und in wesentlichen Zügen berechnet werden kann.“ (Ebd., S. 53-54Spengler).

„Wer diese Höhe der Betrachtung erreicht hat, dem fallen alle Früchte von selbst zu. An den einen Gedanken schließen sich, mit ihm lösen sich zwanglos alle Einzelprobleme, welche auf den Gebieten der Religionsforschung, der Kunstgeschichte, der Erkenntniskritik, der Ethik, der Politik, der Nationalökonomie den modernen Geist seit Jahrzehnten und leidenschaftlich, aber ohne den letzten Erfolg beschäftigt haben.“ (Ebd., S. 54Spengler).

„Dieser Gedanke gehört zu den Wahrheiten, die nicht mehr bestritten werden, sobald sie einmal in voller Deutlichkeit ausgesprochen sind. Er gehört zu den innern Notwendigkeiten der Kultur Westeuropas und ihres Weltgefühls. Er ist geeignet, die Lebensanschauung derjenigen von Grund aus zu ändern, die ihn völlig begriffen, das heißt ihn sich innerlich zu eigen gemacht haben. Es bedeutet eine gewaltige Vertiefung des uns natürlichen und notwendigen Weltbildes, daß wir die welthistorische Entwicklung, in der wir stehen und die wir bis jetzt rückwärts als ein organisch Ganzes zu betrachten gelernt haben, nun auch vorwärts in großen Umrissen verfolgen können. Dergleichen hat sich bisher nur der Physiker bei seinen Berechnungen träumen lassen. Es bedeutet, ich wiederhole es noch einmal, auch im Historischen den Ersatz des ptolemäischen durch einen kopernikanischen Aspekt, das heißt eine unermeßliche Erweiterung des Lebenshorizontes.“ (Ebd., S. 54-55Spengler).

„Es stand bis jetzt frei, von der Zukunft zu hoffen, was man wollte. Wo es keine Tatsachen gibt, regiert das Gefühl. Künftig wird es jedem Pflicht sein, vom Kommenden zu erfahren, was geschehen kann und also geschehen wird, mit der unabänderlichen Notwendigkeit eines Schicksals, und was also von persönlichen Idealen, Hoffnungen und Wünschen ganz unabhängig ist. Gebrauchen wir das bedenkliche Wort Freiheit, so steht es uns nicht mehr frei, dieses oder jenes zu verwirklichen, sondern das Notwendige oder nichts. Dies als »gut« zu empfinden kennzeichnet den Tatsachenmenschen. Es bedauern und tadeln, heißt aber nicht, es ändern können. Zur Geburt gehört der Tod, zur Jugend das Alter, zum Leben überhaupt seine Gestalt und die vorbestimmten Grenzen seiner Dauer. Die Gegenwart ist eine zivilisierte, keine kultivierte Zeit. Damit scheidet eine ganze Reihe von Lebensinhalten als unmöglich aus. Man kann das bedauern und dies Bedauern in eine pessimistische Philosophie und Lyrik kleiden – und man wird das künftig tun –, aber man kann es nicht ändern. Es wird nicht mehr erlaubt sein, im Heute und Morgen mit aller Selbstsicherheit die Geburt oder Blüte von dem anzunehmen, was man gerade wünscht, wenn auch die historische Erfahrung laut genug dagegen redet.“ (Ebd., S. 55Spengler).

„Ich bin auf den Einwand gefaßt, daß ein solcher Weltaspekt, der über die Umrisse und die Richtung der Zukunft Gewißheit gibt und weitgehende Hoffnungen abschneidet, lebensfeindlich und für viele ein Verhängnis sei, falls er einmal mehr als bloße Theorie, falls er die praktische Weltanschauung der für die Gestaltung der Zukunft wirklich in Betracht kommenden Gruppe von Persönlichkeiten würde.“ (Ebd., S. 55-56Spengler).

„Ich bin nicht der Meinung. Wir sind zivilisierte Menschen, nicht Menschen der Gotik und des Rokoko; wir haben mit den harten und kalten Tatsachen eines späten Lebens zu rechnen, dessen Parallele nicht im perikleischen Athen, sondern im cäsarischen Rom liegt. Von einer großen Malerei und Musik wird für den westeuropäischen Menschen nicht mehr die Rede sein. Seine architektonischen Möglichkeiten sind seit hundert Jahren erschöpft. Ihm sind nur extensive Möglichkeiten geblieben. Aber ich sehe den Nachteil nicht, der entstehen könnte, wenn eine tüchtige und von unbegrenzten Hoffnungen geschwellte Generation beizeiten erfährt, daß ein Teil dieser Hoffnungen zu Fehlschlägen führen muß. Mögen es die teuersten sein; wer etwas wert ist, wird das überwinden. Es ist wahr, daß es für einzelne tragisch ausgehen kann, wenn sich ihrer in den entscheidenden Jahren die Gewißheit bemächtigt, daß im Bereiche der Architektur, des Dramas, der Malerei, für sie nichts mehr zu erobern ist. Mögen sie zugrunde gehen. Man war sich bisher einig darüber, hier keinerlei Schranken anzuerkennen; man glaubte, daß jede Zeit auf jedem Gebiete auch ihre Aufgabe habe; man fand sie, wenn es sein mußte, mit Gewalt und schlechtem Gewissen, und jedenfalls stellte es sich erst nach dem Tode heraus, ob der Glaube einen Grund hatte und ob die Arbeit eines Lebens notwendig oder überflüssig gewesen war. Aber jeder, der nicht bloßer Romantiker ist, wird diese Ausflucht ablehnen. Das ist nicht der Stolz, der die Römer auszeichnete. Was liegt an denen, die es vorziehen, wenn man vor einer erschöpften Erzgrube ihnen sagt: Hier wird morgen eine neue Ader angeschlagen werden – wie es die augenblickliche Kunst mit ihren durch und durch unwahren Stilbildungen tut –, statt sie auf das reiche Tonlager zu verweisen, das unerschlossen daneben liegt? – Ich betrachte diese Lehre als eine Wohltat für die kommenden Generationen, weil sie ihnen zeigt, was möglich und also notwendig ist und was nicht zu den innern Möglichkeiten der Zeit gehört. Es ist bisher eine Unsumme von Geist und Kraft auf falschen Wegen verschwendet worden. Der westeuropäische Mensch, so historisch er denkt und fühlt, ist in einem gewissen Lebensalter sich nie seiner eigentlichen Richtung bewußt. Er tastet und sucht und verirrt sich, wenn die äußeren Anlässe ihm nicht günstig sind. Hier endlich hat die Arbeit von Jahrhunderten ihm die Möglichkeit gegeben, die Lage seines Lebens im Zusammenhang mit der Gesamtkultur zu übersehen und zu prüfen, was er kann und soll. Wenn unter dem Eindruck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche, und man kann ihnen nichts Besseres wünschen.“ (Ebd., S. 56-57Spengler).

„Es bleibt noch das Verhältnis einer Morphologie der Weltgeschichte zur Philosophie festzustellen. Jede echte Geschichtsbetrachtung ist echte Philosophie – oder bloße Ameisenarbeit. Aber der systematische Philosoph bewegt sich, was die Dauer seiner Ergebnisse betrifft, in einem schweren Irrtum. Er übersieht die Tatsache, daß jeder Gedanke in einer geschichtlichen Welt lebt und damit das allgemeine Schicksal der Vergänglichkeit teilt. Er meint, daß das höhere Denken einen ewigen und unveränderlichen Gegenstand besitze, daß die großen Fragen zu allen Zeiten dieselben seien und daß sie endlich einmal beantwortet werden könnten.“ (Ebd., S. 57Spengler).

„Aber Frage und Antwort sind hier eins, und jede große Frage, der das leidenschaftliche Verlangen nach einer ganz bestimmten Antwort schon zugrunde liegt, hat lediglich die Bedeutung eines Lebenssymbols. Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Jede Philosophie ist ein Ausdruck ihrer und nur ihrer Zeit, und es gibt nicht zwei Zeitalter, welche die gleichen philosophischen Intentionen besäßen, sobald von wirklicher Philosophie und nicht von irgendwelchen akademischen Belanglosigkeiten über Urteilsformen oder Gefühlskategorien die Rede sein soll. Der Unterschied liegt nicht zwischen unsterblichen und vergänglichen Lehren, sondern zwischen Lehren, welche eine Zeitlang oder niemals lebendig sind. Unvergänglichkeit gewordner Gedanken ist eine Illusion. Das Wesentliche ist, was für ein Mensch in ihnen Gestalt gewinnt. Je größer der Mensch, um so wahrer die Philosophie – im Sinne der inneren Wahrheit eines großen Kunstwerkes nämlich, was von der Beweisbarkeit und selbst Widerspruchslosigkeit der einzelnen Sätze unabhängig ist. Im höchsten Falle kann sie den ganzen Gehalt einer Zeit erschöpfen, in sich verwirklichen und ihn so, in einer großen Form, in einer großen Persönlichkeit verkörpert, der ferneren Entwicklung übergeben. Das wissenschaftliche Kostüm, die gelehrte Maske einer Philosophie entscheidet hier nichts. Nichts ist einfacher, als an Stelle von Gedanken, die man nicht hat, ein System zu begründen. Aber selbst ein guter Gedanke ist wenig wert, wenn er von einem Flachkopf ausgesprochen wird. Allein die Notwendigkeit für das Leben entscheidet über den Rang einer Lehre.“ (Ebd., S. 57-58Spengler).

„Deshalb sehe ich den Prüfstein für den Wert eines Denkers in seinem Blick für die großen Tatsachen seiner Zeit. Erst hier entscheidet es sich, ob jemand nur ein geschickter Schmied von Systemen und Prinzipien ist, ob er sich nur mit Gewandtheit und Belesenheit in Definition und Analysen bewegt – oder ob es die Seele der Zeit selbst ist, die aus seinen Werken und Intuitionen redet. Ein Philosoph, der nicht auch die Wirklichkeit ergreift und beherrscht, wird niemals ersten Ranges sein. Die Vorsokratiker waren Kaufleute und Politiker großen Stils. Plato kostete es fast das Leben, daß er in Syrakus seine politischen Gedanken hatte verwirklichen wollen. Derselbe Plato hat jene Reihe geometrischer Sätze gefunden, die es Euklid erst möglich machten, das System der antiken Mathematik aufzubauen. Pascal, den Nietzsche nur als den »gebrochenen Christen« kennt, Descartes, Leibniz waren die ersten Mathematiker und Techniker ihrer Zeit.“ (Ebd., S. 58Spengler).

„Die großen »Vorsokratiker« Chinas von Kuan-tse (um 670) bis auf Konfuzius (550–478) waren Staatsmänner, Regenten, Gesetzgeber wie Pythagoras und Parmenides, Hobbes und Leibniz. Erst mit Laotse, dem Gegner aller Staatsgewalt und großen Politik, dem Schwärmer für kleine friedliche Gemeinschaften, erscheint die Weltfremdheit und Tatenscheu einer beginnenden Katheder- und Winkelphilosophie. Aber er war zu seiner Zeit, dem ancien régime Chinas, eine Ausnahme gegenüber jenem starken Philosophentypus, für den Erkenntnistheorie Kenntnis der großen Verhältnisse des wirklichen Lebens bedeutete.“ (Ebd., S. 58-59Spengler).

„Und hier finde ich einen starken Einwand gegen alle Philosophen der jüngsten Vergangenheit. Was ihnen fehlt, ist der entscheidende Rang im wirklichen Leben. Keiner von ihnen hat in die hohe Politik, in die Entwicklung der modernen Technik, des Verkehrs, der Volkswirtschaft, in irgendeine Art von großer Wirklichkeit auch nur mit einer Tat, einem mächtigen Gedanken entscheidend eingegriffen. Keiner zählt in der Mathematik, der Physik, der Staatswissenschaft im geringsten mit, wie es noch bei Kant der Fall war. Was das bedeutet, lehrt ein Blick auf andere Zeiten.“ (Ebd., S. 59Spengler).

„Konfuzius war mehrmals Minister; Pythagoras hat eine bedeutsame, an den Staat Cromwells erinnernde und von der Altertumsforschung noch immer weit unterschätzte politische Bewegung organisiert.“ (Ebd., S. 59Spengler).

„Goethe, dessen ministerielle Amtsführung mustergültig war und dem leider ein großer Staat als Wirkungskreis gefehlt hat, wandte sein Interesse dem Bau des Suez- und Panamakanals, den er innerhalb einer genau eingetroffenen Frist voraussah, und dessen weltwirtschaftlichen Folgen zu. Das amerikanische Wirtschaftsleben, seine Rückwirkung auf das alte Europa und die eben im Aufstieg begriffene Maschinenindustrie haben ihn immer wieder beschäftigt.“ (Ebd., S. 59Spengler).

„Hobbes war einer der Väter des großen Planes, Südamerika für England zu erwerben, und wenn es auch damals bei der Besetzung von Jamaika blieb, so hat er doch den Ruhm, ein Mitbegründer des englischen Kolonialreiches zu sein.“ (Ebd., S. 59Spengler).

„Leibniz, sicherlich der mächtigste Geist in der westeuropäischen Philosophie, der Begründer der Differentialrechnung und der analysis situs, hat neben einer ganzen Reihe von hochpolitischen Plänen, an denen er mitwirkte, in einer zum Zweck der politischen Entlastung Deutschlands entworfenen Denkschrift an Ludwig XIV. die Bedeutung Ägyptens für die französische Weltpolitik dargelegt. Seine Gedanken waren der Zeit (1672) so weit vorausgeschritten, daß man später überzeugt war, Napoleon habe sie bei seiner Expedition nach dem Orient benützt. Leibniz stellte schon damals fest, was Napoleon seit Wagram (1809) immer deutlicher begriff, daß Erwerbungen am Rhein und in Belgien die Stellung Frankreichs nicht dauernd verbessern könnten und daß die Landenge von Suez eine Tages der Schlüssel zur Weltherrschaft sein werde. Ohen Zweifel war der König den tiefen politischen und strategischen Ausfürhrungen des Philosophen nicht gewachsen.“ (Ebd., S. 59-60Spengler).

„Ein Blick von Menschen solchen Formats auf heutige Philosophen ist beschämend. Welche Geringfügigkeit der Person! Welche Alltäglichkeit des politischen und praktischen Horizontes! Wie kommt es, daß die bloße Vorstellung, einer von ihnen solle seinen geistigen Rang als Staatsmann, als Diplomat, als Organisator großen Stils, als Leiter irgendeines mächtigen kolonialen, kaufmännischen oder Verkehrsunternehmens beweisen, geradezu Mitleid erregt? Aber das ist kein Zeichen von Innerlichkeit, sondern von Mangel an Gewicht. Ich sehe mich vergebens um, wo einer von ihnen auch nur durch ein tiefes und vorauseilendes Urteil in einer entscheidenden Zeitfrage sich einen Namen gemacht hätte. Ich finde nichts als Provinzmeinungen, wie sie jeder hat. Ich frage mich, wenn ich das Buch eines modernen Denkers zur Hand nehme, was er vom Tatsächlichen der Weltpolitik, von den großen Problemen der Weltstädte, des Kapitalismus, der Zukunft des Staates, des Verhältnisses der Technik zum Ausgang der Zivilisation, des Russentums, der Wissenschaft überhaupt ahnt. Goethe hätte das alles verstanden und geliebt. Von lebenden Philosophen übersieht es nicht einer. Das ist, ich wiederhole es, nicht Inhalt der Philosophie, aber ein unzweifelhaftes Symptom ihrer inneren Notwendigkeit, ihrer Fruchtbarkeit und ihres symbolischen Ranges.“ (Ebd., S. 60Spengler).

„Ich liebe die Tiefe und Feinheit mathematischer und physikalischer Theorien, denen gegenüber der Ästhetiker und Physiolog ein Stümper ist.“ (Ebd., S. 61Spengler).

„Wir können es nicht ändern, daß wir als Menschen des beginnenden Winters der vollen Zivilisation und nicht auf der Sonnenhöhe einer reifen Kultur zur Zeit des Phidias oder Mozart geboren sind.“ (Ebd., S. 62Spengler). (Phidias oder Mozart lebten kulturell nicht im Hochsommer [Hochsommer), sondern im Spätsommer [Spätsommer], und Spenglers Zeit war die der Herbstmitte [Herbstmitte], aber diese Zeit kann ja schon genug Frost, Eis und Schnee bringen. Wir erleben seit etwa 1990 oder 2000 den Beginn des Spätherbstes [Späherbst]. Uns bleibt also immer noch Zeit [etwa 1 bis 2 Jahrhunderte!] bis zum offiziellen Winter. (Tafeln). So’n Untergang kann ganz schön lange dauern. HB Unterschiede).

„Die systematische Philosophie war mit Ausgang des 18. Jahrhunderts vollendet. Kant hatte ihre äußersten Möglichkeiten in eine große und - für den westeuropäischen Geist - vielfach endgültige Form gebracht. Ihr folgt eine ... spezifisch großstädtische, nicht spekulative, sondern praktische, irreligiöse, ethisch-gesellschaftliche Philosophie. Sie beginnt ... im Abendlande mit Schopenhauer, der zuerst den Willen zum Leben (»schöpferische Lebenskraft« Alte Schule) in den Mittelpunkt stellte, aber, was die tiefere Tendenz seiner Lehre verschleiert hat, die veralteten Unterscheidungen von der Erscheinung und dem Ding an sich, von Form und Inhalt der Anschauung, von Verstand und Vernunft unter dem Eindruck einer großen Tradition noch beibehielt. Es ist derselbe schöpferische Lebenswille, der im Tristan schopenhauerisch verneint, im Siegfried darwinistisch bejaht wurde, den Nietzsche im Zarathustra glänzend und theatralisch formulierte, der durch den Hegelianer Marx (Marx) der Anlaß einer nationalökonomischen, durch den Malthusianer Darwin (Darwin) der einer zoologischen Hypothese wurde, die beide gemeinsam und unvermerkt das Weltgefühl des westeuropäischen Großstädters verwandelt haben, und der von Hebbels »Judith« bis zu Ibsens Epilog eine Reihe tragischer Konzeptionen von gleichem Typus hervorrief, damit aber ebenfalls den Umkreis echter philosophischer Möglichkeiten erschöpft hat.“ (Ebd., S. 63Spengler).

„Die systematische Philosophie liegt uns heute unendlich fern; die ethische ist abgeschlossen. Es bleibt noch eine dritte, dem antiken Skeptizismus entsprechende Möglichkeit innerhalb der abendländischen Geisteswelt, die, welche durch die bisher unbekannte Methode der vergleichenden historischen Morphologie bezeichnet wird. Eine Möglichkeit, das heißt eine Notwendigkeit. Der antike Skeptizismus ist ahistorisch: er zweifelt, indem er einfach nein sagt. Der des Abendlandes muß, wenn er innere Notwendigkeit besitzen, wenn er ein Symbol unseres dem Ende sich zuneigenden Seelentums sein soll, durch und durch historisch sein. Er hebt auf, indem er alles als relativ, als geschichtliche Erscheinung versteht. Er verfährt physiognomisch. Die skeptische Philosophie tritt im Hellenismus als Negation der Philosophie auf - man erklärt sie für zwecklos. Wir nehmen demgegenüber die Geschichte der Philosophie als letztes ernsthaftes Thema der Philosophie an. Das ist Skepsis. Man verzichtet auf absolute Standpunkte, der Grieche, indem er über die Vergangenheit seines Denkens lächelt, wir, indem wir sie als Organismus begreifen.“ (Ebd., S. 63-64Spengler).

„In diesem Buche liegt der Versuch vor, diese »unphilosophische Philosophie« der Zukunft - es würde die letzte Westeuropas sein - zu skizzieren. (Zukunft der Philosophie). Der Skeptizismus ist Ausdruck einer reinen Zivilisation; er zersetzt das Weltbild der voraufgegangenen Kultur. Hier erfolgt die Auflösung aller älteren Probleme ins Genetische. Die Überzeugung, daß alles, was ist, auch geworden ist, daß allem Naturhaften und Erkennbaren ein Historisches zugrunde liegt, ... auch Ausdruck eines Lebendigen sein muß. Auch Erkenntnisse und Wertungen sind Akte lebender Menschen. Dem vergangenen Denken war die äußere Wirklichkeit Erkenntnisprodukt und Anlaß ethischer Schätzungen; dem künftigen ist sie vor allem Ausdruck und Symbol. Die Morphologie der Weltgeschichte wird notwendig zu einer universellen Symbolik. (Spengler). Damit fällt auch der Anspruch des höheren Denkens, allgemeine und ewige Wahrheiten zu besitzen. Wahrheiten gibt es nur in bezug auf ein bestimmtes Menschentum. Meine Philosophie selbst würde demnach Ausdruck und Spiegelung nur der abendländischen Seele, im Unterschiede etwa von der antiken und indischen, und zwar nur in deren heutigem zivilisierten Stadium sein, womit ihr Gehalt als Weltanschauung, ihre praktische Tragweite und ihr Geltungsbereich bestimmt sind.“ (Ebd., S. 64Spengler).

„Damit fällt auch der Anspruch des höheren Denkens, allgemeine und ewige Wahrheiten zu besitzen. Wahrheiten gibt es nur in bezug auf ein bestimmtes Menschentum. Meine Philosophie selbst würde demnach Ausdruck und Spiegelung nur der abendländischen Seele, im Unterschiede etwa von der antiken und indischen, und zwar nur in deren heutigem zivilisierten Stadium sein, womit ihr Gehalt als Weltanschauung, ihre praktische Tragweite und ihr Geltungsbereich bestimmt sind“ (Ebd., S. 64Spengler).

„Endlich sei eine persönliche Bemerkung gestattet. Im Jahre 1911 hatte ich die Absicht, über einige politische Erscheinungen der Gegenwart und die aus ihnen möglichen Schlüsse für die Zukunft etwas aus einem weiteren Horizont zusammenzustellen. Der Weltkrieg – als die bereits unvermeidlich gewordene äußere Form der historischen Krisis – stand damals unmittelbar bevor, und es handelte sich darum, ihn aus dem Geiste der voraufgehenden Jahrhunderte – nicht Jahre – zu begreifen. Im Verlauf der ursprünglich kleinen Arbeit (sie ist jetzt in Band II, S. 1081 f. [Spengler], 1122 f. [Spengler], 1190 f. [Spengler] aufgegangen) drängte sich die Überzeugung auf, daß zu einem wirklichen Verständnis der Epoche der Umfang der Grundlagen viel breiter gewählt werden müsse, daß es völlig unmöglich sei, eine Untersuchung dieser Art auf eine einzelne Zeit und deren politischen Tatsachenkreis zu beschränken, sie im Rahmen pragmatischer Erwägungen zu halten und selbst auf rein metaphysische, höchst transzendente Betrachtungen zu verzichten, wenn man nicht auch auf jede tiefere Notwendigkeit der Resultate Verzicht leisten wollte. Es wurde deutlich, daß ein politisches Problem nicht von der Politik selbst aus begriffen werden kann und daß wesentliche Züge, die in der Tiefe mitwirken, oft nur auf dem Gebiete der Kunst, oft sogar nur in Gestalt weit entlegener wissenschaftlicher und rein philosophischer Gedanken greifbar in Erscheinung treten. Selbst eine politisch-soziale Analyse der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, eines Stadiums gespannter Ruhe zwischen zwei mächtigen, weithin sichtbaren Ereignissen, dem einen, das durch die Revolution und Napoleon das Bild der westeuropäischen Wirklichkeit für hundert Jahre bestimmt hat, und einem andern von mindestens der gleichen Tragweite, das sich mit wachsender Geschwindigkeit näherte, erwies sich als unausführbar, ohne daß zuletzt alle großen Probleme des Seins in ihrem vollen Umfang einbezogen wurden. Denn es tritt im historischen wie im naturhaften Weltbilde nicht das geringste hervor, ohne daß in ihm die ganze Summe aller tiefsten Tendenzen verkörpert wäre. So erfuhr das ursprüngliche Thema eine ungeheure Erweiterung. Eine Unzahl überraschender, großenteils ganz neuer Fragen und Zusammenhänge drängte sich auf. Endlich war es vollkommen klar, daß kein Fragment der Geschichte wirklich durchleuchtet werden könne, bevor nicht das Geheimnis der Weltgeschichte überhaupt, genauer das der Geschichte des höheren Menschentums als einer organischen Einheit von regelmäßiger Struktur klargestellt war. Und eben das war bisher nicht entfernt geleistet worden.“ (Ebd., S. 65-66Spengler).

„Von diesem Augenblick an traten in wachsender Fülle die oft geahnten, zuweilen berührten, nie begriffenen Beziehungen hervor, welche die Formen der bildenden Künste mit denen des Krieges und der Staatsverwaltung verbinden, die tiefe Verwandtschaft zwischen politischen und mathematischen Gebilden derselben Kultur, zwischen religiösen und technischen Anschauungen, zwischen Mathematik, Musik und Plastik, zwischen wirtschaftlichen und Erkenntnis-Formen. Die tiefinnerliche Abhängigkeit der modernsten physikalischen und chemischen Theorien von den mythologischen Vorstellungen unsrer germanischen Ahnen, die vollkommene Kongruenz im Stil der Tragödie, der dynamischen Technik und des heutigen Geldverkehrs, die zuerst bizarre, dann selbstverständliche Tatsache, daß die Perspektive der Ölmalerei, der Buchdruck, das Kreditsystem, die Fernwaffe, die kontrapunktische Musik einerseits, die nackte Statue, die Polis, die von den Griechen erfundene Geldmünze andrerseits identische Ausdrücke eines und desselben seelischen Prinzips sind, wurde unzweifelhaft deutlich, und weit darüber hinaus rückte die Tatsache ins hellste Licht, daß diese mächtigen Gruppen morphologischer Verwandtschaften, von denen jede einzelne eine besondere Art Mensch im Gesamtbilde der Weltgeschichte symbolisch darstellt, von streng symmetrischem Aufbau sind. Erst diese Perspektive legt den wahren Stil der Geschichte bloß. Sie läßt sich, da sie selbst wiederum Symptom und Ausdruck einer Zeit, und erst heute und nur für den westeuropäischen Menschen innerlich möglich und damit notwendig ist, nur mit gewissen Anschauungen der modernsten Mathematik auf dem Gebiete der Transformationsgruppen entfernt vergleichen. Es waren dies Gedanken, die mich seit langen Jahren beschäftigt hatten, aber dunkel und unbestimmt, bis sie aus diesem Anlaß in greifbarer Gestalt hervortraten“ (Ebd., S. 66-67Spengler).

„Ich sah die Gegenwart – den sich nähernden Weltkrieg – in einem ganz andern Licht. Das war nicht mehr eine einmalige Konstellation zufälliger, von nationalen Stimmungen, persönlichen Einwirkungen und wirtschaftlichen Tendenzen abhängiger Tatsachen, denen der Historiker durch irgendein kausales Schema politischer oder sozialer Natur den Anschein der Einheit und sachlichen Notwendigkeit aufprägt: das war der Typus einer historischen Zeitwende, die innerhalb eines großen historischen Organismus von genau abgrenzbarem Umfange einen biographisch seit Jahrhunderten vorbestimmten Platz hatte. Eine Unsumme leidenschaftlichster Fragen und Einsichten, die heute in tausend Büchern und Meinungen, aber zerstreut, vereinzelt, aus dem beschränkten Horizont eines Spezialgebietes zutage traten und deshalb reizen, bedrücken und verwirren, aber nicht befreien konnten, bezeichnet die große Krisis. Man kennt sie, aber man übersieht ihre Identität. Ich nenne die in ihrer letzten Bedeutung gar nicht begriffenen Kunstprobleme, die dem Streit um Form und Inhalt, um Linie oder Raum, um das Zeichnerische oder Malerische, dem Begriff des Stils, dem Sinn des Impressionismus und der Musik Wagners zugrunde liegen; den Niedergang der Kunst, den wachsenden Zweifel am Werte der Wissenschaft; die schweren Fragen, welche aus dem Sieg der Weltstadt über das Bauerntum hervorgehen: die Kinderlosigkeit, die Landflucht; den sozialen Rang des fluktuierenden vierten Standes; die Krisis im Materialismus, im Sozialismus, im Parlamentarismus; die Stellung des einzelnen zum Staate; das Eigentumsproblem, das davon abhängende Eheproblem; auf scheinbar ganz anderm Gebiete die massenhaften völkerpsychologischen Arbeiten über Mythen und Kulte, über die Anfänge der Kunst, der Religion, des Denkens, die mit einem Male nicht mehr ideologisch, sondern streng morphologisch behandelt wurden – Fragen, die alle das eine, nie mit hinreichender Deutlichkeit ins Bewußtsein tretende Rätsel der Historie überhaupt zum Ziel hatten. Hier lagen nicht unzählige, sondern stets ein und dieselbe Aufgabe vor. Hier hatte jeder etwas geahnt, aber keiner von seinem engen Standpunkte aus die einzige und umfassende Lösung gefunden, die seit den Tagen Nietzsches in der Luft lag, der alle entscheidenden Probleme bereits in Händen hielt, ohne daß er als Romantiker gewagt hätte, der strengen Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen.“ (Ebd., S. 67-68Spengler).

„Darin liegt aber auch die tiefe Notwendigkeit der abschließenden Lehre, die kommen mußte und nur zu dieser Zeit kommen konnte. Sie ist kein Angriff auf das Vorhandene an Ideen und Werken. Sie bestätigt vielmehr alles, was seit Generationen gesucht und geleistet wurde. Dieser Skeptizismus stellt den Inbegriff dessen dar, was auf allen Einzelgebieten, gleichviel in welcher Absicht, an wirklich lebendigen Tendenzen vorliegt.“ (Ebd., S. 68Spengler).

„Vor allem aber fand sich endlich der Gegensatz, aus dem allein das Wesen der Geschichte erfaßt werden kann: der von Geschichte und Natur. Ich wiederhole: der Mensch ist als Element und Träger der Welt nicht nur Glied der Natur, sondern auch Glied der Geschichte, eines zweiten Kosmos von andrer Ordnung und andrem Gehalte, der von der gesamten Metaphysik zugunsten des ersten vernachlässigt worden ist. Was mich zum ersten Nachdenken über diese Grundfrage unsres Weltbewußtseins brachte, war die Beobachtung, daß der heutige Historiker, an den sinnlich greifbaren Ereignissen, dem Gewordenen herumtastend, die Geschichte, das Geschehen, das Werden selbst bereits ergriffen zu haben glaubt, ein Vorurteil aller nur verstandesmäßig Erkennenden, nicht auch Schauenden (SpenglerSpengler), das schon die großen Eleaten stutzig gemacht hatte, als sie behaupteten, daß es, für den Erkennenden nämlich, kein Werden, nur ein Sein (Gewordensein) gebe. Mit anderen Worten: man sah die Geschichte als Natur, im Objektsinne des Physikers, und behandelte sie danach. Von hierher schreibt sich der folgenschwere Mißgriff, die Prinzipien der Kausalität, des Gesetzes, des Systems, also die Struktur des starren Seins in den Aspekt des Geschehens zu legen. Man verhielt sich, als gebe es eine menschliche Kultur, etwa wie es Elektrizität oder Gravitation gibt, mit den im wesentlichen gleichen Möglichkeiten der Analyse; man hatte den Ehrgeiz, die Gewohnheiten des Naturforschers zu kopieren, so daß man wohl gelegentlich fragte, was denn die Gotik, der Islam, die antike Polis sei, nicht aber, warum diese Symbole eines Lebendigen gerade damals und dort auftauchen mußten, in dieser Form und für diese Dauer. Man begnügte sich, sobald eine der zahllosen Ähnlichkeiten räumlich und zeitlich weit getrennter Geschichtsphänomene zutage trat, sie einfach zu registrieren, mit einigen geistvollen Bemerkungen über das Wunderbare des Zusammentreffens, über Rhodos als das »Venedig des Altertums« oder Napoleon als den neuen Alexander, statt gerade hier, wo das Schicksalsproblem als das eigentliche Problem der Historie (das Problem der Zeit nämlich) hervortritt, den höchsten Ernst wissenschaftlich geregelter Physiognomik einzusetzen und die Antwort auf die Frage zu finden, welche ganz anders geartete Notwendigkeit, der kausalen ganz und gar fremd, hier am Werke ist. Daß jede Erscheinung auch dadurch ein metaphysisches Rätsel aufgibt, daß sie zu einer niemals gleichgültigen Zeit auftritt, daß man sich auch noch fragen muß, was für ein lebendiger Zusammenhang neben dem anorganisch-naturgesetzlichen im Weltbilde besteht – das ja die Ausstrahlung des ganzen Menschen und nicht, wie Kant meinte, nur die des erkennenden ist –, daß eine Erscheinung nicht nur Tatsache für den Verstand, sondern auch Ausdruck des Seelischen ist, nicht nur Objekt, sondern auch Symbol, und zwar von den höchsten religiösen und künstlerischen Schöpfungen an bis zu den Geringfügigkeiten des Alltagslebens, das war philosophisch etwas Neues.“ (Ebd., S. 68-70Spengler).

„Die Philosophie dieses Buches verdanke ich der Philosophie Goethes, der heute noch so gut wie unbekannten, und erst in viel geringerem Grade der Philosophie Nietzsches. Die Stellung Goethes in der westeuropäischen Metaphysik ist noch gar nicht verstanden worden. Man nennt ihn nicht einmal, wenn von Plillosophie die Rede ist. Unglücklicherweise hat er seine Lehre nicht in einem starren System niedergelegt; deshalb übersehen ihn die Systematiker. Aber er war Philosoph. Er nimmt Kant gegenüber dieselbe Stellung ein wie Plato gegenüber Aristoteles, und es ist ebenfalls eine mißliche Sache, Plato in ein System bringen zu wollen. Plato und Goethe repräsentieren die Philosophie des Werdens, Aristoteles und Kant die des Gewordnen. Hier steht Intuition gegen Analyse. Was verstandesmäßig kaum mitzuteilen ist, findet sich in einzelnen Vermerken und Gedichten Goethes wie den Orphischen Urworten, Strophen wie »Wenn im Unendlichen« (GoetheGoethe) und »Sagt es niemand«, die man als Ausdruck einer ganz bestimmten Metaphysik zu betrachten hat. An folgendem Ausspruch möchte ich nicht ein Wort geändert wissen: »Die Gottheit ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordnen und Erstarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu tun, der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze« (zu Eckermann). Dieser Satz enthält meine ganze Philosophie.“ (Ebd., S. 68-69Spengler).

„Endlich sah ich die Lösung deutlich vor mir, in ungeheuren Umrissen, mit voller innerer Notwendigkeit, eine Lösung, die auf ein einziges Prinzip zurückführt, das zu finden war und bisher nicht gefunden wurde, etwas, das mich seit meiner Jugend verfolgt und angezogen hatte und das mich quälte, weil ich es als vorhanden, als Aufgabe empfand, aber nicht fassen konnte. So ist aus dem etwas zufälligen Anlaß das vorliegende Buch entstanden, als der vorläufige Ausdruck eines neuen Weltbildes, mit allen Fehlern eines ersten Versuchs behaftet, ich weiß es wohl, unvollständig und sicher nicht ohne Widersprüche. Dennoch enthält es meiner Überzeugung nach die unwiderlegliche Formulierung eines Gedankens, der, ich sage es noch einmal, nicht bestritten werden wird, sobald er einmal ausgesprochen ist.“ (Ebd., S. 70Spengler).

„Das engere Thema ist also eine Analyse des Unterganges der westeuropäischen, heute über den ganzen Erdball verbreiteten Kultur. Das Ziel aber ist die Entwicklung einer Philosophie und der ihr eigentümlichen, hier zu prüfenden Methode der vergleichenden Morphologie der Weltgeschichte. (Spengler). Die Arbeit zerfällt naturgemäß in zwei Teile. Der erste, »Gestalt und Wirklichkeit« (Spengler), geht von der Formensprache der großen Kulturen aus, sucht bis zu den letzten Wurzeln ihres Ursprungs vorzudringen und gewinnt so die Grundlagen einer Symbolik. Der zweite, »Welthistorische Perspektiven« (Spengler), geht von den Tatsachen des wirklichen Lebens aus und versucht aus der historischen Praxis der höheren Menschheit die Quintessenz der geschichtlichen Erfahrung zu erhalten, auf Grund deren wir die Gestaltung unserer Zukunft in die Hand nehmen können.“ (Ebd., S. 70Spengler).

„Die folgenden Tafeln geben einen Überblick über das, was das Ergebnis der Untersuchung war. (Diese Tafeln sind von mir nur teilweise und aus kontrastiven Gründen dargestellt [zur Originaldarstellung:Spengler]; HB). Sie mögen einen Begriff von der Fruchtbarkeit und Tragweite der neuen Methode geben.“ (Ebd., S. 70Spengler).

NACH OBEN „Tafeln zur vergleichenden Morphologie der Weltgeschichte“ (S. 70) Spengler

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„FRÜHLING“ „SOMMER“ „HERBST“ „WINTER“
„Landschaftlich-intuitiv. Mächtige Schöpfungen einer erwachenden Seele. Überpersönliche Einheit und Fülle. - Geburt eines Mythos großen Stils als Ausdruck eines neuen Gottgefühls. Weltangst und Weltsehnsucht. - Früheste mystisch-metaphysische Gestaltung des neuen Weltblickes. Hochscholastik. ....“ (Ebd., S. 70). „Reifende Bewußtheit. Früheste städtisch-bürgerliche und kritische Regungen. - Reformation: Innerhalb der Religion volksmäßige Auflehnung gegen die großen Formen der Frühzeit. - Beginn einer rein philosophischen Fassung des Weltgefühls. Gegensatz idealistischer und realistischer Systeme. - Bildung einer neuen Mathematik. Konzeption der Zahl als Abbild und Inbegriff der Weltform. - Puritanismus: rationalistisch-mystische Verarmung des Religiösen. ....“ (Ebd., S. 70). „Großstädtische Intelligenz. Höhepunkt strenggeistiger Gestaltungskraft. - .... - Höhepunkt des mathematischen Denkens. Abklärung der Formenwelt der Zahlen. - Die großen abschließenden Systeme. ....“ (Ebd., S. 70). „Erlöschen der seelischen Gestaltungskraft. Das Leben selbst wird problematisch. Ethisch-praktiusche Tendenzen eines irreligiösen und unmetaphysischen Weltstädtertums. - Materialistische Weltanschauung: Kultus der Wissenschaft, des Nutzens, des Glücks. - Ethisch-geellschaftliche Lebensideale: Epoche der »Philosophie ohne Mathematik«. Skepsis - Innere Vollendung der mathematischen Formenwelt. Die abschließenden Gedanken. ....“
(Ebd., S. 70).
Vgl. meine „Kult-Uhr“:
(6-8)  (8-10)  (10-12)
Diese 3 Phasen decken sich mit Spenglers Angaben fast exakt.
Vgl. meine „Kult-Uhr“:
(12-14)  (14-16)  (16-18)
Diese 3 Phasen decken sich mit Spenglers Angaben nur insoweit, als daß bei Spengler die letzte dieser drei Phasen zumindest zum Teil bereits dem „Herbst“ zugeordnet ist.
Vgl. meine „Kult-Uhr“:
(18-20)  (20-22)  (22-24)
Diese 3 Phasen decken sich mit Spenglers Angaben nur teilweise, weil bei Spengler zum Teil noch die letzte „Sommer“-Phase und ansonsten und ebenfalls nur zum Teil die erste „Herbst“-Phase dem „Herbst“ zugeordnet ist.
Vgl. meine „Kult-Uhr“:
(0-2)  (2-4)  (4-6)
Diese 3 Phasen decken sich mit Spenglers Angaben fast gar nicht, weil bei Spengler schon die erste „Herbst“-Phase zu ca. einem Drittel und die anderen beiden Herbst“-Phasen komplett dem „Winter“ zugeordnet sind.
Bei mir beginnt die Kultur-Entwicklung mit dem „Winter“! In ihrem ersten „Winter“ existiert die Kultur im „Uterus“! (HB).   
‹—   „Tafel »gleichzeitiger« Kunstepochen“   —›
„Vorzeit“
(„Winter“ / „Vorzeit“)
„Frühzeit“
(„Frühling“ / „Frühzeit“)
„Spätzeit“
(„Sommer“ / „Hochzeit“)
„Zivilisation“
(„Herbst“ / „Spätzeit“)
„Chaos unmenschlicher Ausdrucksformen. Mystische Symbolik und naive Imitation. ....“ (Ebd., S. 70). „Ornament und Architektur als elementarer Ausdruck des jungen Weltgefühls: »Die Primitiven«. - Geburt und Aufschwung. Aus dem Geiste der Landschaft erwachende, nicht bewußt geschaffene Formen. - Vollendung der frühen Formensprache. Erschöpfung der Möglichkeiten und Widerspruch. ....“ (Ebd., S. 70). „Bildung einer Gruppe städtisch-bewußter, gewählter, von Einzelnen getragener Künste: »Die großen Meister«. - Ausbildung eines reifen Künstlertums. - Äußerste Vollendung einer durchgeistigten Formensprache. - Ermatten der strengen Gestaltungskraft. Auflösung der großen Form. ....“ (Ebd., S. 70). „Das Dasein ohne innere Form. Weltstadtkunst als Gewohnheit, Luxus, Sport, Nervenreiz. Schnellwechselnde Stilmoden [Wiederbelebungen, willkürliche Erfindungen, Entlehnungen] ohne symbolischen Gehalt. - »Moderne Kunst«. Kunst-»Probleme«. Versuch, das Weltstadtbewußtsein zu gestalten und zu reizen. Verwandlung von Musik, Baukunst und Malerei in bloßes Kunstgewerbe. - .... Sinnlose, leere, erkünstelte, gehäufte Architektur und Ornamentik. Nachahmung archaischer und exotischer Motive. - Ausgang. Ausbildung eines starren Formenschatzes. Prunken der Cäsaren mit Materaial und Massenwirkung. Provinziales Kunstgewerbe. ....“ (Ebd., S. 70).
Vgl. meine „Kult-Uhr“:
(0-2)  (2-4)  (4-6)
Was bei Spengler „Vorzeit“ heißt, ist bei mir die „vor-/urkulturelle“ Zeit und heißt entsprechend „Vor-/Urkultur“, „Vor-/Urform“ oder eben auch „Vorzeit“ bzw. „Winter“.
Vgl. meine „Kult-Uhr“:
(6-8)  (8-10)  (10-12)
Was bei Spengler „Frühzeit“ heißt, ist bei mir die „frühkulturelle“ Zeit und heißt entsprechend „Frühkultur“, „Frühform“ oder eben auch „Frühzeit“ bzw. „Frühling“.
Vgl. meine „Kult-Uhr“:
(12-14)  (14-16)  (16-18)
Was bei Spengler „Spätzeit“ heißt, ist bei mir die „hochkulturelle“ Zeit und heißt entsprechend „Hochkultur“, „Hochform“, „Hochzeit“ bzw. „Sommer“ (niemals „Spätzeit“).
Vgl. meine „Kult-Uhr“:
(18-20)  (20-22)  (22-24)
Was bei Spengler „Zivilisation“ heißt, ist bei mir die „spätkulturelle“ Zeit und heißt entsprechend „Spätkultur“, „Spätform“, „Spätzeit“ bzw. „Herbst“, auch „Zivilisation“.
‹—   „Tafel »gleichzeitiger« politischer Epochen“   —›
„Vorzeit“
(„Winter“ / „Vorzeit“)
„Frühzeit“
(„Frühling“ / „Frühzeit“)
„Spätzeit“
(„Sommer“ / „Hochzeit“)
„Zivilisation“
(„Herbst“ / „Spätzeit“)
„Primitiver Völkertypus. Stämme und Häuptlinge. Noch keine »Politik«. Kein »Staat«. ....“ (Ebd., S. 70). „Völkergruppe von ausgeprägtem Stil und einheitlichem Weltgefühl: »Nationen«. Wirkung einer immanenten Staatsidee. - Organische Gliederung des politischen Daseins. Die beiden frühen Stände: Adel und Priestertum. Feudalwirtschaft der reinen Bodenwerte. - Lehnswesen. Geist des bäuerlichen Landes. Die »Stadt« nur Markt oder Burg. Wechselnde Pfalzen der Herrscher. Ritterlich-religiöse Ideale, Kämpfe der Vasallen untereinander und gegen Fürsten. Krisis ...: vom Lehnsverband zum Ständestaat. ....“ (Ebd., S. 70). „Verwirklichung der gereiften Staatsidee. Die Stadt gegen das Land: Entstehung des Dritten Standes [Bürgertum]. Sieg des Geldes über die Güter. - Bildung einer Staatenwelt von strenger Form. Fronde. Höchste Vollendung der Staatsform [»Absolutismus«]. Einheit von Stadt und Land [»Staat und Gesellschaft«, die »drei Stände«]. ....“ (Ebd., S. 70). „Auflösung der jetzt wesentlich großstädtisch veranlagten Volkskörper zu formlosen Massen. Weltstadt und Provinz: Der Vierte Stand [Masse], anorganisch, kosmopolitisch. - Herrschaft des Geldes [der »Demokratie«]. Wirtschaftsmächte die politischen Formen und Gewalten durchdringend. [Ägypten 1675-1550; Antike 300-100; China 480-230; Abendland 1800-2000]. - Ausbildung des Cäsarismus. Sieg der Gewaltpolitik über das Geld. Innerer Zerfall der Nationen in eine formlose Bevölkerung. Deren Zusammenfassung in ein Imperium von allmählich wieder primitiv-despotischem Charakter. [Ägypten 1550-1328; Antike 100 v.C. -100 n.C.; China 230 v:C. - 26 n.C.; Abendland 2000-2200]. - Heranreifen der endgütigen Form: Privat- und Familienpolitik von Einzelherrschern. Die Welt als Beute. Geschichtsloses Erstarren und Ohmacht auch des imperialen Mechanismus gegenüber der Beutelust junger Völker oder fremder Eroberer. Langsames Heraufdringen urmenschlicher Zustände in eine hochzivilisierte Lebenshaltung. [Ägypten 1328-1195; Antike 100-200; China 25-220; Abendland nach 2200].“ (Ebd., S. 70).
Vgl. meine „Kult-Uhr“:
(0-2)  (2-4)  (4-6)
Was bei Spengler „Vorzeit“ heißt, ist bei mir die „vor-/urkulturelle“ Zeit und heißt entsprechend „Vor-/Urkultur“, „Vorform“ oder eben auch „Vorzeit“ bzw. „Winter“.
Vgl. meine „Kult-Uhr“:
(6-8)  (8-10)  (10-12)
Was bei Spengler „Frühzeit“ heißt, ist bei mir die „frühkulturelle“ Zeit und heißt entsprechend „Frühkultur“, „Frühform“ oder eben auch „Frühzeit“ bzw. „Frühling“.
Vgl. meine „Kult-Uhr“:
(12-14)  (14-16)  (16-18)
Was bei Spengler „Spätzeit“ heißt, ist bei mir die „hochkulturelle“ Zeit und heißt entsprechend „Hochkultur“, „Hochform“, „Hochzeit“ bzw. „Sommer“ (niemals „Spätzeit“).
Vgl. meine „Kult-Uhr“:
(18-20)  (20-22)  (22-24)
Was bei Spengler „Zivilisation“ heißt, ist bei mir die „spätkulturelle“ Zeit und heißt entsprechend „Spätkultur“, „Spätform“, „Spätzeit“ bzw. „Herbst“, auch „Zivilisation“.
(* In allen drei Tafeln sind die Spengler-Zitate nicht vollständig und die Angaben nicht immer deckungsgleich mit meinen! HB)

NACH OBEN „Vom Sinn der Zahlen“ (S. 71-124):

• Grundbegriffe [S. 71] • Die Zahl als Zeichen der Grenzsetzung [S. 76] • Jede Kultur hat eine eigene Mathematik [S. 79] • Die antike Zahl als Größe [S. 84] • Weltbild des Aristarch [S. 92] • Diophant und die arabische Zahl [S. 96] • Die abendländische Zahl als Funktion [S. 100] • Weltangst und Weltsehnsucht [S. 107] • Geometrie und Arithmetik [S. 110] • Die klassischen Grenzprobleme [S. 117] • Überschreiten der Grenze des Sehsinnes. Symbolische Raumwelten [S. 119] • Letzte Möglichkeiten [S. 122].

„Es ist zunächst notwendig, einige im Verlauf der Betrachtung in einem strengen und teilweise neuen Sinn gebrauchte Grundbegriffe1 zu kennzeichnen, deren metaphysischer Gehalt sich im Laufe der Darstellung von selbst ergeben wird, die aber schon am Anfang unzweideutig bestimmt sein müssen.“ (Ebd., S. 71Spengler).

„Der volkstümliche, auch der Philosophie geläufige Unterschied von Sein und Werden erscheint ungeeignet, das Wesentliche des mit ihm bezweckten Gegensatzes wirklich zu treffen. Ein unendliches Werden – Wirken, »Wirklichkeit« – wird man immer, wofür etwa die physikalischen Begriffe der gleichförmigen Geschwindigkeit und des Bewegungszustandes oder die Grundvorstellung der kinetischen Gas-Theorie als Beispiele dienen können, auch als Zustand auffassen und also dem Sein zuordnen dürfen. Dagegen lassen sich – mit Goethe – als letzte Elemente des in und mit dem Wachsein (»Bewußtsein«) schlechthin Gegebenen das Werden und das Gewordene unterscheiden. Jedenfalls ist, wenn man an der Möglichkeit zweifelt, durch abstrakte Begriffsbildungen den letzten Gründen des Menschlichen nahe zu kommen, das sehr klare und bestimmte Gefühl, aus welchem dieser fundamentale, die äußersten Grenzen des Wachseins berührende Gegensatz hervorgeht, das ursprünglichste Etwas, bis zu dem man überhaupt gelangen kann.“ (Ebd., S. 71Spengler).

„Es folgt daraus mit Notwendigkeit, daß immer ein Werden dem Gewordenen zugrunde liegt, nicht umgekehrt.“ (Ebd., S. 71Spengler).

„Gibt man den Begriffen des Werdens und des Gewordnen eine Anwendung auf diese Struktur des Wachseins als der Spannung von Gegensätzen, so erhält das Wort Leben einen ganz bestimmten, dem des Werdens nahe verwandten Sinn. Man darf Werden und Gewordnes als die Gestalt bezeichnen, in welcher die Tatsache und das Ergebnis des Lebens für das Wachsein vorhanden sind. Das eigne, fortschreitende, ständig sich erfüllende Leben wird, solange der Mensch wach ist, durch das Element des Werdens in seinem Wachsein dargestellt – diese Tatsache heißt Gegenwart – und es besitzt wie alles Werden das geheimnisvolle Merkmal der Richtung, das der Mensch in allen höheren Sprachen durch das Wort Zeit und die daran sich knüpfenden Probleme geistig zu bannen und – vergeblich – zu deuten versucht hat. Es folgt daraus eine tiefe Beziehung des Gewordenen (Starren) zum Tode.“ (Ebd., S. 73Spengler).

„Nennt man die Seele – und zwar ihre erfühlte Art, nicht ihr gedachtes und vorgestelltes Bild – das Mögliche, die Welt dagegen das Wirkliche, Ausdrücke, über deren Bedeutung ein inneres Gefühl keinen Zweifel läßt, so erscheint das Leben als die Gestalt, in welcher sich die Verwirklichung des Möglichen vollzieht. Im Hinblick auf das Merkmal der Richtung heißt das Mögliche Zukunft, das Verwirklichte Vergangenheit. Die Verwirklichung selbst, die Mitte und den Sinn des Lebens, nennen wir Gegenwart. »Seele« ist das zu Vollendende, »Welt« das Vollendete, »Leben« die Vollendung. Die Ausdrücke Augenblick, Dauer, Entwicklung, Lebensinhalt, Bestimmung, Umfang, Ziel, Fülle und Leere des Lebens erhalten damit eine bestimmte, für alles Folgende, namentlich für das Verständnis historischer Phänomene wesentliche Bedeutung.“ (Ebd., S. 73Spengler).

„Endlich sollen die Worte Geschichte und Natur, wie schon erwähnt, in einem ganz bestimmten, bisher nicht üblichen Sinne angewandt werden. Es sind darunter mögliche Arten zu verstehen, die Gesamtheit des Bewußten, Werden und Gewordenes, Leben und Erlebtes, in einem einheitlichen, durchgeistigten, wohlgeordneten Weltbilde aufzufassen, je nachdem das Werden oder das Gewordne, die Richtung oder die Ausdehnung (»Zeit« und »Raum«) den unteilbaren Eindruck gestaltend beherrschen. Es handelt sich hier nicht um eine Alternative, sondern um eine Reihe von unendlich vielen und sehr verschiedenartigen Möglichkeiten, eine »Außenwelt« als Abglanz und Zeugnis des eignen Daseins zu besitzen, eine Reihe, deren äußerste Glieder eine rein organische und eine rein mechanische Weltanschauung (im wörtlichen Sinne: Anschauung der Welt) sind. Der Urmensch (so wie wir sein Wachsein uns vorstellen) und das Kind (wie wir uns erinnern) besitzen noch keine dieser Möglichkeiten mit hinreichender Klarheit der Durchbildung. Als Bedingung dieses höheren Weltbewußtseins hat man den Besitz der Sprache anzusehen, und zwar nicht den einer menschlichen Sprache überhaupt, sondern den einer Kultursprache, die für den ersten noch nicht vorhanden und für das andere, obwohl vorhanden, noch nicht zugänglich ist. Beide besitzen, um dasselbe mit anderen Worten zu sagen, noch kein klares und deutliches Weltdenken, zwar eine Ahnung, aber noch kein wirkliches Wissen von Geschichte und Natur, in deren Zusammenhang ihr eigenes Dasein eingegliedert erscheint: Sie haben keine Kultur.“ (Ebd., S. 73-74Spengler).

„Damit erhält dieses wichtige Wort einen bestimmten, sehr bedeutsamen Sinn, der in allem Folgenden vorausgesetzt wird. Ich unterscheide im Hinblick auf die oben gewählten Bezeichnungen der Seele als des Möglichen und der Welt als des Wirklichen mögliche und wirkliche Kultur, das heißt Kultur als Idee des – allgemeinen oder einzelnen – Daseins und Kultur als Körper dieser Idee, als die Summe ihres versinnlichten, räumlich und faßlich gewordenen Ausdrucks: Taten und Gesinnungen, Religion und Staat, Künste und Wissenschaften, Völker und Städte, wirtschaftliche und gesellschaftliche Formen, Sprachen, Rechte, Sitten, Charaktere, Gesichtszüge und Trachten. Höhere Geschichte ist, mit dem Leben, dem Werden eng verwandt, die Verwirklichung möglicher Kultur. (Spengler).“ (Ebd., S. 74Spengler).

„Ich wähle als Beispiel für die Art, wie eine Seele sich im Bilde ihrer Umwelt zu verwirklichen sucht, inwiefern also gewordene Kultur Ausdruck und Abbild einer Idee menschlichen Daseins ist, die Zahl, die aller Mathematik als schlechthin gegebenes Element zugrunde liegt. Und zwar deshalb, weil die Mathematik, in ihrer ganzen Tiefe den wenigsten erreichbar, einen einzigartigen Rang unter allen Schöpfungen des Geistes behauptet.“ (Ebd., S. 75-76Spengler).

„Mit Namen und Zahlen gewinnt das menschliche Verstehen Macht über die Welt.“ (Ebd., S. 76Spengler).

„Die Zeichensprache einer Mathematik und die Grammatik einer Wortsprache sind letzten Endes von gleichem Bau. Die Logik ist immer eine Art Mathematik und umgekehrt. Mithin liegt auch in allen Akten menschlichen Verstehens, welche zur mathematischen Zahl in Beziehung stehen - messen, zählen, zeichnen, wägen, ordnen, teilen (dazu gehört auch das Denken in Geld) -, die sprachliche, durch die Formen des Beweises, Schlusses, Satzes, Systems dargestellte Tendenz auf Abgrenzung von Ausgedehntem, und erst durch kaum noch bewußte Akte dieser Art gibt es für den wachen Menschen durch Ordnungszahlen eindeutig bestimmte Gegenstände, Eigenschaften, Beziehungen, Einzelnes, Einheit und Mehrheit, kurz die als notwendig und unerschütterlich empfundene Struktur desjenigen Weltbildes, das er »Natur« nennt und als solche »erkennt«. Natur ist das Zählbare. Geschichte ist der Inbegriff dessen, was zur Methematik kein Verhältnis hat. Daher die mathematische Gewißheit der Naturgesetze, die stauennde Einsicht Galileis, daß die Natur »scritta in lingua matematica« sei und die von Kant hervorgehobene Tatsache, daß die exakte Naturwissenschaft genau so weit reicht wie die Möglichkeit der Anwendung mathematischer Methoden.“ (Ebd., S. 76-77Spengler).

„In der Zahl als dem Zeichen der vollendeten Begrenzung liegt ..., wie Pythagoras oder wer es sonst war, infolge einer großartigen, durchaus religiösen Intuition mit innerster Gewißheit begriff, das Wesen alles Wirklichen, das geworden, erkannt, begrenzt zugleich ist. Indes darf man Mathematik, wenn man darunter die Fähigkeit, in Zahlen praktisch zu denken, versteht, nicht mit der viel engeren wissenschaftlichen Mathematik, der mündlich oder schriftlich entwickelten Lehre von den Zahlen verwechseln. Die geschriebene Mathematik repräsentiert so wenig wie die in theoretischen Werken niedergelegte Philosophie den ganzen Besitz dessen, was im Schoße einer Kultur an mathematischem und philosophischem Blick und Denken vorhanden war.“ (Ebd., S. 77Spengler).

„Es gibt noch ganz andere Wege, das den Zahlen zugrunde liegende Urgefühl zu versinnlichen. Am Anfang jeder Kultur steht ein archaischer Stil, den man nicht nur in der frühhellenischen Kunst hätte geometrisch nennen können. Es liegt etwas Gemeinsames, ausdrücklich Mathematisches in diesem antiken Stil ....“ (Ebd., S. 77-78Spengler).

„Gotische Dome und dorische Tempel sind steingewordne Mathematik.“ (Ebd., S. 78Spengler).

Eine Zahl an sich gibt es nicht und kann es nicht geben. Es gibt mehrere Zahlenwelten, weil es mehrere Kulturen gibt. .... Es gibt demnach mehr als eine Mathematik. Denn ohne Zweifel ist der innere Bau der euklidischen Geometrie ein ganz anderer als der der kartesischen, die Analysis von Archimedes eine andere als die von Gauß, nicht nur der Formensprache, der Absicht und den Mitteln nach, sondern vor allem in der Tiefe, im ursprünglichen und wahllosen Sinn der Zahl, deren wissenschaftliche Entwicklung sie darstellt. Diese Zahl, das Grenzerlebnis, das in ihr mit Selbstverstänbdlichkeit versinnlicht worden ist, mithin auch die gesamte Natur, die ausgedehnte Welt, deren Bild durch diese Grenzgebung entstanden und die immer nur Behandlung durch eine einzige Art von Mathematik zugänglich ist, das alles spricht nicht vom allgemeinen, sondern jedesmal von einem ganz bestimmten Menschentum. Es hängt also für den Stil einer entstehenden Mathematik alles davon ab, in welcher Kultur sie wurzelt, was für Menschen über sie nachdenken. Der Geist kann die in ihr angelegten Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Entfaltung bringen, sie handhaben, in ihrer Behandlung zur höchsten Reife gelangen; sie abzuändern ist er völlig außerstande. In den frühesten Formen des antiken Ornaments und der gotischen Architektur ist die Idee der euklidischen Geometrie und der Infinitesimalrechnung verwirklicht, Jahrhunderte bevor der erste gelehrte Mathematiker dieser Kulturen geboren wurde.“ (Ebd., S. 79-80Spengler).

„Wäre Mathematik eine bloße Wissenschaft wie die Astronomie oder Mineralogie, so würde man ihren Gegenstand definieren können. Man kann es nicht und hat es nie gekonnt. Mögen wir Westeuropäer auch den eigenen wissenschaftlichen Zahlbegriff gewaltsam auf das anwenden, was die Mathematiker in Athen und Bagdad beschäftigte, soviel ist sicher, daß Thema, Absicht und Methode der gleichnamigen Wissenschaft dort ganz andere waren. Es gibt keine Mathematik, es gibt nur Mathematiken. Was wir Geschichte »der« Mathematik nennen, vermeintlich die fortschreitende Verwirklichung eines einzigen und unveränderlichen Ideals, ist in der Tat, sobald man das täuschende Bild der historischen Oberfläche beseitigt, eine Mehrzahl in sich geschlossener, unabhängiger Entwicklungen, eine wiederholte Geburt neuer, ein Aneignen, Umbilden und Abstreifen fremder Formenwelten, ein rein organisches, an eine bestimmte Dauer gebundenes Aufblühen, Reifen, Welken und Sterben. Man lasse sich nicht täuschen. Der antike Geist schuf seine Mathematik fast aus dem Nichts; der historisch angelegte Geist des Abendlandes, der die angelernte antike Wissenschaft schon besaß - äußerlich, nicht innerlich -, mußte die eigne durch ein scheinbares Ändern und Verbessern, durch ein tatsächiches Vernichten der ihm wesensfrernden euklidischen gewinnen. Das eine geschah durch Pythagoras, das andere durch Descartes. Beide Akte sind in der Tiefe identisch.“ (Ebd., S. 82Spengler).

„Die Verwandtschaft der Formensprache einer Mathematik mit derjenigen der benachbarten großen Künste wird demnach keinem Zweifel unterliegen. Das Lebensgefühl von Denkern und Künstlern ist sehr verschieden, aber die Ausdrucksmittel ihres Wachseins sind innerlich von gleicher Form. Das Formempfinden des Bildhauers, Malers, Tondichters ist ein wesentlich mathematisches. In der geometrischen Analysis und der projektiven Geometrie des 17. Jahrhunderts offenbart sich dieselbe durchgeistigte Ordnung einer unendlichen Welt, welche die gleichzeitige Musik durch die aus der Kunst des Generalbasses entwickelte Harmonik - diese Geometrie des Tonraumes -, welche die ihr verschwisterte Ölmalerei durch das Prinzip einer nur dem Abendland bekannten Perspektive - dieser gefühlten Geometrie des Bildraumes - ins Leben rufen, ergreifen, durchdringen möchte. Sie ist das, was Goethe die Idee nannte, deren Gestalt im Sinnlichen unmittelbar angeschaut werde, während die bloße Wissenschaft nicht anschaue, sondern nur beobachte und zergliedere. Aber die Mathematik geht über Beobachten und Zergliedern hinaus. Sie verfährt in ihren höchsten Augenblicken visionär, nicht abstrahierend. Von Goethe stammt auch das tiefe Wort, daß der Mathematiker nur insofern vollkommen sei, als er das Schöne des Wahren in sich empfinde. Hier wird man fühlen, wie nahe das Geheimnis im Wesen der Zahl dem Geheimnis der künstlerischen Schöpfung liegt. Damit tritt der geborene Mathematiker neben die großen Meister der Fuge, des Meißels und des Pinsels, die ebenfalls jene große Ordnung aller Dinge, die der bloße Mitmensch ihrer Kultur in sich trägt, ohne sie wirklich zu besitzen, in Symbole kleiden, verwirklichen, mitteilen wollen und müssen. Damit wird das Reich der Zahlen zum Abbild der Weltform neben dem Reich der Töne, Linien und Farben. Deshalb bedeutet das Wort »schöpferisch« im Mathematischen mehr als in den bloßen Wissenschaften. Newton, Gauß, Riemann waren künstlerische Naturen. Man lese nach, wie ihre großen Konzeptionen sie plötzlich überfielen. »Ein Mathematiker«, meinte der alte Weierstraß, »der nicht zugleich ein Stück von einem Poeten ist, wird niemals ein vollkommener Mathematiker sein.«“ (Ebd., S. 82-83Spengler).

„Mathematik ist also auch eine Kunst. Sie hat ihre Stile und Stilperioden. Sie ist nicht, wie der Laie meint - auch der Philosoph, insofern er hier als Laie urteilt -, der Substanz nach unveränderlich, sondern wie jede Kunst von Epoche zu Epoche unvermerkten Wandlungen unterworfen. Man sollte die Entwicklung der großen Künste nie behandeln, ohne auf die gleichzeitige Mathematik einen gewiß nicht unfruchtbaren Seitenblick zu werfen. Einzelheiten in den sehr tiefen Beziehungen zwischen den Wandlungen der Musiktheorie und der Analysis des Unendlichen sind nie untersucht worden, obwohl die Ästhetik mehr daraus hätte lernen können als aus aller »Psychologie« . Noch aufschlußreicher würde eine Geschichte der Musikinstrumente sein, wenn sie nicht, wie es immer geschieht, von den technischen Gesichtspunkten der Tonerzeugung, sondern von den letzten seelischen Gründen der angestrebten Tonfarbe und -wirkung aus behandelt würde. Denn der bis zur Sehnsucht gesteigerte Wunsch, eine raumhafte Unendlichkeit von Klängen herauszubilden, hat im Gegensatz zur antiken Leier und Schalmei (Lyra, Kithara; Aulos, Syrinx) und zur arabischen Laute schon in gotischer Zeit die beiden herrschenden Familien der Orgel (Klavier) und Streichinstrumente hervorgebracht. Beide sind, welches auch ihre technische Herkunft gewesen sein mag, ihrer Tonseele nach im keltisch-germanischen Norden zwischen Irland, Weser und Seine ausgebildet worden, Orgel und Klavichord sicherlich in England. Die Streichinstrumente haben 1480-1530 in Oberitalien ihre endgültige Gestalt erhalten; die Orgel hat sich hauptsächlich in Deutschland zu dem raumbeherrschenden Einzelinstrument von riesenhafter Größe entwickelt, das in der gesamten Musikgeschichte nicht seinesgleichen hat. Das freie Orgelspiel Bachs und seiner Zeit ist durchaus Analysis einer ungeheuren und weiträumigen Tonwelt. Und ebenso entspricht es der inneren Form des abendländischen und nicht des antiken mathematischen Denkens, wenn die Streich- und Blasinstrumente nicht einzeln, sondern nach den menschlichen Stimmlagen in ganzen Gruppen von gleicher Klangfarbe entwickelt werden (Streichquartett, Holzbläser, Posaunenchor), so daß die Geschichte des modernen Orchesters mit allen Erfindungen neuer und Verwandlungen alter Instrumente in Wirklichkeit die Einheitsgeschichte einer Klanglwelt ist, die sich sehr wohl mit Ausdrücken der höheren Analysis beschreiben ließe.“ (Ebd., S. 83-84Spengler).

„Euklid sagt - und man hätte ihn besser verstehen sollen -, daß inkommensurable Strecken sich »nicht wie Zahlen« verhaltem. In der Tat liegt im vollzogenen Begriff der irrationalen Zahl die völlige Trennung des Zahlbegriffs vom Begriff der Größe und zwar deshalb, weil eine solche Zahl, p z.B., niemals abgegrenzt oder exakt durch eine Strecke dargestellt werden kann. Daraus folgt aber, daß in der Vorstellung etwa des Verhältnises der Quadratseite zur Diagonale die antike Zahl, die durchaus sinnliche Grenze, abgeschlossene Größe ist, plötzlich eine ganz andere Art der Zahl rührt, die dem antiken Weltgefühl im tiefsten Innern fremd und darum unheimlich bleibt, als sei man nahe daran, ein gefährliches Geheimnis des eignen Daseins aufzudecken. Dies verrät ein seltsamer spätgriechischer Mythos, wonach derjenige, welcher zuerst die Betrachtung des Irrationalen aus dem Verborgnen an die Öffentlichkeit brachte, durch einen Schiffbruch umgekommen sei, »weil das Unaussprechliche und Bildlose immer verborgen bleiben solle«. Wer die Angst fühlt, welche diesem Mythos zugrunde liegt - es ist dieselbe, welche den Griechen der reifsten Zeit vor der Ausdehnung seiner winzigen Stadtstaaten zu politisch organisierten Landschaften, vor der Anlage weiter Straßenfluchten und Alleen mit Fernblicken und berechneten Abschlüssen, vor der babylonischen Astronomie mit ihrer Durchdringung endloser Sternenräume und vor dem Verlassen des Mittelmeeres auf Bahnen, welche die Schiffe der Ägypter und Phöniker längst erschlossen hatten, immer wieder zurückschrecken ließ; es ist die tiefe metaphysische Angst vor der Auflösung des Greifbar-Sinnlichen und Gegenwärtigen, mit dem sich das antike Dasein wie mit einer Schutzmauer umgeben hatte, hinter der etwas Unheimliches, ein Abgrund und Urgrund dieses gewissermaßen künstlich geschaffenen und behaupteten Kosmos schlief -, wer dies Gefühl begreift, der hat auch den letzten Sinn der antiken Zahl, des Maßes im Gegensatz zum Unermeßlichen, und das hohe religiöse Ethos in ihrer Beschränkung begriffen. Goethe als Naturforscher hat es sehr wohl gekannt - daher seine fast ängstliche Auflehnung gegen die Mathematik, die sich in Wirklichkeit, was noch niemand recht verstanden hat, unwillkürlich durchaus gegen die nichtantike Mathematik, die der Naturlehre seiner Zeit zugrunde liegende InfInitesimalrechnung richtete.“ (Ebd., S. 87-88Spengler).

„Richtig, überzeugend, »denknotwendig« ist eine mathematische und überhaupt eine wissenschaftliche Denkweise, wenn sie vollkommen dem eigenen Lebensgefühl entspricht.“ (Ebd., S. 90Spengler).

„Trotz des Laienvorurteils von der unmittelbaren mathematischen Evidenz der Anschauung, wie es sich bei Schopenhauer findet, stimmt die euklidische Geometrie, welche mit der populären Geometrie aller Zeiten eine oberflächliche Identität besitzt, nur in sehr engen Grenzen (»auf dem Papier«) mit der Anschauung annähernd überein. Wie es bei großen Entfernungen steht, lehrt die einfache Tatsache, daß für unser Auge Parallelen sich am Horizont berühren. Die gesamte malerische Perspektive beruht auf ihr. Trotzdem berief sich Kant, der für einen abendländischen Denker in unverzeihlicher Weise vor der »Mathematik der Ferne« auswich, auf Beispiele von Figuren, an denen gerade ihrer Kleinheit wegen das spezifisch abendländische, das infinitesimale Raumproblem gar nicht in Erscheinung treten konnte. Euklid hatte es zwar ebenfalls vermieden, sich für die anschauliche Gewißheit seiner Axiome etwa auf ein Dreieck zu berufen, dessen Punkte durch den Standort des Beobachters und zwei Fixsterne gebildet werden, das also weder gezeichnet noch »angeschaut« werden konnte, aber für einen antiken Denker mit Recht. Es war hier dasselbe Gefühl wirksam, das vor dem Irrationalen zurückschreckte und das Nichts nicht als Null, als Zahl, zu begreifen wagte, das also auch im Anschauen kosmischer Verhältnisse dem Unermeßlichen aus dem Wege ging, um das Symbol des Maßes zu bewahren. “ (Ebd., S. 91-92Spengler).

„Die mathematische Zahl als formales Grundprinzip der ausgedehnten Welt, die nur aus dem menschlichen Wachsein und für dieses da ist, steht durch das Merkmal der kausalen Notwendigkeit zum Tode in Beziehung, wie die chronologische Zahl zum Werden, zum Leben, zur Notwendigkeit des Schicksals. Dieser Zusammenhang der strengmathematischen Form mit dem Ende des organischen Seins, mit der Erscheinung seines anorganischen Restes, des Leichnams, wird sich immer deutlicher als der Ursprung aller großen Kunst enthüllen. Wir bemerkten schon die Entwicklung der frühen Ornamentik an den Geräten und Behältern des Bestattungskultes. Zahlen sind Symbole des Vergänglichen. Starre Formen verneinen das Leben. Formeln und Gesetze breiten Starrheit über das Bild der Natur. Zahlen töten.“ (Ebd., S. 94Spengler).

„Es sind die Mütter Fausts, die hehr in Einsamkeit thronen: »in der Gebilde losgebundnen Reichen ...
. . . . . . . . . Gestaltung, Umgestaltung,
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung,
Umschwebt von Bildern aller Kreatur.«
Hier berühren sich Goethe und Plato im Ahnen eines letzten Geheimnisses. Die Mütter, das Unzugängliche – Platos Ideen – bezeichnen die Möglichkeiten eines Seelentums, seine ungeborenen Formen, welche in der sichtbaren, aus der Idee dieses Seelentums heraus mit innerster Notwendigkeit geordneten Welt sich als tätige und geschaffene Kultur, als Kunst, Gedanke, Staat, Religion verwirklicht haben. Hierauf beruht die Verwandtschaft des Zahlendenkens einer Kultur mit deren Weltidee, eine Beziehung, die jenes über das bloße Wissen und Erkennen hinaus zur Bedeutung einer Weltanschauung erhebt und die bewirkt, daß es so viele Mathematiken – Zahlenwelten – wie hohe Kulturen gibt. So wird es begreiflich, ja notwendig, daß die größten mathematischen Denker, bildende Künstler im Reiche der Zahlen, aus tief religiöser Intuition zur Auffassung der entscheidenden mathematischen Probleme ihrer Kultur gelangt sind. So hat man sich die Schöpfung der antiken, apollinischen Zahl durch Pythagoras, den Stifter einer Religion, zu denken. Dies Urgefühl hat Nicolaus Cusanus geleitet, als er um 1450 von der Betrachtung der Unendlichkeit Gottes in der Natur ausgehend die Grundzüge der Infinitesimalrechnung fand. Leibniz, der ihre Methoden und Bezeichnungen zwei Jahrhunderte später endgültig feststellte, hat selbst aus rein metaphysischen Betrachtungen über das göttliche Prinzip und seine Beziehungen zum unendlichen Ausgedehnten den Gedanken einer analysis situs entwickelt, vielleicht der genialsten Interpretation des reinen, von allem Sinnlichen befreiten Raumes, deren reiche Möglichkeiten erst im 19. Jahrhundert durch Graßmann in seiner Ausdehnungslehre und vor allem durch Riemann, ihren eigentlichen Schöpfer, in seiner Symbolik der zweiseitigen Flächen, welche die Natur von Gleichungen repräsentieren, entfaltet worden sind. Und Kepler wie Newton, beide streng religiöse Naturen, blieben sich wie Plato durchaus bewußt, gerade durch das Medium der Zahlen das Wesen der göttlichen Weltordnung intuitiv erfaßt zu haben.“ (Ebd., S. 95-96Spengler).

„Es war bemerkt worden, daß in der Urmenschheit wie im Kinde ein inneres Erlebnis, die Geburt des Ich eintritt, mit welcher beide den Sinn der Zahl begreifen, mithin plötzlich eine auf das Ich bezogene Umwelt besitzen.“ (Ebd., S. 106Spengler).

„Sobald vor dem erstaunten Blick des frühen Menschen diese ertragende Welt des geordneten Ausgedehnten, des sinnvoll Gewordenen sich in großen Umrissen aus einem Chaos von Eindrücken abhebt und der tief empfundene unwiderrufliche Gegensatz dieser Außenwelt zur eignen Innenwelt dem wachen Leben Richtung und Gestalt gibt, erwacht zugleich das Urgefühl der Sehnsucht in dieser sich plötzlich ihrer Einsamkeit bewußten Seele. Es ist die Sehnsucht nach dem Ziele des Werdens, nach Vollendung und Verwirklichung alles innerlich Möglichen, nach Entfaltung der Idee des eigenen Daseins. Es ist die Sehnsucht des Kindes, die als das Gefühl einer unaufhaltsamen Richtung mit steigender Deutlichkeit ins Bewußtsein tritt und später als das Rätsel der Zeit unheimlich, verlockend, unlösbar vor dem gereiften Geiste steht. Die Worte Vergangenheit und Zukunft haben plötzlich eine schicksalsschwere Bedeutung erhalten.“ (Ebd., S. 106-107Spengler).

„Aber diese Sehnsucht aus der Überfülle und Seligkeit des innern Werdens ist in der tiefsten Tiefe einer jeden Seele zugleich Angst. (Angst). Wie alles Werden sich auf ein Gewordensein richtet, mit dem es endet, so rührt das Urgefühl des Werdens, die Sehnsucht, schon an das andere des Gewordenseins, die Angst. In der Gegenwart fühlt man das Verrinnen; in der Vergangenheit liegt die Vergänglichkeit. Hier ist die Wurzel der ewigen Angst vor dem Unwiderruflichen, Erreichten, Endgültigen, vor der Vergänglichkeit, vor der Welt selbst als dem Verwirklichten, in dem mit der Grenze der Geburt zugleich die des Todes gesetzt ist, der Angst vor dem Augenblick, wo das Mögliche verwirklicht, das Leben innerlich erfüllt und vollendet ist, wo das Bewußtsein am Ziele steht. Es ist jene tiefe Weltangst der Kinderseele, welche den höheren Menschen, den Gläubigen, den Dichter, den Künstler in seiner grenzenlosen Vereinsamung niemals verläßt, die Angst vor den fremden Mächten, die groß und drohend, in sinnliche Erscheinungen verkleidet, in die ertagende Welt hineinragen. Auch die Richtung in allem Werden wird in ihrer Unerbittlichkeit - Nichtumkehrbarkeit - vom menschlichen Verstehenwollen wie etwas Fremdes und Feindliches mit Namen belegt, um das ewig Unverständliche zu bannen. Es ist etwas ganz Unfaßbares, das Zukunft in Vergangenheit verwandelt, und dies gibt der Zeit im Gegensatz zum Raume jenes widerspruchsvoll Unheimliche und drückend Zweideutige, dessen sich kein bedeuten der Mensch ganz erwehren kann.“ (Ebd., S. 107Spengler). Angst

„Die Weltangst ist sicherlich das schöpferischste aller Urgefühle. Ihr verdankt ein Mensch die reifsten und tiefsten aller Formen und Gestalten nicht nur seines bewußten Innenlebens, sondern auch von dessen Spiegelung in den zahllosen Bildungen äußerer Kultur. Wie eine geheime Melodie, nicht jedem vernehmbar, geht die Angst durch die Formensprache eines jeden wahren Kunstwerkes, jeder innerlichen Philosophie, jeder bedeutenden Tat und sie liegt, nur den wenigsten noch fühlbar, auch den großen Problemen jeder Mathematik zugrunde. Nur der innerlich erstorbene Mensch der späteren Städte, des Babylon Hammurabis, des ptolemäischen Alexandria, des islamischen Bagdad oder des heutigen Paris und Berlin, nur der rein intellektuelle Sophist, Sensualist und Darwinist verliert oder verleugnet sie, indem er eine geheimnislose »wissenschaftliche Welt« zwischen sich und das Fremde stellt.“ (Ebd., S. 107-108Spengler). Angst

„Knüpft sich die Sehnsucht an jenes unfaßliche Etwas, dessen tausendgestaltige ungreifbare Daseinszeichen durch das Wort Zeit mehr verdeckt als bezeichnet werden, so findet das Urgefühl der Angst seinen Ausdruck in den geistigen, faßlichen, der Gestaltung fähigen Symbolen der Ausdehnung. So finden sich im Wachsein jeder Kultur, in jeder anders geartet, die Gegenformen der Zeit und des Raumes, der Richtung und der Ausdehnung, jene dieser zugrunde liegend, wie das Werden dem Gewordnen - denn auch die Sehnsucht liegt der Angst zugrunde; sie wird zur Angst, nicht umgekehrt -, jene der geistigen Macht entzogen, diese ihr dienend, jene nur zu erleben, diese nur zu erkennen. »Gott fürchten und lieben« ist der christliche Ausdruck für den Gegensinn beider Weltgefühle.“ (Ebd., S. 108Spengler). Angst

„Aus der Seele des gesamten Urmenschentums und also auch der frühesten Kindheit erhebt sich der Drang, das Element der fremden Mächte, die in allem Ausgedehnten, im Raume und durch den Raum unerbittlich gegenwärtig sind, zu bannen, zu zwingen, zu versöhnen- zu »erkennen«. Im letzten Grunde ist alles dies dasselbe. Gott erkennen heißt in der Mystik aller frühen Zeiten ihn beschwören, ihn sich geneigt machen, ihn sich innerlich aneignen. Das geschieht vor allem durch ein Wort, den »Namen«, mit dem man das numen benennt, anruft, oder durch die Ausübung der Bräuche eines Kultes, denen eine geheime Kraft innewohnt. Kausale, systematische Erkenntnis, Grenzsetzung durch Begriffe und Zahlen, ist die feinste, aber auch die mächtigste dieser Abwehr. Insofern wird der Mensch erst durch die Wortsprache ganz zum Menschen. Die an Worten gereifte Erkenntnis verwandelt mit Notwendigkeit das Chaos der ursprünglichen Eindrücke in die »Natur«, für die es Gesetze gibt, denen sie gehorchen muß, die »Welt an sich« in die »Welt für uns«. (Vom »Namenzauber« der Wilden bis zur modernsten Wissenschaft, welche die Dinge unterwirft, indem sie Namen, nämlich Fachausdrücke für sie prägt, hat sich der Form nach nichts geändert. Vgl. S. 723f., 881ff.). Sie stellt die Weltangst, indem sie das Geheimnisvolle bändigt, es zur faßlichen Wirklichkeit gestaltet, es durch die ehernen Regeln einer ihm aufgeprägten intellektuellen Formensprache fesselt. Dieses ist die Idee des »tabu« (vgl. S. 693ff.), das im Seelenleben aller primitiven Menschen eine entscheidende Rolles spielt, dessen ursprünglicher Gehalt aber uns so fern liegt, daß das Wort in keine reife Kultursprache mehr übertragbar ist. Ratlose Angst, heilige Scheu, tiefe Verlassenheit, Schwermut, Haß, dunkle Wünsche nach Annäherung, Vereinigung, Entfernung, all diese Formen gereifter Seelen verschweben in kindlichen Zuständen zu einer dumpfen Unentschiedenheit. Der Doppelsinn des Wortes Beschwören, das bezwingen und anflehen zugleich bedeutet, kann den Sinn jenes mystischen Vorganges verdeutlichen, durch den für den frühen Menschen das Fremde und Gefürchtete »tabu« wird. Die ehrfürchtige Scheu vor allem von ihm Unabhängigen, Gesetzten, Gesetzlichen, den fremden Mächten in der Welt, ist der Ursprung aller und jeder elementaren Formgebung. In Urzeiten verwirklicht sie sich im Ornament, in peinlichen Zeremonien und Riten und den strengen Satzungen eines primitiven Verkehrs. Auf der Höhe großer Kulturen sind diese Gestaltungen, ohne innerlich die Merkmale ihrer Herkunft, den Charakter einer Bannung und Beschwörung verloren zu haben, zu den vollendeten Formenwelten der einzelnen Künste, des religiösen, naturwissenschaftlichen und vor allem mathematischen Denkens geworden. Ihr gemeinsames Mittel, das einzige, welches die sich verwirklichende Seele kennt, ist die Symbolisierung des Ausgedehnten, des Raumes oder der Dinge - sei es in den Konezeptionen des absoluten Weltraumes der Physik Newtons, der Innenräume gotischer Dome und maurischer Moscheen, der atmosphärischen Unendlichkeit der Gemälde Rembrandts und ihrer Wiederkehr in den dunklen Tonwelten Beethovenscher Quartette, seien es die regelmäßigen Polyeder Euklids, die Parthenonskulpturen oder die Pyramiden Altägyptens, das Nirwana Buddhas, die Distanz höfischer Sitte unter Sesostris, Justinian I. und Ludwig XIV., sei es endlich die Gottesidee eines Aischylos, Plotin, Dante oder die den Erdball umspannenden Raumenergie der heutigen Technik.“ (Ebd., S. 108-110Spengler). Angst

„Kehren wir zur Mathematik zurück. Der Ausgangspunkt aller antiken Formgebung war, wie wir sahen, die Ordnung des Gewordnen, insofern es gegenwärtig, übersehbar, meßbar, zählbar ist. Das abendländische, gotische Formgefühl, das einer maßlosen, willensstarken, in alle Fernen der schweifenden Seele, hat das Zeichen des reinen, unanschaulichen, grenzenlosen Raumes gewählt. Man täusche sich ja nicht über die enge Bedingtheit solcher Symbole, die uns leicht als wesensgleich, als allgemeingültig erscheinen. Unser unendlicher Weltraum, über dessen Vorhandensein, wie es scheint, kein Wort zu verlieren ist, ist für den antiken Menschen nicht vorhanden. Er ist ihm nicht einmal vorstellbar. Der hellenische Kosmos andrerseits, dessen tiefe Fremdheit für unsre Auffassungsweise nicht so lange hätte unbemerkt bleiben sollen, ist dem Hellenen das Selbstverständliche. In der Tat ist der absolute Raum unserer Physik eine Form mit sehr vielen, äußerst verwickelten stillschweigenden Voraussetzungen, die allein aus unserem Seelentum als dessen Abbild und Ausdruck entstanden und allein für unsere Art des wachen Daseins wirklich notwendig und natürlich ist. Die einfachen Begriffe sind immer die schwierigsten. Ihre Einfachhait besteht darin, daß unendlich vieles, was sich nicht aussprechen ließe, auch gar nicht gesagt zu werden braucht, weil es für Menschen dieses Kreises gefühlsmäßig gesichert ist. Das gilt von dem spezifisch abendländischen Inhalt des Wortes Raum. Die gesamte Mathematik von Descartes an dient der theoretischen Interpretation dieses großen, ganz von religiösen Gehalt erfüllten Symbols. Die Physik will seit Galilei nichts anderes. Die antike Mathematik und Physik kennen den Gehalt dieses Wortes überhaupt nicht. Auch hier haben antike Namen, die wir aus der literarischen Erbschaft der Griechen beibehalten haben, den Tatbestand verschleiert. Geometrie heißt die Kunst des Messens, Arithmetik die des Zählens. Die Mathematik des Abendlandes hat mit diesen beiden Arten des Begrenzens nichts mehr zu tun, aber sie hat keinen neuen Namen für sie gefunden. Das Wort Anaalysis sagt bei weitem nicht alles.“ (Ebd., S. 110-111Spengler).

Der antike Mensch beginnt und schließt seine Erwägungen mit dem einzelnen Körper und seinen Grenzflächen, zu denen indirekt die Kegelschnitte und höheren Kurven gehören. Wir kennen im Grunde nur das abstrakte Raumelement des Punktes, das ohne Anschaulichkeit, ohne die Möglichkeit einer Messung und Benennung, lediglich ein Beziehungszentrum darstellt. Die Gerade ist für den Griechen eine meßbare Kante, für uns ein unbegrenztes Punktkontinuum. Leibniz führt als Beispiel für sein Infinitesimalprinzip die Gerade an, die den Grenzfall eines Kreises mit unendlich großem Radius darstellt, während der Punkt den andern Grenzfall bildet. Für den Griechen ist der Kreis aber eine Fläche, und das Problem besteht darin, sie in eine kommensurable Gestalt zu bringen. So wurde die Quadratur des Kreises das klassische Grenzproblem für den Geist antiker Menschen. Das schien ihnen das tiefste aller Probleme der Weltform: krummlinig begrenzte Flächen bei unveränderter Größe in Rechtecke zu verwandeln und dadurch meßbar zu machen. Für uns ist daraus das wenig bedeutende Verfahren geworden, die Zahl p durch durch algebraische Mittel darzustellen, ohne daß dabei von geometrischen Gebilden überhaupt noch die Rede wäre. Der antike Mathematiker kennt nur das, was er sieht und greift. Wo die begrenzte, begrenzende Sichtbarkeit, das Thema seiner Gedankengänge aufhört, findet seine Wissenschaft ein Ende. Der abendländische Mathematiker begibt sich, sobald er von antiken Vorurteilen frei sich selbst gehört, in die gänzlich abstrakte Region einer unendlichen Zahlenmannigfaltigkeit von n - nicht mehr von 3 - Diemensionen, innerhalb deren seine sogenannte Geometrie jeder anschaulichen Hilfe entbehren kann und meistern muß. Greift der antike Mensch zu künstlerischem Ausdruck seines Formgefühls, so sucht er dem menschlichen Körper in Tanz und Ringkampf, in Marmor und Bronze diejenige Haltug zu geben, in der Flächen und Konturen ein Maximum von Maß und Sinn haben. Der echte Künstler des Abendlandes aber schließt die Augen und verliert sich in den Bereich einer körperlosen Musik, in dem Harmonie und Polyphonie zu Bildungen von höchster »Jenseitigkeit« führen, die weitab von allen Möglichkeiten optischer Bestimmung liegen. Man denke daran, was ein athenischer Bildhauer und was ein nordischer Kontrapunktist unter einer Figur versteht, und man hat den Gegensatz beider Welten, beider Mathematiken unmittelbar vor sich. Die griechischen Mathematiker gebrauchen sogar das Wort soma für ihre Körper. Andrerseits verwendet es die Rechtsprache für die Person im Gegensatz zur Sache (soma kai pragmata: personae et res). Deshalb sucht die antike, ganze, körperhafte Zahl unwillkürlich eine Beziehung zur Entstehung des leiblichen Menschen, des soma. Die Zahl 1 wird noch kaum als wirkliche Zahl empfunden. Sie ist die arch, der Urstoff der Zahlenreihe, der Ursprung aller eigentlichen Zahlen und damit aller Größe, allen Maßes, aller Dinglichkeit,. Ihr Zahlzeichen war im Kreise der Pythagoräer, gleichwohl zu welcher Zeit, zugleich das Symbol des Mutterschoßes, des Ursprung allen Lebens. Die 2, die erste eigentliche Zahl, welche die 1 verdoppelt, erhielt deshalb eine Beziehung zum männlichen Prinzip, und ihr Zeichen war die Nachbildung eines Phallus. Die heilige Drei der Pythagoräer endlich bezeichnete den Akt der Vereinigung von Mann und Weib, die Zeugung - die erotische Deutung der beiden einzigen der Antike wertvollen Prozesse der Größenvermehrung, der Größenzeugung, Addition und Multiplikation, ist leicht verständlich -, und ihr Zeichen war die Vereinigung der beiden ersten. Von hier aus fällt ein neues Licht auf den erwähnten Mythos vom Frevel der Aufdeckung des Irrationalen. Das Irrationale, in unsrer Ausdrucksweise die Verwendung unendlicher Dezimalbrüche, bedeutet eine Zerstörung der organisch-leiblichen, zeugenden Ordnung, welche durch die Götter gesetzt war. Es ist kein Zweifel, daß die pythagoräische Reform der antiken Religion den uralten Demeterkult wieder zugrunde legte. Demeter ist der Gaia, der mütterlichen Erde verwandt. Es besteht eine tiefe Beziehung zwischen ihrer Verehrung und dieser erhabenen Auffassung der Zahlen. So ist die Antike mit innerer Notwendigkeit allmählich die Kultur des Kleinen geworden. Die apollinische Seele hatte den Sinn des Gewordnen durch das Prinzip der übersehbaren Grenze zu bannen gesucht; ihr »tabu« richtete sich auf die unmittelbare Gegenwart und Nähe des Fremden. Was weit fort, was nicht sichtbar war, war auch nicht da. Der Grieche wie der Römer opferte den Göttern der Gegend, in welcher er sich aufhielt; alle andern entschwanden seinem Gesichtskreis. Wie die griechische Sprache kein Wort für den Raum besaß - wir werden die gewaltige Symbolik solcher Sprachphänomene immer wieder verfolgen -, so fehlt dem Griechen auch unser Landschaftsgefühl, das Gefühl für Horizonte, Ausblicke, Fernen, WoIken, auch der Begriff des Vaterlandes, das sich weithin erstreckt und eine große Nation umfaßt. Heimat ist dem antiken Menschen, was er von der Burg seiner Vaterstadt aus übersehen kann, nicht mehr. Was jenseits dieser optischen Grenze eines politischen Atoms lag, war fremd, war sogar feindlich. Hier schon beginnt die Angst des antiken Daseins, und dies erklärt die furchtbare Erbitterung, mit der diese winzigen Städte einander vernichteten. Die Polis ist die kleinste aller denkbaren Staatsformen und ihre Politik die ausgesprochene Politik der Nähe, sehr im Gegensatz zu unserer Kabinettsdiplomatie, der Politik des Grenzenlosen. Der antike Tempel, mit einem Blick zu umfassen, ist der kleinste aller klassischen Bautypen. Die Geometrie von Archytas bis auf Euklid beschäftigt sich - wie es die unter ihrem Eindruck stehende Schulgeometrie noch heute tut - mit kleinen, handlichn Figuren und Körpern, und so blieben ihr die Schwierigkeiten verborgen, welche bei der Zugrundelegung von Figuren mit astronomischen Dimensionen auftauchen und die Anwendung der euklidischen Geometrie nicht mehr überall gestatten. Andernfalls hätte der feine attische Geist vielleicht schon damals etwas von dem Problem der nichtchteukidischen Geometrien geahnt, denn die Einwände gegen das bekannte Parallelenaxiom (Parallelenaxiomdaß durch einen Punkt zu einer Geraden nur eine Parallele möglich sei, ein Satz, der sich nicht beweisen läßtParallelenaxiom), dessen zweifeIhafte und doch nicht zu verbessernde Fassung schon früh Anstoß erregte, rührten nahe an die entscheidende Entdeckung. So selbstverständlich dem antiken Sinn die ausschließliche Betrachtung des Nahen und Kleinen, so selbstverständlich ist dem unsern die des Unendlichen, die Grenzen des Sehsinnes Überschreitenden. Alle mathematischen Ansichten, welche das Abendland entdeckte oder entlehnte, wurden mit Selbstverständlichkeit der Formensprache des Infmitesimalen unterworfen und das, lange bevor die eigentliche Differentialrechnung entdeckt worden war. Arabische Algebra, indische Trigononometrie, antike Mechanik werden ohne weiteres der Analysis einverleibt. Gerade die »evidentesten« Sätze des elementaren Rechnens - daß etwa 2 x 2 = 4 ist - werden, aus analytischen Gesichtspunkten betrachtet zu Problemen, deren Lösung erst durch Ableitungen aus der Mengenlehre und in vielen Einzelheiten überhaupt noch nicht gelungen ist - was Plato und seiner Zeit sicherlich als Wahnsinn und Beweis eines völligen Magels an mathematischer Begabung erschienen wäre.“ (Ebd., S. 111-114Spengler).

Man kann gewissermaßen die Geometrie algebraisch oder die Algebra geometrisch behandeiln, das heißt, das Auge ausschalten oder herrschen lassen. Das erste haben wir, das andere die Griechen getan. Archimedes, der in seiner schönen Berechnung der Spirale gewisse allgemeine Tatsachen berührt, die auch der Methode des bestimmten Integrals bei Leibniz zugrunde liegen, ordnet sein bei oberflächlicher Betrachtung höchst modern wirkendes Verfahren sofort stereometrischen Prinzipien unter; ein Inder hätte im gleichen Falle mit mit Selbstverständlichkeit etwa eine trigonometrische Formulierung gefunden.“ (Ebd., S. 114Spengler).

„Aus dem fundamentalen Gegensatz antiker und abendländischer Zahlen entspringt ein ebenso tiefgehender des Verhältnisses, in dem die Elemente jeder dieser Zahlenwelten untereinander stehen. Das Verhältnis von Größen heißt Proportion, das von Beziehungen ist im Begriff der Funktion enthalten. Beide Worte haben, über den Bereich der Mathematik hinausgehend, größte Bedeutung für die Technik der beiden zugehörigen Künste, der Plastik und der Musik.“ (Ebd., S. 115Spengler).

„Jede Proportion setzt die Konstanz, jede Transformation die Variabilität der Elemente voraus: man vergleiche hier die Kongruenzsätze in der Fassung Euklids, dessen Beweis tatsächlich auf dem vorliegenden Verhältnis 1 : 1 beruht, mit deren moderner Ableitung mit Hilfe von Winkelfunktionen.“ (Ebd., S. 115Spengler).

„Die Konstruktion - die im weitesten Sinne alle Methoden der elementaren Arithmetik einschließt - ist das A und O der antiken Mathematik: die Herstellung einer einzelnen und sichtbar vorliegenden Figur. Der Zirkel ist der Meißel dieser zweiten bildenden Kunst. Die Arbeitsweise bei funktionentheoretischen Untersuchungen, deren Zweck kein Resultat vom Charakter einer Größe, sondern die Diskussion allgemeiner formaler Möglichkeiten ist, läßt sich als eine Art Kompositionslehre von naher Verwandtschaft zur musikalischen bezeichnen. Eine ganze Reihe von Begriffen der Musiktheorie ließe sich ohne weiteres auf analytische Operationen auch der Physik anwenden - Tonart, Phrasierung, Chromatik und andere - und es ist die Frage, ob nicht manche Beziehungen dadurch an Klarheit gewinnen würden.“ (Ebd., S. 115-116Spengler).

„Und so sammelt sich endlich der ganze Gehalt des abendländischen Zahlendenkens in dem klassischen Grenzproblem der faustischen Mathematik, das den Schlüssel zu jenem schwer zugänglichen Begriff des Unendlichen – des faustisch Unendlichen – bildet, welches von der Unendlichkeit des arabischen und indischen Weltgefühls weit entfernt bleibt. Es handelt sich um die Theorie des Grenzwertes, möge die Zahl im einzelnen als unendliche Reihe, Kurve oder Funktion aufgefaßt werden. Dieser Grenzwert ist das strengste Gegenteil des antiken, bisher nicht so genannten, der in dem klassischen Grenzproblem der Quadratur des Kreises zur Diskussion stand. Bis ins 18. Jahrhundert haben euklidisch-populäre Vorurteile den Sinn des Differentialprinzips verdunkelt. Man mag den zunächst naheliegenden Begriff des unendlich Kleinen noch so vorsichtig anwenden, es haftet ihm ein leichtes Moment antiker Konstanz an, der Anschein einer Größe, wenn auch Euklid sie als solche nicht erkannt, anerkannt haben würde. Die Null ist eine Konstante, eine ganze Zahl im linearen Kontinuum zwischen +1 und -1; es hat Eulers analytischen Untersuchungen geschadet, daß er – wie viele nach ihm – die Differentiale für Nullen hielt. Erst der von Cauchy endgültig aufgeklärte Begriff des Grenzwertes beseitigt diesen Rest antiken Zahlengefühls und macht die Infinitesimalrechnung zu einem widerspruchslosen System. Erst der Schritt von der »unendlich kleinen Größe« zu dem »unteren Grenzwert jeder möglichen endlichen Größe« führt zur Konzeption einer veränderlichen Zahl, die unterhalb jeder von Null verschiedenen endlichen Größe sich bewegt, selbst also nicht den geringsten Zug einer Größe mehr trägt. Der Grenzwert in dieser endgültigen Fassung ist überhaupt nicht mehr das, was angenähert wird. Er stellt die Annäherung – den Prozeß, die Operation – selbst dar. Er ist kein Zustand, sondern ein Verhalten. Hier, im entscheidenden Problem der abendländischen Mathematik, verrät sich plötzlich, daß unser Seelentum ein historisch angelegtes ist. (»Funktion, recht begriffen, ist das Dasein in Tätigkeit gedacht« (Goethe). Vgl. die Erzeugung des faustischen funktionalen Geldes, Bd. II, S. 1169, 1177.)“ (Ebd., S. 117-118Spengler).

„Die Geometrie von der Anschauung, die Algebra vom Begriff der Größe zu befreien und beide jenseits der elementaren Schranken von Konstruktion und Rechnung zu dem mächtigen Gebäude der Funktionentheorie zu vereinigen, das war der große Weg des abendländischen Zahlendenkens. So wurde die antike, konstante Zahl zur veränderlichen aufgelöst. Die analytisch gewordene Geometrie löste alle konkreten Formen auf. Sie ersetzt den mathematischen Körper, an dessen starrem Bilde geometrische Werte gefunden werden, durch abstrakt-räumliche Beziehungen, die zuletzt auf Tatsachen der sinnlich-gegenwärtigen Anschauung überhaupt nicht mehr anwendbar sind. Sie ersetzt zunächst die optischen Gebilde Euklids durch geometrische Örter in bezug auf ein Koordinatensystem, dessen Anfangspunkt willkürlich gewählt werden kann, und reduziert das gegenständliche Dasein des geometrischen Objekts auf die Forderung, daß während der Operation, die sich nicht mehr auf Messungen, sondern auf Gleichungen richtet, das gewählte System nicht verändert werden darf. Alsbald werden aber die Koordinaten nur noch als reine Werte aufgefaßt, welche die Lage der Punkte als abstrakter Raumelemente nicht sowohl bestimmen, als repräsentieren und ersetzen. Die Zahl, die Grenze des Gewordnen, wird nicht mehr durch das Bild einer Figur, sondern durch das Bild einer Gleichung symbolisch dargestellt. Die »Geometrie« kehrt ihren Sinn um: das Koordinatensystem als Bild verschwindet, und der Punkt ist nunmehr eine vollkommen abstrakte Zahlengruppe. Wie die Architektur der Renaissance durch die Neuerungen Michelangelos und Vignolas in die des Barock übergeht – das ist das genaue Abbild dieser innern Wandlung der Analysis. An den Palast- und Kirchenfassaden werden die sinnlich reinen Linien gleichsam unwirklich. An Stelle der klaren Koordinaten florentinisch-römischer Säulenstellungen und Geschoßgliederungen tauchen die »infinitesimalen« Elemente geschwungener, flutender Bauteile, Voluten, Kartuschen auf. Die Konstruktion verschwindet in der Fülle des Dekorativen – mathematisch gesprochen des Funktionalen; Säulen und Pilaster, in Gruppen und Bündel zusammengefaßt, durchziehen ohne Ruhepunkte für das Auge die Fronten, sammeln und zerstreuen sich; die Flächen der Wände, Decken, Geschosse lösen sich in der Flut von Stukkaturen und Ornamenten auf, verschwinden und zerfallen unter farbigen Lichtwirkungen. Das Licht aber, das nun über dieser Formwelt des reifen Barock spielt – von Bernini um 1650 an bis zum Rokoko in Dresden, Wien, Paris –, ist ein rein musikalisches Element geworden. Der Dresdner Zwinger ist eine Sinfonie. Mit der Mathematik hat sich im 18. Jahrhundert auch die Architektur zu einer Formenwelt von musikalischem Charakter entwickelt.“ (Ebd., S. 118-119Spengler).

„Auf dem Wege dieser Mathematik mußte endlich der Augenblick eintreten, wo nicht nur die Grenzen künstlicher geometrischer Gebilde, sondern die Grenzen des Sehsinnes überhaupt seitens der Theorie wie der Seele selbst in ihrem Drange nach rückhaltlosem Ausdruck ihrer innern Möglichkeiten als Grenzen, als Hindernis empfunden wurden, wo also das Ideal transzendenter Ausgedehntheit zu den beschränkten Möglichkeiten des unmittelbaren Augenscheins in grundsätzlichen Widerspruch trat. Die antike Seele, welche mit voller Hingabe der platonischen und stoischen ataraxia das Sinnliche gelten und walten ließ und ihre großen Symbole, wie es der erotische Hintersinn der pythagoräischen Zahlen beweist, eher empfing als gab, konnte auch das körperliche Jetzt und Hier niemals überschreiten wollen. Hatte sich aber die pythagoräische Zahl im Wesen gegebener Einzeldinge in der Natur offenbart, so war die Zahl des Descartes und der Mathematiker nach ihm etwas, das erobert und erzwungen werden mußte, eine herrische abstrakte Beziehung, unabhängig von aller sinnlichen Gegebenheit und jederzeit bereit, diese Unabhängigkeit der Natur gegenüber geltend zu machen. Der Wille zur Macht – um Nietzsches große Formel zu gebrauchen –, der von der frühesten Gotik der Edda, der Kathedralen und Kreuzzüge, ja von den erobernden Wikingern und Goten an das Verhalten der nordischen Seele ihrer Welt gegenüber bezeichnet, liegt auch in dieser Energie der abendländischen Zahl gegenüber der Anschauung. Das ist »Dynamik«. In der apollinischen Mathematik dient der Geist dem Auge, in der faustischen überwindet er es.“ (Ebd., S. 119-120Spengler).

„Der mathematische, »absolute«, so gänzlich unantike Raum selbst war von Anfang an, was die Mathematik in ihrer Ehrfurcht vor hellenischen Traditionen nicht zu bemerken wagte, nicht die unbestimmte Räumlichkeit der täglichen Eindrücke, der landläufigen Malerei, der vermeintlich so eindeutigen und gewissen apriorischen Anschauung Kants, sondern ein reines Abstraktum, ein ideales und unerfüllbares Postulat einer Seele, der die Sinnlichkeit als Mittel des Ausdruckes immer weniger genügte und die sich endlich leidenschaftlich von ihr abwandte. Das innere Auge erwachte.“ (Ebd., S. 120Spengler).

„Jetzt erst mußte es tiefen Denkern fühlbar werden, daß die euklidische Geometrie, die einzige und richtige für den naiven Blick aller Zeiten, von diesem hohen Standpunkt aus betrachtet nichts ist als eine Hypothese, deren Alleingültigkeit gegenüber anderen, auch ganz unanschaulichen Arten von Geometrien, wie wir seit Gauß bestimmt wissen, sich niemals beweisen läßt. Der Kernsatz dieser Geometrie, das Parallelenaxiom Euklids, ist eine Behauptung, die sich durch andere ersetzen läßt, daß es nämlich durch einen Punkt zu einer Geraden keine, zwei oder viele Parallelen gibt, Behauptungen, die sämtlich zu vollkommen widerspruchslosen dreidimensionalen geometrischen Systemen führen, die in der Physik und auch in der Astronomie angewendet werden können und zuweilen der euklidischen vorzuziehen sind.“ (Ebd., S. 120Spengler).

„Schon die einfache Forderung der Unbegrenztheit des Ausgedehnten – die man seit Riemann und dessen Theorie unbegrenzter, aber infolge ihrer Krümmung nicht unendlicher Räume eben von der Unendlichkeit zu scheiden hat – widerspricht dem eigentlichen Charakter aller unmittelbaren Anschauung, welche von dem Vorhandensein von Lichtwiderständen, also materiellen Grenzen abhängt. Es sind aber abstrakte Prinzipien der Grenzsetzung denkbar, die in einem ganz neuen Sinne die Möglichkeit optischer Begrenzung überschreiten. Für den Tieferblickenden liegt schon in der kartesischen Geometrie die Tendenz, über die drei Dimensionen des erlebten Raumes als einer für die Symbolik der Zahlen nicht notwendigen Schranke hinauszugehen. Und wenn auch erst seit 1800 etwa die Vorstellung mehrdimensionaler Räume – man hätte das Wort besser durch ein neues ersetzt – zur erweiterten Grundlage des analytischen Denkens wurde, so war doch der erste Schritt dazu in dem Augenblick getan, wo die Potenzen, eigentlicher die Logarithmen, von ihrer ursprünglichen Beziehung auf sinnlich realisierbare Flächen und Körper abgelöst und – unter Verwendung irrationaler und komplexer Exponenten – als Beziehungswerte von ganz allgemeiner Art in das Gebiet des Funktionalen eingeführt wurden. Wer hier überhaupt folgen kann, wird auch begreifen, daß schon mit dem Schritt von der Vorstellung a3 als einem natürlichen Maximum zu an die Unbedingtheit eines Raumes von drei Dimensionen aufgehoben ist.“ (Ebd., S. 120-121Spengler).

„Nachdem einmal das Raumelement des Punktes den immerhin noch optischen Charakter eines Koordinatenschnittes in einem anschaulich vorstellbaren System verloren hatte und als Gruppe dreier unabhängiger Zahlen definiert worden war, lag kein inneres Hindernis mehr vor, die Zahl 3 durch die allgemeine n zu ersetzen. Es tritt eine Umkehrung des Dimensionsbegriffes ein: es bezeichnen nicht mehr Maßzahlen optische Eigenschaften eines Punktes hinsichtlich seiner Lage in einem System, sondern Dimensionen von unbeschränkter Anzahl stellen vollkommen abstrakte Eigenschaften einer Zahlengruppe dar. Diese Zahlengruppe – von n unabhängigen geordneten Elementen – ist das Bild des Punktes; sie heißt ein Punkt. Eine daraus logisch entwickelte Gleichung heißt Ebene, ist das Bild einer Ebene. Der Inbegriff aller Punkte von n Dimensionen heißt ein n-dimensionaler Raum. (Vom Standpunkt der Mengenlehre aus heißt eine wohlgeordnete Punktmenge, ohne Rücksicht auf die Dimensionenzahl, ein Körper, eine Menge von n – 1 Dimensionen also im Verhältnis dazu eine Fläche. Die »Begrenzung« (Wand, Kante) einer Punktmenge stellt eine Punktmenge von geringerer Mächtigkeit dar.) In diesen transzendenten Raumwelten, die zu keiner Art von Sinnlichkeit mehr in irgendeinem Verhältnis stehen, herrschen die von der Analysis aufzufindenden Beziehungen, welche sich mit den Ergebnissen der experimentellen Physik in ständiger Übereinstimmung befinden. Diese Räumlichkeit höheren Ranges ist ein Symbol, das durchaus Eigentum des abendländischen Geistes bleibt. Nur dieser Geist hat das Gewordene und Ausgedehnte in diese Formen zu bannen, das Fremde durch diese Art der Aneignung – man erinnere sich des Begriffes »tabu« (Vgl. S. 109) – zu beschwören, zu zwingen, mithin zu »erkennen« versucht und verstanden. Erst in dieser Sphäre des Zahlendenkens, die nur einem sehr kleinen Kreis von Menschen noch zugänglich ist, erhalten selbst Bildungen wie die Systeme der hyperkomplexen Zahlen (etwa die Quaternionen der Vektorenrechnung) und zunächst ganz unverständliche Zeichen wie UNENDLICHn den Charakter von etwas Wirklichem. Man hat eben zu begreifen, daß Wirklichkeit nicht nur sinnliche Wirklichkeit ist, daß vielmehr das Seelische seine Idee in noch ganz anderen als anschaulichen Bildungen verwirklichen kann.“ (Ebd., S. 121-122Spengler).

NACH OBEN „Das Problem der Weltgeschichte“ (S. 125-209):

• I. Physiognomik und Systematik (S. 125-152) • Kopernikanische Methode [S. 125] • Geschichte und Natur [S. 127] • Gestalt und Gesetz [S. 130] • Physiognomik und Systematik [S. 135] • Kultur als Organismen [S. 140] • Innere Form, Tempo, Dauer [S. 147] • Gleichartiger Bau [S. 149] • „Gleichzeitigkeit“ [S. 151]  • II. Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip (S. 152-209) • Organische und anorganische Logik [S. 152] • Zeit und Schicksal, Raum und Kausalität [S. 155] • Das Zeitproblem [S. 158] • Die Zeit Gegenbegriff zum Raum [S. 165] • Die Zeitsymbole (Tragik, Zeitmessung, Bestattung) [S. 169] • Die Sorge (Erotik, Staat, Technik) [S. 177] • Schicksal und Zufall [S. 181] • Zufall und Ursache [S. 185] • Zufall und Stil des Daseins [S. 188] • Anonyme und persönliche Epochen [S. 194] • Zukunftsrichtung und Bild der Vergangenheit [S. 199] • Gibt es eine Geschichtswissenschaft?  [S. 200] • Die neue Fragestellung [S. 207].

Anfang des Kapitels „Physiognomik und Systematik“

„Was bisher fehlte, war die Distanz vom Gegenstande. Der Natur gegenüber war sie längst erreicht. Allerdings war sie hier auch leichter erreichbar. Der Physiker entwirft das mechanisch-kausale Bild seiner Welt mit Selbstverständlichkeit so, als ob er selbst gar nicht da wäre. Aber in der Formenwelt der Geschichte ist dasselbe möglich. Wir haben das bis jetzt nicht gewußt. Es gehört zum Stolz moderner Historiker, objektiv zu sein, aber sie verraten damit, wie wenig sie sich ihrer eigenen Vorurteile bewußt sind. Man darf deshalb vielleicht sagen, und man wird es später einmal tun, daß es bis jetzt an einer wirklichen Geschichtsbetrachtung faustischen Stils überhaupt gefehlt hat, einer solchen nämlich, die Abstand genug besitzt, um im Gesamtbilde der Weltgeschichte auch die Gegenwart – die es ja nur in bezug auf eine einzige von unzähligen menschlichen Generationen ist – wie etwas unendlich Fernes und Fremdes zu betrachten, als eine Zeitspanne, die nicht schwerer wiegt als alle andern, ohne den fälschenden Maßstab irgendwelcher Ideale, ohne Bezug auf sich selbst, ohne Wunsch, Sorge und persönliche innere Beteiligung, wie sie das praktische Leben in Anspruch nimmt; einen Abstand also, der es erlaubt – mit Nietzsche zu reden, der bei weitem nicht genug von ihm besaß – die ganze Tatsache Mensch aus ungeheurer Entfernung zu überschauen; einen Blick über die Kulturen hin, auch über die eigene, wie über die Gipfelreihe eines Gebirges am Horizont.“ (Ebd., S. 125-126Spengler).

„Hier war noch einmal eine Tat wie die des Kopernikus zu vollbringen, eine Befreiung vom Augenschein im Namen des unendlichen Raumes, wie sie der abendländische Geist der Natur gegenüber längst vollzogen hatte, als er vom ptolemäischen Weltsystem zu dem für ihn heute allein gültigen überging und damit den zufälligen Standort des Betrachters auf einem einzelnen Planeten als formbestimmend ausschaltete.“ (Ebd., S. 126Spengler).

„Die Weltgeschichte ist derselben Ablösung von einem zufälligen Beobachtungsorte – der jeweiligen »Neuzeit« – fähig und bedürftig. Uns erscheint das 19. Jahrhundert unendlich viel reicher und wichtiger als etwa das 19. vor Christus, aber auch der Mond erscheint uns größer als Jupiter und Saturn. Der Physiker hat sich vom Vorurteil der relativen Entfernung längst befreit, der Historiker nicht. Wir erlauben uns, die Kultur der Griechen als Altertum im Verhältnis zu unserer Neuzeit zu bezeichnen. War sie das auch für die feinen, auf dem Gipfel ihrer geschichtlichen Entwicklung stehenden Ägypter am Hofe des großen Thutmosis – ein Jahrtausend vor Homer? Für uns füllen die Ereignisse, die sich 1500–1800 auf dem Boden Westeuropas abspielen, das wichtigste Drittel »der« Weltgeschichte. Für den chinesischen Historiker, der auf 4000 Jahre chinesischer Geschichte zurückblickt und von ihr aus urteilt, sind sie eine kurze und wenig bedeutende Episode, nicht entfernt so schwerwiegend wie die Jahrhunderte der Han-Dynastie (206 v. bis 220 n. Chr.), die in seiner »Weltgeschichte« Epoche machten.“ (Ebd., S. 126Spengler).

„Die Geschichte also vom persönlichen Vorurteil des Betrachters zu lösen, das sie in unserem Falle wesentlich zur Geschichte eines Fragments der Vergangenheit mit dem in Westeuropa festgestellten Zufällig-Gegenwärtigen als Ziel und den augenblicklich gültigen Idealen und Interessen als Maßstäbe für die Bedeutung des Erreichten und zu Erreichenden macht – das ist die Absicht alles Folgenden“ (Ebd., S. 126-127Spengler).

Natur und Geschichte: So stehen für jeden Menschen zwei äußerste Möglichkeiten, die ihn umgebende Wirklichkeit als Weltbild zu ordnen, einander gegenüber. Eine Wirklichkeit ist Natur, insofern sie alles Werden dem Gewordenen, sie ist Geschichte, insofern sie alles Gewordne dem Werden einordnet.“ (Ebd., S. 127Spengler).

„Eine Wirklichkeit wird in ihrer »erinnerten« Gestalt erschaut – so entsteht die Welt Platons, Rembrandts, Goethes, Beethovens – oder in ihrem gegenwärtig-sinnlichen Bestände kritisch begriffen – dies sind die Welten von Parmenides und Descartes, Kant und Newton.“ (Ebd., S. 127Spengler).

„Erkanntes und Natur sind identisch. Alles Erkannte ist, wie das Symbol der mathematischen Zahl bewies, gleichbedeutend mit dem mechanisch Begrenzten, dem ein für allemal Richtigen, dem Gesetzten. Natur ist der Inbegriff des gesetzlich Notwendigen. Es gibt nur Naturgesetze. Kein Physiker, der seine Bestimmung begreift, wird über diese Grenzen hinausgehen wollen. Seine Aufgabe ist es, die Gesamtheit, das wohlgeordnete System aller Gesetze festzustellen, die im Bilde seiner Natur auffindbar sind, mehr noch, die das Bild seiner Natur erschöpfend und ohne Rast darstellen.“ (Ebd., S. 127Spengler).

„Andrerseits: Anschauen – ich erinnere an das Wort Goethes: »Das Anschauen ist vom Ansehen sehr zu unterscheiden« – ist derjenige Erlebnisakt, der, indem er sich vollzieht, selbst Geschichte ist. Erlebtes ist Geschehenes, ist Geschichte.“ (Ebd., S. 127Spengler).

„Alles Geschehen ist einmalig und nie sich wiederholend. Es trägt das Merkmal der Richtung (der »Zeit«), der Nichtumkehrbarkeit. Das Geschehene, als nunmehr Gewordnes dem Werden, als Erstarrtes dem Lebendigen entgegengesetzt, gehört unwiderruflich der Vergangenheit an. Das Gefühl hiervon ist die Weltangst. Alles Erkannte aber ist zeitlos, weder vergangen noch zukünftig, sondern schlechthin »vorhanden« und also von dauernder Gültigkeit. Dies gehört zur inneren Beschaffenheit des Naturgesetzlichen. Das Gesetz, das Gesetzte, ist antihistorisch. Es schließt den Zufall aus. Naturgesetze sind Formen einer ausnahmslosen und also anorganischen Notwendigkeit. Es wird klar, weshalb Mathematik als die Ordnung des Gewordnen durch die Zahl sich immer auf Gesetze und Kausalität und nur auf sie bezieht.“ (Ebd., S. 127-128Spengler).

„Aber man halte fest: Geschichte wissenschaftlich behandeln wollen ist im letzten Grunde immer etwas Widerspruchsvolles. Die echte Wissenschaft reicht so weit, als die Begriffe richtig und falsch Geltung haben. Das gilt von der Mathematik, das gilt also auch von der historischen Vorwissenschaft der Sammlung, Ordnung und Sichtung des Stoffes. Der eigentlich geschichtliche Blick aber, der von hier erst ausgeht, gehört ins Reich der Bedeutungen, wo nicht richtig und falsch, sondern flach und tief die maßgebenden Worte sind. Der echte Physiker ist nicht tief, sondern »scharfsinnig«. Erst wenn er das Gebiet der Arbeitshypothesen verläßt und an die letzten Dinge streift, kann er tief sein - dann aber ist er auch schon Metaphysiker geworden. Natur soll man wissenschaftlich behandeln, über Geschichte soll man dichten. Der alte Leopold von Ranke soll einmal gesagt haben, daß der »Quentin Durward« von Scott doch eigentlich die wahre Geschichtsschreibung darstelle. So ist es auch; ein gutes Geschichtswerk hat seinen Vorzug darin, daß der Leser sein eigner Walter Scott zu sein vermag.“ (Ebd., S. 129Spengler).

„Es sei noch einmal gesagt: Es gibt keine genaue Grenze zwischen beiden Arten der Weltfassung. So sehr Werden und Gewordnes Gegensätze sind, so sicher ist in jeder Art von Verstehen beides vorhanden. Geschichte erlebt, wer beides als werdend, als sich vollendend anschaut; Natur erkennt, wer beides als geworden, als vollendet zergliedert.“ (Ebd., S. 130Spengler).

„Es liegt eine ursprüngliche Anlage in jedem Menschen, jeder Kultur, jeder Kulturstufe vor, eine ursprüngliche Neigung und Bestimmung, eine der beiden Formen als Ideal des Weltverstehens vorzuziehen. Der Mensch des Abendlandes ist in hohem Grade historisch angelegt, der antike Mensch war es um so weniger. (Das Antihistorische als Ausdruck einer entschieden systematischen Veranlagung ist vom Ahistorischen sehr zu unterscheiden. Der Anfang des 4. Buches der »Welt als Wille und Vorstellung« (§ 53 Sschopenhauer) ist bezeichnend für einen Menschen, der antihistorisch denkt, d.h. aus theoretischen Gründen das Historische in sich, das vorhanden ist, unterdrückt und verwirft im Gegensatz zur ahistorischen hellenischen Natur, die es nicht hat und nicht versteht.) Wir verfolgen alles Gegebene im Hinblick auf Vergangenheit und Zukunft, die Antike erkannte nur die punktförmige Gegenwart als seiend an. Der Rest wurde Mythos. Wir haben in jedem Takte unsrer Musik von Palestrina bis Wagner auch ein Symbol des Werdens vor uns, die Griechen in jeder ihrer Statuen ein Bild der reinen Gegenwart. Der Rhythmus eines Körpers ruht im gleichzeitigen Verhältnis der Teile, der Rhythmus einer Fuge im zeitlichen Verlauf.“ (Ebd., S. 130Spengler).

„Die chronologische Zahl bezeichnet das einmalig Wirkliche, die mathematische das beständig Mögliche. Die eine umschreibt Gestalten und arbeitet für das verstehende Auge die Umrisse von Zeitaltern und Tatsachen heraus; sie dient der Geschichte. Die andere ist selbst das Gesetz, das sie feststellen soll, das Ende und Ziel der Forschung. Die chronologische Zahl ist als Mittel einer Vorwissenschaft der eigentlichsten Wissenschaft entlehnt, der Mathematik. In ihrem Gebrauch wird von dieser Eigenschaft aber abgesehen. Man fühle sich in den Unterschied der beiden Symbole hinein: 12 x 8 = 96 und 18. Oktober 1813. Der Zahlengebrauch unterscheidet sich hier ganz wie der Wortgebrauch in Prosa und Poesie.“ (Ebd., S. 131Spengler).

„Noch etwas andres ist hier zu bemerken. Da ein Werden immer dem Gewordnen zugrunde liegt und Geschichte eine Ordnung des Weltbildes im Sinne des Werdens darstellt, so ist Geschichte die ursprüngliche und Natur im Sinne eines durchgebildeten Weltmechanismus eine späte, erst dem Menschen reifer Kulturen wirklich vollziehbare Weltform. In der Tat ist die dunkle, urseelenhafte Umwelt4 der frühesten Menschheit, wovon heute noch ihre religiösen Gebräuche und Mythen zeugen, jene durch und durch organische Welt voller Willkür, feindlicher Dämonen und launischer Mächte, durchaus ein lebendiges, ungreifbares, rätselhaft wogendes und unberechenbares Ganze. Mag man sie Natur nennen, so ist sie doch nicht unsre Natur, nicht der starre Reflex eines wissenden Geistes.“ (Ebd., S. 131-132Spengler).

„»Natur« im exakten Sinne ist die seltenere, auf den Menschen der großen Städte später Kulturen beschränkte, männliche, vielleicht schon greisenhafte Art, Wirklichkeit zu besitzen, Geschichte die naive und jugendliche, auch die unbewußtere, die der ganzen Menschheit eigen ist. So wenigstens steht die zahlenmäßige, geheimnislose, zerlegte und zerlegbare Natur des Aristoteles und Kant, der Sophisten und Darwinisten, der modernen Physik und Chemie, jener erlebten, grenzenlosen, gefühlten Natur Homers und der Edda, des dorischen und gotischen Menschen gegenüber. Es heißt das Wesen aller Geschichtsbetrachtung verkennen, wenn man dies übersieht. Sie ist die eigentlich natürliche, die exakte, mechanisch geordnete Natur die künstliche Fassung der Seele ihrer Welt gegenüber. Trotzdem oder gerade deshalb ist dem modernen Menschen die Naturwissenschaft leicht, die Geschichtsbetrachtung schwer.“ (Ebd., S. 132Spengler).

„Die große Aufgabe der Welterkenntnis, wie sie dem Menschen hoher Kulturen Bedürfnis ist, einer Art Durchdringung seiner Existenz, die er sich und ihr schuldig zu sein glaubt, mag man ihr Verfahren nun Wissenschaft oder Philosophie nennen, mag man ihre Verwandtschaft zu künstlerischer Schöpfung und gläubiger Intuition mit innerster Gewißheit empfinden oder bestreiten – diese Aufgabe ist sicherlich in jedem Falle die gleiche: Die Formensprache des Weltbildes, das dem Wachsein des einzelnen vorbestimmt ist, das er, solange er nicht vergleicht, für »die« Welt halten muß, in ihrer Reinheit darzustellen.“ (Ebd., S. 133Spengler).

„Angesichts des Unterschiedes von Natur und Geschichte muß diese Aufgabe eine doppelte sein. Beide reden ihre eigene, in jedem Betracht verschiedene Formensprache; in einem Weltbilde von unentschiedenem Charakter – wie es die alltägliche Regel ist – können beide einander wohl überlagern und verwirren, sich aber niemals zur inneren Einheit verbinden.“ (Ebd., S. 133-134Spengler).

„Richtung und Ausdehnung sind die herrschenden Merkmale, durch die sich der historische und der naturhafte Welteindruck unterscheiden. Der Mensch ist gar nicht imstande, beide gleichzeitig gestaltend wirken zu lassen. Das Wort Ferne hat einen bezeichnenden Doppelsinn. Dort bedeutet es Zukunft, hier eine räumliche Distanz.“ (Ebd., S. 134Spengler).

„Alle Arten, die Welt zu begreifen, dürfen letzten Endes als Morphologie bezeichnet werden. Die Morphologie des Mechanischen und Ausgedehnten, eine Wissenschaft, die Naturgesetze und Kausalbeziehungen entdeckt und ordnet, heißt Systematik. Die Morphologie des Organischen, der Geschichte und des Lebens, alles dessen, was Richtung und Schicksal in sich trägt, heißt Physiognomik.“ (Ebd., S. 135Spengler).

„Jede Mathematik, die als wissenschaftliches System oder, wie im Fall Ägyptens, in Gestalt einer Architektur die Idee ihrer, ihrem Wachsein eingeborenen Zahl allen sichtbar zur Erscheinung bringt, ist das Bekenntnis einer Seele.“ (Ebd., S. 135Spengler).

„Alles, was überhaupt geworden ist, alles, was erscheint, ist Symbol, ist Ausdruck einer Seele.“ (Ebd., S. 136Spengler).

„Und so erhebt sich die Untersuchung zu einer letzten und höchsten Gewißheit: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis ().“ (Ebd., S. 137Spengler).

„Zur Naturerkenntnis kann man erzogen werden, der Geschichtskenner wird geboren. Er begreift und durchdringt die Menschen und Tatsachen mit einem Schlage, aus einem Gefühl heraus, das man nicht lernt, das jeder absichtlichen Einwirkung entzogen ist, das in seiner höchsten Kraft sich selten genug einstellt. Zerlegen, definieren, ordnen, nach Ursache und Wirkung abgrenzen kann man, wenn man will. Das ist eine Arbeit; das andre ist eine Schöpfung. Gestalt und Gesetz, Gleichnis und Begriff, Symbol und Formel haben ein ganz verschiedenes Organ. Es ist das Verhältnis von Leben und Tod, von Zeugen und Zerstören, das in diesem Gegensatz erscheint. Der Verstand, das System, der Begriff töten, indem sie »erkennen«. Sie machen das Erkannte zum starren Gegenstand, der sich messen und teilen läßt. Das Anschauen beseelt. Es verleibt das Einzelne einer lebendigen, innerlich gefühlten Einheit ein. Dichten und Geschichtsforschung sind verwandt, Rechnen und Erkennen sind es auch. Aber – wie Hebbel einmal sagt: »Systeme werden nicht erträumt, Kunstwerke nicht errechnet oder, was dasselbe ist, erdacht«. Der Künstler, der echte Historiker schaut, wie etwas wird. Er erlebt das Werden in den Zügen des Betrachteten noch einmal. Der Systematiker, sei er Physiker, Logiker, Darwinist oder schreibe er pragmatische Geschichte, erfährt, was geworden ist. Die Seele eines Künstlers ist wie die Seele einer Kultur etwas, das sich verwirklichen möchte, etwas Vollständiges und Vollkommenes, in der Sprache einer älteren Philosophie: ein Mikrokosmos. Der systematische, vom Sinnlichen abgezogene – »abstrakte« – Geist ist eine späte, enge und vorübergehende Erscheinung und gehört zu den reifsten Zuständen einer Kultur. Er ist an die Städte gebunden, in denen sich ihr Leben mehr und mehr zusammendrängt, er erscheint und er verschwindet wieder mit ihnen. Antike Wissenschaft gibt es nur von den Ioniern des 6. Jahrhunderts an bis zur Römerzeit. Antike Künstler gibt es, solange es eine Antike gibt. Ein Schema möge wieder zur Verdeutlichung dienen:“ (Ebd., S. 138Spengler).

Schema, ebd., S. 138

„Versucht man, sich über das Prinzip der Einheit klar zu werden, aus welcher jede der beiden Welten aufgefaßt wird, so findet man, daß mathematisch geregelte Erkenntnis, und zwar desto entschiedener, je reiner sie ist, sich durchaus auf ein beständig Gegenwärtiges bezieht. Das Bild der Natur, wie es der Physiker betrachtet, ist das augenblicklich vor seinen Sinnen sich entfaltende. Zu den meist verschwiegenen, aber um so festeren Voraussetzungen aller Naturforschung gehört die, daß »die« Natur für jedes Wachsein und zu allen Zeiten dieselbe sei. Ein Experiment entscheidet für immer. Die Zeit wird nicht verneint, aber es wird innerhalb dieser Einstellung von ihr abgesehen. Wirkliche Geschichte aber beruht auf dem ebenso gewissen Gefühl vom Gegenteil. Geschichte setzt als ihr Organ eine schwer zu beschreibende Art von innerer Sinnlichkeit voraus, deren Eindrücke in unendlicher Wandlung begriffen sind, mithin in einem Zeitpunkte gar nicht zusammengefaßt werden können. (Von der vermeintlichen »Zeit« der Physiker wird später die Rede sein.) Das Bild der Geschichte – sei es die der Menschheit, der Organismenwelt, der Erde, der Fixsternsysteme – ist ein Gedächtnisbild. Gedächtnis wird hier als ein höherer Zustand aufgefaßt, der durchaus nicht jedem Wachsein eigen und manchem nur in geringem Grade verliehen ist, eine ganz bestimmte Art von Einbildungskraft, die den einzelnen Augenblick sub specie aeternitatis, in steter Beziehung auf alles Vergangene und Zukünftige durchlebt werden läßt; es ist die Voraussetzung jeder Art von zurückgewandter Beschaulichkeit, von Selbsterkenntnis und Selbstbekenntnis. In diesem Sinne besitzt der antike Mensch kein Gedächtnis, mithin keine Geschichte, weder in sich noch um sich. »Über Geschichte kann niemand urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat« (Goethe). Im antiken Weltbewußtsein wird alles Vergangene im Augenblicklichen aufgesaugt. Man vergleiche die äußerst »historischen« Köpfe der Naumburger Domskulpturen, Dürers, Rembrandts mit denen hellenistischer Bildnisse, etwa der bekannten Sophoklesstatue. Die einen erzählen die ganze Geschichte einer Seele, die Züge der andern beschränken sich streng auf den Ausdruck eines augenblicklichen Seins. Sie schweigen von allem, was im Lauf eines Lebens zu diesem Sein geführt hat – wenn davon bei einem echt antiken Menschen, der immer fertig, nie ein Werdender ist, überhaupt die Rede sein kann.“ (Ebd., S. 138-139Spengler).

„Und nun ist es möglich, die letzten Elemente der historischen Formenwelt aufzufinden. Unzählige Gestalten, in endloser Fülle auftauchend, verschwindend, sich abhebend, wieder verfließend, ein in tausend Farben und Lichtern blinkendes Gewirr von anscheinend freiester Zufälligkeit – das ist zunächst das Bild der Weltgeschichte, wie sie als Ganzes vor dem innern Auge sich ausbreitet. Der tiefer ins Wesenhafte dringende Blick aber sondert aus dieser Willkür reine Formen ab, die dicht verhüllt und nur widerwillig sich entschleiernd allem menschlichen Werden zugrunde liegen.“ (Ebd., S. 139Spengler).

„Vom Bilde des gesamten Weltwerdens mit seinen mächtig hintereinander getürmten Horizonten, wie sie das faustische Auge umfaßt (Vgl. S. 588 f.), dem Werden des Sternenhimmels, der Erdoberfläche, der Lebewesen, der Menschen, betrachten wie jetzt nur die äußerst kleine morphologische Einheit der »Weltgeschichte« im gewohnten Sinne, der von dem späten Goethe wenig geachteten Geschichte des höheren Menschentums, die gegenwärtig etwa 6000 Jahre umfaßt, ohne auf das tiefe Problem der inneren Gleichartigkeit all dieser Aspekte einzugehen. Was dieser flüchtigen Formenwelt Sinn und Gehalt gibt und was bis jetzt tief verschüttet lag unter der kaum durchdrungenen Masse handgreiflicher »Daten« und »Tatsachen«, ist das Phänomen der großen Kulturen. Erst nachdem diese Urformen in ihrer physiognomischen Bedeutung erschaut, gefühlt, herausgearbeitet worden sind, kann das Wesen und die innere Form der menschlichen Geschichte – gegenüber dem Wesen der Natur – für uns als verstanden gelten. Erst von diesem Ein- und Ausblicke an darf von einer Philosophie der Geschichte ernsthaft die Rede sein. Erst dann ist es möglich, jede Tatsache im historischen Bilde, jeden Gedanken, jede Kunst, jeden Krieg, jede Persönlichkeit, jede Epoche ihrem symbolischen Gehalte nach zu begreifen und die Geschichte selbst nicht mehr als bloße Summe von Vergangenem ohne eigentliche Ordnung und innere Notwendigkeit vor sich zu sehen, sondern als einen Organismus von strengstem Bau und sinnvollster Gliederung, in dessen Entwicklung die zufällige Gegenwart des Betrachters keinen Abschnitt bezeichnet und die Zukunft nicht mehr formlos und unbestimmbar erscheint.“ (Ebd., S. 139-140Spengler).

Kulturen sind Organismen. (Vgl. S. 596Vgl. S. 596). Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie. Die ungeheure Geschichte der chinesischen oder antiken Kultur ist morphologisch das genaue Seitenstück zur Kleingeschichte des einzelnen Menschen, eines Tieres, eines Baumes oder einer Blume. Das ist für den faustischen Blick keine Forderung, sondern eine Erfahrung. Will man die überall wiederholte innere Form kennen lernen, so hat die vergleichende Morphologie der Pflanzen und Tiere längst die Methode dazu vorbereitet. (Es ist nicht die zerlegende des zoologischen »Pragmatismus« der Darwinisten mit ihrer Jagd nach Kausalzusammenhängen, sondern die anschauende und überschauende Goethes.)“ (Ebd., S. 140Spengler).

„Im Schicksal der einzelnen, aufeinander folgenden, nebeneinander aufwachsenden, sich berührenden, überschattenden, erdrückenden Kulturen erschöpft sich der Gehalt aller Menschengeschichte. Und läßt man ihre Gestalten, die bis jetzt nur allzu tief unter der Oberfläche einer trivial fortlaufenden »Geschichte der Menschheit« verborgen waren, im Geiste vorüberziehen, so muß es gelingen, die Urgestalt der Kultur, frei von allem Trübenden und Unbedeutenden aufzufinden, die allen einzelnen Kulturen als Formideal zugrunde liegt.“ (Ebd., S. 140-141Spengler).

„Ich unterscheide die Idee einer Kultur, den Inbegriff ihrer inneren Möglichkeiten, von ihrer sinnlichen Erscheinung im Bilde der Geschichte als der vollzogenen Verwirklichung. Es ist das Verhältnis der Seele zum lebenden Körper, ihrem Ausdruck inmitten der Lichtwelt unsrer Augen. Die Geschichte einer Kultur ist die fortschreitende Verwirklichung ihres Möglichen. Die Vollendung ist gleichbedeutend mit dem Ende. So verhält sich die apollinische Seele, die einige von uns vielleicht verstehen und miterleben können, zu ihrer Entfaltung in der Wirklichkeit, zur »Antike«, deren dem Auge und Verstand zugänglichen Reste der Archäologe, der Philologe, der Ästhetiker und der Historiker untersuchen.“ (Ebd., S. 141Spengler).

„Kultur ist das Urphänomen aller vergangenen und künftigen Weltgeschichte. Die tiefe und wenig gewürdigte Idee Goethes, die er in seiner »lebendigen Natur« entdeckte und seinen morphologischen Forschungen stets zugrunde gelegt hat, soll hier in ihrem genauesten Sinne auf all die vollkommen ausgereiften, in der Blüte erstorbenen, halbentwickelten, im Keim erstickten Bildungen der menschlichen Geschichte angewendet werden. Es ist eine Methode des Erfühlens, nicht des Zerlegens.“ (Ebd., S. 141Spengler).

„»Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen, und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen: hier ist die Grenze.« Ein Urphänomen ist dasjenige, worin die Idee des Werdens rein vor Augen liegt. Goethe sah die Idee der Urpflanze in der Gestalt jeder einzelnen, zufällig entstandenen oder überhaupt möglichen Pflanze klar vor seinem geistigen Auge. Er ging bei seiner Untersuchung des os intermaxillare vom Urphänomen des Wirbeltiertypus, auf anderem Gebiete von der geologischen Schichtung, vom Blatt als der Urform aller pflanzlichen Organe, von der Metamorphose der Pflanzen als dem Urbild alles organischen Werdens aus. »Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen«, schrieb er aus Neapel an Herder, als er ihm seine Entdeckung mitteilte.“ (Ebd., S. 141-142Spengler).

„Aber eine Geschichtsbetrachtung, die von den Methoden des Darwinismus, das heißt der systematischen, auf dem Kausalprinzip beruhenden Naturwissenschaft ganz frei wäre, gibt es überhaupt noch nicht. Von einer strengen und klaren, ihrer Mittel und Grenzen vollkommen bewußten Physiognomik, deren Methoden erst noch zu finden wären, ist niemals die Rede gewesen. Hier liegt die große Aufgabe des 20. Jahrhunderts vor, den inneren Bau der organischen Einheiten, durch die und an denen sich Weltgeschichte vollzieht, sorgfältig bloßzulegen, das morphologisch Notwendige und Wesenhafte vom Zufälligen zu unterscheiden, den Ausdruck der Begebenheiten zu begreifen und die ihm zugrunde liegende Sprache zu ermitteln.“ (Ebd., S. 142Spengler).

„Eine unübersehbare Masse menschlicher Wesen, ein uferloser Strom, der aus dunkler Vergangenheit hervortritt, dort, wo unser Zeitgefühl seine ordnende Wirksamkeit verliert und die ruhelose Phantasie – oder Angst – in uns das Bild geologischer Erdperioden hingezaubert hat, um ein nie zu lösendes Rätsel dahinter zu verbergen; ein Strom, der sich in eine ebenso dunkle und zeitlose Zukunft verliert: das ist der Untergrund des faustischen Bildes der Menschengeschichte. Der einförmige Wellenschlag zahlloser Generationen bewegt die weite Fläche. Glitzernde Streifen breiten sich aus. Flüchtige Lichter ziehen und tanzen darüber hin, verwirren und trüben den klaren Spiegel, verwandeln sich, blitzen auf und verschwinden. Wir haben sie Geschlechter, Stämme, Völker, Rassen genannt. Sie fassen eine Reihe von Generationen in einem beschränkten Kreise der historischen Oberfläche zusammen. Wenn die gestaltende Kraft in ihnen erlischt – und diese Kraft ist eine sehr verschiedene und bestimmt von vornherein eine sehr verschiedene Dauer und Plastizität dieser Bildungen –, erlöschen auch die physiognomischen, sprachlichen, geistigen Merkmale, und die Erscheinung löst sich wieder in dem Chaos der Generationen auf. Arier, Mongolen, Germanen, Kelten, Parther, Franken, Karthager, Berber, Bantu sind Namen für höchst verschiedenartige Gebilde dieser Ordnung.“ (Ebd., S. 142-143Spengler).

„Über diese Fläche hin aber ziehen die großen Kulturen ihre majestätischen Wellenkreise (Vgl. S. 596). Sie tauchen plötzlich auf, verbreiten sich in prachtvollen Linien, glätten sich, verschwinden, und der Spiegel der Flut liegt wieder einsam und schlafend da.“ (Ebd., S. 143Spengler).

„Eine Kultur wird in dem Augenblick geboren, wo eine große Seele aus dem urseelenhaften Zustande ewig-kindlichen Menschentums erwacht, sich ablöst, eine Gestalt aus dem Gestaltlosen, ein begrenztes und Vergängliches aus dem Grenzenlosen und Verharrenden. Sie erblüht auf dem Boden einer genau abgrenzbaren Landschaft, an die sie pflanzenhaft gebunden bleibt. Eine Kultur stirbt, wenn diese Seele die volle Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt. Ihr lebendiges Dasein aber, jene Folge großer Epochen, die in strengem Umriß die fortschreitende Vollendung bezeichnen, ist ein tiefinnerlicher, leidenschaftlicher Kampf um die Behauptung der Idee gegen die Mächte des Chaos nach außen, gegen das Unbewußte nach innen, in das sie sich grollend zurückgezogen haben. Nicht nur der Künstler kämpft gegen den Widerstand der Materie und gegen die Vernichtung der Idee in sich. Jede Kultur steht in einer tiefsymbolischen und beinahe mystischen Beziehung zum Ausgedehnten, zum Raume, in dem, durch den sie sich verwirklichen will. Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer Möglichkeiten vollendet und nach außen hin verwirklicht, so erstarrt die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, ihr Blut gerinnt, ihre Kräften brechen - sie wird zur Zivilisation. Das ist es, was wir bei den Worten Ägyptizismus, Byzantinismus, Mandarinentum fühlen und verstehen. So kann sie, ein verwitterter Baumriese im Urwald, noch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch die morschen Äste emporstrecken. Wir sehen es an China, an Indien, an der Welt des Islam. So ragte die antike Zivilisation der Kaiserzeit mit einer scheinbaren Jugendkraft und Fülle riesenhaft auf und nahm der jungen arabischen Kultur des Ostens Luft und Licht (Vgl. S. 784 ff.).“ (Ebd., S. 143-144Spengler).

„Dies ist der Sinn aller Untergänge in der Geschichte - der inneren und äußeren Vollendung, des Fertigseins, das jeder lebendigen Kultur bevorsteht -, von denen der in seinen Umrissen deutlichste als »Untergang der Antike« vor uns steht, während wir die frühesten Anzeichen des eignen, eines nach Verlauf und Dauer jenem völlig gleichartigen Ereignisses, das den ersten Jahrhunderten des nächsten Jahrtausends angehört, den »Untergang des Abendlandes«, heute schon deutlich in und um uns spüren. (Es ist nicht die Katastrophe ..., ... ein Zufall ohne alle tiefere Notwendigkeit ..., sondern der innere Abbau, der seit Hadrian und dementsprechend in China unter der östlichen Han-Dynastie [25-220] einsetzt.)“ (Ebd., S. 144Spengler). Untergänge

„Jede Kultur durchläuft die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum.“ (Ebd., S. 144Spengler).

„Zum Habitus einer Gruppe von Organismen gehört aber auch eine bestimmte Lebensdauer und ein bestimmtes Tempo der Entwicklung. Diese Begriffe dürfen in einer Strukturlehre der Geschichte nicht fehlen. Der Takt des antiken Daseins war ein anderer als der des ägyptischen oder arabischen. Man darf vom Andante des hellenisch-römischen und vom Allegro con brio des faustischen Geistes reden. Mit dem Begriff der Lebensdauer eines Menschen, eines Schmetterlings, einer Eiche, eines Grashalms verbindet sich, ganz unabhängig von allen Zufälligkeiten des Einzelschicksals, ein bestimmter Wert. Zehn Jahre sind im Leben aller Menschen ein annähernd gleichbedeutender Abschnitt, und die Metamorphose der Insekten knüpft sich in einzelnen Fällen an eine im voraus genau bekannte Anzahl von Tagen. Die Römer verbanden mit ihren Begriffen pueritia, adolescentia, juventus, virilitas, senectus eine fast mathematisch genaue Vorstellung. Die Biologie der Zukunft wird ohne Zweifel die vorbestimmte Lebensdauer der Arten und Gattungen - im Gegensatz zum Darwinismus und mit grundsätzlicher Ausschaltung kausaler Zweckmäßigkeitsmotive für die Entstehung von Arten – zum Ausgangspunkt einer ganz neuen Problemstellung machen. (Vgl. S. 592). Die Dauer einer Generation – gleichviel von was für Wesen – ist eine Tatsache von beinahe mystischer Bedeutung. Diese Beziehungen besitzen nun auch, in einer bisher nie geahnten Weise, Geltung für alle hohen Kulturen. Jede Kultur, jede Frühzeit, jeder Aufstieg und Niedergang, jede ihrer innerlich notwendigen Stufen und Perioden hat eine bestimmte, immer gleiche, immer mit dem Nachdruck eines Symbols wiederkehrende Dauer. In diesem Buche muß darauf verzichtet werden, diese Welt geheimnisvollster Zusammenhänge zu erschließen, aber die im folgenden immer wieder aufleuchtenden Tatsachen werden verraten, was alles hier verborgen liegt. Was bedeutet die in allen Kulturen auffallende 50jährige Periode im Rhythmus des politischen, geistigen, künstlerischen Werdens? (Ich mache hier nur auf den Abstand der drei Punischen Kriege und auf die ebenfalls rein rhythmisch zu begreifende Reihe des spanischen Erbfolgekrieges, der Kriege Friedrichs des Großen, Napoleons, Bismarcks und des Weltkriegs aufmerksam; vgl. Bd. II, S. 1047 Anm.. Das seelische Verhältnis zwischen Großvater und Enkel hängt damit zusammen. Daher stammt die Überzeugung primitiver Völker, daß die Seele des Großvaters im Enkel zurückkehre, und die verbreitete Sitte, dem Enkel den Namen des Großvaters zu geben, der mit seiner mystischen Kraft dessen Seele wieder in die Körperwelt bannt.) Was die 300jährigen Perioden des Barock, der Ionik, der großen Mathematiken, der attischen Plastik, der Mosaikmalerei, des Kontrapunkts, der galileischen Mechanik? Was bedeutet die ideale Lebensdauer von einem Jahrtausend für jede Kultur im Vergleich zu der des Einzelnen, dessen »Leben 70 Jahre währt«?“ (Ebd., S. 147-148Spengler).

„Wie Blätter, Blüten, Zweige, Früchte in ihrer Gestalt, Tracht und Haltung ein Pflanzendasein zum Ausdruck bringen, so tun es die religiösen, gelehrten, politischen, wirtschaftlichen Bildungen im Dasein einer Kultur.“ (Ebd., S. 148Spengler).

„In diesem Sinne wiederholt nun auch mit tiefster Notwendigkeit jedes irgendwie bedeutende Einzeldasein alle Epochen der Kultur, welcher es angehört.“ (Ebd., S. 149Spengler). Vgl. daher auch Spenglers Wiederholungen Spengler

„Als Goethe den Urfaust entwarf, war er Parzival. Als er den ersten Teil abschloß, war er Hamlet. Erst mit dem Zweiten Teil wurde er der Weltmann des 19. Jahrhunderts ....“ (Ebd., S. 149Spengler).

„Und Goethes zweiter Faust, Wagners Parsifal verraten im voraus, welche Gestalt unser Seelentum in den nächsten, den letzten schöpferischen Jahrhunderten annehmen wird. Erst mit dem Zweiten Teil wurde er der Weltmann des 19. Jahrhunderts, welcher Byron verstand. Selbst das Greisentum, jene grillenhaften und unfruchtbaren Jahrhunderte des spätesten Hellenismus, die »zweite Kindheit« einer müden, blasierten Intelligenz, ist an mehr als einem großen Greise der Antike zu studieren. In den Bacchen des Euripides ist viel vom Lebensgefühl, in Platos Timaios viel von dem religiösen Synkretismus der Kaiserzeit vorweggenommen. Und Goethes zweiter Faust, Wagners Parsifal verraten im voraus, welche Gestalt unser Seelentum in den nächsten, den letzten schöpferischen Jahrhunderten annehmen wird.“ (Ebd., S. 149Spengler).

„Als Homologie der Organe bezeichnet die Biologie deren morphologische Gleichwertigkeit im Gegensatz zur Analogie, die sich auf die Gleichwertigkeit der Funktion bezieht. Goethe hat diesen bedeutenden und in der Folge so fruchtbaren Begriff konzipiert, dessen Verfolgung ihn zur Entdeckung des os intermaxillare beim Menschen führte; Owen hat ihm eine streng wissenschaftliche Fassung gegeben. Ich führe auch diesen Begriff in die historische Methode ein.“ (Ebd., S. 149Spengler).

„Man weiß, daß jedem Teil des menschlichen Kopfskeletts bei jedem Wirbeltier bis zu den Fischen herab ein anderer genau entspricht, daß die Brustflossen der Fische und die Füße, Flügel, Hände der landbewohnenden Wirbeltiere homologe Organe sind, auch wenn sie den leisesten Anschein von Ähnlichkeiten verloren haben.“ (Ebd., S. 149-150Spengler).

„Homolog sind die Lunge der Landtiere und die Schwimmblase der Fische, analog - in bezug auf den Gebrauch - sind Lunge und Kiemen. (Anmerkung). Hier äußert sich eine vertiefte, durch strengste Schulung des Blicks erworbene morphologische Begabung, die der heutigen Geschichtsforschung mit ihren oberflächlichen Vergleichen - zwischen Christus und Buddha, Archimedes und Galilei, Cäsar und Wallenstein, der deutschen und der hellenischen Kleinstaaterei - völlig fremd ist. Es wird im Verlauf dieses Buches immer deutlicher werden, welch ungeheure Perspektiven sich dem historischen Blick eröffnen, sobald jene strenge Methode auch innerhalb der Geschichtsbetrachtung verstanden und ausgebildet worden ist. Homologe Bildungen sind, um hier nur weniges zu nennen, die antike Plastik und die abendländische Instrumentalmusik, die Pyramiden der 4. Dynastie und die gotischen Dome, der indische Buddhismus und der römische Stoizismus (Buddhismus und Christentum sind nicht einmal analog), die Zeit der »kämpfenden Staaten« Chinas, der Hyksos und der Punischen Kriege, die des Perikles und der Ommaijaden, die Epochen des Rigveda, Plotins und Dantes. Homolog sind dionysische Strömung und Renaissance, analog dionysische Strömung und Reformation. Für uns - das hat Nietzsche richtig gefühlt - »resümiert Wagner die Modernität« (NietzscheNietzscheWagner). Folglich muß es für die antike Modernität etwas Entsprechendes geben: es ist die pergamenische Kunst (Pergamon). (Die Tafeln am Anfang geben einen vorläufigen Begriff von der Fruchtbarkeit dieses AspektsTafeln).“ (Ebd., S. 150Spengler).

„Aus der Homologie historischer Erscheinungen folgt sogleich ein völlig neuer Begriff: Ich nenne »gleichzeitig« zwei geschichtliche Tatsachen, die, jede in ihrer Kultur, in genau derselben - relativen - Lage auftreten und also eine genau entsprechende Bedeutung haben. Es war gezeigt worden, wie die Entwicklung der antiken und der abendländischen Mathematik in völliger Kongruenz verläuft. Hier hätten also Pythagoras und Descartes, Archytas und Laplace, Archimedes und Gauß als gleichzeitig bezeichnet werden dürfen. Gleichzeitig vollzieht sich die Entstehung der Ionik und des Barock. Polygnot und Rembrandt, Polyklet und Bach sind Zeitgenossen. Gleichzeitig erscheinen in allen Kulturen die Reformation, der Puritanismus, vor allem die Wende zur Zivilisation. In der Antike trägt diese Epoche die Namen Philipps und Alexanders, im Abendlande tritt das gleichzeitige Ereignis in Gestalt der Revolution und Napoleons ein. Gleichzeitig werden Alexandria, Bagdad und Washington erbaut (Spengler); gleichzeitig erscheinen die antike Münze und unsre doppelte Buchführung, die erste Tyrannis und die Fronde, Augustus und Schi Hoang-ti, Hannibal und der Weltkrieg.“ (Ebd., S. 150-151Spengler).

„Ich hoffe zu beweisen, daß ohne Ausnahme alle großen Schöpfungen und Formen der Religion, Kunst, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft in sämtlichen Kulturen gleichzeitig entstehen, sich vollenden, erlöschen; daß der inneren Struktur der einen die aller anderen durchaus entspricht; daß es nicht eine Erscheinung von tiefer physiognomischer Bedeutung im geschichtlichen Bilde der einen gibt, deren Gegenstück, und zwar in einer streng bezeichnenden Form und an ganz bestimmter Stelle nicht in den übrigen aufzufinden wäre. Allerdings bedarf es, um diese Homologie zweier Tatsachen zu begreifen, einer ganz andem Vertiefung und Unabhängigkeit vom Augenschein des Vordergrundes, als sie unter Historikern bisher üblich war, die sich nie hätten träumen lassen, daß der Protestantismus in der dionysischen Bewegung sein Gegenbild findet und daß der englische Puritanismus im Abendlande dem Islam in der arabischen Welt entspricht.“ (Ebd., S. 151Spengler).

„Aus diesem Aspekt ergibt sich eine Möglichkeit, die weit über den Ehrgeiz aller bisherigen Geschichtsforschung hinausgeht, welcher sich im wesentlichen darauf beschränkte, Vergangnes, soweit man es kannte, zu ordnen, und zwar nach einem einreihigen Schema: die Möglichkeit nämlich, die Gegenwart als Grenze der Untersuchung zu überschreiten und auch die noch nicht abgelaufenen Zeitalter abendländischer Geschichte nach innerer Form, Dauer, Tempo, Sinn, Ergebnis vorauszubestimmen, aber auch längst verschollene und unbekannte Epochen, ja ganze Kulturen der Vergangenheit an der Hand morphologischer Zusammenhänge zu rekonstruieren (ein Verfahren nicht unähnlich dem der Paläontologie, die heute fähig ist, aus einem einzigen aufgefundenen Schädelfragment weitgehende und sichere Angaben über das Skelett und die Zugehörigkeit des Stückes zu einer bestimmten Art zu machen).“ (Ebd., S. 151-152Spengler).

„Es ist, den physiognomischen Takt vorausgesetzt, durchaus möglich, aus zerstreuten Einzelheiten der Ornamentik, Bauweise, Schrift, aus vereinzelten Daten politischer, wirtschaftlicher, religiöser Natur die organischen Grundzüge des Geschichtsbildes ganzer Jahrhunderte wiederzufinden, aus Elementen der künstlerischen Formensprache etwa die gleichzeitige Staatsform, aus mathematischen Formen den Charakter der entsprechenden wirtschaftlichen abzulesen, ein echt Goethesches, auf Goethes Idee vom Urphänomen zurückführendes Verfahren, das in beschränktem Umfange der vergleichenden Tier- und Pflanzenkunde geläufig ist, das sich aber in einem nie geahnten Grade auf den gesamten Bereich der Historie ausdehnen läßt.“ (Ebd., S. 152Spengler).

Anfang des Kapitels „Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip“

„Dieser Gedankengang erschließt endlich den Blick auf einen Gegensatz, der den Schlüssel zu einem der ältesten und mächtigsten Menschheitsprobleme bildet, das erst durch ihn zugänglich und - soweit das Wort überhaupt einen Sinn hat - lösbar erscheint: den Gegensatz von Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip, der wohl niemals bisher als solcher, in seiner tiefen, weltgestaltenden Notwendigkeit erkannt worden ist. Wer überhaupt versteht, inwiefern man die Seele als Idee eines Daseins bezeichnen kann, der wird auch ahnen, wie nahe verwandt ihr die Gewißheit eines Schicksals ist und inwiefern das Leben selbst, das ich die Gestalt nannte, in welcher die Verwirklichung des Möglichen sich vollzieht (Spengler), als gerichtet, als unwiderruflich in jedem Zuge, als schicksalhaft hingenommen werden muß - dumpf und ängstigend vom Urmenschen, klar und in der Fassung einer Weltanschauung, die allerdings nur durch die Mittel der Religion und Kunst, nicht durch Begriffe und Beweise mitgeteilt werden kann, vom Menschen hoher Kulturen. Jede höhere Sprache besitzt eine Anzahl Worte, die wie von einem tiefen Geheimnis umgeben sind: Geschick, Verhängnis, Zufall, Fügung, Bestimmung. (Vgl. auch z.B. den Gegensatz von Schicksal und ZufallSpenglerSpengler). Keine Hypothese, keine Wissenschaft kann je an das rühren, was man fühlt, wenn man sich in den Sinn und Klang dieser Worte versenkt. Es sind Symbole, nicht Begriffe. Hier ist der Schwerpunkt des Weltbildes, das ich die Welt als Geschichte im Unterschiede von der Welt als Natur genannt habe. Die Schicksalsidee verlangt Lebenserfahrung, nicht wissenschaftliche Erfahrung, die Kraft des Schauens, nicht Berechnung, Tiefe, nicht Geist. Es gibt eine organische Logik, eine instinkthafte, traumsichere Logik allen Daseins im Gegensatz zu einer Logik des Anorganischen, des Verstehens, des Verstandenen. Es gibt eine Logik der Richtung gegenüber einer Logik des Ausgedehnten. Kein Systematiker, kein Aristoteles, kein Kant hat mit ihr etwas anzufangen gewußt. Sie verstehen von Urteil, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Erinnerung zu reden, aber sie schweigen von dem, was in den Worten Hoffnung, Glück, Verzweiflung, Reue, Ergebenheit, Trotz liegt. Wer hier, im Lebendigen, Gründe und Folgen sucht und wer da glaubt, daß eine tiefinnere Gewißheit über den Sinn des Lebens (SpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpengler) gleichbedeutend mit Fatalismus und Prädestination sei, der weiß gar nicht, wovon die Rede ist, der hat schon das Erlebnis mit dem Erkannten und Erkennbaren verwechselt. Kausalität ist das Verstandesmäßige, Gesetzhafte, Aussprechbare, das Merkmal unsres gesamten verstehenden Wachseins. Schicksal ist das Wort für eine nicht zu beschreibende innere Gewißheit. Man macht das Wesen des Kausalen deutlich durch ein physikalisches oder erkenntniskritisches System, durch Zahlen, durch begriffliche Zergliederung. Man teilt die Idee des Schicksals nur als Künstler mit, durch ein Bildnis, durch eine Tragödie, durch Musik. Das eine erfordert eine Unterscheidung, also Zerstörung, das andre ist durch und durch Schöpfung. Darin liegt die Beziehung des Schicksals zum Leben, der Kausalität zum Tode. In der Schicksalsidee offenbart sich die Weltsehnsucht einer Seele, ihr Wunsch nach dem Licht, dem Aufstieg, nach Vollendung und Verwirklichung ihrer Bestimmung. Sie ist keinem Menschen ganz fremd, und erst der späte, wurzellose Mensch der großen Städte mit seinem Tatsachensinn und der Macht seines mechanisierenden Denkens über das ursprüngliche Schauen verliert sie aus den Augen, bis sie in einer tiefen Stunde mit furchtbarer, alle Kausalität der Weltoberfläche zermalmender Deutlichkeit vor ihm steht. Denn die Welt als System kausaler Zusammenhänge ist spät, selten und nur dem energischen Intellekt hoher Kulturen ein sichrer, gewissermaßen künstlicher Besitz. Kausalität deckt sich mit dem Begriff des Gesetzes. Es gibt nur Kausalität. Aber wie im Kausalen nach Kants Feststellung eine Notwendigkeit des denkenden Wachseins liegt, die Grundform seiner Beziehung zur Welt der Dinge, so bezeichnen die Worte Schicksal, Fügung, Bestimmung eine unentrinnbare Notwendigkeit des Lebens. Wirkliche Geschichte ist schicksalsschwer, aber frei von Gesetzen.“ (Ebd., S. 152-154Spengler).

Schicksal und Kausalität verhalten sich wie Zeit und Raum. (Spengler). In beiden möglichen Weltbildungen, in Geschichte und Natur, der Physiognomie alles Werdens und dem System alles Gewordnen, herrschen also Schicksal oder Kausalität. Zwischen ihnen besteht der Unterschied eines Lebensgefühls und einer Erkenntnisweise. Jedes von ihnen ist der Ausgangspunkt einer vollkommenen und in sich geschlossenen, nur nicht der einzigen Welt. Aber das Werden liegt dem Gewordenen, das innere und gewisse Fühlen eines Schicksals mithin dem Erkennen von Ursache und Wirkung zugrunde. Kausalität ist - wenn man sich so ausdrücken darf - gewordenens, entorganisiertes, in Formen des Verstandes erstarrtes Schicksal. Das Schicksal selbst ... steht jenseits und außerhalb aller begriffenen Natur. .... Wir erfahren hier wieder, in welchem Sinne Werden und Gewordnes, Richtung und Ausdehnung einander erschließen und unterordnen, je nachdem wir geschichtlich oder naturhaft »im Bilde sind«. Ist »Geschichte« diejenige Art der Weltfassung, in welcher alles Gewordne dem Werden eingefügt wird, so müßte das auch mit den Eregebnissen der Naturforschung der Fall sein. Und in der Tat, für den Blick des Historikers gibt es nur eine Geschichte der Physik. .... Ist »Natur« die Fassung, welche verstandesmäßig das Werden dem Gewordenen einverleiben möchte, die lebendige Richtung also der starren Ausdehnung, so darf die Geschichte bestenfalls in einem Kapitel der Erkenntnistheorie erscheinen ... Aber Kausalität hat mit Zeit gar nichts zu tun. Das wirkt heute als Paradoxon ohnegleichen, vor einer Welt von Kantianern, die gar nicht wissen, wie sehr sie es sind. Indessen läßt sich in jeder Formel der abendländischen Physik das Wie dem Wesen nach von dem Wann und Wielange unterscheiden. Der kausale Zusammenhang beschränkt sich, sobald man in die Tiefe dringt, streng darauf, daß etwas geschieht, nicht wann es geschieht. Die »Wirkung« muß mit der »Ursache« notwendig gesetzt sein.“ (Ebd., S. 155-156Spengler).

„Erst aus dem Urgefühl der Sehnsucht und dessen Verdeutlichung in der Schicksalsidee wird nunmehr das Zeitproblem zugänglich, dessen Gehalt, soweit er das Thema des Buches berührt, kurz umschrieben werden soll. Mit dem Worte Zeit wird immer etwas höchst Persönliches angerufen, das, was anfangs als das Eigne bezeichnet worden war, insofern es mit innerer Gewißheit als Gegensatz zu etwas Fremdem empfunden wird, das in, mit und unter den Eindrücken des Sinnenlebens auf das Einzelwesen eindringt. Das Eigne, das Schicksal, die Zeit sind Wechselworte.“ (Ebd., S. 158Spengler)

„Das Problem der Zeit ist wie das des Schicksals von allen auf die Systematik des Gewordenen eingeschränkten Denkern mit vollkommenem Unverständnis behandelt worden. In Kants berühmter Theorie ist von dem Merkmal des Gerichtetseins mit keinem Wort die Rede. Man hat Äußerungen darüber nicht einmal vermißt. Aber was ist das - Zeit als Strecke, Zeit ohne Richtung? Alles Lebendige besitzt - hier kann man sich nur wiederholen - »Leben«, Richtung, Triebe, Wollen, eine mit Sehnsucht aufs tiefste verwandte Bewegtheit, die mit der »Bewegung« des Physikers nicht das geringste zu tun hat. Das Lebendige ist unteilbar und nicht umkehrbar, einmalig, nie zu wiederholen und in seinem Verlaufe mechanisch völlig unbestimmbar: das alles gehört zur Wesenheit des Schicksals. Und »Zeit« – das, was man beim Klang des Wortes wirklich fühlt, was Musik besser verdeutlichen kann als Worte, Poesie besser als Prosa – hat im Unterschied vom toten Räume diesen organischen Wesenszug. Damit aber verschwindet die von Kant und allen andern geglaubte Möglichkeit, die Zeit neben dem Raum einer gleichartigen erkenntniskritischen Erwägung unterwerfen zu können. Raum ist ein Begriff. Zeit ist ein Wort, um etwas Unbegreifliches anzudeuten, ein Klangsymbol, das man völlig mißversteht, wenn man es ebenfalls als Begriff wissenschaftlich zu behandeln sucht. Selbst das Wort Richtung, das sich nicht ersetzen läßt, ist geeignet, durch seinen optischen Gehalt irrezuführen. Der Vektorbegriff der Physik ist ein Beweis dafür.“ (Ebd., S. 158-159Spengler).

„Dem Urmenschen kann das Wort »Zeit« nichts bedeuten. Er lebt, ohne es durch den Gegensatz zu etwas anderem nötig zu haben. Er hat Zeit, aber er weiß nichts von ihr. Wir alle werden uns, indem wir wach sind, nur des Raumes, nicht der Zeit bewußt. Er »ist«, nämlich in und mit unsrer Sinnenwelt, und zwar als ein Sichausdehnen, solange wir träumerisch, triebhaft, schauend, »weise« vor uns hin leben, als Raum im strengen Sinne in den Augenblicken gespannter Aufmerksamkeit. »Die Zeit« dagegen ist eine Entdeckung, die wir erst denkend machen; wir erzeugen sie als Vorstellung oder Begriff, und noch viel später ahnen wir, daß wir selbst, insofern wir leben, die Zeit sind. (Auch das Sinnenleben und Geistesleben ist Zeit; erst das Sinnen- und Geisteserlebnis, die Welt, ist raumhafter Natur. [Über die größere Nähe des Weiblichen zur Zeit vgl. Bd. II, S. 961 ff.].) Erst das Weltverstehen hoher Kulturen entwirft unter dem mechanisierenden Eindruck unter »Natur«, aus dem Bewußtsein eines streng geordneten Räumlichen, Meßbaren, Begriff das raumhafte Bild, das Phantom einer Zeit, das seinem Bedürfnis, alles zu begreifen, zu messen, kausal zu orden, genügen soll. Und dieser Trieb, der in jeder Kultur sehr früh erscheint, schafft jenseits des echten Lebensgefühls das, was alle Kultursprachen Zeit nennen und was dem städtischen Geiste zu einer völlig anorganischen, ebenso irreführenden als geläufigen Größe geworden ist. Mit dem Bilde der Zeit wurde das Wirkliche zum Vergänglichen. Die deutsche Sprache besitzt - wie viele andre - in dem Wort Zeitraum ein Zeichen dafür, daß wir Richtung nur als Ausdehnung uns vorstellen können.“ (Ebd., S. 159-160Spengler).

„Der Mensch vernichtet in einem sehr tiefen Sinne, indem er zeugt: durch leibliche Zeugung in der sinnlichen, durch »Erkennen« in der geistigen Welt. Noch bei Luther hat Erkennen den Nebensinn von Zeugung. Mit dem Wissen um das Leben, das den Tieren fremd blieb, ist das Wissen um den Tod zu jener Macht aufgewachsen, die das gesamte menschliche Wachsein beherrscht. Mit dem Bilde der Zeit wurde das Wirkliche zum Vergänglichen. (Vgl. S. 574 f.).“ (Ebd., S. 160Spengler).

„Die Schöpfung des bloßen Namens Zeit war eine Erlösung ohnegleichen. Etwas beim Namen nennen, heißt Macht darüber gewinnen: dies ist ein wesentlicher Teil urmenschlicher Zauberkünste. Man bezwingt die bösen Mächte durch Nennung ihres Namens. Man schwächt oder tötet seinen Feind, indem man mit dessen Namen gewisse magische Prozeduren vornimmt.“ (Ebd., S. 161Spengler).

„Alles was »wissenschaftlich« über die Zeit gesagt worden ist, ... was nämlich die Zeit »ist«, betrifft niemals das Geheimnis selbst, sondern lediglich ein räumlich gestaltetes, selbstvertretendes Phantom, in dem die Lebendigkeit der Richtung, ihr Schicksalszug, durch das wenn auch noch so verinerlichte Bild einer Strecke ersetzt worden ist, ein mechanisches, meßbares, teilbares und umkehrbares Abbild des in der Tat nicht Abzubildenden; eine Zeit, welche mathematisch in Ausdrücke wie Spengler gebracht werden kann, die die Annahme einer Zeit von der Größe Null oder negative Zeiten wenigstens nicht ausschließen. Ohne Zweifel kommt hier der Bereich des Lebens, des Schicksals, der lebendigen, historischen Zeit gar nicht in Frage. Die Relativitätstheorie, eine Arbeitshypothese, welche im Begriff steht, die Mechanik Newtons - im Grunde bedeutet das: seine Fassung des Bewegungsproblems - zu stürzen, läßt Fälle zu, in welchen die Bezeichnungen »früher« oder »später« sich umkehren; die mathematische Begründung dieser Theorie durch Minkowski wendet imaginäre Zeiteinheiten zu Meßzwecken an.“ (Ebd., S. 161-162Spengler).

„Wenn Philosophen der abendländischen Gegenwart – sie tun es alle – sich der Wendung bedienen, daß die Dinge »in der Zeit« wie im Räume sind und nichts »außerhalb« ihrer »gedacht« werden[162] könne, so setzen sie lediglich eine zweite Art von Räumlichkeiten neben die gewöhnliche. Das ist, als wollte man Hoffnung und Elektrizität die beiden Kräfte des Weltalls nenne“ (Ebd., S. 162-163Spengler).

Die Zeit ist ein Gegenbegriff zum Raume, so wie erst im Gegensatz zum Denken nicht die Tatsache, aber der Begriff des Lebens, und erst im Gegensatz zum Tode nicht die Tatsache, aber der Begriff des Entstehens, der Zeugung entstanden ist. (Vgl. S. 568, 574.)  Das liegt tief im Wesen allen Wachseins begründet. So wie jeder Sinneseindruck erst bemerkt wird, wenn er sich von einem andern abhebt, so ist jede Art von Verstehen als eigentlich kritische Tätigkeit (vgl. S. 570 f.)  nur dadurch möglich, daß ein neuer Begriff sich als Gegenpol eines vorhandenen bildet oder ein Begriffspaar von innerem Gegensatz gewissermaßen durch Auseinandertreten erst Wirklichkeit erhält. Es ist zweifellos und schon längst vermutet worden, daß alle Urworte, mögen sie Dinge oder Eigenschaften bezeichnen, paarweise entstanden sind. Aber ebenso empfängt später und heute noch jedes neue Wort seinen Gehalt als Widerschein eines andern. Das sprachgeleitete Verstehen, unfähig, die innere Gewißheit des Schicksals seiner Formenwelt einzugliedern, hat vom Räume aus »die Zeit« als dessen Gegenüber geschaffen. Andernfalls würden wir weder das Wort noch dessen Inhalt besitzen. Und diese Bildungsweise geht so weit, daß aus dem antiken Stil der Ausdehnung ein spezifisch antiker Zeitbegriff entsprang, der sich vom indischen, chinesischen, abendländischen genau so unterscheidet, wie es mit dem Räume der Fall ist.“ (Ebd., S. 165-166Spengler).

„Die Frage nach dem Geltungsbereich kausaler Zusammenhänge innerhalb eines Naturbildes oder, was nunmehr dasselbe ist, nach den Schicksalen dieses Naturbildes, wird aber noch viel schwieriger, wenn wir zu der Einsicht gelangen, daß es für den ursprünglichen Menschen und das Kind eine vollkommen kausal geordnete Umwelt noch gar nicht gibt, und daß wir, späte Menschen, deren Denken doch unter dem Druck eines übermächtigen, an der Sprache geschärften Denkens steht, selbst in den Augenblicken gespanntester Aufmerksamkeit – den einzigen, in welchen wir wirklich streng physikalisch »im Bilde« sind – bestenfalls behaupten können, daß diese kausale Ordnung auch abgesehen von diesen Augenblicken in der uns umgebenden Wirklichkeit enthalten sei. Wir nehmen wachend dieses Wirkliche, »der Gottheit lebendiges Kleid«, physiognomisch hin, unwillkürlich und auf Grund einer tiefen, in die Quellen des Lebens hinabreichenden Erfahrung. Die systematischen Züge sind Ausdruck eines aus dem gegenwärtigen Empfinden abgehobenen Verstehens, und mit ihnen unterwerfen wir das Vorstellungsbild aller fernen Zeiten und Menschen dem Augenblicksbilde der durch uns selbst geordneten Natur. Die Art dieser Ordnung aber, die eine Geschichte hat, in die wir nicht im geringsten eingreifen können, ist nicht die Wirkung einer Ursache, sondern ein Schicksal.“ (Ebd., S. 166Spengler).

„Die Zeit ist das Tragische, und dem gefühlten Sinne der Zeit nach unterscheiden sich die einzelnen Kulturen. Deshalb hat sich eine Tragödie großen Stils nur in den beiden entwickelt, welche die Zeit am leidenschaftlichsten bejahten oder verneinten. Wir haben eine antike Tragödie des Augenblicks und eine abendländische der Entwicklung ganzer Lebensläufe vor uns. So empfand eine ahistorische und eine extrem historische Seele sich selbst. Unsere Tragik entstand aus dem Gefühl einer unerbitterlichen Logik des Werdens. Der Grieche fühlte das Alogische, das blinde Ungefähr des Moments.“ (Ebd., S. 170Spengler).

„Als eines dieser kaum je begriffenen Zeichen war schon die Uhr genannt worden (Spengler), eine Schöpfung hochentwickelter Kulturen, die immer geheimnisvoller wird, je mehr man darüber nachdenkt. Die antike Menschheit verstand sie zu entbehren – nicht ohne Absichtlichkeit; sie hat weit über Augustus hinaus die Tageszeit nach der Schattenlänge des eignen Körpers abgeschätzt (vgl. Hermann A. Diels, Antike Technik, 1920, S. 159), obwohl Sonnen- und Wasseruhren in den beiden älteren Welten der ägyptischen und babylonischen Seele im Zusammenhang mit einer strengen Zeitrechnung und mit einem tiefen Blick auf Vergangenheit und Zukunft ständig in Gebrauch waren. (Gelehrte Kreise in Attika und Ionien haben etwa seit 400 kunstlose Sonnenuhren konstruiert; seit Plato kommt daneben eine noch primitivere Klepsydra in Aufnahme, aber beide Formen in Nachahmung weit überlegener Muster des alten Ostens und ohne das antike Lebensgefühl irgendwie zu berühren; vgl. Hermann A. Diels, S. 160 ff.) Aber das antike Dasein, euklidisch, beziehungslos, punktförmig, war im gegenwärtigen Moment völlig beschlossen. Nichts sollte an Vergangenes und Künftiges mahnen. Die Archäologie fehlt der echten Antike ebenso wie deren seelische Umkehrung, die Astrologie.“ (Ebd., S. 172-174Spengler).

„Die Archäologie fehlt der echten Antike ebenso wie deren seelische Umkehrung, die Astrologie.“ (Ebd., S. 173Spengler).

„Die antiken Orakel und Sibyllen wollen ebensowenig wie die etruskisch-römischen Haruspices und Auguren die ferne Zukunft erkunden, sondern für den einzelnen, unmittelbar bevorstehenden Fall eine Weisung geben. Und ebensowenig gab es eine in das Alltagsbewußtsein gedrungene Zeitrechnung, denn die Olympiadenrechnung war lediglich ein literarischer Notbehelf. Es kommt nicht darauf an, ob ein Kalender gut oder schlecht ist, sondern für wen er im Gebrauch ist, ob das Leben der Nation danach läuft. In antiken Städten erinnert nichts an die Dauer, an die Vorzeit, an das Bevorstehende, keine pietätvoll gepflegte Ruine, kein für noch ungeborne Geschlechter vorgedachtes Werk, kein trotz technischer Schwierigkeiten mit Bedeutung gewähltes Material. Der dorische Grieche hat die mykenische Steintechnik unbeachtet gelassen und baute wieder in Holz und Lehm, trotz des mykenischen und ägyptischen Vorbildes und trotz des Reichtums seiner Landschaft an den besten Gesteinen. Der dorische Stil ist ein Holzstil. Noch zur Zeit des Pausanias sah man am Heraion in Olympia die letzte nicht ausgewechselte Holzsäule. In einer antiken Seele ist das eigentliche Organ für Geschichte, das Gedächtnis in dem hier stets vorausgesetzten Sinne, welches das Bild der persönlichen und dahinter das der nationalen und weltgeschichtlichen Vergangenheit (Spengler) und den Gang des eignen und nicht nur eignen Innenlebens immer gegenwärtig erhält, nicht vorhanden. Es gibt keine »Zeit«. Für den Geschichtsbetrachter erhebt sich gleich hinter der eignen Gegenwart ein zeitlich und also innergeschichtlich nicht mehr geordneter Hintergrund, dem für Thukydides schon die Perserkriege, für Tacitus schon die gracchischen Unruhen angehören (vgl. S. 12 ff. [Spengler]), und dasselbe gilt von den großen Geschlechtern Roms, deren Tradition nichts als ein Roman war – man denke an den Cäsarmörder Brutus und dessen festen Glauben an seinen berühmten Ahnherrn. Daß Cäsar den Kalender reformierte, darf man beinahe als einen Akt der Emanzipation vom antiken Lebensgefühl bezeichnen: aber Cäsar dachte auch an den Verzicht auf Rom und an die Verwandlung des Stadtstaates in ein dynastisches, also dem Symbol der Dauer unterstelltes Reich mit dem Schwerpunkt in Alexandria, von wo sein Kalender stammt. Seine Ermordung wirkt wie eine letzte Auflehnung eben dieses, in der Polis, der Urbs Roma verkörperten, der Dauer feindlichen Lebensgefühls.“ (Ebd., S. 172-174Spengler).

„Man erlebte selbst damals noch jede Stunde, jeden Tag für sich. Das gilt vom einzelnen Hellenen und Römer, von der Stadt, der Nation, der ganzen Kultur. Die von Kraft und Blut strömenden Prachtaufzüge, Palastorgien und Zirkuskämpfe unter Nero und Caligula, die Tacitus, ein echter Römer, allein beschreibt, während er für das leise Vorwärtsschreiten im Leben der weiten Landschaft der Provinzen kein Auge und keine Worte hat, sind der letzte prachtvolle Ausdruck dieses euklidischen, den Leib, die Gegenwart vergötternden Weltgefühls. Die Inder, deren Nirwana auch durch den Mangel an irgendwelcher Zeitrechnung ausgedrückt ist, besaßen ebenfalls keine Uhren und also keine Geschichte, keine Lebenserinnerungen, keine Sorge. Was wir, eminent historisch angelegte Menschen, indische Geschichte nennen, ist ohne das geringste Bewußtsein seiner selbst verwirklicht worden. Das Jahrtausend der indischen Kultur von den Veden bis auf den Buddha herab wirkt auf uns wie die Regungen eines Schlafenden. Hier war das Leben wirklich ein Traum. Nichts steht diesem Indertum ferner als das Jahrtausend der abendländischen Kultur. Niemals, selbst im »gleichzeitigen« China der Dschouzeit nicht mit seinem hochentwickelten Sinn für Zeitalter und Epochen (vgl. S. 1041 f., 1081 f. [Spengler]), war man wacher, bewußter; niemals ist die Zeit tiefer gefühlt und mit dem vollen Bewußtsein ihrer Richtung und schicksalsschweren Bewegtheit erlebt worden.“ (Ebd., S. 174Spengler).

Die Geschichte Westeuropas ist gewolltes, die indische ist widerfahrenes Schicksal. Im antiken Dasein spielen Jahre keine Rolle, im indischen kaum Jahrzehnte; für uns ist die Stunde, die Minute, zuletzt die Sekunde von Bedeutung. Von der tragischen Spannung historischer Krisen, wo der Augenblick schon erdrückend wirkt wie in den Augusttagen 1914, hätte weder ein Grieche noch ein Inder eine Vorstellung haben können. Aber solche Krisen können tiefe Menschen des Abendlandes auch in sich erleben, der echte Hellene nie. Über unsrer Landschaft hallen Tag und Nacht von Tausenden von Türmen die Glockenschläge, die ständig Zukunft an Vergangnes knüpfen und den flüchtigen Moment der »antiken Gegenwart« in einer ungeheuren Beziehung auflösen. Die Epoche, welche die Geburt dieser Kultur bezeichnet, die Zeit der Sachsenkaiser, sah auch schon die Erfindung der Räderuhren. (Darf die Vermutung gewagt werden, daß »gleichzeitig«, also an der Schwelle des 3. vorchristlichen Jahrtausends, die babylonischen Sonnen- und die ägyptischen Wasseruhren entstanden sind? Die Geschichte der Uhren ist von der des Kalenders innerlich nicht zu trennen, und deshalb muß auch für die chinesische und mexikanische Kultur mit ihrem tiefen Sinn für Geschichte die sehr frühe Erfindung und Einbürgerung zeitmessender Verfahren angenommen werden.) Ohne peinlichste Zeitmessung – eine Chronologie des Geschehenden, die durchaus unserm ungeheuren Bedürfnis nach Archäologie, das heißt Erhaltung, Ausgrabung, Sammlung alles Geschehenen entspricht – ist der abendländische Mensch nicht denkbar. Die Barockzeit steigerte das gotische Symbol der Turmuhr noch weiter zu dem grotesken der Taschenuhr, die den einzelnen ständig begleitet. (Man muß sich in die Gefühle eines Griechen versetzen, der diese Sitte plötzlich kennenlernt.)“ (Ebd., S. 174-175Spengler).

„Es ist das Urgefühl der Sorge, das die Physiognomie der abendländischen wie der ägyptischen und chinesischen Geschichte beherrscht und auch noch die Symbolik des Erotischen gestaltet, in dem sich das Dahinströmen nie endenden Lebens im Bilde der Geschlechterfolgen von Einzelwesen darstellt. Das punktförmige euklidische Dasein der Antike empfand auch da nur das Jetzt und Hier der entscheidenden Akte, Zeugung und Geburt. Es stellte deshalb in den Mittelpunkt der demetrischen Kulte die Wehen des gebärenden Weibes, in die antike Welt überhaupt das dionysische Symbol des Phallus, das Zeichen einer durchaus dem Augenblick geweihten und Vergangenheit wie Zukunft in ihm vergessenden Geschlechtlichkeit. Wiederum entspricht ihm in der indischen Welt das Zeichen des Lingam und der Kultkreis um die Göttin Parwati. Der Mensch fühlt sich hier wie dort als Natur, als Pflanze, dem Sinn des Werdens willenlos und sorglos hingegeben. Der häusliche Kult des Römers galt dem genius, d.h. der Zeugungskraft des Familienhauptes. Dem hat die tiefe und nachdenkliche Sorge der abendländischen Seele das Zeichen der Mutterliebe entgegengestellt, das im antiken Mythos kaum am Horizont erscheint, etwa in der Klage der Persephone oder dem schon hellenistischen Sitzbild der Demeter von Knidos. Die Mutter, welche das Kind – die Zukunft – an der Brust trägt: der Marienkult in diesem neuen, faustischen Sinn ist erst in den Jahrhunderten der Gotik erblüht (nicht vergessen: Spengler zufolge ist in der Gotik auch die Romanik enthalten! HB). Seinen höchsten Ausdruck fand er in Raffaels sixtinischer Madonna. Das ist nicht christlich überhaupt, denn das magische Christentum hatte Maria als Theotokos, als Gebärerin Gottes, zu einem ganz anders gefühlten Symbol erhoben. Die stillende Mutter ist der altchristlich-byzantinischen Kunst ebenso fremd wie der hellenischen, wenn auch aus einem andern Grunde; sicherlich steht Gretchen im Faust mit dem tiefen Zauber ihrer unbewußten Mütterlichkeit den gotischen Madonnen näher als alle Marien byzantinischer und ravennatischer Mosaiken. Für die Innerlichkeit dieser Beziehungen ist es erschütternd, daß die Madonna mit dem Jesusknaben durchaus der ägyptischen Isis mit dem Horusknaben entspricht – beide sind sorgende Mütter – und daß dies Symbol Jahrtausende hindurch und während der ganzen Dauer der antiken und arabischen Kultur, für die es nichts bedeuten konnte, verschollen war, um endlich durch die faustische Seele wieder erweckt zu werden.“ (Ebd., S. 177-178Spengler)

„Von der mütterlichen führt der Weg zur Vätersorge und damit zum höchsten Zeitsymbol, das im Umkreis der großen Kulturen hervorgetreten ist, dem Staate. Was der Mutter das Kind bedeutet, Zukunft und Fortdauer des eignen Lebens nämlich, so daß in der Mutterliebe die Getrenntheit zweier Einzelwesen gleichsam aufgehoben wird, das bedeutet für Männer die bewaffnete Gemeinschaft, durch die sie Haus und Herd, Weib und Kind und damit das ganze Volk, seine Zukunft und Wirksamkeit sichern. Der Staat ist die innere Form, das »In-Formsein« einer Nation, und Geschichte im großen Sinne ist dieser Staat nicht als Bewegtes, sondern als Bewegung gedacht. Das Weib als Mutter ist, der Mann als Krieger und Politiker macht Geschichte. ().“ (Ebd., S. 178-179Spengler).

„Und da zeigt die Geschichte der hohen Kulturen wieder drei Beispiele sorgenvoller Staatsbildungen: die ägyptische Verwaltung schon des Alten Reiches seit 3000 v. Chr., den frühchinesischen Staat der Dschou, von dessen Organisation das Dschou-li ein solches Bild entwarf, daß man später an die Echtheit des Buches nicht zu glauben wagte, und die Staaten des Abendlandes, deren vorausschauende Gestaltung einen Zukunftswillen verrät, der nicht mehr überboten werden kann. (Vgl. das Kapitel „Der Staat“, S. 961-1144Vgl. das Kapitel „Die Formenwelt der Wirtschaft“, S. 1145-1195). Und demgegenüber erscheint zweimal ein Bild sorglosester Hingegebenheit an den Augenblick und seine Zufälle: der antike und der indische Staat. So verschieden an sich Stoizismus und Buddhismus, die Altersstimmungen beider Welten sind, im Widerspruch gegen das historische Gefühl der Sorge, in der Verachtung also des Fleißes, der organisatorischen Kraft, des Pflichtbewußtseins sind sie einig, und deshalb hat an indischen Königshöfen und auf dem Forum antiker Städte niemand an das Morgen gedacht, weder für seine Person noch für die Gesamtheit. Das Carpe diem des apollinischen Menschen galt auch für den antiken Staat.“ (Ebd., S. 179Spengler).

„Wie mit der politischen, so steht es auch mit der andern Seite geschichtlichen Daseins, der wirtschaftlichen. Der antiken und indischen Liebe, die im Genießen des Augenblicks beginnt und endet, entspricht das Leben von der Hand in den Mund. Es gibt eine Wirtschaftsorganisation großen Stils in Ägypten, wo sie das ganze Bild der Kultur ausfüllt und aus Tausenden von Gemälden voller Emsigkeit und Ordnung noch heute zu uns redet; in China, dessen Mythos von Göttern und Sagenkaisern und dessen Geschichte beständig um die heiligen Aufgaben der Bodenkultur kreisen; endlich in Westeuropa, dessen Wirtschaft mit den Musterkulturen der Orden begann und mit einer eignen Wissenschaft, der Nationalökonomie, den Gipfel erreichte, die von Anfang an Arbeitshypothese war und nicht eigentlich lehrte, was geschah, sondern was geschehen sollte. In der Antike aber, um von Indien zu schweigen, wirtschaftete man von einem Tag zum andern – obwohl das Vorbild Ägyptens vor Augen lag – und trieb Raubbau nicht nur an Schätzen, sondern auch an Möglichkeiten, um zufällige Überschüsse sofort an den Pöbel zu verschwenden. Man prüfe alle großen Staatsmänner der Antike, Perikles und Cäsar, Alexander und Scipio, und selbst die Revolutionäre wie Kleon und Ti. Gracchus: keiner von ihnen hat wirtschaftlich in die Ferne gedacht. Keine Stadt hat die Entwässerung oder Aufforstung eines Gebiets oder die Einführung höherer Methoden oder Vieh- und Pflanzenarten in die Hand genommen. Man versteht die »Agrarreform« der Gracchen ganz falsch, wenn man sie abendländisch interpretiert: sie wollten ihre Partei zu Besitzern machen. Sie zu Landwirten zu erziehen oder gar die italische Landwirtschaft zu heben, lag ihnen ganz fern. Man ließ die Zukunft herankommen, man versuchte nicht, auf sie zu wirken. Und deshalb ist der Sozialismus – nicht der theoretische von Marx, sondern der praktische, von Friedrich Wilhelm I. begründete des Preußentums, der jenem voraufging und ihn wieder überwinden wird – mit seiner tiefen Verwandtschaft zum Ägyptertum das Gegenstück zum wirtschaftlichen Stoizismus der Antike, ägyptisch in seiner umfassenden Sorge für dauerhafte wirtschaftliche Zusammenhänge, in seiner Erziehung des einzelnen zur Pflicht für das Ganze und in der Heiligung des Fleißes, durch den die Zeit und Zukunft bejaht werden.“ (Ebd., S. 179-180Spengler).

„Der alltägliche Mensch sämtlicher Kulturen bemerkt von der Physiognomie allen Werdens, seines eigenen und dessen der lebendigen Welt rings um sich, nur den unmittelbar greifbaren Vordergrund. Die Summe seiner Erlebnisse, der inneren wie der äußeren, füllt als bloße Reihenfolge von Tatsachen den Lauf seiner Tage. Erst der bedeutende Mensch fühlt hinter dem volkstümlichen Zusammenhang der historisch bewegten Oberfläche eine tiefe Logik des Werdens, die in der Schicksalsidee hervortritt und die eben jene oberflächlichen bedeurtungsarmen Bildungen des Tages als zufällig scheinen läßt.“ (Ebd., S. 180-181Spengler).

„Zwischen Schicksal und Zufall scheint zunächst nur ein Grad an Gradunterschied zu bestehen. Man empfindet so etwa als Zufall, daß Goethe nach Sesenheim, und als Schicksal, daß er nach Weimar kam. (SpenglerSpengler). Das eine scheint Episode, das andre Epoche zu sein. Indessen wird daraus deutlich, daß die Unterscheidung vom iunern Range des Menschen abhängt, der sie trifft. Der Menge wird selbst das Leben Goethes als eine Reihe anekdotischer Zufälle erscheinen; wenige werden mit Erstaunen empfinden, welche symbolische Notwendigkeit in ihm auch noch dem Unbedeutsamsten innewohnt. Aber war vielleicht die Entdeckung des heliozentrischen Systems durch Aristarch für die Antike ein belangloser Zufall, die vermeintliche Wiederentdeckung durch Kopernikus dagegen ein Schicksal für die faustische Kultur?  War es ein Schicksal, daß Luther im Gegensatz zu Calvin kein Organisator war - und für wen? .... Hier bleibt das Gebiet der begrifflichen Verständigung weit zurück; was Schicksal, was Zufall ist, das gehört zu den entscheidenden Erlebnissen der einzelnen Seele wie derjenigen ganzer Kulturen. Hier schweigt alle gelehrte Erfahrung, jede wissenschaftliche Einsicht, jede Definition; und wer auch nur den Versuch wagt, beides erkenntnistheoretisch fassen zu wollen, der kennt es gar nicht. .... Wer urteilend an die Geschichte herantritt, wird nur Daten finden.“ (Ebd., S. 181Spengler).

„Schicksal und Zufall bilden jederzeit einen Gegensatz, in den die Seele zu kleiden versucht, was nur Gefühl, nur Erlebnis und Schauen sein kann und was allein durch die innerlichsten Schöpfungen von Religion und Kunst denen verdeutlicht wird, die zur Einsicht berufen sind. Um dies Urgefühl des lebendigen Daseins, das dem Weltbilde der Geschichte Sinn und Gehalt verleiht, heraufzurufen - Name ist Schall und Rauch -, weiß ich nichts Besseres als eine Strophe von Goethe, dieselbe, die an der Spitze dieses Buches dessen Grundgesinnung bezeichnen soll:

Wenn im Unendlichen dasselbe
Sich wiederholend ewig fließt,
Das tausendfältige Gewölbe
Sich kräftig ineinander schließt;
Strömt Lebenslust aus allen Dingen,
Dem kleinsten wie dem größten Stern,
Und alles Drängen, alles Ringen
Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.

„An der Oberfläche des Weltgeschehens herrscht das Unvorhergesehene. Es haftet als Merkmal an jedem Einzelereignis, jeder Einzelentscheidung, jeder Einzelpersönlichkeit.“ (Ebd., S. 182Spengler).

„Daß in den Wirbeln des Werdens ein Element nur ein Schicksal erlitt und ein andres zum Schicksal wurde und oft geung für alle Zukunft, so daß jenes im Wellenschlag der historischen Oberfläche dahinschwand, dieses aber Geschichte schuf, das ist mit keinem Darum und Deshalb zu erklären und doch von innerster Notwendigkeit. Und deshalb gilt auch vom Schicksal, was Augustinus in einem tiefen Augenblick von der Zeit gesagt hat: Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio.“ (Ebd., S. 182-183Spengler).

„Wenden wir uns nun der weiteren Verdeutlichung des Zufälligen zu, so werden wir nicht mehr Gefahr laufen, in ihm eine Ausnahme oder Durchbrechung des kausalen Naturzusammenhanges zu sehen. »Natur« ist nicht das Weltbild, in dem das Schicksal wesenhaft wird. Überall, wo der verinnerlichte Blick sich vom Sinnlich-Gewordnen löst und, der Vision sich nähernd, die Umwelt durchdringt, Urphänomene statt bloßer Objekte auf sich wirken fühlt, tritt der große historische, der außer- und übernatürliche Aspekt ein: es ist der Blick Dantes und Wolframs, auch der des Goetheschen Alters, als dessen Ausdruck vor allem das Ende des zweiten Faust erscheint. Verweilen wir schauend in dieser Welt von Schicksal und Zufall, so scheint es vielleicht zufällig, daß auf diesem kleinen Gestirn unter Millionen Sonnensystemen sich irgendwann die Episode der »Weltgeschichte« abspielt; zufällig, daß die Menschen, ein seltsames tierartiges Gebilde auf der Rinde dieses Sterns, irgendwann das Schauspiel des »Erkennens« und gerade in dieser, von Kant, Aristoteles und andern so sehr verschieden dargestellten Form bieten; zufällig, daß als Gegenpol dieser Erkenntnis gerade diese Naturgesetze in Erscheinung treten (»ewig und allgemeingültig«) und das Bild einer »Natur« wachrufen, von dem jeder einzelne glaubt, daß es für alle dasselbe sei. Die Physik verbannt – mit Recht – den Zufall aus ihrem Bilde, aber es ist doch wieder Zufall, daß sie selbst überhaupt, irgendwann in der Alluvialperiode der Erdoberfläche, einmal als eine besondere Art von Geistesverfassung in Erscheinung trat.“ (Ebd., S. 184-185Spengler).

Die Welt des Zufalls ist die Welt der einmalig-wirklichen Tatsachen, denen wir als Zukunft sehnsüchtig oder angstvoll entgegenleben, die uns als lebendige Gegenwart erheben oder bedrücken, die wir schauend als Vergangenheit mit Freude oder Trauer wiedererleben können. Die Welt der Ursachen und Wirkungen ist die Welt des Beständig-Möglichen, die Welt der zeitlosen Wahrheiten, die man zerlegend und unterscheidend erkennt.“ (Ebd., S. 185Spengler).

„Wie viele Schlachten wurden durch lächerliche Zwischenfälle gewonnen oder verloren!“ (Ebd., S. 187Spengler).

„Und eben diese abendländische Art des Zufälligen ist dem antiken Weltgefühl und mithin dem antiken Drama ganz fremd. Antigone hat keine zufällige Eigenschaft, welche für ihr Geschick irgendwie in Betracht käme. Was dem König Ödipus widerfuhr, hätte – im Gegensatz zum Schicksale Lears – jedem andern widerfahren können. Dies ist das antike Schicksal, das »allgemein menschliche« Fatum, das einem »Leibe« überhaupt gilt und vom zufällig Persönlichen in keiner Weise abhängt.“ (Ebd., S. 187Spengler).

„Wie viele Schlachten wurden durch lächerliche Zwischenfälle gewonnen oder verloren!“ (Ebd., S. 187Spengler).

„Napoleon hat in bedeutenden Augenblicken ein starkes Gefühl für die tiefe Logik des Weltwerdens. Er ahnte dann, inwiefern er ein Schicksal war und inwiefern er eines hatte. »Ich fühle mich gegen ein Ziel getrieben, das ich nicht kenne. Sobald ich es erreicht haben werde, sobald ich nicht mehr notwendig sein werde, wird ein Atom genügen, mich zu zerschmettern. Bis dahin aber werden alle menschlichen Kräfte nichts gegen mich vermögen«, sagte er zu Beginn des russischen Feldzugs. Das war nicht pragmatisch gedacht. In diesem Augenblick ahnte er, wie wenig die Logik des Schicksals eines bestimmten Einzelnen, sei es Mensch oder Lage, bedarf. Er selbst als empirische Person hätte bei Marengo fallen können. Was er bedeutete, wäre dann in andrer Gestalt verwirklicht worden. Eine Melodie ist in den Händen eines großen Musikers reicher Variationen fähig; sie kann für den einfachen Hörer völlig verwandelt sein, ohne in der Tiefe – in einem ganz andern Sinne – sich verändert zu haben. Die Epoche der deutschnationalen Einigung ist in der Person Bismarcks, die der Freiheitskriege in breiten und beinahe namenlosen Ereignissen durchgeführt worden. Beide »Themata« konnten auch anders durchgeführt werden, um in der Sprache des Musikers zu reden. Bismarck hätte früh entlassen und die Schlacht bei Leipzig verloren werden können; die Gruppe der Kriege von 1864, 1866 und 1870 konnte durch diplomatische, dynastische, revolutionäre oder volkswirtschaftliche Tatsachen – »Modulationen« – vertreten werden, obwohl die physiognomische Prägnanz der abendländischen Geschichte, im Gegensatz zum Stil der indischen etwa, an entscheidender Stelle starke Akzente, Kriege oder große Persönlichkeiten, sozusagen kontrapunktisch fordert. Bismarck selbst deutet in seinen Erinnerungen an, daß im Frühling 1848 eine Einigung in weiterem Umfang als 1870 hätte erreicht werden können, was nur an der Politik des preußischen Königs, richtiger an seinem privaten Geschmack scheiterte. Das wäre, auch nach Bismarcks Gefühl, eine matte Durchführung des »Satzes« gewesen, die irgendwie eine Coda (»da capo e poi la coda«) notwendig gemacht hätte. Der Sinn der Epoche – das Thema – wäre aber durch keine Gestaltung des Tatsächlichen verändert worden. Goethe konnte – vielleicht – in frühen Jahren sterben, nicht seine »Idee«. Faust und Tasso wären nicht geschrieben worden, aber sie wären, ohne ihre poetische Greifbarkeit, in einem sehr geheimnisvollen Sinne trotzdem »gewesen«.“ (Ebd., S. 188-189Spengler).

„Denn es war Zufall, daß die Geschichte des höheren Menschentums sich in der Form großer Kulturen vollzieht, und Zufall, daß eine von ihnen um das Jahr 1000 in Westeuropa erwachte. Von diesem Augenblick an aber folgte sie »dem Gesetz, wonach sie angetreten«. Innerhalb jeder Epoche besteht eine unbegrenzte Fülle überraschender und nie vorherzusehender Möglichkeiten, sich in Einzeltatsachen zu verwirklichen, die Epoche selbst aber ist notwendig, weil die Lebenseinheit da ist. Daß ihre innere Form gerade diese ist, ist ihre Bestimmung. Neue Zufälle können deren Entwicklung großartig oder kümmerlich, glücklich oder jammervoll gestalten, aber ändern können sie sie nicht. Eine unwiderrufliche Tatsache ist nicht nur der Einzelfall, sondern auch der Einzeltypus, in der Geschichte des Alls der Typus »Sonnensystem« mit den kreisenden Planeten, in der Geschichte unsres Planeten der Typus »Lebewesen« mit Jugend, Alter, Lebensdauer und Fortpflanzung, in der Geschichte der Lebewesen der Typus des Menschendaseins, in dessen »weltgeschichtlichem« Stadium der Typus der großen Einzelkultur. (Auf der Tatsache, daß eine ganze Gruppe dieser Kulturen vor uns liegt, beruht die vergleichende Methode dieses Buches; vgl. Bd. II, S. 597 ff. Spengler) Und diese Kulturen sind ihrem Wesen nach den Pflanzen verwandt: sie sind für ihre ganze Lebensdauer mit dem Boden verbunden, aus dem sie aufgesprossen sind. Und typisch ist endlich die Art, wie die Menschen einer Kultur das Schicksal auffassen und erleben, mag das Bild für den einzelnen noch so verschieden gefärbt sein. Was hier darüber gesagt wird, ist nicht »wahr«, sondern für diese Kultur und diese Zeitstufe innerlich notwendig, und es überzeugt andre, nicht weil es nur eine Wahrheit gibt, sondern weil sie derselben Epoche angehören.“ (Ebd., S. 189-190Spengler).

„Die euklidische Seele der Antike konnte ihr an gegenwärtigen Vordergründen haftendes Dasein deshalb nur in der Gestalt von Zufällen antiken Stils erleben. Darf man für die abendländische Seele das Zufällige als Schicksal von geringerem Gehalte deuten, so darf umgekehrt das Schicksal für die antike Seele als ein ins Ungeheure gesteigerter Zufall gelten. Das bedeuten Ananke, Heimarmene und Fatum. Weil die antike Seele Geschichte nicht eigentlich durchlebte, besaß sie auch kein eigentliches Gefühl für eine Logik des Schicksals. Man lasse sich nicht durch Worte täuschen. Die volkstümlichste Göttin des Hellenismus war Tyche, die man von Ananke kaum zu scheiden wußte. Schicksal und Zufall aber werden von uns mit der ganzen Wucht eines Gegensatzes empfunden, von dessen Austrag in den Tiefen unseres Daseins alles abhängt.“ (Ebd., S. 190Spengler).

„Noch einmal: was dem Ödipus zustößt, ganz von außen und innerlich durch nichts bedingt und bewirkt, hätte jedem Menschen ohne Ausnahme geschehen können. Das ist die Form des antiken Mythos. Man vergleiche damit die tiefinnere, durch ein ganzes Dasein und das Verhältnis dieses Daseins zur Zeit bedingte Notwendigkeit im Schicksal Othellos, Don Quijotes, Werthers. Das ist – es war schon gesagt – der Unterschied von Situationstragödie und Charaktertragödie. Aber in der Geschichte selbst wiederholt sich dieser Gegensatz. Jede Epoche des Abendlandes hat Charakter, jede Epoche der Antike stellt nur eine Situation dar.“ (Ebd., S. 191Spengler).

„Geschichte ist die Verwirklichung einer Seele, und der gleiche Stil beherrscht die Geschichte, die man macht, und die, welche man schaut. Die antike Mathematik schließt das Symbol des unendlichen Raumes aus, die antike Geschichte mithin auch. Micht umsonst ist die Szene des antiken Daseins die kleinste von allen: die einzelne Polis. Es fehlen ihm Horizont und Perspektiven - trotz der Episode des Alexanderzuges - genau wie der Szene des attischen Theaters mit der flach abschließenden Rückwand. Man vergleiche damit die Fernwirkungen der abendländischen Kabinettsdiplomatie wie des Kapitals. Wie die Hellenen und Römer in ihrem Kosmos nur Vordergründe der Natur erkannten und als wirklich anerkannten, unter innerlichster Ablehnung der chaldäischen Astronomie, wie sie im Grunde nur Haus-, Stadt- und Feldgottheiten, aber keine Gestirngötter besaßen (Spengler), so malten sie auch nur Vordergründe. Niemals ist in Korinth, Athen und Sikyon eine Landschaft mit Gebirgshorizont, ziehenden Wolken, fernen Städten entstanden. Man findet auf allen Vasengemälden nur Figuren von euklidischer Vereinzelung und künstlerischem Selbstgenügen. Jede Giebelgruppe eines Tempels ist von reihenweisem, niemals von kontrapunktischem (soll heißen: abendländischem; HB) Aufbau. Aber man erlebte auch nur Vordergründe. Schicksal war es, was dem Menschen plötzlich zustieß, nicht der »Lauf des Lebens«, und so hat Athen neben dem Fresko Polygnots und der Geometrie der platonischen Akademie die Schicksalstragödie ganz im berüchtigten Sinne der »Braut von Messina« geschaffen. Der vollkommene Unsinn des blinden Verhängnisses, verkörpert z.B. im Atridenfluch, offenbarte dem ahistorischen antiken Seelentum den ganzen Sinn seiner Welt.“ (Ebd., S. 192Spengler).

„Der Zufall wählte die ... Geste ...; die innere Logik (Spengler) ... blieb davon unberührt. (SpenglerSpenglerSpenglerMehr).“ (Ebd., S. 193 Spengler).

„Die französische Revolution konnte durch ein Ereignis von anderer Gestalt und an anderer Stelle, in England oder Deutschland etwa, vertreten werden. Ihre »Idee«, der Übergang der Kultur in die Zivilisation, der Sieg der anorganischen Weltstadt über das organische Land, das nun »Provinz« in geistigem Sinne wird, war notwendig, und zwar in diesem Augenblick. .... Ein Ereignis macht Epoche, das heißt: es bezeichnet im Ablauf einer Kultur eine notwendige, schicksalshafte Wendung. Das zufällige Ereignis selbst, ein Kristallisationsgebilde der historischen Oberfläche, konnte durch entsprechende andre Zufälle vertreten werden; die Epoche ist notwendig und vorbestimmt. Ob ein Ereignis den Rang einer Epoche oder einer Episode in bezug auf eine Kultur und deren Gang einnimmt, das hängt ... mit den Ideen vom Schicksal und Zufall (SpenglerSpengler) ... zusammen.“ (Ebd., S. 193-194Spengler).

„In London war ... die Theorie der »europäischen Zivilisation«, des abendländischen Hellenismus ausgebildet ... worden“ (Ebd., S. 195Spengler).

„Ob das weltumfassende Kolonialsystem, einst von spanischem Geist entworfen ..., ob die »Vereinigten Staaten von Europa«, das Seitenstück damals der Diadochenreiche und nun in Zukunft des Imperium Romanum (oder des Imperium Dollarum der USA; HB), ... als romantische Militärmonarchie auf demokratischer Basis oder im 21. Jahrhundert durch einen cäsarischen Tatsachenmenschen als wirtschaftlicher Organismus Wirklichkeit wurden – das gehört zum Zufälligen des Geschichtsbildes.“ (Ebd., S. 196-197Spengler).

„Seine (Napoleons; HB) Siege und Niederlagen, in denen immer ein Sieg Englands, ein Sieg der Zivilisation über die Kultur verborgen war, sein Kaisertum, sein Sturz, die grande nation, die episodische Befreiung Italiens, die 1796 wie 1859 eigentlich nur das politische Kostüm eines längst bedeutungslos gewordenen Volkes änderte, die Zerstörung des Deutschen Reiches, einer gotischen Ruine, sind Oberflächenbildungen, hinter denen die große Logik der eigentlichen, unsichtbaren Geschichte steht, und in ihrem Sinne vollzog damals das Abendland den Abschluß der in französischer Gestalt, im ancien régime zur Vollendung gelangten Kultur durch die englische Zivilisation. Als Symbole »gleichzeitiger« Zeitwenden entsprechen also die Erstürmung der Bastille, Valmy, Austerlitz, Waterloo und der Aufschwung Preußens den antiken Tatsachen der Schlachten von Chäronea und Gaugamela, dem Zug nach Indien und dem römischen Sieg bei Sentinum, und man begreift, daß in Kriegen und politischen Katastrophen, dem Grundstoff unserer Geschichtsschreibung, der Sieg nicht das Wesentliche eines Kampfes und der Friede nicht das Ziel einer Umwälzung ist.“ (Ebd., S. 197Spengler).

„Wer diese Gedanken in sich aufgenommen hat, wird es verstehen, wie verhängnisvoll das in seiner starren Form erst ganz späten Kulturzuständen eigne und dann um so tyrannischer auf das Weltbild wirkende Kausalitätsprinzip für das Erleben echter Geschichte werden mußte. Kant hatte sehr vorsichtig die Kausalität als notwendige Form der Erkenntnis festgestellt, und es kann nicht oft genug betont werden, daß damit ausschließlich die verstandesmäßige Betrachtung der menschlichen Umwelt gemeint war. Das Wort Notwendigkeit hörte man gern, aber man überhörte die Einschränkung des Prinzips auf ein einzelnes Erkenntnisgebiet, die gerade das Schauen und Erfühlen lebendiger Geschichte ausschloß. Menschenkenntnis und Naturerkenntnis sind dem Wesen nach ganz unvergleichbar. Aber das ganze 19. Jahrhundert war bemüht, die Grenze von Natur und Geschichte zugunsten der ersten zu verwischen. Je historischer man denken wollte, desto mehr vergaß man, wie hier nicht gedacht werden durfte. Indem man das starre Schema einer räumlichen und zeitfeindlichen Beziehung, Ursache und Wirkung, gewaltsam auf Lebendiges anwandte, trug man in das sinnliche Oberflächenbild des Geschehens die konstruktiven Linien des physikalischen Naturbildes ein, und niemand fühlte - inmitten später, städtischer, an kausalen Denkzwang gewöhnter Geister - die tiefe Absurdität einer Wissenschaft, welche ein organisches Werden durch methodisches Mißverstehen als dem Mechanismus eines Gewordenen begreifen wollte. Aber der Tag ist nicht Ursache der Nacht ....“ (Ebd., S. 197-198Spengler).

„Aber der Tag ist nicht Ursache der Nacht, die Jugend nicht die des Alters, die Blüte nicht die der Frucht. Alles was wir geistig erfahren, hat eine Ursache; alles was wir als organisch mit innerer Gewißheit erleben, hat eine Vergangenheit. Jene kennzeichnet den »Fall«, der überall möglich ist und dessen innere Form feststeht, gleichviel wann, wie oft und ob er überhaupt eintritt; diese kennzeichnet das Ereignis, das einmal war und nie wiederkehrt. Und je nachdem wir etwas in unserer Umwelt kritisch bewußt oder physiognomisch und unwillkürlich erfassen, ziehen wir den Schluß aus technischer oder aus Lebenserfahrung, auf eine zeitlose Ursache im Räume also oder auf eine Richtung, die vom Gestern zum Heute und Morgen führt.“ (Ebd., S. 198Spengler).

„Aber der Geist unsrer großen Städte will so nicht schließen. Umgeben von einer Maschinentechnik, die er selbst geschaffen hat, indem er der Natur ihr gefährlichstes Geheimnis, das Gesetz, ablauschte, will er auch die Geschichte technisch erobern, theoretisch und praktisch. Zweckmäßigkeit war das große Wort, mit dem er sie sich ähnlich machte. In der materialistischen Geschichtsauffassung herrschen Gesetze kausaler Natur, und daraus folgte, daß man Nützlichkeitsideale wie Aufklärung, Humanität und Weltfrieden als Zwecke der Weltgeschichte ansetzen durfte, um sie durch den »Fortschrittsprozeß« zu erreichen. Das Gefühl vom Schicksal aber war erstorben in diesen greisenhaften Entwürfen, zugleich mit dem Jugend- und Wagemut, der zukunftsschwanger und selbstvergessen einer dunklen Entscheidung entgegendrängt.“ (Ebd., S. 198Spengler).

„Denn nur die Jugend hat Zukunft und ist Zukunft. Dieser rätselvolle Wortklang aber ist gleichbedeutend mit Richtung der Zeit und Schicksal. Das Schicksal ist immer jung. Wer an seine Stelle eine Kette von Ursachen und Wirkungen setzt, der sieht auch in dem noch nicht Verwirklichten etwas gleichsam Altes und Vergangenes. Die Richtung fehlt. Wer aber in strömendem Überschwang einem Etwas entgegenlebt, der braucht nicht von Zweck und Nutzen zu wissen. Er fühlt sich selbst als Sinn dessen, was geschehen wird. Das war der Glaube an den Stern, der Cäsar und Napoleon nicht verließ und ebensowenig die großen Täter anderer Art, und das liegt zutiefst trotz aller Schwermut junger Jahre in jeder Kindheit, in allen jungen Geschlechtern, Völkern und Kulturen und über die gesamte Geschichte hin in allen Handelnden und Schauenden, die jung sind trotz ihrer weißen Haare und jünger als aller noch so frühe Hang zur – zeitlosen – Zweckmäßigkeit. Die gefühlte Bedeutung der jeweils augenblicklichen Umwelt erschließt sich denn auch in den ersten Tagen der Kindheit, für die nur Personen und Dinge der nächsten Umgebung wesenhaft sind, und erweitert sich in schweigender und unbewußter Erfahrung bis zu dem umfassenden Bilde, das der allgemeine Ausdruck der ganzen Kultur auf dieser Stufe ist und dessen Dolmetscher nur die großen Lebenskenner und Geschichtsforscher sind.“ (Ebd., S. 199Spengler).

„Hier unterscheidet sich der unmittelbare Eindruck des Gegenwärtigen vom Bilde des Vergangenen, das nur im Geiste vergegenwärtigt wird, also die Welt als Geschehen von der Welt als Geschichte. Auf jene richtet sich der Kennerblick des tätigen Menschen, des Staatsmannes und Feldherrn, auf diese der schauende des Historikers und Dichters. In jene greift man praktisch ein, leidend oder handelnd; diese ist der Chronologie als dem großen Symbol des unwiderruflich Vergangenen verfallen. (Die sich eben deshalb, weil der Zeit entrückt, mathematischer Zeichen bedienen kann. Diese starren Zahlen bedeuten für unser Auge das Schicksal von ehemals. Aber ihr Sinn ist ein anderer als der mathematische – Vergangenheit ist keine Ursache, ein Verhängnis keine Formel –, und wer sie mathematisch behandelt wie der historische Materialist, der hat aufgehört, Vergangenes, das einmal und nur einmal gelebt hat, als solches wirklich zu sehen.)  Wir blicken rückwärts und leben vorwärts, dem Unvorhergesehenen entgegen, aber in das Bild des einmaligen Geschehens dringen nun, von der technischen Erfahrung schon der Kinderzeit her, die Züge des Vorherzusehenden ein, das Bild einer gesetzmäßigen Natur, die nicht dem physiognomischen Takt, sondern der Berechnung unterliegt. Wir erfassen ein Stück Wild als beseeltes Wesen und gleich darauf als Nahrungsmittel; wir sehen in einem Blitz eine Gefahr oder eine elektrische Entladung. Und dieses zweite, spätere, versteinernde Bild der Welt überwältigt in den großen Städten mehr und mehr das erste: das Bild der Vergangenheit wird mechanisiert, materialisiert, und aus ihm für Gegenwart und Zukunft eine Summe kausaler Regeln gezogen. Man glaubt an geschichtliche Gesetze und eine verstandesmäßige Erfahrung von ihnen.“ (Ebd., S. 199-200Spengler).

„Aber Wissenschaft ist immer Naturwissenschaft. (Sollte man »Naturwissenschaft« nicht lieber »Naturwissenschaft« nennen? HB)  Kausales Wissen, technische Erfahrung gibt es nur von Gewordenem, Ausgedehntem, Erkanntem. Wie Leben zur Geschichte, so gehört Wissen zur Natur – zu der als Element begriffenen, im Räume betrachteten, nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung gestalteten Sinnenwelt. Gibt es also überhaupt eine Wissenschaft der Geschichte? Erinnern wir uns, wie in jedem persönlichen Weltbilde, das dem idealen Bild nur mehr oder weniger nahekommt, etwas von beidem erscheint, keine »Natur« ohne lebendige, keine »Geschichte« ohne kausale Einklänge ist. Denn innerhalb der Natur haben zwar gleichartige Versuche das gleiche gesetzmäßige Ergebnis, aber jeder einzelne ist ein geschichtliches Ereignis, das ein Datum besitzt und nie wiederkehrt. Und innerhalb der Geschichte bilden die Daten des Vergangenen – chronologische, statistische, Namen, Gestalten (nicht nur Friedensschlüsse und Todestage, sondern auch der Renaissancestil, die Polis, die mexikanische Kultur sind Daten, Tatsachen, die dagewesen sind, auch wenn wir keine Vorstellung von ihnen besitzen) – ein starres Gewebe. Tatsachen »stehen fest«, auch wenn wir sie nicht kennen. Alles andre ist Bild, theoria, dort wie hier, aber Geschichte ist das »Im-Bilde-sein« selbst, dem das Tatsachenmaterial nur dient; in der Natur dient die Theorie der Gewinnung dieses Materials als dem eigentlichen Zweck.“ (Ebd., S. 200Spengler).

„Es gibt also keine Wissenschaft der Geschichte, aber eine Vorwissenschaft für sie, welche das Dagewesene ermittelt. Für den geschichtlichen Blick selbst sind die Daten stets Symbole. Die Naturforschung aber ist nur Wissenschaft. Sie will, weil technischen Ursprungs und Ziels, nur Daten finden, Gesetze kausaler Art, und sobald sie den Blick auf etwas anderes richtet, ist sie schon Metaphysik geworden, etwas jenseits der Natur. Aber deshalb sind geschichtliche und naturwissenschaftliche Daten zweierlei. Diese kehren immer wieder, jene nie. Diese sind Wahrheiten, jene Tatsachen. Mögen also »Zufälle« und »Ursachen« im Alltagsbilde noch so verwandt erscheinen, in der Tiefe gehören sie verschiedenen Welten an. Sicherlich ist das Geschichtsbild eines Menschen – und damit der Mensch selbst – um so flacher, je entschiedener der handgreifliche Zufall in ihm regiert, und sicherlich ist mithin eine Geschichtsschreibung um so leerer, je mehr sie ihr Objekt durch Feststellung rein tatsächlicher Beziehungen erschöpft. Je tiefer jemand Geschichte erlebt, desto seltener wird er »kausale« Eindrücke haben und desto gewisser wird er sie als gänzlich bedeutungslos empfinden. Man prüfe Goethes naturwissenschaftliche Schriften, und man wird erstaunt sein, die Darstellung einer lebendigen Natur ohne Formeln, ohne Gesetze, fast ohne eine Spur von Kausalem zu finden. Zeit ist für ihn keine Distanz, sondern ein Gefühl. Der bloße Gelehrte, der lediglich kritisch zerlegt und ordnet, nicht schaut und fühlt, besitzt kaum die Gabe, hier das Letzte und Tiefste zu erleben. Die Geschichte fordert sie aber; und so besteht das Paradoxon zu Recht, daß ein Geschichtsforscher um so bedeutender ist, je weniger er der eigentlichen Wissenschaft angehört.“ (Ebd., S. 201Spengler).

„Das Schema auf der folgenden Seite möge das Gesagte zusammenfassen:“ (Ebd., S. 201Spengler).

„Darf man irgendeine Gruppe von Tatsachen sozialer, religiöser, physiologischer, ethischer Natur als »Ursache« einer andern setzen? Die rationalistische Geschichtsschreibung und mehr noch die heutige Soziologie kennen im Grunde nichts andres. Das heißt für sie, Geschichte begreifen, ihre Erkenntnis vertiefen. In der Tiefe aber liegt für den zivilisierten Menschen immer der vernunftgemäße Zweck. Ohne ihn wäre seine Welt sinnlos. Allerdings ist die gar nicht physikalische Freiheit in der Wahl der grundlegenden Ursachen nicht ohne Komik. Der eine wählt diese, der andre jene Gruppe als prima causa – eine unerschöpfliche Quelle wechselseitiger Polemik – und alle füllen ihre Werke mit vermeintlichen Erklärungen des Ganges der Geschichte im Stil naturhafter Zusammenhänge. Schiller hat dieser Methode durch eine seiner unsterblichen Banalitäten, den Vers vom Weltgetriebe, das sich »durch Hunger und durch Liebe« erhält, den klassischen Ausdruck gegeben. Das 19. Jahrhundert, vom Rationalismus zum Materialismus fortschreitend, hat seine Meinung zu kanonischer Geltung erhoben. Damit war der Kult des Nützlichen an[202] die Spitze gestellt. Ihm hat Darwin im Namen des Jahrhunderts Goethes Naturlehre zum Opfer gebracht. Die organische Logik der Tatsachen des Lebens wurde durch eine mechanische – in physiologischer Einkleidung – ersetzt. Vererbung, Anpassung, Zuchtwahl sind Zweckmäßigkeitsursachen von rein mechanischem Gehalt. An Stelle geschichtlicher Fügungen tritt die naturhafte Bewegung »im Räume«. Aber gibt es historische, seelische, gibt es überhaupt lebendige »Prozesse«? Haben historische »Bewegungen«, die Zeit der Aufklärung oder die Renaissance etwa, irgend etwas mit dem Naturbegriff der Bewegung zu tun? Mit dem Worte Prozeß war das Schicksal abgetan. Das Geheimnis des Werdens war enthüllt. Es gab keine tragische, es gab nur noch eine mathematische Struktur des Weltgeschehens. Der »exakte« Historiker setzt nunmehr voraus, daß im Geschichtsbild eine Folge von Zuständen von mechanischem Typus vorliegt, daß sie verstandesmäßiger Zergliederung wie ein physikalisches Experiment oder eine chemische Reaktion zugänglich ist, und daß mithin die Gründe, Mittel, Wege, Ziele ein greifbar an der Oberfläche des Sichtbaren liegendes festes Gewebe bilden müssen. Das Bild ist überraschend vereinfacht. Und man muß zugeben, daß bei hinreichender Flachheit des Betrachters die Voraussetzung – für seine Person und für deren Weltbild – zutrifft.“ (Ebd., S. 202-203Spengler).

„Hunger und Liebe (was dem zugrunde liegt, die metaphysischen Wurzeln von Wirtschaft und Politik, ist in Bd. II, S. 961 ff. [Vgl. S. 961 ff.], 1147 f. angedeutet) – das sind nunmehr mechanische Ursachen mechanischer Prozesse im »Völkerleben«. Sozialprobleme und Sexualprobleme – beide einer Physik oder Chemie des öffentlichen, allzuöffentlichen Daseins angehörend – werden das selbstverständliche Thema utilitarischer Geschichtsbetrachtung und also auch der ihr entsprechenden Tragödie. Denn das soziale Drama steht mit Notwendigkeit neben der materialistischen Geschichtsbetrachtung. Und was in den »Wahlverwandtschaften« Schicksal im höchsten Sinne war, ist in der »Frau vom Meere« nichts als ein Sexualproblem. Ibsen und alle Verstandespoeten unsrer großen Städte dichten nicht. Sie konstruieren, und zwar einen kausalen Zusammenhang von einer ersten Ursache bis zu einer letzten Wirkung. Hebbels schwere künstlerische Kämpfe galten immer nur dem Versuch, dieses schlechthin Prosaische seiner mehr kritischen als intuitiven Anlage zu überwinden – trotz ihrer ein Dichter zu sein –, daher sein unmäßiger, ganz ungoethescher Hang zum Motivieren der Begebenheiten. Motivieren bedeutet hier, bei Hebbel wie bei Ibsen, das Tragische kausal gestalten wollen. Hebbel redet gelegentlich vom Schraubenzug in der Begründung eines Charakters; er hat die Anekdote so lange zerlegt und umgestaltet, bis sie ein System, ein Beweis für einen Fall geworden war: man verfolge seine Behandlung der Judithgeschichte. Shakespeare hätte sie genommen, wie sie war, und in dem physiognomischen Reiz einer echten Begebenheit das Weltgeheimnis geahnt. Aber was Goethe einmal aussprach: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre«, das war dem Jahrhundert von Marx und Darwin nicht mehr verständlich. Man war weit entfernt, in der Physiognomie des Vergangenen ein Schicksal abzulesen, so wenig man in der Tragödie ein reines Schicksal gestalten wollte. Der Kult des Nützlichen hat hier wie dort ein ganz andres Ziel festgelegt. Man gestaltete, um etwas zu beweisen. »Fragen« der Zeit werden »behandelt«, soziale Probleme zweckmäßig »gelöst«. Die Szene ist wie das Geschichtswerk ein Mittel dazu. Der Darwinismus hat, so unbewußt das geschehen sein mag, die Biologie politisch wirksam gemacht. Es ist irgendwie eine demokratische Rührigkeit in den hypothetischen Urschleim gekommen, und der Kampf der Regenwürmer um ihr Dasein erteilt den zweibeinigen Schlechtweggekommenen eine gute Lehre.“ (Ebd., S. 203-204Spengler).

„Und doch hätten die Historiker gerade von den Vertretern unsrer reifsten und strengsten Wissenschaft, der Physik, Vorsicht lernen sollen. Die kausale Methode zugegeben, so ist es die Flachheit ihrer Anwendung, die beleidigt. Hier fehlt es an geistiger Disziplin, an Tiefe des Blicks, von der Skepsis, welche der Art des Gebrauchs physikalischer Hypothesen innewohnt, ganz zu schweigen. (Die Hypothesenbildung erfolgt schon in der Chemie viel unbedenklicher, und zwar infolge ihrer geringeren Verwandtschaft zur Mathematik. Ein Kartenhaus von Vorstellungen, wie es die augenblicklichen Forschungen über Atomstruktur zeigen [vgl. z.B. M. Born, Der Aufbau der Materie, 1920], wäre in der Nähe der elektromagnetischen Lichttheorie unmöglich, deren Urheber sich über die Grenze zwischen mathematischer Einsicht und deren Veranschaulichung durch ein Bild – nicht mehr! – beständig klar blieben.)  Denn der Physiker betrachtet seine Atome und Elektronen, Ströme und Kraftfelder, den Äther und die Masse weitab vom Köhlerglauben des Laien und Monisten als Bilder, die er den abstrakten Beziehungen seiner Differentialgleichungen unterlegt, in die er unanschauliche Zahlen kleidet, und zwar mit einer gewissen Freiheit der Wahl zwischen mehreren Theorien, ohne in ihnen eine andre Wirklichkeit als die konventioneller Zeichen (zwischen diesen Bildern und den Bezeichnungen einer Schalttafel besteht dem Wesen nach kein Unterschied) zu suchen. Und er weiß, daß auf diesem, der Naturwissenschaft allein möglichen Wege außer Erfahrungen über die technische Struktur der Umwelt nur deren symbolische Deutung – nicht mehr – erreicht werden kann, sicherlich keine »Erkenntnis« im hoffnungsvoll populären Sinne. Das Bild der Natur – Schöpfung und Abbild des Geistes, sein alter ego im Bereich des Ausgedehnten – erkennen, bedeutet sich selbst erkennen.“ (Ebd., S. 204-205Spengler).

„Wie die Physik unsre reifste, so ist die Biologie, welche das Bild des organischen Lebens durchforscht, nach Gehalt und Methode unsre schwächste Wissenschaft. Was wirklich Geschichtsforschung sei, reine Physiognomik nämlich, ist durch nichts deutlicher zu machen als durch den Verlauf von Goethes Naturstudien. Er treibt Mineralogie: sogleich fügen sich ihm die Einsichten zum Bilde einer Erdgeschichte zusammen, in dem sein geliebter Granit beinahe das bedeutet, was ich innerhalb der Menschengeschichte das Urmenschliche nenne. Er untersucht bekannte Pflanzen, und das Urphänomen der Metamorphose erschließt sich ihm, die Urgestalt der Geschichte alles Pflanzendaseins, und er gelangt weiterhin zu jenen seltsam tiefen Einsichten über die Vertikal- und Spiraltendenz der Vegetation, die noch heute nicht recht begriffen worden sind. Seine Knochenstudien, durchaus auf Anschauen des Lebendigen gerichtet, führen ihn zur Entdeckung des os intermaxillare beim Menschen und der Einsicht, daß das Schädelgerüst der Wirbeltiere sich aus sechs Wirbelknochen entwickelt hat. Nirgends ist von Kausalität die Rede. Er empfand die Notwendigkeit des Schicksals so, wie er sie in seinen orphischen Urworten ausgedrückt hat:
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen.
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Die bloße Chemie der Gestirne, die mathematische Seite physikalischer Beobachtungen, die eigentliche Physiologie kümmern ihn, den großen Historiker der Natur, sehr wenig, weil sie Systematik, Erfahrung von Gewordnem, Totem, Starrem sind, und dies liegt seiner Polemik gegen Newton zugrunde – ein Fall, in dem beide recht haben: der eine erkannte in der toten Farbe den gesetzlichen Naturprozeß, der andre, der Künstler, hatte das intuitiv-sinnliche Erlebnis; hier liegt der Gegensatz beider Welten zutage und ich fasse ihn jetzt in seiner ganzen Schärfe zusammen.“ (Ebd., S. 205-206Spengler).

„Die Geschichte trägt das Merkmal des Einmalig-tatsächlichen, die Natur das des Ständig-möglichen. Solange ich das Bild der Umwelt daraufhin beobachte, nach welchen Gesetzen es sich verwirklichen muß, ohne Rücksicht darauf, ob es geschieht oder nur geschehen könnte, zeitlos also, bin ich Naturforscher, treibe ich eine echte Wissenschaft. Es macht für die Notwendigkeit eines Naturgesetzes – und andere Gesetze gibt es nicht – nicht das geringste aus, ob es unendlich oft oder nie in Erscheinung tritt, d.h. es ist vom Schicksal unabhängig. Tausende von chemischen Verbindungen kommen nie vor und werden nie hergestellt werden, aber sie sind als möglich bewiesen und also sind sie da – für das feste System der Natur, nicht für die Physiognomie des kreisenden Weltalls. Ein System besteht aus Wahrheiten, eine Geschichte beruht auf Tatsachen. Tatsachen folgen aufeinander, Wahrheiten auseinander: das ist der Unterschied zwischen dem Wann und dem Wie. Es hat geblitzt – das ist eine Tatsache, auf die schweigend mit dem Finger gedeutet werden kann. Wenn es blitzt, so donnert es – das verlangt zur Mitteilung einen Satz. Das Erleben kann wortlos sein; systematisches Erkennen gibt es nur durch Worte. »Definierbar ist nur, was keine Geschichte hat«, sagt Nietzsche einmal. Geschichte aber ist gegenwärtiges Geschehen mit dem Zug in die Zukunft und einem Blick auf die Vergangenheit. Die Natur steht jenseits aller Zeit, mit dem Merkmal der Ausdehnung, aber ohne Richtung. In dieser liegt die Notwendigkeit des Mathematischen, in jener die des Tragischen.“ (Ebd., S. 206-207Spengler).

„In der Wirklichkeit des wachen Daseins verweben sich beide Welten, die der Beobachtung und die der Hingebung, wie in einem Brabanter Wandteppich Kette und Einschlag das Bild »wirken«. Jedes Gesetz muß, um für das Verstehen überhaupt vorhanden zu sein, einmal durch eine Schicksalsfügung innerhalb der Geistesgeschichte entdeckt, d.h. erlebt worden sein; jedes Schicksal erscheint in einer sinnlichen Verkleidung – Personen, Taten, Szenen, Gebärden –, in welcher Naturgesetze am Werke sind. Das urmenschliche Leben war der dämonischen Einheit des Schicksalhaften hingegeben; im Bewußtsein reifer Kulturmenschen kommt der Widerspruch jenes frühen und dieses späten Weltbildes niemals zum Schweigen; im zivilisierten Menschen erliegt das tragische Weltgefühl dem mechanisierenden Intellekt. Geschichte und Natur stehen in uns einander gegenüber wie Leben und Tod, wie die ewig werdende Zeit und der ewig gewordene Raum. Im Wachsein ringen Werden und Gewordnes um den Vorrang im Weltbilde. Die höchste und reifste Form beider Arten der Betrachtung, wie sie nur großen Kulturen möglich ist, erscheint für die antike Seele im Gegensatz von Plato und Aristoteles, für die abendländische in dem von Goethe und Kant: die reine Physiognomie der Welt, erschaut von der Seele eines ewigen Kindes, und die reine Systematik, erkannt vom Verstand eines ewigen Greises.“ (Ebd., S. 207Spengler).

„Und hier erblicke ich nunmehr die letzte große Aufgabe abendländischer Philosophie, die einzige, welche der Altersweisheit der faustischen Kultur noch aufgespart ist, die, welche durch eine jahrhundertelange Entwicklung unseres Seelentums vorbestimmt erscheint. Es steht keiner Kultur frei, den Weg und die Haltung ihres Denkens zu wählen; hier zum erstenmal aber kann eine Kultur voraussehen, welchen Weg das Schicksal für sie gewählt hat.“ (Ebd., S. 208Spengler).

„Ein Jahrtausend (zwei Jahrtausende! HB) organischer Kulturgeschichte als Einheit, als Person aus dem Gewebe des Weltgeschehens herauszuheben und in ihren innersten seelischen Bedingungen zu begreifen, ist das Ziel.“ (Ebd., S. 208Spengler).

„»Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis« (). Hier liegen Lösungen und Fernblicke verborgen, welche noch nicht einmal geahnt worden sind. Dunkle Fragen, die den tiefsten aller menschlichen Urgefühle, aller Angst und Sehnsucht zugrunde liegen und vom Verstehenwollen in die Probleme der Zeit, der Notwendigkeit, des Raumes, der Liebe, des Todes, der ersten Ursachen verkleidet worden sind, werden aufgehellt. Es gibt eine ungeheure Musik der Sphären, die gehört sein will, die einige unsrer tiefsten Geister hören werden. Die Physiognomik des Weltgeschehens wird zur letzten faustischen Philosophie.“ (Ebd., S. 209Spengler).

NACH OBEN „Makrokosmos“ (S. 210-281):

• I. Die Symbolik des Weltbildes und das Raumproblem (S. 210-234) • Der Makrokosmos als Inbegriff der Symbole in bezug auf eine Seele [S. 210] • Raum und Tod [S. 214] • „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ [S. 217] • Das Raumproblem: Nur die Tiefe ist raumbildend [S. 218] • Die Raumtiefe als Zeit [S. 223] • Geburt der Weltanschauung aus dem Ursymbol einer Kultur [S. 225] • Das antike Ursymbol der Körper, das arabische die Höhle, das abendländische der unendliche Raum [S. 226]  • II. Apollinische, faustische, magische Seele (S. 234-281) • Ursymbol, Architektur und Götterwelt [S. 234] • Das ägyptische Ursymbol der Weg [S. 241] • Ausdruckssprache der Kunst: Ornamentik oder Imitation [S. 245] • Ornament und Früharchitektur [S. 252] • Architektur des Fensters [S. 257] • Der große Stil [S. 258] • Stilgeschichte als Organismus [S. 265] • Zur Geschichte des arabischen Stils [S. 268] • Psychologie der Kunsttechnik [S. 277].

Anfang des Kapitels „Die Symbolik des Weltbildes und das Raumproblem“

„Und so erweitert sich der Gedanke einer Weltgeschichte physiognomischer Art zur Idee einer allumfassenden Symbolik. Die Geschichtsforschung in dem hier geforderten Sinne hat nur das Bild des einst Lebendigen und nun Vergangenen zu prüfen und dessen innerste Form und Logik festzustellen. Der Schicksalsgedanke ist der letzte, bis zu dem sie vordringen kann.“ (Ebd., S. 210Spengler).

„Symbole sind sinnliche Zeichen, letzte, unteilbare und vor allem ungewollte Eindrücke von bestimmter Bedeutung. Ein Symbol ist ein Zug der Wirklichkeit, der für sinnenwache Menschen mit unmittelbarer innerer Gewißheit etwas bezeichnet, das verstandesmäßig nicht mitgeteilt werden kann. Ein dorisches, früharabisches, frühromanisches Ornament, die Gestalt des Bauernhauses, der Familie, des Verkehrs, Trachten und Kulthandlungen, aber auch Antlitz, Gang und Haltung eines Menschen, ganzer Stände und Völker, die Spracharten und Siedlungsformen aller Menschen und Tiere und darüber hinaus die gesamte stumme Sprache der Natur mit ihren Wäldern, Triften, Herden, Wolken, Sternen, mit Mondnächten und Gewittern, Blühen und Welken, Nähe und Ferne ist sinnbildlicher Eindruck des Kosmischen auf uns, die wir wach sind und in Stunden der Einkehr diese Sprache wohl vernehmen; und anderseits ist es das Gefühl eines gleichartigen Verstehens, das Familien, Stände, Stämme und endlich ganze Kulturen aus dem allgemeinen Menschentum heraushebt und zusammenschließt.“ (Ebd., S. 211Spengler).

„Es wird hier also nicht davon die Rede sein, was eine Welt »ist«, sondern was sie dem lebendigen Wesen bedeutet, das von ihr umgeben ist. Mit dem Erwachen zerdehnt sich für uns etwas zwischen einem Hier und einem Dort. Das Hier leben, das Dort erleben wir, jenes als eigen, dieses als fremd. Es ist die Entzweiung zwischen Seele und Welt als den Polen der Wirklichkeit, und in dieser gibt es nicht nur Widerstände, die wir als Dinge und Eigenschaften kausal erfassen, und Regungen, in denen wir Wesen, Numina »ganz wie wir selbst« wirken fühlen, sondern auch noch etwas, das die Entzweiung gleichsam aufhebt.“ (Ebd., S. 211Spengler).

„Die Wirklichkeit – die Welt in bezug auf eine Seele – ist für jeden einzelnen die Projektion des Gerichteten in den Bereich des Ausgedehnten; sie ist das Eigne, das sich am Fremden spiegelt, sie bedeutet ihn selbst. Durch einen ebenso schöpferischen als unbewußten Akt – nicht »ich« verwirkliche das Mögliche, sondern »es« verwirklicht sich durch mich – wird die Brücke des Symbols geschlagen zwischen dem lebendigen Hier und Dort; es entsteht plötzlich und mit vollkommenster Notwendigkeit aus der Gesamtheit sinnlicher und erinnerter Elemente »die« Welt, die man begreift, für jeden einzelnen »die« einzige. Und deshalb gibt es so viele Welten, als es wache Wesen und im gefühlten Einklang lebende Scharen von Wesen gibt, und im Dasein jedes von ihnen ist die vermeintlich einzige, selbständige und ewige Welt – die jeder mit dem andern gemein zu haben glaubt – ein immer neues, einmaliges, nie sich wiederholendes Erlebnis.“ (Ebd., S. 211-212Spengler).

„Eine Reihe von Graden der Bewußtheit führt von den Uranfängen kindlich-dumpfen Schauens, in denen es noch keine klare Welt für eine Seele und keine ihrer selbst gewisse Seele inmitten einer Welt gibt, zu den höchsten Arten durchgeistigter Zustände, deren nur Menschen ganz reifer Zivilisationen fähig sind. Diese Steigerung ist zugleich eine Entwicklung der Symbolik vom Bedeutungsgehalt aller Dinge bis zum Hervortreten vereinzelter und bestimmter Zeichen. Nicht nur, wenn ich in der Art des Kindes, des Träumers, des Künstlers die Welt voll dunkler Bedeutungen hinnehme; nicht nur, wenn ich wach bin, ohne sie mit der gespannten Aufmerksamkeit des denkenden und tätigen Menschen aufzufassen – ein Zustand, der selbst im Bewußtsein des eigentlichen Denkers und Tatmenschen weit seltener herrscht als man glaubt –, sondern stets und immer, solange von wachem Leben überhaupt die Rede sein kann, verleihe ich dem Außermir den Gehalt meines ganzen Selbst, von den halb träumerischen Eindrücken der Welthaftigkeit an bis zur starren Welt der kausalen Gesetze und Zahlen, die jene überlagert und bindet. Aber selbst dem reinen Reich der Zahlen fehlt das Symbolische nicht, und gerade ihm entstammen die Zeichen, in welche das grüblerische Denken unaussprechliche Bedeutungen legt: das Dreieck, der Kreis, die Sieben, die Zwölf.“ (Ebd., S. 212Spengler).

„Dies ist die Idee des Makrokosmos, der Wirklichkeit als dem Inbegriff aller Symbole in bezug auf eine Seele. Nichts ist von dieser Eigenschaft des Bedeutsamen ausgenommen.“ (Ebd., S. 212Spengler).

„Alles, was ist, ist auch Symbol.“ (Ebd., S. 212Spengler).

„Allein auf der größeren oder geringeren Verwandtschaft der einzelnen Welten untereinander, soweit sie von Menschen einer Kultur oder seelischen Gemeinschaft erlebt werden, beruht die größere oder geringere Mitteilbarkeit des Geschauten, Empfundenen, Erkannten, das heißt des im Stil des eignen Seins Gestalteten durch die Ausdrucksmittel der Sprache, Kunst und Religion, durch Wortklänge, Formeln, Zeichen, die ihrerseits selbst Symbole sind. Zugleich erscheint hier die unverrückbare Grenze, fremden Wesen wirklich etwas mitzuteilen oder deren Lebensäußerungen wirklich zu verstehen. Der Verwandtschaftsgrad der beiderseitigen Formenwelten entscheidet darüber, wo das Begreifen in Selbsttäuschung übergeht. Wir können die indische und ägyptische Seele – offenbart in ihren Menschen, Sitten, Gottheiten, Urworten, Ideen, Bauten, Taten – sicherlich nur sehr unvollkommen verstehen. Den Griechen, ahistorisch wie sie waren, war auch die geringste Ahnung vom Wesen fremden Seelentums versagt.“ (Ebd., S. 213Spengler).

„Symbole, als etwas verwirklichtes, gehören zum Bereich des Ausgedehnten. Sie sind geworden, nicht werdend - auch wenn sie ein Werden bezeichnen - mithin starr begrenzt und den Gesetzen des Raumes unterworfen. Es gibt nur sinnlich-räumliche Symbole. Schon das Wort Form bezeichnet etwas Ausgedehntes im Ausgedehnten, und davon machen auch, wie wir sehen werden, die inneren Formen der Musik keine Ausnahme. Ausdehnung aber ist das Merkmal der Tatsache »Wachsein«, die nur eine Seite des Einzeldaseins bildet und mit dessen Schicksalen innerlichst verbunden ist.“ (Ebd., S. 214Spengler).

„Symbole, als etwas Verwirklichtes, gehören zum Bereich des Ausgedehnten. Sie sind geworden, nichtwerdend – auch wenn sie ein Werden bezeichnen – mithin starr begrenzt und den Gesetzen des Raumes unterworfen. Es gibt nur sinnlich-räumliche Symbole. Schon das Wort Form bezeichnet etwas Ausgedehntes im Ausgedehnten, und davon machen auch, wie wir sehen werden, die inneren Formen der Musik keine Ausnahme. Ausdehnung aber ist das Merkmal der Tatsache »Wachsein«, die nur eine Seite des Einzeldaseins bildet und mit dessen Schicksalen innerlichst verbunden ist. Deshalb ist jeder Zug des tätigen – empfindenden oder verstehenden – Wachseins in dem Augenblick, wo wir ihn bemerken, bereits vergangen. Wir können über Eindrücke nur nachdenken, wie es mit bezeichnender Wendung heißt, aber was für das Sinnenleben der Tiere nur vergangen ist, ist für das wortgebundene Verstehen des Menschen vergänglich. Vergänglich ist nicht nur, was geschieht – denn kein Geschehnis läßt sich zurückrufen –, sondern auch jede Art von Bedeutung. .... Was in das Reich des Ausgedehnten trat, hat mit dem Anfang auch ein Ende. Es besteht ein tiefer und früh gefühlter Zusammenhang zwischen Raum und Tod. Der Mensch ist das einzige Wesen, welches den Tod kennt. Alle andern werden älter, aber mit einer durchaus auf den Augenblick eingeschränkten Bewußtheit, die ihnen ewig erscheinen muß. Sie leben, aber sie wissen nichts vom Leben wie die Kinder in den frühesten Jahren, wo das Christentum sie noch als »unschuldig« betrachtet. Und sie sterben und sehen das Sterben, aber sie wissen nicht darum. Erst der ganz erwachte, der eigentliche Mensch, dessen Verstehen durch die Gewohnheit des Sprechens vom Sehen abgehoben ist, besitzt außer der Empfindung auch einen Begriff des Vergehens, das heißt ein Gedächtnis für das Vergangene und eine Erfahrung von Unwiderruflichem. Wir sind die Zeit (), aber wir besitzen auch ein Bild der Geschichte, und in diesem erscheint im Hinblick auf den Tod die Geburt (die Zeugung; HB) als das andre Rätsel. Für alle übrigen Wesen verläuft das Leben ohne Ahnung seiner Grenzen, das heißt ohne ein Wissen um Aufgabe, Sinn, Dauer und Ziel. Mit tiefer und bedeutungsvoller Identität knüpft sich deshalb das Erwachen des Innenlebens in einem Kinde oft an den Tod eines Verwandten. Es begreift plötzlich den leblosen Leichnam, der ganz Stoff, ganz Raum geworden ist, und zugleich fühlt es sich als einzelnes Wesen in einer fremden, ausgedehnten Welt. »Vom fünfjährigen Knaben bis zu mir ist nur ein Schritt. Vom Neugeborenen bis zum fünfjährigen Kinde ist eine schreckliche Entfernung«, hat Tolstoi einmal gesagt. Hier, in diesem entscheidenden Punkt des Daseins, wo der Mensch erst zum Menschen wird und seine ungeheure Einsamkeit im All kennen lernt, enthüllt sich die Weltangst als die rein menschliche Angst vor dem Tode, der Grenze in der Welt des Lichts, dem starren Raum. Hier liegt der Ursprung des höheren Denkens, das zuerst ein Nachdenken über den Tod ist. Jede Religion, jede Naturforschung, jede Philosophie geht von hier aus. Jede große Symbolik heftet ihre Formensprache an den Totenkult, die Bestattungsform, den Schmuck des Grabes. .... Erst aus der stets wachen Sorge um das Leben, das noch nicht vergangen ist, entsteht die Sorge um das Vergangne. Ein Tier hat nur Zukunft, der Mensch kennt auch die Vergangenheit. Mit einer neuen »Weltanschauung«, das heißt einem plötzlichen Blick auf den Tod als dem Geheimnis der erschauten Welt, erwacht deshalb jede neue Kultur. Als um das Jahr 1000 der Gedanke an das Weltende sich im Abendland verbreitete, wurde die faustische Seele dieser Landschaft geboren.“ (Ebd., S. 214-216Spengler).

„Der Urmensch, in tiefem Staunen über den Tod, suchte diese Welt des Ausgedehnten mit den unerbittlichen und stets gegenwärtigen Schranken ihrer Kausalität, voll von dunkler Allmacht, die ihn ständig mit dem Ende bedrohte, mit allen Kräften seines Geistes zu durchdringen und zu beschwören. Diese triebhafte Abwehr liegt tief im unbewußten Dasein, aber indem sie Seele und Welt erst eigentlich schuf, zerdehnte, gegeneinander stellte, bezeichnete sie die Schwelle persönlicher Lebensführung. Ichgefühl und Weltgefühl beginnen zu wirken, und alle Kultur, innere wie äußere, Haltung wie Leistung, ist nur die Steigerung dieses Menschseins überhaupt. Von hier an ist alles, was unsern Empfindungen widersteht, nicht mehr nur »Widerstand«, Sache, Eindruck wie bei Tieren und auch noch beim Kinde, sondern auch Ausdruck. Die Dinge sind nicht nur wirklich innerhalb der Umwelt, sondern sie haben, so wie sie »erscheinen«, innerhalb der Welt»anschauung« auch einen Sinn. Zuerst besaßen sie allein ein Verhältnis zum Menschen, jetzt besitzt der Mensch auch sein Verhältnis zu ihnen. Sie sind Sinnbilder seines Daseins geworden. So geht das Wesen aller echten – unbewußten und innerlich notwendigen – Symbolik aus dem Wissen des Todes hervor, in dem sich das Geheimnis des Raumes enthüllt. Alle Symbolik bedeutet eine Abwehr. Sie ist Ausdruck einer tiefen Scheu im alten Doppelsinn des Wortes: ihre Formensprache redet zugleich von Feindschaft und Ehrfurcht.“ (Ebd., S. 216Spengler).

Alles Gewordne ist vergänglich. Vergänglich sind nicht nur Völker, Sprachen, Rassen, Kulturen. Es wird in wenigen Jahrhunderten keine westeuropäische Kultur, keinen Deutschen, Engländer, Franzosen mehr geben, wie es zur Zeit Justinians keinen Römer mehr gab. Nicht die Folge menschlicher Generationen war erloschen; die innere Form eines Volkes, die eine Anzahl von ihnen zu einheitlicher Gebärde zusammengefaßt hatte, war nicht mehr da (Untergänge). Der civis Romanus, eines der mächtigsten Symbole antiken Seins, war gleichwohl als Form nur von Dauer einiger Jahrhunderte. Aber das Urphänomen der großen Kultur überhaupt wird einmal wieder verschwunden sein, und mit ihm das Schauspiel der Weltgeschichte, und endlich der Mensch selbst und darüber hinaus die Erscheinung des pflanzlichen und tierischen Lebens an der Erdoberfläche, die Erde, die Sonne und die ganze Welt der Sonnensysteme. .... Und so läßt sich der Gedanke des rein menschlichen Makrokosmos wieder an ein Wort knüpfen, dem die ganze fernere Darstellung gewidmet sein soll: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis ().“ (Ebd., S. 216-217Spengler).

„So führt diese Einsicht unvermerkt auf das Raumproblem, allerdings in einem neuen und überraschenden Sinne. Seine Lösung - oder bescheidener, seine Deutung - erscheint erst in diesem Zusammenhang möglich, so wie das Zeitproblem erst aus der Schicksalsidee faßlicher wurde. Das schicksalhaft gerichtete Leben erscheint, sobald wir erwachen, im Sinnenleben als empfundene Tiefe. Alles dehnt sich, aber es ist noch nicht »der Raum«, nichts in sich Verfestigtes, sondern ein beständiges Sich-dehnen vom bewegten Hier zum bewegten Dort. Das Welterlebnis knüpft sich ausschließlich an das Wesen der Tiefe - der Ferne oder Entfernung - deren Zug im abstrakten System der Mathematik neben Länge und Breite als »dritte Dimension« bezeichnet wird. Diese Dreizahl gleichgeordneter Elemente ist von vornherein irreführend. Ohne Zweifel sind sie im räumlichen Welteindruck nicht gleichwertig, geschweige denn gleichartig. »Länge und Breite«, sicherlich als Erlebnis eine Einheit, keine Summe, sind, mit Vorsicht gesagt, bloße Form der Empfindung. Sie repräsentieren den rein sinnlichen Eindruck. Die Tiefe repräsentiert den Ausdruck, die Natur; mit ihr beginnt die »Welt«. Diese der Mathematik selbstverständlich ganz fremde Unterscheidung in der Bewertung der dritten Dimension gegenüber den sogenannten beiden andern liegt auch in der Gegenüberstellung der Begriffe Empfindung und Anschauung. Die Dehnung in die Tiefe verwandelt die erste in die letzte. Erst die Tiefe ist die eigentliche Dimension im wörtlichen Sinne, das Ausdehnende (). In ihr ist das Wachsein aktiv, in den andern streng passiv. Es ist der symbolische Gehalt einer Ordnung, und zwar im Sinne einer einzelnen Kultur, der sich zutiefst in diesem ursprünglichen und nicht weiter analysierbaren Element ausspricht. Das Erlebnis der Tiefe ist – von dieser Einsicht hängt alles Weitere ab – ein ebenso vollkommen unwillkürlicher und notwendiger als vollkommen schöpferischer Akt, durch den das Ich seine Welt, ich möchte sagen zudiktiert erhält. Er schafft aus dem Strom von Empfindungen eine formvolle Einheit, ein bewegtes Bild, das nunmehr, sobald das Verstehen sich seiner bemächtigt, von Gesetzen beherrscht, dem Kausalprinzip unterworfen und mithin, als Abbild eines persönlichen Geistes, vergänglich ist.“ (Ebd., S. 217-218Spengler).

„Es besteht kein Zweifel, obwohl der Verstand sich dagegen auflehnt, daß diese Dehnung unendlicher Verschiedenheit fähig ist, nicht nur anders beim Kinde und Manne, beim Naturmenschen und Städter, Chinesen und Römer, sondern in jedem einzelnen, je nachdem er nachdenklich oder aufmerksam, tätig oder ruhend seine Welt erlebt. Jeder Künstler hat noch »die« Natur durch Farbe und Linie wiedergegeben. Jeder Physiker, der griechische, arabische, deutsche hat »die« Natur in letzte Elemente zergliedert – warum fanden sie nicht alle dasselbe? Weil jeder seine eigene Natur hat, obwohl jeder sie mit einer Naivität, die seine Lebensanschauung rettet, die ihn rettet, mit allen andern gemein zu haben glaubt. »Natur« ist ein Besitz, der durch und durch mit persönlichstem Gehalt gesättigt ist. Natur ist eine Funktion der jeweiligen Kultur. (Man muß hier wissen, daß mit »Natur« das gemeint ist, was jeweils kulturell darunter verstanden wird, daß es also dann, wenn es verschiedene Kulturen gibt, auch verschiedene »Naturen« gibt!)“ (Ebd., S. 218-219Spengler).

„Nun hat Kant die große Frage, ob dies Element »a priori« vorhanden oder durch Erfahrung erworben ist, durch seine berühmte Formel dahin zu entscheiden geglaubt, daß der Raum die allen Welteindrücken zugrunde liegende Form der Anschauung sei. Aber die »Welt« des sorglosen Kindes und des Träumers besitzt diese Form unzweifelhaft in schwankender und unentschiedener Art (der Mangel an Perspektive in Kinderzeichnungen wird von Kindern gar nicht empfunden), und erst die gespannte, praktische, technische Betrachtung der Umwelt – denn frei bewegliche Wesen müssen für ihr Leben sorgen; nur die Lilien auf dem Felde brauchen es nicht – läßt das sinnliche Sich-dehnen zur verstandenen Dreidimensionalität erstarren. Erst der städtische Mensch hoher Kulturen lebt wirklich in dieser grellen Wachheit, und erst für sein Denken gibt es einen vom Sinnenleben ganz abgelösten (»absoluten«), toten, zeitfremden Raum als Form nicht mehr des Angeschauten, sondern des Verstandenen. Es ist keine Frage, daß »der« Raum, wie ihn Kant mit unbedingter Gewißheit um sich sah, als er über seine Theorie nachdachte, für seine Vorfahren zur Karolingerzeit auch nicht annähernd in dieser strengen Gestalt vorhanden war. Kants Größe beruht auf der Schöpfung des Begriffs einer »Form a priori«, aber nicht auf der Anwendung, die er ihm gab. Daß die Zeit keine Form der Anschauung ist, daß sie überhaupt keine »Form« ist – es gibt nur ausgedehnte Formen – und nur als Gegenbegriff zum Raum definiert wurde, sahen wir schon. Es ist aber nicht nur die Frage, ob gerade das Wort Raum den formalen Gehalt im Angeschauten genau deckt; es ist auch eine Tatsache, daß die Form der Anschauung sich mit dem Grade der Entfernung ändert: Jedes entfernte Gebirge wird als Fläche – Kulisse – »angeschaut«. Niemand wird behaupten, daß er die Mondscheibe körperhaft sehe. Der Mond ist für das Auge eine reine Fläche, und erst durch das Fernrohr stark vergrößert – also künstlich angenähert – erhält er mehr und mehr räumliche Beschaffenheit. Augenscheinlich ist die Form der Anschauung also auch eine Funktion des Abstandes. Dazu kommt, daß wir beim Nachdenken, statt uns eben vergangener Eindrücke genau zu erinnern, das Bild des von ihnen abgezogenen Raumes »vor uns hinstellen«. Aber diese Vorstellung täuscht uns über die lebendige Wirklichkeit. Kant hat sich täuschen lassen. Er hätte zwischen Formen der Anschauung und des Verstandes gar nicht scheiden dürfen, denn sein Begriff Raum umfaßt bereits beides. Sein Gedanke, daß die Apriorität des Raumes durch die unbedingte anschauliche Gewißheit einfacher geometrischer Tatsachen bewiesen werde, beruht auf der schon erwähnten allzu populären Ansicht, daß Mathematik entweder Geometrie oder Arithmetik sei. Nun war schon damals die Mathematik des Abendlandes weit über dieses naive – der Antike nachgesprochene – Schema hinausgegangen. Wenn die heutige Geometrie statt »des Raumes« mehrfach unendliche Zahlenmannigfaltigkeiten zugrunde legt, unter denen die dreidimensionale ein an sich nicht ausgezeichneter Einzelfall ist, und innerhalb dieser Gruppen funktionale Gebilde hinsichtlich ihrer Struktur untersucht, so hat jede überhaupt mögliche Art von sinnlicher Anschauung aufgehört, sich formal mit mathematischen Tatsachen im Bereich solcher Ausgedehntheiten zu berühren, ohne daß deren Evidenz dadurch herabgesetzt würde. Die Mathematik ist also von der Form des Angeschauten unabhängig. Es ist nun die Frage, wie viel von der gerühmten Evidenz der Anschauungsformen für sich übrig bleibt, sobald die künstliche Übereinanderschichtung beider in einer vermeintlichen Erfahrung erkannt worden ist.“ (Ebd., S. 219-220Spengler).

„Wie Kant sich das Zeitproblem dadurch verdarb, daß er es zu der in ihrem Wesen mißverstandenen Arithmetik in Beziehung brachte und also von einem Zeitphantom redete, dem die lebendige Richtung fehlte, das also nur ein räumliches Schema war, so verdarb er sich das Raumproblem durch seine Beziehung auf eine Allerweltsgeometrie. Der Zufall hat es gewollt, daß wenige Jahre nach Vollendung seines Hauptwerkes Gauß die erste der nichteuklidischen Geometrien entdeckte, durch deren in sich widerspruchslose Existenz bewiesen wurde, daß es mehrere streng mathematische Arten einer dreidimensionalen Ausgedehntheit gibt, die sämtlich »a priori gewiß« sind, ohne daß es möglich wäre, eine von ihnen als die eigentliche Form der »Anschauung« herauszuheben.“ (Ebd., S. 220-221Spengler).

„Es war ein schwerer und für einen Zeitgenossen Eulers und Lagranges unverzeihlicher Irrtum, die antike Schulgeometrie, denn an sie hat Kant immer gedacht, in den Formen der uns umgebenden Natur abgebildet finden zu wollen. In den Augenblicken, wo wir sie aufmerksam beobachten, ist in der Nähe des Beobachters und bei hinreichend kleinen Verhältnissen eine annähernde Übereinstimmung zwischen dem lebendigen Eindruck und den Regeln der gewöhnlichen Geometrie sicherlich vorhanden. Die von der Philosophie behauptete genaue Übereinstimmung läßt sich aber weder durch den Augenschein noch durch Meßinstrumente nachweisen. Beide können eine gewisse, für die praktische Entscheidung über die Frage z.B., welche der nichteuklidischen Geometrien die des »empirischen« Raumes sei, bei weitem nicht ausreichende Grenze der Genauigkeit niemals überschreiten. (Gewiß läßt sich ein geometrischer Lehrsatz an einer Zeichnung beweisen, richtiger demonstrieren. Aber der Lehrsatz erhält in jeder Art von Geometrie eine andre Fassung, und hier entscheidet die Zeichnung nichts mehr.) Bei großen Maßstäben und Entfernungen, wo das Tiefenerlebnis das Anschauungsbild völlig beherrscht – vor einer weiten Landschaft etwa statt vor einer Zeichnung – widerspricht die Anschauungsform der Mathematik gründlich. Wir sehen in jeder Allee, daß Parallelen sich am Horizont berühren. Die Perspektive der abendländischen und die ganz andere der chinesischen Malerei, deren Zusammenhang mit den Grundproblemen der zugehörigen Mathematiken deutlich fühlbar wird, beruht eben auf dieser Tatsache. Das Tiefenerlebnis in der unermeßlichen Fülle seiner Arten entzieht sich jeder zahlenmäßigen Bestimmung. Die gesamte Lyrik und Musik, die gesamte ägyptische, chinesische, abendländische Malerei widersprechen laut der Annahme einer streng mathematischen Struktur des erlebten und gesehenen Raumes und nur, weil kein neuerer Philosoph von Malerei das geringste verstanden hat, konnte ihnen allen diese Widerlegung unbekannt bleiben. Der »Horizont«, in dem und durch den jedes Gesichtsbild allmählich in einen Flächenabschluß übergeht, ist durch keine Art von Mathematik zu erfassen. Jeder Pinselstrich eines Landschaftsmalers widerlegt die Behauptung der Erkenntnistheorie.“ (Ebd., S. 221-222Spengler).

„Die »drei Dimensionen« besitzen als vom Leben abgezogene mathematische Größe keine natürliche Grenze. Man verwechselt das mit Fläche und Tiefe des erlebten Eindrucks, und so setzt sich der eine erkenntnistheoretische Irrtum in den andern fort, daß auch die angeschaute Ausgedehntheit unbegrenzt sei, obwohl unser Blick nur belichtete Raumstücke umfaßt, deren Grenze die jeweilige Lichtgrenze bildet, sollte es auch der Fixsternhimmel oder die atmosphärische Helligkeit sein. Die »gesehene Welt« ist die Gesamtheit von Lichtwiderständen, weil das Sehen an das Vorhandensein von strahlendem oder zurückgestrahltem Licht gebunden ist. Die Griechen blieben auch dabei stehen. Nur das abendländische Weltgefühl schuf die Idee eines grenzenlosen Weltraums mit unendlichen Fixsternensystemen und Entfernungen, die weit über alle optischen Möglichkeiten hinausgeht – eine Schöpfung des inneren Blickes, die sich jeder Verwirklichung durch das Auge entzieht und Menschen anders fühlender Kulturen selbst als Gedanke fremd und unvollziehbar bleibt.“ (Ebd., S. 222Spengler).

„Das Ergebnis der Gaußschen Entdeckung, welche den Weg der modernen Mathematik überhaupt änderte (bekanntlich hat Gauß über seine Entdeckung bis fast an sein Lebensende geschwiegen, weil er »das Geschrei der Böoter« fürchtete), war also der Nachweis, daß es mehrere gleich richtige Strukturen der dreidimensionalen Ausgedehntheit gibt, und die Frage, welche von ihnen denn der wirklichen Anschauung entspreche, beweist, daß man das Problem gar nicht begriffen hat. Die Mathematik beschäftigt sich, gleichviel ob sie sich anschaulicher Bilder und Vorstellungen als Handhaben bedient oder nicht, mit völlig von Leben, Zeit und Schicksal abgehobenen, rein verstandenen Systemen, Formenwelten reiner Zahlen, deren Richtigkeit – nicht Tatsächlichkeit – zeitlos und von kausaler Logik ist wie alles nur Erkannte und nicht Erlebte.“ (Ebd., S. 222-223Spengler).

„Damit ist die Verschiedenheit der lebendigen Anschauung von der mathematischen Formensprache offenbar geworden, und das Geheimnis des Raumwerdens tut sich auf.“ (Ebd., S. 223Spengler).

„Wie das Werden dem Gewordnen, die unaufhörlich lebende Geschichte der vollendeten und toten Natur zugrunde liegt, das Organische dem Mechanischen, das Schicksal dem kausalen Gesetz, dem objektiv Gesetzten, so ist die Richtung der Ursprung der Ausdehnung. Das mit dem Worte Zeit berührte Geheimnis des sich vollendenden Lebens bildet die Grundlage dessen, was als vollendet durch das Wort Raum weniger verstanden als für ein inneres Gefühl angedeutet wird. Jede wirkliche Ausgedehntheit wird in und mit dem Erlebnis der Tiefe erst vollzogen; und eben jene Dehnung in die Tiefe und Ferne – zuerst für das Empfinden, vor allem das Auge, dann erst für das Denken –, der Schritt vom tiefenlosen Sinneneindruck zum makrokosmisch geordneten Weltbilde mit der geheimnisvoll in ihm sich andeutenden Bewegtheit ist das, was zunächst durch das Wort Zeit bezeichnet wird. Der Mensch empfindet sich, und das ist der Zustand wirklichen, auseinanderspannenden Wachseins, »in« einer ihn rings umgebenden Ausgedehntheit. Man braucht diesen Ureindruck des Weltmäßigen nur zu verfolgen, um zu sehen, daß es in Wirklichkeit nur eine wahre Dimension des Raumes gibt, die Richtung nämlich von sich aus in die Ferne, das Dort, die Zukunft, und daß das abstrakte System dreier Dimensionen eine mechanische Vorstellung, keine Tatsache des Lebens ist. Das Tiefenerlebnis dehnt die Empfindung zur Welt. Das Gerichtetsein des Lebens war mit Bedeutung als Nichtumkehrbarkeit bezeichnet worden und ein Rest dieses entscheidenden Merkmals der Zeit liegt in dem Zwang, auch die Tiefe der Welt stets von sich aus, nie vom Horizont aus zu sich hin empfinden zu können. Der bewegliche Leib aller Tiere und des Menschen ist auf diese Richtung hin angelegt. Man bewegt sich »vorwärts« – der Zukunft entgegen, mit jedem Schritt nicht nur dem Ziel, sondern auch dem Alter sich nähernd – und empfindet jeden Blick rückwärts auch als den Blick auf etwas Vergangnes, bereits zur Geschichte Gewordnes. (Erst von dieser Richtung in der Anlage des Leibes aus besinnt man sich auf den Unterschied von rechts und links, vgl. S. 218, Anm. (). »Vorn« hat für den Körper einer Pflanze gar keinen Sinn.)“ (Ebd., S. 223-224Spengler).

„Wenn man die Grundform des Verstandenen, die Kausalität, als erstarrtes Schicksal bezeichnet, so darf die Raumtiefe eine erstarrte Zeit genannt werden. Was nicht nur der Mensch, sondern schon das Tier als Schicksal um sich walten fühlt, empfindet es tastend, sehend, horchend, witternd als Bewegung, die vor der gespannten Aufmerksamkeit kausal erstarrt. Wir fühlen: es geht dem Frühling entgegen, und wir fühlen im voraus, wie die Frühlingslandschaft sich rings um uns dehnt; aber wir wissen, daß sich die Erde im Weltraum drehend bewegt und daß die Frühlingsdauer neunzig solcher Erddrehungen – Tage – »beträgt«. Die Zeit gebiert den Raum, der Raum aber tötet die Zeit.“ (Ebd., S. 224Spengler).

„Die Zeit gebiert den Raum, der Raum aber tötet die Zeit.“ (Ebd., S. 224Spengler).

„Hätte Kant sich schärfer gefaßt, so hätte er, statt von »zwei Formen der Anschauung« zu reden, die Zeit die Form des Anschauens, den Raum die Form des Angeschauten genannt, und dann hätte sich ihm der Zusammenhang beider vielleicht offenbart. Der Logiker, Mathematiker und Naturforscher kennt in den Augenblicken gespannten Nachdenkens nur den gewordenen, vom einmaligen Geschehen eben durch das Nachdenken darüber abgelösten, wahren, systematischen Raum, in welchem alles die Eigenschaft einer mathematisch bestimmbaren »Dauer« besitzt. Hier aber wurde angedeutet, wie der Raum unaufhörlich wird. Solange wir sinnend ins Weite blicken, webt es ringsumher. Werden wir aufgeschreckt, so spannt sich vor scharfen Augen ein fester Raum aus. Dieser Raum ist; er steht damit, daß er ist, außerhalb der Zeit, von ihr und damit vom Leben abgelöst. In ihm herrscht die Dauer, ein Stück abgestorbener Zeit, als erkannte Eigenschaft von Dingen; und da wir uns selbst als seiend in diesem Raum erkennen, so wissen wir um unsre Dauer und deren Grenzen, an die der Zeiger unsrer Uhren unaufhörlich mahnt. Der starre Raum selbst aber, der ebenfalls vergänglich ist und mit jedem Nachlassen des geistigen Gespanntseins aus dem farbigen Dehnen unsrer Umwelt verschwindet, ist eben damit Zeichen und Ausdruck des Lebens selbst, das ursprünglichste und mächtigste seiner Symbole.“ (Ebd., S. 224-225Spengler).

„Denn die wahllose Deutung der Tiefe, die mit der Wucht eines elementaren Ereignisses das Wachsein beherrscht, bezeichnet zugleivh mit dem Erwachen des Innenlebens die Grenze von Kind und - Mensch. Das symbolische Erlebnis der Tiefe ist es, welches dem Kinde fehlt, das nach dem Monde greift, das noch keinen Sinn der Außenwelt kennt und gleich der urmenschlichen Seele in traumhafter Verbundenheit mit allem Empfmdungshaften hindämmert. Nicht als ob ein Kind keine Erfahrung einfachster Art vom Ausgedehnten hätte; aber eine Weltanschauung ist noch nicht da; die Ferne wird empfunden, aber sie redet noch nicht zur Seele. Erst mit dem Wachwerden der Seele erhebt sich auch die Richtung zum lebendigen Ausdruck. Und da ist antik das Ruhen in der nahen Gegenwart, das sich allem Fernen und Künftigen verschließt, faustisch die Richtungsenergie, die nur für die fernsten Horizonte einen Blick hat, chinesisch das Wandeln vor sich hin, das doch einmal zum Ziele führt, und ägyptisch der entschlossene Gang auf dem einmal eingeschlagenen Wege. So offenbart sich die Schicksalsidee in jedem Lebenszuge. Erst damit gehören wir einer einzelnen Kultur an, deren Glieder ein gemeinsames Weltgefühl und aus ihm eine gemeinsame Weltform verbindet. Eine tiefe Identität verknüpft beides: Das Erwachen der Seele, ihre Geburt zum hellen Dasein im Namen einer Kultur, und das plötzliche Begreifen von Ferne und Zeit, die Geburt der Außenwelt durch das Symbol der Dehnung, die von mun an das Ursymbol dieses Lebens bleibt und ihm seinen Stil und die Gestalt seiner Geschichte als der fortschreitenden Verwirklichung seiner inneren Möglichkeiten gibt (SpenglerSpengler). Erst aus der Art des Gerichtetseins folgt das ausgedehnte Ursymbol, nämlich für den antiken Weltblick der nahe, fest umgrenzte, in sich geschlossene Körper, für den abendländischen der unendliche Raum mit dem Tiefendrang der dritten Dimension, für den arabischen die Welt als Höhle. Hier löst sich eine alte philosophische Frage in Nichts auf: Angeboren ist diese Urgestalt der Welt, insofern sie ursprüngliches Eigentum der Seele dieser Kultur ist, deren Ausdruck unser ganzes Leben bildet; erworben ist sie, insofern jede einzelne Seele jenen Schöpfungsakt für sich noch einmal wiederholt und das ihrem Dasein vorbestimmte Symbol der Tiefe in früher Kindheit, wie ein ausschlüpfender Schmetterling seine Flügel, entfaltet. Das erste Begreifen der Tiefe ist ein Geburtsakt, ein seelischer neben dem leiblichen. Mit ihm wird eine Kultur aus ihrer Mutterlandschaft geboren, und das wird in ihrem ganzen Verlauf von jeder einzelnen Seele wiederholt. Dies nannte Plato, indem er an einen hellenischen Urglauben anknüpfte, die Anamnesis. Die Bestimmtheit der Weltform, die für jede ertagende Seele plötzlich da ist, wird aus dem Werden gedeutet, während Kant, der Systematiker, mit seinem Begriff der apriorischen Form bei der Deutung desselben Rätsels vom toten Ergebnis, nicht vom lebendigen Wege zu ihm ausgeht.“ (Ebd., S. 225-226Spengler).

„Die Art der Ausgedehntheit soll von nun an das Ursymbol einer Kultur genannt werden. Die gesamte Formensprache ihrer Wirklichkeit, ihre Physiognomie im Unterscliede von der jeder anderen Kultur und vor allem von der beinahe physiognomielosen Umwelt des primitiven Menschen ist aus ihr abzuleiten; denn die Deutung der Tiefe erhebt sich nun zur Tat, zum gestaltenden Ausdruck in Werken, zur Umgestaltung des Wirklichen. die nicht mellr wie bei Tieren einer Not des Lebens dient, sondern ein Sinnbild des Lebens aufrichten soll, das sich aller Elemente der Ausdehnung, der Stoffe, Linien, Farben, Töne, Bewegungen bedient, und oft noch nach, Jahrhunderten, indem es im Weltbild späterer Wesen auftaucht und seinen Zauber übt, von der Art zeugt, wie seine Urheber die Welt verstanden haben. “ (Ebd., S. 226Spengler).

„Aber das Ursymbol selbst verwirklicht sich nicht. Es ist im Formgefühl jedes Menschen, jeder Gemeinschaft, Zeitstufe und Epoche wirksam und diktiert ihnen den Stil sämtlicher Lebensäußerungen. Es liegt in der Staatsform, in den religiösen Mythen und Kulten, den Idealen der Ethik, den Formen der Malerei, Musik und Dichtung, den Grundbegriffen jeder Wissenschaft, aber es wird nicht durch sie, dargestellt. Folglich ist es auch durch Worte nicht begrifflich darstellabr, denn Sprachen und Erkenntnisformen sind selbst abgeleitete Symbole. Jedes Einzelsymbol redet von ihm, aber zum inneren Gefühl, nicht zum Verstand.“ (Ebd., S. 226-227Spengler).

„Wenn das Ursymbol der antiken Seele fortan als der stoffliche Einzelkörper, das der abendländischen als der reine, unendliche Raum bezeichnet wird, so darf nie übersehen werden, daß Begriffe das nie zu Begreifende nicht darstellen, daß vielmehr die Wortklänge nur ein Bedeutungsgefühl davon entwickeln können.“ (Ebd., S. 227Spengler).

„Der unendliche Raum ist das Ideal, welches die abendländische Seele immer wieder in ihrer Umwelt gesucht hat. Sie wollte es in ihr unmittelbar verwirklicht sehen, und dies erst gibt den unzähligen Raumtheorien der letzten Jahrhunderte jenseits aller vermeintlichen Resultate ihre tiefe Bedeutung als den Symptomen eines Weltgefühls. Inwiefern liegt die grenzenlose Ausgedehntheit allem Gegenständlichen zugrunde? Kaum ein zweites Problem ist so ernsthaft durchdacht worden, und fast hätte man glauben sollen, es hinge jede andre Weltfrage von dieser einen nach dem Wesen des Raumes ab. Und ist es nicht für uns in der Tat so?  Warum hat denn niemand bemerkt, daß die gesamte Antike kein Wort darüber verlor, ja daß sie nicht einmal das Wort besaß, um dies Problem genau umschreiben zu können? (Anmerkung). Warum schwiegen die großen Vorsokratiker?  Übersahen sie etwa in ihrer Welt gerade das, was uns als das Rätsel aller Rätsel erscheint?  Hätten wir nicht längst einsehen sollen, daß in diesem Schweigen gerade die Lösung lag?  Wie kommt es, daß unserem tiefsten Gefühl nach »die Welt« nichts anderes ist als jener durch das Tiefenerlebnis ganz eigentlich geborene Weltraum, dessen erhabene Leere durch die in ihm verlorenen Fixsternsysteme noch einmal bestätigt wird?  Hätte man dies Gefühl einer Welt einem antiken Denker auch nur begreiflich machen können?  Man entdeckt plötzlich, daß dies »ewige Problem«, das Kant im Namen der Menschheit mit der Leidenschaft einer symbolischen Tat behandelte, ein rein abendländisches und im Geiste der andern Kulturen gar nicht vorhanden ist.“ (Ebd., S. 227-228Spengler).

„Was war es denn, was dem antiken Menschen, dessen Blick in seine Umwelt sicherlich nicht weniger klar war, als das Urproblem des gesamten Seins erschien? Das der arce, des stofflichen Urgrundes aller sinnlich-greifbaren Dinge. Begreift man dies, so wird man dem Sinn der Tatsache nahekommen – nicht des Raumes, sondern der Frage, weshalb das Raumproblem mit schicksalhafter Notwendigkeit das der abendländischen Seele und dieser allein werden mußte. (Das liegt, bisher unerkannt, in dem berühmten Parallelenaxiom Euklids [»Durch einen Punkt ist zu einer Geraden nur eine Parallele möglich«], dem einzigen der antiken mathematischen Sätze, der unbewiesen blieb und der, wie wir heute wissen, unbeweisbar ist. Gerade das aber macht ihn zum Dogma gegenüber aller Erfahrung und damit zum metaphysischen Mittelpunkt, zum Träger jenes geometrischen Systems. Alles andre, Axiome wie Postulate, ist nur Vorbereitung oder Folge. Dieser einzige Satz ist für den antiken Geist notwendig und allgemeingültig – und doch nicht ableitbar. Was bedeutet das? Daß er ein Symbol ersten Ranges ist. Er enthält die Struktur der antiken Körperlichkeit. Gerade dies theoretisch schwächste Glied der antiken Geometrie, gegen das sich schon in hellenistischer Zeit Widerspruch erhob, offenbart ihre Seele, und gerade dieser der Alltagserfahrung selbstverständliche Satz war es, an den sich der Zweifel des aus körperlosen Raumfernen stammenden faustischen Zahlendenkens knüpfte. Es gehört zu den tiefsten Symptomen unseres Daseins, daß wir der euklidischen Geometrie nicht etwa eine, sondern eine Mehrzahl von andern gegenüberstellen, die für uns gleich wahr, gleich widerspruchslos sind. Die eigentliche Tendenz dieser als antieuklidische Gruppe aufzufassenden Geometrien – in denen es durch einen Punkt zu einer Geraden keine, zwei oder unzählige Parallelen gibt – liegt darin, daß sie eben durch ihre Mehrzahl den körperlichen Sinn des Ausgedehnten, den Euklid durch seinen Grundsatz heilig sprach, gänzlich aufhoben, denn sie widerstrebt der Anschauung, die alles Körperliche fordert, alles rein Räumliche aber verneint. Die Frage, welche der drei nichteuklidischen Geometrien die »richtige«, der Wirklichkeit zugrunde liegende sei – obwohl selbst von Gauß ernsthaft geprüft – ist dem Weltgefühl nach antik, hätte also von einem Denker unserer Kultur nicht gestellt werden sollen. Sie verschließt den Blick in den wahren Tiefsinn jener Einsicht: Nicht in der Realität der einen oder andern, sondern in der Vielheit gleichmäßig möglicher Geometrien liegt das spezifisch abendländische Symbol. Erst durch die Gruppe von Raumstrukturen, in deren Fülle die antike Fassung einen bloßen Grenzfall bildet, wird der Rest von Körperhaftem im reinen Raumgefühl aufgelöst.)“ (Ebd., S. 228Spengler).

„Gerade diese allmächtige Räumlichkeit, welche die Substanz aller Dinge in sich saugt, aus sich erzeugt – unser Eigentlichstes und Höchstes im Aspekt unseres Weltalls –, wird von der antiken Menschheit, die nicht einmal das Wort und also den Begriff Raum kennt, einstimmig als to mh on abgetan, als das, was nicht da ist. Man kann das Pathos dieser Verneinung gar nicht tief genug fassen. Die ganze Leidenschaft der antiken Seele grenzte durch sie symbolisch ab, was sie nicht als wirklich empfinden wollte, was nicht Ausdruck ihres Daseins sein durfte.“ (Ebd., S. 228-229Spengler).

„Und nun ziehe ich die Folgerung. Es gibt eine Vielzahl von Ursymbolen. Das Tiefenerlebnis, durch das die Welt wird, durch das die Empfindung sich zur Welt dehnt, bedeutsam für die Seele, der es angehört, und für sie allein, anders im Wachen, Träumen, Hinnehmen und Beobachten, anders bei Kind und Greis, Städter und Bauer, Mann und Weib, verwirklicht und zwar mit tiefster Notwendigkeit für jede hohe Kultur die Möglichkeit der Form, auf der ihr gesamtes Dasein beruht. Alle Grundworte wie Masse, Substanz, Materie, Ding, Körper, Ausdehnung und die Tausende in den Sprachen andrer Kulturen aufbewahrten Wortzeichen entsprechender Art sind wahllose, vom Schicksal bestimmte Zeichen, welche aus der unendlichen Fülle von Weltmöglichkeiten im Namen der einzelnen Kultur die einzig bedeutende und deshalb notwendige herausheben. Keines ist in das Erleben und Erkennen einer andern Kultur genau übertragbar. Keines dieser Urworte kehrt nochmals wieder. Die Wahl des Ursymbols in jenem Augenblick, wo die Seele einer Kultur in ihrer Landschaft zum Selbstbewußtsein erwacht, die für jeden, der Weltgeschichte so zu betrachten vermag, etwas Erschütterndes hat, entscheidet alles.“ (Ebd., S. 233Spengler).

„Kultur als Inbegriff des sinnlich-gewordenen Ausdrucks der Seele in Gebärden und Werken, als ihr Leib, sterblich, vergänglich, dem Gesetz, der Zahl und der Kausalität verfallen; Kultur als historisches Schauspiel, als Bild im Gesamtbilde der Weltgeschichte; Kultur als Inbegriff großer Sinnbilder des Lebens, Fühlens und Verstehens: das ist die Sprache, durch welche allein eine Seele sagen kann, was sie leidet.“ (Ebd., S. 233Spengler).

„Auch der Makrokosmos ist Eigentum einer einzelnen Seele, und wir werden nie wissen, wie es um den der andern steht. Was – über alle Möglichkeiten begrifflicher Verständigung hinausgreifend – »der unendliche Raum«, diese schöpferische Deutung des Tiefenerlebnisses durch uns Menschen des Abendlandes und uns allein, besagen will, diese Art von Ausdehnung, welche die Griechen das Nichts nannten und wir das All, taucht unsre Welt in eine Farbe, welche die antike, die indische, die ägyptische Seele nicht auf ihrer Palette hatten. Die eine Seele erlauscht das Welterlebnis in As-Dur, die andere in F-Moll; die eine empfindet es euklidisch, die zweite kontrapunktisch, die dritte magisch. Vom reinsten analytischen Räume und vom Nirwana führt eine Reihe von Ursymbolen bis zur leibhaftigsten attischen Körperlichkeit, deren jedes fähig ist, eine vollkommene Weltform aus sich zu bilden. So fern, seltsam und flüchtig die indische oder babylonische Welt ihrer Idee nach für die Menschen der fünf oder sechs ihnen folgenden Kulturen war, so unbegreiflich wird einst die abendländische Welt für die Menschen noch ungeborener Kulturen sein.“ (Ebd., S. 234Spengler).

Anfang des Kapitels „Apollinische, faustische, magische Seele“

„Und nun ziehe ich die Folgerung. Es gibt eine Vielzahl von Ursymbolen. Das Tiefenerlebnis, durch das die Welt wird, durch das die Empfindung sich zur Welt dehnt, bedeutsam für die Seele, der es angehört, und für sie allein, anders im Wachen, Träumen, Hinnehmen und Beobachten, anders bei Kind und Greis, Städter und Bauer, Mann und Weib, verwirklicht und zwar mit tiefster Notwendigkeit für jede hohe Kultur die Möglichkeit der Form, auf der ihr gesamtes Dasein beruht. Alle Grundworte wie Masse, Substanz, Materie, Ding, Körper, Ausdehnung und die Tausende in den Sprachen andrer Kulturen aufbewahrten Wortzeichen entsprechender Art sind wahllose, vom Schicksal bestimmte Zeichen, welche aus der unendlichen Fülle von Weltmöglichkeiten im Namen der einzelnen Kultur die einzig bedeutende und deshalb notwendige herausheben. Keines ist in das Erleben und Erkennen einer andern Kultur genau übertragbar. Keines dieser Urworte kehrt nochmals wieder. Die Wahl des Ursymbols in jenem Augenblick, wo die Seele einer Kultur in ihrer Landschaft zum Selbstbewußtsein erwacht, die für jeden, der Weltgeschichte so zu betrachten vermag, etwas Erschütterndes hat, entscheidet alles.“ (Ebd., S. 233Spengler).

„Kultur als Inbegriff des sinnlich-gewordenen Ausdrucks der Seele in Gebärden und Werken, als ihr Leib, sterblich, vergänglich, dem Gesetz, der Zahl und der Kausalität verfallen; Kultur als historisches Schauspiel, als Bild im Gesamtbilde der Weltgeschichte; Kultur als Inbegriff großer Sinnbilder des Lebens, Fühlens und Verstehens: das ist die Sprache, durch welche allein eine Seele sagen kann, was sie leidet.“ (Ebd., S. 233Spengler).

„Die Nacht entkörpert; der Tag entseelt.“ (Ebd., S. 240Spengler).

„Was die Seele des Abendlandes durch einen außergewöhnlichen Reichtum an Ausdrucksmitteln, in Worten, Tönen, Farben, malerischen Perspektiven, philosophischen Systemen, Legenden und nicht zum wenigsten in den Räumen gotischer Dome und den Formeln der Funktionentheorie aussprach, ihr Weltgefühl nämlich, das hat die ägyptische Seele, fernab von allem theoretischen und literarischen Ehrgeiz fast allein durch die unmittelbare Sprache des Steins ausgedrückt. Statt sich über ihre Form des Ausgedehnten, ihren »Raum« und ihre »Zeit«, in Wortspielen zu ergehen, statt Hypothesen, Zahlensysteme und Dogmen zu bilden, stellte sie schweigend ihre ungeheuren Symbole in die Landschaft am Nil. Der Stein ist das große Sinnbild des Zeitlos-gewordnen. Raum und Tod scheinen in ihm verbunden. »Für die Toten«, sagt Bachofen in einer Selbstbiographie, »hat man eher gebaut als für die Lebenden, und wenn für die Spanne Zeit, die diesen gegeben ist, vergängliches Holzwerk genügt, so verlangt die Ewigkeit jener Behausung den festen Stein der Erde. An den Stein, der die Grabstätte bezeichnet, knüpft sich der älteste Kult, an das Grabgebäude der älteste Tempelbau, an den Grabschmuck der Ursprung der Kunst und der Ornamentik. In den Gräbern hat sich das Symbol gebildet. Was am Grabe gedacht, empfunden, still gebetet wird, das kann kein Wort aussprechen, sondern nur das in ewig gleichem Ernste ruhende Symbol ahnungsreich andeuten.« Der Tote strebt nicht mehr. Er ist nicht mehr Zeit, sondern nur noch Raum, etwas das verweilt oder auch verschwunden ist, keinesfalls aber einer Zukunft entgegenreift; und deshalb das Verweilende im strengsten Sinne, der Stein als Ausdruck davon, wie sich Totes im Wachsein der Lebenden spiegelt. Die faustische Seele erwartete eine Unsterblichkeit nach dem leiblichen Ende, gleichsam eine Vermählung mit dem unendlichen Raum, und sie entkörperte den Stein im gotischen Strebesystem – gleichzeitig mit den Parallelfolgen des Kirchengesangs – bis er nur noch den inbrünstigen Tiefen- und Höhendrang dieses Sichausdehnens vor Augen stellte. Die apollinische Seele wollte den Toten verbrannt, vernichtet sehen und sie vermied eben deshalb die ganze Frühzeit hindurch das Bauen in Stein. Die ägyptische Seele sah sich wandernd auf einem engen und unerbittlich vorgeschriebenen Lebenspfad, über den sie einst den Totenrichtern Rechenschaft abzulegen hatte (125. Kap. des Totenbuchs). Das war ihre Schicksalsidee. Das ägyptische Dasein ist das eines Wanderers in einer und immer der gleichen Richtung; die gesamte Formensprache seiner Kultur dient der Versinnlichung dieses einen Motivs. Sein Ursymbol läßt sich, neben dem unendlichen Raum des Nordens und dem Körper der Antike, durch das Wort Weg am ehesten faßlich machen. Es ist dies eine sehr fremdartige und dem abendländischen Denken schwer zugängliche Art, im Wesen der Ausdehnung die Tiefenrichtung allein zu betonen. Die Grabtempel des Alten Reiches, vor allem die gewaltigen Pyramidentempel der 4. Dynastie stellen nicht wie Moschee und Dom einen sinnvoll gegliederten Raum dar, sondern eine rhythmisch gegliederte Folge von Räumen. Der heilige Weg führt vom Torbau am Nil durch Gänge, Hallen, Arkadenhöfe und Pfeilersäle sich stets verengend bis zur Totenkammer (Hölscher, Grabdenkmal des Königs Chephren; Borchardt, Grabdenkmal des Sahu-rê; Curtius, Die antike Kunst, S. 45.), und ebenso sind die Sonnentempel der 5. Dynastie kein »Gebäude«, sondern ein von mächtigem Gestein eingefaßter Weg. (Vgl. Bd. II, S. 900; Borchardt, Reheiligtum des Newoserrê; Ed. Meyer, Gesch. d. Altertums I, § 251.) Die Reliefs und Gemälde erscheinen stets in Reihen, die mit eindringlichem Zwang den Betrachter in einer bestimmten Richtung geleiten; die Widder- und Sphinxalleen des Neuen Reiches wollen dasselbe. Für den Ägypter war das über seine Weltform entscheidende Tiefenerlebnis so streng hinsichtlich der Richtung betont, daß der Raum gewissermaßen in steter Verwirklichung begriffen blieb. Diese Ferne ist nicht erstarrt. Nur indem der Mensch sich vorwärts bewegt und damit selbst zum Symbol des Lebens wird, tritt er in Beziehung zu dem steinernen Teil dieser Symbolik. »Weg« bedeutet zugleich Schicksal und dritte Dimension. Die mächtigen Wandflächen, Reliefs, Säulenreihen, an denen er vorüberführt, sind »Länge und Breite«, d.h. die bloße Empfindung der Sinne, die das vorwärtsdringende Leben erst zur Welt dehnt. So erlebt der im Prozessionszuge schreitende Ägypter den Raum gewissermaßen in seinen noch unvereinigten Elementen, während ihn der vor dem Tempel opfernde Grieche nicht empfand und er den im Dom betenden Menschen der gotischen Jahrhunderte in ruhender Unendlichkeit umgibt. Deshalb will diese Kunst Flächenwirkung und nichts anderes, auch dort, wo sie sich körperhafter Mittel bedient. Für den Ägypter war die Pyramide über dem Königsgrab ein Dreieck, eine ungeheure, den Weg abschließende, die Landschaft beherrschende Fläche von stärkster Kraft des Ausdrucks, von wo aus er auch sich ihr näherte; die Säulen der inneren Gänge und Höfe, auf dunklem Hintergrunde, von dichtester Aufstellung und mit Schmuck überdeckt, wirkten durchaus als vertikale Flächenstreifen, die den Zug der Priester rhythmisch begleiteten; das Relief ist peinlich – und sehr im Gegensatz zum antiken – in eine Fläche gebannt; in der Entwicklung von der 3. zur 5. Dynastie nimmt es von Fingerstärke bis zur Papierdünne ab und wird zuletzt in die Fläche versenkt. (Relief en creux, vgl. H. Schäfer, Von ägyptischer Kunst (1919), I, S. 41.) Die Herrschaft der Horizontale, der Vertikale und des rechten Winkels, das Vermeiden jeder Verkürzung unterstützen das zweidimensionale Prinzip und isolieren das Erlebnis der Raumtiefe, die mit der Wegrichtung und dem Ziel – dem Grabe – zusammenfällt. Diese Kunst gestattet keine die Spannung der Seele erleichternde Ablenkung.“ (Ebd., S. 241-244Spengler).

„Trotzdem gab es eine Kultur, deren Seele bei aller tiefinnerlichen Verschiedenheit zu einem verwandten Ursymbol gelangte: die chinesische mit dem ganz im Sinne der Tiefenrichtung empfundenen Prinzip des Tao. (Tao). Aber während der Ägypter den mit eherner Notwendigkeit vorgezeichneten Weg zu Ende schreitet, wandelt der Chinese durch seine Welt; und deshalb geleiten ihn nicht steinerne Schluchten mit fugenlos geglätteten Wänden der Gottheit oder dem Ahnengrabe zu, sondern die freundliche Natur selbst. Nirgends ist die Landschaft so zum eigentlichen Stoff der Architektur geworden. .... Der Tempelbau ist kein Einzelbau, sondern eine Anlage, in welcher Hügel und Wasser, Bäume, Blumen und bestimmt geformte und angeordnete Steine ebenso wichtig sind wie Tore, Mauern, Brücken und Häuser. Diese Kultur ist die einzige, in welcher die Gartenkunst eine religiöse Kunst großen Stils ist. Es gibt Gärten, die das Wesen bestimmter buddhistischer Sekten widerspiegeln. Aus der Architektur der Landschaft erst erklärt sich die der Bauten, ihr flaches Sich-erstrecken und die Betonung des Daches als des eigentlichen Ausdrucksträgers. Und wie die verschlungenen Wege durch Tore, über Brücken, um Hügel und Mauern doch endlich zum Ziel führen, so leitet die Malerei den Betrachter von einer Einzelheit zur anderen, während das ägyptische Relief ihn herrisch in eine strenge Richtung verweist. »Das ganze Bild soll nicht mit einem einzigen Blick umfaßt werden. Die zeitliche Abfolge setzt eine Folge von Raumteilen voraus, durch die der Blick vom einen zum anderen wandern soll.« Die ägyptische Architektur überwältigt das Bild der Landschaft, die chinesische schmiegt sich ihm an; in beiden Fällen aber ist es die Tiefenrichtung, die das Erlebnis des Raumwerdens immer gegenwärtig erhält.“ (Ebd., S. 244-245Spengler).

„Nachahmen, nachbilden läßt sich nur Lebendiges, und zwar in Bewegungen, durch die es sich für die Sinne von Künstlern und Zuschauern offenbart. Insofern gehört die Imitation der Zeit und Richtung an; all dieses Tanzen, Zeichnen, Darstellen, Schildern für Auge und Ohr ist unwiderruflich gerichtet, und die höchsten Möglichkeiten der Imitation liegen deshalb im Nachbilden eines Schicksals, sei es in Tönen, Versen, im Bildnis oder in einer gespielten Szene. Weil Nachahmung Leben ist, so ist sie im Augenblick ihrer Vollendung auch schon vergangen – der Vorhang fällt – und verfällt entweder der Vergessenheit oder, wenn ein dauerhaftes Kunstwerk das Ergebnis war, der Kunstgeschichte. Von den Gesängen und Tänzen alter Kulturen bleibt nichts erhalten, von ihren Bildern und Dichtungen wenig, und auch dieses Wenige enthält beinahe nur die ornamentale Seite der ursprünglichen Imitation, von einem großen Schauspiel nur den Text, nicht das Bild und den Klang, von einem Gedicht nur die Worte, nicht den Vortrag, von aller Musik bestenfalls die Noten, nicht die Tonfarben der Instrumente. Das Wesentliche ist unwiderruflich vergangen, und jede »Wiederholung« ist etwas Neues und anderes.“ (Ebd., S. 248Spengler).

„Ein Symbol dauert; alles Schöne aber vergeht mit dem Lebenspulsschlag dessen, der es aus dem kosmischen Takt heraus als solches empfindet, sei es ein einzelner, ein Stand, Volk oder Rasse. Nicht nur ist »die Schönheit« antiker Bildwerke und Dichtungen in antiken Augen etwas anderes als für uns, und mit der antiken Seele unwiederbringlich erloschen – denn was wir daran »schön finden«, ist wiederum ein nur für uns vorhandener Zug; nicht nur ist, was für eine Art von Leben schön ist, für eine andre gleichgültig oder häßlich, wie unsre gesamte Musik für Chinesen oder die mexikanische Plastik für uns; sondern für ein und dasselbe Leben ist das Gewohnte, das Gewöhnliche, als etwas Dauerndes niemals schön.“ (Ebd., S. 250Spengler).

„Damit erst erscheint der Gegensatz dieser beiden Seiten jeder Kunst in seiner vollen Tiefe: die Nachahmung beseelt und belebt, die Ornamentik bannt und tötet. Jene »wird«, diese »ist«. Jene ist deshalb der Liebe verwandt, vor allem – in Lied, Rausch und Tanz – der Geschlechtsliebe, in welcher sich das Dasein der Zukunft entgegenwendet, diese der Sorge um Vergangenes, der Erinnerung (daher der ornamentale Charakter der Schrift), der Bestattung.“ (Ebd., S. 250Spengler).

„Der Stein dient im Bau der Lebenden einem weltlichen Zweck; im Kultbau ist er ein Symbol (vgl. S. 698). Die Geschichte der großen Architekturen hat durch nichts schwerer gelitten als dadurch, daß man sie für die Geschichte von Bautechniken hielt statt für die von Baugedanken, die ihre technischen Ausdrucksmittel nahmen, wo sie sie fanden. Es ist wie in der Geschichte der Musikinstrumente (vgl. S. 167 f.), die ebenfalls auf eine Tonsprache hin entwickelt wurden.“ (Ebd., S. 251-252Spengler).

„Es gibt demnach in jeder Frühzeit zwei eigentlich ornamentale, nicht imitierende Künste, die des Bauens und des Verzierens. In der voraufgehenden Vorzeit, den Jahrhunderten des Ahnens und der Schwangerschaft, gehört der Ornamentik im engeren Sinne die Welt des elementaren Ausdrucks allein. Die Karolingerzeit wird nur durch sie repräsentiert. Ihre Bauversuche stehen »zwischen den Stilen«. Es fehlt ihnen die Idee. Und ebenso haben wir mit dem Verlust aller mykenischen Bauten kunstgeschichtlich nichts verloren (das gilt nicht weniger von den Bauanlagen der ägyptischen Thinitenzeit und den seleukidisch-persischen Sonnen- und Feuertempeln der vorchristlichen Jahrhunderte). Mit dem Anbruch der großen Kultur aber erhebt sich plötzlich der Bau als Ornament zu einer solchen Gewalt des Ausdrucks, daß für ein Jahrhundert fast die bloße Verzierung scheu zurückweicht. Die aus Stein gebildeten Räume, Flächen und Kanten reden allein.“ (Ebd., S. 252Spengler).

„Man begreift nun, gerade aus dem Unterschied von Dom und Pyramidentempel trotz aller tiefinnerlichen Verwandtschaft, das gewaltige Phänomen der faustischen Seele, deren Tiefendrang sich nicht in das Ursymbol des Weges bannen ließ, sondern von den frühesten Anfängen an über alle Grenzen optisch gebundener Sinnlichkeit hinausstrebt. Kann etwas dem Sinne des ägyptischen Staates, dessen Tendenz man als eine erhabene Nüchternheit bezeichnen möchte, fremder sein als der politische Ehrgeiz der großen Sachsen-, Franken- und Staufenkaiser, die am Überfliegen aller staatlichen Wirklichkeiten zugrunde gingen?  Die Anerkennung einer Grenze wäre ihnen gleichbedeutend mit der Herabwürdigung der Idee ihres Herrschertums gewesen. Hier tritt der unendliche Raum als Ursymbol in seiner ganzen unbeschreiblichen Macht in den Umkreis tätigpolitischen Daseins, und man könnte zu den Gestalten der Ottonen, Konrads II., Heinrichs VI. und Friedrichs II., die Normannen als Eroberer Rußlands, Grönlands, Englands, Siziliens und beinahe auch Konstantinopels, und die großen Päpste Gregor VII. und Innocenz III. fügen, die alle ihre sichtbare Machtsphäre mit der damals bekannten Welt gleichsetzen wollten. Dies unterscheidet die homerischen Helden mit ihrem geographisch so genügsamen Gesichtskreis von den stets im Unendlichen schweifenden Helden der Grals-, Artus- und Siegfriedsage. Dies unterscheidet auch die Kreuzzüge, zu denen die Krieger von den Ufern der Elbe und Loire bis zu den Grenzen der bekannten Welt ausritten, von den geschichtlichen Ereignissen, welche der Ilias zugrunde liegen und auf deren örtliche Enge und Übersehbarkeit man aus dem Stil des antiken Seelentums mit Sicherheit schließen darf.“ (Ebd., S. 255-256Spengler).

„Eine Wahlverwandtschaft zwischen der russischen und magischen Seele () ist wohl zu fühlen, aber das Ursymbol des Russentums, die unendliche Ebene, findet wie religiös, so auch architektonisch noch keinen sicheren Ausdruck. Das Kirchendach hebt sich hügelartig kaum von der Landschaft ab, und auf ihm sitzen die Zeltdachspitzen mit den »Koschnicks«, welche das Aufstreben verschleiern und aufheben sollen. Sie steigen nicht auf wie gotische Türme und decken nicht zu wie die Kuppeln der Moschee, sondern sie »sitzen« und betonen damit das Horizontale des Baus, der lediglich von außen aufgefaßt sein will. Als der Synod um 1670 die Zeltdächer verbot und die orthodoxen Zweibelkuppeln vorschrieb, wurden die schweren Kuppeln auf schlanke Zylinder aufgesetzt, die in beliebiger Zahl (auf der Kirche in Kishi sind es 22) auf der Dachebene »sitzen«. Das ist noch kein Stil, aber das Versprechen eines Stils, der erst mit der eigentlich russischen Religion erwachen wird.“ (Ebd., S. 259-260Spengler).

„Das Meisterwerk aber, die früheste aller Moscheen, ist der Neubau des Pantheon durch Hadrian, der hier sicherlich, weil es seinem Geschmack entsprach, Kultbauten nachahmen wollte, die er im Orient gesehen hatte ().“ (Ebd., S. 273Spengler). Spengler

„Es ist wahr: alle Kulturen mit Ausnahme der ägyptischen, mexikanischen und chinesischen haben unter der Vormundschaft älterer Kultureindrücke gestanden; fremde Züge erscheinen in jeder dieser Formen weiten.“ (Ebd., S. 276Spengler).

„Man kann, um die ganze Bedeutung dieser architektonischen Grundform der arabischen Kunst herauszuheben, die Verbindung von Säule und Architrav das apollinische, die von Säule und Rundbogen das magische, die von Pfeiler und Spitzbogen das faustische Leitmotiv nennen.“ (Ebd., S. 276Spengler).

NACH OBEN „Musik und Plastik“ (S. 282-380):

• I. Die bildenden Künste (S. 282-330) • Musik eine bildende Kunst [S. 282] • Einteilung nach andern als historischen Gesichtspunkten unmöglich [S. 284] • Die Auswahl der Künste als Ausdrucksmittel höherer Ordnung [S. 286] • Apollinische und faustische Kunstgruppe [S. 288] • Die Stufen der abendländischen Musik [S. 294] • Die Renaissance als antigotische (antimusikalische) Bewegung [S. 300] • Charakter des Barock [S. 307] • Der Park [S. 310] • Symbolik der Farben. Farben der Nähe und Ferne [S. 317] • Goldgrund und Atelierbraun [S. 320] • Patina [S. 327]  • II. Akt und Portrait (S. 330-380) • Arten der Menschendarstellung [S. 330] • Portrait, Bußsakrament, Satzbau [S. 335] • Die Köpfe antiker SStatuen [S. 338] • Kinder- und Frauenbildnisse [S. 341] • Hellenistische Bildnisse [S. 343] • Das Barockbildnis [S. 345] • Lionardo, Raffael und Michelangelo als Überwinder der Renaissance [S. 351] • Sieg der Instrumentalmusik über die Ölmalerei um 1670 (entsprechend dem Sieg der Rundplastik über das Fresko um 460 v. Chr.) [S. 361] • Impressionismus [S. 366] • Pergamon und Bayreuth: Ausgang der Kunst [S. 374].

Anfang des Kapitels „Die bildenden Künste“

„Das Weltgefühl des höheren Menschen hat seinen symbolischen Ausdruck, wenn man von den mathematisch-naturwissenschaftlichen Vorstellungskreisen und der Symbolik ihrer Grundbegriffe absieht, am deutlichsten in den bildenden Künsten gefunden, deren es unzählige gibt. Auch die Musik gehört dazu, und hätte man ihre sehr verschiedenen Arten in die Untersuchungen über den Gang der Kunstgeschichte einbezogen, statt sie vom Gebiet der malerisch-plastischen Künste zu trennen, so wäre man im Verstehen dessen, um was es sich in dieser Entwicklung handelt, sehr viel weiter gekommen. Aber man wird den Gestaltungsdrang der in den wortlosen (Wort) Künsten am Werke ist, niemals begreifen, wenn man die Unterscheidung optischer und akustischer Mittel für mehr als äußerlich hält.* Das ist es nicht, was Künste von einander scheidet. (* Sobald das Wort, ein Mitteilungszeichen des Verstehens, zum Ausdrucksmittel von Künsten wird, hört das menschliche Wachsein auf, als Ganzes etwas auszudrücken oder Eindrücke zu empfangen. Auch die künstlerisch gebrauchten Wortklänge - um vom gelesenen Wort hoher Kulturen, dem Medium der eigentlichen Literatur, zu schweigen - trennen unvermerkt Hören und Verstehen, denn die gewohnte Wortbedeutung spielt mit, und unter der immer zunehmenden Macht dieser Kunst sind auch die wortlosen Künste zu Ausdrucksweisen gelangt, welche die Motive mit Wortbedeutungen verknüpfen. So entsteht die Allegorie, ein Motiv, das ein Wort bedeutet, wie in der Barockskulptur seit Bernini; so wird die Malerei sehr oft zu einer Art Bilderschrift wie in Byzanz seit dem 2. Konzil von Nikäa (787), das den Künstlern Auswahl und Anordnung der Bilder entzog, und so unterscheidet sich auch die Arie Glucks, deren Melodie aus dem Sinn des Textes emporblüht, von derjenigen des Allessandro Scarlatti, dessen an sich gleichgültige Texte die Singstimme nur tragen sollen. Ganz frei von der Wortbedeutung ist der hochgotische Kontrapunkt des 13. Jahrhunderts, eine reine Architektur von Menschenstimmen, in welcher mehrere Texte, selbst verschiedensprachige, geistliche und weltliche, gleichzeitig gesungen wurden. Vgl. oben) “ (Ebd., S. 282-283Spengler).

„Künste sind Lebenseinheiten, und Lebendiges läßt sich nicht zerstückeln. Nach den aller äußerlichsten Kunstmitteln und Techniken das unendliche Gebiet in vermeintlich ewige Einzelstücke – mit unwandelbaren Formprinzipien! – zu zerlegen, das war immer der erste Schritt gelehrter Pedanten. Man trennte »Musik« und »Malerei«, »Musik« und »Drama«, »Malerei« und »Plastik«, dann definierte man »die« Malerei, »die« Plastik, »die« Tragödie. Aber die technische Formensprache ist nicht viel mehr als die Maske des eigentlichen Werkes.“ (Ebd., S. 284Spengler).

„Wenn eine Kunst Grenzen hat – Grenzen ihrer formgewordenen Seele –, so sind es historische, nicht technische oder physiologische. (Die Folge unserer gelehrten Methoden ist eine Kunstgeschichte unter Ausschluß der Musikgeschichte. Jene gehört zum Bestand der höheren Bildung, diese ist eine Angelegenheit von Fachkreisen geblieben. Das ist nicht anders, als wollte man eine griechische Geschichte unter Ausschluß Spartas schreiben. Aber damit wird die Theorie »der« Kunst zu einer gutgläubigen Fälschung.) Eine Kunst ist ein Organismus, kein System. Es gibt keine Kunstgattung, die durch alle Jahrhunderte und Kulturen geht.“ (Ebd., S. 285Spengler).

„Jede Einzelkunst, die chinesische Landschaft wie die ägyptische Plastik und der gotische Kontrapunkt, ist einmal da und kehrt mit ihrer Seele und Symbolik nie wieder.“ (Ebd., S. 285Spengler).

„Es war gleich zu Anfang auf die flache Vorstellung einer linienhaften Fortentwicklung »der Menschheit« durch Altertum, Mittelalter und Neuzeit hingewiesen worden, die uns für das wahre Bild der Geschichte hoher Kulturen und seine Struktur blind gemacht hat. Die Kunstgeschichte ist ein besonders deutliches Beispiel. Nachdem man das Vorhandensein einer Anzahl konstanter und wohldefinierter Kunstgebiete als selbstverständlich angenommen hatte, entwarf man die Geschichte dieser Einzelgebiete nach dem ebenso selbstverständlichen Schema Altertum – Mittelalter – Neuzeit, wobei denn die indische und ostasiatische Kunst, die Kunst von Axum und Saba, die Kunst der Sassaniden und Rußlands keinen Platz fanden und als Anhang oder gar nicht behandelt wurden, ohne daß jemandem an dieser Folge die Sinnlosigkeit der Methode aufgegangen wäre: dieses Schema wollte und mußte nun mit Tatsachen um jeden Preis ausgefüllt sein.“ (Ebd., S. 287Spengler).

„Aber gerade die Frage, weshalb eine große Kunst – das attische Drama mit Euripides, die florentinische Plastik mit Michelangelo, die Instrumentalmusik mit Liszt, Wagner und Bruckner – mit einer als Symbol wirkenden Plötzlichkeit zu enden pflegt, ist geeignet, das Organische dieser Künste zu erleuchten. Man sehe genau zu und man wird sich überzeugen, daß von der »Wiedergeburt« auch nur einer bedeutenden Kunst noch nie die Rede gewesen ist“ (Ebd., S. 285Spengler).

„Alle antike Baukunst beginnt außen, alle abendländische innen. Auch die arabische beginnt im Innern, aber sie hält sich auch dort. Einzig und allein die faustische Seele bedurfte eines Stils, der durch die Mauern in den grenzenlosen Weltraum dringt und Innen- wie Außenseite zu entsprechenden Bildern ein und desselben Weltgefühls macht. Basilika und Kuppelbau können draußen architektonisch verziert sein, aber sie sind dort nicht Architektur. Was man sieht, wenn man sich ihnen nähert, wirkt wie schützend und ein Geheimnis verdeckend. Die Formensprache in der höhlenhaften Dämmerung ist nur für die Gemeinde da, und darin besteht die Verwandtschaft zwischen den höchsten Beispielen dieses Stils und den einfachsten Mithräen und Katakomben. Das war der erste starke Ausdruck einer neuen Seele. Sobald der germanische Geist diesen basilikalen Typus in Besitz nimmt, beginnt eine wunderbare Veränderung aller Bauelemente nach Lage und Sinn. Hier im faustischen Norden bezieht sich von nun an die äußere Gestalt des Bauwerkes, und zwar vom Dom bis zum schlichten Wohnhause, auf den Sinn, in welchem die Gliederung des Innenraumes erfolgt ist. Die Moschee verschweigt sie, der Tempel kennt sie nicht. Der faustische Bau hat ein »Gesicht«, nicht nur eine Fassade - dagegen ist die Frontseite eines Peripteros eben nur eine Seite, und der Zentralkuppelbau besitzt der Idee nach nicht einmal eine Front -, und zum Gesicht, zum Haupt gesellt sich ein gegliederter Rumpf, der durch die weite Ebene zieht wie der Dom von Speyer oder sich zum Himmel aufreckt wie der von Reims mit den zahllosen Turmspitzen des ursprünglichen Entwurfs. Das Motiv der Fassade, die den Betrachter anblickt und vom inneren Sinn des Hauses zu ihm redet, beherrscht nicht nur unsre großen Einzelbauten, sondern das gesamte fensterreiche Bild unsrer Straßen, Plätze und Städte.“ (Ebd., S. 288-289Spengler).

„Ein bleibendes Zeugnis für die Herkunft der freien Plastik aus der Malerei ist die polychrome Behandlung des Marmors – von welcher Renaissance und Klassizismus nichts wußten und die sie als barbarisch empfunden haben würden (gerade die entschiedene Vorliebe für den weißen Stein ist für den Gegensatz von antikem und Renaissance-Empfinden bezeichnend) –, und ebenso die Statuen aus Gold und Elfenbein und die Emailverzierungen der im natürlichen Goldton leuchtenden Bronzen.“ (Ebd., S. 291-292Spengler).

„Die große Aufgabe war nunmehr die Dehnung des Tonkörpers ins Unendliche, seine Auflösung vielmehr in einen unendlichen Raum von Tönen. Die Gotik hatte die Instrumente zu Familien von bestimmter Klangfarbe entwickelt; jetzt entsteht das »Orchester«, das nicht mehr den Bedingungen der Menschenstimme gehorcht, sondern sie den übrigen Stimmen einordnet. Das entspricht dem gleichzeitigen Schritt von der geometrischen Analysis Fermats zur rein funktionalen des Descartes (vgl. S. 100). In Zarlinos Harmonielehre (1558) erscheint eine echte Perspektive des reinen Tonraums. Man beginnt, Ornament- und Fundamentinstrumente zu unterscheiden. Aus Melodik und Verzierung entsteht das neue »Motiv«, und dessen Durchführung leitet zu einer Neugeburt kontrapunktischen Geistes hinüber, dem Fugenstil, dessen erster Meister Frescobaldi und dessen Gipfel Bach ist. Der vokalen Messe und Motette gegenüber entstehen die großen rein instrumental gedachten Barockformen des Oratoriums (Carissimi), der Kantate (Viadana), der Oper (Monteverdi). Mag nun die Baßmelodie gegen die Oberstimmen, oder die Oberstimmen auf dem Hintergrunde des basso continuo gegeneinander »konzertieren«, es sind stets Klangwelten von charakteristischem Ausdruck, die im Unendlichen des Tonraums einander entgegenwirken, sich stützen, steigern, aufheben, beleuchten, bedrohen, überschatten, ein Spiel, das man beinahe nur durch Vorstellungen der gleichzeitigen Analysis anschaulich machen kann.“ (Ebd., S. 297Spengler).

„Aus diesen Formen des frühen malerischen Barock gehen im 17. Jahrhundert die Arten der Sonate hervor, Suite, Sinfonie, Concerto grosso, mit einer immer festeren inneren Struktur der Sätze und Satzfolgen, der thematischen Durchführung und Modulation. Damit ist die große Form gefunden, in deren gewaltiger Dynamik Corelli, Händel und Bach die vollkommen körperlos gewordene Musik zur herrschenden Kunst des Abendlandes erhoben. Als Leibniz und (Jahre nach ihm auch) Newton um 1670 die Infinitesimalrechnung entdeckten, war der fugierte Stil vollendet. Und um 1740, als Euler begann, die endgültige Fassung der funktionalen Analysis zu formulieren, wurde durch Stamitz und seine Generation die letzte und reifste Form der musikalischen Ornamentik gefunden, die des vierteiligen Satzes als einer reinen unendlichen Bewegtheit. Denn ein Schritt war damals noch zu tun: das Thema der Fuge »ist«; das des neuen Satzes »wird«. Die Durchführung ergibt dort ein Bild, hier ein Drama. Statt einer Bilderreihe entsteht eine zyklische Folge. (Alfred Einstein, Geschichte der Musik, S. 67.) Der Ursprung dieser Tonsprache liegt in den endlich erreichten Möglichkeiten unsrer tiefsten und innerlichsten, der Streichmusik, und so gewiß die Geige das edelste aller Instrumente ist, welche die faustische Seele ersann und ausbildete, um von ihren letzten Geheimnissen reden zu können, so gewiß liegen ihre jenseitigsten, heiligsten Augenblicke völliger Verklärung im Streichquartett und der Violinsonate. Hier, in der Kammermusik, erreicht die abendländische Kunst überhaupt ihren Gipfel. Das Ursymbol des unendlichen Raumes ist hier ebenso vollkommen zum Ausdruck gelangt, wie das der gesättigten Körperlichkeit im Doryphoros des Polyklet. Wenn eine dieser unsagbar sehnsüchtigen Geigenmelodien durch den Raum irrt, den die Klänge des begleitenden Orchesters um sie breiten, bei Tartini, Nardini, Haydn, Mozart und Beethoven, so befindet man sich der Kunst gegenüber, die allein den Werken der Akropolis an die Seite zu stellen ist.“ (Ebd., S. 297-298Spengler).

„Damit beherrscht die faustische Musik alle andern Künste. Sie verbannt die Plastik der Statue und duldet nur die vollkommen musikalische, raffiniert unantike und renaissancewidrige Kleinkunst des Porzellans, das erfunden wurde, als die Kammermusik zur entscheidenden Geltung gelangte. Während die gotische Plastik durchaus architektonisches Ornament ist, menschliches Rankenwerk, ist die des Rokoko das merkwürdige Beispiel einer Scheinplastik, die in der Tat der Formensprache der Musik vollkommen erliegt. Hier erkennt man, bis zu welchem Grade die den Vordergrund des Kunstlebens beherrschende Technik der dahinter verborgenen eigentlichen Ausdruckssprache widersprechen kann. Man vergleiche die kauernde Venus des Coyzevox (1686) im Louvre mit ihrem antiken Vorbild im Vatikan. Das ist Plastik als Musik und Plastik in ihrem eigenen Namen. Man kann hier die Art der Bewegtheit, den Fluß der Linien, das Fließende im Wesen des Steines selbst, der wie das Porzellan gewissermaßen den festen Aggregatzustand verloren hat, am besten durch musikalische Wendungen: staccato, accelerando, andante, allegro beschreiben. Daher das Gefühl, als ob der körnige Marmor hier nicht am Platze sei. Daher die ganze unantike Berechnung auf Licht und Schatten hin. Das entspricht dem leitenden Prinzip der Ölmalerei seit Tizian. Was man im 18. Jahrhundert Farbigkeit – einer Radierung, einer Zeichnung, einer plastischen Gruppe – nennt, bedeutet Musik. Sie beherrscht die Malerei Watteaus und Fragonards und die Kunst der Gobelins und Pastelle. Sprechen wir nicht seitdem von Farbentönen und Tonfarben? Ist damit nicht die endlich erreichte Gleichartigkeit zweier oberflächlich so verschiedener Künste anerkannt? Und sind diese Bezeichnungen nicht angesichts jeder antiken Kunst sinnlos? Aber diese Musik schuf nun auch die Architektur des berninischen Barock in ihrem Geiste um, zum Rokoko, über dessen transzendenter Ornamentik Lichter – Töne – »spielen«, um Decken, Wände, Bögen, alles Konstruktive und Wirkliche in Polyphonie und Harmonie aufzulösen, dessen architektonische Triller, Kadenzen und Passagen die Identität der Formensprache dieser Säle und Galerien und der für sie erdachten Musik zu Ende führen. Dresden und Wien sind die Heimat dieser späten und rasch verlöschenden Wunderwelt einer sichtbaren Kammermusik, der geschweiften Möbel, Spiegelzimmer, Schäferpoesien und Porzellangruppen. Sie ist der letzte, herbsthaft sonnige, vollkommene Ausdruck großen Stils der abendländischen Seele. Im Wien der Kongreßzeit starb er dahin.“ (Ebd., S. 298-299Spengler).

„Der Renaissance als einer antigotischen und dem Geiste der polyphonen Musik feindlichen Bewegung entspricht in der Antike die dionysische als eine antidorische und dem plastisch-apollinischen Weltgefühl entgegengesetzte. Sie ist nicht aus dem thrakischen Dionysoskult »hervorgegangen«. Sie hat ihn erst als Waffe und Gegensymbol zur olympischen Religion herangezogen, ganz ebenso wie man in Florenz den Kult der Antike erst zur Rechtfertigung und Stärkung des eigenen Gefühls zu Hilfe rief. Die große Auflehnung erfolgte dort im 7. und also hier im 15. Jahrhundert. Es handelt sich in beiden Fällen um einen Zwiespalt im Untergrunde der Kultur, der seinen physiognomischen Ausdruck in einer ganzen Epoche des Geschichtsbildes, vor allem in deren künstlerischer Formenwelt gefunden hat, um einen Widerstand der Seele gegen ihr Schicksal, das sie nunmehr in seinem vollen Umfange begreift. Die innerlich widerstrebenden Mächte, Fausts zweite Seele, die sich von der andern trennen will, suchen den Sinn der Kultur umzubiegen; die unausweichliche Notwendigkeit soll verleugnet, aufgehoben, umgangen werden; es ist Angst vor der Vollendung der historischen Geschicke durch Ionik und Barock darin. Dort knüpft sie sich an den Dionysoskult mit seinem musikalischen, entwirklichenden, den Körper vergeudenden Orgiasmus, hier an die Tradition des »Altertums« und an dessen Kultus des Körperhaft-Plastischen, die beide als fremde Ausdrucksmittel bewußt herangezogen werden, um durch die Kraft ihrer gegensätzlichen Formensprache dem unterdrückten Gefühl einen Schwerpunkt, ein eigenes Pathos zu verleihen und damit der Strömung in den Weg zu treten, welche dort von Homer und dem geometrischen Stil zu Phidias, hier von den gotischen Domen über Rembrandt zu Beethoven geht.“ (Ebd., S. 301-302Spengler).

„Gerade damals führte auch Nikolaus Cusanus, Kardinal und Bischof von Brixen (1401–1464), das Infinitesimalprinzip, diese kontrapunktische Methode der Zahlen, in die Mathematik ein, die er aus der Idee Gottes als des unendlichen Wesens ableitete. Leibniz verdankt ihm die entscheidende Anregung zur Durchführung seiner Differentialrechnung. Aber damit hatte er bereits der dynamischen, der Barockphysik Newtons die Waffe geschmiedet, mit der sie die statische Idee einer südlichen Physik, die an Archimedes anknüpfte und noch in Galilei wirksam war, endgültig überwand.“ (Ebd., S. 305Spengler).

„Die Renaissance hat die wirkliche Antike nicht einmal berührt, geschweige denn verstanden und »wiederbelebt«. Das ganz unter literarischen Eindrücken stehende Bewußtsein des Florentiner Kreises hat den verführerischen Namen geprägt, um dem Verneinenden der Bewegung eine Wendung ins Bejahende zu geben. Er beweist, wie wenig solche Strömungen von sich selbst wissen.“ (Ebd., S. 307Spengler).

„Und trotzdem ist für Augenblicke etwas Wunderbares erreicht worden, das durch Musik nicht wiederzugeben war, ein Gefühl für das Glück der vollkommenen Nähe, für reine, ruhende, erlösende Raumwirkungen von lichter Gliederung, frei von der leidenschaftlichen Bewegtheit der Gotik und des Barock. Das ist nicht antik, aber es ist ein Traum von antikem Dasein, der einzige, den die faustische Seele träumen, in dem sie sich vergessen konnte.“ (Ebd., S. 308Spengler).

„Und nun erst, mit dem 16. Jahrhundert, geschieht in der abendländischen Malerei die entscheidende Wandlung. Die Vormundschaft der Architektur im Norden, der Skulptur in Italien erlischt. Die Malerei wird polyphon, »malerisch«, ins Unendliche schweifend. Die Farben werden Töne. Die Kunst des Pinsels verschwistert sich mit dem Stil der Kantate und des Madrigals. Die Ölfarbentechnik wird zur Grundlage einer Kunst, die den Raum erobern will, an den die Dinge sich verlieren. Mit Lionardo und Giorgione beginnt der Impressionismus.“ (Ebd., S. 308Spengler).

„m Gemälde vollzieht sich damit eine Umwertung aller Elemente. Der bis dahin gleichgültig entworfene, als Füllung angesehene, als Raum fast verheimlichte Hintergrund gewinnt entscheidende Bedeutung. Eine Entwicklung setzt ein, die in keiner andern Kultur, auch nicht in der sonst vielfach nahe verwandten chinesischen, ihresgleichen hat: der Hintergrund als Zeichen des Unendlichen überwindet den sinnlich-greifbaren Vordergrund. Es gelingt endlich – das ist der malerische im Gegensatz zum zeichnerischen Stil –, das Tiefenerlebnis der faustischen Seele in die Bildbewegung zu bannen. Das »Raumrelief« Mantegnas mit seinen Flächenschichten löst sich zur Richtungsenergie bei Tintoretto. Der Horizont taucht im Bilde auf als großes Symbol des grenzenlosen Weltraums, der die sichtbaren Einzeldinge als Zufälle in sich begreift. Man hat seine Darstellung im Landschaftsgemälde als so selbstverständlich empfunden, daß man nie die entscheidende Frage gestellt hat, wo überall er fehlt und was dieses Fehlen bedeutet. Man wird aber weder im ägyptischen Relief noch im byzantinischen Mosaik noch auf antiken Vasenbildern und Fresken, nicht einmal denen des Hellenismus mit ihrer Vordergrundsräumlichkeit, eine Andeutung des Horizontes finden. Diese Linie, in deren unwirklichem Duft Himmel und Erde verschwimmen, der Inbegriff und das stärkste Symbol der Ferne, enthält das malerische Infinitesimalprinzip. Von der Ferne des Horizonts strömt die Musik des Bildes aus, und die großen Landschafter Hollands malen deshalb ganz eigentlich nur Hintergründe, nur Atmosphäre, wie umgekehrt »antimusikalische« Meister wie Signorelli und vor allem Mantegna nur Vordergründe – »Reliefs« – gemalt hatten. Im Horizont siegt die Musik über die Plastik, die Leidenschaft der Ausdehnung über ihre Substanz. Man darf sagen, daß es in keinem Gemälde Rembrandts ein »vorn« gibt. Im Norden, in der Heimat des Kontrapunkts, ist ein tiefes Verständnis für den Sinn des Horizontes und hell belichteter Fernen schon früh zu finden, während im Süden der flach abschließende Goldgrund arabisch-byzantinischer Bilder noch lange herrschend bleibt. In den gegen 1416 entstandenen Stundenbüchern des Herzogs von Berry – dem von Chantilly und dem von Turin – und bei frührheinischen Meistern taucht das reine Raumgefühl zuerst auf und erobert sich langsam das Tafelbild.“ (Ebd., S. 308-309Spengler).

„Im Unendlichen liegt der Punkt, in dem die perspektivischen Linien zusammentreffen. Weil sie ihn vermied, weil sie die Ferne nicht anerkannte, besaß die antike Malerei keine Perspektive. Folglich ist auch der Park, die bewußte Gestaltung der Natur im Sinne räumlicher Fernwirkung, innerhalb der antiken Künste unmöglich. Es gab in Athen und Rom keine irgendwie bedeutende Gartenkunst. Erst die Kaiserzeit fand an orientalischen Anlagen Geschmack, deren kurze und betonte Abschlüsse jeder Blick auf die erhaltenen Pläne offenbart.“ (Ebd., S. 310Spengler).

Wir waren es und nicht die Hellenen, nicht die Menschen der Hochrenaissance, welche die unbegrenzten Fernsichten vom Hochgebirge aus schätzten und suchten. Das ist eine faustische Sehnsucht. Man will allein mit dem unendlichen Räume sein.“ (Ebd., S. 311Spengler).

„Aber Ferne – das ist zugleich eine historische Empfindung. In der Ferne wird der Raum zur Zeit. Der Horizont bedeutet die Zukunft. .... Hier, im Erlebnis des Horizontes als der Zukunft, tritt die Identität der Zeit mit der »dritten Dimension« des erlebten Raumes, des lebendigen Sichdehnens, unmittelbar zutage.“ (Ebd., S. 311-312Spengler).

„Der Horizont sammelt von nun an die tiefere Form, die volle metaphysische Bedeutung des Bildes in sich. Der greifbare und durch die Überschrift wiederzugebende Inhalt, der von der Renaissancemalerei betont und anerkannt worden war, wird nun zum Mittel, zum bloßen Träger der mit Worten nicht mehr zu erschöpfenden Bedeutung. Bei Mantegna und Signorelli hätte der gezeichnete Entwurf, auch ohne die farbige Ausführung, als Bild bestehen können. In einzelnen Fällen möchte man wünschen, es wäre bei den Kartons geblieben. In statuenhaften Entwürfen ist die Farbe lediglich eine Zugabe; Tizian aber mußte von Michelangelo den Vorwurf hören, daß er nicht zu zeichnen verstünde. Der »Gegenstand«, eben das, was sich durch Umrißzeichnung festhalten läßt, das Nahe, Stoffliche, hat seine künstlerische Wirklichkeit verloren, und von nun an herrscht in der Kunsttheorie, die unter Eindrücken der Renaissance stehen blieb, jener seltsame, nie endende, Streit um »Form« und »Inhalt« im Kunstwerk. Die Formulierung beruht auf einem Mißverständnis und hat den sehr bedeutenden Sinn der Frage verdeckt. Ob die Malerei plastisch oder musikalisch aufgefaßt werden solle, als Statik von Dingen oder als Dynamik des Raumes – denn darin liegt der tiefere Gegensatz von Fresko- und Öltechnik –, ist das erste, der Gegensatz apollinischen und faustischen Formgefühls das zweite, was zu erwägen war. Umrisse begrenzen Stoffliches, Farbentöne interpretieren Raum. (In der antiken Malerei sind Licht und Schatten zuerst von Zeuxis einheitlich angewandt worden, aber nur als Schattierung der Dinge selbst, um die Plastik der gemalten Leiber vom Reliefmäßigen zu befreien, und also ganz ohne die Beziehung des Schattens zur Tageszeit. Dagegen sind schon bei den frühesten Niederländern Licht und Schatten Farbentöne und haften am Atmosphärischen.) Aber das eine ist von unmittelbar sinnlicher Natur. Es erzählt. Der Raum ist seinem Wesen nach transzendent. Er spricht zur Einbildungskraft. Für eine Kunst, die unter seiner Symbolik steht, ist die erzählende Seite eine Herabsetzung und Verdunkelung der tieferen Tendenz, und ein Theoretiker, der hier ein geheimes Mißverständnis fühlt, aber nicht begreift, klammert sich an den oberflächlichen Gegensatz von Inhalt und Form. Das Problem ist ein rein abendländisches und es enthüllt in seltener Weise die vollkommene Umkehrung, die sich in der Bedeutung der Bildelemente mit dem Abschluß der Renaissance und der Heraufkunft einer instrumentalen Musik großen Stils vollzogen hat. Die Antike konnte ein Problem wie das von Form und Inhalt in diesem Sinne gar nicht besitzen. Für eine attische Statue ist beides vollkommen identisch: der menschliche Leib. Der Fall der Barockmalerei wird noch verwickelter durch den Widerstreit des volkstümlichen und des höheren Empfindens. Alles Euklidisch-Greifbare ist auch populär, und das »Altertum« mithin die populäre Kunst im eigentlichen Sinne. Die Ahnung davon ist nicht zum wenigsten der unbeschreibliche Reiz, den alles Antike auf faustische Geister ausübt, die ihren Ausdruck erkämpfen, ihn der Welt abringen müssen. Für uns ist der Anblick des antiken Kunstwollens die große Erholung. Hier braucht nichts erobert zu werden. Es gibt sich von selbst. Und etwas Verwandtes hat der antigotische Zug in Florenz wirklich hervorgerufen. Raffael ist in manchen Seiten seines Schaffens populär, Rembrandt kann es nicht sein. Seit Tizian ist die Malerei immer esoterischer geworden, auch die Dichtung, auch die Musik. Die Gotik – Dante, Wolfram – war es von Anfang an gewesen. Die große Menge der Kirchenbesucher war niemals imstande, die Messen Ockeghems, Palestrinas oder gar Bachs zu verstehen. Sie langweilt sich bei Mozart und Beethoven. Sie läßt Musik lediglich auf die Stimmung wirken. In Konzerten und Galerien redet man sich nur Interesse an diesen Dingen ein, seit die Aufklärung die Phrase von der Kunst für alle geprägt hat. Aber eine faustische Kunst ist nicht für alle. Das gehört zu ihrem innersten Wesen. Wenn die neuere Malerei sich nur noch an einen kleinen Kreis von Kennern wendet, der immer enger wird, so entspricht das der Abwendung vom gemeinverständlichen Gegenstande. Damit ist dem »Inhalt« der Eigenwert aberkannt und die eigentliche Wirklichkeit dem Räume zugesprochen, durch den – nach Kant – erst die Dinge sind. Es ist seitdem ein schwer zugängliches metaphysisches Element in die Malerei gekommen, das sich dem Laien nicht preisgibt. Aber bei Phidias würde das Wort Laie keinen Sinn haben. Seine Plastik wendet sich ganz an das leibliche, nicht an das geistige Auge. Eine raumlose Kunst ist a priori unphilosophisch.“ (Ebd., S. 312-314Spengler).

„Hiermit hängt ein wichtiges Prinzip der Komposition zusammen. Man kann im Gemälde die einzelnen Dinge unorganisch über-, neben-, hintereinander stellen, ohne Perspektive und wechselseitiges Verhältnis, das heißt, ohne die Abhängigkeit ihrer Wirklichkeit von der Struktur des Raumes zu betonen, womit nicht gesagt ist, daß man sie leugnet. So zeichnen Naturmenschen und Kinder, bevor das Tiefenerlebnis die sinnlichen Welteindrücke einer tieferen Ordnung unterwirft. Aber diese Ordnung ist dem Ursymbol gemäß in jeder Kultur eine andere. Die uns selbstverständliche Art perspektivischer Zusammenfassung ist ein Einzelfall und von der Malerei anderer[314] Kulturen weder anerkannt noch gewollt. Die ägyptische Kunst liebte die Darstellung gleichzeitiger Vorgänge in Reihen übereinander. So wurde die dritte Dimension aus dem Bildeindruck ausgeschaltet. Die apollinische Kunst stellte vereinzelte Figuren und Gruppen unter absichtlicher Vermeidung räumlicher und zeitlicher Beziehungen in die Bildfläche. Polygnots Fresken in der Lesche von Delphi waren ein berühmtes Beispiel. Ein Hintergrund, der die einzelnen Szenen verbunden hätte, fehlt. Er würde die Bedeutung der Dinge als des allein Wirklichen – gegenüber dem Raum als dem Nichtseienden – in Frage gestellt haben. Die Giebel des Tempels von Ägina, der Götterzug der Françoisvase und der Gigantenfries von Pergamon enthalten eine mäandrische Aufreihung vertauschbarer Einzelmotive, keinen Organismus. Erst der Hellenismus – der Telephosfries des Altars von Pergamon ist das früheste erhaltene Beispiel – bringt das unantike Motiv der einheitlichen Reihe. Auch hierin empfand die Renaissance rein gotisch. Sie hat die Komposition von Gruppen sogar auf eine Höhe erhoben, die für alle folgenden Jahrhunderte vorbildlich blieb, aber diese Ordnung ging vom Räume aus und war in ihren letzten Gründen eine stille Musik der farbig durchleuchteten Ausdehnung, die alle aus ihr geborenen Widerstände des Lichts, die das verstehende Auge als Dinge und Wesen begreift, durch ihren unsichtbaren Takt und Rhythmus in die Ferne geleitet. Aber mit dieser Ordnung im Raum, welche unvermerkt die Linienperspektive durch die Perspektive von Luft und Licht ersetzt, war die Renaissance innerlich schon überwunden.“ (Ebd., S. 314-315Spengler).

„Und nun folgt von ihrem Ende, von Orlando di Lasso und Palestrina bis auf Wagner, eine dichte Reihe großer Musiker und von Tizian bis auf Manet, Marées und Leibl eine Reihe großer Maler aufeinander, während die Plastik zur völligen Bedeutungslosigkeit herabsinkt. Ölmalerei und instrumentale Musik durchlaufen eine organische Entwicklung, deren Ziel in der Gotik begriffen und im Barock erreicht wurde. Beide Künste – faustisch im höchsten Sinne – sind innerhalb dieser Grenzen Urphänomene. Sie haben eine Seele, eine Physiognomie und also eine Geschichte, und zwar sie allein. Die Bildhauerei beschränkt sich auf ein paar schöne Zufälle im Schatten der Malerei, Gartenkunst oder Architektur. Aber sie sind im Bilde der abendländischen Kunst entbehrlich. Es gibt keinen plastischen Stil mehr in dem Sinne, wie es einen malerischen und musikalischen Stil gibt. Es gibt sowenig eine geschlossene Tradition wie einen notwendigen Zusammenhang der Werke eines Maderna, Goujon, Puget und Schlüter untereinander. Schon in Lionardo entsteht allmählich eine wahre Verachtung der Bildhauerei. Er läßt höchstens den Bronzeguß seiner malerischen Vorzüge wegen gelten, im Gegensatz zu Michelangelo, dessen eigentliches Element damals noch der weiße Marmor war. Aber auch ihm will im hohen Alter keine plastische Arbeit mehr gelingen. Keiner der späteren Bildhauer ist groß in dem Sinne, wie Rembrandt und Bach groß sind, und man wird zugeben, daß sich wohl eine tüchtige und geschmackvolle Leistung, aber kein Werk denken läßt, das im Range neben der Nachtwache oder der Matthäuspassion steht und in gleicher Weise die Tiefe eines ganzen Menschentums erschöpft. Diese Kunst hat aufgehört, das Schicksal ihrer Kultur zu sein. Ihre Sprache bedeutet nichts mehr. Es ist völlig unmöglich, das, was in einem Bildnis Rembrandts liegt, in einer Büste wiederzugeben. Wenn einmal ein Bildhauer von Bedeutung auftaucht wie Bernini, die Meister der gleichzeitigen spanischen Schule, Pigalle oder Rodin – es ist naturgemäß keiner unter ihnen, der über das Dekorative hinaus zu einer großen Symbolik gelangte –, so erscheint er als verspäteter Nachahmer der Renaissance (Thorwaldsen), als verkappter Maler (Houdon, Rodin), Architekt (Bernini, Schlüter) oder Dekorateur (Coyzevox), und er beweist durch sein Erscheinen nur noch deutlicher, daß diese eines faustischen Gehaltes nicht fähige Kunst keine Aufgabe, mithin keine Seele und keine Lebensgeschichte im Sinne einer geschlossenen Stilentwicklung mehr besitzt. Dasselbe gilt dementsprechend von der antiken Musik, die nach vielleicht bedeutenden Ansätzen in der frühesten Dorik in den reifen Jahrhunderten der Ionik (650 bis 350) den beiden echt apollinischen Künsten, Plastik und Freskomalerei, das Feld räumen und mit dem Verzicht auf Harmonie und Polyphonie auch auf den Rang einer organisch sich entwickelnden höheren Kunst verzichten mußte.“ (Ebd., S. 315-316Spengler).

„Die antike Malerei strengen Stils beschränkte ihre Palette auf gelb, rot, schwarz und weiß. Diese merkwürdige Tatsache ist früh bemerkt worden und hat, da man andere als oberflächliche und ausgesprochen materialistische Gründe gar nicht in Betracht zog, zu törichten Hypothesen wie der von einer angeblichen Farbenblindheit der Griechen geführt. Auch Nietzsche hat davon geredet (Morgenröte 426 Nietzsche).“ (Ebd., S. 317Spengler).

„Aber aus welchem Grunde vermied diese Malerei in ihrer großen Zeit das Blau und sogar noch das Blaugrün und ließ erst bei den grüngelben und bläulichroten Tönen die Skala der erlaubten Farben beginnen? (Das Blau und seine Wirkung war den antiken Künstlern wohl bekannt. Die Metopen vieler Tempel hatten blauen Hintergrund, weil sie den Triglyphen gegenüber als Tiefe erscheinen sollten. Und die Handwerksmalerei hat alle technisch herstellbaren Farben verwendet; blaue Pferde sind unter den archaischen Werken der Akropolis und in etruskischen Grabgemälden nachgewiesen. Eine grell blaue Färbung des Haares war ganz gewöhnlich.) Ohne Zweifel kommt das Ursymbol der euklidischen Seele in dieser Beschränkung zum Ausdruck.“ (Ebd., S. 317Spengler).

„Blau und grün sind die Farben des Himmels, des Meeres, der fruchtbaren Ebene, der Schatten an südlichen Mittagen, des Abends und der entfernten Gebirge. Sie sind wesentlich atmosphärische, nicht gegenständliche Farben. Sie sind kalt; sie entkörpern und rufen die Eindrücke des Weiten, Fernen und Grenzenlosen hervor.“ (Ebd., S. 317Spengler).

„Deshalb geht, während das Fresko Polygnots sie streng vermeidet, ein »infinitesimales« Blau und Grün von den Venezianern an bis ins 19. Jahrhundert als raumschaffendes Element durch die ganze Geschichte der perspektivischen Ölmalerei. Und zwar als Grundton von ganz überwiegendem Range, der den Gesamtsinn der Farbengebung trägt, als Generalbaß, während die warmen gelben und roten Töne sparsam und erst danach gestimmt sind. Es ist nicht das satte, freudige, nahe Grün gemeint, das Raffael oder Dürer bei Gewändern gelegentlich – und selten genug – verwenden, sondern ein unbestimmbares, in tausend Schattierungen ins Weiße, Graue, Braune spielendes Blaugrün, etwas tief Musikalisches, in das die ganze Atmosphäre vor allem auch der Gobelins getaucht ist. Was man im Gegensatz zur Linearperspektive Luftperspektive genannt hat und im Gegensatz zur Renaissanceperspektive Barockperspektive hätte nennen können, beruht fast ausschließlich auf ihm. Man findet es in Italien mit steigender Kraft der Tiefenwirkung bei Lionardo, Guercino, Albani, in Holland bei Ruysdael und Hobbema, vor allem aber bei den großen Franzosen, von Poussin, Lorrain und Watteau an bis zu Corot. Das Blau, ebenfalls eine perspektivische Farbe, steht immer in Beziehung zum Dunklen, Lichtlosen, Unwirklichen. Es dringt nicht ein, sondern zieht in die Ferne. »Ein reizendes Nichts«, hat es Goethe in seiner Farbenlehre genannt. Blau und Grün sind transzendente, geistige, unsinnliche Farben. Sie fehlen im strengen Freskogemälde attischen Stils und also herrschen sie in der Ölmalerei. Gelb und Rot, die antiken Farben, sind die der Materie, der Nähe und der Sprache des Blutes. Rot ist die eigentliche Farbe der Geschlechtlichkeit; deshalb ist es die einzige, die auf Tiere wirkt. Sie steht dem Symbol des Phallus – und also der Statue und der dorischen Säule – am nächsten, wie andrerseits ein reines Blau den Mantel der Madonna verklärt. Diese Beziehung hat sich mit tiefgefühlter Notwendigkeit in allen großen Schulen von selbst eingestellt. Violett – ein Rot, das vom Blau überwunden wird – ist die Farbe der Frauen, die nicht mehr fruchtbar sind, und der im Zölibat lebenden Priester.“ (Ebd., S. 317-318Spengler).

„Gelb und Rot sind die populären Farben, die der Menge, der Kinder, der Frauen und der Wilden. Bei den Spaniern und Venezianern wählt der Vornehme – aus dem unbewußten Gefühl einer abweisenden Distanz – ein prächtiges Schwarz oder Blau. Gelb und Rot sind endlich – als die euklidischen, apollinischen, polytheistischen Farben – die des Vordergrundes, auch im sozialen Sinne, also die einer lärmenden Geselligkeit, des Marktes, der Volksfeste, die des naiven Vorsichhinlebens, des antiken Fatums und des blinden Zufalls, des punktförmigen Daseins. Blau und Grün – faustische, monotheistische Farben – sind die der Einsamkeit, der Sorge, der Beziehung des Augenblicks auf Vergangenheit und Zukunft, die des Schicksals als der dem Weltall innewohnenden Fügung“ (Ebd., S. 318Spengler).

„Die Beziehung des shakespearischen Schicksals zum Räume, des sophokleischen zum einzelnen Körper war oben festgestellt worden. Alle Kulturen von tiefer Transzendenz, alle, deren Ursymbol eine Überwindung des Augenscheins, ein Leben als Kampf, nicht als Hinnahme von Gegebenem fordert, haben zum Räume wie zum Blau und Schwarz denselben metaphysischen Hang. Tiefe Beobachtungen über das Verhältnis zwischen der Idee des Raumes und dem Sinn der Farbe finden sich in Goethes Studien über die entoptischen Farben in der Atmosphäre. Mit der von ihm in seiner Farbenlehre gegebenen Symbolik stimmt die hier aus den Ideen von Raum und Schicksal abgeleitete vollkommen überein.“ (Ebd., S. 319Spengler).

„ie bedeutendste Verwendung eines düsteren Grüns als der Farbe des Schicksals findet sich bei Grünewald, dessen Nächte von einer unbeschreiblichen Mächtigkeit des Raumes nur von Rembrandt noch erreicht werden. Hier gewinnt man den Eindruck, als ob dies bläuliche Grün, dieselbe Farbe, in welche das Innere der großen Dome oft gehüllt ist, als die spezifisch katholische Farbe bezeichnet werden dürfe, vorausgesetzt, daß man allein jenes durch das lateranische Konzil von 1215 begründete und im Tridentinum vollendete faustische Christentum mit der Eucharistie als Mittelpunkt katholisch nennt. Diese Farbe steht in ihrer schweigsamen Größe sicherlich dem prunkvollen Goldgrund altchristlich-byzantinischer Bildwerke ebenso fern wie den geschwätzig-heitren, »heidnischen« Farben bemalter hellenischer Tempel und Statuen. Man beachte, daß die Wirksamkeit dieser Farbe Innenräume zur Aufstellung der Kunstwerke voraussetzt, im Gegensatz zum Gelb und Rot; die antike Malerei ist eine ebenso entschieden öffentliche wie die abendländische eine Atelierkunst. Die gesamte große Ölmalerei von Lionardo bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ist nicht für das grelle Tageslicht gedacht. Hier kehrt der Gegensatz von Kammermusik und freistehender Statue wieder. Die oberflächliche Begründung dieser Tatsache durch das Klima wird, wenn es überhaupt nötig wäre, durch das Beispiel der ägyptischen Malerei widerlegt. Da der unendliche Raum für das antike Lebensgefühl ein vollkommenes Nichts ist, so würden Blau und Grün mit ihrer entwirklichenden und Fernen schaffenden Kraft die Alleinherrschaft des Vordergrundes, der vereinzelten Körper und damit den eigentlichen Sinn apollinischer Kunstwerke in Frage gestellt haben. Dem Auge eines Atheners wären Gemälde in den Farben Watteaus wesenlos und von einer schwer in Worte zu fassenden inneren Leere und Unwahrheit erschienen. Durch diese Farben wird die sinnlich empfundene, das Licht zurückstrahlende Fläche nicht als Zeugnis und Grenze eines Dinges, sondern als die des umgebenden Raumes gewertet. Deshalb fehlen sie dort und herrschen sie hier.“ (Ebd., S. 319-320Spengler).

„Die Seele dreier Kulturen ist hier an einer nahe verwandten Aufgabe zu prüfen. Die apollinische erkannte nur das in Ort und Zeit unmittelbar Gegenwärtige als wirklich an – und sie verleugnete den Hintergrund in ihren Bildwerken; die faustische strebte über alle sinnlichen Schranken ins Unendliche – und sie verlegte den Schwerpunkt des Bildgedankens mittels der Perspektive in die Ferne; die magische empfand alles Geschehende als Ausdruck rätselhafter, die Welthöhle mit ihrer geistigen Substanz durchdringenden Mächte – und sie schloß die Szene durch einen Goldgrund ab, das heißt durch ein Mittel, das jenseits alles Farbig-Natürlichen steht.“ (Ebd., S. 320Spengler).

„Der Goldgrund jener Gemälde im Bereich der westlichen Kirche hat also eine ausgesprochene dogmatische Bedeutung. Er drückt Wesen und Walten des göttlichen Geistes aus. Er repräsentiert die arabische Gestalt des christlichen Weltbewußtseins, und es hängt tief damit zusammen, daß diese Behandlung des Hintergrundes für Darstellungen aus der christlichen Legende tausend Jahre lang als die einzige metaphysisch, selbst ethisch mögliche und würdige erscheint. Als die ersten »wirklichen« Hintergründe in der frühen Gotik auftauchen, mit blaugrünem Himmel, weitem Horizont und Tiefenperspektive, wirken sie zunächst profan, weltlich, und man hat den dogmatischen Wandel, der sich hier verriet, wohl gefühlt, wenn auch nicht erkannt. Das zeigen jene Teppichhintergründe, durch welche die eigentliche Tiefe mit heiliger Scheu verdeckt wird. Man ahnt sie, aber man wagt nicht, sie zur Schau zu stellen. Wir sahen, wie gerade damals, als das faustische – germanisch-katholische – Christentum durch die Ausbildung des Sakraments der Buße zum Bewußtsein seiner selbst gelangt war, eine neue Religion im alten Gewande, in der Kunst der Franziskaner die perspektivische und farbige, den Luftraum erobernde Tendenz den ganzen Sinn der Malerei umgestaltete. Das abendländische Christentum verhält sich zum morgenländischen wie das Symbol der Perspektive zu dem des Goldgrundes, und das endgültige Schisma tritt in Kirche und Kunst fast gleichzeitig ein. Man begreift den landschaftlichen Hintergrund der Bildszene zugleich mit der dynamischen Unendlichkeit Gottes; und zugleich mit den Goldgründen der kirchlichen Gemälde verschwinden aus den abendländischen Konzilen jene magischen, ontologischen Gottheitsprobleme, welche alle orientalischen wie die von Nikäa, Ephesus und Chalcedon leidenschaftlich bewegt hatten.“ (Ebd., S. 321-322Spengler).

„Vor jeder großen Landschaft eines Barockmeisters darf man das Wort »historisch« aussprechen, um einen Sinn in ihr zu fühlen, der einer attischen Statue gänzlich fremd ist. Das ewige Werden, die gerichtete Zeit, das dynamische Weltenschicksal ruht auch in der Melodik dieser ruhelosen und grenzenlosen Striche. Malerischer und zeichnerischer Stil: das bedeutet, von dieser Seite gesehen, den Gegensatz von historischer und ahistorischer Form, von Betonung oder Verleugnung der inneren Entwicklung, von Ewigkeit und Augenblick. Ein antikes Kunstwerk ist ein Ereignis, ein abendländisches eine Tat. Das eine symbolisiert ein punktförmiges Jetzt, das andere einen organischen Verlauf. Die Physiognomik der Pinselführung, eine völlig neue, unendlich reiche und persönliche, keiner andern Kultur bekannte Art von Ornamentik ist rein musikalisch.“ (Ebd., S. 323Spengler).

„Zugleich erscheint von nun an ein Symbol höchsten Ranges im abendländischen Gemälde, das »Atelierbraun«, und beginnt die Wirklichkeit aller Farben mehr und mehr zu dämpfen. Die älteren Florentiner kannten es noch nicht, so wenig wie die alten niederländischen und rheinischen Meister. Pacher, Dürer, Holbein sind, so leidenschaftlich ihre Tendenz zur räumlichen Tiefe erscheint, ganz frei davon. Erst das endende 16. Jahrhundert gehört ihm. Dies Braun verleugnet seine Herkunft aus dem »infinitesimalen« Grün der Hintergründe Lionardos, Schongauers und Grünewalds nicht, aber es besitzt die größere Macht über die Dinge. Es führt den Kampf des Raumes gegen das Stoffliche zu Ende. Es überwindet auch das primitivere Mittel der Linearperspektive mit ihrem an architektonische Bildmotive gebundenen Renaissancecharakter. Es steht mit der impressionistischen Technik der sichtbaren Pinselstriche dauernd in einer geheimnisvollen Verbindung. Beide lösen das greifbare Dasein der sinnlichen Welt – der Welt des Augenblicks und der Vordergründe – endgültig in atmosphärischen Schein auf. Die Linie verschwindet aus dem tonigen Bilde. Der magische Goldgrund hatte nur von einer rätselhaften Macht geträumt, welche die Gesetzlichkeit der Körperwelt in dieser Welthöhle beherrscht und durchbricht; das Braun dieser Gemälde öffnet den Blick in eine reine formvolle Unendlichkeit. Im Werden des abendländischen Stils bezeichnet seine Entdeckung einen Höhepunkt. Diese Farbe hat im Gegensatz zu dem vorhergehenden Grün etwas Protestantisches. Der nordische, im Grenzenlosen schweifende Pantheismus des 18. Jahrhunderts, wie ihn die Verse der Erzengel im Prolog von Goethes Faust ausdrücken, ist in ihm vorweggenommen. Die Atmosphäre des König Lear und Macbeth ist ihm verwandt. Das gleichzeitige Streben der instrumentalen Musik nach immer reicheren Enharmonien, bei de Rore und Luca Marenzio, die Herausbildung des Tonkörpers der Streicher und Bläserchöre entspricht durchaus der neuen Tendenz in der Ölmalerei, von den reinen Farben aus durch die Unzahl bräunlicher Schattierungen und die Kontrastwirkung unvermittelt nebeneinander gesetzter Farbenstriche eine malerische Chromatik zu schaffen. Beide Künste breiten nun durch ihre Ton- und Farbenwelten – Farbentöne und Tonfarben – eine Atmosphäre reinster Räumlichkeit aus, die nicht mehr den Menschen als Gestalt, als Leib, sondern die hüllenlose Seele selbst umgibt und bedeutet. Eine Innerlichkeit wird erreicht, der in den tiefsten Werken Rembrandts und Beethovens kein Geheimnis sich mehr verschließt – eine Innerlichkeit allerdings, welche der apollinische Mensch durch seine streng somatische Kunst gerade hatte abwehren wollen.“ (Ebd., S. 323-325Spengler).

„Die alten Vordergrundfarben, Gelb und Rot – die antiken Töne-, werden von nun an seltener und immer als bewußte Kontraste zu Fernen und Tiefen gebraucht, die sie steigern und betonen sollen (außer bei Rembrandt vor allem bei Vermeer). Dies der Renaissance vollkommen fremde atmosphärische Braun ist die unwirklichste Farbe, die es gibt. Es ist die einzige »Grundfarbe«, die dem Regenbogen fehlt. Es gibt weißes, gelbes, grünes, rotes, blaues Licht von vollkommenster Reinheit. Ein reines braunes Licht liegt außerhalb der Möglichkeiten unsrer Natur. Alle die grünlichbraunen, silbrigen, feuchtbraunen, tiefgoldigen Töne, die bei Giorgione in prachtvollen Spielarten erscheinen, bei den großen Niederländern immer kühner werden und sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts verlieren, entkleiden die Natur ihrer greifbaren Wirklichkeit. Darin liegt beinahe ein religiöses Bekenntnis. Man spürt die Nähe der Geister von Port Royal, die Nähe von Leibniz. Bei Constable, dem Begründer einer zivilisierten Malweise, ist es ein andres Wollen, das nach Ausdruck sucht, und dasselbe Braun, das er bei den Holländern studiert hatte und das damals Schicksal, Gott, den Sinn des Lebens bedeutete, bedeutet nun ihm etwas andres, nämlich bloße Romantik, Empfindsamkeit, Sehnsucht nach etwas Entschwundenem, Erinnerung an die große Vergangenheit der sterbenden Ölmalerei. Auch den letzten deutschen Meistern, Lessing, Marees, Spitzweg, Diez, Leibl (sein Bildnis der Frau Gedon, ganz in Braun getaucht, ist das letzte altmeisterliche Porträt des Abendlandes, vollkommen im Stile der Vergangenheit gemalt), deren verspätete Kunst ein Stück Romantik, ein Rückblick und Ausklang ist, erschien das tonige Braun als das kostbare Erbe der Vergangenheit, und sie setzten sich in Widerspruch zu den bewußten Tendenzen ihrer Generation – dem seelenlosen, entseelenden Freilicht der Generation Haeckels –, weil sie innerlich sich von diesem letzten Zuge des großen Stils noch nicht trennen konnten. In diesem noch heute nicht verstandenen Kampf zwischen dem Rembrandtbraun der alten und dem Freilicht der neuen Schule erscheint der hoffnungslose Widerstand der Seele gegen den Intellekt, der Kultur gegen die Zivilisation, der Gegensatz von symbolisch notwendiger Kunst und weltstädtischem Kunstgewerbe, mag es bauen, malen, meißeln oder dichten. Von hier aus wird die Bedeutung dieses Braun, mit dem eine ganze Kunst stirbt, fühlbar.“ (Ebd., S. 325-326Spengler).

„Die innerlichsten unter den großen Malern haben diese Farbe am besten verstanden, Rembrandt vor allem.“ (Ebd., S. 326Spengler).

„Braun war nunmehr die eigentliche Farbe der Seele, einer historisch gestimmten Seele geworden.“ (Ebd., S. 326Spengler).

„Ich glaube, Nietzsche hat einmal von der braunen Musik Bizets gesprochen. Aber das Wort gilt eher von der Musik, die Beethoven für Streichinstrumente geschrieben hat, und noch zuletzt von dem Orchesterklang Bruckners, der so oft den Raum mit einem bräunlichen Golde füllt. (Der Streichkörper repräsentiert im Orchesterklang die Farben der Ferne. Das bläuliche Grün Watteaus findet sich schon im bei canto der Neapolitaner um 1700, bei Couperin, bei Mozart und Haydn, das Bräunliche der Holländer bei Corelli, Händel und Beethoven. Auch die Holzbläser rufen helle Fernen herauf. Gelb und Rot dagegen, die Farben der Nähe, die populären Farben, gehören zum Klang der Blechinstrumente, der körperhaft bis zum Ordinären wirkt. Der Ton einer alten Geige ist vollkommen körperlos. Es verdient bemerkt zu werden, daß die hellenische Musik, so unbedeutend sie ist, von der dorischen Lyra zur ionischen Flöte – Aulos und Syrinx – überging und daß die strengen Dorer diese Tendenz zum Weichlichen und Niedrigen noch zur Zeit des Perikles getadelt haben.) Alle andern Farben sind in eine dienende Rolle verwiesen, das helle Gelb und der Zinnober Vermeers, die mit wahrhaft metaphysischem Nachdruck wie aus einer andern Welt ins Räumliche hereinragen, und die gelbgrünen und blutroten Lichter, die bei Rembrandt mit der Symbolik des Raumes beinahe zu spielen scheinen. Bei Rubens, der ein glänzender Künstler, aber kein Denker war, ist das Braun fast ideenlos, eine Schattenfarbe. (Das »katholische« Blaugrün macht bei ihm und Watteau dem Braun den Rang streitig.) Man sieht, wie dasselbe Mittel, das in den Händen tiefer Menschen Symbol wird und dann die ungeheure Transzendenz der Landschaften Rembrandts hervorrufen kann, daneben großen Meistern als bloße technische Handhabe zu Gebote steht, daß also, wie wir eben sahen, die künstlerisch-technische »Form«, als Gegensatz zu einem »Inhalt« gedacht, nichts mit der wahren Form großer Werke zu tun hat.“ (Ebd., S. 326-327Spengler).

„Ich hatte das Braun eine historische Farbe genannt. Es macht die Atmosphäre des Bildraumes zu einem Zeichen des Gerichtetseins, der Zukunft. Es übertönt die Sprache des Augenblicklichen in der Darstellung. Diese Bedeutung erstreckt sich auch auf die übrigen Farben der Ferne und führt zu einer weiteren, sehr bizarren Bereicherung der abendländischen Symbolik. Die Hellenen hatten die oft noch vergoldete Bronze zuletzt dem bemalten Marmor vorgezogen, um durch das Strahlende der Erscheinung unter tiefblauem Himmel die Idee der Einzigkeit alles Körperhaften zum Ausdruck zu bringen. (Man verwechsle die Tendenz, welche dem Goldglanz eines auf freiem Platze stehenden Körpers zugrunde liegt, nicht mit der des flimmernden arabischen Goldgrundes, der in dämmernden Innenräumen hinter den Figuren abschließt.) Die Renaissance grub diese Statuen aus, von einer vielhundertjährigen Patina überzogen, schwarz und grün; sie genoß das Historische des Eindrucks voller Ehrfurcht und Sehnsucht – und unser Formgefühl hat seitdem dieses »ferne« Schwarz und Grün heilig gesprochen. Es ist heute für den Eindruck der Bronze auf unser Auge unentbehrlich, wie um die Tatsache schalkhaft zu illustrieren, daß diese ganze Kunstgattung uns nichts mehr angeht. Was bedeutet uns eine Domkuppel, ein Bronzefigur ohne Patina, die das nahe Glänzen in den Ton des Dort und Einst verwandelt? Sind wir nicht endlich dahin gekommen, diese Patina künstlich zu erzeugen?“ (Ebd., S. 327-328Spengler).

„Aber in der Erhebung des Edelrostes zu einem Kunstmittel von selbständiger Bedeutung liegt viel mehr. Man frage sich, ob ein Grieche die Bildung der Patina nicht als Zerstörung des Kunstwerkes empfunden hätte. Es ist nicht die Farbe allein, das raumferne Grün, das er aus seelischen Gründen vermied; die Patina ist ein Symbol der Vergänglichkeit und sie erhält damit eine merkwürdige Beziehung zu den Symbolen der Uhr und der Bestattungsform. Es war an einer früheren Stelle die Rede von der Sehnsucht der faustischen Seele nach Ruinen und den Zeugnissen einer fernen Vergangenheit, einem Hange, wie er im Sammeln von Altertümern, Handschriften, Münzen, den Pilgerfahrten nach dem Forum Romanum und Pompeji, in Ausgrabungen und philologischen Studien schon zur Zeit Petrarcas zutage tritt. Wann wäre es je einem Griechen eingefallen, sich um die Ruinen von Knossos und Tiryns zu kümmern? Jeder kannte die Ilias, aber nicht einem kam der Gedanke, den Hügel von Troja aufzugraben. Die Aquädukte der Campagna, die etruskischen Gräber, die Ruinen von Luxor und Karnak, zerfallende Burgen am Rhein, der römische Limes, Hersfeld und Paulinzella werden mit einer geheimen Ehrfurcht vor dem Trümmerhaften erhalten – als Ruinen, denn man hat ein dunkles Gefühl davon, daß bei einem Wiederaufbau etwas schwer in Worte zu Fassendes, Unwiederbringliches verloren ginge. Nichts lag dem antiken Menschen ferner als diese Ehrfurcht vor verwitterten Zeugen eines Einst und Ehemals. Man räumte aus den Augen, was nicht mehr von der Gegenwart sprach. Nie wurde das Alte erhalten, weil es alt war. Als die Perser Athen zerstört hatten, warf man Säulen, Statuen, Reliefs, ob zertrümmert oder nicht, von der Akropolis herunter, um von vorn anzufangen, und diese Schutthalde ist unsre reichste Fundgrube für die Kunst des 6. Jahrhunderts geworden. Das entsprach dem Stil einer Kultur, welche die Leichenverbrennung zum Symbol erhob und die Bindung des täglichen Lebens an eine Zeitrechnung verschmähte. Wir haben auch hier das Gegenteil gewählt. Die heroische Landschaft im Stile Lorrains ist ohne Ruinen nicht denkbar, und der englische Park mit seinen atmosphärischen Stimmungen, der den französischen um 1750 verdrängte und dessen großgedachte Perspektive zugunsten der empfindsamen »Natur« Addisons und Popes aufgab, fügte noch das Motiv der künstlichen Ruine hinzu, die das Landschaftsbild historisch vertieft. (Home, ein englischer Philosoph des 18. Jahrhunderts, erklärt in einer Betrachtung über englische Parkanlagen, daß gotische Ruinen den Triumph der Zeit über die Kraft, griechische den der Barbarei über den Geschmack darstellen. Damals erst wurde die Schönheit des Rheins mit seinen Ruinen entdeckt. Er war von nun an der historische Strom der Deutschen.) Etwas Bizarreres ist kaum je ersonnen worden. Die ägyptische Kultur restaurierte die Bauten der Frühzeit, aber sie würde niemals den Bau von Ruinen als Symbolen der Vergangenheit gewagt haben. Aber wir lieben eigentlich auch nicht die antike Statue, sondern den antiken Torso. Er hat ein Schicksal gehabt; etwas in die Ferne Weisendes umgibt ihn, und das Auge sucht gern den leeren Raum der fehlenden Glieder mit dem Takt und Rhythmus unsichtbarer Linien zu erfüllen. Eine gute Ergänzung – und der geheimnisvolle Zauber unendlicher Möglichkeiten ist zu Ende. Ich wage zu behaupten, daß die Reste der antiken Skulptur erst durch diese Transposition ins Musikalische uns nähertreten konnten. Die grüne Bronze, der geschwärzte Marmor, die zertrümmerten Glieder einer Figur heben für unser inneres Auge die Schranken von Ort und Zeit auf. Man hat das malerisch genannt – »fertige« Statuen, Bauten, nicht verwilderte Parks sind unmalerisch – und in der Tat entspricht es der tieferen Bedeutung des Atelierbrauns (das Nachdunkeln alter Gemälde erhöht für unser Gefühl deren Gehalt, mag der Kunstverstand tausendmal dagegen sprechen; hätten die verwendeten Öle die Bilder zufällig blasser werden lassen, so wäre das als Zerstörung empfunden worden), aber man meinte im letzten Grunde den Geist der instrumentalen Musik. Man frage sich, ob der Doryphoros Polyklets, in funkelnder Bronze vor uns stehend, mit Emailaugen und vergoldetem Haar, dieselbe Wirkung tun könnte wie der vom Alter geschwärzte, ob der vatikanische Torso des Herakles nicht seinen mächtigen Eindruck einbüßte, wenn eines Tages die fehlenden Glieder gefunden würden, ob die Türme und Kuppeln unsrer alten Städte nicht ihren tiefen metaphysischen Reiz verlören, wenn man sie mit neuem Kupfer beschlüge. Das Alter adelt für uns wie für die Ägypter alle Dinge. Für den antiken Menschen entwertet es sie.“ (Ebd., S. 328-330Spengler).

„Hiermit hängt endlich die Tatsache zusammen, daß die abendländische Tragödie »historische«, nicht etwa nachweisbar wirkliche oder mögliche – das ist nicht der eigentliche Sinn des Wortes – sondern entfernte, patinierte Stoffe aus demselben Gefühl vorzog: daß nämlich ein Ereignis von reinem Augenblicksgehalt, ohne Raum- und Zeitferne, ein antikes tragisches Faktum, ein zeitloser Mythos nicht das ausdrücken könne, was die faustische Seele ausdrücken wollte und mußte. Wir haben also Tragödien der Vergangenheit und Tragödien der Zukunft – zu letzteren, in denen der kommende Mensch Träger eines Schicksals ist, gehören in einem gewissen Sinne Faust, Peer Gynt, die Götterdämmerung –, aber Tragödien der Gegenwart besitzen wir nicht, wenn man von der belanglosen Sozialdramatik des 19. Jahrhunderts absieht. Shakespeare wählte, wenn er einmal in Gegenwärtigem Bedeutendes ausdrücken wollte, immer wenigstens fremde Länder, in denen er nie gewesen war, am liebsten Italien; deutsche Dichter gern England und Frankreich – alles das aus einer Abweisung der örtlichen und zeitlichen Nähe, welche das attische Drama selbst im Mythos noch betonte.“ (Ebd., S. 330Spengler).

Anfang des Kapitels „Akt und Portrait“

„Man hat die Antike eine Kultur des Leibes, die nordische eine Kultur des Geistes genannt, nicht ohne den Hintergedanken, damit die eine zugunsten der andern zu entwerten. So trivial der im Renaissancegeschmack gehaltene Gegensatz von antik und modern, heidnisch und christlich zumeist gemeint ist, so hätte er doch zu entscheidenden Aufschlüssen führen können, vorausgesetzt, daß man hinter der Formel ihren Ursprung zu finden verstand.“ (Ebd., S. 330Spengler).

„Die apollinische Seele, euklidisch, punktförmig, empfand den empirischen, sichtbaren Leib als den vollkommenen Ausdruck ihrer Art, zu sein; die faustische, in alle Fernen schweifend, fand diesen Ausdruck nicht in der Person, dem soma, sondern in der Persönlichkeit, dem Charakter oder wie man es nennen will. »Seele« – das war für den echten Hellenen zuletzt die Form seines Leibes. So hat Aristoteles sie definiert. »Leib« – das war für den faustischen Menschen das Gefäß der Seele. So empfand Goethe.“ (Ebd., S. 331Spengler).

„Hätte nicht die Renaissance mit dem vollen Pathos ihrer Theorie und einer gewaltigen Täuschung über ihre eignen Tendenzen unser Urteil bis heute beherrscht, während uns die Plastik selbst innerlich ganz fremd geworden war, so hätten wir das Absonderliche des attischen Stils längst bemerkt. Der ägyptische und chinesische Bildhauer dachten gar nicht daran, den anatomischen Außenbau zur Grundlage des von ihnen gewollten Ausdrucks zu machen. Für gotische Bildwerke endlich kommt die Sprache der Muskeln nirgends in Frage. Dies menschliche Rankenwerk, das in unzähligen Statuen und Reliefgestalten – an der Kathedrale von Chartres sind es mehr als zehntausend – das gewaltige Steingefüge umspinnt, ist nicht nur Ornament; es dient schon gegen 1200 zum Ausdruck von Entwürfen, vor denen selbst das Größte verschwindet, was die antike Plastik geschaffen hat. Denn diese Scharen von Wesen bilden eine tragische Einheit. Hier hat, noch vor Dante, der Norden das historische Gefühl der faustischen Seele, wie es im Ursakrament der Buße () den geistigen Ausdruck und zugleich – in der Beichte – die große Schule findet, zu einem Weltendrama verdichtet. Was Joachim von Floris eben jetzt in seinem apollinischen Kloster schaute: das Bild der Welt nicht als Kosmos, sondern als Heilsgeschichte in der Folge von drei Weltaltern, das entstand in Chartres, Reims, Amiens und Paris als Bilderfolge vom Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht. Jede der Szenen und der großen symbolischen Gestalten erhielt ihren bedeutsamen Platz an dem heiligen Bau. Jede spielte ihre Rolle in dem ungeheuren Weltgedicht. Und ebenso empfand nun jeder einzelne Mensch, wie sein Lebenslauf als Ornament dem Plan der Heilsgeschichte eingefügt war, und er erlebte diesen persönlichen Zusammenhang in den Formen der Buße und Beichte. Deshalb standen diese Körper aus Stein nicht nur im Dienste der Architektur; sie bedeuteten noch etwas Tiefes und Einziges für sich selbst, das auch die Grabdenkmäler seit den Königsgräbern von St. Denis mit immer wachsender Innerlichkeit zum Ausdruck bringen: sie reden von einer Persönlichkeit. Was dem antiken Menschen die vollkommene Durchbildung der körperlichen Oberfläche bedeutete – denn das ist der letzte Sinn allen anatomischen Ehrgeizes der griechischen Künstler: das Wesen der lebendigen Erscheinung durch die Gestaltung ihrer Grenzflächen zu erschöpfen –, das wurde für den faustischen Menschen folgerichtig das Porträt, der eigentlichste und einzig erschöpfende Ausdruck seines Lebensgefühls.“ (Ebd., S. 333-334Spengler).

„Um aber die Bedeutung des abendländischen Porträts selbst noch im Gegensatz zum ägyptischen und chinesischen zu erkennen, muß man eine tiefe Wandlung in den Sprachen des Abendlandes betrachten, die seit der Merowingerzeit die Heraufkunft eines neuen Lebensgefühls ankündigt. Sie erstreckt sich gleichmäßig auf das Altgermanische und das Vulgärlatein, für beide aber nur auf die Sprachen innerhalb der Mutterlandschaft der nahenden Kultur, also auf Norwegisch und Spanisch, aber nicht auf das Rumänische. Aus dem Geist der Sprachen und der »Einwirkung« der einen auf die andre kann das nicht erklärt werden, nur aus dem Geist des Menschentums, das den Wortgebrauch zum Symbol erhebt. Statt sum, gotisch im, sagt man: ich bin, I am, je suis; statt fecisti heißt es: tu habes factum, tu as fait, du habes gitân, und weiterhin: daz wîp, un homme, man hat. Das war bis jetzt ein Rätsel (vgl. Friedrich Kluge, Deutsche Sprachgeschichte, 1920, S. 202 ff.), weil man Sprachfamilien als Wesen ansah. Es verliert das Geheimnisvolle, wenn man im Satzbau das Abbild einer Seele entdeckt. Hier beginnt die faustische Seele grammatische Zustände verschiedenster Herkunft für sich umzuprägen. Dies hervortretende »Ich« enthält die erste Morgenröte jener Idee der persönlichkeit, die viel später das Sakrament der Buße und persönlichen Lossprechung schuf. Dieses »ego habeo factum«, die Einschaltung der Hilfszeitwörter haben und sein zwischen einen Täter und eine Tat an Stelle des feci, eines bewegten Leibes, ersetzt die Welt von Körpern durch eine solche von Funktionen zwischen Kraftmittelpunkten, die Statik des Satzes durch Dynamik. Und dieses »Ich« und »Du« löst das Geheimnis des gotischen Porträts. Ein hellenistisches Bildnis ist der Typus einer Haltung, kein »Du«, keine Beichte vor dem, der es schafft oder versteht. Unsre Bildnisse schildern etwas Einzigartiges, das einmal war und nie wiederkehrt, eine Lebensgeschichte im Ausdruck eines Augenblicks, eine Weltmitte, für die alles andre ihre Welt ist, so wie das »Ich« zur Kraftmitte des faustischen Satzes wird.“ (Ebd., S. 335-336Spengler).

„Es war gezeigt worden, wie das Erlebnis des Ausgedehnten seinen Ursprung in der lebendigen Richtung, der Zeit, dem Schicksal hat. Im vollendeten Sein des freistehenden nackten Körpers wird das Tiefenerlebnis abgeschnitten; der »Blick« eines Bildnisses leitet es ins Übersinnlich-Unendliche. Deshalb ist die antike Plastik eine Kunst der Nähe, des Betastbaren, des Zeitlosen. Deshalb liebt sie Motive der kurzen, allerkürzesten Ruhe zwischen zwei Bewegungen, den letzten Augenblick vor dem Wurf des Diskos, den ersten nach dem Flug der Nike des Paionios, wo der Schwung des Leibes zu Ende ist und die wehenden Gewänder noch nicht fallen, eine Haltung, die gleichweit von Dauer und Richtung entfernt ist, abgesetzt gegen Zukunft und Vergangenheit. Veni, vidi, vici – das ist solch eine Haltung. Ich – kam, ich – sah, ich – siegte: da wird etwas noch einmal im Aufbau des Satzes.“ (Ebd., S. 336Spengler).

„Das Tiefenerlebnis ist ein Werden und bewirkt ein Gewordenes; es bedeutet Zeit und ruft den Raum hervor; es ist kosmisch und historisch zugleich. Die lebendige Richtung geht zum Horizont wie zur Zukunft.“ (Ebd., S. 336Spengler).

„Das abendländische Porträt ist unendlich in jedem Sinne ....“ (Ebd., S. 337Spengler).

„Beichten heißt nicht eine Tat eingestehen, sondern die innere Geschichte dieser Tat dem Richter vorlegen. Die Tat ist offenkundig; ihre Wurzeln sind das persönliche Geheimnis. Wenn der Protestant und der Freigeist sich gegen die Ohrenbeichte auflehnen, so kommt es ihnen nicht zum Bewußtsein, daß sie nicht die Idee, sondern nur ihre äußere Fassung verwerfen. Sie weigern sich, dem Priester zu beichten, aber sie beichten sich selbst, dem Freunde oder der Menge. Die gesamte nordische Poesie ist eine laute Bekenntniskunst. Das Porträt Rembrandts und die Musik Beethovens sind es auch. Was Raffael, Calderon und Haydn dem Priester mitteilten, haben jene in die Sprache ihrer Werke übertragen. Wer schweigen muß, weil ihm die Größe der Form versagt blieb, um auch das letzte aufzunehmen, geht zugrunde wie Hölderlin. Der abendländische Mensch lebt mit dem Bewußtsein des Werdens, mit dem ständigen Blick auf Vergangenheit und Zukunft. Der Grieche lebt punktförmig, unhistorisch, somatisch. Kein Grieche wäre einer echten Selbstkritik fähig gewesen. Auch das liegt in der Erscheinung der nackten Statue, dem vollkommen unhistorischen Abbild eines Menschen. Ein Selbstporträt ist das genaue Seitenstück der Selbstbiographie in der Art des »Werther« und »Tasso«, und das eine der Antike so fremd wie das andre. Es gibt nichts Unpersönlicheres als die griechische Kunst. Daß Skopas oder Lysippos ein Bildnis von sich selbst gemacht hätten, kann man sich gar nicht vorstellen.“ (Ebd., S. 337-338Spengler).

„Ich fasse jetzt den Gegensatz von apollinischem und faustischem Menschheitsideal zusammen. Akt und Porträt verhalten sich wie Körper und Raum, wie Augenblick und Geschichte, Vordergrund und Tiefe, wie die euklidische zur analytischen Zahl, wie Maß und Beziehung. Die Statue wurzelt im Boden, die Musik – und das abendländische Porträt ist Musik, aus Farbentönen gewebte Seele – durchdringt den grenzenlosen Raum. Das Freskogemälde ist mit der Wand verbunden, verwachsen; das Ölgemälde, als Tafelbild, ist frei von den Schranken eines Ortes. Die apollinische Formensprache offenbart ein Gewordnes, die faustische vor allem auch ein Werden.“ (Ebd., S. 340-341Spengler).

„Deshalb zählt die abendländische Kunst Kinderporträts und Familienbildnisse zu ihren besten und innerlichsten Leistungen.“ (Ebd., S. 341Spengler).

„In der Idee des Muttertums ist das unendliche Werden begriffen. Das mütterliche Weib ist die Zeit, ist das Schicksal. Wie der mystische Akt des Tiefenerlebnisses aus dem Sinnlichen das Ausgedehnte und also die Welt bildet, so entsteht durch die Mutterschaft der leibliche Mensch als einzelnes Glied dieser Welt, in der er nun ein Schicksal hat. Alle Symbole der Zeit und Ferne sind auch Symbole des Muttertums. Die Sorge ist das Urgefühl der Zukunft und alle Sorge ist mütterlich. Sie spricht sich in den Bildungen und Ideen von Familie und Staat aus und in dem Prinzip der Erblichkeit, das beiden zugrunde liegt. Man kann sie bejahen oder verneinen; man kann sorgenvoll leben oder sorglos. Und man kann also auch die Zeit im Zeichen der Ewigkeit auffassen oder in dem des Augenblicks, und deshalb das Schauspiel der Zeugung und Geburt oder das der Mutter mit dem Kinde an der Brust als Symbole des Lebens im Räume durch alle Mittel der Kunst versinnlichen. Das erste haben Indien und die Antike, das letzte Ägypten und das Abendland getan. (Vgl. S. 177 [Vgl. S. 177] und S. 912). Phallus und Lingam haben etwas rein Gegenwärtiges, Beziehungsloses, und etwas davon liegt auch in der Erscheinung der dorischen Säule wie der attischen Statue. Die stillende Mutter verweist in die Zukunft und sie ist es, welche der antiken Kunst vollkommen fehlt. Man möchte sie nicht einmal im Stil des Phidias gebildet sehen. Man fühlt, daß diese Form dem Sinn der Erscheinung widerspricht.“ (Ebd., S. 341-342Spengler).

„In der religiösen Kunst des Abendlandes gab es keine erhabnere Aufgabe. Mit der anbrechenden Gotik wird die Maria Theotokos der byzantinischen Mosaiken zur Mater dolorosa, zur Mutter Gottes, zur Mutter überhaupt. Im germanischen Mythos erscheint sie, ohne Zweifel erst seit der Karolingerzeit, als Frigga und Frau Holle. Wir finden das gleiche Gefühl in schönen Wendungen der Minnesänger wie Frau Sonne, Frau Weite, Frau Minne ausgedrückt. Etwas Mütterliches, Sorgendes, Duldendes durchzieht das ganze Weltbild der frühgotischen Menschheit, und als das germanisch-katholische Christentum zum vollen Bewußtsein seiner selbst herangereift war, in der endgültigen Fassung der Sakramente und gleichzeitig des gotischen Stils, da hat es nicht den leidenden Erlöser, sondern die leidende Mutter in die Mitte seines Weltbildes gestellt. Um 1250 wird in dem großen Statuenepos der Kathedrale von Reims der herrschende Platz an der Mitte des Hauptportals, den in Paris und Amiens noch Christus erhalten hatte, der Madonna eingeräumt, und um dieselbe Zeit beginnt die toskanische Schule zu Arezzo und Siena (Guido da Siena), in den byzantinischen Bildtypus der Theotokos den Ausdruck mütterlicher Liebe zu legen. Die Madonnen Raffaels leiten dann zu dem weltlichen Typus des Barock hinüber, der mütterlichen Geliebten, zu Ophelia und Gretchen, deren Geheimnis sich in der Verklärung am Schlusse des zweiten Faust, in der Verschmelzung mit der frühgotischen Maria erschließt.“ (Ebd., S. 342-343Spengler).

„Ihr stellte die hellenische Einbildungskraft Göttinnen gegenüber, die Amazonen – wie Athene – oder Hetären – wie Aphrodite – waren. Das ist der antike Typus vollkommener Weiblichkeit, aus dem Grundgefühl pflanzenhafter Fruchtbarkeit erwachsen. Auch hier erschöpft das Wort soma den ganzen Sinn der Erscheinung. Man denke an das Meisterwerk dieser Art, die drei mächtigen Frauenkörper im Ostgiebel des Parthenon, und vergleiche damit das erhabenste Bildnis einer Mutter, die sixtinische Madonna Raffaels. In ihr ist nichts Körperhaftes mehr. Sie ist ganz Ferne, ganz Raum. Die Helena der Ilias, an der mütterlichen Gefährtin Siegfrieds, Kriemhild, gemessen, ist Hetäre; Antigone und Klytämnestra sind Amazonen. Es ist auffallend, wie selbst Aischylos in der Tragödie seiner Klytämnestra die Tragik der Mutter mit Schweigen übergeht. Und die Gestalt der Medea ist vollends die mythische Umkehrung des faustischen Typus der Mater dolorosa. Nicht um der Zukunft, nicht um der Kinder willen ist sie da; mit dem Geliebten, dem Symbol des Lebens als einer reinen Gegenwart, versinkt ihr alles. Kriemhild rächt ihre ungeborenen Kinder. Diese Zukunft hatte man ihr gemordet. Medea rächt nur ein vergangenes Glück.“ (Ebd., S. 343Spengler).

„Die Pygmalionsage erschließt das ganze Wesen dieser apollinischen Kunst.“ (Ebd., S. 353Spengler).

(Ich erinnere an die Geschichte von Tartinis Geige, die beim Tode des Meisters zerspringt. Es gibt hundert ähnliche. Sie sind das faustische Gegenstück zur Pygmalionsage. Es sei auch auf E.T.A. Hoffmanns Gestalt des Kapellmeisters Kreisler aufmerksam gemacht, die ebenbürtig neben dem Faust, Werther und Don Juan steht. Um ihren symbolischen Rang und ihre innere Notwendigkeit zu fühlen, vergleiche man sie mit den theatralischen Malergestalten der gleichzeitigen Romantiker, die zur Idee der Malerei in keinerlei Beziehung stehen. Ein Maler kann gar nicht, und das spricht das Urteil über die Künstlerromane des 19. Jahrhunderts, das Schicksal der faustischen Kunst repräsentieren.)“ (Ebd., S. 354Spengler).

„Es ist noch übrig, die Vollendung der abendländischen Kunst in großen Zügen zu verfolgen. Die innerste Notwendigkeit aller Geschichte ist hier am Werke. Wir haben gelernt, Künste als Urphänomene zu begreifen. Wir suchen nicht mehr nach Ursachen und Wirkungen im physikalischen Sinne, um ihrer Entwicklung Zusammenhang zu geben. Wir haben den Begriff des Schicksals einer Kunst in sein Recht eingesetzt. Wir haben endlich Künste als Organismen erkannt, die in dem größeren Organismus einer Kultur ihre bestimmte Stellung einnehmen, geboren werden, reifen, altern und für immer sterben.“ (Ebd., S. 361Spengler).

„Eine Spätzeit, das Barock wie die Ionik, weiß, was die Formensprache der Kunst zu bedeuten hat. Sie war bis dahin eine philosophische Religion, jetzt wird sie eine religiöse Philosophie. Sie wird städtisch und weltlich. An die Stelle namenloser Schulen treten die großen Meister. Es erscheint auf der Höhe jeder Kultur das Schauspiel einer prachtvollen Gruppe großer Künste, wohlgeordnet und durch das zugrunde liegende Ursymbol zu einer Einheit verknüpft. Die apollinische Gruppe, zu welcher die Vasenmalerei, das Fresko, das Relief, die Architektur der Säulenordnungen, das attische Drama, der Tanz gehören, hat die Skulptur der nackten Statue zur Mitte. Die faustische Gruppe bildet sich um das Ideal reiner räumlicher Unendlichkeit. Ihren Mittelpunkt bildet die instrumentale Musik. Von ihr aus spinnen sich feine Fäden in alle geistigen Formensprachen hinüber und verweben die infinitesimale Mathematik, die dynamische Physik, die Propaganda des Jesuitenordens und die Dynamik der berühmten Schlagworte der Aufklärung, die moderne Maschinentechnik, das Kreditsystem und die dynastisch-diplomatische Staatsorganisation zu einer ungeheuren Totalität seelischen Ausdrucks.“ (Ebd., S. 361-362Spengler).

„Ölmalerei und Instrumentalmusik, die Künste des Raumes, treten ihre Herrschaft an. In der Antike waren es folglich die stofflich-euklidischen Künste: das streng flächenhafte Fresko und die freistehende Statue, die gleichzeitig – um 600 – in den Vordergrund treten. Und zwar sind es die beiden Arten von Malerei, die, in ihrer Formensprache gemäßigter, zugänglicher, zuerst heranreifen. Dem Ölgemälde gehört die Zeit von 1550–1650 ebenso unbestritten wie dem Fresko und Vasenbild das 6. Jahrhundert. Die Symbolik von Raum und Körper, ausgedrückt durch das Kunstmittel hier der Perspektive und dort der Proportion, erscheint in der mittelbaren Sprache des Gemäldes nur angedeutet. Diese Künste, welche das jeweilige Ursymbol, also Möglichkeiten des Ausgedehnten, in der Bildfläche nur vorzutäuschen vermögen, konnten das antike und abendländische Ideal wohl bezeichnen und heraufrufen, aber nicht vollenden. Auf dem Wege der Spätzeit erscheinen sie als Vorstufen der letzten Höhe. Je mehr der große Stil sich seiner Vollendung nähert, desto entschiedener wird der Drang nach einer ornamentalen Sprache von unerbittlicher Klarheit der Symbolik. Die Malerei genügte nicht mehr. Die Gruppe der hohen Künste wurde weiterhin vereinfacht. Um 1670, gerade damals, als Leibniz und Newton die Differentialrechnung entdeckten, war die Ölmalerei an der Grenze ihrer Möglichkeiten angelangt.“ (Ebd., S. 362-363Spengler).

„Die Formen der letzten Reife treten hervor, das Concerto grosso, die Suite und die dreiteilige Sonate für Soloinstrumente. Die Musik befreit sich von dem Rest des Körperlichen im Klange der menschlichen Stimme. Sie wird absolut. Das Thema verwandelt sich aus einem Bilde in eine prägnante Funktion, deren Dasein in Entwicklung besteht; den Fugenstil Bachs kann man nur als eine unendliche Differentation und Integration bezeichnen. Die Marksteine des Sieges der reinen Musik über die Malerei sind die im höchsten Alter entstandenen Passionen von Heinrich Schütz, in denen die neue Formensprache am Horizont erscheint, die Sonaten dall' Abacos und Corellis, die Oratorien Händels und die barocke Polyphonie Bachs. Von nun an ist diese Musik die faustische Kunst, und man darf Watteau einen malenden Couperin, Tiepolo einen malenden Händel nennen.“ (Ebd., S. 363Spengler).

„Dieselbe Wendung erfolgt in der Antike um 460, als der letzte der großen Freskomaler, Polygnot, das Erbe des erhabenen Stils an Polyklet und damit an die freie Rundplastik abtritt.“ (Ebd., S. 363Spengler).

„Mit dieser Musik und dieser Plastik ist das Ziel erreicht. Eine reine Symbolik von mathematischer Strenge ist möglich geworden: das bedeutet der Kanon, jene Schrift Polyklets über die Proportionen des menschlichen Körpers und als Gegenstück dazu die »Kunst der Fuge« und das »Wohltemperierte Klavier« seines »Zeitgenossen« Bach. Diese beiden Künste leisten das Äußerste und Letzte an Deutlichkeit und Intensität der reinen Form. Man vergleiche doch den Tonkörper der faustischen Instrumentalmusik und in ihm wieder den Streichkörper und bei Bach auch noch den als Einheit wirkenden Körper der Blasinstrumente mit dem Körper attischer Statuen; man vergleiche, was Haydn und was Praxiteles eine Figur nannten, nämlich die eines rhythmischen Motivs im Gewebe der Stimmen oder die eines Athleten, eine Bezeichnung, welche der Mathematik[364] entnommen ist und verrät, daß dieses jetzt endlich erreichte Ziel das einer Vereinigung künstlerischen und mathematischen Geistes ist, denn zugleich mit Musik und Plastik haben die Analysis des Unendlichen und die euklidische Geometrie ihre Aufgabe und den letzten Sinn ihrer Zahlensprache mit voller Deutlichkeit begriffen. Die Mathematik des Schönen und die Schönheit des Mathematischen sind nicht mehr zu trennen. Der unendliche Raum der Töne und der völlig freistehende Körper von Marmor oder Bronze sind eine unmittelbare Interpretation des Ausgedehnten. Sie gehören zur Zahl als Beziehung und zur Zahl als Maß.“ (Ebd., S. 364-365Spengler).

„Mit dem Ausgang der Fresko- (apolinisch; HB) und Ölmalerei (faustisch; HB) beginnt die dichte Reihe großer Meister der absoluten Plastik (apolinisch; HB) und Musik (faustisch; HB). Auf Polyklet folgen Phidias, Paionios, Alkamenes, Skopas, Praxiteles, Lysippos, auf Bach und Händel Gluck, Stamitz, die Söhne Bachs, Haydn, Mozart, Beethoven. Jetzt erscheint die Menge wunderbarer, heute längst verschollener Instrumente, eine ganze Zauberwelt abendländischen Entdecker- und Erfindergeistes, um immer neue Klänge und Tonfarben für den Dienst und die Steigerung des Ausdrucks heranzuziehen, jetzt die Fülle großer, feierlicher, zierlicher, leichter, spöttischer, lachender, schluchzender Formen von strengstem Bau, auf die sich heute niemand mehr versteht; es gab damals, vor allem im Deutschland des 18. Jahrhunderts, eine wirkliche Kultur der Musik, die das ganze Leben durchdrang und erfüllte, deren Typus Hoffmanns Kapellmeister Kreisler wurde und von der uns kaum die Erinnerung mehr geblieben ist.“ (Ebd., S. 365Spengler).

„Endlich, mit dem 18. Jahrhundert, stirbt auch die Architektur. Sie löst sich, sie ertrinkt in der Musik des Rokoko. Alles, was man an dieser letzten wundervollen, fragilen Blüte der abendländischen Baukunst getadelt hat – weil man ihre Entstehung aus dem Geist der Fuge nicht verstand –: das Maßlose, Formlose, Verschwebende, Wogende, Funkelnde, die Zerstörung der Fläche und Gliederung[365] für das Auge, alles das ist nur ein Sieg der Töne und Melodien über Linien und Wände, der Triumph des reinen Raumes über den Stoff, des absoluten Werdens über das Gewordne. Es sind nicht mehr Baukörper, diese Abteien, Schlösser, Kirchen mit ihren geschwungenen Fassaden, Portalen und Höfen mit Muschelinkrustation, mächtigen Treppenhäusern, Galerien, Sälen, Kabinetten, sondern steingewordene Sonaten, Menuette, Madrigale, Präludien; Kammermusik in Stuck, Marmor, Elfenbein und edlen Hölzern; Kantilenen von Voluten und Kartuschen, Kadenzen von Freitreppen und Firsten. Der Dresdner Zwinger ist das vollkommenste Stück Musik in der gesamten Weltarchitektur, mit Ornamenten wie der Ton einer edlen alten Geige, ein allegro fugitivo für kleines Orchester.“ (Ebd., S. 365-366Spengler).

„Deutschland hat die großen Musiker und also auch die großen Baumeister – Pöppelmann, Schlüter, Bahr, Neumann, Fischer von Erlach, Dinzenhofer (Dientzenhofer; HB) – dieses Jahrhunderts hervorgebracht. In der Ölmalerei spielt es keine, in der Instrumentalmusik die entscheidende Rolle.“ (Ebd., S. 366Spengler).

„»Der Raum ist die Form a priori der Anschauung«, die Formel Kants – klingt das nicht wie ein Programm dieser Bewegung, die mit Lionardo anhebt?“ (Ebd., S. 367Spengler).

„Der Impressionismus ist die Umkehrung des euklidischen Weltgefühls. Er sucht sich von der Sprache des Plastischen so weit als möglich zu entfernen und der des Musikalischen zu nähern.“ (Ebd., S. 367Spengler).

„Der Impressionismus ist der umfassende Ausdruck eines Weltgefühls, und es versteht sich, daß er die gesamte Physiognomie unser späten Kultur durchdringt.“ (Ebd., S. 367Spengler).

„Malerisch und musikalisch handelt es sich um die Kunst, mit ein paar Strichen, Flecken oder Tönen ein in seinem Gehalte unerschöpfliches Bild, einen Mikrokosmos für Auge und Ohr eines faustischen Menschen zu schaffen, das heißt die Wirklichkeit des unendlichen Raumes durch die flüchtigste, fast körperlose Andeutung von etwas Gegenständlichem, das ihn gewissermaßen zwingt in Erscheinung zu treten, künstlerisch zu bannen.“ (Ebd., S. 367-368Spengler).

„1800, ... Grenze von Kultur und Zivilisation.“ (Ebd., S. 370Spengler).

„Das Freilicht, das jetzt eine neue Farbenskala entfaltet, bezeichnet demgegenüber die Irreligion. Der Impressionismus ist aus den Sphären Beethovenscher Musik und Kantischer Sternenräume auf die Erdoberfläche zurückgekehrt. Dieser Raum ist erkannt, nicht erlebt, gesehen, nicht geschaut; es ist Stimmung darin, nicht Schicksal; es ist das mechanische Objekt der Physik und nicht die gefühlte Welt der pastoralen Musik, was Courbet und Manet in ihre Landschaften bringen. Was Rousseau mit tragisch treffendem Ausdruck als Rückkehr zur Natur prophezeit hatte, vollzieht sich in dieser sterbenden Kunst. So kehrt ein Greis von Tag zu Tag »zur Natur zurück«. Der neue Künstler ist Arbeiter, nicht Schöpfer.“ (Ebd., S. 371Spengler).

„Der malerische Stil von Rottmann, Wasmann, K.D. Friedrich und Runge bis zu Marées und Leibl setzt alle Glieder der Entwicklung voraus; sie liegen dem Technischen zugrunde, und wo auch eine Schule den neuen Stil pflegen will, bedarf sie einer geschlossenen inneren Tradition. .... Alle großen Deutschen des 18. Jahrhunderts waren, als Künstler, Musiker geworden. Daß diese Musik, ohne ihr innerstes Wesen zu verändern, seit Beethoven doch noch einmal in Malerei umschlug, ist eine Seite der deutschen Romantik. Hier hat sie am längsten geblüht, hier ihre liebenswürdigsten Früchte getragen. Denn diese Köpfe und Landschaften sind eine heimliche, sehnsuchtsvolle Musik. Etwas von Eichendorff und Mörike ist noch in Thoma und Böcklin zu finden.“ (Ebd., S. 372Spengler).

„Im »Tristan« stirbt die letzte der faustischen Künste. Dies Werk ist der riesenhafte Schlußstein der abendländischen Musik. Die Malerei hat es nicht zu einem so mächtigen Finale gebracht. Manet, Menzel und Leibl, in deren Freilichtstudien die Ölmalerei alten Stils noch einmal wie aus dem Grabe hervorkommt, wirken dagegen klein. Die apollinische Kunst ging »gleichzeitig« mit der pergamenischen Plastik zu Ende. Pergamon ist das Seitenstück von Bayreuth. Der berühmte Altar selbst ist zwar ein späteres und vielleicht nicht das bedeutendste Werk der Epoche. Man muß (etwa 330-220) eine lange, verschollene Entwicklung voraussetzen. Aber alles, was Nietzsche gegen Wagner und Bayreuth, den »Ring« und den »Parsifal« vorbrachte, läßt sich, unter Gebrauch ganz derselben Ausdrücke wie Dekadenz und Schauspielerei, auf diese Plastik anwenden, von der uns im Gigantenfries des großen Altars - auch einem »Ring« - ein Meisterwerk erhalten ist. Dieselbe Theatralik, dieselbe Anlehnung an alte, mythische, nicht mehr geglaubte Motive, dieselbe rücksichtslose Massenwirkung auf die Nerven, aber auch dieselbe sehr bewußte Wucht, Größe und Erhabenheit, die dennoch einen Mangel an innerer Kraft nicht ganz zu verbergen weiß. Der farnesische Stier und das ältere Vorbild der Laokoongruppe stammen sicherlich aus diesem Kreise.“ (Ebd., S. 374Spengler).

„Es war die überpersönliche Regel, die absolute Mathematik der Form, das Schicksal der langsam gereiften Sprache einer großen Kunst, hier wie dort, was man nicht mehr ertrug. Lysipp (ca. 380-310) steht darin hinter Polyklet (5. Jh v. Chr.), und die Schöpfer der Galliergruppen hinter Lysipp zurück. Das entspricht dem Wege von Bach (1685-1750) über Beethoven (1770-1827) zu Wagner (1813-1883). Die frühen Künstler fühlen sich als Meister der großen Form, die späten als deren Sklaven. Was noch Praxiteles (5./4. Jh.) und Haydn (1732-1809) innerhalb der strengsten Konvention in vollkommener Freiheit und Heiterkeit zu sagen vermochten, brachten Lysipp und Beethoven nur unter Vergewaltigungen zustande (Vgl. Anmerkungen). Noch Mozart (1756-1791) und Cimarosa (1749-1801) beherrschten die Muttersprache ihrer Kunst. Von da an beginnt man ihr radezubrechen, aber niemand empfindet das, weil niemand mehr fließend sprechen kann. Freiheit und Notwendigkeit waren einst identisch. Jetzt versteht man unter Freiheit Mangel an Zucht. In der Zeit Rembrandts und Bachs ist das uns allzubekannte Schauspiel, »an seiner Aufgabe zu scheitern«, gar nicht denkbar. Das Schicksal der Form lag in der Rasse, in der Schule, nicht in privaten Tendenzen des Einzelnen. Im Banne einer großen Tradition gelingt selbst dem kleinen Künstler das Vollkommene, weil die lebendige Kunst ihn und die Aufgabe zusammenführt. Heute müssen diese Künstler wollen, was sie nicht mehr können, und dort mit dem Kunstverstand arbeiten, rechnen, kombinieren, wo der geschulte Instinkt erloschen ist.“ (Ebd., S. 375-376Spengler).

„Wagner wußte, daß er nur dann die Höhe erreichte, wenn er seine ganze Energie zusammennahm und aufs peinlichste die besten Augenblicke seiner künstlerischen Begabung ausnützte.“ (Ebd., S. 376Spengler).

„Zwischen Wagner (1813-1883) und Manet (1832-1883) besteht eine tiefe Verwandtschaft, die wenigen fühlbar sein wird, die aber ein Kenner alles Dekadenten wie Baudelaire (1821-1867) schon früh herausfand. Aus farbigen Strichen und Flecken eine Welt im Raume hervorzuzaubern, das war die letzte, sublimste Kunst der Impressionisten. Wagner leistet das mit drei Takten, in denen sich eine ganze Welt von Seele zusammendrängt. Die Farben der sternhellen Mitternacht, der ziehenden Wolken, des Herbstes, der schaurig-wehmütigen Morgenfrühe, überraschende Blicke auf sonnenbelichtete Fernen, die Weltangst, das nahe Verhängnis, das Verzagen, das verzweifelte Durchbrechen, die jähe Hoffnung, Eindrücke, die vorher kein Musiker für erreichbar gehalten hätte, malt er in vollkommener Deutlichkeit mit ein paar Tönen eines Motivs. Hier ist der äußerste Gegensatz zur griechischen Plastik erreicht. Alles versinkt in körperlose Unendlichkeit; selbst eine linienhafte Melodie ringt sich nicht mehr aus den vagen Tonmassen los, die in seltsamen Wogen einen imaginären Raum heraufrufen. Das Motiv taucht aus dunkler und furchtbaerer Tiefe auf, flüchtig von einem großen Licht überstrahlt; plötzlich steht es in schrecklicher Nähe; es lächelt, es schmeichelt, es droht; bald ist es im Reiche der Streichinstrumente verschwunden, bald nähert es sich wieder aus endlosen Fernen, von einer einzelnen Oboe leise variiert, mit einer immer neuen Fülle seelischer Farben.“ (Ebd., S. 376-377Spengler).

„Alles, was Nietzsche von Wagner gesagt hat, gilt auch von Manet. Scheinbar eine Rückkehr zum Elementarischen, zur Natur gegenüber der Inhaltsmalerei und der absoluten Musik, bedeutet ihre Kunst ein Nachgeben vor der Barbarei der großen Städte.“ (Ebd., S. 377Spengler).

„Eine künstliche Kunst ist keiner organischen Fortentwicklung fähig. Sie bezeichnet das Ende. Daraus folgt - eine bittere Erkenntnis -, daß es mit der abendländischen bildenden Kunst unwiderruflich zu Ende ist. Die Krisis des 19. Jahrhunderts war der Todeskampf. .... Was heute als Kunst betrieben wird, ist Ohnmacht und Lüge, die Musik nach Wagner (1813-1883) so gut wie die Malerei nach Manet (1832-1883), Cézanne (1839-1906), Leibl (1844-1900) und Menzel (1815-1905). Man suche doch die großen Persönlichkeiten, welche die Behauptung rechtfertigen, daß es noch eine Kunst von schicksalhafter Notwendigkeit gebe. Man suche nach der selbstverständlichen und notwendigen Aufgabe, die auf sie wartet. Man gehe durch die Ausstellungshallen, Konzerte, Theater und man wird nur betriebsame Macher und lärmende Narren finden, die sich daran gefallen, etwas - innerlich längst als überflüssig Empfundenes - für den Markt herzurichten. Auf welcher Stufe der innern und äußern Würde steht heute alles, was Kunst und Künstler heißt!  In der Generalversammlung irgendeiner Aktiengesellschaft oder unter Ingenieuren der erstbesten Maschinenfabrik wird man mehr Intelligenz, Geschmack, Charakter und Können bemerken als in der gesamten Malerei und Musik des gegenwärtigen Europa.“ (Ebd., S. 377-378Spengler).

„Man könnte heute alle Kunstanstalten schließen, ohne daß die Kunst davon auch nur berührt würde. Wir dürfen uns nur in das Alexandria des Jahres 200 v. Chr. versetzen, um den Kunstlärm kennen zu lernen, mit dem eine weltstädtische Zivilisation sich über den Tod ihrer Kunst zu täuschen versteht. Dort, wie heute in den Weltstädten Westeuropas, eine Jagd nach den Illusionen einer künstlerischen Fortentwicklung, der persönlichen Eigenart, des »neuen Stils«, der »ungeahnten Möglichkeiten«, ein theoretisches Geschwätz, eine anspruchsvolle Haltung tonangebender Künstler wie die von Akrobaten, die mit Zentnergewichten von Pappe hantieren (»hodlern« ), der Literat statt des Dichters, die scharmlose Farce des Expressionismus als ein Stück Kunstgeschichte, das der Kunsthandel organisiert hat, das Denken, Fühlen und Formen als Kunstgewerbe. Auch Alexandria hatte seine Problemdramatiker und Regiekünstler, die man Sophokles (ca. 496-406) vorzog, und seine Maler, die neue Richtungen erfanden und ihr Publikum verblüfften.“ (Ebd., S. 378Spengler).

„Jede Modernität hält Abwechslung für Entwicklung. Die Wiederbelebungen und Verschmelzungen alter Stile treten an die Stelle wirklichen Werdens. Auch Alexandria hatte seine prärafaelitischen Hanswurste, mit Vasen, Stühlen, Bildern und Theorien, seine Symbolisten, Naturalisten und Exprssionisten. In Rom gibt man sich bald gräko-asiatisch, bald gräko-ägyptisch, bald archaisch, bald - nach Praxiteles (5./4. Jh.) - neuattisch. Das Relief der 19. Dynastie (1345-1200), der ägyptischen Modernität, das massenhaft, sinnlos anorganisch Wände, Statuen, Säulen überzieht, wirkt wie eine Parodie auf die Kunst des Alten Reiches. Der ptolemäische Horustempel in Edfu endlich ist in der Leerheit willkürlich gehäufter Formen nicht mehr zu überbieten. Das ist der prahlerische und aufdringliche Stil unsrer Straßen, monumentalen Plätze und Ausstellungen, obwohl wir uns erst am Anfang dieser Entwicklung befinden.“ (Ebd., S. 379Spengler).

„Endlich erlischt auch die Kraft, etwas anderes auch nur zu wollen. Schon der große Ramses eignete sich Bauten seiner Vorgänger an, indem er in Inschriften und Reliefszenen die Namen ausmeißeln und durch den eigenen ersetzen ließ. Es ist dasselbe Eingeständnis künstlerischer Ohnmacht, das Konstantin veranlaßte, seinen Triumphbogen in Rom mit Skulpturen zu schmücken, die von andern Bauwerken abgenommen waren. Viel früher, seit 150 v. Chr. etwa, beginnt im Bereich der antiken Kunst die Technik der Kopien nach alten Meisterwerken, nicht, weil man diese noch irgend verstanden hätte, sondern weil man Originale nicht mehr selbständig hervorzubringen verstand. Denn man bemerke wohl: diese Kopisten waren die Künstler der Zeit. Ihre Arbeiten, je nach der Mode in diesem oder jenem Stil ausgeführt, bezeichnen das Maximum der damals vorhandenen Gestaltungskraft.“ (Ebd., S. 379-380Spengler).

„Das letzte Ergebnis ist ein feststehender, unermüdlich kopierter Formenschatz.“ (Ebd., S. 380).

NACH OBEN „Seelenbild und Lebensgefühl“ (S. 381-481):

• I. Zur Form der Seele (S. 381-434) • Das Seelenbild eine Funktion des Weltbildes [S. 381] • Psychologie eine Gegenphysik [S. 384] • Apollinisches, magisches, faustisches Seelenbild [S. 386] • Der „Wille“ im gotischen „Seelenraum“ [S. 393] • Die „innere Mythologie“ [S. 398] • Wille und Charakter [S. 401] • Antike Haltungs- und faustische Charaktertragödie [S. 406] • Symbolik des Bühnenbildes [S. 413] • Tages- und Nachtkunst [S. 416] • Popularität und Esoterik [S. 419] • Das astronomische Bild [S. 424] • Der geographische Horizont [S. 427]  • II. Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus (S. 434-481) • Die faustische Moral rein dynamisch [S. 434] • Jede Kultur besitzt eine eigne Form von Moral [S. 439] • Haltungs- und Willensmoral [S. 441] • Buddha, Sokrates, Rousseau als Wortführer anbrechender Zivilisationen [S. 448] • Tragische und Plebejermoral [S. 452] • Rückkehr zur Natur, Irreligion, Nihilismus [S. 455] • Der ethische Sozialismus [S. 462] • Gleicher Bau der Philosophiegeschichte in jeder Kultur [S. 467] • Die zivilisierte Philosophie des Abendlandes [S. 471].

Anfang des Kapitels „Zur Form der Seele“

„Jeder Philosoph von Beruf ist gezwungen, ohne ernstliche Nachprüfung an das Dasein eines Etwas zu glauben, das sich in seinem Sinne verstandesmäßig behandeln läßt, denn seine ganze geistige Existenz hängt von dieser Möglichkeit ab. Es gibt deshalb für jeden noch so skeptischen Logiker und Psychologen einen Punkt, an welchem die Kritik schweigt und der Glaube beginnt, wo selbst der strengste Analytiker aufhört, seine Methode - gegen sich selbst nämlich und auf die Frage der Lösbarkeit, selbst des Vorhandenseins seiner Aufgabe - anzuwenden. Den Satz: Es ist möglich, durch das Denken die Formen des Denkens festzustellen, hat Kant nicht bezweifelt, so zweifelhaft er dem Nichtphilosophen erscheinen mag. Den Satz: es gibt eine Seele, deren Struktur wissenschaftlich zugänglich ist; was ich durch kritische Zerlegung bewußter Daseinsakte in Gestalt von psychischen »Elementen«, »Funktionen«, »Komplexen« feststelle, das ist meine Seele - hat noch kein Psychologe bezweifelt. Gleichwohl hätten die stärksten Zweifel sich hier einstellen sollen. Ist eine abstrakte Wissenschaft vom Seelischen überhaupt möglich?  Ist, was man auf diesem Wege findet, identisch mit dem, was man sucht?  Warum ist alle Psychologie, nicht als Menschenkenntnis und Lebenserfahrung, sondern als Wissenschaft genommen, von jeher die flachste und wertloseste aller philosophischen Disziplinen geblieben, in ihrer völligen Leerheit ausschließlich der Jagdgrund mittelmäßiger Köpfe und unfruchtbarer Systematiker?  Der Grund ist leicht zu finden. Die »empirische« Psychologie hat das Unglück, nicht einmal ein Objekt im Sinne irgend einer wissenschaftlichen Technik zu besitzen. Ihr Suchen und Lösen von Problemen ist ein Kampf mit Schatten und Gespenstern. Was ist das - Seele?  Könnte der bloße Verstand darauf eine Antwort geben, so wäre die Wissenschaft bereits überflüssig.“ (Ebd., S. 381-382Spengler).

„Keiner der tausend Psychologen unsrer Tage hat eine wirkliche Analyse oder Definition »des« Willens, der Reue, der Angst, der Eifersucht, der Laune, der künstlerischen Intuition geben können. Natürlich nicht, denn man zergliedert nur systematisches und man definiert nur Begriffe durch Begriffe. Alle Feinheitem des geistigen Spiels mit begrifflichen Distinktionen, alle vermeintlichen Beobachtungen vom Zusammenhang sinnlich-körperlicher Befunde mit »inneren Vorgängen« berühren nichts von dem, was hier in Frage steht. Wille - das ist kein Begriff, sondern ein Name, ein Urwort wie Gott, ein Zeichen für etwas, dessen wir innerlich unmittelbar gewiß sind, ohne es jemals beschreiben zu können.“ (Ebd., S. 382Spengler).

„Dasjenige, was hier gemeint ist, bleibt der gelehrten Forschung für immer unzugänglich. Nicht umsonst warnt jede Sprache mit ihren tausendfach sich verwirrenden Bezeichnungen davor, Seelisches theoretisch aufteilen, es systematisch ordnen zu wollen. Hier ist nichts zu ordnen. Kritische - »scheidende« - Methoden beziehen sich allein auf die Welt als Natur.“ (Ebd., S. 382Spengler).

„Der Urmensch erlebt »die Seele« zuerst in andern Menschen und dann auch in sich als numen, wie er in der Außenwelt kennt, und er legt seine Eindrücke in mythischer Weise aus. Die Worte dafür sind Symbole, Klänge, die dem Verstehenden etwas Unbeschreibliches bedeuten. Sie rufen Bilder herauf, Gleichnisse, und in einer andern Sprache haben wir auch heute noch nicht gelernt, uns über Seelisches mitzuteilen.“ (Ebd., S. 382Spengler).

„»Die Seele« ist für den Menschen, sobald er nicht nur lebt und fühlt, sondern aufmerksam wird und beobachtet, ein Bild, das aus ganz ursprünglichen Erfahrungen von Tod und Leben stammt. Es ist so alt, wie das durch die Wortsprachen vom Sehen abgelöste und ihm folgende Nach-denken überhaupt. Die Umwelt sehen wir; da jedes freibewegliche Wesen sie auch verstehen muß, um nicht unterzugehen, so entwickelt sich aus der täglichen kleinen, technischen, tastenden Erfahrung ein Inbegriff bleibender Merkmale, der sich für den wortgewohnten Menschen zu einem Bilde des Verstandenen zusammenschließt, der Welt als Natur.1 Was nicht äußere Welt ist, sehen wir nicht; aber wir spüren seine Gegenwart, in andern und in uns selbst. »Es« weckt durch seine Art, sich physiognomisch bemerkbar zu machen, Angst und Wißbegier, und so entsteht das nachdenkliche Bild einer Gegenwelt, durch das wir uns vorstellen, sichtbar vor uns hinstellen, was dem Auge selbst ewig fremd bleibt. Das Bild der Seele ist mythisch und ein Gegenstand von Seelenkulten, solange das Bild der Natur religiös erschaut wird; es verwandelt sich in eine wissenschaftliche Vorstellung und wird der Gegenstand gelehrter Kritik, sobald man »die Natur« kritisch beobachtet.“ (Ebd., S. 383Spengler).

„Wie »die Zeit« ein Gegenbegriff zum Raum (Spengler), so ist »die Seele« eine Gegenwelt zur »Natur« und von deren Auffassung in jedem Augenblick mitbestimmt. Es war gezeigt worden (Vgl. S. 165ff), wie »die Zeit« aus dem Gefühl der Richtung des ewig bewegten Lebens, aus der inneren Gewißheit eines Schicksals heraus als gedankliches Negativ zu einer positiven Größe entstand, als Inkarnation dessen, was nicht Ausdehnung ist, und daß sämtliche »Eigenschaften« der Zeit, durch deren abstrakte Zerlegung die Philosophen das Zeitproblem lösen zu können glauben, als Umkehrung der Eigenschaften des Raumes im Geiste allmählich gebildet und geordnet worden sind. Genau auf demselben Wege ist die Vorstellung vom Seelischen als Umkehrung und Negativ der Weltvorstellung unter Zuhilfenahme der räumlichen Polarität »außen-innen« und durch entsprechende Umdeutung der Merkmale entstanden. Jede Psychologie ist eine Gegenphysik. “ (Ebd., S. 383-384 Spengler).

„Ein »exaktes Wissen« von der ewig geheimnisvollen Seele erhalten zu wollen, ist sinnlos.“ (Ebd., S. 384Spengler).

„Aber der späte städtische Trieb, abstrakt zu denken, zwingt den »Physiker der inneren Welt« gleichwohl dazu, eine Scheinwelt von Vorstellungen durch immer neue Vorstellungen, Begriffe durch Begriffe zu erklären. Er enkt das Nichtausgedehnte in Ausgedehntes um, er erbaut als Ursache dessen, was nur physiognomisch in Erscheinung tritt, ein System, und in diesem glaubt er, die Struktur »der Seele« vor Augen zu haben. Aber schon die Worte, welche in allen Kulturen gewählt werden, um diese Ergebnisse gelehrter Arbeit mitzuteilen, verraten alles. Da ist von Funktionen, Gefühlskomplexen, Triebfedern, Bewußtseinsschwellen, von Verlauf, Breite, Intensität, Parallelismus der seelischen Prozesse die Rede. Aber alle diese Worte stammen aus der Vorstellungsweise der Naturwissenschaft. »Der Wille bezieht sich auf Gegenstände« - das ist doch ein Raumbild. Bewußtes und Unbewußtes - da liegt allzu deutlich das Schema von überirdisch und unterirdisch zugrunde. In den modernen Theorien des Willens wird man die ganze Formensprache der Elektrodynamik finden. Wir reden von Willensfunktionen und Denkfunktionen in genau demselben Sinne wie von Funktionen eines Kräftesystems. Ein Gefühl analysieren, heißt ein raumartiges Schattenbild an seiner Stelle mathematisch behandeln, es abgrenzen, teilen und messen. Jede Seelenforschung dieses Stils, sie mag sich über Gehirnanatomie noch so erhaben dünkeln, ist voll von mechanischen Lokalisationen und bedient sich, ohne es zu bemerken, eines eingebildeten Koordinatensystems in einem eingebildeten Seelenraum. Der »reine« Psychologe merkt gar nicht, daß er den Physiker kopiert. Kein Wunder, daß sein Verfahren mit den albernsten Methoden der experimentellen Psychologie so verzweifelt gut übereinstimmt. Gehirnbahnen und Assoziationsfasern entsprechen der Vorstellungsweise nach durchaus dem optischen Schema: »Willens-« oder »Gefühlsverlauf« ; sie behandelm beide verwandte, nämlich räumliche Phantome. Es ist kein großer Unterschied, ob ich ein psychisches Vermögen begrifflich oder eine entsprechende Region der Großhirnrinde graphisch abgrenze. Die wissenschaftliche Psychologie hat ein geschlossenes System von Bildern herausgearbeitet und bewegt sich mit vollkommener Selbstverständlichkeit in ihm. Man prüfe jede einzelne Aussage jedes einzelnen Psychologen und man wird nur Variationen dieses Systems im Stile der jeweiligen Außenwelt finden.“ (Ebd., S. 384-385Spengler).

„Das klare, vom Sehen abgezogene Denken setzt den Geist einer Kultursprache als Mittel voraus, das, vom Seelentum einer Kultur als Teil und Träger ihres Ausdrucks geschaffen, nun eine »Natur« der Wortbedeutungen, einen sprachlichen Kosmos bildet, innerhalb dessen die abstrakten Begriffe, Urteile, Schlüsse - Abbilder von Zahl, Kausalität, Bewegung - ihr mechanisch bestimmtes Dasein führen. (Ursprachen bilden keine Unterlage für abstrakte Gedankengänge. Am Anfang jeder Kultur erfolgt aber eine innere Wandlung der vorhandenen Sprachkörper, die sie zu den höchsten symbolischen Aufgaben der Kulturentwicklung fähig macht. So entstehen zugleich mit dem romanischen Stil das Deutsche und Englische aus den germanischen Sprachen der Frankenzeit, und das Französische, Italienische, Spanische aus der lingua rustica der ehemaligen Römerprovinzen, trotz so verschiedener Herkunft Sprachen von identischem metaphysischem Gehalt.) Das jeweilige Bild der Seele ist also vom Wortgebrauch und dessen tiefer Symbolik abhängig. Die abendländischen - faustischen - Kultursprachen besitzen sämtlich den Begriff »Wille« - eine mythische Größe, die gleichzeitig durch die Umbildung des Verbums versinnlicht wird, die einen entscheidenden Gegensatz zum aniken Sprachgebrauch und also Seelenbilde schafft. Ego habeo factum statt feci (FECI) - da erscheint ein numen der inneren Welt. Mithin erscheint, von der Sprache bestimmt, im wissenschaftlichen Seelenbilde aller abendländischen Psychologien die Gestalt des Willens als ein wohlumgrenztes Vermögen, das man in den einzemen Schulen wohl verschieden bestimmt, dessen Vorhandensein an sich aber keiner Kritik unterworfen ist.“ (Ebd., S. 385Spengler).

„Ich behaupte also, daß die gelehrte Psychologie, weit entfernt, das Wesen der Seele aufzudecken oder auch nur zu berühren - es ist hinzuzufügen, daß jeder von uns, ohne es zu wissen, Psychologie dieser Art treibt, wenn er sich eigne oder fremde Seelenregungen »vorzustellen« sucht -, zu allen Symbolen, die den Makrokosmos des Kultmenschen bilden, ein weiteres hinzufügt. Wie alles Vollendete, nicht sich Vollendende, stellt es einen Mechanismus an Stelle eines Organismus dar. Man vermißt im Bilde, was unser Lebensgefühl erfüllt und was doch gerade »Seele« sein sollte: das Schicksalhafte, die wahllose Richtung des Daseins, das Mögliche, welches das Leben in seinem Ablauf verwirklicht (SpenglerSpenglerSpengler). Ich glaube nicht, daß in irgend einem psychologischen System das Wort Schicksal vorkommt, und man weiß, das nichts in der Welt weiter von wirklicher Lebenserfahrung und Menschenkenntnis entfernt ist als ein solches System. Assoziationen, Apperzeptionen, Affekte, Triebfedern, Denken, Fühlen, Wollen - alles das sind tote Mechanismen, deren Topographie den belanglosen Inhalt der Seelenwissenschaft bildet. Man wollte das Leben finden und traf auf eine Ornamentik von Begriffen. Die Seele blieb, was sie war, das weder gedacht noch vorgestellt werden kann, das Geheimnis, das ewig Werdende, das reine Erlebnis.“ (Ebd., S. 386Spengler).

„Dieser imaginäre Seelenkörper – das sei hier zum ersten Male ausgesprochen – ist niemals etwas andres als das getreue Spiegelbild der Gestalt, in welcher der gereifte Kulturmensch seine äußere Welt erblickt. Das Tiefenerlebnis verwirklicht hier wie dort die ausgedehnte Welt. (Spengler). Das mit dem Urwort Zeit angedeutete Geheimnis schafft aus dem Empfinden des Außen wie aus dem Vorstellen des Innen den Raum. Auch das Seelenbild hat seine Tiefenrichtung, seinen Horizont, seine Begrenztheit oder Unendlichkeit. Ein »inneres Auge« sieht, ein »inneres Ohr« hört. Es gibt eine deutliche Vorstellung einer inneren Ordnung, die wie die äußere das Merkmal kausaler Notwendigkeit trägt.“ (Ebd., S. 386Spengler).

„Und damit ergibt sich nach allem, was in diesem Buch über die Erscheinung der hohen Kulturen gesagt worden ist, eine ungeheure Erweiterung und Bereicherung der Seelenforschung. Alles, was von Psychologen heute gesagt und geschrieben wird – es ist nicht allein von systematischer Wissenschaft, sondern auch von physiognomischer Menschenkenntnis im weitesten Sinne die Rede –, bezieht sich allein auf den gegenwärtigen Zustand der abendländischen Seele, während die bisher selbstverständliche Meinung, diese Erfahrungen seien für die »menschliche Seele« überhaupt gültig, ohne Prüfung hingenommen worden ist.“ (Ebd., S. 387Spengler).

„Ein Seelenbild ist immer nur das Bild einer ganz bestimmten Seele. Kein Beobachter wird je aus den Bedingungen seiner Zeit und seines Kreises heraustreten, und was er auch »erkennen« möge: jede dieser Erkenntnisse ist bereits ein Ausdruck seiner eignen Seele, nach Auswahl, Richtung und innerer Form. Schon der primitive Mensch legt sich aus Tatsachen seines Lebens ein Seelenbild zurecht, wobei die Urerfahrungen des Wachseins: der Unterschied von Ich und Welt, von Ich und Du, und die des Daseins: der Unterschied von Leib und Seele, von Sinnenleben und Nachdenken, von Geschlechtsleben und Empfindung gestaltend wirken. Weil es nachdenkliche Menschen sind, die darüber denken, so wird immer ein inneres numen: Geist, Logos, Ka, Ruach zum übrigen in Gegensatz gerückt. Wie aber Einteilung und Verhältnis im einzelnen liegen und wie man sich die seelischen Elemente vorstellt, als Schichten, Kräfte, Substanzen, als Einheit, Polarität oder Vielheit, das kennzeichnet den Nachdenkenden schon als Glied einer bestimmten Kultur.“ (Ebd., S. 387Spengler).

„Nach allem wird man über die hohe Bedeutung der einzelnen, in der Weltgeschichte des Denkens auftauchenden Seelenbilder nicht mehr im Zweifel sein. Der antike – apollinische, dem punktförmigen, euklidischen Sein hingegebene – Mensch blickte auf seine Seele wie auf einen zur Gruppe schöner Teile geordneten Kosmos. Plato nannte sie nouV, qumoV, epiqumia und verglich sie mit Mensch, Tier und Pflanze, einmal sogar mit dem südlichen, nördlichen und hellenischen Menschen. Was hier nachgebildet erscheint, ist die Natur, wie sie sich vor den Blicken antiker Menschen entfaltet: eine wohlgeordnete Summe greifbarer Dinge, denen gegenüber der Raum als das Nichtseiende empfunden wird. Wo findet sich in diesem Bilde der »Wille«? Wo die Vorstellung funktioneller Zusammenhänge? Wo sind die übrigen Schöpfungen unserer Psychologie? Glaubt man, daß Plato und Aristoteles sich auf die Analyse schlechter verstanden haben und etwas nicht sahen, was sich bei uns jedem Laien aufdrängt? Oder fehlt hier der Wille, weil in der antiken Mathematik der Raum, in der antiken Physik die Kraft fehlt?“ (Ebd., S. 388Spengler).

„Dagegen nehme man unter den abendländischen Psychologien welche man will. Man wird immer eine funktionale, nie eine körperhafte Ordnung finden; y = f (x): das ist die Urgestalt aller Eindrücke, die wir von unserm Innern empfangen, weil sie unsrer Außenwelt zugrunde liegt. Denken, Fühlen, Wollen – aus dieser Dreiheit kommt kein westeuropäischer Psychologe heraus, so gern er möchte, aber schon der Streit der gotischen Denker um den Primat des Willens oder der Vernunft lehrt, daß man hier eine Beziehung zwischen Kräften erblickt – ob diese Lehren als eigne Erkenntnis vorgetragen oder aus Augustin und Aristoteles herausgelesen werden, ist ganz bedeutungslos. Assoziationen, Apperzeptionen, Willensvorgänge und wie die Bildelemente sonst heißen mögen, sind ohne Ausnahme vom Typus mathematisch-physikalischer Funktionen und der Form nach gänzlich unantik. Da es sich nicht um physiognomisch zu deutende Lebenszüge, sondern um »die Seele« als Objekt handelt, so ist die Verlegenheit der Psychologen wiederum das Bewegungsproblem. Es gibt für die Antike auch ein inneres Eleatenproblem, und in dem scholastischen Streit um den funktionalen Vorrang von Vernunft oder Wille kündigt sich die gefährliche Schwäche der Barockphysik an, zwischen Kraft und Bewegung ein zweifelfreies Verhältnis nicht finden zu können. Die Richtungsenergie wird im antiken und indischen Seelenbilde verneint – da ist alles gelagert und gerundet –, im faustischen und ägyptischen bejaht – es gibt da Wirkungskomplexe und Kraftmitten –, aber eben um dieses zeithaften Gehaltes willen gerät das zeitfremde Denken mit sich selbst in Widerspruch.“ (Ebd., S. 388-389Spengler).

„Das faustische und das apollinische Seelenbild stehen einander schroff gegenüber. Alle früheren Gegensätze tauchen wieder auf. Man darf die imaginäre Einheit hier als Seelenkörper, dort als Seelenraum bezeichnen. Der Körper besitzt Teile, im Raum verlaufen Prozesse. Der antike Mensch empfindet seine Innenwelt plastisch. Das verrät schon der Sprachgebrauch bei Homer, in dem vielleicht uralte Tempellehren durchschimmern, darunter die von den Seelen im Hades, die ein wohl erkennbares Abbild des Körpers sind. So sieht sie auch die vorsokratische Philosophie. Ihre drei schön geordneten Teile – logistikon, epitumetikon, tumoieides– erinnern an die Gruppe des Laokoon. Wir stehen unter einem musikalischen Eindruck: die Sonate des inneren Lebens hat den Willen als Hauptthema; Denken und Fühlen sind die Nebenthemen; der Satz unterliegt den strengen Regeln eines seelischen Kontrapunkts, die zu finden Aufgabe der Psychologie ist. Die einfachsten Elemente unterscheiden sich wie antike und abendländische Zahlen: dort sind sie Größen, hier Beziehungen. Der seelischen Statik des apollinischen Daseins – dem stereometrischen ideal der swfrosunh und ataraxia– steht die Seelendynamik des faustischen gegenüber.“ (Ebd., S. 389Spengler).

„Das magische Seelenbild trägt die Züge eines strengen Dualismus zweier rätselhafter Substanzen, Geist und Seele.“ (Ebd., S. 390Spengler).

„Die Zukunft wird sich an die schwierige Aufgabe wagen müssen, in der Weltanschauung und Philosophie gotischen Stils die gleiche Sonderung der letzten Elemente vorzunehmen wie in der Ornamentik der Kathedralen und in der primitiven damaligen Malerei, die zwischen dem flachen Goldgrund und weiträumigen landschaftlichen Hintergründen – der magischen und der faustischen Art, Gott in der Natur zu sehen – noch keine Entscheidung zu treffen wagt. Es vermischen sich im frühen Seelenbilde, wie es in dieser Philosophie zum Vorschein kommt, in zaghafter Unreife die Züge christlich-arabischer Metaphysik, des Dualismus von Geist und Seele, mit nordischen Ahnungen von funktionalen Seelenkräften, die man sich noch nicht eingesteht. Dieser Zwiespalt liegt dem Streit um den Primat des Willens oder der Vernunft zugrunde, dem Grundproblem der gotischen Philosophie, das man bald im alten arabischen, bald im neuen abendländischen Sinne zu lösen sucht. Es ist derselbe begriffliche Mythos, welcher in stets sich ändernder Fassung den Gang unserer gesamten Philosophie bestimmt hat und diese von jeder anderen scharf unterscheidet. Der Rationalismus des späten Barock hat sich, mit dem ganzen Stolz des seiner selbst sicher gewordnen städtischen Geistes, für die größere Macht der Göttin Vernunft entschieden, bei Kant und bei den Jakobinern. Aber schon das 19. Jahrhundert hat, vor allem in Nietzsche, wieder die stärkere Formel gewählt: voluntas superior intellectu, die uns allen im Blute liegt. (Wenn deshalb auch in diesem Buche Zeit, Richtung und Schicksal den Vorrang vor Raum und Kausalität erhalten, so sind es nicht Beweise des Verstandes, welche die Überzeugung herbeiführen, sondern – ganz unbewußt – Tendenzen des Lebensgefühls, welche sich Beweise verschafften. Eine andre Art der Entstehung philosophischer Gedanken gibt es nicht.) Schopenhauer, der letzte große Systematiker, hat das auf die Formel »Die Welt als Wille und Vorstellung« gebracht, und nicht seine Metaphysik, nur seine Ethik ist es, die gegen den Willen entscheidet.“ (Ebd., S. 393Spengler).

„Hier tritt der geheimste Grund und Sinn allen Philosophierens innerhalb einer Kultur unmittelbar zutage. Denn es ist die faustische Seele, die in vielhundertjährigem Mühen ein Selbstbildnis zu zeichnen versucht, ein Bild, das zugleich mit dem Bilde der Welt einen tiefgefühlten Einklang aufweist. Die gotische Weltanschauung mit ihrem Ringen zwischen Vernunft und Wille ist in der Tat ein Ausdruck des Lebensgefühls jener Menschen der Kreuzzüge, der Stauferzeit und der großen Dombauten. Man sah die Seele so, weil man so war.“ (Ebd., S. 393-394Spengler).

Wollen und Denken im Seelenbilde – das ist Richtung und Ausdehnung, Geschichte und Natur, Schicksal und Kausalität im Bilde der äußeren Welt. Daß unser Ursymbol die unendliche Ausgedehntheit ist, tritt in diesen Grundzügen beider Aspekte zutage. Der Wille knüpft die Zukunft an die Gegenwart, das Denken das Grenzenlose an das Hier. Die historische Zukunft ist die werdende, der unendliche Welthorizont die gewordene Ferne: dies ist der Sinn des faustischen Tiefenerlebnisses. Das Richtungsgefühl wird als »Wille«, das Raumgefühl als »Verstand« wesenhaft, beinahe mythisch vorgestellt: so entsteht das Bild, welches unsre Psychologen mit Notwendigkeit aus dem Innenleben abstrahieren.“ (Ebd., S. 394Spengler).

„Daß die faustische Kultur Willenskultur ist, ist nur ein andrer Ausdruck für die eminent historische Veranlagung ihrer Seele. Das »Ich« im Sprachgebrauch – ego habeo factum –, der dynamische Satzbau also gibt durchaus den Stil des Handelns wieder, welcher aus dieser Anlage folgt und mit seiner Richtungsenergie nicht nur das Bild der »Welt als Geschichte«, sondern unsere Geschichte selbst beherrscht. Dieses »Ich« steigt in der gotischen Architektur empor; die Turmspitzen und Strebepfeiler sind »Ich«, und deshalb ist die gesamte faustische Ethik ein »Empor«; Vervollkommnung des Ich, sittliche Arbeit am Ich, Rechtfertigung des Ich durch Glauben und gute Werke, Achtung des Du im Nächsten um des eignen Ich und seiner Seligkeit willen, von Thomas von Aquino bis zu Kant, und endlich das Höchste: Unsterblichkeit des Ich.“ (Ebd., S. 394Spengler).

„Es ist genau das, was der echte Russe als eitel empfindet und verachtet.“ (Ebd., S. 394Spengler).

„Die russische, willenlose Seele, deren Ursymbol die unendliche Ebene ist, sucht in der Brüderwelt, der horizontalen, dienend, namenlos, sich verlierend aufzugeben. .... Etwas davon liegt auch dem magischen Seelenbild () zugrunde.“ (Ebd., S. 394Spengler).

„Der reine Raum des faustischen Weltbildes ist nicht bloße Dehnung, sondern Ausdehnung in die Ferne als Wirksamkeit, als Überwindung des Nur-Sinnlichen, als Spannung und Tendenz, als geistiger Wille zur Macht.Ich weiß wohl, wie unzulänglich diese Umschreibungen sind. Es ist vollständig unmöglich, durch exakte Begriffe den Unterschied anzugeben zwischen dem, was wir und was die Menschen der arabischen oder indischen Kultur Raum nennen und bei diesem Worte denken, empfinden und vorstellen. Daß es etwas durchaus Verschiedenes ist, beweisen die sehr verschiedenen Grundanschauungen der jeweiligen Mathematik und bildenden Kunst, vor allem die unmittelbaren Äußerungen des Lebens. Wir werden sehen, wie die Identität von Raum und Wille in den Taten des Kopernikus und Kolumbus so gut wie in denen der Hohenstaufen und Napoleons zum Ausdruck kommt – Beherrschung des Weltraums –, aber sie liegt in andrer Weise auch in den physikalischen Begriffen des Kraftfeldes und Potentials, die man keinem Griechen hätte verständlich machen können. Raum als die Form a priori der Anschauung, die Formel, in welcher Kant endgültig aussprach, was die Barockphilosophie unablässig gesucht hatte – das bedeutet einen Herrschaftsanspruch der Seele über das Fremde. Das Ich regiert vermittelst der Form die Welt.“ (Ebd., S. 396-397Spengler).

„Das bringt die Tiefenperspektive der Ölmalerei zum Ausdruck, die den unendlich gedachten Bildraum vom Betrachter abhängig macht, der ihn von der gewählten Entfernung aus im wörtlichen Sinne beherrscht. Es ist jener Zug in die Ferne, der zum Typus der heroischen, historisch empfundenen Landschaft im Gemälde wie im Park der Barockzeit führt, dasselbe, was der mathematisch-physikalische Begriff des Vektors zum Ausdruck bringt. Jahrhunderte hindurch hat die Malerei leidenschaftlich nach diesem großen Symbol gestrebt, in dem alles liegt, was die Worte Raum, Wille, Kraft ausdrücken möchten. Ihm entspricht die ständige Tendenz der Metaphysik, durch Begriffspaare wie Erscheinung und Ding an sich, Wille und Vorstellung, Ich und Nicht-Ich, die sämtlich von rein dynamischem Gehalte sind, sehr im Gegensatz zur Lehre des Protagoras vom Menschen als dem Maß, also nicht dem Schöpfer aller Dinge, die funktionelle Abhängigkeit der Dinge vom Geist zu formulieren. Der antiken Metaphysik gilt der Mensch als Körper unter Körpern, und Erkennen ist hier eine Art von Berührung, die vom Erkannten zum Erkennenden hinüberging, nicht umgekehrt. Die optischen Theorien des Anaxagoras und Demokrit sind weit entfernt, dem Menschen eine Aktivität in der Sinneswahrnehmung zuzugestehen. Plato empfindet das Ich niemals als Mittelpunkt einer transzendenten Wirkungssphäre, wie es Kant ein inneres Bedürfnis war. Die Gefangenen in seiner berühmten Höhle sind wirklich Gefangene, Sklaven äußerer Eindrücke, nicht ihre Herren, von der allgemeinen Sonne beschienen, nicht selbst Sonnen, die das All durchleuchten.“ (Ebd., S. 397-398Spengler).

„Der physikalische Begriff der Raumenergie – die gänzlich unantike Vorstellung, daß bereits die räumliche Distanz eine Energieform, sogar die Urform aller Energie ist, denn das ist die Grundlage der Begriffe Kapazität und Intensität – beleuchtet auch das Verhältnis des Willens zum imaginären Seelenraum. Wir fühlen, daß beides, das dynamische Weltbild Galileis und Newtons und das dynamische Seelenbild mit dem Willen als Schwerpunkt und Beziehungszentrum, ein und dasselbe bedeuten. Sie sind beide Barockgebilde, Symbole der zur vollen Reife gelangten faustischen Kultur.“ (Ebd., S. 398Spengler).

„Was für uns »Gott« ist, Gott als Weltatem, als die Allkraft, als die allgegenwärtige Wirkung und Vorsehung, das ist, aus dem Weltraum in den imaginären Seelenraum zurückgespiegelt und von uns mit Notwendigkeit als wirklich vorhanden empfunden, »Wille«. Zum mikrokosmischen Dualismus der magischen Kultur, zu ruach und nephesch, pneuma und psyche gehört mit Notwendigkeit der makrokosmische Gegensatz von Gott und Teufel, persisch Ormuzd und Ahriman, jüdisch Jahwe und Beelzebub, islamisch Allah und Iblis, dem absolut Guten und dem absolut Bösen, und man wird bemerken, daß im abendländischen Weltgefühl beide Gegensätze zugleich verblassen. In demselben Grade wie aus dem gotischen Streit um den Vorrang von intellectus oder voluntas sich der Wille als Mittelpunkt eines seelischen Monotheismus herausbildet, entschwindet die Gestalt des Teufels aus der wirklichen Welt. Zur Barockzeit hat der Pantheismus der Außenwelt einen inneren unmittelbar zur Folge, und was – in welcher Bedeutung auch – der Gegensatz Gott und Welt bezeichnen soll, das bezeichnet jedesmal das Wort Wille gegenüber der Seele überhaupt: die allbewegende Kraft in ihrem Reich. (Es versteht sich, daß der Atheismus keine Ausnahme bildet. Wenn der Materialist oder Darwinist von »der Natur« redet, die etwas zweckmäßig anordnet, die eine Auslese trifft, die etwas hervorbringt oder vernichtet, so hat er dem Deismus des 18. Jahrhunderts gegenüber nur ein Wort verändert und das Weltgefühl unverändert bewahrt.) Sobald das religiöse Denken in ein streng wissenschaftliches übergeht, besteht auch ein doppelter Begriffsmythos in Physik und Psychologie. Der Ursprung der Begriffe Kraft, Masse, Wille, Leidenschaft beruht nicht auf objektiver Erfahrung, sondern auf einem Lebensgefühl. Der Darwinismus ist nichts anderes als eine außergewöhnlich flache Fassung dieses Gefühls. Kein Grieche würde das Wort Natur im Sinne einer absoluten und planmäßigen Aktivität so gebraucht haben, wie die moderne Biologie es tut. Der »Wille Gottes« ist für uns ein Pleonasmus. Gott (oder »die Natur«) ist nichts als Wille. So gut der Gottesbegriff seit der Renaissance unmerklich mit dem Begriff des unendlichen Weltraums identisch wird und die sinnlichen, persönlichen Züge verliert – Allgegenwart und Allmacht sind beinahe mathematische Begriffe geworden –, so gut wird er zum unanschaulichen Weltwillen. Die reine Instrumentalmusik überwindet deshalb um 1700 die Malerei als das einzige und letzte Mittel, dies Gefühl von Gott zu verdeutlichen.“ (Ebd., S. 398-400Spengler).

„Das rätselhafte Etwas im Seelenbild, welches das Wort Wille bezeichnet, die Leidenschaft der dritten Dimension, ist also ganz eigentlich eine Schöpfung des Barock, wie die Perspektive der Ölmalerei, wie der Kraftbegriff der neueren Physik, wie die Tonwelt der reinen Instrumentalmusik. In allen Fällen hatte die Gotik vorgedeutet, was diese Jahrhunderte der Durchgeistigung zur Reife brachten. Halten wir hier, wo es sich um den Stil des faustischen Lebens im Gegensatz zu jedem andern handelt, daran fest, daß die Urworte Wille, Kraft, Raum, Gott, vom faustischen Bedeutungsgefühl getragen und durchseelt, Sinnbilder sind, schöpferische Grundzüge großer, einander verwandter Formenwelten, in denen dieses Sein sich zum Ausdruck bringt. Man war bis jetzt des Glaubens, hier »an sich seiende«, ewige Tatsachen mit Händen zu greifen, die irgendwann einmal auf dem Wege kritischer Forschung endgültig gesichert, »erkannt«, bewiesen sein würden. Diese Illusion der Naturwissenschaft war in gleicher Weise die der Psychologie. Die Einsicht, daß diese »allgemeingültigen« Grundlagen lediglich zum Barockstil des Schauern und Verstehens gehören, als Ausdrucksformen von vorübergehender Bedeutung und »wahr« nur für die westeuropäische Geistesart, verändert den ganzen Sinn dieser Wissenschaften, die nicht allein Subjekte eines systematischen Erkennens, sondern in viel höherem Grade Objekte einer physiognomischen Betrachtung sind.“ (Ebd., S. 400-401Spengler).

„Die faustische Tragödie ist biographisch, die apollinische ist anekdotisch, das heißt, jene umfaßt das Gerichtetsein eines ganzen Lebens, diese den für sich stehenden Augenblick; denn welche Beziehung hat die gesamte innere Vergangenheit des Ödipus oder Orest zu dem vernichtenden Ereignis, das ihnen plötzlich in den Weg tritt? (Spengler). Der Anekdote antiken Stils gegenüber kennen wir den Typus der charakteristischen, persönlichen, antimythischen Anekdote – es ist die Novelle, deren Meister Cervantes, Kleist, Hoffmann, Storm sind –, die um so bedeutender ist, je mehr man fühlt, daß ihr Motiv nur einmal und nur zu dieser Zeit und unter diesen Menschen möglich war, während der Rang der mythischen Anekdote – der Fabel – durch die Reinheit der gegenteiligen Eigenschaften bestimmt wird. Wir haben da also ein Schicksal, das wie der Blitz trifft, gleichgültig wen, und ein andres, das sich wie ein unsichtbarer Faden durch ein Leben spinnt und dieses eine vor allen andern auszeichnet. Es gibt im vergangenen Dasein Othellos, diesem Meisterstück einer psychologischen Analyse, nicht den geringsten Zug, der ganz ohne Beziehung zur Katastrophe wäre. Der Rassenhaß, das Alleinstehen des Emporkömmlings unter den Patriziern, der Mohr als Soldat, als Naturmensch, als der vereinsamte ältere Mann – nichts von diesen Momenten ist ohne Bedeutung. Man versuche doch, die Exposition des Hamlet oder Lear im Vergleich zu der sophokleischer Stücke zu entwickeln. Sie ist durchaus psychologisch, nicht eine Summe äußerer Daten. Von dem, was wir heute einen Psychologen nennen, nämlich einen gestaltenden Kenner innerer Epochen, was für uns beinahe mit dem Begriff eines Dichters identisch geworden ist, hatten die Griechen keine Ahnung. So wenig sie Analytiker in der Mathematik waren, so wenig waren sie es im Seelischen, und antiken Seelen gegenüber konnte es nicht wohl anders sein. »Psychologie« – das ist das eigentliche Wort für die abendländische Art von Menschengestaltung. Das paßt auf ein Porträt Rembrandts so gut wie auf die Musik des Tristan, auf Stendhals Julien Sorel wie auf Dantes Vita Nuova. Keine andre Kultur kennt Ähnliches. Gerade das ist es, was von der Gruppe antiker Künste mit Strenge ausgeschlossen blieb. »Psychologie« ist die Form, in welcher der Wille, der Mensch als verkörperter Wille, nicht der Mensch als soma, kunstfähig wird. Wer hier Euripides nennt, der weiß gar nicht, was Psychologie ist. Welche Fülle des Charakteristischen liegt schon in der nordischen Mythologie mit ihren schlauen Zwergen, tölpischen Riesen, neckischen Elben, mit Loki, Baldr und den andern Gestalten, und wie typisch wirkt daneben der homerische Olymp! Zeus, Apollon, Poseidon, Ares sind einfach »Männer«, Hermes ist »der Jüngling«, Athene eine reifere Aphrodite, die kleineren Götter – wie auch die spätere Plastik beweist – nur dem Namen nach unterscheidbar. Das gilt im vollen Umfange auch von den Gestalten der attischen Szene. Bei Wolfram von Eschenbach, Cervantes, Shakespeare, Goethe entwickelt sich das Tragische des Einzellebens von innen heraus, dynamisch, funktional, und die Lebensläufe sind wieder nur aus dem geschichtlichen Hintergrund des Jahrhunderts ganz begreiflich; bei den drei großen Tragikern Athens kommt es von außen, statisch, euklidisch. Um eine früher auf die Weltgeschichte angewandte Bezeichnung zu wiederholen: das vernichtende Ereignis macht dort Epoche, hier bewirkt es eine Episode. Selbst der tödliche Ausgang ist nur die letzte Episode eines aus lauter Zufälligkeiten zusammengesetzten Daseins.“ (Ebd., S. 408-409Spengler).

„Alles Sinnlich-nahe aber ist gemeinverständlich. Damit wurde unter allen Kulturen, die es bisher gab, die antike in den Äußerungen ihres Lebensgefühls am meisten, die abendländische am wenigsten populär. Gemeinverständlichkeit ist das Merkmal einer Schöpfung, die sich jedem Betrachter auf den ersten Blick mit all ihren Geheimnissen preisgibt; einer Schöpfung, deren Sinn sich in der Außenseite und Oberfläche verkörpert. Gemeinverständlich ist in jeder Kultur das, was von urmenschlichen Zuständen und Bildungen her unverändert geblieben ist, was der Mann von den Tagen der Kindheit an fortschreitend begreift, ohne eine ganz neue Betrachtungsweise erkämpfen zu müssen, überhaupt das, was nicht erkämpft werden muß, was sich von selbst gibt, was im sinnlich Gegebenen unmittelbar zutage liegt, nicht durch dasselbe nur angedeutet ist und nur – von wenigen, unter Umständen von ganz vereinzelten – gefunden werden kann. Es gibt volkstümliche Ansichten, Werke, Menschen, Landschaften.“ (Ebd., S. 419Spengler).

„Jede Kultur hat ihren ganz bestimmten Grad von Esoterik und Popularität, der ihren gesamten Leistungen innewohnt, soweit sie symbolische Bedeutung haben.“ (Ebd., S. 419Spengler).

„Das Gemeinverständliche hebt den Unterschied zwischen Menschen auf, hinsichtlich des Umfangs wie der Tiefe ihres Seelischen. Die Esoterik betont ihn, verstärkt ihn. Endlich, auf das ursprüngliche Tiefenerlebnis der zum Selbstbewußtsein erwachenden Menschen angewandt und damit auf das Ursymbol seines Denkens und den Stil seiner Umwelt bezogen: zum Ursymbol des Körperhaften gehört die rein populäre, »naive«, zum Symbol des unendlichen Raumes die ausgesprochen unpopuläre Beziehung zwischen Kulturschöpfungen und den dazugehörigen Kulturmenschen.“ (Ebd., S. 419-420Spengler).

„Die antike Geometrie ist die des Kindes, die eines jeden Laien. Der Alltagsverstand wird sie stets für die einzig richtige und wahre halten. Alle anderen Arten natürlicher Geometrie, die möglich sind und die - in angestrengter Überwindung des populären Augenscheins - von uns gefunden wurden, sind nur einem Kreis berufener Mathematiker verständlich. Die berühmten vier Elemente des Empedokles sind die jedes naiven Menschen und seiner »angebornen Physik«. Die von der radioaktiven Forschung entwickelte Vorstellung von isotopen Elementen ist schon den Gelehrten der Nachbarwissenschaften kaum verständlich.“ (Ebd., S. 420Spengler).

„Alles Antike ist mit einem Blick zu umfassen, sei es der dorische Tempel, die Statue, die Polis, der Götterkult; es gibt keine Hintergründe und Geheimnisse. Aber man vergleiche daraufhin eine gotische Domfassade mit den Propyläen, eine Radierung mit einem Vasengemälde, die Politik des athenischen Volkes mit der modernen Kabinettspolitik. Man bedenke, wie jedes unserer epochemachenden Werke der Poesie, der Politik, der Wissenschaft eine ganze Literatur von Erklärungen hervorgerufen hat, mit sehr zweifelhaftem Erfolge dazu. Die Parthenonskulpturen waren für jeden Hellenen da, die Musik Bachs und seiner Zeitgenossen war eine Musik für Musiker. Wir haben den Typus des Rembrandtkenners, des Dantekenners, des Kenners der kontrapunktischen Musik, und es ist - mit Recht - ein Einwand gegen Wagner, daß der Kreis der Wagnerianer allzu weit werden konnte, daß allzu wenig von seiner Musik nur dem gewiegten Musiker zugänglich bleibt. Aber eine Gruppe von Phidiaskennern?  Oder gar Homerkennern?  Hier wird eine Reihe von Erscheinungen als Symptome des abendländischen Lebensgefühls verständlich, die man bisher geneigt war als allgemein menschliche Beschränktheiten moralphilosophisch oder wohl richtiger melodramatisch aufzufassen. Der »unverstandene Künstler«, der »verhungernde Poet«, der »verhöhnte Erfinder«, der Denker, »der erst in Jahrhunderten begriffen wird« - das sind Typen einer esoterischen Kultur. Das Pathos der Distanz, in dem sich der Hang zum Unendlichen und also der Wille zur Macht verbirgt, liegt diesen Schicksalen zugrunde. Sie sind im Umkreise faustischen Menschentums ... ebenso notwendig, als sie unter apollinischen Menschen undenkbar sind.“ (Ebd., S. 420-421 Spengler).

„Alle hohen Schöpfer des Abendlandes waren von Anfang bis zu Ende in ihren eigentlichen Absichten nur einem kleinen Kreise verständlich. Michelangelo hat gesagt, das sein Stil dazu berufen sei, Narren zu züchten. Gauß hat dreißig Jahre lang seine Entdeckungen der nichteuklidischen Geometrien verschwiegen, weil er das »Geschrei der Böoter« fürchtete. Die großen Meister der gotischen Kathedralplastik findet man heute erst aus dem Durchschnitt heraus. Aber das gilt von jedem Maler, jedem Staatsmann, jedem Philosophen. Man vergleiche doch Denker beider Kulturen, Anaximander, Heraklit, Protagoras mit Giordano Bruno, Leibniz oder Kant. Man denke daran, daß kein deutscher Dichter, der überhaupt Erwähnung verdient, von Durchschnittsmenschen verstanden werden kann und daß es in keiner abendländischen Sprache ein Werk vom Range und zugleich der Simplizität des Homer gibt. Das Nibelungenlied ist eine spröde und verschlossene Dichtung, und Dante zu verstehen, ist wenigstens in Deutschland selten mehr als eine literarische Pose. Was es in der Antike nie gab, hat es im Abendland immer gegeben: die exklusive Form. Ganze Zeitalter wie die der provenzalischen Kultur und des Rokoko sind im höchsten Grade gewählt und abweisend. Ihre Ideen, ihre Formensprache sind nur für eine wenig zahlreiche Klasse höherer Menschen da. Gerade daß die Renaissance, diese vermeintliche Wiedergeburt der – so gar nicht exklusiven, in ihrem Publikum so gar nicht wählerischen – Antike keine Ausnahme macht; daß sie durch und durch die Schöpfung eines Kreises und einzelner erlesener Geister war, ein Geschmack, der die Menge von vornherein abwies, daß im Gegenteil das Volk von Florenz gleichgültig, erstaunt oder unwillig zusah und gelegentlich, wie im Falle Savonarolas, mit Vergnügen die Meisterwerke zerschlug und verbrannte, beweist, wie tief diese Seelenferne geht. Denn die attische Kultur besaß jeder Bürger. Sie schloß keinen aus und sie kannte deshalb den Unterschied von tief und flach, der für uns von entscheidender Bedeutung ist, überhaupt nicht. Populär und flach sind für uns Wechselbegriffe, in der Kunst wie in der Wissenschaft; für antike Menschen sind sie es nicht. »Oberflächlich aus Tiefe« hat Nietzsche die Griechen einmal genannt.“ (Ebd., S. 421-422 Spengler).

„Man betrachte daraufhin unsere Wissenschaften, die alle, ohne Ausnahme, neben elementaren Anfangsgründen »höhere«, dem Laien unverständliche Gebiete haben - auch dies ein Symbol des Unendlichen und der Richtungsenergie. Es gibt bestenfalls tausend Menschen auf der Welt, für welche heute die letzten Kapitel der theoretischen Physik geschrieben werden. Gewisse Probleme der modernen Mathematik sind nur einem noch viel engeren Kreis zugänglich. Alle volkstümlichen Wissenschaften sind heute von vornherein wertlose, verfehlte, verfälschte Wissenschaften. Wir haben nicht nur eine Kunst für Künstler, sondern auch eine Mathematik für Mathematiker, eine Politik für Politiker - von der das profanum vulgus der Zeitungsleser keine Ahnung hat (die große Masse der Sozialisten würde sofort aufhören es zu sein, wenn sie den Sozialismus der neun oder zehn Menschen, die ihn heute in seinen äußersten historischen Konsequenzen begreifen, auch nur von fern verstehen könnte), während die antike Politik niemals über den geistigen Horizont der Agora hinausging - eine Religion für das »religiöse Genie« und eine Poesie für Philosophen. Man kann den beginnenden Verfall der abendländischen Wissenschaft, der deutlich fühlbar ist, allein an dem Bedürfnis nach einer Wirkung ins Breite ermessen; daß die strenge Esoterik der Barockzeit als drückend empfunden wird, verrät die sinkende Kraft, die Abnahme des Distanzgefühls, das diese Schranke ehrfürchtig anerkennt. Die wenigen Wissenschaften, die heute noch ihre ganze Feinheit, Tiefe und Energie des Schließens und Folgerns bewahrt haben und nicht vom Feuilletonismus angegriffen sind - es sind nicht mehr viele: die theoretische Physik, die Mathematik, die katholische Dogmatik, vielleicht noch die Jurisprudenz -, wenden sich an einen ganz engen, gewählten Kreis von Kennern. Der Kenner aber ist es, der mit seinem Gegensatz, dem Laien, der Antike fehlt, wo jeder alles kennt. Für uns hat diese Polarität von Kenner und Laie den Rang eines großen Symbols, und wo die Spannung dieser Distanz nachzulassen beginnt, da erlischt das faustische Lebensgefühl.“ (Ebd., S. 422-423Spengler).

„Dieser Zusammenhang gestattet für die letzten Fortschritte der abendländischen Forschung - also für die nächsten zwei, vielleicht nicht einmal zwei Jahrhunderte - den Schluß, daß, je höher die weltstädtische (Weltstadt) Leere und Trivialität der öffentlich und »praktisch« gewordenen Künste und Wissenschaften steigt, desto strenger sich der postume Geist der Kultur in sehr enge Kreise flüchten und dort ohne Zusammenhang mit der Öffentlichkeit an Gedanken und Formen wirken wird, die nur einer äußerst geringen Anzahl von bevorzugten Menschen etwas bedeuten können.“ (Ebd., S. 423Spengler).

(Das Berauschende großer Zahlen ist ein bezeichnendes Erlebnis, das nur der Mensch des Abendlandes kennt. In der gegenwärtigen Zivilisation spielt gerade dies Symbol, die Leidenschaft für Riesensummen, für unendlich große und unendlich kleine Messungen, für Rekorde und Statistiken eine ungewöhnliche Rolle.)“ (Ebd., S. 427Spengler).

„Die altnordischen Stämme, in deren urmenschlicher Seele das Faustische (Faustisches Seelenbild des Abendlandes) sich bereits zu regen begann, haben in grauer Vorzeit eine Segelschiffahrt erfunden, die sich vom Festland befreite. (Sie reichte im 2. Jahrtausend v. Chr. von Island und der Nordsee über Kap Finisterre (spanische Nordwestküste) nach den Kanarischen Inseln und Westafrika, wovon die Antlantissagen der Griechen eine Erinnerung bewahrten. Das Reich von Tartessos an der Mündung des Guadalquivir scheint ein Mittelpunkt gewesen zu sein. Sie reichte im 2. vorchristl. Jahrtausend von Island und der Nordsee über Kap Finisterre nach den Kanarischen Inseln und Westafrika, wovon die Atlantissagen der Griechen eine Erinnerung bewahrten. Das Reich von Tartessos an der Mündung des Guadalquivir scheint ein Mittelpunkt dieses Verkehrs gewesen zu sein. Vgl. Leo Frobenius (1873-1938 Frobenius), Das unbekannte Afrika, S. 139. In irgendeinem Zusammenhang damit müssen die »Seevölker« gestanden haben. Wikingerschwärme, die nach langer Länderwanderung von Nord nach Süd im Schwarzen oder Ägäischen Meer wieder Schiffe zimmerten und seit Ramses II. (1292-1225) gegen Ägypten vorbrachen.Anmerkung) Die Ägypter kannten das Segel, aber sie zogen nur den Vorteil der Arbeitsersparnis daraus. Sie fuhren wie früher mit ihren Ruderschiffen die Küste entlang nach Punt und Syrien, ohne die Idee der Hochseefahrt, das Befreiende und Symbolische in ihr zu empfinden. Denn die Segelschiffahrt überwindet den euklidischen Begriff des Landes. Im Anfang des 14. Jahrhunderts erfolgt beinahe gleichzeitig – und gleichzeitig mit der Ausbildung der Ölmalerei und des Kontrapunkts! – die Erfindung des Schießpulvers und des Kompasses, der Fernwaffe und des Fernverkehrs also, die beide mit tiefer Notwendigkeit auch innerhalb der chinesischen Kultur erfunden worden sind. Es war der Geist der Wikinger, der Hanse, der Geist jener Urvölker, welche die Hünengräber als Male einsamer Seelen auf weiter Ebene aufschütteten – statt der häuslichen Aschenurne der Hellenen –, die ihre toten Könige auf brennendem Schiff in die hohe See treiben ließen, ein erschütterndes Zeichen jener dunklen Sehnsucht nach dem Grenzenlosen, die sie trieb, auf ihren winzigen Kähnen um 900,[428] als die Geburt der abendländischen Kultur sich ankündigte, die Küste Amerikas zu erreichen, während die von Ägyptern und Karthagern bereits ausgeführte Umschiffung Afrikas die antike Menschheit völlig gleichgültig ließ. Wie statuenhaft deren Dasein auch hinsichtlich des Verkehrs war, bezeugt die Tatsache, daß die Nachricht vom ersten Punischen Kriege, einem der gewaltigsten der antiken Geschichte, nur wie ein dunkles Gerücht von Sizilien nach Athen drang. Selbst die Seelen der Griechen waren im Hades versammelt, ohne sich zu regen, als Schattenbilder (eidola), ohne Kraft, Wunsch und Empfindung. Die nordischen Seelen aber gesellten sich dem »wütenden Heere« zu, das rastlos durch die Lüfte schweift. “ (Ebd., S. 428Spengler).

Anfang des Kapitels „Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus“

„Damit ist endlich das Phänomen der Moral – als geistige Interpretation des Lebens durch sich selbst – verständlich geworden. Hier ist die Höhe erreicht, von der aus ein freier Umblick über dies weiteste und bedenklichste aller Gebiete menschlichen Nachdenkens möglich ist. Aber gerade hier tut eine Objektivität not, zu der sich bisher niemand ernstlich verstanden hat. Mag Moral zunächst sein, was sie will; ihre Analyse darf nicht selbst der Teil einer Moral sein. Nicht was wir tun, was wir erstreben, wie wir werten sollen, führt auf das Problem, sondern die Einsicht, daß diese Fragestellung ihrer Form nach bereits ein Symptom ausschließlich des abendländischen Weltgefühls ist.“ (Ebd., S. 434Spengler).

„Der westeuropäische Mensch steht hier unter dem Einfluß einer ungeheuren optischen Täuschung, jeder ohne Ausnahme. Alle fordern etwas von den andern. Ein »Du sollst« wird ausgesprochen in der Überzeugung, daß hier wirklich etwas in einheitlichem Sinne verändert, gestaltet, geordnet werden könne und müsse. Der Glaube daran und an das Recht dazu ist unerschütterlich. Hier wird befohlen und Gehorsam verlangt. Das erst heißt uns Moral. Im Ethischen des Abendlandes ist alles Richtung, Machtanspruch, gewollte Wirkung in die Ferne. In diesem Punkte sind Luther und Nietzsche, Päpste und Darwinisten, Sozialisten und Jesuiten einander völlig gleich. Ihre Moral tritt mit dem Anspruch auf allgemeine und dauernde Gültigkeit auf. Das gehört zu den Notwendigkeiten faustischen Seins. Wer anders denkt, lehrt, will, ist sündhaft, abtrünnig, ein Feind. Man bekämpft ihn ohne Gnade. Der Mensch soll. Der Staat soll. Die Gesellschaft soll. Diese Form der Moral ist uns selbstverständlich; sie repräsentiert uns den eigentlichen und einzigen Sinn aller Moral. Aber das ist weder in Indien noch in China noch in der Antike so gewesen. Buddha gab ein freies Vorbild, Epikur erteilte einen guten Rat. Auch das sind Formen hoher – willensfreier – Moralen.“ (Ebd., S. 434-435Spengler).

„Wir haben das Einzigartige einer moralischen Dynamik gar nicht bemerkt. Gesetzt, daß der Sozialismus, ethisch, nicht wirtschaftlich verstanden, das Weltgefühl ist, welches die eigne Meinung im Namen aller verfolgt, so sind wir ohne Ausnahme Sozialisten, ob wir es wissen und wollen oder nicht. Selbst der leidenschaftlichste Gegner aller »Herdenmoral«, Nietzsche, ist gar nicht fähig, in antikem Sinne seinen Eifer auf sich selbst zu beschränken. Er denkt nur an »die Menschheit«. Er greift jeden an, der es anders meint. Aber Epikur war es herzlich gleichgültig, was andre meinten und taten. Eine Umgestaltung der Menschheit – daran hat er keinen Gedanken verschwendet. Er und seine Freunde waren zufrieden, daß sie so und nicht anders waren. Das antike Lebensideal war die Interesselosigkeit (apateia) am Lauf der Welt, gerade an dem, dessen Beherrschung dem faustischen Menschen der ganze Lebensinhalt ist. Der wichtige Begriff der adiafora gehört hierher. Es gibt auch einen moralischen Polytheismus in Hellas. Das friedfertige Nebeneinander von Epikuräern, Kynikern, Stoikern beweist das. Aber der ganze Zarathustra – angeblich jenseits von Gut und Böse stehend – atmet die Pein, die Menschen so zu sehen, wie man sie nicht haben will, und die tiefe, so ganz unantike Leidenschaft, das Leben auf ihre Änderung, im eignen, einzigen Sinne natürlich, zu verwenden. Und eben das, die allgemeine Umwertung, ist ethischer Monotheismus, ist – das Wort in einem neuen, tieferen Sinne genommen – Sozialismus. Alle Weltverbesserer sind Sozialisten. Folglich gibt es keine antiken Weltverbesserer.“ (Ebd., S. 435-436Spengler).

„Der moralische Imperativ als Form der Moral ist faustisch und nur faustisch. Es ist völlig belanglos, ob Schopenhauer theoretisch den Willen zum Leben verneint oder ob Nietzsche ihn bejaht sehen will. Diese Unterscheidungen liegen an der Oberfläche. Sie bezeichnen einen persönlichen Geschmack, ein Temperament. Wesentlich ist, daß auch Schopenhauer die ganze Welt als Willen fühlt, als Bewegung, Kraft, Richtung; darin ist er der Ahnherr der gesamten ethischen Modernität. Dies Grundgefühl ist bereits unsre ganze Ethik. Alles andre sind Abarten. Was wir Tat, nicht nur Tätigkeit nennen, ist ein durch und durch historischer, von Richtungsenergie gesättigter Begriff. Es ist die Daseinsbestätigung, die Daseinsweihe einer Art Mensch, dessen Ich die Tendenz auf Zukünftiges besitzt, der die Gegenwart nicht als gesättigtes Sein, sondern stets als Epoche in einem großen Zusammenhang des Werdens empfindet, und zwar sowohl im persönlichen Leben als im Leben der gesamten Geschichte. Die Stärke und Deutlichkeit dieses Bewußtseins bestimmt den Rang eines faustischen Menschen, aber selbst der unbedeutendste besitzt etwas davon, das seine geringsten Lebensakte nach Art und Gehalt von denen jedes antiken Menschen unterscheidet. Es ist der Unterschied von Charakter und Haltung, von bewußtem Werden und einfach hingenommenem statuenhaften Gewordensein, von tragischem Wollen und tragischem Dulden.“ (Ebd., S. 436Spengler).

„Vor den Augen des faustischen Menschen, in seiner Welt ist alles Bewegtheit einem Ziele zu. Er selbst lebt unter dieser Bedingung. Leben heißt für ihn kämpfen, überwinden, sich durchsetzen. Der Kampf ums Dasein als ideale Form des Daseins gehört schon der gotischen Zeit an und liegt ihrer Architektur deutlich genug zugrunde. Das 19. Jahrhundert hat ihm nur eine mechanistisch-utilitarische Fassung gegeben. In der Welt des apollinischen Menschen gibt es keine zielvolle »Bewegung« – das Werden Heraklits, ein absichts- und zielloses Spiel, h odoV anw katw, kommt hier nicht in Frage –, keinen »Protestantismus«, keinen »Sturm und Drang«, keine ethische, geistige, künstlerische »Umwälzung«, die das Bestehende bekämpfen und vernichten will. Der ionische und korinthische Stil treten ohne den Anspruch auf Alleingeltung neben den dorischen. Aber die Renaissance hat den gotischen, der Klassizismus den Barockstil verworfen, und alle Literaturgeschichten des Abendlandes sind voll von wilden Kämpfen um die Probleme der Form. Selbst das Mönchtum, wie es Ritterorden, Franziskaner und Dominikaner darstellen, erscheint in Gestalt einer Ordensbewegung, sehr im Gegensatz zur frühchristlichen, einsiedlerischen Form der Askese.“ (Ebd., S. 436-437Spengler).

„Es ist dem faustischen Menschen gar nicht möglich, diese Grundgestalt seines Daseins zu verleugnen, geschweige zu ändern. Jede Auflehnung dagegen setzt sie schon voraus. Wer den »Fortschritt« bekämpft, hält diese Wirksamkeit doch selbst für einen Fortschritt. Wer für eine »Umkehr« agitiert, meint damit eine Weiterentwicklung. »Immoral« – das ist nur eine neue Art von Moral, und zwar mit dem gleichen Anspruch des Vorrangs vor allen andern. Der Wille zur Macht ist intolerant. Alles Faustische will Alleinherrschaft. Für das apollinische Weltgefühl – das Nebeneinander vieler Einzeldinge – ist Toleranz selbstverständlich. Sie gehört zum Stil der willensfremden Ataraxia. Für die abendländische Welt – den einen grenzenlosen Seelenraum, den Raum als Spannung – ist sie Selbsttäuschung oder ein Zeichen des Erlöschens. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts war tolerant, das heißt gleichgültig gegen die Unterschiede der christlichen Bekenntnisse; für sich selbst im Verhältnis zur Kirche überhaupt war sie es, sobald sie zur Macht gelangt war, durchaus nicht mehr. Der faustische Instinkt, tätig, willensstark, mit der Vertikaltendenz gotischer Dome und jener bedeutsamen Umprägung des feci zu ego habeo factum, in die Ferne und Zukunft gerichtet, fordert Duldung, das heißt Raum für die eigne Wirksamkeit, aber nur für sie. Man bedenke etwa, welches Maß davon die großstädtische Demokratie der Kirche gegenüber in deren Handhabung religiöser Machtmittel anzuwenden willens ist, während sie für sich selbst schrankenlose Anwendung der eignen fordert und, wenn sie kann, die »allgemeine« Gesetzgebung daraufhin stimmt. Jede »Bewegung« will siegen; jede antike »Haltung« will nur da sein und kümmert sich wenig um das Ethos der andern. Für oder gegen die Zeitströmung kämpfen, Reform oder Umkehr betreiben, aufbauen, umwerten oder zertrümmern – das ist gleichmäßig unantik und unindisch. Und gerade das ist der Unterschied zwischen sophokleischer und shakespearescher Tragik, der Tragik des Menschen, der nur da sein, und des Menschen, der siegen will.“ (Ebd., S. 437-438Spengler).

„Es ist falsch, »das« Christentum mit dem moralischen Imperativ in Verbindung zu bringen. Nicht das Christentum hat den faustischen Menschen, er hat das Christentum umgeformt, und zwar nicht nur zu einer neuen Religion, sondern auch in der Richtung einer neuen Moral. Das »es« wird zum Ich mit dem vollen Pathos eines Weltmittelpunktes, wie es die Voraussetzung des Sakraments der persönlichen Buße bildet. Der Wille zur Macht auch im Ethischen, die Leidenschaft, seine Moral zur allgemeinen Wahrheit zu erheben, sie der Menschheit aufzwingen, alle andersgearteten umdeuten, überwinden, vernichten zu wollen, ist unser eigenstes Eigentum. In diesem Sinne ist – ein tiefer und noch nie begriffener Vorgang – die Moral Jesu, ein ruhend-geistiges, aus dem magischen Weltgefühl heraus als heilkräftig empfohlenes Verhalten, dessen Kenntnis als eine besondere Gnade verliehen wird, in der gotischen Frühzeit innerlich in eine befehlende umgeprägt worden.“ (Ebd., S. 438Spengler).

„Jedes ethische System, ob religiöser oder philosophischer Herkunft, gehört damit in die Nachbarschaft der großen Künste, vor allem der Architektur. Es ist ein Bau von Sätzen kausaler Prägung. Jede Wahrheit, die zu praktischer Anwendung bestimmt ist, wird mit einem »weil« oder »damit« vorgeschrieben. Es ist mathematische Logik darin, in Buddhas vier Wahrheiten wie in Kants Kritik der praktischen Vernunft und in jedem volkstümlichen Katechismus. Nichts liegt diesen als wahr erkannten Lehren ferner als die unkritische Logik des Blutes, die aus jeder gewachsenen und nur durch Verstöße gegen sie zum Bewußtsein gelangenden Sitte von Ständen und Tatsachenmenschen redet, wie sie uns in der ritterlichen Zucht der Kreuzzugszeiten am deutlichsten vor Augen steht. Eine systematische Moral ist wie ein Ornament und offenbart sich nicht nur in Sätzen, sondern auch im tragischen Stil, selbst im künstlerischen Motiv. Der Mäander z.B. ist ein stoisches Motiv; in der dorischen Säule verkörpert sich geradezu das antike Lebensideal. Sie ist deshalb die einzige der antiken Säulenformen, welche der Barockstil unbedingt ausschließen mußte. Man wird sie aus einem sehr tief liegenden seelischen Grunde selbst in der Renaissancekunst vermieden finden. Die Umsetzung des magischen Kuppelbaues in den russischen mit dem Symbol der Dachebene, die chinesische Landschaftsarchitektur mit ihren verschlungenen Pfaden, der gotische Turm der Kathedralen sind ebensoviele Sinnbilder der aus dem Wachsein einer und nur dieser einen Kultur entstandenen Moral.“ (Ebd., S. 439Spengler).

„etzt lösen sich uralte Rätsel und Verlegenheiten. Es gibt so viel Moralen, als es Kulturen gibt, nicht mehr und nicht weniger. Niemand hat hier eine frei Wahl. So gewiß es für jeden Maler und Musiker etwas gibt, das ihm infolge der Wucht einer inneren Notwendigkeit gar nicht zum Bewußtsein kommt, das die Formensprache seiner Werke von vornherein beherrscht und sie von den künstlerischen Leistungen aller anderen Kulturen unterscheidet, so gewiß hat jede Lebensauffassung eines Kulturmenschen von vornherein, a priori in Kants strengstem Sinne, eine Beschaffenheit, die noch tiefer liegt als alles augenblickliche Urteilen und Streben und die ihren Stil als den einer bestimmten Kultur erkennen läßt. Der einzelne kann moralisch oder unmoralisch handeln, »gut« oder »böse« aus dem Urgefühl seiner Kultur heraus, aber die Theorie seines Handelns ist schlechthin gegeben. Jede Kultur hat dafür ihren eigenen Maßstab, dessen Gültigkeit mit ihr beginnt und endet. Es gibt keine allgemein menschliche Moral.“ (Ebd., S. 439-440Spengler).

Es gibt also im tiefsten Sinne auch keine wahre Bekehrung und kann keine geben. Jede bewußte Art des Sichverhaltens auf Grund von Überzeugungen ist ein Urphänomen, die zur »zeitlosen Wahrheit« gewordene Grundrichtung eines Daseins. Unter was für Worten und Bildern man sie zum Ausdruck bringt, ob als Satzung einer Gottheit oder als Ergebnis philosophischen Nachdenkens, ob in Sätzen oder Symbolen, ob als Verkündung eigner Gewißheit oder als Widerlegung einer fremden, macht wenig aus; genug, daß sie vorhanden ist. Man kann sie wecken und theoretisch in eine Lehre fassen, ihren geistigen Ausdruck verändern und verdeutlichen; erzeugen kann man sie nicht. So wenig wir imstande sind, unser Weltgefühl zu ändern - so wenig, daß selbst der Versuch einer Änderung schon in seinem Stile verläuft und es bestätigt, statt es zu überwinden -, so wenig haben wir Gewalt über die ethische Grundform unsres Wachseins. Man hat in den Worten einen gewissen Unterschied gemacht und die Ethik eine Wissenschaft, die Moral eine Aufgabe genannt, aber es gibt in diesem Sinne keine Aufgabe. So wenig die Renaissance fähig war, die Antike wieder heraufzurufen, und so sehr sie mit jedem antiken Motiv nur das Gegenteil apollinischen Weltgefühls zum Ausdruck brachte, eine versüdlichte, eine »antigotische Gotik« nämlich, so unmöglich ist die Bekehrung eines Menschen zu einer seinem Wesen fremden Moral. Mag man heute von einer Umwertung aller Werte reden, mag man als moderner Großstädter zum Buddhismus, zum Heidentum oder zu einem romantischen Katholizismus »zurückkehren«, mag der Anarchist für individualistische, der Sozialist für Gesellschaftsethik schwärmen, man tut, will, fühlt trotzdem dasselbe. Die Bekehrung zur Theosophie oder zum Freidenkertum, die heutigen Übergänge von einem vermeintlichen Christentum zu einem vermeintlichen Atheismus und umgekehrt sind eine Veränderung der Worte und Begriffe, der religiösen oder intellektuellen Oberfläche, nicht mehr. Keine unsrer »Bewegungen« hat den Menschen verändert.“ (Ebd., S. 440-441Spengler).

Eine strenge Morphologie aller Moralen ist die Aufgabe der Zukunft. Nietzsche hat auch hier das Wesentliche, den ersten, für den neuen Blick entscheidenden Schritt getan. Aber seine Forderung an den Denker, sich jenseits von Gut und Böse zu stellen, hat er selbst nicht erfüllt. Er wollte Skeptiker und Prophet, Moralkritiker und Moralverkünder zugleich sein. Das verträgt sich nicht. Man ist nicht Psycholog ersten Ranges, solange man noch Romantiker ist. Und so ist er hier, wie in all seinen entscheidenden Einsichten, bis zur Pforte gelangt, aber vor ihr stehen geblieben. Indes hat es noch niemand besser gemacht. Wir waren bisher blind für den unermeßlichen Reichtum auch der moralischen Formensprache. Wir haben ihn weder übersehen noch begriffen. Selbst der Skeptiker verstand seine Aufgabe nicht; er erhob im letzten Grunde die eigene, durch persönliche Anlage, durch den privaten Geschmack bestimmte Fassung der Moral zur Norm und maß danach die andern. Die modernsten Revolutionäre, Stirner, Ibsen, Strindberg, Shaw, haben nichts andres getan. Sie verstanden es nur, diese Tatsache - auch vor sich selbst - hinter neuen Formeln und Schlagworten zu verstecken. Aber eine Moral ist wie eine Plastik, Musik oder Malerei eine in sich geschlossene Formenwelt, die ein Lebensgefühl zum Ausdruck bringt, schlechthin gegeben, in der Tiefe unveränderlich, von innerer Notwendigkeit. Sie ist innerhalb ihres geschichtlichen Kreises immer wahr, außerhalb seiner immer unwahr. Es war gezeigt worden (vgl. a.a.O.), daß, wie für den einzelnen Dichter, Maler, Musiker seine einzelnen Werke, so für die großen Individuen der Kulturen die Kunstgattungen als organische Einheiten, die ganze Ölmalerei, die ganze Aktplastik, die kontrapunktische Musik, die Reimlyrik Epoche machen und den Rang großer Symbole des Lebens einnehmen. In beiden Fällen, in der Geschichte einer Kultur wie im Einzeldasein, handelt es sich um die Verwirklichung von Möglichem (SpenglerSpenglerSpenglerSpengler). Das innerlich Seelische wird zum Stil einer Welt. Neben diesen großen Formeinheiten, deren Werden, Vollendung und Abschluß eine vorbestimmte Reihe menschlicher Generationen umfaßt und die nach einer Dauer von wenigen Jahrhunderten unwiderruflich dem Tode verfallen, steht die Gruppe der faustischen, die Summe der apollinischen Moralen, ebenfalls als Einheit höherer Ordnung aufgefaßt. Ihr Vorhandensein ist Schicksal, das man hinzunehmen hat; nur die bewußte Fassung ist das Ergebnis einer Offenbarung oder wissenschaftlichen Einsicht.“ (Ebd., S. 441-442Spengler).

Es gibt etwas schwer zu Beschreibendes, das von Hesiod und Sophokles bis zu Plato und der Stoa alle Lehren zusammenfaßt und sie allem gegenüberstellt, was von Franz von Assisi und Abaelard bis auf Ibsen und Nietzsche gelehrt worden ist, und auch die Moral Jesu ist nur der edelste Ausdruck einer allgemeinen Moral, deren andere Fassungen sich bei Marcion und Mani, Philo und Plotin, Epiktet, Augustinus und Proklos finden. Jede antike Ethik ist eine Ethik der Haltung, jede abendländische eine Ethik der Tat. Und endlich bildet die Summe aller chinesischen und aller indischen Systeme wiederum je eine Welt für sich.“ (Ebd., S. 442Spengler).

Jede überhaupt denkbare antike Ethik gestaltet den einzelnen ruhenden Menschen, als Körper unter Körpern. Alle Wertungen des Abendlandes beziehen sich auf den Menschen, sofern er Wirkungszentrum einer unendlichen Allgemeinheit ist. Ethischer Sozialismus - das ist die Gesinnung der Tat, welche durch den Raum in die Ferne wirkt, das moralische Pathos der dritten Dimension, als deren Zeichen das Urgefühl der Sorge, für die Mitlebenden wie für die Kommenden, über dieser ganzen Kultur schwebt. So kommt es, daß im Anblick der ägyptischen Kultur für uns etwas Sozialistisches liegt. Auf der andern Seite erinnert die Tendenz auf ruhevolle Haltlmg, Wunschlosigkeit, statische Abgeschlosscnheit des einzellen für sich an die indische Ethik und den von ihr gestalteten Menschen. Man denke an die sitzenden, »ihren Nabel beschauenden« Buddhastatuen, denen Zenons Ataraxia nicht ganz fremd ist. Das ethische Ideal des antiken Menschen war das, zu welchem die Tragödie hinleitete. Die Katharsis, die Entladung der apollinischen Seele von dem, was nicht apollinisch, nicht frei von »Feme« und Richtung war, offenbart hier ihren tiefsten Sinn. Man versteht sie nur, wenn man den Stoizismus als ihre reife Form erkennt. Was das Drama in einer feierlichen Stunde bewirkte, wünschte die Stoa über das ganze Leben zu verbreiten: die statuenhafte Ruhe, das willensfreie Ethos. Und weiter: Eben jenes buddhistische Ideal des Nirwana, eine sehr späte Formel, aber ganz indisch und schon von den vedischen Zeiten an zu verfolgen: ist das nicht der Katharsis nahe verwandt? Rücken vor diesem Begriff der ideale antike und der ideale indische Mensch nicht eng zusammen, sobald man sie mit dem faustischen Menschen vergleicht, dessen Ethik sich ebenso deutlich aus der Tragödie Shakespeares und ihrer dynamischen Entwicklung und Katastrophe begreifen läßt? In der Tat: Sokrates, Epikur und vor allem Diogenes am Ganges - das wäre sehr wohl vorzustellen. Diogenes in einer der westeuropäischen Weltstädte wäre ein bedeutungsloser Narr. Und andrerseits, Friedrich Wilhelm I., das Urbild eines Sozialisten in großem Sinne, ist in dem Staatswesen am Nil immerhin denkbar. Im perikleischen Athen ist er es nicht.“ (Ebd., S. 442-443Spengler).

Hätte Nietzsche vorurteilsfreier und weniger von einer romantischen Schwärmerei für gewisse ethische Schöpfungen bestimmt seine Zeit beobachtet, so würde er bemerkt haben, daß eine vermeintlich spezifisch christliche Mitleidsmoral in seinem Sinne auf dem Boden Westeuropas gar nicht besteht. Man muß sich durch den Wortlaut humaner Formeln nicht über ihre tatsächliche Bedeutung täuschen lassen. Zwischen der Moral, die man hat, und derjenigen, die man zu haben glaubt, besteht ein sehr schwer aufzufindendes und sehr schwankendes Verhältnis. Eben hier wäre eine unbestechliche Psychologie am Platze gewesen. Mitleid ist ein gefährliches Wort. Es fehlt, trotz der Meisterschaft gerade Nietzsches, noch an einer Untersuchung darüber, was man zu verschiedenen Zeiten darunter verstand und darunter gelebt hat.“ (Ebd., S. 443-444Spengler).

Auch das Geld kann Ideen entwickeln und Geschichte machen. So hat Rhodes, in dem sich ein sehr beutungsvoller Typus des 21. Jahrhunderts ankündigt, sein Vermögen testamentarisch angelegt. Es ist flach und beweist die Unfähigkeit, Geschichte innerlich zu begreifen, wenn man das literarische Geschwätz populärer Sozialethiker und Humanitätsapostel nicht von den tiefen ethischen Instinkten der westeuropäischen Zivilisation zu unterscheiden weiß.“ (Ebd., S. 447-448Spengler).

„Als Nietzsche das Wort »Umwertung aller Werte« zum ersten Male niederschrieb, hatte endlich die seelische Bewegung dieser Jahrhunderte, in deren Mitte wir leben (* Spengler schrieb dies 1911 bis 1917), ihre Formel gefunden. Umwertung aller Werte - das ist der innerste Charakter jeder Zivilisation. Sie beginnt damit, alle Formen der voraufgegangenen Kultur umzuprägen, anders zu verstehen, anders zu handhaben. Sie erzeugt nicht mehr, sie deutet nur um. Darin liegt das Negative aller Zeitalter dieser Art. Sie setzen den eigentlichen Schöpfungsakt voraus. Sie treten nur eine Erbschaft von großen Wirklichkeiten an. .... Die Kultur wird dialektisch vernichtet. Lassen wir die großen Namen des 19. Jahrhunderts vorüberziehen, an die sich für uns dies mächtige Schauspiel knüpft: Schopenhauer, Hebbel, Wagner, Nietzsche, Ibsen, Strindberg, so überblicken wir das, was Nietzsche in dem fragmentarischen Vorwort zu seinem unvollendeten Hauptwerk beim Namen nannte, die Heraufkunft des Nihilismus. Sie ist keiner der großen Kulturen fremd. Sie gehört mit innerster Notwendigkeit zum Ausgang dieser mächtigen Organismen. Sokrates war Nihilist; Buddha war es. Es gibt eine ägyptische, arabische, chinesische so gut wie eine westeuropäische Entseelung des Menschlichen. Es handelt sich nicht um politische und wirtschaftliche, nicht einmal um eigentlich religiöse oder künstlerische Verwandlungen. Es handelt sich überhaupt nicht um Greifbares, nicht um Tatsachen, sondern um das Wesen einer Seele, die ihre Möglichkeiten restlos verwirklicht hat (SpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpengler). Man wende nicht die gewaltigen Leistungen gerade des Hellenismus und der westeuropäischen Modernität ein. Sklavenwirtschaft und Maschinenindustrie, »Fortschritt« und Ataraxia, Alexandrinismus und moderne Wissenschaft, Pergamon und Bayreuth, soziale Zustände, wie sie die »Politeia« des Aristoteles und »Das Kapital« von Marx voraussetzen, sind lediglich Symptome im historischen Oberflächenbilde. Es handelt sich nicht um das äußere Leben, um Lebenshaltung, Institutionen, Sitten, sondern um das Tiefste und Letzte, das innere Fertigsein des Weltstadtmenschen – und des Provinzlers. Für die Antike trat es zur Römerzeit ein. Für uns gehört es der Zeit nach 2000 an.“ (Ebd., S. 448-450Spengler).

„Kultur und Zivilisation - das ist der lebendige Leib eines Seelentums und seine Mumie. So unterscheidet sich das westeuropäische Dasein vor und nach 1800, das Leben in Fülle und Selbstverständlichkeit, dessen Gestalt von innen heraus gewachsen und geworden ist, und zwar in einem mächtigen Zuge von den Kindertagen der Gotik an bis zu Goethe und Napoleon, und jenes späte, künstliche, wurzellose Leben unsrer großen Städte, dessen Formen der Intellekt entwirft. Kultur und Zivilisation - das ist ein aus der Landschaft geborener Organismus und der aus seiner Erstarrung hervorgegangene Mechanismus. Der Kulturmensch lebt nach innen, der zivilisierte Mensch nach außen, im Raume, lmter Körpern und »Tatsachen«. Was der eine als Schicksal fühlt, versteht der andere als Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Man ist von nun an Materialist in einem nur innerhalb einer Zivilisation gültigen Sinne, ob man es will oder nicht, und ob buddhistische, stoische, sozialistische Lehren sich in religiösen Formen geben oder nicht.“ (Ebd., S. 450-451Spengler).

„Dem gotischen und dorischen Menschen, dem Menschen der Ionik und des Barock wird die ganze ungeheure Formenwelt von Kunst, Religion, Sitte, Staat, Wissen, Gesellschaft leicht. Er trägt und verwirklicht sie, ohne sie zu »kennen«. Er besitzt dem Symbolischen der Kultur gegenüber dieselbe ungezwungene Meisterschaft, wie sie Mozart in seiner Kunst besaß. Kultur ist das Selbstverständliche. Das Gefühl einer Fremdheit unter diesen Formen, das einer Last, welche die Freiheit des Schaffens aufhebt, die Nötigung, das Vorhandene verstandesmäßig zu prüfen, um es bewußt anzuwenden, der Zwang eines für alles geheimnisvoll Schöpferische verhängnisvollen Nachdenkens sind die ersten Symptome einer ermattenden Seele. Erst der Kranke fühlt seine Glieder. Daß man eine unmetaphysische Religion konstruiert und sich gegen Kulte und Dogmen auflehnt, daß ein Naturrecht den historischen Rechten entgegengestellt wird, daß man in der Kunst Stile »entwirft«, weil der Stil nicht mehr ertragen und gemeistert wird, daß man den Staat als »Gesellschaftsordnung« auffaßt, die man ändern könne, sogar ändern müsse (neben Rousseaus »Contrat social« stehen völlig gleichbedeutende Erzeugnisse der Zeit des Aristoteles), das alles beweist, daß etwas endgültig zerfallen ist. Die Weltstadt selbst liegt als Extrem von Anorganischem inmitten der Kulturlandschaft da, deren Menschentum sie von seinen Wurzeln löst, an sich zieht und verbraucht.“ (Ebd., S. 451Spengler).

„Wissenschaftliche Welten sind oberflächliche Welten, praktische, seelenlose, rein extensive Welten. Sie liegen den Anschauungen des Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus gleichmäßig zugrunde. Das Leben nicht mehr mit kaum bewußter, wahlloser Selbstverständlichkeit leben, es als gottgewolltes Schicksal hinnehmen, sondern es als problematisch betrachten, es auf Grund intellektueller Einsichten in Szene setzen, »zweckmäßig«, »vernunftgemäß« – das ist in allen drei Fällen der Hintergrund. Das Gehirn regiert, weil die Seele abdankte. Kulturmenschen leben unbewußt, zivilisierte Menschen leben bewußt. Das im Boden wurzelnde Bauerntum vor den Toren der großen Städte, die jetzt – skeptisch, praktisch, künstlich – allein die Zivilisation repräsentieren, zählt nicht mehr mit. »Volk« – das ist jetzt Stadtvolk, anorganische Masse, etwas Fluktuierendes. Der Bauer ist nicht Demokrat – denn auch dieser Begriff gehört zum mechanischen und städtischen Dasein –, folglich übersieht, belächelt, verachtet, haßt man ihn. Er ist nach dem Schwinden der alten Stände, Adel und Priestertum, der einzige organische Mensch, ein Überbleibsel der frühen Kultur. Er findet weder im stoischen noch im sozialistischen Denken einen Platz.“ (Ebd., S. 451-452Spengler).

„So ruft der Faust des ersten Teiles der Tragödie, der leidenschaftliche Forscher in einsamen Mitternächten, folgerichtig den des zweiten Teiles und des neuen Jahrhunderts hervor, den Typus einer rein praktischen, weitschauenden, nach außen gerichteten Tätigkeit. Hier hat Goethe psychologisch die ganze Zukunft Westeuropas vorweggenommen. Das ist Zivilisation an Stelle von Kultur, der äußere Mechanismus statt des inneren Organismus, der Intellekt als das seelische Petrefakt an Stelle der erloschenen Seele selbst. So wie Faust am Anfang und Ende der Dichtung, stehen sich innerhalb der Antike der Hellene zur Zeit des Perikles und der Römer zur Zeit Cäsars gegenüber.“ (Ebd., S. 452Spengler).

„Solange der Mensch einer in Vollendung begriffenen Kultur einfach vor sich hin lebt, natürlich und selbstverständlich, hat sein Leben eine wahllose Haltung. Das ist seine instinktive Moral, die sich in tausend umstrittene Formeln verkleiden mag, die man aber selbst nicht bestreitet, weil man sie hat. Sobald das Leben ermüdet, sobald man – auf dem künstlichen Boden großer Städte, die jetzt geistige Welten für sich sind – eine Theorie braucht, um es zweckmäßig in Szene zu setzen, sobald das Leben Objekt der Betrachtung geworden ist, wird die Moral zum Problem. Kulturmoral ist die Moral, welche man hat, zivilisierte die, welche man sucht. Die eine ist zu tief, um auf logischem Wege erschöpft zu werden, die andre ist eine Funktion der Logik. Noch bei Kant und Plato ist die Ethik bloße Dialektik, ein Spiel mit Begriffen, die Abrundung eines metaphysischen Systems. Man hätte sie im Grunde nicht nötig gehabt. Der kategorische Imperativ ist lediglich die abstrakte Fassung dessen, was für Kant gar nicht in Frage stand. Von Zenon und Schopenhauer an gilt das nicht mehr. Da mußte als Regel des Seins gefunden, erfunden, erzwungen werden, was instinktiv nicht mehr gesichert war. An dieser Stelle beginnt die zivilisierte Ethik, die nicht der Reflex des Lebens auf die Erkenntnis, sondern der Reflex der Erkenntnis auf das Leben ist. Man fühlt etwas Künstliches, Seelenloses und Halbwahres in all diesen erdachten Systemen, welche die ersten Jahrhunderte aller Zivilisationen füllen. Das sind nicht mehr innerlichste, beinahe überirdische Schöpfungen, die ebenbürtig neben den großen Künsten stehen. Jetzt verschwindet alle Metaphysik großen Stils, alle reine Intuition vor dem einen, was plötzlich nottut, vor der Grundlegung einer praktischen Moral, die das Leben regeln soll, weil es sich selbst nicht mehr regeln kann. Die Philosophie war bis auf Kant, Aristoteles und die Lehren des Yoga und Vedanta eine Folge mächtiger Weltsysteme gewesen, in denen die formale Ethik einen bescheidnen Platz fand. Sie wird jetzt Moralphilosophie, mit einer Metaphysik als Hintergrund. Die erkenntnistheoretische Leidenschaft tritt den Vorrang an die praktische Notdurft ab: Sozialismus, Stoizismus, Buddhismus sind Philosophien dieses Stils.“ (Ebd., S. 452-453Spengler).

„Die Welt statt aus der Höhe, wie Aischylos, Plato, Dante, Goethe, unter dem Gesichtspunkt der alltäglichen Notdurft und andrängenden Wirklichkeit betrachten: das nenne ich die Vogelperspektive des Lebens mit der Froschperspektive vertauschen. Und eben das ist der Abstieg von einer Kultur zur Zivilisation. Jede Ethik formuliert den Blick der Seele auf ihr Schicksal: heroisch oder praktisch, groß oder gemein, männlich oder greisenhaft. Und so unterscheide ich denn eine tragische und eine Plebejermoral. Die tragische Moral einer Kultur kennt und begreift die Schwere des Seins, aber sie zieht daraus das Gefühl des Stolzes, es zu tragen. So empfanden Aischylos, Shakespeare und die Denker der brahmanischen Philosophie, so Dante und der germanische Katholizismus. Das liegt in dem wilden Schlachtchoral des Luthertums: »Ein' feste Burg ist unser Gott«, und das klingt selbst noch in der Marseillaise nach. Die Plebejermoral des Epikur und der Stoa, der Sekten der Buddhazeit, des 19. Jahrhunderts macht einen Schlachtplan zurecht, das Schicksal zu umgehen. Was Aischylos groß tat, das tat die Stoa klein. Das war nicht mehr Fülle, sondern Armut, Kälte und Leere des Lebens, und die Römer haben diese intellektuelle Kälte und Leere nur zum Großartigen gesteigert. Und dasselbe Verhältnis besteht zwischen dem ethischen Pathos der großen Meister des Barock, Shakespeare, Bach, Kant, Goethe, dem männlichen Willen, innerlich Herr der natürlichen Dinge zu sein, weil man sie tief unter sich weiß, und dem Willen der europäischen Modernität, sie sich – in Gestalt der Fürsorge, der Humanität, des Weltfriedens, des Glückes der meisten – äußerlich aus dem Wege zu schaffen, weil weil man sich mit ihnen auf derselben Ebene sieht. Auch das ist Wille zur Macht im Gegensatz zur antiken Duldung des Unabwendbaren; auch darin liegt Leidenschaft und Hang zum Unendlichen, aber es ist ein Unterschied zwischen metaphysischer und materieller Größe im Überwinden. Die Tiefe fehlt, das, was der frühere Mensch Gott nannte. Das faustische Weltgefühl der Tat, wie es von den Staufen und Welfen bis auf Friedrich den Großen, Goethe und Napoleon in jedem großen Menschen wirksam war, verflachte zu einer Philosophie der Arbeit, wobei es für den inneren Rang gleichgültig ist, ob man sie verteidigt oder verurteilt. Der Kulturbegriff der Tat und der zivilisierte Begriff der Arbeit verhalten sich wie die Haltung des aischyleischen Prometheus zu der des Diogenes. Der eine ist ein Dulder, der andere ist faul. Galilei, Kepler, Newton brachten es zu wissenschaftlichen Taten, der moderne Physiker leistet gelehrte Arbeit. Plebejermoral auf der Grundlage des alltäglichen Daseins und des »gesunden Menschenverstandes« ist es, was trotz aller großen Worte von Schopenhauer bis zu Shaw jeder Lebensbetrachtung zugrunde liegt.“ (Ebd., S. 453-454Spengler).

„Jede Kultur hat ihre eigene Art, seelisch zu verlöschen, und nur die eine, die aus ihren ganzen Leben mit tiefster Notwendigkeit folgt. Deshalb sind Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus morphologisch gleichwertige Ausgangserscheiningen.“ (Ebd., S. 455Spengler).

„Der faustische Nihilist, Ibsen wie Nietzsche, Marx wie Wagner, zertrümmert die Ideale; der apollinische, Epikur wie Antisthenes und Zenon, läßt sie vor seinen Augen zerfallen; der indische zieht sich vor ihnen in sich selbst zurück. Der Stoizismus ist auf ein Sichverhalten des einzelnen gerichtet, auf ein statuenhaftes, rein gegenwärtiges Sein, ohne Beziehung auf Zukunft und Vergangenheit, oder auf andre. Der Sozialismus ist die dynamische Behandlung des gleichen Themas: dieselbe Verteidigung nicht auf die Haltung, sondern die Auswirkung des Lebens, aber mit einem mächtig angreifenden Zug ins Ferne auf die gesamte Zukunft und die gesamte Masse der Menschen erstreckt, die einer einzigen Methode unterworfen werden sollen; der Buddhissmus, den nur ein Dilletant mit dem Christentum verwechseln kann (Spengler), ist durch die Worte abendländischer Sprachen kaum wiederzugeben. Aber es ist erlaubt, von einem stoischen Nirwana zu reden und auf die Gestalt des Diogenes zu verweisen; auch der Begriff eines sozialistischen Nirwana ist zu rechtfertigen, sofern man die Flucht vor dem Kampf ums Dasein ins Auge faßt, wie die europäische Müdigkeit sie in Schlagworte Weltfriede, Humanität und Verbrüderung aller Menschen kleidet.“ (Ebd., S. 456-457Spengler).

„Jede Seele hat Religion. Das ist nur ein anderes Wort für ihr Dasein. Alle lebendigen Formen, in denen sie sich ausspricht, alle Künste, Lehren, Bräuche, alle metaphysischen und mathematischen Formenwelten, jedes Ornament, jede Säule, jeder Vers, jede Idee ist im Tiefsten religiös und muß es sein. Von nun an kann sie es nicht mehr sein.“ (Ebd., S. 458Spengler).

„Das Wesen aller Kultur ist Religion; folglich ist das Wesen aller Zivilisation Irreligion. Auch das sind zwei Worte für ein und dieselbe Erscheinung. Wer das nicht im Schaffen Manets gegen Velasquez, Wagners gegen Haydn, Lysippos gegen Phidias, Theokrits gegen Pindar herausfühlt, der weiß nichts vom Besten der Kunst. Religiös ist noch die Baukunst des Rokoko selbst in ihren weltlichsten Schöpfungen. Irreligiös sind die Römerbauten, auch die Tempel der Götter. Mit dem Pantheon, jener Urmoschee mit dem eindringlich magischen Gottgefühl ihres Innenraums, ist das einzige Stück echt religiöser Baukunst in das alte Rom geraten. Die Weltstädte selbst sind den alten Kulturstädten gegenüber, Alexandria gegen Athen, Paris gegen Brügge, Berlin gegen Nürnberg, in allen Einzelheiten bis in das Straßenbild, die Sprache, den trocken intelligenten Zug der Gesichter (Spengler) hinein irreligiös (was man nicht mit antireligiös zu verwechseln hat). Und irreligiös, seelenlos sind demnach auch diese ethischen Weltstimmungen, die durchaus zur Formensprache der Weltstädte gehören. Der Sozialismus ist das irreligiös gewordene faustische Lebensgefühl; das besagt auch das vermeintliche (»wahre«) Christentum, das der englische Sozialist so gern im Munde führt und unter dem er etwas wie eine »dogmenlose Moral« versteht. Irreligiös sind Stoizismus und Buddhismus im Verhältnis zur orphischen und vedischen Religion, und es ist ganz Nebensache, ob der römische Stoiker den Kaiserkult billigt und ausübt, der spätere Buddhist seinen Atheismus mit Überzeugung bestreitet, der Sozialist sich freireligiös nennt oder auch »weiterhin an Gott glaubt«.“ (Ebd., S. 458-459Spengler).

„Dies Erlöschen der lebendigen inneren Religiosität, das allmählich auch den unbedeutendsten Zug des Daseins gestaltet und erfüllt, ist es, was im historischen Weltbild als die Wendung der Kultur zur Zivilisation erscheint, als das Klimakterium der Kultur, wie ich es früher nannte, als die Zeitwende, wo die seelische Fruchtbarkeit einer Art von Mensch für immer erschöpft ist und die Konstruktion an Stelle der Zeugung tritt. Faßt man das Wort Unfruchtbarkeit in seiner ganzen ursprünglichen Schwere, so bezeichnet es das volle Schicksal des weltstädtischen Gehirnmenschen, und es gehört zum Bedeutsamsten der geschichtlichen Symbolik, daß diese Wendung sich nicht nur im Erlöschen der großen Kunst, der gesellschaftlichen Formen, der großen Denksysteme, des großen Stils überhaupt, sondern auch ganz körperlich in der Kinderlosigkeit und dem Rassetod der zivilisierten, vom Lande abgelösten Schichten ausspricht, eine Erscheinung, die in der römischen und chinesischen Kaiserzeit viel bemerkt und beklagt, aber notwendigerweise nicht gemildert worden ist. (Spengler).“ (Ebd., S. 459Spengler).

„Nichts ist für diese entschiedene Wendung zum äußeren Leben, das allein übrig geblieben ist, zur biologischen Tatsache, der gegenüber das Schicksal nur noch in der Form von Kausalitätsbeziehungen erscheint, bezeichnender als das ethische Pathos, mit dem man sich nun einer Philosophie der Verdauung, der Ernährung, der Hygiene zuwendet. Alkoholfragen und Vegetarismus werden mit religiösem Ernst behandelt, augenscheinlich das Gewichtigste an Problemen, wozu der »neue Mensch« sich aufschwingen kann. So entspricht es der Froschperspektive dieser Generationen. Religionen, wie sie an der Schwelle großer Kulturen entstehen, die orphische und vedische, das magische Christentum Jesu und das faustische der ritterlichen Germanen hätten es unter ihrer Würde gefunden, zu Fragen der Art auch nur für Augenblicke herabzusteigen. Jetzt steigt man zu ihnen hinauf. Der Buddhismus ist ohne eine leibliche neben seiner Seelendiät nicht denkbar. Im Kreise der Sophisten, des Antisthenes, der Stoiker und Skeptiker gewinnt dergleichen immer größere Bedeutung. Schon Aristoteles hat über die Alkoholfrage geschrieben, eine ganze Reihe von Philosophen über den Vegetarismus, und es besteht zwischen der apollinischen und der faustischen Methode nur der Unterschied, daß der Zyniker die eigne Verdauung, Shaw die Verdauung aller »Menschen« in sein theoretisches Interesse zieht. Der eine entsagt, der andere verbietet. Man weiß, wie selbst Nietzsche sich im »Ecce homo« in Fragen dieser Art gefällt.“ (Ebd., S. 462Spengler).

„Überblicken wir noch einmal den Sozialismus, unabhängig von der gleichnamigen Wirtschaftsbewegung, als das faustische Beispiel einer zivilisierten Ethik. Was seine Freunde und Feinde von ihm sagen, daß er die Gestalt der Zukunft oder daß er ein Zeichen des Niedergangs sei, ist gleich richtig. Wir alle sind Sozialisten, ob wir es wissen und wollen oder nicht. Selbst der Widerstand gegen ihn trägt seine Form. Alle antiken Menschen der späten Zeit waren mit der gleichen inneren Notwendigkeit Stoiker, ohne es zu wissen. Das ganze römische Volk, als Körper, hat eine stoische Seele. Der echte Römer, gerade der, welcher es am entschiedensten bestritten hätte, ist in einem strengeren Grade Stoiker; als es je ein grieche hätte sein können. Die lateinische Sprache des letzten vorchristlichen Jahrhunderts ist die mächtigste Schöpfung des Stoizismus geblieben.“ (Ebd., S. 462-463Spengler). Mehr

Der ethische Sozialismus ist das überhaupt erreichbare Maximum eines Lebensgefühls unter dem Aspekt von Zwecken. (Mehr). Denn die bewegte Richtung des Daseins in den Worten Zeit und Schicksal fühlbar, bildet sich, sobald sie starr, bewußt erkannt ist, in den geistigen Mechanismus der Mittel und Zwecke um. Richtung ist das Lebendige, Zweck das Tote. Faustisch überhaupt ist die Leidenschaft des Vordringens, sozialistisch im besonderen der mechanische Rest, der »Fortschritt«. Sie verhalten sich wie der Leib zum Skelett. Dies ist zugleich der Unterschied des Sozialismus vom Buddhismus und Stoizismus, die mit ihren Idealen des Nirwana und der Ataraxia ebenso mechanisch gestimmt sind, aber nicht die dynamische Leidenschaft der Ausdehnung, den Willen zum Unendlichen, das Pathos der dritten Dimension kennen.“ (Ebd., S. 463Spengler). Mehr

„Der etische Sozialismus ist - trotz seiner Vordergrund illusionen - kein System des Mitleids, der Humanität, des Friedens und der Fürsorge, sondern des Willens zur Macht. Alles andere ist Selbsttäuschung. Das Ziel ist durchaus imperialistisch: Wohlfahrt, aber im expansiven Sinne, nicht der Kranken, sondern der Tatkräftigen, denen man die Freiheit des Wirkens geben will, und zwar mit Gewalt, ungehemmt durch die Widerstände des Besitzes, der Geburt und der Tradition. Gefühlsmoral, Moral auf das »Glück« und den Nutzen hin ist bei uns nie der letzte Instinkt, so oft es sich die Träger dieser Instinkte einreden.“ (Ebd., S. 463Spengler). Mehr

„Man wird immer an die Spitze der moralischen Modernität Kant ... stellen müssen, dessen Ethik das Motiv des Mitleids ablehnt und die Formel prägt: »Handle so, daß -.« Alle Ethik dieses Stils will Ausdruck des Willens zum Unendlichen sein, und dieser Wille fordert Überwindung des Augenblicks, der Gegenwart, der Vordergründe des Lebens. .... Der Stoiker nimmt die Welt, wie sie ist. Der Sozialist will sie der Form, dem Gehalt nach organisieren, umprägen, mit seinem Geist erfüllen. Der Stoiker paßt sich an. Der Sozialist befiehlt. Die ganze Welt soll die Form seiner Anschauung tragen - so läßt sich die Idee der »Kritik der reinen Vernunft« ins Ethische umsetzen. Das ist der letzte Sinn des kategorischen Imperativs, den er aufs Politische, Soziale, Wirtschaftliche anwendet: Handle so, als ob die Maxime deines Handelns durch deinen Willen zum allgemeinen Gesetz werden sollte. Und diese tyrannische Tendenz ist selbst den flachsten Erscheinungen der Zeit nicht fremd. Nicht die Haltung und Gebärde, die Tätigkeit soll gestaltet werden. Wie in China und Ägypten kommt das Leben nur in Betracht, insofern es Tat ist. Und erst so entsteht die Arbeit im heutigen Sprachgebrauch als die zivilisierte Form des faustischen Wirkens. Diese Moral, der Drang, dem Leben die denkbar aktivste Form zu geben, ist stärker als die Vernunft, deren Moralprogramme, sie mögen noch so geheiligt, inbrünstig geglaubt, leidenschaftlich verteidigt sein, nur insoweit wirken, als sie in der Richtung dieses Dranges liegen oder in ihr mißverstanden werden. Im übrigen bleiben sie Worte. Man unterscheide in aller Modernität wohl die volkstümliche Seite, das süße Nichtstun, die Sorge um Gesundheit, Glück, Sorglosigkeit, den allgemeinen Frieden, kurz das vermeintlich Christliche von dem höheren Ethos, das nur die Tat wertet, das den Massen - wie alles Faustische - weder verständlich noch erwünscht ist, die großartige Idealisierung des Zweckes und also der Arbeit. Will man dem römischen »Panem et circenses«, dem letzten epikuräisch-stoischen und im Grunde auch indischen Lebenssymbol, das entsprechende Symbol des Nordens und auch wieder des alten China und Ägypten zur Seite stellen, so muß es das Recht auf Arbeit sein, das bereits dem durch und durch preußisch empfundenen, heute europäisch gewordenen Staatssozialismus Fichtes zugrunde liegt und das in den letzten, furchtbarsten Stadien dieser Entwicklung in der Pflicht zur Arbeit gipfeln wird.“ (Ebd., S. 463-465Spengler).

„Der Sozialist – der sterbende Faust des zweiten Teils – ist der Mensch der historischen Sorge, des Künftigen, das er als Aufgabe und Ziel empfindet, dem gegenüber das Glück des Augenblicks verächtlich wird. Der antike Geist mit seinen Orakeln und Vogelzeichen will die Zukunft nur wissen, der abendländische will sie schaffen. Das dritte Reich ist das germanische Ideal, ein ewiges Morgen, an das alle großen Menschen ... ihr Leben knüpften.“ (Ebd., S. 465Spengler).

„An dieser Stelle greife ich zurück und erinnere noch einmal daran, wie verschieden die großen Kulturen sich die Weltgeschichte vorgestellt haben: der antike Mensch sah nur sich, seine Geschicke als ruhende Nähe, und fragte nicht nach dem Woher und Wohin. Universalgeschichte ist ihm ein unmöglicher Begriff. Das ist eine statische Geschichtsauffassung. Der magische Mensch sieht Geschichte als das große Weltdrama zwischen Schöpfung und Untergang, als das Ringen zwischen Seele und Geist, Gut und Böse, Gott und Teufel, ein streng begrenztes Geschehen mit einer einmaligen Peripetie als Höhepunkt: der Erscheinung des Erlösers. Der faustische Mensch sieht in der Geschichte eine gespannte Entwicklung auf ein Ziel. Die Reihe: Altertum – Mittelalter – Neuzeit ist ein dynamisches Bild. Er kann sich Geschichte gar nicht anders vorstellen, und wenn dies nicht Weltgeschichte an sich und überhaupt, sondern lediglich das Bild einer Weltgeschichte faustischen Stils ist, das mit dem Wachsein der westeuropäischen Kultur beginnt und aufhört,[465] wahr und vorhanden zu sein, so ist der Sozialismus im höchsten Sinne die logische und praktische Krönung dieser Vorstellung. In ihm erhält das Bild den von der Gotik an vorbereiteten Abschluß.“ (Ebd., S. 465-466Spengler).

„Und hier wird der Sozialismus – im Gegensatz zum Stoizismus und Buddhismus – tragisch. Es ist von tiefster Bedeutung, daß Nietzsche vollkommen klar und sicher ist, solange es sich um die Frage handelt, was zertrümmert, was umgewertet werden soll; er verliert sich in nebelhafte Allgemeinheiten, sobald das Wozu, das Ziel in Rede steht. Seine Kritik der Dekadenz ist unwiderleglich, seine Übermenschenlehre ist ein Luftgebilde. Und dasselbe gilt von Ibsen – von Brand und Rosmersholm, Julian Apostata und Baumeister Solneß –, von Hebbel, von Wagner, von allen. Und darin liegt eine tiefe Notwendigkeit, denn von Rousseau an gibt es für den faustischen Menschen, was den großen Stil des Lebens betrifft, nichts mehr zu hoffen. Hier ist etwas zu Ende. Die nordische Seele hat ihre innern Möglichkeiten erschöpft und es blieb nur noch der dynamische Sturm und Drang, wie er sich in welthistorischen Zukunftsvisionen äußert, die mit Jahrtausenden messen, der bloße Trieb, die nach Schöpfung sich sehnende Leidenschaft, eine Form ohne Inhalt. Diese Seele war Wille und nichts andres; sie brauchte ein Ziel für ihre Kolumbussehnsucht; sie mußte einen Sinn und Zweck ihrer Wirksamkeit sich wenigstens vortäuschen, und so findet der feinere Beobachter einen Zug von Hjalmar Ekdal in aller Modernität, auch in ihren höchsten Erscheinungen. Ibsen hat es die Lebenslüge genannt. Nun, etwas von ihr liegt in der gesamten Geistigkeit der westeuropäischen Zivilisation, insoweit sie auf eine religiöse, künstlerische, philosophische Zukunft, ein sozialethisches Ziel, ein drittes Reich sich richtet, während in der tiefsten Tiefe ein dumpfes Gefühl nicht schweigen will, daß dieser ganze atemlose Eifer die verzweifelte Selbsttäuschung einer Seele ist, die nicht ruhen darf und kann. Aus dieser tragischen Situation – der Umkehrung des Hamletmotivs – ist Nietzsches gewaltsame Konzeption der Ewigen Wiederkunft hervorgegangen, an die er niemals mit gutem Gewissen geglaubt hat, die er aber trotzdem festhielt, um das Gefühl einer Sendung in sich zu retten. Auf dieser Lebenslüge ruht Bayreuth, das etwas sein wollte im Gegensatz zu Pergamon, das etwas war. Und ein Zug dieser Lüge haftet dem gesamten politischen, wirtschaftlichen, ethischen Sozialismus an, der gewaltsam über den vernichtenden Ernst seiner letzten Einsichten schweigt, um die Illusion der geschichtlichen Notwendigkeit seines Daseins zu retten.“ (Ebd., S. 467Spengler).

„Es bleibt noch ein Wort über die Morphologie der Philosophiegeschichte zu sagen. Es gibt keine Philosophie überhaupt: jede Kultur besitzt ihre eigne; sie ist Teil ihres symbolischen Gesamtausdrucks und bildet mit ihren Problemstellungen und Denkmethoden eine geistige Ornamentik in strenger Verwandtschaft zu derjenigen der Architektur und bildenden Kunst. Aus der Höhe und Ferne betrachtet, ist es sehr nebensächlich, zu welchen sprachlich ausgedrückten »Wahrheiten« diese Denker innerhalb ihrer Schulen überhaupt gelangt sind - denn Schule, Konvention und Formenschatz sind hier wie in jeder großen Kunst die grundlegenden Elemente. Unendlich wichtiger als die Antworten sind die Fragen, und zwar hinsichtlich ihrer Auswahl und inneren Form, denn die besondere Art, wie ein Makrokokosmos vor dem verstehenden Auge des Menschen einer bestimmeten Kultur daliegt, gestaltet im voraus die gesamte Not und Art des Fragens.“ (Ebd., S. 467Spengler).

„Die antike und faustische Kultur haben nicht weniger wie die indische und chinesische ihre eigne Art, und zwar werden ihre großen Fragen alle am Anfang gestellt. Es gibt kein modernes Problem, das nicht schon die Gotik gesehen und in Form gebracht hätte. Es gibt kein hellenistisches, das nicht in den altorphischen Tempellehren zuerst aufgetaucht sein muß.“ (Ebd., S. 467Spengler).

„Es ist Nebensache, ob diese Sitte des grüblerischen Denkens in mündlicher Tradition oder in Büchern zum Ausdruck kommt, ob diese Schriften persönliche Schöpfungen eines Ich sind wie in unserer Literatur, oder eine anonyme, beständig schwankende Textmasse wie in der indischen, ob eine Reihe begrifflicher Systeme entsteht oder die letzten Einsichten in den Ausdruck von Kunst und Religion verkleidet bleiben wie in Ägypten. Aber der Gang dieser Lebensläufe von Denkweisen ist überall der gleiche. Am Anfang jeder Frühzeit, verschwistert mit der großen Architektur und Religion, ist Philosophie der geistige Widerhall eines gewaltigen metaphysischen Erlebens und dazu bestimmt, die heilige Kausalität des gläubig geschauten Weltbildes kritisch zu bestätigen. (Vgl. S. 881 ff., 927 ff..) Nicht nur die naturwissenschaftlichen, sondern schon die philosophischen Grundunterscheidungen sind abhängig und abgelöst von den Elementen der zugehörigen Religion. In dieser Frühzeit sind die Denker Priester, nicht nur dem Geist, sondern selbst dem Stande nach. Das gilt von Scholastik und Mystik der gotischen und vedischen wie der homerischen64 und früharabischen Jahrhunderte. (Vgl. S. 903 f. Vielleicht ist der seltsame Stil Heraklits, welcher aus einem Priestergeschlecht des Tempels von Ephesus stammte, eine Probe der Form, in welcher die altorphische Weisheit mündlich überliefert wurde.) Erst mit Anbruch der Spätzeit wird die Philosophie städtisch und weltlich. Sie befreit sich aus der Dienstbarkeit der Religion und wagt es, diese selbst zum Objekt erkenntniskritischer Methoden zu machen. Denn das große Thema der brahmanischen, ionischen und Barockphilosophie ist das Erkenntnisproblem. Der städtische Geist wendet sich seinem eigenen Bilde zu, um festzustellen, daß es für das Wissen keine höhere Instanz gebe als ihn. Deshalb tritt das Denken nunmehr in die Nachbarschaft der höheren Mathematik, und statt der Priester finden wir Leute von Welt, Staatsmänner, Kaufherren, Entdecker, in hohen Stellungen und großen Aufgaben erprobt, deren »Denken über das Denken« sich auf einer tiefen Lebenserfahrung aufbaut. Das ist die Reihe großer Gestalten von Thales bis Protagoras, von Bacon bis Hume, die Reihe der vorkonfuzianischen und vorbuddhistischen Denker, von denen wir nicht viel mehr wissen, als daß sie dagewesen sind.“ (Ebd., S. 467-468Spengler).

„An ihrem Ende stehen Kant und Aristoteles. (Vergleich). Was nach ihnen beginnt, ist Philosophie der Zivilisation. Es gibt in jeder großen Kultur ein aufsteigendes Denken, das die Urfragen am Anfang stellt und sie mit steigender Gewalt des geistigen Ausdrucks in immer neuen Antworten erschöpft, ... und ein absteigendes, für das die Erkenntnisprobleme irgendwie fertig, überholt, bedeutungslos geworden sind. Es gibt eine metaphysische Periode, zuerst von religiöser, zuletzt von rationalistischer Fassung, wo das Denken und Leben noch Chaos in sich hat und aus einer Überfülle heraus weltgestaltend wirkt, und eine ethische, in welcher das großstädtisch gewordenen Leben sich selbst fragwürdig erscheint und den Rest philosophischer Gestaltungskraft auf seine eigene Haltung und Erhaltung verwenden muß. In der einen offenbart sich das Leben; die zweite hat das Leben zum Gegenstand. Die eine ist »theoretisch«, schauend im großen Sinne, die andre notgedrungen praktisch. Noch das kantische System ist in seinen tiefsten Zügen geschaut und danach erst logisch und systematisch formuliert und geordnet worden.“ (Ebd., S. 468-469Spengler).

„Ein Beweis ist Kants Verhältnis zur Mathematik. Wer nicht in die Formenwelt der Zahlen eingedrungen ist, wer sie nicht als Symbole in sich erlebt hat, ist kein echter Metaphysiker. In der Tat waren es die großen Denker des Barock, welche die Analysis geschaffen haben, und das Entsprechende gilt von den Vorsokratikern und Plato. Descartes und Leibniz sind neben Newton und Gauß, Pythagoras und Plato neben Archytas und Archimedes Gipfel der mathematischen Entwicklung. Aber schon Kant ist als Mathematiker bedeutungslos. Er ist in die letzten Feinheiten der damaligen Infinitesimalrechnung so wenig eingedrungen, als er Leibnizens Axiomatik sich zu eigen gemacht hat. Darin gleicht er seinem »Zeitgenossen« Aristoteles, und von nun an zählt kein Philosoph in der Mathematik mehr mit. Fichte, Hegel, Schelling und die Romantiker sind völlig unmathematisch, so gut wie Zenon und Epikur. Schopenhauer ist auf diesem Gebiet schwach bis zur Borniertheit, von Nietzsche ganz zu schweigen. Mit der Formenwelt der Zahlen ging eine großen Konvention verloren. Seitdem fehlt es nicht nur an einer Tektonik der Systeme, es fehlt auch an dem, was man den großen Stil des Denkens nennen darf. Schopenhauer hat sich selbst einen Gelegenheitsdenker genannt..“ (Ebd., S. 469-470Spengler).

„Die Ethik ist über ihren Rang als Teil einer abstrakten Theorie hinausgewachsen. Von nun an ist sie die Philosophie, welche die andern Gebiete sich einverleibt; das praktische Leben rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Leidenschaft des reinen Denkens sinkt. Die Metaphysik, Herrin von gestern, wird zu Dienerin von heute. Sie hat nur noch das Fundament zu liefern, das eine praktische Gesinnung trägt. Und das Fundament wird immer überflüssiger. Man vernachlässigt, man verspottet das Metaphysische, das Unpraktische, die »Steine statt des Brotes«. Bei Schopenhauer ist es das vierte Buch, um dessentwillen die drei ersten da sind. Kant glaubte nur, daß es bei ihm ebenso sei. In der Tat ist ihm noch die reine, nicht die praktische Vernunft Mittelpunkt der Schöpfung. Genau so scheidet sich die antike Philosophie vor und nach Aristoteles: dort ein groß aufgefaßter Kosmos, kaum bereichert durch eine formale Ethik, hier die Ethik selbst als Programm, als Not, auf der Basis einer nebenher und flüchtig konzipierten Metaphysik. Und man fühlt, daß die logische Gewissenlosigkeit, mit der zum Beispiel Nietzsche solche Theorien schnell hinwirft, gar nicht imstande ist, den Wert seiner eigentlichen Philosophie herabzusetzen.“ (Ebd., S. 470Spengler).

„.Bekanntlich ist Schopenhauer nicht von seiner Metaphysik zum Pessimismus, sondern vom Pessimismus, der ihn in seinem 17. Jahre überfiel, zur Entwicklung seines Systems gekommen. Shaw, ein sehr merkwürdiger Zeuge, macht im Ibsenbrevier darauf aufmerksam, daß man bei Schopenhauer – wie er sich ausdrückt – sehr wohl seine Philosophie annehmen kann, während man seine Metaphysik ablehnt. Damit ist ganz richtig das gesondert, wodurch er der erste Denker der neuen Zeit war, und das, was einer veralteten Tradition nach damals noch zu einer vollständigen Philosophie gehörte. Niemand würde diese Trennung bei Kant vornehmen. Sie würde auch nicht gelingen. Bei Nietzsche aber läßt sich leicht feststellen, daß seine »Philosophie« durchaus ein inneres, sehr frühes Erlebnis war, während er seinen Bedarf an Metaphysik an der Hand einiger Bücher schnell und oft mangelhaft genug deckte und nicht einmal seine ethische Lehre exakt darzustellen vermocht hat. Genau dieselbe Überlagerung einer lebendigen, zeitgemäßen, ethischen und einer von der Gewohnheit geforderten, entbehrlichen metaphysischen Gedankenschicht läßt sich bei Epikur und den Stoikern nachweisen. Diese Erscheinung gestattet über das Wesen einer zivilisierten Philosophie keinen Zweifel.“ (Ebd., S. 470-471Spengler).

„Die strenge Metaphysik hat ihre Möglichkeiten erschöpft. Die Weltstadt hat das Land endgültig überwunden, und ihr Geist bildet sich jetzt eine eigne, notwendigerweise nach außen gerichtete, mechanistische, seelenlose Theorie. Mit einem gewissen Recht sagt man von nun an Gehirn statt Seele. Und da im westeuropäischen »Gehirn« der Wille zur Macht, die tyrannische Richtung auf die Zukunft, auf Organisation der Gesamtheit nach praktischem Ausdruck verlangt, so nimmt die Ethik, je mehr sie ihre metaphysische Vergangenheit aus den Augen verliert, sozialethischen und nationalökonomischen Charakter an. „Die von Hegel und Schopenhauer ausgehende Philosophie - soweit sie den Geist der Zeit repräsentiert - was Lotze und Herbart z.B. nicht tun -, ist Gesellschaftskritik.“ (Ebd., S. 471Spengler).

„Die Aufmerksamkeit, welche der Stoiker dem eigenen Körper zuwendet, widmet der abendländische Denker dem Gesellschaftskörper. Es ist kein Zufall, daß aus der Schule Hegels der Sozialismus (Marx, Engels), der Anarchismus (Stirner) und die Problematik des sozialen Dramas (Hebbel) hervorgingen. Es ist kein Zufall, daß aus der Schule Hegels der Sozialismus (Marx, Engels), der Anarchismus (Stirner) und die Problematik des sozialen Dramas (Hebbel) hervorgingen. Der Sozialismus ist die ins Ethische, und zwar ins Imperativische umgewandte Nationalökonomie. Solange es eine Metaphysik großen Stils gab, bis auf Kant, blieb die Nationalökonomie eine Wissenschaft. Sobald »Philosophie« gleichbedeutend mit praktischer Ethik wurde, trat sie an Stelle der Mathematik als Unterlage des Weltdenkens. Darin liegt die Bedeutung von Cousin, Bentham, Comte, Mill und Spencer.“ (Ebd., S. 471Spengler).

„Es steht dem Philosophen nicht frei, seine Stoffe zu wählen, so wenig die Philosophie immer und überall dieselben Stoffe hat. Es gibt keine ewigen Fragen; es gibt nur Fragen, die aus einem bestimmten Dasein heraus gefühlt und gestellt werden. »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis« () – das gilt auch von jeder echten Philosophie als dem geistigen Ausdruck dieses Daseins, als der Verwirklichung seelischer Möglichkeiten (SpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpengler) in einer Formenwelt von Begriffen, Urteilen und Gedankenbauten, zusammengefaßt in der lebendigen Erscheinung ihres Urhebers. Eine jede ist vom ersten bis zum letzten Wort, vom abstraktesten Thema bis zum persönlichsten Charakterzug ein Gewordnes, aus der Seele in die Welt, aus dem Reiche der Freiheit in das der Notwendigkeit, aus dem unmittelbar Lebendigen ins Räumlich-Logische hinübergespiegelt und mithin vergänglich, von bestimmtem Tempo, von bestimmter Lebensdauer. Deshalb liegt eine strenge Notwendigkeit in der Wahl des Themas. Jede Epoche hat ihr eignes, das für sie und keine andre bedeutend ist. Hier sich nicht zu vergreifen, kennzeichnet den geborenen Philosophen. Der Rest der philosophischen Produktion ist belanglos, bloße Fachwissenschaft, langweilige Häufung systematischer und begrifflicher Subtilitäten.“ (Ebd., S. 471-472Spengler).

„Und deshalb ist die kennzeichnende Philosophie des 19. Jahrhunderts nur Ethik, nur Gesellschaftskritik in produktivem Sinne und nichts außerdem. Deshalb sind, von Praktikern abgesehen, Dramatiker – das entspricht der faustischen Aktivität – ihre bedeutendsten Vertreter, neben denen kein einziger Kathederphilosoph mit seiner Logik, Psychologie oder Systematik in Betracht kommt. Nur dem Umstände, daß diese Unbedeutenden, bloße Gelehrte, immer auch die Geschichte der Philosophie – und was für eine Geschichte! Eine Sammlung von Daten und »Ergebnissen« – geschrieben haben, verdankt man es, daß niemand heute weiß, was Geschichte der Philosophie ist und was sie sein könnte.“ (Ebd., S. 472Spengler).

„Die tiefe organische Einheit im Denken dieser Epoche ist deshalb noch nie durchschaut worden. Man kann ihren philosophischen Kern dadurch auf eine Formel bringen, daß man sich fragt, inwiefern Shaw der Schüler und Vollender Nietzsches ist. Diese Beziehung ist durchaus nicht ironisch gemeint. Shaw ist der einzige Denker von Rang, der konsequent in der Richtung des echten Nietzsche fortgeschritten ist, nämlich als produktiver Kritiker der abendländischen Moral, wie er andrerseits als Dichter die letzten Konsequenzen Ibsens zog und den Rest künstlerischer Gestaltung in seinen Stücken zugunsten praktischer Diskussionen aufgab.“ (Ebd., S. 472-473Spengler).

„Nietzsche ist in allem und jedem, soweit nicht der verspätete Romantiker in ihm Stil, Klang und Haltung seiner Philosophie bestimmt hat, ein Schüler materialistischer Jahrzehnte gewesen. Was ihn an Schopenhauer leidenschaftlich anzog, ohne daß es ihm oder irgend jemand anders zum Bewußtsein gekommen wäre, ist dasjenige Element seiner Lehre, durch welches er die Metaphysik großen Stils zerstört, durch das er seinen Meister Kant unfreiwillig parodiert hat, die Wendung aller tiefen Begriffe des Barock ins Handgreifliche und Mechanistische. Kant redet in unzulänglichen Worten, hinter denen sich eine gewaltige, schwer zugängliche Intuition verbirgt, von der Welt als Erscheinung; Schopenhauer nennt das die Welt als Gehirnphänomen. In ihm vollzieht sich die Wendung der tragischen Philosophie zum philosophischen Plebejertum. Es genügt, eine Stelle zu zitieren. In der »Welt als Wille und Vorstellung« (Band II, Kapitel 19Schopenhauer) heißt es: »Der Wille, als das Ding an sich, macht das innere, wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus: an sich selbst ist er jedoch bewußtlos. Denn das Bewußtsein ist bedingt durch den Intellekt, und dieser ist ein bloßes Akzidenz unseres Wesens; denn er ist eine Funktion des Gehirns, welches, nebst den ihm anhängigen Nerven und Rückenmark, eine bloße Frucht, ein Produkt, ja insofern ein Parasit des übrigen Organismus ist, als es nicht direkt eingreift in dessen inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch dient, daß es die Verhältnisse desselben zur Außenwelt reguliert.« (Schopenhauer). Das ist genau die Grundansicht des seichtesten Materialismus. Nicht umsonst war Schopenhauer, wie einst Rousseau, zu den englischen Sensualisten in die Lehre gegangen. Dort lernte er Kant im Geiste der großstädtischen, aufs Zweckmäßige gerichteten Modernität mißverstehen. Der Intellekt als Werkzeug des Willens zum Leben (auch der moderne Gedanke, daß die unbewußten, triebhaften Lebensakte Vollkommenes bewirken, während es der Intellekt nur zu stümperhaften Leistungen bringt, findet sich bei ihm [Band II, Kap. 30Schopenhauer]), als Waffe im Kampf ums Dasein, das, was Shaw in eine groteske dramatische Formel gebracht hat (in »Mensch und Übermensch«, 1903), dieser Weltaspekt Schopenhauers war es, der ihn beim Erscheinen von Darwins Hauptwerk (1859) mit einem Schlage zum Modephilosophen machte. Er war im Gegensatz zu Schelling, Hegel und Fichte der einzige, dessen metaphysische Formeln dem geistigen Mittelstand ohne Schwierigkeit eingingen. Seine Klarheit, auf die er stolz war, ist in jedem Augenblick in Gefahr, sich als Trivialität zu enthüllen. Hier konnte man, ohne auf Formeln zu verzichten, die eine Atmosphäre von Tiefsinn und Exklusivität um sich breiteten, die gesamte zivilisierte Weltanschauung sich zu eigen machen. Sein System ist antizipierter Darwinismus, dem die Sprache Kants und die Begriffe der Inder nur zur Verkleidung dienten. In seinem Buche »Über den Willen in der Natur« (1835Schopenhauer) finden wir schon den Kampf um die Selbstbehauptung in der Natur, den menschlichen Intellekt als die wirksamste Waffe in ihm, die Geschlechtsliebe als die unbewußte Wahl aus biologischem Interesse. (Im Kapitel »Zur Metaphysik der Geschlechtsliebe« [in: Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, Band II, Kapitel 44Schopenhauer] ist der Gedanke der Zuchtwahl als des Mittels zur Erhaltung der Gattung in vollem Umfang vorweggenommen.). Es ist die Ansicht, welche Darwin auf dem Umweg über Malthus mit unwiderstehlichem Erfolg in das Bild der Tierwelt hineingedeutet hat. (Darwin).“ (Ebd., S. 473-474Spengler).

„Die nationalökonomische Herkunft des Darwinismus wird bewiesen durch die Tatsache, daß dieses System, von der Menschenähnlichkeit höherer Tiere aus gedacht, schon auf die Pflanzenwelt nicht mehr paßt und in Albernheiten ausartet, wenn man es mit seiner Willenstendenz (Zuchtwahl, mimicry) auch auf primitive organische Formen ernsthaft anwenden will. Beweisen nennt der Darwinist, eine Auswahl von Tatsachen so ordnen und bildhaft so erklären, daß sie seinem historisch-dynamischen Grundgefühl »Entwicklung« entspricht. Der »Darwinismus«, d.h. jene Summe sehr verschiedenartiger und einander widersprechender Ansichten, deren Gemeinsames lediglich die Anwendung des Kausalprinzips auf Lebendiges, also Methode, nicht Resultat ist, war schon im 18. Jahrhundert in allen Einzelheiten bekannt. Die Affentheorie verteidigt Rousseau schon 1754. Von Darwin stammt nur das manchesterliche System, dessen Volkstümlichkeit sich aus dem latenten politischen Gehalt erklärt. Hier offenbart sich die geistige Einheit des Jahrhunderts. Von Schopenhauer bis zu Shaw haben alle, ohne es zu ahnen, dasselbe Prinzip in Form gebracht. Sie werden alle vom Entwicklungsgedanken geleitet, auch die, welche wie Hebbel nichts von Darwin wußten, und zwar nicht in seiner tiefen Goetheschen, sondern in seiner flachen zivilisierten Fassung, mag sie nun nationalökonomisches oder biologisches Gepräge tragen. Auch innerhalb der Entwicklungsidee, die durch und durch faustisch ist, die im strengsten Gegensatz zur zeitlosen aristotelischen Entelechie einen leidenschaftlichen Drang der unendlichen Zukunft entgegen offenbart, einen Willen, ein Ziel, die a priori die Form unserer Naturanschauung darstellt und als Prinzip gar nicht erst entdeckt zu werden brauchte, weil sie dem faustischen Geist - und ihm allein - immanent ist, vollzog sich die Wandlung von der Kultur zur Zivilisation. Bei Goethe ist sie erhaben, bei Darwin flach, bei Goethe organisch, bei Darwin mechanisch, bei jenem Erlebnis und Sinnbild, bei diesem Erkenntnis und Gesetz. Dort heißt sie innere Vollendung, hier »Fortschritt«. Darwins Kampf ums Dasein, den er in die Natur hinein, nicht aus ihr herauslas, ist nur die plebejische Fassung jenes Urgefühls, das in Shakespeares Tragödien die großen Wirklichkeiten gegeneinander bewegt. Was dort als Schicksal innerlich angeschaut, gefühlt und in Gestalten verwirklicht wurde, das wurde hier als Kausalzusammenhang begriffen und in ein Oberflächensystem von Zweckmäßigkeiten gebracht. Und dieses System, nicht jenes Urgefühl, liegt den Reden Zarathustras, der Tragik der »Gespenster«, der Problematik des Nibelungenrings zugrunde. Nur daß Schopenhauer, an den Wagner sich hielt, als der erste der Reihe seine eigne kenntnis entsetzt wahrnahm - dies ist die Wurzel seines Pessimismus, der in der Tristanmusik den höchsten Ausdruck fand -, während die Späteren, Nietzsche voran, sich an ihr, etwas gewaltsam zuweilen, begeisterten.“ (Ebd., S. 474-475Spengler).

„In Nietzsches Bruch mit Wagner, diesem letzten Ereignis des deutschen Geistes, über dem Größe liegt, verbirgt sich sein Wechsel des Lehrmeisters, sein unbewußter Schritt von Schopenhauer zu Darwin, von der metaphysischen zur physiologischen Formulierung desselben Weltgefühls, von der Verneinung zur Bejahung des Aspekts, den beide anerkennen, nämlich des Willens zum Leben, der mit dem Kampf ums Dasein identisch ist. In »Schopenhauer als Erzieher« bedeutet Entwicklung noch inneres Reifen; der Übermensch ist das Produkt einer mechanischen »Evolution«. So ist der »Zarathustra« ethisch aus einem unbewußten Widerspruch gegen den »Parsifal«, künstlerisch durchaus von diesem bestimmt, aus der Eifersucht eines Verkünders auf den anderen entstanden.“ (Ebd., S. 475-476Spengler).

„Aber Nietzsche war auch Sozialist, ohne es zu wissen. Nicht seine Schlagworte, seine Instinkte waren sozialistisch, praktisch, auf das physiologische »Heil der Menschheit« gerichtet, woran Goethe und Kant nie gedacht hatten. Materialismus, Sozialismus, Darwinismus sind nur künstlich und an der Oberfläche trennbar. So war es möglich, daß Shaw den Tendenzen der Herrenmoral und der Züchtung des Übermenschen nur eine kleine und sogar folgerichtige Wendung zu geben brauchte, um im dritten Akt von »Mensch und Übermensch«, einem der wichtigsten und bezeichnendsten Werke am Ausgang der Epoche, die eigentliche Maxime seines Sozialismus zu erhalten. Shaw hat da nur ausgesprochen, aber rücksichtlos, klar, mit dem vollen Bewußtsein einer Trivialität, was ursprünglich, mit aller Theatralik Wagners und aller Verschwommenheit der Romantik, in den nicht ausgeführten Teilen des Zarathustra gesagt werden sollte. Man muß nur die notwendigen praktischen, aus der Struktur des gegenwärtigen öffentlichen Lebens folgenden Voraussetzungen und Konsequenzen der Gedankengänge Nietzsches zu finden wissen. Er bewegt sich in unbestimmten Wendungen wie »neue Werte«, »Übermensch«, »Sinn der Erde« und hütet oder fürchtet sich, das genauer zu fassen. Shaw tut es. Nietzsche bemerkt, daß die darwinistische Idee des Übermenschen den Begriff der Züchtung heraufruft, aber er bleibt bei dem klangvollen Ausdruck stehen. Shaw fragt weiter - denn es hat keinen Zweck, darüber zu reden, wenn man nichts tun will -, wie das zu geschehen hat, und er kommt dazu, die Verwandlung der Menschheit in ein Gestüt zu verlangen. Aber das ist lediglich die Konsequenz Zarathustras, zu der er selbst nur nicht den Mut, sei es auch den Mut der Geschmacklosigkeit, hatte. Wenn man von planmäßiger Züchtung redet, einem vollkommen materialistischen und utilitarischen Begriff, so ist man eine Antwort darauf schuldig, wer zu züchten hat, wen, wo und wie. Allein Nietzsches romantische Abneigung, die sehr prosaischen sozialen Folgerungen zu ziehen, seine Furcht, poetische Gedanken durch Gegenüberstellung mit nüchternen Tatsachen einer Kraftprobe auszusetzen, ließen ihn darüber schweigen, daß seine ganze Lehre, wie sie aus dem Darwinismus stammt, auch den Sozialismus, und zwar den sozialistischen Zwang als Mittel voraussetzt; daß jeder systematischen Züchtung einer Klasse höherer Menschen eine streng sozialistische Gesellschaftsordnung voraufgehen muß und daß diese »dionysische« Idee, da es sich um eine gemeinsame Aktion und nicht um eine Privatsache abseits lebender Denker handelt, demokratisch ist, mag man sie wenden, wie man will. Damit hat die ethische Dynamik des »Du sollst« ihren Gipfel erreicht: um der Welt die Form seines Willens aufzuerlegen, opfert der faustische Mensch sich selbst.“ (Ebd., S. 476-477Spengler).

„Die Züchtung des Übermenschen folgt aus dem Begriff der Zuchtwahl. Nietzsche war, seit er Aphorismen schrieb, unbewußt ein Schüler Darwins, aber Darwin selbst hatte den Entwicklungsgedanken des 18. Jahrhunderts durch nationalökonomische Tendenzen umgeprägt, die er von seinem Lehrer Malthus nahm und in das höchste Tierreich projizierte. (Darwin). Malthus hatte die Fabrikindustrie von Lancaster studiert, und man findet das ganze System, statt auf Tiere auf Menschen angewendet, schon in Buckles Geschichte der englischen Zivilisation (1857).“ (Ebd., S. 477Spengler).

„Und so stammt die »Herrenmoral« dieses letzten Romantikers auf einem merkwürdigen, aber für den Sinn der Zeit bezeichnenden Wege aus der Quelle aller geistigen Modernität, der Atmosphäre der englischen Maschinenindustrie. Der Macchiavellismus, den Nietzsche als Renaissance-Erscheinung pries und dessen Verwandtschaft mit Darwins Begriff der mimicry man nicht übersehen sollte, war tatsächlich der im »Kapital« von Marx - dem andern berühmten Jünger von Malthus - behandelte, und die Vorstufe dieses seit 1867 erscheinenden Grundbuches des politischen (nicht des ethischen) Sozialismus, die Schrift »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, erschien gleichzeitig mit Darwins Hauptwerk. Das ist die Genealogie der Herrenmoral. Der »Wille zur Macht«, ins Reale, Politische, Nationalökonomische übersetzt, findet seinen stärksten Ausdruck in Shaws »Major Barbara« (1905). Sicherlich ist Nietzsche als Persönlichkeit der Gipfel dieser Reihe von Ethikern, aber hier reicht Shaw, der Parteipolitiker, als Denker an ihn heran. Der Wille zur Macht ist heute durch die beiden Pole des öffentlichen Lebens, die Arbeiterklasse und die großen Geld- und Gehirnmenschen, viel entschiedener vertreten als je durch einen Borgia. Der Milliardär Undershaft in dieser besten Komödie Shaws ist Übermensch. Nur hätte Nietzsche, der Romantiker, sein Ideal nicht wiedererkannt. Er sprach stets von einer Umwertung aller Werte, von einer Philosophie der Zukunft, also doch zunächst der westeuropäischen und nicht chinesischen oder afrikanischen Zukunft, aber wenn seine immer in dionysischer Ferne verschwimmenden Gedanken sich wirklich einmal zu greifbaren Gebilden verdichteten, so erschien ihm der Wille zur Macht unter dem Bilde von Dolch und Gift und nicht von Streiks und der Energie des Geldes. Trotzdem hat er erzählt, daß die Idee ihm zuerst im Kriege von 1870 und beim Anblick preußischer Regimenter, die zur Schlacht marschierten, aufgegangen sei.“ (Ebd., S. 477-478Spengler).

 „Das Drama dieser Epoche ist nicht mehr Dichtung im alten, im Kultursinne, sondern eine Form der Agitation, Debatte und Beweisführung: die Schaubühne wurde durchaus »als moralische Anstalt« betrachtet. Selbst Nietzsche neigte wiederholt zu dramatischer Fassung seiner Gedanken. Richard Wagner hat in seiner Nibdungendichtung, vor allem in der frühesten Fassung um 1850, seine sozialrevolutionären Ideen niedergelegt, und Siegfried ist auf dem Umweg über künstlerische und außerkünstlerische Einwirkungen noch im vollendeten »Ring« ein Sinnbild des vierten Standes, der Fafnirhort eines des Kapitalismus, Brünhilde das des »freien Weibes« geblieben. Die Musik zur geschlechtlichen Zuchtwahl, deren Theorie, die »Abstanunung der Arten«, 1859 erschien, findet sich eben damals im dritten Akte des Siegfried und im Tristan. Es ist kein Zufall, daß Wagner, Hebbel und Ibsen beinahe gleichzeitig die Dramatisierung des Nibelungenstoffes unternahmen. Hebbel, als er ... Schriften von Friedrich Engels kennenlernt, drückt sein Erstaunen darüber aus (Brief vom 2. April 1844), daß er das soziale Prinzip der Zeit, wie er es eben damals in einem Drama, »Zu irgend einer Zeit« darstellen wollte, ganz ebenso aufgefaßt habe wie der Verfasser des kommunistischen Manifestes, und bei seiner ersten Bekanntschaft mit Schopenhauer (Brief vom 29. März 1857) überrascht ihn auch die Verwandtschaft der »Welt als Wille und Vorstellung« mit wichtigen Tendenzen, die er seinem Holofernes und »Herodes und Marianne« zugrunde gelegt hatte. Hebbels Tagebücher, deren wichtigster Teil zwischen 1835 und 1845 niedergeschrieben wurde, sind eine der tiefsten philosophischen Leistungen des Jahrhunderts, ohne daß er sich dessen bewußt gewesen wäre. Man würde nicht erstaunt sein, ganze Sätze von ihm wörtlich bei Nietzsche zu finden, der ihn nie gekannt und nicht immer erreicht hat.“ (Ebd., S. 478-479Spengler).

 „Ich gebe hier eine Übersicht über die wirkliche Philosophie des 19. Jahrhunderts, deren einziges und eigenstes Thema der Wille zur Macht in einer zivilisiert-intellektuellen, ethischen oder sozialen Gestalt, als Wille zum Leben, als Lebenskraft, als praktisch-dynamisches Prinzip, als Begriff oder dramatische Gestalt ist. Die mit Shaw abgeschlossene Periode entspricht der antiken zwischen 350 und 250. Der Rest ist, mit Schopenhauer zu reden, Professorenphilosophie von Philosophieprofessoren.
1818Schopenhauer,»Die Welt als Wille und Vorstellung«: der Wille zum Leben zum ersten Mal als einzige Realität (»Urkraft«) in den Mittelpunkt gestellt, aber noch unter dem Eindruck des voraufgegangenen Idealismus zur Verneinung empfohlen.
1835Schopenhauer,»Über den Willen in der Natur«: Antizipation des Darwinismus, aber metaphysisch verkleidet.
1840 Proudhon, »Qu’est-ce que la propriété«: Grundlage des Anarchismus. - Comte, »Cours de philosophie positive«: die Formel »ordre et progrès«.
1841Hebbel, »Judith«: erste dramatische Konzeption des »neuen Weibes« und des Übermenschen (Holofernes). - Feuerbach, »Wesen des Christentums«.
1844Engels, »Urnriß einer Kritik der Nationalökonomie«: Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung. - Hebbel, »Maria Magdalena«: das erste soziale Drama.
1847Marx, »Das Elend der Philosophie« (Synthese von Hegel und Malthus). Diese Jahre sind die entscheidende Epoche, mit welcher die Nationalökonomie die Sozialethik und Biologie zu beherrschen beginnt.
1848Wagner, »Siegfrieds Tod«: Siegfried als sozialethischer Revolutionär, der Fafnirhort als Symbol des Kapitalismus.
1850Wagner, »Kunst und Klima«: das Sexualproblem.
1850-'58Wagners, Hebbels und Ibsens Nibelungendichtungen.
1859 ein symbolisches Zusammentreffen: Darwin, »Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl« (Anwendung der Nationalökonomie auf die Biologie) und Wagner, »Tristan und Isolde«, - Marx, »Zur Kritik der politischen Ökonomie«.
1863 J. St. Mill, »Utilitarianism«.
1865 Dühring, »Wert des Lebens«, selten genannt, aber von höchstem Einfluß auf die nächste Generation.
1867 Ibsen, »Brand« und »Das Kapital« von Marx.
1878Wagner, »Parsifal«: erste Auflösung des Materialismus in Mystizismus.
1879Ibsen, »Nora«.
1881Nietzsche, »Morgenröte«: Übergang von Schopenhauer zu Darwin, die Moral als biologisches Phänomen.
1883Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«: der Wille zur Macht, aber romantisch verkleidet.
1886 Ibsen, »Rosmersholm« (die »Adelsmenschen«) und Nietzsche, »Jenseits von Gut und Böse«.
1887/'88 Strindberg, »Vater« und »Fräulein Julie«.
1890 der nahende Abschluß der Epoche: die religiösen Werke Strindbergs, die symbolistischen Ibsens.
1896 Ibsen, »John Gabriel Borkman«: der Übermensch.
1898Strindberg, »Nach Damaskus«.
Seit 1900die letzten Erscheinungen
1903 Weininger, »Geschlecht und Charakter«: der einzige ernste Versuch, Kant durch Beziehung auf Wagner und Ibsen innerhlb dieser Epoche wiederzubeleben.
1903Shaw, »Mensch und Übermensch«: letzte Synthese von Darwin und Nietzsche.
1905Shaw, »Major Barbara«: der Typus des Übermenschen auf einen wirtschaftspolitischen Ursprung zurückgeführt.
Damit hat sich, nach der metaphysischen Periode, auch die ethische erschöpft. Der ethische Sozialismus, von Fichte, Hegel, Humboldt vorbereitet, hatte die Zeit seiner leidenschaftlichen Größe um die Mitte des 19. Jahrhunderts. An dessen Ende war er bereits im Stadium der Wiederholungen engelangt, und das 20. Jahrhundert hat unter Beibehaltung des Wortes Sozialismus, an Stelle einer ethischen Philosophie, die nur Epigonen als unvollendet erscheint, eine Praxis wirtschaftlicher Tagesfragen gesetzt. Die ethische Weltstimmung des Abendlandes wird eine »sozialistische« bleiben, aber die Theorie hat aufgehört, Problem zu sein.“ (Ebd., S. 479-481Spengler).

„Es besteht die Möglichkeit einer dritten und letzten Stufe westeuropäischer Philosophie: die eines physiognomischen Skeptizismus. Das Geheimnis der Welt erscheint nacheinander als Erkenntnisproblem, Wertproblem, Formproblem. Kant sah die Ethik als Erkenntnisgegenstand, das 19. Jahrhundert sah die Erkenntnis als Gegenstand der Wertung. Der Skeptiker würde beides lediglich als historischen Ausdruck einer Kultur betrachten.“ (Ebd., S. 481Spengler).

NACH OBEN „Faustische und apollinische Naturerkenntnis“ (S. 482-553):

• Die Theorie als Mythos [S. 482] • Jede Naturwissenschaft von einer voraufgegangenen Revolution abhängig [S. 487] • Statik, Alchymie, Dynamik als Theorien dreier Kulturen [S. 489] • Atomlehren [S. 492] • Unlösbarkeit des Bewegungsproblems [S. 497] • Stil des „kausalen Geschehens“, der „Erfahrung“ [S. 502] • Gottgefühl und Naturerkenntnis [S. 506] • Der große Mythos [S. 512] • Antike, magische, faustische numina [S. 517] • Der Atheismus [S. 525] • Die faustische Physik als das Dogma von der Kraft [S. 530] • Grenzen ihrer theoretischen – nicht technischen – Fortentwicklung [S. 538] • Selbstzerstörung der Dynamik; Eindringen geschichtlicher Vorstellungen [S. 543] • Ausgang der Theorie: Auflösung in ein System morphologischer Verwandtschaften [S. 547].

„In einer berühmt gewordenen Rede sagte Helmholtz (Helmholtz) 1869: »Das Endziel der Naturwissenschaft ist, die allen Veränderungen zugrunde liegenden Bewegungen und deren Triebkräfte zu finden, also sich in Mechanik aufzulösen.« In Mechanik, das bedeutet die Zurückführung aller qualitativen Eindrücke auf unveränderliche quantitative Grundwerte, auf Ausgedehntes also und dessen Ortsveränderung; das bedeutet weiterhin, wenn man sich des Gegensatzes von Werden und Gewordnem, Erlebtem und Erkanntem, von Gestalt und Gesetz, Bild und Begriff erinnert, die Zurückführung des gesehenen Naturbildes auf das vorgestellte Bild einer einheitlichen, zahlenmäßigen Ordnung von meßbarer Struktur. Die eigentliche Tendenz aller abendländischen Mechanik geht auf eine geistige Besitzergreifung durch Messung; sie ist deshalb genötigt, das Wesen der Erscheinung in einem System konstanter, der Messung restlos zugänglicher Elemente zu suchen, deren wichtigstes nach der Definition von Helmholtz mit dem - der täglichen Lebenserfahrung entnommenen - Worte Bewegung bezeichnet wird.“ (Ebd., S. 482Spengler).

„Die heutige Physik, als Wissenschaft ein ungeheures System von Kennzeichen in Gestalt von Namen und Zahlen, das es gestattet, mit der Natur wie mit einer Maschine zu arbeiten, mag ein genau bestimmbares Endziel haben; als ein Stück Geschichte mit allen Schicksalen und Zufällen im Leben der beteiligten Personen und im Gang des Forschens selbst ist die Physik nach Aufgabe, Methode und Resultat Ausdruck und Verwirklichung einer Kultur, ein organisch sich entwickelnder Zug ihres Wesens, jedes ihrer Ergebnisse ein Symbol.“ (Ebd., S. 483-484Spengler).

„Die »Natur« des antiken Menschen fand ihr höchstes künstlerisches Sinnbild in der nackten Statue; aus ihr erwuchs folgerichtig eine Statik von Körpern, eine Physik der Nähe. Zur arabischen Kultur gehört die Arabeske und die höhlenhafte Wölbung der Moschee; aus diesem Weltgefühl ist die Alchymie entstanden mit der Vorstellung von geheimnisvoll wirkenden Substanzen wie dem »Merkur der Philosophen«, der weder ein Stoff ist noch eine Eigenschaft, sondern etwas, das in magischer Weise dem farbigen Dasein von Metallen zugrunde liegt und ihre Verwandlung ineinander bewirken kann. Die »Natur« des faustischen Menschen endlich hat eine Dynamik des unbegrenzten Raumes, eine Physik der Ferne hervorgebracht. Zur ersten gehören die Vorstellungen von Stoff und Form, zur zweiten gut spinozistisch die von Substanzen und ihren sichtbaren oder geheimen Attributen, zur dritten die von Kraft und Masse. Die apollinische Theorie ist ein ruhiges Betrachten, die magische ein verschwiegenes Wissen um - man kann auch da den religiösen Ursprung der Mechanik erkennen - die »Gnadenmittel« der Alchymie, die faustische von Anfang an Arbeitshypothese. Der Grieche fragte nach dem Wesen des sichtbaren Seins; wir fragen nach der Möglichkeit, uns der unsichtbaren Triebkräfte des Werdens zu bemächtigen. Was für jenen die liebevolle Versenkung in den Augenschein, das ist für uns die gewaltsame Befragung der Natur, das methodische Experiment.“ (Ebd., S. 489-490Spengler).

„Seit Newton besaß die Annahme einer konstanten Masse – das Gegenstück der konstanten Kraft – unbestrittene Gültigkeit. Die Quantentheorie von Planck und die daraus entwickelten Schlüsse von Niels Bohr auf die Feinstruktur der Atome, welche auf Grund von experimentellen Erfahrungen notwendig geworden waren, haben diese Annahme zerstört. Jedes abgeschlossene System besitzt neben der kinetischen Energie noch die Energie der strahlenden Wärme, die nicht von ihr trennbar und deshalb durch den Begriff der Masse nicht rein darstellbar ist. Denn wird die Masse durch die lebendige Energie definiert, so ist sie im Hinblick auf den thermo-dynamischen Zustand nicht mehr konstant. Indessen will die Einordnung des elementaren Wirkungsquantums in den Kreis von Annahmen der klassischen Barockdynamik nicht gelingen, und zugleich mit dem Grundsatz der Stetigkeit aller kausalen Zusammenhänge wird das von ... Leibniz begründete Fundament der Infinitesimalrechnung bedroht. (M. Planck, Die Entstehung und bisherige Entwicklung der Quantentheorie (1920), S. 17, 25.) Aber weit über diese Zweifel hinaus greift die Relativitätstheorie, eine Arbeitshypothese von zynischer Rücksichtslosigkeit, in den Kern der Dynamik ein. Auf die Versuche von Michelson gestützt, wonach die Lichtgeschwindigkeit von der Bewegung des durchdrungenen Körpers unabhängig bleibt, von Lorentz und Minkowski mathematisch vorbereitet, enthält sie als ihre eigentliche Tendenz die Zerstörung des Begriffs der absoluten Zeit. Sie kann, worüber man sich heute bedenklich täuscht, durch astronomische Befunde weder bestätigt noch widerlegt werden. Richtig und falsch sind überhaupt nicht Begriffe, womit man über solche Annahmen zu urteilen hat; es handelt sich darum, ob sie in dem Chaos verwickelter und künstlicher Vorstellungen, das sich durch die zahllosen Hypothesen der radioaktiven und thermo-dynamischen Forschung herausgebildet hat, sich als brauchbar durchsetzt oder nicht. Aber so, wie sie ist, hat sie die Konstanz aller physikalischen Größen aufgehoben, in deren Definition die Zeit eingegangen ist, und die abendländische Dynamik besitzt im Gegensatz zur antiken Statik nur solche Größen. Absolute Längenmaße und starre Körper gibt es nicht mehr. Damit fällt auch die Möglichkeit absoluter quantitativer Bestimmungen und also der klassische Begriff der Masse als das konstante Verhältnis von Kraft und Beschleunigung – nachdem das elementare Wirkungsquantum, ein Produkt aus Energie und Zeit, soeben als neue Konstante aufgestellt worden war.“ (Ebd., S. 540-541Spengler).

„Macht man sich klar, daß die Atomvorstellungen von Rutherford und Bohr (die vielfach zu der Einbildung geführt haben, die »wirkliche Existenz« von Atomen sei nunmehr bewiesen, ein sonderbarer Rückfall in den Materialismus des vorigen Jahrhunderts) nichts bedeuten, als daß man das zahlenmäßige Ergebnis von Beobachtungen plötzlich mit einem Bilde unterlegt, das eine Planetenwelt im Innern des Atoms darstellt, während man bis jetzt die Vorstellung von Atomschwärmen vorzog; achtet man darauf, wie schnell heute Kartenhäuser aus ganzen Hypothesenreihen aufgeführt[541] werden, so daß man jeden Widerspruch durch eine neue, schnell entworfene Hypothese überdeckt; bedenkt man, wie wenig Sorge man sich um die Tatsache macht, daß diese Bildermengen sich untereinander und dem strengen Bild der Barockdynamik widersprechen, so gelangt man endlich zu der Überzeugung, daß der große Stil des Vorstellens zu Ende ist und wie in Architektur und bildender Kunst einer Art Kunstgewerbe der Hypothesenbildung Platz gemacht hat; nur die äußerste Meisterschaft der experimentellen Technik, die dem Jahrhundert entspricht, vermag den Verfall der Symbolik zu verdecken.“ (Ebd., S. 541-542Spengler).

„In den Kreis dieser Symbole des Niedergangs gehört nun vor allem die Entropie, bekanntlich das Thema des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik. Der erste Hauptsatz, das Prinzip der Erhaltung der Energie, formuliert einfach das Wesen der Dynamik, um nicht zu sagen, die Struktur des westeuropäischen Geistes, dem allein die Natur mit Notwendigkeit in der Form einer kontrapunktisch-dynamischen Kausalität im Gegensatz zur statisch-plastischen des Aristoteles erscheint. Das Grundelement des faustischen Weltbildes ist nicht die Haltung, sondern die Tat, mechanisch betrachtet der Prozeß, und dieser Satz fixiert lediglich den mathematischen Charakter solcher Prozesse in Form von Variablen und Konstanten. Der zweite Satz aber greift tiefer und stellt eine einseitige Tendenz des Naturgeschehens fest, welche durch die begrifflichen Grundlagen der Dynamik in keiner Weise von vornherein bedingt war.“ (Ebd., S. 542Spengler).

„Die Entropie wird mathematisch durch eine Größe dargestellt, die durch den augenblicklichen Zustand eines in sich abgeschlossenen Systems von Körpern bestimmt ist und die bei allen überhaupt möglichen Änderungen physikalischer oder chemischer Art nur zunehmen, niemals abnehmen kann. Im günstigsten Falle bleibt sie unverändert. Die Entropie ist wie die Kraft und der Wille etwas, das jedem, der überhaupt in das Wesen dieser Formenwelt einzudringen vermag, innerlich vollkommen klar und deutlich ist, das aber von jedem anders und offenbar unzulänglich formuliert wird. Auch hier versagt der Geist vor dem Ausdrucksbedürfnis des Weltgefühls.“ (Ebd., S. 542-543Spengler).

„Man hat, je nachdem die Entropie sich vermehrt oder nicht, die Gesamtheit der Naturprozesse in nichtumkehrbare und umkehrbare eingeteilt. Bei jedem Prozeß der ersten Art wird freie Energie in gebundene verwandelt; soll diese tote Energie in lebendige zurückverwandelt werden, so kann es nur dadurch geschehen, daß gleichzeitig in einem zweiten Prozeß ein weiteres Quantum lebendiger Energie gebunden wird. Das bekannteste Beispiel ist die Verbrennung von Kohle, d.h. die Umwandlung der in ihr aufgespeicherten lebendigen Energie in die durch die Gasform der Kohlensäure gebundene Wärme, wenn die latente Energie des Wassers in Dampfspannung und weiterhin in Bewegung umgesetzt werden soll. Daraus folgt, daß die Entropie im Weltganzen beständig zunimmt, so daß das dynamische System sich offenbar einem wie immer gearteten Endzustande nähert. Zu den nichtumkehrbaren Prozessen gehören Wärmeleitung, Diffusion, Reibung, Lichtemission, chemische Reaktionen, zu den umkehrbaren die Gravitation, elektrische Schwingungen, elektromagnetische und Schallwellen.“ (Ebd., S. 543 Spengler).

„Was bisher nie empfunden worden ist, und weshalb ich in dem Satz von der Entropie (1850) den Anfang der Vernichtung dieses Meisterstücks der westeuropäischen Intelligenz, der Physik dynamischen Stils sehe, ist der tiefe Gegensatz zwischen Theorie und Wirklichkeit, der hier zum ersten Mal ausdrücklich in die Theorie selbst hineingetragen wurde. Nachdem der erste Satz das strenge Bild eines kausalen Naturgeschehens gezeichnet hatte, bringt der zweite durch die Einführung der Nichtumkehrbarkeit eine dem unmittelbaren Leben angehörende Tendenz zum Vorschein, die dem Wesen des Mechanischen und Logischen grundsätzlich widerspricht.“ (Ebd., S. 543 Spengler).

„Verfolgt man die Konsequenzen der Entropielehre, so ergibt sich erstens, daß theoretisch alle Prozesse umkehrbar sein müssen. Das gehört zu den Grundforderungen der Dynamik. Das fordert noch einmal in aller Schärfe der erste Hauptsatz. Es ergibt sich aber zweitens, daß in Wirklichkeit sämtliche Naturvorgänge nicht umkehrbar sind. Nicht einmal unter den künstlichen Bedingungen des experimentellen Verfahrens kann der einfachste Prozeß exakt umgekehrt, d.h. ein einmal überschrittener Zustand wiederhergestellt werden. Nichts ist bezeichnender für die Lage des gegenwärtigen Systems als die Einführung der Hypothese der »elementaren Unordnung«, um den Widerspruch zwischen geistiger Forderung und wirklichem Erlebnis auszugleichen: die »kleinsten Teilchen« der Körper – ein Bild, nicht mehr – führen durchweg umkehrbare Prozesse aus; in den wirklichen Dingen befinden die kleinsten Teilchen sich in Unordnung und stören einander; infolgedessen ist mit einer mittleren Wahrscheinlichkeit der natürliche, allein vom Beobachter erlebte, nichtumkehrbare Prozeß mit einer Zunahme der Entropie verbunden. So wird die Theorie zu einem Kapitel der Wahrscheinlichkeitsrechnung, und statt exakter Methoden treten statistische in Wirksamkeit.“ (Ebd., S. 543-544Spengler).

„Man hat augenscheinlich nicht bemerkt, was das bedeutet. Die Statistik gehört wie die Chronologie ins Gebiet des Organischen, zum wechselnd bewegten Leben, zu Schicksal und Zufall und nicht zur Welt der Gesetze und der zeitlosen Kausalität. Man weiß, daß sie vor allem zur Charakteristik politischer und wirtschaftlicher, also geschichtlicher Entwicklungen dient. In der klassischen Mechanik Galileis und Newtons wäre für sie kein Platz gewesen. Was hier plötzlich statistisch erfaßt und erfaßbar wird, mit Wahrscheinlichkeit statt mit jener apriorischen Exaktheit, die alle Denker des Barock einstimmig gefordert hatten, ist der Mensch selbst, der diese Natur erkennend durchlebt, der in ihr sich selbst erlebt; was die Theorie mit innerer Notwendigkeit hinstellt, jene in Wirklichkeit gar nicht vorhandenen umkehrbaren Prozesse, repräsentiert den Rest einer strenggeistigen Form, den Rest der großen Barocktradition, welche die Schwester des kontrapunktischen Stils war. Die Zuflucht zur Statistik offenbart die Erschöpfung der in dieser Tradition wirksam gewesenen ordnenden Kraft. Werden und Gewordnes, Schicksal und Kausalität, historische und naturhafte Elemente beginnen zu verschwimmen. Formelemente des Lebens: das Wachstum, das Altern, die Lebensdauer, die Richtung, der Tod drängen herauf.“ (Ebd., S. 544Spengler).

„Das hat in diesem Aspekt die Nichtumkehrbarkeit der Weltprozesse zu bedeuten. Sie ist, im Gegensatz zu dem physikalischen Zeichen t, Ausdruck der echten, historischen, innerlich erlebten Zeit, die mit dem Schicksal identisch ist.“ (Ebd., S. 544-545Spengler).

„Die Physik des Barock war durch und durch strenge Systematik, solange Theorien wie diese noch nicht an ihrem Bau rütteln durften, solange in ihrem Bilde nichts anzutreffen war, was den Zufall und die bloße Wahrscheinlichkeit zum Ausdruck brachte. Mit dieser Theorie aber ist sie Physiognomik geworden. Der »Lauf der Welt« wird verfolgt. Die Idee des Weltendes erscheint in der Verkleidung von Formeln, die im Grunde ihres Wesens keine Formeln mehr sind. Es kommt damit etwas Goethesches in die Physik, und man wird das ganze Gewicht dieser Tatsache ermessen, wenn man sich klarmacht, was zuletzt die leidenschaftliche Polemik Goethes gegen Newton in der Farbenlehre bedeutete. Hier argumentierte das Schauen gegen den Verstand, das Leben gegen den Tod, die schöpferische Gestalt gegen das ordnende Gesetz. Die kritische Formenwelt der Naturerkenntis war aus dem Naturgefühl, dem Gottgefühl, durch Widerspruch hervorgegangen. Hier, am Ausgang der Spätzeit, hat sie den Gipfel der Distanz erreicht, und sie kehrt zum Ursprung zurück.“ (Ebd., S. 545Spengler).

„Und so beschwört die in der Dynamik wirksame Einbildungskraft noch einmal die großen Symbole der historischen Leidenschaft des faustischen Menschen herauf, die ewige Sorge, den Hang zu den fernsten Fernen von Vergangenheit und Zukunft, die rückschauende Geschichtsforschung, den vorausschauenden Staat, die Beichten und Selbstbetrachtungen, die über alle Völker weithinhallenden, das Leben messenden Glockenschläge. Das Ethos des Wortes Zeit, wie nur wir es empfinden, wie es die instrumentale Musik im Gegensatz zur Statuenplastik erfüllt, richtet sich auf ein Ziel. Das war in allen Lebensbildern des Abendlandes als drittes Reich, als neues Zeitalter, als Aufgabe der Menschheit, als Ausgang einer Entwicklung versinnlicht worden. Und das bedeutet für das Gesamtdasein und das Schicksal der faustischen Welt als Natur die Entropie.“ (Ebd., S. 545Spengler).

„Schon in dem mythischen Begriff der Kraft, der Voraussetzung dieser ganzen dogmatischen Formenwelt, liegt stillschweigend ein Richtungsgefühl, eine Beziehung auf Vergangenes und Künftiges; noch deutlicher wird sie in der Bezeichnung der Naturvorgänge als Prozesse. Es darf also gesagt werden, daß die Entropie als die geistige Form, in welcher die unendliche Summe aller Naturereignisse als historische und physiognomische Einheit zusammengefaßt wird, allen physikalischen Begriffsbildungen von Anfang an unbemerkt zugrunde lag, und daß sie eines Tages als »Entdeckung« auf dem Wege wissenschaftlicher Induktion zum Vorschein kommen und dann durch die übrigen theoretischen Elemente des Systems »durchaus bestätigt« werden mußte. Je mehr die Dynamik sich durch Erschöpfung ihrer inneren Möglichkeiten dem Ziele nähert, desto entschiedener dringen die historischen Züge des Bildes hervor, desto stärker macht sich neben der anorganischen Notwendigkeit des Kausalen die organische des Schicksals, neben den Faktoren der reinen Ausgedehntheit – Kapazität und Intensität – die der Richtung geltend. Es geschieht dies durch eine ganze Reihe gewagter Hypothesen von gleichem Bau, die durch experimentelle Befunde nur scheinbar gefordert werden, die in Wirklichkeit sämtlich durch das Weltgefühl und die Mythologie schon der Gotik antizipiert waren.“ (Ebd., S. 545-546Spengler).

„Dahin gehört vor allem auch die bizarre Hypothese des Atomzerfalls, welche die radioaktiven Erscheinungen deutet – nach welcher Uran-Atome, die Jahrmillionen hindurch trotz äußerer Einwirkungen ihr Wesen unverändert bewahrt haben, plötzlich und ohne nachweisbaren Anlaß explodieren und ihre kleinsten Teile mit einer Geschwindigkeit, die Tausende von Kilometern in der Sekunde beträgt, im Weltraum verbreiten. Dies Schicksal trifft unter einer Menge radioaktiver Atome immer nur einzelne, während die benachbarten davon ganz unberührt bleiben. Auch dieses Bild ist Geschichte, nicht Natur, und wenn sich auch hier die Anwendung der Statistik als notwendig erweist, so möchte man beinahe vom Ersatz der mathematischen durch die chronologische Zahl reden. (In der Tat hat die Vorstellung einer Lebensdauer der Elemente den Begriff der Halbwertszeit von 3,85 Tagen hervorgebracht [K. Fajans, Radioaktivität, 1919, S. 12].)“ (Ebd., S. 546Spengler).

„Mit diesen Vorstellungen kehrt die mythische Gestaltungskraft der faustischen Seele zum Ausgang zurück. Gerade damals, als zu Beginn der Gotik die ersten mechanischen Uhren konstruiert wurden, Symbole eines historischen Weltgefühls, entstand der Mythos von Ragnarök, dem Weltende, der Götterdämmerung. Mag diese Vorstellung, wie wir sie in der Völuspa und in christlicher Fassung im Muspilli besitzen, wie alle vermeintlich urgermanischen Mythen nicht ohne das Vorbild antiker und vor allem christlich-apokalyptischer Motive entstanden sein, sie ist in dieser Gestalt Ausdruck und Symbol der faustischen und keiner andren Seele.“ (Ebd., S. 546-547 Spengler).

„Die olympische Götterwelt ist geschichtslos. Sie kennt kein Werden, keine Epoche, kein Ziel. Faustisch aber ist der leidenschaftliche Zug in die Ferne. Die Kraft, der Wille hat ein Ziel, und wo es ein Ziel gibt, gibt es für den forschenden Blick auch ein Ende. Was die Perspektive der großen Ölmalerei durch den Konvergenzpunkt, was der Barockpark durch den Point de vue, was die Analysis durch das Restglied der unendlichen Reihen zum Ausdruck brachte, den Abschluß einer gewollten Richtung, tritt hier in begrifflicher Form hervor. Der Faust des zweiten Teils der Tragödie stirbt, weil er sein Ziel erreicht hat. Das Weltende als Vollendung einer innerlich notwendigen Entwicklung – das ist die Götterdämmerung; das bedeutet also, als letzte, als irreligiöse Fassung des Mythos, die Lehre von der Entropie. (Entropie).“ (Ebd., S. 547Spengler).

„Auch die Antike starb, aber sie wußte nichts davon.“ (Ebd., S. 547Spengler).

„Am Ziele angelangt, enthüllt sich endlich das ungeheure, immer unsinnlicher, immer durchscheinender gewordene Gewebe, das die gesamte Naturwissenschaft umspinnt: es ist nichts andres als die innere Struktur des wortgebundenen Verstehens, das den Augenschein zu überwinden, von ihm »die Wahrheit« abzulösen glaubte. Darunter aber erscheint wieder das Früheste und Tiefste, der Mythos, das unmittelbare Werden, das Leben selbst. Je weniger anthropomorph die Naturforschung zu sein glaubt, desto mehr ist sie es. Sie beseitigt nach und nach die einzelnen menschlichen Züge des Naturbildes, um endlich als die vermeintliche reine Natur die Menschlichkeit selbst, rein und ganz, in Händen zu halten. Aus der gotischen Seele ging, das religiöse Weltgefühl überschattend, der städtische Geist hervor, das alter ego der irreligiösen Naturerkenntnis. Heute, in der Abendröte der wissenschaftlichen Epoche, im Stadium des siegenden Skeptizismus, lösen sich die Wolken und die Landschaft des Morgens ruht wieder in vollkommener Deutlichkeit.“ (Ebd., S. 552-553Spengler).

NACH OBEN
- Band II -
„Welthistorische Perspektiven“
Text „Ursprung und Landschaft“ Text
Text „Städte und Völker“ Text
Text „Probleme der arabischen Kultur“ Text
Text „Der Staat“Text
Text „Die Formenwelt des Wirtschaftslebens“Text

NACH OBEN „Ursprung und Landschaft“ (S. 557-655):

• I. Das Kosmische und der Mikrokosmos (S. 557-579) • Pflanze und Tier [S. 557] • Dasein und Wachsein [S. 561] • Empfinden, Verstehen, Denken [S. 564] • Bewegungsproblem [S. 573] • Massenseele [S. 577]  • II. Die Gruppe der hohen Kulturen (S. 579-617) • Geschichtsbild, Naturbild [S. 579] • Menschen- und Weltgeschichte [S. 586] • Zwei Zeitalter: Primitive und hohe Kulturen [S. 593] • Überblick der hohen Kulturen [S. 599] • Der geschichtslose Mensch [S. 613]  • III. Die Beziehungen zwischen den Kulturen (S. 617-655) • „Einwirkung“ [S. 617] • Das römische Recht [S. 624] • Magisches Recht [S. 634] • Recht des Abendlandes [S. 644].

Anfang des Kapitels „Das Kosmische und der Mikrokosmos“

„Betrachte die Blumen am Abend (Spengler), wenn in der sinkenden Sonne eine nach der andern sich schließt: etwas Unheimliches dringt dann auf dich ein, ein Gefühl von rätselhafter Angst vor diesem blinden, traumhaften, der Erde verbundenen Dasein. Der stumme Wald, die schweigenden Wiesen, jener Busch und diese Ranke regen sich nicht. Der Wind ist es, der mit ihnen spielt. Nur die kleine Mücke ist frei; sie tanzt noch im Abendlichte; sie bewegt sich, wohin sie will.   —   Eine Pflanze ist nichts für sich. Sie bildet einen Teil der Landschaft, in der ein Zufall (SpenglerSpengler) sie Wurzel zu fassen zwang. .... Ein Tier aber kann wählen. Es ist aus der Verbundenheit der ganzen übrigen Welt gelöst. Jener Mückenschwarm, der noch am Wege tanzt, ein einsamer Vogel, der durch den Abend fliegt, ein Fuchs, der ein Nest beschleicht - sie sind kleine Welten für sich in einer andern großen. Ein Infusor, welches dem menschlichen Auge nicht mehr sichtbar im Wassertropfen ein Dasein führt, das eine Sekunde dauert und dessen Schauplatz ein winziger Winkel dieses kleinen Tropfens ist - es ist frei und unabhängig dem gesamten All gegenüber. Die Rieseneiche, an deren einem Blatt dieser Tropfen hängt, ist es nicht.   —   Verbundenheit und Freiheit: das ist der tiefste und letzte Grundzug in allem, was wir als pflanzenhaftes und tierhaftes Dasein unterscheiden. Doch nur die Pflanze ist ganz, was sie ist. Im Wesen eines Tieres liegt etwas Zwiespältiges. Eine Pflanze ist nur Pflanze, ein Tier ist Pflanze und noch etwas außerdem.“ (Ebd., S. 557-558Spengler).

„Der Samen einer Blütenpflanze zeigt unter dem Mikroskop zwei Keimblätter, welche den später dem Licht zugewandten Sproß mit seinen Organen des Kreislaufs und der Fortpflanzung bilden und schützen, und gleichsam ein drittes, den Wurzelschoß, welcher das unwiderrufliche Schicksal der Pflanze andeutet, wieder den Teil einer Landschaft zu bilden. Bei höheren Tieren sehen wir, wie das befruchtete Ei in den ersten Stunden des sich ablösenden Daseins ein äußeres Keimblatt bildet, welches das mittlere und innere, die Grundlage künftiger Kreislauf- und Fortpflanzungsorgane, also des pflanzenhaften Elements im Tierleib, umschließt und gegen den mütterlichen Leib und damit die ganze übrige Welt abhebt. Das äußere Keimblatt ist das Sinnbild des eigentlich tierhaften Daseins. Es unterscheidet die beiden Arten von Lebendigem, welche in der Erdgeschichte hervorgetreten sind. Es gibt alte schöne Namen dafür: die Pflanze ist etwas Kosmisches, das Tier ist außerdem ein Mikrokosmos in bezug auf einen Makrokosmos. Erst damit, daß ein Lebewesen sich derart aus dem All absondert, daß es seine Lage zu ihm bestimmen kann, ist es ein Mikrokosmos geworden. Selbst die Planeten sind in ihrer Bahn an die großen Kreisläufe gebunden; nur diese kleinen Welten bewegen sich frei im Verhältnis zu einer großen, deren sie sich als ihrer Umwelt bewußt sind.“ (Ebd., S. 558Spengler).

„Alles Kosmische trägt das Zeichen der Periodizität. Es besitzt Takt. Alles Mikrokosmische hat Polarität, Das Wort »gegen« drückt sein ganzes Wesen aus. Er besitzt Spannung. .... Kosmischer Takt aber ist alles, was sich auch mit Richtung, Zeit, Rhythmus, Schicksal, Sehnsucht umschreiben läßt, ... bis zum schweigenden Sichverstehen zweier Liebender, zum gefühlten Takt einer vornehmen Gesellschaft und zum Blick des Menschenkenners, den ich früher schon als physiognomischen Takt bezeichnet habe. Dieser Takt kosmischer Kreisläufe lebt und webt noch unter jeder Freiheit mikrokosmischer Bewegungen im Raume und löst zuweilen die Spannung aller wachen Einzelwesen in einen großen gefühlten Einklang auf.“ (Ebd., S. 559Spengler).

„Wir besitzen zwei Kreislauforgane des kosmischen Daseins: den Blutkreislauf und das Geschlechtsorgan, und zwei Unterscheidungsorgane der mikrokosmischen Beweglichkeit: Sinne und Nerven. Wir müssen annehmen, daß ursprünglich der ganze Leib Organ des Kreislaufs und zugleich Tatsorgan gewesen ist.“ (Ebd., S. 560Spengler).

„Wie nun diese Wesen zeugen und empfangen, wie das Pflanzenhafte in ihnen danach drängt, sich fortzupflanzen, den ewigen Kreislauf über sich selbst hinaus dauern zu lassen, wie der eine große Pulsschlag durch entfernte Seelen hindurch anziehend, treibend, hemmend und auch vernichtend wirkt, das ist jenes tiefste aller Lebensgeheimnisse, das alle religiösen Mysterien und alle großen Dichtungen zu durchdringen versuchen und dessen Tragik Goethe in dem Gedicht »Selige Sehnsucht« und in den »Wahlverwandtschaften« angerührt hat, wo das Kind sterben mußte, weil es aus entfremdeten Kreisen des Blutes und also gleichsam durch eine kosmische Schuld ins Dasein gezogen worden war.“ (Ebd., S. 560-561 Spengler).

„Tatsachen und Wahrheiten unterscheiden sich wie Zeit und Raum, wie Schicksal und Kausalität. (Spengler). .... Das wirkliche Leben, die Geschichte kennt nur Tatsachen. Lebenserfahrung und Menschenkenntnis richten sich nur auf Tatsachen. .... Für den echten Staatsmann gibt es nur politische Tatsachen, keine politischen Wahrheiten. Die berühmte Frage des Pilatus ist die eines jeden Tatsachenmenschen.“ (Ebd., S. 569Spengler).

„Es ist eine der gewaltigsten Leistungen Nietzsches, das Problem vom Werte der Wahrheit, des Wissens, der Wissenschaft aufgestellt zu haben - eine frivole Lästerung in den Augen jedes geborenen Denkers und Gelehrten, der damit den Sinn seines ganzen Daseins angezweifelt sieht.“ (Ebd., S. 570Spengler).

„Der Wille zum System ist der Wille, Lebendiges zu töten. Es wird festgestellt, starr gemacht, an die Kette der Logik gelegt. Der Geist hat gesiegt, wenn er sein Geschäft des Erstarrenmachens zu Ende geführt hat.“ (Ebd., S. 570Spengler).

„Was man mit den Worten Vernunft und Verstand zu unterscheiden pflegt, ist das pflanzenhafte Ahnen und Fühlen, das sich der Sprache des Auges und Wortes nur bedient, und auf der anderen Seite das tierhafte, sprachgeleitete Verstehen selbst. Die Vernunft ruft Ideen ins Leben, der Verstand findet Wahrheiten, Wahrheiten sind leblos und lassen sich mitteilen, Ideen gehören zum lebendigen Selbst ihres Urhebers und können nur mitgefühglt werden. Das Wesen des Verstandes ist Kritik, das Wesen der Vernunft ist Schöpfung. Die Vernunft erzeugt das, worauf es ankommt, der Verstand setzt es voraus. Das besagt jener tiefe Ausspruch ..., daß der Verstand nur ausreiche, um Irrtümer zu entdecken, nicht um Wahrheiten zu finden.“ (Ebd., S. 570-571Spengler).

„Erst mit dem reinen Verstehen, das sich durch die Sprache vom Wachsein des Auges abgelöst hat, taucht für den Menschen der Tod rings in der Lichtwelt als das große Rätsel auf.“ (Ebd., S. 571Spengler).

Anfang des Kapitels „Die Gruppe der hohen Kulturen“

„Die echt faustische Trennung der eigentlichen Menschengeschichte von der viel weiteren Weltgeschichte hat zur Folge, daß seit dem Ausgang des Barock sich in unserem Weltbild mehrere Horizonte in getrennten Schichten hintereinander lagern, für deren Untersuchung sich Einzelwissenschaften von mehr oder weniger ausgesprochen historischem Charakter ausgebildet haben. Die Astronomie, Geologie, Biologie, Anthropologie verfolgen der Reihe nach die Schicksale der Sternenwelt, der Erdrinde, der Lebewesen, des Menschen, und erst dann beginnt die heute noch so genannte »Weltgeschichte« der hohen Kulturen, an welche sich weiterhin die Geschichte einzelner Kulturelemente, die Familiengeschichte, zuletzt die gerade im Abendlande sehr ausgebildete Biographie anschließen.“ (Ebd., S. 588Spengler).

„Jede dieser Schichten fordert eine Einstellung für sich, und mit dem Augenblick dieser Einstellung hören die engeren und weiteren Schichten auf, lebendiges Werden zu sein, und sind schlechthin gegebene Tatsachen. Untersuchen wir die Schlacht im Teutoburger Walde, so ist die Entstehung dieses Waldes innerhalb der Pflanzenwelt Norddeutschlands vorausgesetzt. Fragen wir nach der Geschichte des deutschen Laubwaldes, so ist die geologische Schichtung der Erde die Voraussetzung und eine in ihren besonderen Schicksalen nicht weiter zu untersuchende Tatsache. Fragen wir nach dem Ursprung der Kreideformation, so ist das Vorhandensein der Erde selbst als eines Planeten im Sonnensystem kein Problem. Oder anders betrachtet: daß es in der Sternenwelt eine Erde, daß es auf der Erde das Phänomen »Leben«, daß es in diesem die Form »Mensch«, daß es in der Menschengeschichte die organische Form der Kulturen gibt, ist jedesmal ein Zufall im Bilde der nächst höheren Schicht.“ (Ebd., S. 588Spengler).

„»Entwicklung« .... Leibniz in seiner hochbedeutenden »Protogäa« (1691), die auf Grund seiner Studien über die Silbergruben des Harzes eine durch und durch Goethesche Urgeschichte der Erde entwirft, und Goethe selbst verstanden darunter die Vollendung im Sinne eines steigenden Formgehaltes. Zwischen den Begriffen der Goetheschen Formvollendung und der Evolution Darwins liegt der ganze Gegensatz von Schicksal und Kausalität, aber auch der zwischen deutschem und englischem Denken und zuletzt deutscher und englischer Geschichte.“ (Ebd., S. 590Spengler).

„Was wir vom Menschen wissen, scheidet sich klar in zwei große Zeitalter seines Daseins. Das erste (1. Zeitalter) wird für unsern Blick begrenzt einerseits durch jene tiefe Fuge im Schicksal des Planeten, die wir heute als Anfang der Eiszeit bezeichnen und von der wir innerhalb des Bildes der Erdgeschichte nur feststellen können, daß hier eine kosmische Änderung stattgefunden hat; andrerseits durch den Beginn der hohen Kulturen am Nil und Euphrat, womit der ganze Sinn des menschlichen Daseins plötzlich ain anderer wird.“ (Ebd., S. 593Spengler).

„Wir entdecken überall die scharfe Grenze von Tertiär und Diluvium und wir finden diesseits den Menschen vor als fertig ausgebildeten Typus, mit Sitte, Mythos, Kunst, Schmuck, Technik vertraut und von einem Körperbau, der sich seitdem nicht merklich verändert hat. Wenn wir das erste Zeitalter das der primitiven Kultur nennen, so ist das einzige Gebiet, auf dem sich diese Kultur, allerdings in einer sehr späten Form, lebendig und ziemlich unberührt während des ganzen zweiten Zeitalters und heute noch erhalten hat, das nordwestliche Afrika. Dies klar erkannt zu haben, ist das große Verdienst von L. Frobenius (Frobenius). Die Voraussetzung war, daß hier eine ganze Welt primitiven Lebens und nicht etwa nur eine Anzahl primitiver Stämme dem Eindruck hoher Kulturen entzogen blieb. Was die Völkerpsychologen gern in allen fünf Weltteilen zusammensuchen, sind dagegen Völkerfragmente, deren Gemeinsames in der rein negativen Tatsache besteht, daß sie mitten unter den hohen Kulturen leben, ohne innerlich an ihnen beteiligt zu sein. Es sind also teils zurückgebliebene, teils mindewertige, teils entartete Stämme, deren Äußerungen noch dazu unterschiedslos vermengt werden.“ (Ebd., S. 593-594Spengler).

„Die primitive Kultur war aber etwas Starkes und Ganzes, etwas höchst Lebendiges und Wirkungsvolles; nur ist sie so verschieden von allem, was wir Menschen einer hohen Kultur als seelische Möglichkeiten besitzen, daß man daran zweifeln darf, ob selbst jene Völker, mit denen das erste Zeitalter noch tief in das zweite hineinreicht, in ihrer heutigen Art des Daseins und Wachseins Schlüsse auf den alten Zustand erlauben.“ (Ebd., S. 594Spengler).

„Das menschliche Wachsein steht seit Jahrtausenden unter dem Eindruck der Tatsache, daß die beständige Fühlung der Stämme und Völker untereinander etwas Selbstverständliches und Alltägliches ist. Wir haben aber für das erste Zeitalter damit zu rechnen, daß der Mensch in einer äußerst geringen Anzahl kleiner Scharen sich in den endlosen Weiten der Landschaft, deren Bild durchaus von den gewaltigen Massen großer Tierherden beherrscht wird, vollständig verliert. Die Seltenheit der Funde beweist das mit Sicherheit. Zur Zeit des Homo Aurignacensis schweiften auf dem Boden Frankreichs vielleicht ein Dutzend Horden von einigen hundert Köpfen umher, für die es ein rätselhaftes Ereignis von tiefstem Eindruck war, wenn sie einmal das Vorhandensein von Mitmenschen bemerkten. Können wir uns überhaupt vorstellen, wie es sich in einer fast menschenlosen Welt lebte? Wir, für die die gesamte Natur längst zum Hintergrunde der massenhaften Menschheit geworden ist? Wie mußte sich das Weltbewußtsein ändern, als man in der Landschaft außer Wäldern und Tierherden immer häufiger Menschen »ganz wie wir selbst« antraf! Die zweifellos wieder sehr plötzliche Zunahme der Zahl, welche den »Mitmenschen« zu einem beständigen, alltäglichen Erlebnis machte, den Eindruck des Staunens durch die Gefühle der Freude oder Feindschaft ersetzte und damit von selbst eine ganz neue Welt von Erfahrungen und von unwillkürlichen und unvermeidlichen Beziehungen heraufrief, ist für die Geschichte der Menschenseele vielleicht das tiefste und folgenreichste Ereignis gewesen. Erst an fremden Lebensformen wurde man sich nun der eignen bewußt, und zugleich trat zu der Gliederung innerhalb der Sippe der ganze Reichtum äußerer Beziehungsformen der Sippen untereinander, der von nun an das primitive Leben und Denken vollständig beherrscht. Bedenken wir, daß damals aus sehr einfachen Arten sinnlicher Verständigung die Ansätze von Wortsprachen (und damit des abstrakten Denkens) entstanden sind und unter diesen einige sehr glückliche Konzeptionen, von deren Beschaffenheit wir uns keine Vorstellung machen können, die wir aber als frühesten Ausgangspunkt der späteren indogermanischen und semitischen Sprachgruppen annehmen dürfen.“ (Ebd., S. 594-595Spengler).

„Aus dieser primitiven Kultur einer durch Beziehungen von Stamm zu Stamm überall zusammenhängenden Menschheit wächst nun plötzlich um 3000 die ägyptische und babylonische Kultur auf, nachdem sich vielleicht während eines weiteren Jahrtausends in beiden Landschaften etwas vorbereitet hatte (d.h. seit 4000 v. Chr.! HB), das sich in der ganzen Art und Absicht der Entwicklung, der inneren Einheit sämtlicher Ausdrucksformen und der Richtung alles Lebens auf ein Ziel vollkommen von jeder primitiven Kultur unterscheidet. Es ist mir sehr wahrscheinlich, daß sich damals an der Erdoberfläche überhaupt oder zum mindesten im inneren Wesen des Menschen eine Veränderung vollzogen hat. Was später noch als primitive Kultur von Rang überall zwischen den hohen Kulturen besteht und erst nach und nach vor ihnen verschwindet, wäre dann etwas anderes als die Kultur des ersten Zeitalters. Was ich aber als Vorkultur bezeichne und was man am Anfang jeder hohen Kultur in einem durchaus gleichförmigen Verlauf nachweisen kann, ist jeder Art von primitiver Kultur gegenüber etwas Andersartiges und vollständig Neues.“ (Ebd., S. 595Spengler).

„In allem primitiven Dasein ist das »es«, das Kosmische, mit so unmittelbarer Gewalt am Werke, daß alle mikrokosmischen Äußerungen in Mythos, Sitte, Technik und Ornament nur dem ganz augenblicklichen Drange gehorchen. Es gibt keine für uns erkennbaren Regeln für die Dauer, das Tempo, den Gang der Entwicklung dieser Äußerungen. Wir sehen etwa eine ornamentale Formensprache, die man nicht Stil nennen sollte, die Bevölkerung weiter Gebiete beherrschen, sich verbreiten, sich verändern und endlich erlöschen. Daneben und vielleicht mit ganz anderem Verbreitungsgebiet[595] zeigen Art und Gebrauch der Waffen, Gliederung der Sippen, religiöse Gebräuche je eine eigene Entwicklung mit selbständigen Epochen und mit Anfang und Ausgang, der durch kein anderes Formgebiet mitbestimmt wird. Wenn wir in einer prähistorischen Schicht eine uns genau bekannte Art von Keramik festgestellt haben, so läßt das auf die Sitte und Religion der zugehörigen Bevölkerung keine Schlüsse zu. Und wenn einmal zufällig eine gewisse Form der Ehe und etwa eine Art der Tätowierung ein ähnliches Verbreitungsgebiet besitzen, so liegt dem nie eine Idee zugrunde, wie sie die Erfindung des Schießpulvers und der Malperspektive verbindet. Es finden sich keine notwendigen Beziehungen zwischen Ornament und Altersklassenorganisation, oder zwischen dem Kult einer Gottheit und der Art des Ackerbaus. Was sich hier entwickelt, sind immer wieder einzelne Seiten und Züge der primitiven Kultur, nicht diese selbst. Das ist es, was ich als chaotisch bezeichnet habe: die primitive Kultur ist weder ein Organismus noch eine Summe von Organismen.“ (Ebd., S. 595-596Spengler).

„Mit dem Typus der hohen Kultur tritt an die Stelle jenes »es« eine starke und einheitliche Tendenz. Innerhalb der primitiven Kultur sind außer den einzelnen Menschen nur die Stämme und Sippen beseelte Wesen. Hier aber ist es die Kultur selbst. Alles Primitive ist eine Summe, und zwar von Ausdrucksformen primitiver Verbände. Hohe Kultur ist das Wachsein eines einzigen ungeheuren Organismus, der nicht nur Sitte, Mythos, Technik und Kunst, sondern auch die ihm einverleibten Völker und Stände zu Trägern einer einheitlichen Formensprache mit einheitlicher Geschichte macht. Die älteste Sprachgeschichte gehört zur primitiven Kultur und hat ihre eignen regellosen Schicksale, die man aus denen des Ornaments oder etwa der Geschichte der Ehe nicht ableiten kann. Die Geschichte der Schrift aber gehört zur Ausdrucksgeschichte der einzelnen hohen Kulturen. Je eine besondere Schrift hat sich schon in der Vorzeit der ägyptischen, chinesischen, babylonischen und mexikanischen Kultur ausgebildet. Daß das in der indischen und antiken nicht geschah, daß man die hochentwickelten Schriften alter Nachbarzivilisationen erst sehr spät übernahm, während in der arabischen Kultur jede neue Religion und Sekte alsbald eine eigne Schrift ausbildet, das steht im tiefsten Zusammenhang mit der gesamten Formengeschichte dieser Kulturen und deren innerer Bedeutung.“ (Ebd., S. 596-597Spengler).

„Auf diese beiden Zeitalter beschränkt sich unser wirkliches Wissen vom Menschen und das reicht nicht aus, um irgendwelche Schlüsse auf mögliche oder gewisse neue Zeitalter oder gar deren Wann und Wie zu ziehen, ganz abgesehen davon, daß die kosmischen Zusammenhänge, welche das Schicksal der Gattung Mensch beherrschen, unsrer Berechnung vollständig entzogen sind.“ (Ebd., S. 597Spengler).

„Meine Art zu denken und zu beobachten beschränkt sich auf die Physiognomik des Wirklichen. Wo die Erfahrung des Menschenkenners seiner Mitwelt, die Lebenserfahrung eines Tatgewohnten den Tatsachen gegenüber aufhört, da findet auch dieser Blick seine Grenze. Das Vorhandensein jener zwei Zeitalter ist eine Tatsache der historischen Erfahrung und weiterhin besteht unsre Erfahrung von der primitiven Kultur darin, daß wir hier etwas Abgeschlossenes in seinen Resten übersehen können, dessen tiefere Bedeutung von uns aus einer innern Verwandtschaft heraus noch eben erfühlt werden kann. Das zweite Zeitalter aber erlaubt uns noch eine Erfahrung von ganz andrer Art.“ (Ebd., S. 597Spengler).

„Daß innerhalb der Menschengeschichte plötzlich der Typus der hohen Kultur erscheint, ist ein Zufall (Spengler), dessen Sinn nicht nachzuprüfen ist. Es ist auch ungewiß, ob nicht ein plötzliches Ereignis im Dasein der Erde eine ganz andre Form zum Vorschein bringt. Aber die Tatsache, daß acht solcher Kulturen () vor uns liegen, alle von gleichem Bau, gleichartiger Entwicklung und Dauer, gestattet uns eine vergleichende Betrachtung und damit ein Wissen, das sich über verschollene Epochen rückwärts und über bevorstehende vorwärts erstreckt, immer unter der Voraussetzung, daß nicht ein Schicksal anderer Ordnung diese Formenwelt überhaupt plötzlich durch eine neue ersetzt. Ein Recht dazu gibt uns die allgemeine Erfahrung vom organischen Dasein.“ (Ebd., S. 597Spengler).

Geistesepochen (Goethe)
Goethes Schema zu den Geistesepochen

„Die Gruppe der hohen Kulturen ist keine organische Einheit. Daß sie in dieser Zahl, an diesen Orten und zu dieser Zeit entstanden, ist für das menschliche Auge ein Zufall ohne tieferen Sinn. (). Dagegen tritt die Gliederung der einzelnen mit solcher Deutlichkeit hervor, daß die chinesische, indische, arabische und abendländische Geschichtsschreibung und oft schon das übereinstimmende Gefühl der Gebildeten eine Reihe von Namen geprägt hat, die sich gar nicht verbessern lassen. Goethe hat in seinem kleinen Aufsatz »Geistesepochen« (GoetheGoethe) eine Charakteristik der vier Abschnitte jeder Kultur, der Vorzeit, Frühzeit, Spätzeit und Zivilisation (bzw. Vor-, Früh-, Hoch- und Spätkultur [-Quartale KulturquartalTafelnTafelnTafeln], so bei mir; HB), von solcher Tiefe gegeben, daß sich heute noch nichts hinzufügen läßt. Vgl. die damit genau übereinstimmenden Tafeln (Tafeln) ....“ (Ebd., S. 598Spengler).

„Das historische Denken hat also die doppelte Aufgabe, eine vergleichende Betrachtung der einzelnen Lebensläufe vorzunehmen, eine Aufgabe, die klar gefordert, aber bis jetzt nicht beachtet worden ist, und die andere, die zufälligen und regellosen Beziehungen der Kulturen untereinander auf ihren Sinn zu prüfen. Das ist bis jetzt in der bequemen und oberflächlichen Weise geschehen, daß man das ganze Gewirr mit kausaler Erklärung in den »Gang« einer Weltgeschichte brachte. Damit wird aber die sehr schwierige und aufschlußreiche Psychologie dieser Beziehungen ebenso unmöglich wie die des Innenlebens der Kulturen selbst. Diese zweite Aufgabe setzt vielmehr die erste als gelöst voraus. Die Beziehungen sind sehr verschieden, zunächst schon nach dem räumlichen und zeitlichen Abstand. In den Kreuzzügen steht eine Frühzeit einer alten Zivilisation gegenüber, in der kretisch-mykenischen Welt des Ägäischen Meeres eine Vorkultur einer blühenden Spätzeit. Eine Zivilisation kann aus unendlicher Ferne herüberstrahlen wie die indische von Osten in die arabische Welt, oder sich erstickend und greisenhaft über eine Jugend lagern, wie die Antike vom Westen her. Aber auch nach Art und Stärke: die abendländische Kultur sucht Beziehungen auf, die ägyptische weicht ihnen aus; jene erliegt ihnen immer wieder in tragischen Erschütterungen, die Antike nützt sie aus, ohne zu leiden. Das alles hat aber seine Bedingungen wieder im Seelischen der Kultur selbst und lehrt diese Seele zuweilen besser kennen als ihre igne Sprache, die oft mehr verbirgt als mitteilt.“ (Ebd., S. 598-599Spengler).

„Ein Blick über die Gruppe der Kulturen erschließt Aufgaben über Aufgaben. (). .... Die ungeheure Schwierigkeit, der eine gleichmäßige Behandlung jener großen Lebensläufe heute noch begegnet, besteht darin, daß es an ernsthaften Bearbeitungen der fernliegenden Gebiete durchaus fehlt.“ (Ebd., S. 599Spengler).

„Die ungeheure Schwierigkeit, der eine gleichmäßige Behandlung jener großen Lebensläufe heute noch begegnet, besteht darin, daß es an ernsthaften Bearbeitungen der fernliegenden Gebiete durchaus fehlt. Es zeigt sich wieder der herrische Blick des Westeuropäers, der nur erfassen will, was von irgend einem Altertum her über ein Mittelalter sich ihm nähert, und alles, was seine eignen Wege geht, mit halbem Ernst behandelt. In der chinesischen und indischen Welt sind soeben einige Gebiete - Kunst, Religion und Philosophie - in Angriff genommen worden. Die politische Geschichte wird, wenn überhaupt, im Plauderstil vorgetargen. Niemand denkt daran, die großen staatsrechtlichen Probleme der chinesischen Geschichte, das Hohenstaufenschicksal des Li-wang (842), den ersten Fürstenkongreß von 659, den Kampf zwischen den Prinzipien des von dem »Römerstaate« Tsin vertretenen Imperialismus (lienheng) und der Völkerbundidee (hohtsung) zwischen 500 und 300, den Aufstieg des chinesischen Augustus Hoang-ti (221) mit derselben Gründlichkeit zu behandeln, wie es Mommsen mit dem Prinzipat des Augustus getan hat. Die Staatengeschichte Indiens mag noch so gründlich von den Indern vergessen sein, aus der Zeit Buddhas liegt trotzdem mehr Material vor als aus der antiken Geschichte im 9. und 8. Jahrhundert, aber wir tun noch heute, als hätte »der« Inder ganz in seiner Philosophie gelebt wie die Athener, welche nach der Ansicht unsrer Klassizisten ihr Leben, an den Ufern des Ilissos philosophierend, in Schönheit verbrachten. Aber auch über die ägyptische Politik ist kaum nachgedacht worden. Hinter den Namen der Hyksoszeit haben die späten ägyptischen Historiker dieselbe Krisis verborgen, welche die chinesischen als »Zeit der kämpfenden Staaten« behandeln. Das hat noch niemand untersucht. Und in der arabischen Welt reicht das Interesse genau so weit wie das antike Sprachgebiet. Was ist nicht über die Staatsschöpfung Diokletians geschrieben worden! Und was für ein Material hat man etwa über die ganz gleichgültige Verwaltungsgeschichte der kleinasiatischen Provinzen zusammengetragen - weil es griechisch geschrieben war! Aber das Vorbild Diokletians in jeder Beziehung, der Sassanidenstaat, fällt nur insoweit in den Kreis der Betrachtung, als er gerade Krieg mit Rom führte. Wie steht es aber mit dessen eigener Verwaltungs- und Rechtsgeschichte? Was ist über Recht und Wirtschaft in Ägypten, Indien und China gesammelt worden, das sich neben den Arbeiten über antikes Recht halten könnte? Es fehlt ebenso an einer Geschichte der Landschaft (also des Bodens, der Pflanzendecke und der Witterung), in der sich die Menschengeschichte seit fünftausend Jahren abgespielt hat. Aber die Menschengeschichte ringt sich so schwer von der Geschichte der Landschaft ab und bleibt mit tausend Wurzeln mit ihr so tief verbunden, daß man ohne sie das Leben, die Seele, das Denken gar nicht verstehen kann. Was die Landschaft Südeuropas betrifft, so macht seit dem Ende der Eiszeit ein unbändiger Überfluß der Pflanzenwelt allmählich der Dürftigkeit Platz. In der Folge der ägyptischen, antiken, arabischen und abendländischen Kultur hat sich um das Mittelmeer herum eine Wandlung des Klimas vollzogen, wonach der Bauer aus dem Kampf gegen die Pflanzenwelt in den für sie eintreten mußte, erst gegen den Urwald, dann gegen die Wüste sich behauptend. Die Sahara lag zur Zeit Hannibals weit im Süden Karthagos, heute dringt sie bereits in das nördliche Spanien und Italien ein; wo war sie zur Zeit der ägyptischen Pyramidenbauer mit den Wald- und Jagdbildern auf ihren Reliefs? Als die Spanier die Moriskos vertreiben, erlosch der nur noch künstlich aufrecht erhaltene Charakter des Landes als einer Wald- und Ackerlandschaft. Die Städte wurden Oasen in der Wüste. Zur Römerzeit hätte das keine derartige Folge gehabt.“ (Ebd., S. 599-601Spengler).

„Vor diesem Bilde der Menschenwelt, welches bestimmt ist, das heute noch in den besten Köpfen befestigte von Altertum, Mittelalter und Neuzeit abzuzlösen, wird auch eine neue und, wie ich glaube, für unsere Zivilisation endgültige Antwort auf die alte Frage möglich: Was ist Geschichte?“ (Ebd., S. 610Spengler).

„Ranke (im Vorwort zu seiner Weltgeschichte) sagt: »Die Geschichte beginnt erst, wo die Monumente verständlich werden und glaubwürdige schriftliche Aufzeichnungen vorliegen.« Das ist die Antwort eines Sammlers und Ordners von Daten. Ohne Zweifel ist hier das, was geschehen ist, mit dem verwechselt worden, was innerhalb des Blickfeldes der jeweiligen Geschichtsforschung geschehen ist. Daß Mardonios bei Platää geschlagen wurde - das hat aufgeheört Geschichte zu sein, wenn 2000 Jahre später ein Gelehrter davon nichts mehr weiß? Ist das Leben nur dann eine Tatsache, wenn in Büchern davon geredet wird?“ (Ebd., S. 611Spengler).

„Der bedeutendste Historiker seit Ranke, Eduard Meyer, sagt: »Historisch ist, was wirksam ist oder gewesen ist .... Erst durch die historische Betrachtung wird der Einzelvorgang, den sie aus der unendlichen Masse gleichzeitiger Vorgänge heraushebt, zu einem historischen Ereignis«. Das ist ganz im Geschmack und Geiste Hegels gesagt. Es kommt erstens auf die Tatsachen an und nicht auf unser zufälliges Wissen davon.“ (Ebd., S. 611Spengler).

„Gerade das neue Bild der Geschichte zwingt uns, Tatschen ersten Ranges in großen Folgen als vorhanden anzunehmen, von denen wir im Gelehrtensinne nie etwas wissen werden. Wir müssen lernen, im weitesten Umfange mit dem Unbekannten zu rechnen. Und zweitens: Wahrheiten gibt es für den Geist; Tatsachen gibt es nur in bezug auf das Leben. Historische Betrachtung, in meiner Ausdrucksweise: physiognomischer Takt: das ist die Entscheidung des Blutes, die auf die Vergangenheit und Zukunft erweiterte Menschenkenntnis, der angeborne Blick für Personen und Lagen, für das, was Ereignis, was notwendig war, was dagewesen sein muß, und nicht die bloße wissenschaftliche Kritik und Kenntnis von Daten. Die wissenschaftliche Erfahrung kommt bei jedem echten Historiker nebenher oder nachher. Sie beweist mit den Mitteln des Verstehens und Mitteilens umständlich noch einmal, und zwar für das Wachsein, was in einem Augenblick der Erleuchtung für das Dasein schon bewiesen war.“ (Ebd., S. 611Spengler).

„Gerade weil die Gewalt des faustischen Daseins heute einen Umkreis innerer Erfahrungen herausgebildet hat, wie sie nie ein anderer Mensch und nie eine andere Zeit erwerben konnten, gerade weil für uns in immer wachsendem Maße fernste Ereignisse einen Sinn und eine Beziehung erhalten, der für alle andern und auch die nächsten Miterlebenden nicht vorhanden sein konnte, ist heute für uns vieles Geschichte, nämlich Leben im Einklang mit unserem Leben geworden, was es noch vor hundert Jahren nicht war. Für Tacitus hat die Revolution des Ti. Gracchus, deren Daten er vielleicht »wußte«, keine wirkliche Bedeutung mehr, wohl aber für uns. Für keinen Bekenner des Islam bedeutet die Geschichte der Monophysiten und ihre Beziehungen zur Umgebung Mohammeds irgend etwas; wr lernen da die Entwicklung des englischen Puritanismnus unter andern Bedingungen noch einmal kennen. Für den Weltblick einer Zivilisation, deren Schauplatz die ganze Erde geworden ist, gibt es zuletzt nichts ganz Unhistorisches mehr. Das Schema Altertum-Mittelalter-Neuzeit (SpenglerSpengler), wie es das 19. Jahrhundert verstand, enthielt nur eine Auswahl handgreiflicher Beziehungen. Aber die heute beginnende Wirkung frühchinesischer und mexikanischer Geschichte auf uns ist von feinerer, geistigerer Art: wir machen da Erfahrungen von den letzten Notwendigkeiten des Lebens überhaupt. Wir lernen dort an einem andern Lebensverlauf uns selbst kennen, wie wir sind, wie wir sein müssen und sein werden; das ist die große Schule unserer Zukunft. Wir, die wir noch Geschichte haben und Geschichte machen, erfahren hier an der äußersten Grenze der historischen Menschheit, was Geschichte ist.“ (Ebd., S. 612Spengler).

„Wenn zwischen zwei Negestämmen des Sudan oder zwischen Cheruskern und Chatten oder, was wesentlich dasselbe ist, zwischen zwei Ameisenvölkern eine Schlacht stattfindet, so ist das lediglich ein Schauspiel der lebendigen Natur. Wenn die Cherusker aber im Jahre 9 die Römer schlagen, oder die Azteken die Thaskalaner, so ist das Geschichte. Hier ist das Wann von Bedeutung; hier wiegt jedes Jahrzehnt, selbst jedes Jahr. Es handelt sich um das Fortschreiten eines großen Lebenslaufs, in dem jede Entscheidung den Rang einer Epoche einnimmt. Es ist ein Ziel da, auf das alles Geschehen zutreibt, ein Dasein, das seine Bestimmung erfüllen will, ein Tempo, eine organische Dauer, und nicht das regellose Auf und Ab der Skythen, Gallier, Karaiben, dessen Vorfälle im einzelnen ebenso belanglos sind wie die in einer Biberkolonie oder einer Steppe voller Gazellenherden. Dies ist zoologisches Geschehen und gehört in eine Einstellung von ganz andrer Art: es kommt da nicht auf das Schicksal von einzelnen Völkern und Herden an, sondern auf das Schicksal des Menschen und das der Gazelle oder Ameise als Art. Der primitive Mensch hat Geschichte nur im biologischen Sinne. Auf ihre Ermittlung läuft alle prähistorische Forschung hinaus. Die zunehmende Vertrautheit mit Feuer, Steinwerkzeugen, Metallen und den mechanischen Gesetzen der Waffenwirkung kennzeichnet nur die Entwicklung des Typus und der in ihm ruhenden Möglichkeiten. Was mit diesen Waffen bei einem Kampf zwischen zwei Stämmen erzielt wird, ist im Rahmen dieser Art von Geschichte völlig gleichgültig. Steinzeit und Barock: das sind Altersstufen im Dasein einer Gattung und einer Kultur, also zweier Organismen, die im Bereich zweier grundverschiedener Einstellungen liegen. Ich protestiere hier gegen zwei Annahmen, die alles historische Denken bis jetzt verdorben haben: gegen die Annahme eines Endziels der gesamten Menschheit und gegen die Leugnung von Endzielen überhaupt. Das Leben hat ein Ziel. (SpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpengler). Es ist die Erfüllung dessen, was mit seiner Zeugung gesetzt war. Aber der einzelne Mensch gehört durch seine Geburt entweder einer der hohen Kulturen an oder nur dem menschlichen Typus überhaupt. Eine dritte große Lebenseinheit gibt es für ihn nicht. Aber damit liegt sein Schicksal entweder im Rahmen der zoologischen oder der »Weltgeschichte«. Der »historische Mensch«, wie ich das Wort verstehe und wie es alle großen Historiker immer gemeint haben, ist der Mensch einer in Vollendung begriffenen Kultur. Vorher, nachher und außerhalb ist er geschichtslos. Dann sind die Schicksale des Volkes, zu dem er gehört, ebenso gleichgültig wie das Schicksal der Erde, wenn man es nicht im Bilde der Geologie, sondern der Astronomie betrachtet.“ (Ebd., S. 612-613Spengler).

„Und daraus folgt eine ganz entscheidende und hier zum erstenmal festgestellte Tatsache: daß der Mensch nicht nur vor dem Entstehen einer Kultur geschichtslos ist, sondern wieder geschichtslos wird, sobald eine Zivilisation sich zu ihrer vollen und endgültigen Gestalt herausgebildet und damit die lebendige Entwicklung der Kultur beendet, die letzten Möglichkeiten eines sinnvollen Daseins erschöpft hat. Was wir in der ägyptischen Zivilisation seit Sethos I. (1300) und in der chinesischen, indischen und arabischen noch heute vor uns sehen, ist wieder das zoologische Auf und Ab des primitiven Zeitalters, mag es sich auch in noch so durchgeistigte religiöse, philosophische und vor allem politische Formen hüllen. Ob in Babylon die Kossäer als wüste Soldatenhorde oder die Perser als feine Erben sitzen; wann, wie lange und mit welchem Erfolg sie das tun, ist von Babylon aus gesehen ohne Bedeutung. Für das Behagen der Bevölkerung war es gewiß nicht gleichgültig, aber an der Tatsache, daß die Seele dieser Welt erloschen war und deshalb alle Ereignisse einer tieferen Bedeutung entbehrten, änderte sich damit nichts. Eine neue, fremde oder einheimische Dynastie in Ägypten, eine Revolution oder Eroberung in China, eine neues Germanenvolk im römischen Reiche, das gehört zur Geschichte der Landschaft wie eine Änderung im Wildbestand oder der Ortswechsel eines Vogelschwarmes. Was in der wirklichen Geschichte höherer Menschen immer auf dem Spiel stand und allen tierhaften Machtfragen zugrunde lag, auch wenn der Treibende oder Getriebene sich nicht im geringsten der Symbolik seiner Taten, Absichten und Geschicke bewußt wurde, das war die Verwirklichung von etwas durchaus Seelenhaftem (SpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpenglerSpengler), die Überführung einer Idee in eine lebendig historische Gestalt. Das gilt ebenso von dem Ringen zwischen großen Stilrichtungen in der Kunst - Gotik und Renaissance -, oder zwischen Philosophen - Stoiker und Epikuräer -, oder Staatsgedanken - Oligarchie und Tyrannis -, oder Wirtschaftsformen - Kapitalismus und Sozialismus.“ (Ebd., S. 613-614Spengler).

„Von alledem ist nicht mehr die Rede. Was übrig bleibt, ist der Kampf um die bloße Macht, um den animalischen Vorteil an sich. Und wenn vorher selbst die scheinbar ideenloseste Macht noch in irgend einer Weise der Idee dient, so ist in späten Zivilisationen selbst der überzeugendste Schein einer Idee nur die Maske für rein zoologische Machtfragen.“ (Ebd., S. 614Spengler).

„Was die indische Philosophie vor und nach Buddha unterscheidet, ist dort die große Bewegung auf ein mit der indischen Seele und in ihr gesetztes Ziel des indischen Denkens, und hier das immer neue Hin- und Herwenden eines Denkbestandes, der dadurch nicht anders wird. Die Lösungen sind da, aber man ändert den Geschmack in der Art, sie auszusprechen. Und dasselbe gilt von der chinesischen Malerei vor und nach dem Beginn der Han-Dynastie - mögen wir sie kennen oder nicht - und von der ägyptischen Architektur vor und nach dem Beginn des Neuen Reiches. In der Technik steht es nicht anders. Die abendländischen Erfindungen der Dampfmaschine und Elektrizität kommen unter den Chinesen heute in ganz derselben Weise - und mit derselben religiösen Scheu - in Aufnahme wie vor viertausend Jahren die Bronze und der Pflug und noch viel früher das Feuer. Beides unterscheidet sich seelisch vollständig von den Erfindungen, welche die Chinesen der Dschouzeit selbst gemacht haben und die für ihre innere Geschichte jedesmal eine Epoche bedeuteten. (Spengler). Vorher und nachher spielen Jahrhunderte nicht entfernt mehr die Rolle wie die Jahrzehnte und oft einzelne Jahre innerhalb der Kultur, denn die Zeiträume der Biologie kommen allmählich wieder zur Geltung. Das gibt diesen sehr späten Zuständen, welche für ihre Träger etwas ganz Selbstverständliches haben, den Charakter jener feierlichen Dauer, den echte Kulturmenschen wie Herodot in Ägypten und seit Marco Polo die Westeuropäer in China im Vergleich mit dem Tempo der eigenen Entwicklung staunend wahrgenommen haben. Es ist die Dauer der Geschichtslosigkeit.“ (Ebd., S. 615Spengler).

„Ist nicht mit Actium und der pax Romana die antike Geschichte zu Ende? Große Entscheidungen, in denen sich der innere Sinn einer ganzen Kultur zusammendrängt, kommen nicht mehr vor. Der Unsinn, die Zoologie beginnt zu herrschen. Es wird gleichgültig - für die Welt, nicht für die handelnden Privatpersonen -, ob ein Ereignis so oder so ausgeht. Alle großen Fragen der Politik sind gelöst, wie sie in allen Zivilisationen zuletzt gelöst werden: indem man Fragen nicht mehr als solche empfindet; indem man nicht mehr fragt. Es dauert nicht lange und man versteht auch nicht mehr, was bei früheren Katastrophen an Problemen eigentlich zugrunde lag. Was man nicht an sich selbst erlebt, erlebt man auch nicht an andern. Wenn die späten Ägypter von der Hyksoszeit, die späten Chinesen von der entsprechenden »Zeit der kämpfenden Staaten« reden, so beurteilen sie das äußere Bild nach ihrer Art zu leben, die keine Rätsel mehr kennt. Sie sehen da bloße Kämpfe um die Macht; sie sehen nicht, daß diese verzweifelten äußeren und inneren Kriege, in denen man die Fremden gegen die eigenen Mitbürger aufrief, um eine Idee geführt wurden. Wir verstehen heute, was um die Ermordung des Ti. Gracchus und des Clodius in furchtbaren Spannungen und Entladungen vor sich ging. 1700 konnten wir es noch nicht und 2200 werden wir es nicht mehr verstehen. Genau so steht es mit jenem Chian, einer napoleonischen Erscheinung, für welche die ägyptischen Historiker später nur noch die Bezeichnung »Hyksoskönig« ausfindig machten. Wären die Germanen nicht gekommen, so hätte die römische Geschichtsschreibung ein Jahrtausend später vielleicht aus Gracchus, Marius, Sulla und Cicero eine Dynastie gemacht, die von Cäsar gestützt wurde.“ (Ebd., S. 615-616Spengler).

„Man vergleiche den Tod des Ti. Gracchus mit dem Neros, als die Nachricht von der Erhebung Galbas nach Rom kam, oder den Sieg Sullas über die Marianer mit dem des Septimius Severus über Pescennius Niger. Hätte das entgegengesetzte Ergebnis im zweiten Falle am Gange der Kaiserzeit irgend etwas geändert? Es geht bereits viel zu weit, wenn Mommsen und Ed. Meyer (Cäsars Monarchie und das Prinzipat des Pompejus, 1918, S. 501ff.Meyer) einen sorgfältigen Unterschied zwischen der »Monarchie« Cäsars und dem »Prinzipat« des Pompejus oder Augustus machen. Das sind jetzt leere staatsrechtliche Formeln; fünfzig Jahre vorher wäre es noch der Gegensatz zweier Ideen gewesen. Wenn Vindex und Galba 68 »die Republik« wiederherstellen wollten, so spielten sie mit einem Begriff in einer Zeit, für die es Begriffe von echter Symbolik nicht mehr gab. Es stand nur noch in Frage, in wessen Hände die rein materielle Gewalt kommen würde. Die immer negerhafteren Kämpfe um den Cäsarentitel hätten sich noch durch Jahrhunderte fortspinnen können, in immer primitiveren und deshalb »ewigeren« Formen.“ (Ebd., S. 616-617Spengler).

„Diese Bevölkerungen haben keine Seele mehr. Sie können deshalb keine eigne Geschichte mehr haben. Sie können höchstens in der Geschichte einer fremden Kultur die Bedeutung eines Objektes erhalten und es ist ausschließlich dieses fremde Leben, welches von sich aus den tieferen Sinn dieser Beziehung bestimmt. Was auf dem Boden alter Zivilisationen überhaupt noch geschichtsartig wirkt, ist also nie der Gang der Ereignisse, insofern der Mensch dieses Bodens selbst in ihnen mitspielt, sondern insofern andre es tun. Aber damit ist das Gesamtphänomen »Weltgeschichte« wieder in seinen zwei Elementen sichtbar geworden: Lebensläufe großer Kulturen und die Beziehungen zwischen ihnen.“ (Ebd., S. 617Spengler).

Anfang des Kapitels„Die Beziehungen zwischen den Kulturen“

„Obwohl sie das zweite und die Kulturen das erste sind, so urteilt das moderne historische Denken doch umgekehrt. Je weniger es die eigentlichen Lebensläufe erkennt, aus denen sich die scheinbare Einheit des Weltgeschehens zusammensetzt, desto eifriger sucht es das Leben im Gewebe der Beziehungen, desto weniger versteht es mithin auch von diesen. Wie reich ist die Psychologie dieses Aufsuchens, Abwehrens, Wählens, Umdeutens, Verführens, Eindringens, Sichanbietens, und zwar sowohl zwischen den Kulturen, die sich unmittelbar berühren, bewundern, bekämpfen, als zwischen einer lebenden Kultur und der Formenwelt einer toten, deren Reste noch sichtbar in der Landschaft stehen! Und wie eng und arm sind die Vorstellungen, welche demgegenüber der Historiker mit den Worten Einfluß, Fortdauer und Fortwirkung verbindet!“ (Ebd., S. 617Spengler).

„Das ist echtes 19. Jahrhundert. Man sieht nur noch eine Kette von Ursachen und Wirkungen. Alles »folgt«, nichts ist ursprünglich. Weil überall Formenelemente der Oberfläche älterer Kulturen sich bei jüngeren wiederfinden, so haben sie »fortgewirkt«, und wenn man eine Reihe von solchen Fortwirkungen beisammen hat, so glaubt man etwas Rechtes getan zu haben.“ (Ebd., S. 617-618Spengler).

„Zugrunde liegt dieser Betrachtungsweise das Bild der sinnvoll-einheitlichen Menschengeschichte, wie es einst den großen Gotikern aufging. Da sah man, wie auf Erden Menschen und Völker wechselten und die Ideen blieben. Der Eindruck dieses Bildes war gewaltig und hat sich noch heute nicht verloren. Ursprünglich war es der Plan, den Gott mit dem Menschengeschlecht verfolgte; aber auch später noch konnte man sehen, solange der Bann des Schemas Altertum-Mittelalter-Neuzeit (SpenglerSpengler) anhielt und man nur das scheinbar Dauernde, nicht das tatsächlich sich Verändernde bemerkte. Inzwischen ist unser Blick anders geworden, kühler und weiter, und unser Wissen hat die Grenzen dieses Schemas längst überschritten. Wer heute noch so sieht, steht auf der falschen Seite.“ (Ebd., S. 618Spengler).

„Zwei Kulturen können sich von Mensch zu Mensch berühren oder der Mensch der einen die tote Formenwelt der andern in ihren mitteilbaren Resten sich gegenübersehen. Tätig ist in jedem Falle der Mensch allein. Die gewordene Tat des einen kann von einem andern nur aus dessen Dasein heraus beseelt werden. Sie wird damit sein inneres Eigentum, sein Werk und ein Teil seines Selbst. Nicht »der Buddhismus« ist von Indien nach China gewandert, sondern es wurde aus dem Vorstellungsschatz der indischen Buddhisten ein Teil von den Chinesen einer besonderen Gefühlsrichtung angenommen und zu einer neuen Art des religiösen Ausdrucks gemacht, die ausschließlich für chinesische Buddhisten etwas bedeutete. Es kommt nie auf den ursprünglichen Sinn der Form an, sondern auf die Form selbst, in welcher das tätige Empfinden und Verstehen des Betrachters die Möglichkeit zu eigner Schöpfung entdeckt. Bedeutungen sind unübertragbar. Die tiefe seelische Einsamkeit, die sich zwischen das Dasein zweier Menschen von verschiedener Art legt, wird durch nichts gemindert. Mögen sich damals Inder und Chinesen gemeinsam als Buddhisten empfunden haben, sie standen sich innerlich deshalb nicht weniger fern. Es sind dieselben Worte, dieselben Bräuche, dieselben Zeichen - aber zwei verschiedene Seelen, die ihre eigenen Wege gehen.“ (Ebd., S. 620Spengler).

„Man kann daraufhin alle Kulturen untersuchen .... Wie steht es denn mit der den »ewigen Errungenschaften« in der Philosophie und Wissenschaft?  Wir müssen immer wieder hören, wieviel von der griechischen Philosophie noch heute fortlebt. Aber das bleibt eine Redensart ohne eine gründliche Aufstellung dessen, was erst der magische und dann der faustische Mensch mit der tiefen Weisheit ungebrochener Instinkte abgelehnt, nicht bemerkt oder unter Beibehaltung der Formeln planmäßig anders verstanden hat. Der naive Glaube gelehrter Begeisterung täuscht sich hier.“ (Ebd., S. 621Spengler).

Weil es von vornherein feststand, was man ausdrücken wollte, und man also von dem toten Bestand, den man vor sich hatte, nur das wenige wirklich sah, was man wünschte, und zwar so, wie man es wünschte, nämlich in der Richtung der eignen Absicht und nicht der des Schöpfers, über die kleine lebendige Kunst je ernstlich nachgedacht hat. Man muß den »Einfluß« der ägyptischen auf die frühgriechische Plastik Zug um Zug verfolgen, um endlich zu sehen, daß ein Einfluß gar nicht vorhanden ist, sondern daß das griechische Formwollen jenen alten Kunstbeständen einige Merkmale entnahm, die es auch ohne sie in irgend einer Art gefunden hätte. .... Ich wiederhole: man sieht immer nur die Beziehungen, die zugelassen worden sind. Was alles ist aber nicht zugelassen worden?  Warum befinden sich z.B. die ägyptischen Pyramiden, Pylonen, Obelisken, die Hieroglyphen- und Keilschrift nicht darunter ? .... Man kann die gänzlich unbewußte Weisheit der Auswahl und der ebenso entschlossenen Umdeutung gar nicht hoch genug einschätzen. Jede beziehung, die zugelassen wird, ist nicht nur eine Ausnahme, sondern auch ein Mißverständnis, und die innere Kraft eines Daseins äußert sich vielleicht nirgends so deutlich wie in dieser Kunst des planmäßigen Mißverstehens.“ (Ebd., S. 621-622 Spengler).

„Je lauter man die Prinzipien eines fremden Denkens rühmt, desto gründlicher hat man sicherlich ihren Sinn verändert. Man gehe doch dem Lobe Platos im Abendlande einmal genau nach! .... Je demütiger man eine fremde Religion annimmt, desto vollkommener hat sie bereits die Form der neuen Seele angenommen. Es sollte wirklich einmal die Geschichte der »drei Aristoteles« geschrieben werden, nämlich des griechischen, arabischen und gotischen, die nicht einen Begriff, nicht einen Gedanken gemein haben. Oder die Geschichte der Verwandlung des magischen in das faustische Christentum! Wir hören und lernen, daß diese Religion sich im Westen unverändert von der alten Kirche aus über das Abendland verbreitet hat. In Wirklichkeit entwickelte der magische Mensch aus der ganzen Tiefe seines dualistischen Weltbewußtseins eine Sprache seines religiösen Wachseins, die wir »das« Christentum nennen. Was von diesem Erlebnis mitteilbar war, Worte, Formeln, Gebräuche, nahm der Mensch der spätantiken Zivilisation als Mitte für sein religiöses Bedürfnis an; von Mensch zu Mensch ging diese Formensprache bis zu den Germanen der abendländischen Vorkultur, in den Wortklängen immer dasselbe, in den Bedeutungen immer etwas anderes.“ (Ebd., S. 622-623Spengler).

„Schon das spätantike Recht der kaiserlichen Erlasse vor Konstantin (constitutiones, placita) gilt, obwohl die römische Form des Stadtrechts streng gewahrt wird, ganz eigentlich für die Gläubigen der »synkretistischen Kirche« (vgl. Bd. II, S. 799 ff. Der Ausdruck kann gewagt werden, weil die Anhänger aller spätantiken Kulte durch ein frommes Gemeingefühl ebenso zusammengehalten wurden wie die christlichen Einzelgemeinden), jener Masse von Kulten, die alle von derselben Religiosität durchdrungen sind. Während im damaligen Rom das Recht von einem großen Teil der Bevölkerung sicher noch als das Recht eines Stadtstaates empfunden wurde, verlor sich das Gefühl mit jedem Schritt nach Osten. Die Zusammenfassung der Gläubigen zu einer Rechtsgemeinschaft geschah in aller Form durch den Kaiserkult, der durchaus göttliches Recht war.“ (Ebd., S. 635-636Spengler).

„Aber hier ist das hochzivilisierte Recht einer greisen Kultur der Frühzeit einer jungen aufgenötigt worden. Es kam als gelehrte Literatur herüber, und zwar infolge der politischen Entwicklung, die ganz anders geworden wäre, wenn Alexander und Cäsar länger gelebt oder Antonius bei Actium gesiegt hätte. Wir müssen die früharabische Rechtsgeschichte von Ktesiphon und nicht von Rom aus betrachten. Ist das innerlich längst abgeschlossene Recht des fernen Westens hier mehr als bloße Literatur gewesen? Welchen Anteil hatte es am wirklichen Rechtsdenken, der Rechtsschöpfung und Rechtspraxis dieser Landschaft? Und wieviel Römisches, ja Antikes überhaupt ist in ihm selbst erhalten geblieben? (Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht, S. 13, hat schon 1891 auf den orientalischen Zug in der Gesetzgebung Konstantins aufmerksam gemacht. Collinet, Études historiques sur le droit de Justinien I [1912] führt, übrigens meist auf Grund deutscher Forschungen, unendlich vieles auf hellenistisches Recht zurück; aber wieviel von diesem »Hellenistischen« war wirklich griechisch und nicht nur griechisch geschrieben? Die Ergebnisse der Interpolationenforschung sind für den »antiken« Geist der Digesten Justinians wahrhaft vernichtend.)“ (Ebd., S. 638Spengler).

„Recht des Abendlandes. - Und deshalb sei es hier in aller Schärfe gesagt: Das antike Recht war ein Recht von Körpern, unser Recht ist das von Funktionen. Die Römer schufen eine juristische Statik, unsere Aufgabe ist eine juristische Dynamik. .... Für einen Römer war der Sklave eine Sache, die neue Sachen hervorbrachte. Der Begriff des geistigen Eigentums ist einem Schriftsteller wie Cicero nie gekommen, geschweige denn der des Eigentums an einer praktischen Idee oder den Möglichkeiten einer großen Begabung. Für uns aber ist der Organisator, Erfinder und Unternehmer eine erzeugende Kraft, die auf andere, ausführende Kräfte wirkt, indem sie ihnen Richtung, Aufgabe und Mittel zu eigener Wirkung gibt. Beide gehören dem Wirtschaftsleben an nicht als Besitzer von Sachen, sondern als Träger von Energien. Eine Umstellung des gesamten Rechtsdenkens nach Analogie der höheren Physik und Mathematik wird zur Forderung der Zukunft. Das gesamte soziale, wirtschaftliche, technische Leben wartet darauf, endlich in diesem Sinne begriffen zu werden; wir brauchen mehr als ein Jahrhundert schärfsten und tiefsten Denkens, um dies Ziel zu erreichen. Und dazu bedarf es einer ganz andern Art der Vorbildung des Juristen. Sie fordert 1.) eine unmittelbare ausgedehnte und praktische Erfahrung im Wirtschaftsleben der Gegenwart, 2.) eine genaue Kenntnis der Rechtsgeschichte des Abendlandes, unter beständiger Vergleichung der deutschen, englischen und romanischen Entwicklung, 3.) die Kenntnis des antiken Rechts, und zwar nicht als eines Musters der heute geltenden Begriffe, sondern als glänzendes Beispiel dafür, wie ein Recht sich rein aus dem praktischen Leben der Zeit entwickelt. - Das römische Recht hat aufgehört, für uns der Ursprung der für immer gültigen Grundbegriffe zu sein. Aber das Verhältnis zwischen dem römischen Dasein und den römischen Rechtsbegriffen macht es uns von neuem wertvoll. Wir können an ihm lernen, wie wir unser Recht aus eignen Erfahrungen herauszubilden haben.“ (Ebd., S. 654-655Spengler).

NACH OBEN „Städte und Völker“ (S. 656-783):

• I. Die Seele der Stadt (S. 656-687) • Mykene und Kreta [S. 656] • Der Bauer [S. 660] • Weltgeschichte ist Stadtgeschichte [S. 661] • Stadtbild [S. 664] • Stadt und Geist [S. 669] • Geist der Weltstadt [S. 673] • Unfruchtbarkeit und Zerfall [S. 678]  • II. Völker, Rassen, Sprachen (S. 688-745) • Daseinsströme und Wachseinsverbindungen [S. 690] • Ausdruckssprache und Mitteilungssprache [S. 691] • Totem und Tabu [S. 693] • Sprache und Sprechen [S. 694] • Das Haus als Rasseausdruck [S. 698] • Burg und Dom [S. 701] • Die Rasse [S. 703] • Blut und Boden [S. 708] • Die Sprache [S. 712] • Mittel und Bedeutung [S. 717] • Wort, Grammatik [S. 721 • Sprachgeschichte 731 • Schrift [S. 737] • Morphologie der Kultursprachen [S. 741]  • III. Urvölker, Kulturvölker, Fellachenvölker (S. 746-783) • Völkernamen, Sprachen, Rassen [S. 746] • Wanderungen [S. 750] • Volk und Seele [S. 754] • Die Perser [S. 756] • Morphologie der Völker [S. 759] • Volk und Nation [S. 761] • Antike, arabische, abendländische Nationen [S. 765].

Anfang des Kapitels„Die Seele der Stadt“

„In Karl dem Großen tritt jene Mischung urmenschlichen Seelentums kurz vor dem Erwachen und einer späten darüber gelagerten Geistigkeit hell zutage.“ (Ebd., S. 657Spengler).

„Der ursprüngliche Mensch ist ein schweifendes Tier, ein Dasein, dessen Wachsein sich ruhelos durch das Leben tastet, ganz Mikrokosmos, ortsfrei und heimatlos, mit scharfen und ängstlichen Sinnen, immer darauf bedacht, der feindlicllen Natur etwas abzujagen. Eine tiefe Wandlung beginnt erst mit dem Ackerbau - denn dies ist etwas Künstliches, wie es Jägern und Hirten durchaus fern liegt: wer gräbt und pflügt, will die Natur nicht plündern, sondern abändern. Pflanzen heißt etwas nicht nehmen, sondern erzeugen. Aber damit wird man selbst zur Pflanze, nämlich Bauer. Man wurzelt in dem Boden, den man bestellt. Die Seele des Menschen entdeckt eine Seele in der Landschaft; eine neue Erdverbundenlleit des Daseins, ein neues Fühlen meldet sich. Die feindliche Natur wird zur Freundin. Die Erde wird zur Mutter Erde. Zwischen säen und zeugen, Ernte und Tod, Kind und Korn entsteht eine tiefgefühlte Beziehung. Eine neue Frömmigkeit richtet sich in chtonischen Kulten auf das fruchttragende Land, das mit den Menschen zusammenwächst. Und als vollkommener Ausdruck dieses Lebensgefühls entsteht überall die sinnbildliche Gestalt des Bauernhauses, das in der Anlage seiner Räume und in jedem Zuge seiner äußeren Form vom Blut der Bewohner redet. Das Bauernhaus ist das große Symbol der Seßhaftigkeit. Es ist selbst Pflanze; es senkt seine Wurzeln tief in den »eigenen« Boden. Es ist Eigentum im heiligsten Sinne. Die guten Geister des Herdes und der Tür, des Grundstücks und der Räume: Vesta, Janus, die Laren und Penaten haben ihren festen Ort so gut wie der Mensch selbst.“ (Ebd., S. 660Spengler).

„Dies ist die Voraussetzung jeder Kultur, die selbst wieder pflanzenhaft aus ihrer Mutterlandschaft emporwächst und die seelische Verbundenheit des Menschen mit dem Boden noch einmal vertieft. Was dem Bauern sein Haus, das ist dem Kulturmenschen die Stadt. Was dem einzelnen Hause die guten Geister, das ist jeder Stadt ihr Schutzgott oder Heiliger. Auch die Stadt ist ein pflanzenhaftes Wesen. Alles Nomadenhafte, alles rein Mikrokosmische liegt ihr ebenso fern wie das Bauerntum. Deshalb ist jede Entwickllmg einer höheren Formensprache an die Landschaft gebunden. Weder eine Kunst noch eine Religion können den Ort ihres Wachstums verändern. Erst die Zivilisation mit ihren Riesenstädten verachtet wieder diese Wurzeln des Seelentums und löst sich von ihnen. Der zivilisierte Mensch, der intellektuelle Nomade ist wieder ganz Mikrokosmos, ganz heimatlos, geistig frei wie die Jäger und Hirten es sinnlich waren. Ubi bene ibi patria - das gilt vor und nach einer Kultur. Irn Vorfrühling der Völkerwanderung war es die jungfräuliche und doch schon miitterliche Germanensehnsucht, die im Süden eine Heimat suchte, um für ihre künftige Kultur ein Nest zu bauen. Heute, am Ende dieser Kultur, schweift der wurzellose Geist durch alle landschaftlichen und gedanklichen Möglichkeiten. Dazwischen aber liegt die Zeit, wo der Mensch fiir ein Stück Erde stirbt.“ (Ebd., S. 660-661Spengler).

„Es ist eine ganz entscheidende und in ihrer vollen Bedeutung nie gewürdigte Tatsache, daß alle großen Kulturen Stadtkulturen sind. Der höhere Mensch des zweiten Zeitalters ist ein städtebauendes Tier. Das ist das eigentliche Kriterium der »Weltgeschichte«, das sie von der Menschengeschichte überhaupt auf das Schärfste abhebt - Weltgeschichte ist die Geschichte des Stadtmenschen. Völker, Staaten, Politik und Religion, alle Künste, alle Wissenschaften beruhen auf einem Urphänomen menschlichen Daseins: der Stadt. Da alle Denker aller Kulturen selbst in Städten leben - auch wenn sie sich körperlich auf dem Lande befinden -, so wissen sie gar nicht, ein wie bizarres Ding die Stadt ist. Wir müssen uns ganz in das Erstaunen eines Urmenschen versetzen, der zum ersten Mal inmitten der Landschaft diese Masse von Stein und Holz erblickt, mit ihren steinumgebenen Straßen und steinbelegten Plätzen, ein Gehäuse von seltsamster Form, in dem es von Menschen wimmelt.“ (Ebd., S. 661Spengler).

„Das eigentliche Wunder ist die Geburt der Seele einer Stadt. Als Massenseele von ganz neuer Art, deren letzte Gründe für uns ein ewiges Geheimnis bleiben werden, sondert sie sich plötzlich ab aus dem allgemeinen Seelentum ihrer Kultur. Ist sie erwacht, so bildet sie sich einen sichtbaren Leib. Aus der dörflichen Sammlung von Gehöften, von denen jedes seine eigene Geschichte hat, entsteht ein Ganzes. Und diese Ganze lebt, atmet, wächst, erhält ein Antlitz, eine innere Form und Geschichte. Von nun ist außer dem einzelnen Hause, dem Tempel, dem Dom, dem Palast auch das Stadtbild als Einheit der Gegenstand einer Formensprache und Stilgeschichte, welche den ganzen Lebenslauf einer Kultur begleitet.“ (Ebd., S. 661-662Spengler).

„Es versteht sich, daß nicht der Umfang, sondern das Vorhandensein einer Seele Stadt und Dorf unterscheidet. Es gibt nicht nur in primitiven Zuständen wie im heutigen Inner-Afrika, sondern auch im späten China und Indien und in allen Industriegebieten des modernen Europa und Amerika sehr große Siedlungen, die trotzdem keine Städte sind. Sie sind Mittelpunkte des Landes, aber sie bilden innerlich keine Welt für sich. Sie haben keine Seele. Jede primitive Bevölkerung lebt durchaus bäuerlich und landmäßig. Das Wesen »Stadt« ist für sie nicht vorhanden. Was sich äußerlich vom Dorfe abhebt, ist nicht eine Stadt, sondern ein Markt, ein bloßer Treffpunkt ländlicher Lebensinteressen, bei welchem von einem Sonderleben keine Rede sein kann. Die Bewohner eines Marktes, auch wenn sie Handwerker oder Kaufleute sind, leben und denken doch als Bauern. Wir müssen genau nachfühlen, was es heißt, wenn aus einem urägyptischen, urchinesischen oder germanischen Dorf, einem Pünktchen im weiten Lande, eine Stadt wird, die sich äußerlich vielleicht durch nichts unterscheidet, die aber seelisch der Ort ist, von dem aus der Mensch das Land jetzt als »Umgebung« erlebt, als etwas anderes und Untergeordnetes. Von nun an gibt es zwei Leben, das drinnen und das draußen, und der Bauer empfindet das ebenso deutlich wie der Bürger. Der Dorfschmied und der Schmied in der Stadt, der Dorfschulze und der Bürgermeister leben in zwei verschiedenen Welten. Der Landmensch und der Stadtmensch sind vcrschiedene Wesen. Zuerst fühlen sie den Unterschied, dann werden sie von ihm beherrscht; zuletzt verstehen sie sich nicht mehr. Ein märkischer und ein sizilischer Bauer stehen sich heute näher als der märkische Bauer dem Berliner. Von dieser Einstellung an gibt es wirkliche Städte und diese Einstellung ist es, welche dem gesamten Wachsein aller Kulturen mit Selbstverständlichkeit zugrunde liegt.“ (Ebd., S. 662Spengler).

„Jede Frühzeit einer Kultur ist zugleich die Frühzeit eines neuen Städtewesens. Den Menschen der Vorkultur erfüllt eine tiefe Scheu vor diesen Gebilden, zu denen er innerlich kein Verhältnis gewinnen kann. Am Rhein und der Donau siedelten sich die Germanen vielfach - z. B. in Straßburg - vor den Toren der Römerstädte an, die unbewohnt liegen blieben. (Vgl. Georg Dehio, Geschichte der deutschen Kunst, 1919, S. 13f.). In Kreta haben die Eroberer auf dem Trümmerschutt der niedergebrannten Städte wie Gurnia und Knossos ein Dorf angelegt. Die Orden der abendländischen Vorkultur ... siedeln wie die Ritter auf freiem Lande. Erst die Franziskaner und Dominikaner bauen sich in den frühgotischen Städten an: da ist die neue Stadtseele eben erwacht. Aber auch da liegt in allen Bauten, in der gesamten Franziskanerkunst noch eine zarte Schwermut, eine fast mystische Furcht des einzelnen vor dem Neuen, Hellen, Wachen, das von der Gesamtheit noch dumpf hingenommen wird. Man wagt es kaum, kein Bauer mehr zu sein. Erst die Jesuiten leben mit dem reifen und überlegenen Wachsein echt großstädtischer Menschen. Es ist ein Symbol der unbedingten Vorherrschaft des Landes, das die Stadt noch nicht anerkennt, wenn die Herrscher jeder Frühzeit in wandernden Pfalzen Hof halten. Im ägyptischen Alten Reiche liegt der stark bevölkerte Verwaltungssitz an der »Weißen Mauer« beim Ptahtempel im späteren Memphis, aber die Residenzen der Pharaonen wechseln unaufhörlich wie im sumerischen Babylonien und im Karolingerreich. (Vgl. Eduard Meyer, Geschichte des Altertums [I], 1884, S. 188). Die frühchinesischen Herrscher der Dschou-Dynastie haben seit 1109 ihre Pfalz in der Regel zu Loh-yang (heute Ho-nan-fu), aber erst seit 770, was unserem 16. Jahrhundert entspricht, wird der Ort zur dauernden Residenzstadt erhoben.“ (Ebd., S. 662-663Spengler).

„Nirgends hat sich das Gefühl der Erdverbundenheit, des Pflanzenhaft-Kosmischen so mächtig ausgesprochen wie in der Architektur dieser winzigen frühen Städte, die kaum mehr sind als ein paar Straßen um einen Markt, eine Burg oder ein Heiligtum. Wenn es irgendwo deutlich wird, daß jeder große Stil selbst eine Pflanze ist, so hier. Die dorische Säule, die ägyptische Pyramide, der gotische Dom wachsen streng, schicksalhaft, ein Dasein ohne Wachsein aus dem Boden; die ionische Säule und die Bauten des Mittleren Reiches und des Barock ruhen voll erwacht, selbstbewußt, frei und sicher auf ihm. Da ist, von den Mächten der Landschaft abgetrennt, durch das Pflaster unter den Füßen gleichsam abgeschnitten, das Dasein matter, das Empfinden und Verstehen immer mächtiger geworden. Der Mensch wird »Geist«, »frei« und dem Nomaden wieder ähnlicher, aber enger und kälter. »Geist« ist die spezifisch städtische Form des verstehenden Wachseins. Alle Kunst, alle Religion und Wissenschaft wird langsam geistig, dem Lande fremd, dem erdhaften Bauern unverständlich. Mit der Zivilisation tritt das Klimakterium ein. Die uralten Wurzeln des Daseins sind verdorrt in den Steinmassen ihrer Städte. Der freie Geist - ein verhängnisvolles Wort! - erscheint wie eine Flamme, die prachtvoll aufsteigt und jäh in der Luft verlodert.“ (Ebd., S. 663-664Spengler).

„Alle politische und Wirtschaftsgeschichte kann nur begriffen werden, wenn man die vom Lande sich mehr und mehr absondernde und das Land zuletzt völlig entwertende Stadt als Gebilde erkennt, welches den Gang und Sinn der höhere Geschichte überhaupt bestimmt.“ (Ebd., S. 667Spengler).

Weltgeschichte ist Stadtgeschichte.“ (Ebd., S. 667Spengler).

„Alle wirkliche Geschichte beginnt damit, daß die Urstände, Adel und Priestertum, sich als solche bilden und über das Bauerntum erheben. .... Der Bauer ist geschichtslos. ... Der Bauer ist der ewige Mensch, unabhängig von aller Kultur, die in den Städten nistet. Er geht ihr vorauf, er überlebt sie, dumpf und von Geschlecht zu Geschlecht sich fortzeugend, auf erdverbundene Berufe und Fähigkeiten beschränkt, eine mystische Seele, ein trockener, am Praktischen haftender Verstand, der Ausgang und die immer fließende Quelle des Blutes, das in den Städten die Weltgeschichte macht. Was die Kultur dort in den Städten ersinnt, an Staatsformen und Wirtschaftssitten, Glaubenssätzen, Werkzeugen, an Wissen und Kunst, nimmt er mißtrauisch und zögern d endlich hin, ohne deshalb je seine Art zu ändern. .... Seine Götter sind sind älter als jede höhere Religion. Nehmt den Druck der großen Städte von ihm und er wird ohne Entbehrung in seinen natürlichen Zustand zurückkehren. Seine wirkliche Ethik, seine wirkliche Metaphysik, die kein Stadtgelehrter je der Entdeckung für würdig gehalten hat, leigen außerhalb aller Religions- und Geistesgeschichte. Sie haben überhaupt keine Geschichte.“ (Ebd., S. 668-669Spengler).

„Die Stadt ist Geist. Die Großstadt ist der »freie Geist«, Das Bürgertum, der Stand des Geistes, beginnt mit seiner Auflehnung gegen die - »feudalen« - Mächte des Blutes und der Tradition sich seines Sonderdaseins bewußt zu werden. .... Der städtische Geist reformiert die große Religion der Frühzeit und setzt neben die alte ständische eine bürgerliche Religion, die freie Wissenschaft.“ (Ebd., S. 669-670Spengler).

„Die Stadt übernimmt die Leitung der Wirtschaftsgeschichte, indem sie an die Stelle der Urwerte des Landes, wie sie vom bäuerlichen Leben nie zu trennen sind, den von den Gütern abgelösten Begriff des Geldes setzt. Das uralte ländliche Wort für den Güterverkehr ist Tausch. Selbst wo es sich um die Vertauschung eines Dinges gegen Edelmetall handelt, liegt dem Vorgang kein »Gelddenken« zugrunde, welches vom Dinge der Wert begrifflich trennt und in eine fiktive oder metallene Größe bindet, deren Bestimmung es von da an ist, das »andere«, »die Ware« zu messen. Karavanenzüge und Wikingerfahrten der Frühzeit erfolgen zwischen ländlichen Siedlungen und bedeuten Tausch und Beute. Zur Spätzeit erfolgen sie zwischen Städten und bedeuten »Geld«.“ (Ebd., S. 670Spengler).

„Eine Epoche tritt ein, wenn die Stadt sich so gewaltig entwickelt hat, daß sie sich nicht mehr gegen das Land behaupten muß, gegen Bauerntum und Ritterschaft, sondern daß das Land mit seinen Urständen eine hoffnungslose Verteidigung gegen die Alleinherrschaft der Stadt führt, geistig gegen den Rationalismus, politisch gegen die Demokratie, wirtschaftlich gegen das Geld. In dieser Zeit ist die Zahl der Städte, welche als historisch führende in Betracht kommen, schon sehr klein geworden. Es entsteht der tiefe, vor allem seelische Unterschied von Großstadt und Kleinstadt, welch letztere unter dem sehr bezeichnenden Namen Landschaft ein Teil des aktiv nicht mehr mitzählenden Landes wird. Der Gegensatz zwischen dem Landmenschen und Stadtmenschen ist in diesen kleinen Städten nicht geringer geworden, aber er verschwindet vor dem neuen Abstand, der sich zwischen sie und die Großstadt legt. Bäuerlich-kleinstädtische Schlauheit und großstädtische Intelligenz sind zwei Formen verstehenden Wachseins, zwischen denen eine Verständigung kaum möglich ist. Es ist klar, daß es sich auch hier nicht um die Einwohnerzahl, sondern um den Geist handelt. Es ist auch deutlich, daß in allen großen Städten sich Winkel erhalten, in denein Fragmente einer fast ländlich gebliebenen Menschheit in ihren Gassen wie auf dem Lande leben, wo die Bewohner über die Straße weg in fast dörflichen Beziehungen zueinander stehen. Es führt eine Pyramide von immer städtischer geprägten Wesen von diesen fast bäuerlichen Menschen über immer engere Schichten bis zu der geringen Zahl echter Großstadtmenschen, die überall zu Hause sind, wo ihre seelischen Voraussetzungen erfüllt werden.“ (Ebd., S. 670-671Spengler).

„Damit hat auch der Begriff Geld seine volle Abstraktheit erlangt. Er dient nicht mehr dem Verstehen des wirtschaftlichen Verkehrs; er unterwirft den Warenumlauf seiner eigenen Entwicklung. Er wertet die Dinge nicht mehr untereinander, sondern in bezug auf sich. Seine Beziehung zum Boden und den damit verwachsenen Menschen ist so vollständig verschwunden, daß sie für das wirtschaftliche Denken der führenden Städte - der »Geldplätze« - nicht mehr in Betracht kommt. Das Geld ist jetzt eine Macht, und zwar eine rein geistige, durch das Metall nur repräsentierte Macht im Wachsein der Oberschicht der wirtschaftlich tätigen Bevölkerung geworden, welche die mit ihm beschäftigten Menschen ebenso von sich abhängig macht, wie früher die Erde den Bauern. Es gibt ein »Denken in Geld«, wie es ein mathematisches und juristisches Denken gibt.“ (Ebd., S. 671Spengler).

„Aber der Boden ist etwas Wirkliches und Natürliches, das Geld etwas Abstraktes und Künstliches, eine bloße Kategorie wie »die Tugend« im Denken der Aufklärung. Daraus folgt, daß jede ursprüngliche, also stadtlose Wirtschaft von den kosmischen Mächten, dem Boden, dem Klima, dem Menschenschlage abhängig und damit in Schranken gehalten ist, während das Geld als reine Verkehrsform innerhalb des Wachseins einen von der Wirklichkeit ebensowenig begrenzten Kreis von Möglichkeiten hat wie die Größen der mathematischen und logischen Welt. Wie kein Blick auf die Tatsachen uns hindert, nichteuklidische Geometrien in beliebiger Zahl zu konstruieren, liegt innerhalb der ausgebildeten großstädtischen Wirtschaft kein Hindernis mehr vor, das »Geld« zu vermehren, gewissermaßen in andem Gelddimensionen zu denken, was mit der etwaigen Vermehrung des Goldes oder überhaupt der wirklichen Werte durchaus nichts zu tun hat. Es gibt keinen Maßstab und keine Art von Gütern, an denen man den Wert eines Talentes zur Zeit der Perserkriege und in der ägyptischen Beute des Pompejus vergleichen könnte. Das Geld ist für den Menschen als zwon oikonomikon eine Form des tätigen Wachseins geworden, die keinerlei Wurzeln im Dasein mehr besitzt. Darauf beruht seine ungeheure Macht über jede beginnende Zivilisation, die jedesmal eine unbedingte Diktatur dieses »Geldes« in einer für jede Kultur versclriedenen Gestalt ist, darin aber auch der Mangel an Halt, durch den es zuletzt seine Macht und seinen Sinn verliert und aus dem Denken einer späten Zivilisation wie der Zeit Diokletians völlig verschwindet, um den bodenständigen Urwerten wieder Platz zu machen.“ (Ebd., S. 671-672Spengler).

„Es entsteht zuletzt das ungeheure Symbol und Behältnis des völlig frei gewordenen Geistes, die Weltstadt, der Mittelpunkt, in dem sich endlich der Gang der Weltgeschichte vollkommen konzentriert: jene ganz wenigen Riesenstädte aller reifen Zivilisationen, welche die gesamte Mutterlandschaft ihrer Kultur durch den Begriff Provinz ächten und entwerten. Provinz ist jetzt alles, Land, Kleinstadt und Großstadt, mit Ausnahme dieser zwei oder drei Punkte. Es gibt nicht mehr Adlige und Bürger, nicht mehr Freie und Sklaven, nicht mehr Hellenen und Barbaren, nicht mehr Rechtgläubige und Ungläubige, sondern nur noch Weltstädtler und Provinzler. Alle anderen Gegensätze verblassen vor diesem einen, der alle Ereignisse, Lebensgewohnheiten lmd Weltanschauungen beherrscht.“ (Ebd., S. 672Spengler).

„Der Steinkoloß »Weltstadt« steht am Ende des Lebenslaufes einer jeden großen Kultur. Der vom Lande seelisch gestaltete Kulturmensch wird von seiner eigenen Schöpfung, der Stadt, in Besitz genommen, besessen, zu ihrem Geschöpf, ihrem ausführenden Organ, endlich zu ihrem Opfer gemacht. Diese steinerne Masse ist die absolute Stadt. Ihr Bild, wie es sich mit seiner großartigen Schönheit in die Lichtwelt des menschlichen Auges zeichnet, enthält die ganze erhabene Todessymbolik des endgültig »Gewordenen«. Der durchseelte Stein gotischer Bauten ist im Verlauf einer tausendjährigen Stilgeschichte endlich zum entseelten Material dieser dämonischen Steinwüste geworden. Diese letzten Städte sind ganz Geist. Ihre Häuser sind nicht mehr wie noch die der ionischen und Barockstädte Abkömmlinge des alten Bauernhauses, von dem einst die Kultur ihren Ausgang nahm. Sie sind überhaupt nicht mehr Häuser, in denen Vesta und Janus, die Penaten und Laren irgendeine Stätte besitzen, sondern bloße Behausungen, welche nicht das Blut, sondern der Zweck, nicht das Gefühl, sondern der wirtschaftliche Unternehmensgeist geschaffen hat. Solange der Herd im frommen Sinne der wirkliche, bedeutsame Mittelpunkt einer Familie ist, solange ist die letzte Beziehung zum Lande nicht geschwunden. Erst wenn auch das verloren geht und die Masse der Mieter und Schlafgäste in diesem Häusermeer ein irrendes Dasein von Obdach zu Obdach führt, wie die Jäger und Hirten der Vorzeit, ist der intellektuelle Nomade völlig ausgebildet. Diese Stadt ist eine Welt, ist die Welt. Sie hat als Ganzes die Bedeutung einer menschlichen Wohnung. Die Häuser sind nur die Atome, welche sie zusammensetzen. Jetzt beginnen die alten gewachsenen Städte mit ihrem gotischen Kern aus Dom, Rathaus und spitzgiebligen Gassen, um deren Türme und Tore die Barockzeit einen Ring von gesteigerten, helleren Patrizierhäusern, Palästen und Hallenkirchen gelegt hatte, nach allen Seiten in formloser Masse überzuquellen, mit Haufen von Mietskasernen und Zwecklbauten sich in das verödende Land hineinzufressen, das ehrwürdige Antlitz der alten Zeit durch Umbauten und Durchbrüche zu zerstören. Wer von einem Turm auf das Häusermeer herabsieht, erkennt in dieser steingewordenen Geschichte eines Wesens genau die Epoche, wo das organische Wachstum endet und die anorganische und deshalb unbegrenzte, alle Horizonte überschreitende Häufung beginnt. Und jetzt entstehen auch die künstlichen, mathematischen, vollkommen landfremden Gebilde einer reingeistigen Freude am Zweckmäßigen, die Städte der Stadtbaumeister, die in allen Zivilisationen dieselbe schachbrettartige Form, das Symbol der Seelenlosigkeit anstreben. Diese regelmäßigen Häuserquadrate haben Herodot in Babylon und die Spanier in Tenochtitlan angestaunt. In der antiken Welt beginnt die Reihe der »abstrakten« Städte mit Thurioi, das Hippodamos von Milet 441 (v. Chr.) »entwarf«. Priene, wo das Schachbrettmuster die Bewegtheit der Grundfläche vollkommen ignoriert, Rhodos, Alexandria folgen als Vorbilder zahlloser Provinzstädte der Kaiserzeit. Die islamischen Baumeister haben seit 762 Bagdad und ein Jahrhundert später die Riesenstadt Samarra am Tigris planmäßig angelegt. In der westeuropäisch-amerikanischen Welt ist das erste Beispiel der Grundriß von Washington (1791). Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Weltstädte der Hanzeit in China und die der Maurya-Dynastie in Indien dieselben geometrischen Formen besessen haben. Die Weltstädte der westeuropäisch-amerikanischen Zivilisation haben noch bei weitem nicht den Gipfel ihrer Entwicklung erlangt. Ich sehe - lange nach 2000 - Stadtanlagen für zehn bis zwanzig Millionen Menschen, die sich über weite Landschaften verteilen, mit Bauten, gegen welche die größten der Gegenwart zwerghaft wirken, und Verkehrsgedanken, die uns heute als Wahnsinn erscheinen würden.“ (Ebd., S. 673-675Spengler).

„Selbst in dieser letzten Gestalt seines Daseins ist das Formideal des antiken Menschen noch der körperliche Punkt. Während die Riesenstädte der Gegenwart unseren ganzen Hang zum Unendlichen zur Schau tragen: die Durchsetzung einer weiten Landschaft mit Vororten und Villenkolonien, ein mächtiges Netz von Verkehrsmitteln jeder Art nach allen Seiten und innerhalb des dicht bebauten Geländes ein geregelter Schnellverkehr in, unter und über breiten Straßenzügen, will die echt antike Weltstadt sich nicht ausbreiten, sondern immer mehr verdichten: die Straßen eng und schmal, jeden Eilverkehr ausschließend, wie er doch auf den römischen Heerstraßen voll ausgebildet war; keine Neigung, vor der Stadt zu wohnen oder auch nur die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Die Stadt soll auch jetzt noch ein Körper sein, dicht und rund, soma im strengsten Sinne. Der Synoikismos, der in der antiken Frühzeit allenthalben die Landbevölkerung in die Stadt gezogen und damit erst den Typus der Polis geschaffen hatte, wiederholt sich am Ende noch einmal in absurder Form: jeder will in der Mitte der Stadt wohnen, in ihrem dichtesten Kerne, sonst fühlt er sich nicht als Mensch einer Stadt. Alle diese Städte sind nur City, nur Innenstadt. Der neue Synoikismos bildet statt der Vorortzone die Welt der oberen Stockwerke aus. Rom hatte im Jahre 74 trotz der ungeheuren Kaiserbauten den geradezu lächerlichen Umfang von 19,5 km. Dies führt dahin, daß diese Körper überhaupt nicht in die Breite, sondern unablässig in die Höhe wuchsen. Die Mietskasernen Roms, wie die berüchtigte Insula Feliculae, erreichten bei einer Straßenbreite von 3-5 Metern Höhen, die im Abendlande noch nirgends und in Amerika nur in wenigen Städten vorkommen. Beim Capitol hatten unter Vespasian die Dächer schon die Höhe des Bergsattels erreicht. Ein grauenvolles Elend, eine Verwilderung aller Lebensgewohnheiten, die schon jetzt zwischen Giebeln und Mansarden, in Kellern und Hinterhöfen einen neuen Urmenschen züchten, hausen in jeder dieser prachtvollen Massenstädte. Das ist in Bagdad und Babylon nicht anders gewesen wie in Tenochtitlan und heute in London und Berlin. Diodor erzählt von einem abgesetzten ägyptischen König, der zu Rom in einer jämmerlichen Mietswohnung in einem hochgelegenen Stockwerk hausen mußte. Aber kein Elend, kein Zwang, selbst nicht die klare Einsicht in den Wahnsinn dieser Entwicklung setzt die Anziehungskraft dieser dämonischen Gebilde herab. Das Rad des Schicksals rollt dem Ende zu; die Geburt der Stadt zieht ihren Tod nach sich. Anfang und Ende, Bauernhaus und Häuserblock verhalten sich wie Seele und Intelligenz, wie Blut und Stein. Aber »Zeit« ist nicht umsonst ein Wort für die Tatsache der Nichtumkehrbarkeit. Es gibt hier nur ein Vorwärts, kein Zurück. Das Bauerntum gebar einst den Markt, die Landstadt, und nährte sie mit seinem besten Blute. Nun saugt die Riesenstadt das Land aus, unersättlich, immer neue Ströme von Menschen fordernd und verschlingend, bis sie inmitten einer kaum noch bevölkerten Wüste ermattet und stirbt. Wer einmal der ganzen sündhaften Schönheit dieses letzten Wunders aller Geschichte verfallen ist, der befreit sich nicht wieder. Ursprüngliche Völker können sich vom Boden lösen und in die Ferne wandern. Der geistige Nomade kann es nicht mehr. Das Heimweh nach der großen Stadt ist stärker vielleicht als jedes andere. Heimat ist für ihn jede dieser Städte, Fremde ist schon das nächste Dorf. Man stirbt lieber auf dem Straßenpflaster, als daß man auf das Land zurückkehrt. Und selbst der Ekel vor dieser Herrlichkeit, das Müdesein vor diesem Leuchten in tausend Farben, das taedum vitae, das zuletzt manche ergreift, befreit sie nicht. Sie tragen die Stadt mit sich in ihre Berge und an das Meer. Sie haben das Land in sich verloren und finden es draußen nicht wieder.“ (Ebd., S. 675-677Spengler).

„Was den Weltstadtmenschen unfähig macht, auf einem anderen als diesem künstlichen Boden zu leben, ist das Zurücktreten des kosmischen Taktes in seinem Dasein, während die Spannungen des Wachseins immer gefährlicher werden. Man vergesse nicht, daß in einem Mikrokosmos die tierhafte Seite, das Wachsein, zum pflanzenhaften Dasein hinzutritt, nicht umgekehrt. Takt und Spannung, Blut und Geist, Schicksal und Kausalität verhalten sich wie das blühende Land zur versteinerten Stadt, wie etwas, das für sich da ist, zu einem andern, das von ihm abhängt. Spannung ohne den kosmischen Takt, der sie durchseelt, ist der Übergang zum Nichts. Aber Zivilisation ist nichts als Spannung. Die Köpfe aller zivilisierten Menschen von Rang werden ausschließlich von dem Ausdruck der stärksten Spannung beherrscht. Intelligenz ist nichts als Fähigkeit zu angespanntestem Verstehen. Diese Köpfe sind in jeder Kultur der Typus ihres »letzten Menschen«. Man vergleiche damit Bauernköpfe, wenn sie im Straßengewühl einer Großstadt auftauchen. Der Weg von der bäuerlichen Klugheit - der Schlauheit, dem Mutterwitz, dem Instinkt, die wie bei allen klugen Tieren auf gefühltem Takt beruhen - über den städtischen Geist zur weltstädtischen Intelligenz - das Wort gibt schon in dem scharfen Klange die Abnahme der kosmischen Unterlage vortrefflich wieder - läßt sich auch als die beständige Abnahme des Schicksalsgefühls und die hemmungslose Zunahme des Bedürfnisses nach Kausalität bezeichnen. Intelligenz ist der Ersatz unbewußter Lebenserfahrung durch eine meisterhafte Übung im Denken, etwas Fleischloses, Mageres. Die intelligenten Gesichter aller Rassen sind einander ähnlich. Es ist die Rasse selbst, die in ihnen zurücktritt. Je weniger ein Gefühl für das Notwendige und Selbstverständliche des Daseins besteht, je mehr die Gewohnheit um sich greift, sich alles »klar zu machen«, desto mehr wird die Angst des Wachseins kausal gestillt. Daher die Gleichsetzung von Wissen und Beweisbarkeit und der Einsatz des religiösen Mythos durch den kausalen: die wissenschaftliche Theorie. Daher das abstrakte Geld als die reine Kausalität des wirtschaftlichen Lebens im Gegensatz zum ländlichen Güterverkehr, der Takt ist und nicht ein System von Spannungen.“ (Ebd., S. 677-678Spengler).

„Die intellektuelle Spannung kennt nur noch eine, die spezifisch weltstädtische Form der Erholung; die Entspannung, die »Zerstreuung«. Das echte Spiel, die Lebensfreude, die Lust, der Rausch sind aus dem kosmischen Takt geboren und werden in ihrem Wesen gar nicht mehr begriffen. Aber die Ablösung intensivster praktischer Denkarbeit durch ihren Gegensatz, die mit Bewußtsein betriebene Trottelei, die Ablösung der geistigen Anspannung durch die körperliche des Sports, der körperlichen durch die sinnliche des »Vergnügens« und die geistige der »Aufregung« des Spiels und der Wette, der Ersatz der reinen Logik der täglichen Arbeit durch die mit Bewußtsein genossene Mystik - das kehrt in allen Weltstädten aller Zivilisationen wieder. Kino, Expressionismus, Theosophie, Boxkämpfe, Niggertänze, Poker und Rennwetten - man wird das alles in Rom wiederfinden, und ein Kenner sollte einmal die Untersuchung auf die indischen, chinesischen und arabischen Weltstädte ausdehnen. Um nur eins zu nennen: wenn man das Kamasutram liest, versteht man, was für Leute am Buddhismus ebenfalls Geschmack fanden; und man wird nun auch die Stierkampfszenen in den kretischen Palästen mit ganz anderem Auge betrachten. Es liegt ein Kult zugrunde, ohne Zweifel, aber es ist ein Parfüm darüber gebreitet wie über den fashionablen stadtrömischen Isiskult in der Nachbarschaft des Circus Maximus.“ (Ebd., S. 678Spengler).

„Und nun geht aus der Tatsache, daß das Dasein immer wurzelloser, das Wachsein immer angespannter wird, endlich jene Erscheinung hervor, die im stillen längst vorbereitet war und jetzt plötzlich in das helle Licht der Geschichte rückt, um dem ganzen Schauspiel ein Ende zu bereiten: die Unfruchtbarkeit des zivilisierten Menschen. Es handelt sich hier nicht um etwas, das sich mit alltäglicher Kausalität, etwa physiologisch, begreifen ließe, wie es die moderne Wissenschaft selbstverständlich versucht hat. Hier liegt eine durchaus metaphysische Wendung zum Tode vor. Der letzte Mensch der Weltstädte will nicht mehr leben, wohl als einzelner, aber nicht als Typus, als Menge; in diesem Gesamtwesen erlischt die Furcht vor dem Tode. Das, was den echten Bauern mit einer tiefen und unerklärlichen Angst befällt, der Gedanke an das Aussterben der Familie und des Namens, hat seinen Sinn verloren. Die Fortdauer des verwandten Blutes innerhalb der sichtbaren Welt wird nicht mehr als Pflicht dieses Blutes, das Los, der Letzte zu sein, nicht mehr als Verhängnis empfunden. Nicht nur weil Kinder unmöglich geworden sind, sondern vor allem weil die bis zum äußersten gesteigerte Intelligenz keine Gründe für ihr Vorhandensein mehr findet, bleiben sie aus.“ (Ebd., S. 678-679Spengler).

Man versenke sich in die Seele eines Bauern, der von Urzeiten her auf seiner Scholle sitzt oder von ihr Besitz ergriffen hat, um dort mit seinem Blute zu haften. Er wurzelt hier als der Enkel von Ahnen und der Ahn von künftigen Enkeln. Sein Haus, sein Eigentum: das bedeutet hier nicht ein flüchtiges Zusammengehören von Leib und Gut für eine kurze Spanne von Jahren, sondern ein dauerndes und inniges Verbundensein von ewigem Land und ewigem Blute: erst damit, erst aus dem Seßhaftwerden im mystischen Sinne erhalten die großen Epochen des Kreislaufs, Zeugung, Geburt und Tod jenen metaphysischen Zauber, der seinen sinnbildlichen Niederschlag in Sitte und Religion aller landfesten Bevölkerungen findet. Das alles ist für den »letzten Menschen« nicht mehr vorhanden. Intelligenz und Unfruchtbarkeit sind in alten Familien, alten Völkern, alten Kulturen nicht nur deshalb verbunden, weil innerhalb jedes einzelnen Mikrokosmos die über alles Maß angespannte tierhafte Lebensseite die pflanzenhafte aufzehrt, sondern weil das Wachsein die Gewohnheit einer kausalen Regelung des Daseins annimmt. Was der Verstandesmensch mit einem äußerst bezeichnenden Ausdruck Naturtrieb nennt, wird von ihm nicht nur »kausal« erkannt, sondern auch gewertet und findet im Kreise seiner übrigen Bedürfnisse den angemessenen Platz.“ (Ebd., S. 679-680Spengler).

„Die große Wendung tritt ein, sobald es im alltäglichen Denken einer hochkultivierten Bevölkerung für das Vorhandensein von Kindern »Gründe« gibt.“ (Ebd., S. 680Spengler).

„Die Natur kennt keine Gründe. Überall, wo es wirkliches Leben gibt, herrscht eine innere organische Logik, ein »es«, ein Trieb, die vom Wachsein und dessen kausalen Verkettungen durchaus unabhängig sind und von ihm gar nicht bemerkt werden. Der Geburtenreichtum ursprünglicher Bevölkerungen ist eine Naturerscheinung, über deren Vorhandensein niemand nachdenkt, geschweige denn über ihren Nutzen oder Schaden. Wo Gründe für Lebensfragen überhaupt ins Bewußtsein treten, da ist das Leben schon fragwürdig geworden. Da beginnt eine weise Beschränkung der Geburtenzahl - die bereits Polybios (ca. 200-120Polybios) als das Verhängnis Griechenlands beklagt, die aber schon lange vor ihm in den großen Städten üblich war und in römischer Zeit einen erschreckenden Umfang angenommen hat -, die zuerst mit der materiellen Not und sehr bald überhaupt nicht mehr begründet wird. Da beginnt denn auch ... die Wahl der »Lebensgefährtin« - der Bauer und jeder ursprüngliche Mensch wählt die Mutter seiner Kinder - ein geistiges Problem zu werden. Die Ibsenehe, die »höhere geistige Gemeinschaft« erscheint, in welcher beide »frei« sind, frei nämlich als Intelligenzen, und zwar vom pflanzenhaften Drange des Blutes, das sich fortpflanzen will; und Shaw darf den Satz aussprechen, »daß die Frau sich nicht emanzipieren kann, wenn sie nicht ihre Weiblichkeit, ihre Pflicht gegen ihren Mann, gegen ihre Kinder, gegen die Gesellschaft, gegen das Gesetz und gegen jeden, außer gegen sich selbst, von sich wirft«. (Shaw). Das Urweib, das Bauernweib ist Mutter. Seine ganze von Kindheit an ersehnte Bestimmung liegt in diesem Worte beschlossen. Jetzt aber taucht das Ibsenweib auf, die Kameradin, die Heldin einer ganz weltstädtischen Literatur vom nordischen Drama bis zum Pariser Roman. Statt der Kinder haben sie seelische Konflikte, die Ehe ist eine kunstgewerbliche Aufgabe und es kommt darauf an, sich »gegenseitig zu verstehen«. Es ist ganz gleichgültig, ob eine amerikanische Dame für ihre Kinder keinen zureichenden Grund findet, weil sie keine season versäumen will, eine Pariserin, weil sie fürchtet, daß ihr Liebhaber davongeht, oder eine Ibsenheldin, weil sie »sich selbst gehört«. Sie gehören alle sich selbst und sie sind alle unfruchtbar. Dieselbe Tatsache in Verbindung mit denselben »Gründen« findet sich in der alexandrinischen und römischen und selbstverständlich in jeder anderen zivilisierten Gesellschaft, ... und es gibt überall ... eine Ethik für kinderarme Intelligenzen und eine Literatur über die inneren Konflikte von Nora und Nana.“ (Ebd., S. 680-681Spengler).

Kinderreichtum, dessen ehrwürdiges Bild Goethe im Werther noch zeichnen konnte, wird etwas Provinziales. Der kinderreiche Vater ist in Großstädten eine Karikatur - Ibsen hat sie nicht vergessen; sie steht in seiner »Komödie der Liebe«.“ (Ebd., S. 681Spengler).

„Auf dieser Stufe beginnt in allen Zivilisationen das mehrhundertjährige Stadium einer entsetzlichen Entvölkerung. Die ganze Pyramide des kulturfähigen Menschentums verschwindet. Sie wird von der Spitze herab abgebaut, zuerst die Weltstädte, dann die Provinzstädte, endlich das Land, das durch die über alles Maß anwachsende Landflucht seiner besten Bevölkerung eine Zeitlang das Leerwerden der Städte verzögert. Nur das primitive Blut bleibt zuletzt übrig, aber seiner starken und zukunftreichen Elemente beraubt. Es entsteht der Typus des Fellachen.“ (Ebd., S. 681Spengler).

„Wenn irgend etwas, so beweist der allbekannte »Untergang der Antike«, der sich lange vor dem Einbruch der germanischen Wandervölker vollendete, daß Kausalität mit Geschichte nichts zu tun hat. (Zum Folgenden vgl. Eduard Meyer, Kleine Schriften, 1910, S. 145ff.). Das Imperium genießt den vollkommensten Frieden; es ist reich; es ist hochgebildet; es ist gut organisiert; es besaß von Nerva (reg. 96-98) bis Marc Aurel (reg. 161-180) eine Herrscherreihe, wie sie der Cäsarismus keiner zweiten Zivilisation aufzuweisen hat. Und trotzdem schwindet die Bevölkerung rasch und in Masse hin, trotz der verzweifelten Ehe- und Kindesgesetzgebung des Augustus (reg. 27 v. Chr. - 14 n. Chr.), dessen lex de maritandis ordinibus (Mehr) auf die römische Gesellschaft bestürzender wirkte als die Niederlage des Varus (9 n. Chr.), trotz der massenhaften Adoptionen, der ununterbrochenen Ansiedlung von Soldaten barbarischer Herkunft, um Menschen in die verödende Landschaft zu bringen, trotz der ungeheuren Alimentationsstiftungen des Nerva (reg. 96-98) und Trajan (reg. 98-117), um die Kinder unbemittelter Eltern aufzuziehen. Italien, dann Nordafrika und Gallien, endlich Spanien, das unter den ersten Kaisern am dichtesten von allen Teilen des Reiches bevölkert war, sind menschenleer und verödet. Das berühmte und bezeichnenderweise in der modernen Volkswirtschaft immer wiederholte Wort des Plinius: latifundia perdidere Italiam, jam vero et provincias, verwechselt Anfang und Ende des Prozesses: der Großgrundbesitz hätte nie diese Ausdehnung gewonnen, wenn das Bauerntum nicht vorher von den Städten aufgesogen worden wäre und das Land zum mindesten innerlich bereits preisgegeben hätte. (Mehr). Das Edikt des Pertinax von 193 enthüllt endlich den erschreckenden Stand der Dinge: In Italien und den Provinzen wird jedem gestattet, verödetes Land in Besitz zu nehmen. Wenn er es bebaut, soll er Eigentumsrecht darüber erhalten. Die Geschichtsschreiber brauchten sich den übrigen Zivilisationen nur ernsthaft zuzuwenden, um die gleiche Erscheinung überall festzustellen. Im Hintergrund der Ereignisse des Neuen Reiches, vor allem von der 19. Dynastie an (seit 1345 v. Chr.), ist eine gewaltige Abnahme der Bevölkerung deutlich zu verspüren. Ein Stadtbau, wie ihn Amenophis IV. (reg. 1377-1358) in Tell el Amarna ausführte, mit Straßenzügen bis zu 45 m Breite, wäre bei der früheren Bevölkerungsdichte undenkbar gewesen, und ebenso die notdürftige Abwehr der »Seevölker«, deren Aussichten auf Besitznahme des Reiches damals sicherlich nicht schlechter waren als die der Germanen vom 4. Jahrhundert an, und endlich die unaufhörliche Einwanderung der Libyer in das Delta, wo um 945 v. Chr. einer ihrer Führer (Scheschonk) - genau wie 476 n. Chr. Odoaker - die Herrschaft über das Reich an sich nahm. Aber dasselbe fühlt man aus der Geschichte des politischen Buddhismus seit dem »Cäsar« Asoka (reg. 272-231 in Indien) heraus. (Wir kennen in China im 3. Jh. v. Chr. - also in der chinesischen Augustuszeit! -  Maßnahmen zur Hebung der Bevölkerungsziffer). Wenn die Mayabevölkerung in ganz kurzer Zeit nach der spanischen Eroberung geradezu verschwand und die großen menschenleeren Städte dem Urwald anheimfielen, so beweist das nicht allein die Brutalität der Eroberer, die in diesem Punkte einer jungen und fruchtbaren Kulturmenschheit gegenüber wirkungslos gewesen wäre, sondern ein Erlöschen von innen heraus, das ohne Zweifel schon längst begonnen hatte. Und wenn wir uns der eigenen Zivilisation zuwenden, so sind die alten Familien des französischen Adels zum weitaus größten Teil nicht durch die französische Revolution ausgerottet worden, sondern seit 1815 ausgestorben; die Unfruchtbarkeit breitete sich von ihm auf das Bürgertum und seit 1870 auf die gerade durch die Revolution fast neu geschaffene Bauernschaft aus. In England und noch weit mehr in den Vereinigten Staaten, und zwar gerade in deren wertvollster, alteingewanderter Bevölkerung im Osten, hat der »Rasseselbstmord«, gegen den Roosevelt sein bekanntes Buch geschrieben hat, längst im großen Stile eingesetzt.“ (Ebd., S. 681-683Spengler).

„Deshalb finden wir auch in diesen Zivilisationen schon früh die verödeten Provinzstädte und am Ausgang der Entwicklung die leerstehenden Riesenstädte, in deren Steinmassen eine kleine Fellachenbevölkerung nicht anders haust als die Menschen der Steinzeit in Höhlen und Pfahlbauten. Samarra wurde schon im 10. Jahrhundert verlassen; die Residenz Asokas, Pataliputra, war, als der chinesische Reisende Hsiuen-tsiang sie um 635 besuchte, eine ungeheure, völlig unbewohnte Häuserwüste, und viele der großen Mayastädte müssen schon zur Zeit des Cortez leer gestanden haben. Wir besitzen eine Reihe antiker Schilderungen von Polybios (ca. 200-120Polybios) an (vgl. Polybios, Strabo, Pausanias, Dio Chrysostomus, Avien u.a., vgl. dazu: Eduard Meyer, Kleine Schriften, 1910, S. 164ff.): die altberühmten Städte, deren leerstehende Häuserreihen langsam zusammenstürzen, während auf dem Forum und im Gymnasium Viehherden weiden und im Amphitheater Getreide gebaut wird, aus dem noch die Statuen und Hermen hervorragen. Rom hatte im 5. Jahrhundert die Einwohnerzahl eines Dorfes, aber die Kaiserpaläste waren noch bewohnbar.“ (Ebd., S. 683-684Spengler).

„Damit findet die Geschichte der Stadt ihren Abschluß. Aus dem usprünglichen Markt zur Kulturstadt und endlich zur Weltstadt herangewachsen, bringt sie das Blut und die Seele ihrer Schöpfer dieser großartigen Entwicklung und deren letzter Blüte, dem Geist der Zivilisation zum Opfer und venichtet damit zuletzt auch sich selbst.“ (Ebd., S. 684Spengler).

Bedeutet die Frühzeit die Geburt der Stadt aus dem Lande, die Spätzeit (bei mir: Hochzeit; HBUnterschiedeUnterschiede) den Kampf zwischen Stadt und Land, so ist Zivilisation (bei mir: Spätzeit; HBUnterschiedeUnterschiede) der Sieg der Stadt, mit dem sie sich vom Boden befreit und an dem sie selbst zugrunde geht. Wurzellos, dem Kosmischen abgestorben und ohne Widerruf dem Stein und dem Geiste verfallen, entwickelt sie eine Formensprache, die alle Züge ihres Wesens wiedergibt: nicht die eines Werdens, sondern die eines Gewordenen, eines Fertigen, das sich wohl verändern, aber nicht entwickeln läßt. Und deshalb gibt es nur Kausalität, kein Schicksal, nur Ausdehnung, keine lebendige Richtung mehr. Daraus folgt, daß jede Formensprache einer Kultur samt der Geschichte ihrer Entwicklung am ursprünglichen Orte haftet, daß aber jede zivilisierte Form überall zu Hause ist und deshalb, sobald sie erscheint, auch einer unbegrenzten Verbreitung anheimfällt. Gewiß haben die Hansestädte in ihren nordrussischen Stapelplätzen gotisch und die Spanier in Südamerika im Barockstil gebaut, aber es ist unmöglich, daß auch nur der kleinste Abschnitt der gotischen Stilgeschichte außerhalb Westeuropas verlaufen wäre, und ebensowenig konnte der Stil des attischen und englischen Dramas oder die Kunst der Fuge oder die Religion Luthers und der Orphiker von Menschen fremder Kulturen fortgebildet oder auch nur innerlich angeeignet werden.“ (Ebd., S. 684Spengler).

„Was aber mit dem Alexandrinismus und unserer Romantik entsteht, das gehört allen Stadtmenschen ohne Unterschied. Mit der Romantik beginnt für uns das, was Goethe weitschauend die Weltliteratur nannte; es ist die führende weltstädtische Literatur, der gegenüber sich eine bodenständige, aber belanglose Provinzliteratur überall nur mit Mühe behauptet. Der Staat Venedigs oder Friedrichs des Großen oder das englische Parlament, so wie es wirklich ist und arbeitet, lassen sich nicht wiederholen, aber »moderne Verfassungen« lassen sich in jedem afrikanischen und asiatischen Lande ... »einführen«. .... Und ebenso sind nicht echte Kultursprachen wie das Attische des Sophokles und das Deutsch Luthers, aber die Weltsprachen, die sämtlich wie die griechische Koine, das Arabische, Babylonische, Englische aus der alltäglichen Praxis der Weltstädte hervorgegangen sind, überall erlernbar. Deshalb nehmen in allen Zivilisationen die modernen Städte ein immer gleichförmigeres Gepräge an. Man kann gehen, wohin man will, man trifft Berlin, London und New York überall wieder; und wenn ein Römer reiste, konnte er in Palmyra, Trier, Timgad und in den hellenistischen Städten bis zum Indus und Aralsee seine Säulenstellungen, statuengeschmückten Plätze und Tempel finden. Was aber hier verbreitet wird, ist nicht mehr ein Stil, sondern ein Geschmack, keine echte Sitte, sondern Manieren, und nicht die Tracht, sondern die Mode. Damit ist es denn möglich, daß ferne Bevölkerungen die »ewigen Errungenschaften« einer solchen Zivilisation nicht nur annehmen, sondern in selbständiger Fassung weiterstrahlen. Solche Gebiete einer »Mondlichtzivilisation« sind Südchina und vor allem Japan, die erst seit dem Ausgang der Hanzeit (220) »sinaisiert« wurden, Java als Verbreiterin der brahmanischen Zivilisation und Karthago, das seine Formen von Babylon empfing.“ (Ebd., S. 684-685Spengler).

„Alles das sind Formen eines extremen, von keiner kosmischen Macht mehr gehemmten und gebundenen Wachseins, rein geistig und rein extensiv und deshalb von einer solchen Gewalt der Ausbreitung, daß die letzten und flüchtigsten Austrahlungen sich fast über die ganze Erde verbreitet und übereinander gelegt haben.“ (Ebd., S. 685Spengler).

„Während aber diese Ausbreitung alle Grenzen überschreitet, vollzieht sich und zwar in großartigen Verhältnissen die Ausbildung der inneren Form in drei deutlich unterscheidbaren Stufen: Ablösung von der Kultur - Reinzucht der zivilisierten Form - Erstarrung.“ (Ebd., S. 685Spengler).

„Die letzte, die Idee der Zivilisation selbst, ist im Umriß formuliert und ebenso sind Technik und Wirtschaft im Problemsinne fertig. Aber damit beginnt erst die mächtige Arbeit der Ausführung aller Forderungen und der Anwendung dieser Formen auf das gesamte Dasein der Erde. Erst wenn diese Arbeit getan und die Zivilisation nicht nur ihrer Gestalt, sondern auch ihrer Masse nach endgültig festgestellt ist, beginnt das Festwerden der Form. Stil ist in Kulturen der Pulsschlag des Sicherfüllens. Jetzt entsteht ... der zivilisierte Stil als Ausdruck des Fertigseins. Er ist vor allem in Ägypten und China zu einer prachtvollen Vollkommenheit gelangt, die alle Äußerungen eines im Innern von nun an unveränderlichen Lebens vom Zeremoniell und Ausdruck der Gesichter an bis zu den äußersten feinen und durchgeistigten Formen einer Kunstübung erfüllt.“ (Ebd., S. 686Spengler).

„Von Geschichte im Sinne des Zutreibens auf ein Formideal kann nicht mehr die Rede sein, aber es herrscht eine beständige leichte Bewegtheit der Oberfläche, welche der ein für allemal gegebenen Sprache immer wieder kleine Fragen und Lösungen artistischer Art ablockt. Darin besteht die gesamte uns bekannte »Geschichte« der chinesisch-japanischen Malerei und der indischen Architektur. Und ebenso wie diese Scheingeschichte sich von der wirklichen des gotischen Stils, so unterscheidet sich der Ritter der Kreuzzüge von dem chinesischen Mandarin als der werdende von dem fertigen Stand. Der eine ist Geschichte, der andere hat sie längst überwunden. Denn, wie schon festgestellt wurde, die Geschichte dieser Zivilisationen ist Schein und ebenso die großen Städte, deren Antlitz sich fortwährend verändert, ohne anders zu werden. Und ein Geist dieser Städte ist nicht vorhanden. Sie sind Land in steinerner Form.“ (Ebd., S. 686-687Spengler).

„Was geht hier unter?  Und was bleibt?  Es ist ein bloßer Zufall, daß germanische Völker unter dem Druck der Hunnen die romanische Landschaft besetzten und damit die Entwicklung des »chinesischen« Endzustandes der Antike abbrachen. Den Seevölkern, die seit 1400 v. Chr. in einer bis ins einzelne gleichartigen Wanderung gegen die ägyptische Welt vordrangen, glückte es nur im kretischen Inselgebiet. Ihre mächtigen Züge an der libyschen und phönikischen Küste unter Begleitung von Wikingerflotten sind ebenso gescheitert wie die der Hunnen gegen China. So ist die Antike das einzige Beispiel einer im Augenblick ihrer vollen Reife abgebrochenen Zivilisation. Trotzdem haben die Germanen nur die Oberfläche der Formen zerstört und durch das Leben ihrer eigenen Vorkultur ersetzt. Die »ewige« Unterschicht erreicht man nicht. Sie bleibt, versteckt und durch eine neue Formensprache vollständig überzogen, im Untergrunde der ganzen folgenden Geschichte bestehen ....“ (Ebd., S. 687Spengler).

Anfang des Kapitels„Völker Rassen, Sprachen“

„Es gibt also Daseinsströme und Wachseinsverbindungen. Jene besitzen eine Physiognomie, diesen liegt ein System zugrunde.“ (Ebd., S. 690Spengler).

„Sprache nenne ich die gesamte freie Tätigkeit des wachen Mikrokosmos, insofern sie etwas für andere zum Ausdruck bringt. Pflanzen besitzen kein Wachsein und keine Beweglichkeit und also keine Sprache. Das Wachsein tierischer Wesen aber ist durch und durch ein Sprechen, ob nun der Sinn der einzelnen Akte ein Sprechen sein soll oder nicht und wenn auch der bewußte oder unbewußte Zweck des Tuns in einer ganz anderen Richtung liegt. Ein Pfau spricht sicherlich bewußt, wenn er seinen Schweif entfaltet, aber eine junge Katze, die mit einem Garnknäul spielt, spricht durch die Zierlichkeit ihrer Bewegungen unbewußt zu uns. Jeder kennt den Unterschied in seinen Bewegungen, je nachdem er sich beobachtet weiß oder nicht. Man beginnt plötzlich mit allem, was man tut, bewußt zu »sprechen«.“ (Ebd., S. 690Spengler).

„Damit ergibt sich aber ein sehr bedeutsamer Unterschied in den Arten der Sprache: Sprache, die nur Ausdruck für die Welt ist und deren innere Notwendigkeit in der Sehnsucht alles Lebens liegt, sich vor Zeugen zu verwirklichen, sein Dasein sich selbst zu bezeugen, und Sprache, die von bestimmten Wesen verstanden sein will. Es gibt also Ausdruckssprachen und Mitteilungssprachen. Jene setzen nur ein Wachsein, diese eine Wachseinsverbindung voraus. Verstehen heißt mit dem eigenen Bedeutungsgefühl auf den Eindruck eines Zeichens antworten. Sich verständigen, »Zwiesprache halten«, zu einem »Du« sprechen, heißt also in ihm ein dem eigenen entsprechendes Bedeutungsgefühl voraussetzen. Die Ausdruckssprache vor Zeugen beweist nur das Vorhandensein eines Ich. Die Mitteilungssprache setzt ein Du. Ich ist das Sprechende. Du ist das, was die Sprache des Ich verstehen soll. Für den primitiven Menschen kann ein Baum, ein Stein, eine Wolke ein Du sein. Alle Gottheiten sind Du. Im Märchen gibt es nichts, was nicht mit dem Menschen Zwiesprache halten könnte. Und wir brauchen uns nur in Augenblicken zorniger Erregung oder dichterischen Schwunges zu ertappen, um zu wissen, daß noch heute jedes Ding ein Du für uns werden kann. Und endlich spricht jeder denkende Mensch mit sich selbst wie mit einem Du. Erst am Du erwacht auch das Wissen von einem Ich. »Ich« ist also eine Bezeichnung für die Tatsache, daß eine Brücke zu einem anderen Wesen vorhanden ist.“ (Ebd., S. 691Spengler).

Totem und Tabu. Je rätselhafter und vieldeutiger sie werden, desto mehr hat man gefühlt, daß mit ihnen die letzten Lebensgründe nicht nur der primitiven Menschheit angerührt wurden. Und aus der hier vorgelegten Untersuchung folgt nunmehr die eigentliche Bedeutung beider: Totem und Tabu bezeichnen den letzten Sinn von Dasein und Wachsein, Schicksal und Kausalität, Rasse und Sprache, Zeit und Raum, Sehnsucht und Angst, Takt und Spannung, Politik und Religion. Die Totemseite des Lebens ist pflanzenhaft und gehört allen Wesen an, die Tabuseite ist tierhaft und setzt die freie Bewegung des Wesens in einer Welt voraus. Wir besitzen die Totemorgane des Blutkreislaufs und der Fortpflanzung und die Tabuorgane der Sinne und Nerven. Alles was zum Totem gehört, besitzt Physiognomie, alles was Tabu ist, hat System. Im Totemistischen liegt das Gemeingefühl von Wesen, die ein und demselben Daseinsstrome angehören. Es läßt sich nicht übertragen und nicht beseitigen, es ist eine Tatsache, die Tatsache im eminenten Sinne. Alles was Tabu ist, kennzeichnet Wachseinsverbindungen; es ist erlernbar und übertragbar und eben deshalb ein behütetes Geheimnis von Kultgemeinden, Denkerschulen und Künstlergilden, die alle eine Art von Geheimsprache besitzen. (Es versteht sich, daß totemistische Tatsachen, insofern sie vom Wachsein bemerkt werden, auch eine Tabubedeutung erhalten, wie vieles im Geschlechtsleben, das den Menschen mit einer tiefen Angst erfüllt, weil es seinem Verstehenwollen entzogen bleibt.)“ (Ebd., S. 693Spengler).

„Das Haus ist der reinste Rasseausdruck, den es überhaupt gibt. Von dem Augenblick an, wo der seßhaft werdende Mensch nicht mehr mit einem Obdach vorlieb nimmt, sondern eine feste Wohnung für sich baut, ist dieser Ausdruck vorhanden und er unterscheidet innerhalb der Rasse »Mensch«, welche dem biologischen Weltbilde angehört, die Menschenrassen der eigentlichen Weltgeschichte, Daseinsströme von einer viel seelenhafteren Bedeutung. Die Urform des Hauses ist durchaus gefühlt und gewachsen. Man weiß gar nichts von ihr. Wie die Schale des Nautilus, wie der Bienenstock, wie die Nester der Vögel ist sie von innerer Selbstverständlichkeit und alle Züge ursprünglicher Sitte und Form des Daseins, des Ehe- und Familienlebens, der Stammesordnung haben im Grundriß und seinen Haupträumen, Diele, Halle, Megaron, Atrium, Hof, Kemenate, Gynaikeion ihr Ebenbild. Man braucht nur die Anlage des altsächsischen und des römischen Hauses zu vergleichen, um zu fühlen, daß die Seele dieser Menschen und die Seele ihres Hauses ein und dasselbe sind.“ (Ebd., S. 698Spengler).

„Die Kunstgeschichte hätte sich dieses Gebietes nie bemächtigen sollen. Es war ein Irrtum, den Bau des Wohnhauses für einen Teil der Baukunst zu halten. Diese Form ist aus der dunklen Gewohnheit des Daseins, nicht für das Auge entstanden, welches Formen im Licht sucht, und kein Architekt hat je daran gedacht, die Raumverteilung des Bauernhauses wie die eines Domes zu behandeln. Diese bedeutsame Grenze der Kunst ist der Forschung entgangen, obwohl gelegentlich Dehio (Geschichte der Deutschen Kunst, 1919, S. 14) bemerkt, daß das altgermanische Holzhaus nichts mit der späteren großen Architektur zu tun habe, die ganz unabhängig davon entstanden sei. Deshalb besteht eine immerwährende methodische Verlegenheit, welche die Kunstwissenschaft wohl empfunden, aber nicht begriffen hat. Sie bringt in allen Vor- und Frühzeiten unterschiedslos Geräte, Waffen, Keramik, Gewebe, Grabstätten und Häuser und zwar sowohl der Form als der Verzierung nach zusammen und gewinnt erst mit der organischen Geschichte der Malerei, Plastik und Architektur, also der in sich geschlossenen Sonderkünste, festen Boden. Aber hier scheiden sich klar und deutlich zwei Welten, die des Seelenausdrucks und die der Ausdruckssprache für das Auge. Das Haus und ebenso die völlig unbewußten Grund-, d.h. Gebrauchsformen der Gefäße, Waffen, Kleidung und Geräte gehören zur Totemseite. Sie kennzeichnen nicht einen Geschmack, sondern die Kampfweise, Wohnweise und Arbeitsweise. Jedes ursprüngliche Sitzgerät ist der Abdruck einer rassemäßigen Körperhaltung; jeder Griff eines Gefäßes verlängert den bewegten Arm. Die Malerei und Schnitzarbeit am Hause, das Kleid als Schmuck, die Verzierung der Waffen und Geräte dagegen gehören zur Tabuseite des Lebens. In diesen Mustern und Motiven liegt für den frühen Menschen auch eine Zauberkraft. Wir kennen die Germanenklingen der Völkerwanderung mit orientalischem Ornament und die mykenischen Burgen mit minoischer Kunstarbeit. So unterscheiden sich Blut und Sinne, Rasse und Sprache – Politik und Religion.“ (Ebd., S. 698-699Spengler).

„Es gibt also – und das wäre eine der dringendsten Aufgaben künftiger Forschung – noch keine Weltgeschichte des Hauses und seiner Rassen, die mit ganz anderen Mitteln behandelt werden müßte als die Geschichte der Kunst. Das Bauernhaus ist im Verhältnis zum Tempo aller Kunstgeschichte »ewig« wie der Bauer selbst. Es steht außerhalb der Kultur und damit außerhalb der höheren Menschengeschichte; es kennt ihre örtlichen und zeitlichen Grenzen nicht und erhält sich der Idee nach unverändert durch alle Wandlungen der Baukunst, die sich nur an ihm, nicht mit ihm vollziehen. Die altitalische Rundhütte kennt man noch in der Kaiserzeit. (Bernhard Walter Altmann, Die italischen Rundbauten, 1906.) Die Form des rechteckigen römischen Hauses, das Existenzzeichen einer zweiten Rasse, findet sich in Pompeji und sogar in den Kaiserpalästen auf dem Palatin. Man entlehnt jede Art von Schmuck und Stil aus dem Orient, aber kein Römer hätte daran gedacht, etwa das syrische Haus nachzuahmen. Und ebensowenig ist die Megaronform von Tiryns und Mykene und die des von Galen beschriebenen altgriechischen Bauernhauses von den Städtebaumeistern des Hellenismus angetastet worden. Das sächsische und das fränkische Bauernhaus haben ihren Wesenskern vom ländlichem Gehöft über das Bürgerhaus der alten freien Reichsstädte bis zu den Patrizierbauten des 18. Jahrhunderts unberührt erhalten, während der gotische, Renaissance-, Barock- und Empirestil darüber hingleiten, an der Fassade und in allen Räumen vom Keller bis zum Dache ihr Wesen treiben, ohne die Seele des Hauses zu beirren. Und dasselbe gilt von den Möbelformen, die man psychologisch von ihrer künstlerischen Behandlung sorgfältig trennen sollte. Insbesondere ist die Entwicklung der nordeuropäischen Sitzmöbel bis zum Klubsessel ein Stück Rasse- und nicht etwa Stilgeschichte. Jedes andere Kennzeichen kann über das Schicksal einer Rasse täuschen; der Etruskername unter den Seevölkern, die Ramses III. schlug, die rätselhafte Inschrift von Lemnos, die Wandgemälde in den Gräbern von Etrurien gestatten keinen sicheren Schluß auf den leiblichen Zusammenhang dieser Menschen. Wenn gegen Ende der Steinzeit in dem weiten Gebiet östlich der Karpathen eine hochbedeutende Ornamentik entsteht und andauert, so kann trotzdem Rasse auf Rasse sich hier abgelöst haben. Besäßen wir in Westeuropa aus den Jahrhunderten von Trajan bis Chlodwig nur die Keramik, so würden wir von dem Ereignis der Völkerwanderung nicht das geringste ahnen. Aber das Vorkommen eines Ovalhauses im ägäischen Gebiet (Heinrich Bulle, Orchomenos, S. 26 ff.; Ferdinand Noack, Ovalhaus und Palast in Kreta, S. 53 ff.; die in späterer Zeit noch feststellbaren Hausgrundrisse des ägäisch-kleinasiatischen Gebietes gestatten vielleicht, in den Bevölkerungsstand der vorantiken Zeit Ordnung zu bringen: die Sprachreste können es nicht), eines anderen sehr seltsamen Ovalhauses in Rhodesien (Mediaeval Rhodesia, 1906), die vielbesprochene Übereinstimmung des sächsischen Bauernhauses mit dem libysch-kabylischen verraten ein Stück Rassengeschichte. Ornamente verbreiten sich, wenn eine Bevölkerung sie ihrer Formensprache einverleibt; eine Hausform wird nur mit einer Rasse verpflanzt. Verschwindet ein Ornament, so hat sich nur eine Sprache verändert, verschwindet ein Haustyp, so ist eine Rasse erloschen.“ (Ebd., S. 699-701Spengler).

„Daraus ergibt sich nun eine notwendige Berichtigung der Kunstgeschichte. Man muß auch in ihrem Verlauf die Rasseseite sorgfältig von der eigentlichen Sprache trennen. Am Anfang einer Kultur erheben sich über das Bauerndorf mit seinen Rassebauten zwei ausgeprägte Formen höheren Ranges als Ausdruck des Daseins und als Sprache des Wachseins, Burgen und Dome. In ihnen steigert sich der Unterschied von Totem und Tabu, Sehnsucht und Angst, Blut und Geist zu gewaltiger Symbolik. Die altägyptische, altchinesische, antike, südarabische, abendländische Burg als Sitz von Geschlechterfolgen steht dem Bauernhaus nahe. Sie bleiben beide als Abdruck wirklichen Lebens, Zeugens und Sterbens außerhalb aller Kunstgeschichte. Die Geschichte der deutschen Burgen ist durchaus ein Stück Rassegeschichte. An beide wagt sich zwar die frühe Ornamentik heran und verschönert hier das Balkenwerk und dort das Tor oder Treppenhaus, aber sie kann so oder so gewählt werden oder überhaupt fehlen. Eine innerlich notwendige Beziehung zwischen Baukörper und Ornament ist nie vorhanden. Der Dom dagegen ist nicht ornamentiert; er ist ein Ornament. Seine Geschichte – und ebenso die des dorischen Tempels und aller andern frühen Kultbauten – fällt mit der gotischen Stilgeschichte zusammen und zwar so vollständig, daß es hier wie in allen frühen Kulturen, von deren Kunst wir überhaupt noch etwas wissen, niemandem aufgefallen ist, daß die strenge Architektur, die nichts ist als reine Ornamentik von höchster Art, sich ausschließlich auf den Kultbau beschränkt. Alles was an schönen Bauformen in Gelnhausen, Goslar und der Wartburg erscheint, ist von der Domkunst herübergenommen, ist Verzierung und nicht von innerer Notwendigkeit. Eine Burg, ein Schwert, ein Tongefäß können diese Verzierung vollständig entbehren, ohne ihren Sinn oder auch nur ihre Gestalt zu verlieren; bei einem Dom oder einem ägyptischen Pyramidentempel läßt sich das nicht einmal vorstellen.“ (Ebd., S. 701-702Spengler).

Sieht man vom Rasseausdruck des Hauses ab, so bemerkt man erst die ungeheure Schwierigkeit, dem Wesen der Rasse nahe zu kommen. Nicht ihrem inneren Wesen, ihrer Seele, denn davon redet unser Gefühl deutlich genug. Was ein Mensch von Rasse ist, wissen wir alle auf den ersten Blick. Aber welches sind die Merkmale für unser Empfinden, vor allem fürs Auge, an denen wir Rassen erkennen und unterscheiden? Ohne Zweifel gehört dies zur Physiognomik, so gut wie die Einteilung der Sprachen zur Systematik gehört.“ (Ebd., S. 703Spengler).

„ Das Kind spricht lange bevor es das erste Wort gelernt hat, und die Erwachsenen sprechen mit ihm, ohne irgendwie an die gewohnte Wortbedeutung zu denken; das heißt, die Lautgebilde dienen hier einer ganz anderen als der Wortsprache. Auch diese Sprachen haben ihre Gruppen und Dialekte; sie können gelernt, beherrscht und mißverstanden werden; sie sind für uns so unentbehrlich, daß die Wortsprache den Dienst versagen würde, wenn wir je den Versuch machten, sie für sich allein, ohne Ergänzung durch Ton- und Gebärdensprachen anzuwenden. Selbst unsere Schrift, diese Wortsprache fürs Auge, würde ohne die Gebärdensprache der Interpunktion fast unverständlich sein.“ (Ebd., S. 713-714Spengler).

„Es ist der Grundfehler der Sprachwissenschaft, daß sie Sprache überhaupt und menschliche Wortsprache verwechselt, nicht theoretisch, aber regelmäßig in der Praxis aller Untersuchungen.“ (Ebd., S. 714Spengler).

Anfang des Kapitels„Urvölker, Kulturvölker, Fellachenvölker“

„Weltgeschichte ist die Geschichte der großen Kulturen. Und Völker sind nur die sinnbildlichen Formen, in welche zusammengefaßt der Mensch dieser Kulturen sein Schicksal erfüllt. In jeder dieser Kulturen ... - ob unser Wissen dahin reicht oder nicht - gibt es eine Gruppe großer Völker von ein und demselben Stil, die am Eingang der Frühzeit entsteht und die, Staaten bildend und Geschichte tragend, im ganzen Lauf der Entwicklung auch die ihr zugrunde liegende Form einem Ziel entgegenführt.“ (Ebd., S. 761Spengler).

„Gerade der Tiefe dieser Erlebnisse wegen ist es unmöglich, daß ein ganzes Volk gleichmäßig ein Kulturvolk, eine Nation ist. In Urvölkern hat jeder einzelne Mann das gleiche Gefühl volksmäßiger Verbundenheit. Das Erwachen einer Nation zum Bewußtsein ihrer selbst erfolgt aber ohne Ausnahme in Stufungen und also vornehmlich in einem einzelnen Stande, dessen Seele die stärkste ist und die der übrigen durch die Macht ihres Erlebens im Banne hält. Jede Nation wird vor der Geschichte durch eine Minderheit repräsentiert. Zu Beginn der Frühzeit ist es der erst hier und zwar als die Blüte des Volkstums entstehende Adel, in dessen Kreise der nicht bewußte, aber in seinem kosmischen Takt um so mächtiger gefühlte Nationalcharakter großen Stil erhält. .... Mit den Städten wird das Bürgertum zum Träger des Nationalen, und zwar, der wachsenden Geistigkeit entsprechend, eines Nationalbewußtseins, das es vom Adel empfängt und zur Vollendung führt. Es sind immer und immer wieder einzelne Kreise in zahllosen Abstufungen, die im Namen des Volkes leben, fühlen, handeln und zu sterben wissen, aber diese Kreise werden größer; im 18. Jahrhundert ist der abendländische Begriff der Nation entstanden, der den Anspruch erhob und unter Umständen energisch verfolgte, von jedem ohne Ausnahme vertreten zu werden. In Wirklichkeit waren, wie man weiß, die Emigranten so gut wie die Jakobiner überzeugt, das Volk, die Repräsentanten der französischen Nation zu sein. Ein Kulturvolk, das mit »allen« zusammenfällt, gibt es nicht. Nur unter Urvölkern und Fellachenvölkern, nur in einem Völkerdasein ohne Tiefe und ohne historischen Rang ist das möglich. Solange ein Volk Nation ist, das Schicksal einer Nation erfüllt, gibt es in ihm eine Minderheit, die im Namen aller seine Geschichte vertritt und vollzieht.“ (Ebd., S. 764Spengler).

„Im stadtlosen Lande war es der Adel, welcher zuerst die Nation in einem höheren Sinne vertrat. Das Bauerntum, geschichtslos und »ewig«, war Volk vor dem Ausbruch der Kultur; es bleibt in sehr wesentlichen Zügen Urvolk und es überlebt die Nation.“ (Ebd., S. 779-780Spengler).

„Es sind die Weltstädte, in denen neben einer Minderheit, welche Geschichte hat und die Nation in sich erlebt, vertreten fühlt und führen will, eine zweite entsteht: zeitlose, geschichtslose, literarische Menschen, Menschen der Gründe und Ursachen, nicht des Schicksals, welche, dem Blut und dem Dasein innerlich entfremdet, ganz denkendes Wachsein, für den Begriff der Nation keinen »vernünftigen« Inhalt mehr entdecken. Sie gehören ihr wirklich nicht mehr an, denn Kulturvölker sind Formen von Daseinsströmen; Kosmopolitismus ist eine bloße Wachseinsverbindung von »Intelligenzen«. Es ist Haß gegen das Schicksal darin, vor allem gegen die Geschichte als Ausdruck des Schicksals. Alles Nationale ist rassehaft bis zu dem Grade, daß es keine Sprache findet und in allem, was Denken fordert, ungeschickt und hilflos bis zum Verhängnis bleibt. Kosmopolitismus ist Literatur und bleibt es, sehr stark in den Gründen und sehr schwach in ihrer Verteidigung, nicht mit neuen Gründen, sondern mit dem Blute.“ (Ebd., S. 780Spengler).

Aber eben deshalb kämpft diese geistig weit überlegene Minderheit mit geistigen Waffen und sie darf es, weil Weltstädte reiner Geist, wurzellos und an sich schon zivilisierter Gemeinbesitz sind. Die gebornen Weltbürger und Schwärmer für Weltfrieden und Völkerversöhnung - im China der kämpfenden Reiche, im buddhistischen Indien, im Hellenismus und heute - sind die geistigen Führer des Fellachentums.“ (Ebd., S. 781Spengler).

Panem et circenses - das ist nur eine andere Formel für Pazifismus.“ (Ebd., S. 781Spengler).

„Ein antinationales Element ist in der Geschichte aller Kulturen stets vorhanden gewesen.“ (Ebd., S. 781Spengler)

„Das reine auf sich selbst gestellte Denken war immer lebensfremd und also geschichtsfeindlich, unkriegerisch, rasselos.“ (Ebd., S. 781Spengler).

„Diese Fälle mögen noch so verschieden sein, sie gleichen sich darin, daß das Weltgefühl des Rassemäßigen, der politische und deshalb nationale Tatsachensinn - rihgt or wrong, my country! -, der Entschluß, Subjekt oder Objekt der historischen Entwicklung zu sein - denn etwas Drittes gibt es nicht -, kurz der Wille zur Macht durch eine Neigung überwältigt wird, deren Führer sehr oft Menschen ohne ursprüngliche Triebe, aber desto mehr auf Logik versessen sind, in einer Welt der Wahrheiten, Ideale und Utopien zu Hause, Büchermenschen, welche das Wirkliche durch das Logische, die Gewalt der Tatsachen durch eine abstrakte Gerechtigkeit, das Schicksal durch die Vernunft ersetzen zu können glauben. Es fängt an mit den Menscehn der ewigen Angst, die sich aus der Wirklichkeit in Klöster, Denkstuben und geistige Gemeinschaften zurückziehen und die Weltgeschichte für gleichgültig erklären, und endet in jeder Kultur bei den Aposteln des Weltfriedens. Jedes Volk bringt solchen - geschichtlich betrachtet - Abfall hervor. Schon die Köpfe bilden physiognomisch eine Gruppe für sich. Sie nehmen in der »Geschichte des Geistes« einen hohen Rang ein - eine lange Reihe berühmter Namen ist darunter -, vom Standpunkt der wirklichen Geschichte aus betrachtet, sind sie minderwertig.“ (Ebd., S. 781Spengler).

Allerdings, mit dem Erlöschen der Nationen ist eine Fellachenwelt über die Geschichte geistig erhaben, endgültig zivilisert, »ewig«. Sie kehrt im Reich der Tatsachen in einen natürlichen Zustand zurück, der zwischen langen Dulden und vorübergehenden Wüten auf und ab schwankt, ohne daß mit allem Blutvergießen - das durch keinen Weltfrieden je geringer wird - sich etwas ändert. Einst hatten sie für sich geblutet, jetzt müssen sie es für andere und oft genug zu deren Unterhaltung - das ist der Unterschied. Ein handfester Führer, der zehntausend Abenteurer versammelt, kann schalten, wie er will. Gesetzt, die ganze Welt wäre ein einziges Imperium, so wäre damit lediglich der Schauplatz für die Heldentaten solcher Eroberer der denkbar größte geworden.“ (Ebd., S. 782-783Spengler).

„Lever doodt als Sklaav: das ist ein altfriesischer Bauernspruch. Die Umkehrung ist der Wahlspruch jeder späten Zivilisation und jede hat erfahren müssen, wieviel es kostet.“ (Ebd., S. 783Spengler).

NACH OBEN „Probleme der arabischen Kultur“ (S. 784-960):

• I. Historische Pseudomorphosen (S. 784-840) • Der Begriff [S. 784] • Actium [S. 788] • Das Russentum [S. 788] • Arabische Ritterzeit [S. 794] • Der Synkretismus [S. 799] • Juden, Chaldäer, Perser der Vorkultur [S. 804] • Mission [S. 811] • Jesus [S. 814] • Paulus [S. 827] • Johannes, Marcion [S. 833] • Heidnische und christliche Kultkirche [S. 837]  • II. Die magische Seele (S. 840-880) • Dualismus der Welthöhle [S. 840] • Zeitgefühl (Ära, Weltgeschichte, Gnade) [S. 847] • Consensus [S. 854] • Das „Wort“ als Substanz, der Koran [S. 855] • Geheime Tora, Kommentar [S. 858] • Die Gruppe der magischen Religionen [S. 862] • Der christologische Streit [S. 872] • Dasein als Ausdehnung (Mission) [S. 877]  • III. Pythagoras, Mohammed, Cromwell (S. 880-960) • Wesen der Religion [S. 880] • Mythos und Kultus [S. 884] • Moral als Opfer [S. 889] • Morphologie der Religionsgeschichte [S. 894] • Die Vorkultur: Franken, Russen [S. 897] • Ägyptische Frühzeit [S. 900] • Antike [S. 903] • China [S. 908] • Gotik (Marien- und Teufelsglaube, Taufe und Buße) [S. 912] • Reformation 922] • Die Wissenschaft [S. 927] • Puritanismus [S. 930] • Rationalismus [S. 935] • „Zweite Religiosität“ [S. 941] • Römischer und chinesischer Kaiserkult [S. 946] • Das Judentum [S. 948].

Anfang des Kapitels„Historische Pseudomorphosen“

„Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt.“ (Ebd., S. 784Spengler).

„Alles was aus der Tiefe eines frühen Seelentums emporsteigt, wird in die Hohlformen des fremden Lebens ergossen; junge Gefühle erstarren in ältlichen Werken und statt des Sichaufreckens in eigener Gestalungskraft wächst nur der Haß gegen die ferne Gewalt zur Riesengröße. Dies ist der Fall der arabischen Kultur. Ihre Vorgeschichte liegt ganz im Bereiche der uralten (mesopotamisch[-sumerisch]-) babylonischen Zivilisation, die seit zwei Jahrtausenden die Beute wechselnder Eroberer war. ().“ (Ebd., S. 784Spengler).

„Die magische Kultur () ist geographisch und historisch die mittelste in der Gruppe hoher Kulturen (), die einzige, welche sich räumlich und zeitlich fast mit allen andern berührt ().“ (Ebd., S. 785Spengler).

„Der Aufbau der Gesamtgeschichte in unserem Weltbilde hängt deshalb ganz davon ab, ob man ihre innere Form erkennt, welche durch die äußere gefälscht wird; aber gerade sie ist aus philologischen und theologischen Vorurteilen und mehr noch infolge der Zersplitterung der modernen Fachwissenschaft bis jetzt nicht erkannt worden. Die abendländische Forschung ist seit langem nicht nur dem Stoff und der Methode, sondern auch dem Denken nach in eine Anzahl von Fachgebieten zerfallen, deren widersinnige Abgrenzung es verhindert hat, daß man die großen Fragen auch nur sah. Wenn irgendwo, so ist das »Fach« für die Probleme der arabischen Welt zum Verhängnis geworden. Die eigentlichen Historiker hielten sich an das Interessengebiet der klassischen Philologie, aber deren Horizont endete an der antiken Sprachgrenze im Osten. Infolgedessen haben sie die tiefe Einheit der Entwicklung diesseits und jenseits dieser seelisch gar nicht vorhandenen Schranke nie bemerkt. Das Ergebnis war die Perspektive Altertum-Mittelalter-Neuzeit (SpenglerSpengler), die durch den griechisch-lateinischen Sprachgebrauch abgegrenzt und zusammengehalten wird. (Spengler).“ (Ebd., S. 785-786Spengler).

„Die Pseudomorphose (Pseudomorphose) beginnt mit Actium - hier hätte Antonius siegen müssen. Es war nicht der Entscheidungskampf zwischen Römertum und Hellenismus, der zum Austrag kam; der ist bei Cannä und Zama ausgefochten worden, von Hannibal, der das tragische Geschick hatte, in Wirklichkeit nicht für sein Land, sondern für das Hellenentum zu kämpfen. Bei Actium stand die ungeborene arabische Kultur gegen die greisenhafte antike Zivilisation.“ (Ebd., S. 788Spengler).

„Peter der Große ist das Verhängnis des Russentums. .... Es bestand die Möglichkeit, die russische Welt nach Art entweder der Karolinger oder der Seleukiden zu behandeln, altrussisch nämlich oder »westlich«, und die Romanows haben sich für das letzte entschieden.“ (Ebd., S. 789Spengler).

„Die Gründung von Petersburg (1703) zwang die primitive russische Seele erst in die fremden Formen des hohen Barock, dann der Aufklärung, dann des 19. Jahrhunderts. Der primitive Zarismus von Moskau ist die einzige Form, welche noch heute dem Russentum gemäß ist, aber er ist in Petersburg in die dynastische Form Westeuropas umgefälscht worden. Der Zug nach dem heiligen Süden, nach Byzanz und Jerusalem, der tief in allen rechtgläubigen Seelen lag, wurde in eine weltmännische Diplomatie mit dem Blick nach Westen verwandelt. Auf den Brand von Moskau, die großartig symbolische Tat eines Urvolkes, aus welcher der Makkabäerhaß gegen alles Fremde und Fremdgläubige redet, folgt der Einzug Alexanders in Paris, die heilige Allianz und die Stellung im Konzert der westlichen Großmächte. Ein Volkstum, dessen Bestimmung es war, noch auf Generationen hin geschichtslos zu leben, wurde in eine künstliche und unechte Geschichte gezwängt, deren Geist vom Urrussentum gar nicht begriffen werden konnte. Späte Künste und Wissenschaften wurden hereingetragen, Aufklärung, Sozialethik, weltstädtischer Materialismus, obwohl in dieser Vorzeit Religion die einzige Sprache war, in der man sich und die Welt verstand; in das stadtlose Land mit seinem ursprünglichen Bauerntum nisteten sich Städte fremden Stils wie Geschwüre ein. Sie waren falsch, unnatürlich, unwahrscheinlich bis in ihr Innerstes. »Petersburg ist die abstrakteste und künstlichste Stadt, die es gibt«, bemerkt Dostojewski (1821-1881). Er hatte, obwohl er dort geboren war, ein Gefühl, als ob sie sich eines Morgens mit den Sumpfnebeln zugleich auflösen könnte. So geisterhaft, unglaubwürdig, lagen auch die hellenistischen Prunkstädte überall im aramäischen Bauernland.“ (Ebd., S. 789-790Spengler).

„Alles, was rings umher entstand, ist von dem echten Russentum seitdem als Gift und Lüge empfunden worden. Ein wahrhaft apokalyptischer Haß richtet sich gegen Europa auf. Und »Europa« war alles, was nicht russisch war, auch Rom und Athen, ganz wie für den magischen Menschen damals auch das alte Ägypten und Babylon antik, heidnisch, teuflisch war. »Die erste Bedingung der Befreiung des russischen Volksgefühls ist: von ganzem Herzen und aus voller Seele Petersburg zu hassen«, schreibt Aksakow 1863 an Dostojewski. Moskau ist heilig, Petersburg ist der Satan; Peter der Große erscheint in einer verbreiteten Volkslegende als der Antichrist. Genau so redet es aus allen Apokalypsen, vom Buche Daniel und Henoch zur Makkabäerzeit bis auf die Offenbarung Johannis, Baruch und den IV. Esra nach der Zerstörung Jerusalems (70), gegen Antiochus, den Antichrist, gegen Rom, die babylonische Hure, gegen die Städte des Westens mit ihrem Geist und Pomp, gegen die gesamte antike Kultur. Alles, was entsteht, ist unwahr und unrein: diese verwöhnte Gesellschaft, die durchgeistigten Künste, die sozialen Stände, der fremde Staat mit seiner zivilisierten Diplomatie, Rechtsprechung und Verwaltung.“ (Ebd., S. 790Spengler).

„Der eine konnte sich innerlich vom Lande nie befreien, der andere hat es trotz allen verzweifelten Bemühens niemals gefunden. Tolstoi ist das vergangene, Dostojewski das kommende Rußland. Tolstoi ist mit seinem ganzen Innern dem Westen verbunden. Er ist der große Wortführer des Petrinismus, auch wenn er ihn verneint. Es ist stets eine westliche Verneinung. Auch die Guillotine war eine legitime Tochter von Versailles. Sein mächtiger Haß redet gegen das Europa, von dem er selbst sich nicht befreien kann. Er haßt es in sich, er haßt sich. Er wird damit der Vater des Bolschewismus. Die ganze Ohmacht dieses Geistes und »seiner« Revolution von 1917 spricht aus den nachgelassenen Szenen: »Das Licht leuchtet in der Finsternis«. Diesen Haß kennt Dostojewski nicht. Er hat alles Weltliche mit einer ebenso leidenschaftlichen Liebe umfaßt. »Ich habe zwei Vaterländer, Rußland und Europa«. Für ihn hat alles, Petrinismus und Revolution, bereits keine Wirklichkeit mehr. Aus seiner Zukunft blickt er wie aus weiter Ferne darüber hin. Seine Seele ist apokalyptisch, sehnsüchtig, verzweifelt, aber dieser Zukunft gewiß. »Ich werde nach Europa fahren«, sagt Iwan Karamasoff zu seinem Bruder Aljoscha, »ich weiß es ja, daß ich nur auf einen Friedhof fahre, doch auf den teuersten, allerteuersten Friedhof, das weiß ich auch. Teure Tote liegen dort begraben, jeder Stein über ihnen redet von einem so heißen vergangenen Leben, von so leidenschaftlichem Glauben an die vollbrachten eigenen Taten, an die eigene Wahrheit, an den eigenen Kampf und die eigene Erkenntnis, daß ich, ich weiß es im voraus, zur Erde niederfallen, diese Steine küssen und über ihnen weinen werde.«“ (Ebd., S. 792 Spengler).

„Der echte Russe ist ein Jünger Dostojewskis, obwohl er ihn nicht liest, obwohl und weil er überhaupt nicht lesen kann. Er ist selbst ein Stück Dostojewski. Wären die Bolschewisten, die in Christus ihresgleichen, einen bloßen Sozialrevolutionär erblicken, geistig nicht so eng, sie würden in Dostojewski ihren eigentlichen Feind erkannt haben. Was dieser Revolution ihre Wucht gab, war nicht der Haß der Intelligenz. Es war das Volk, das ohne Haß, nur aus dem Trieb, sich von einer Krankheit zu heilen, die westlerische Welt durch ihren Abhub zerstörte und diesen selbst ihr nachsenden wird; das stadtlose Volk, das sich nach seiner eigenen Lebensform, seiner eigenen Religion, seiner eigenen künftigen Geschichte sehnt. Das Christentum Tolstois war ein Mißverständnis. Er sprach von Christus und meinte Marx. Dem Christentum Dostojewskis gehört das nächste Jahrtausend.“ (Ebd., S. 794 Spengler).

„Die antike Religion lebt in einer ungeheuren Zahl von Einzelkulten, die, in dieser Gestalt dem apollinischen Menschen natürlich und selbstverständlich, jedem Fremden in ihrem eigentlichen Wesen so gut wie verschlossen sind. Sobald Kulte von solcher Art entstanden, gab es eine antike Kultur. Sobald sie in später Römerzeit ihr Wesen veränderten, war die Seele dieser Kultur zu Ende. Außerhalb der antiken Landschaft sind sie niemals echt und lebendig gewesen. Das Göttliche ist stets an einen einzelnen Ort gebunden und auf ihn beschränkt. Das entspricht dem statischen und euklidischen Weltgefühl. Das Verhalten des Menschen zur Gottheit hat die Form eines ebenfalls ortsgebundenen Kultes, dessen Bedeutung im Bilde der rituellen Handlung und nicht in deren dogmatischem Hintersinn liegt. Wie die Bevölkerung in zahllose nationale Punkte, so zerfällt ihre Religion in diese winzigen Kulte, deren jeder von jedem andern vollständig unabhängig ist. Nicht ihr Umfang, sondern nur ihre Anzahl kann zunehmen. Es ist die einzige Form des Wachstums innerhalb der antiken Religion und sie schließt jede Mission vollständig aus. Denn diese Kulte übt man aus, aber man gehört ihnen nicht an; es gibt keine antiken »Gemeinden«. Wenn spätes Denken in Athen etwas Allgemeineres im Göttlichen und Kultischen annimmt, so ist das nicht Religion, sondern Philosophie, die sich auf das Denken einzelner beschränkt und auf das Empfinden der Nation, nämlich der Polis, nicht im geringsten einwirkt.“ (Ebd., S. 799Spengler).

„Im schärfsten Gegensatz dazu steht die sichtbare Form der magischen Religion, die Kirche, die Gemeinschaft der Rechtgläubigen, die keine Heimat und keine irdische Grenze kennt. Von der magischen Gottheit gilt das Wort Jesu: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Es versteht sich, daß für jeden Gläubigen nur ein Gott der wahre und gute sein kann, die Götter der andern aber falsch und böse sind (Spengler). Die Beziehungen zwischen diesem Gott und dem Menschen ruht nicht im Ausdruck, sondern in der geheimen Kraft, in der Magie gewisser symbolischer Handlungen: damit sie wirksam sind, muß man ihre Form und Bedeutung genau kennen und sie danach ausüben. Die Kenntnis dieser Bedeutung ist ein Besitz der Kirche - sie ist die Kirche selbst als die Gemeinschaft der Kenner - und damit liegt der Schwerpunkt jeder magischen Religion nicht im Kult, sondern in einer Lehre, im Bekenntnis.“ (Ebd., S. 799-800Spengler).

„Solange die Antike sich seelisch aufrecht hielt, bestand die Pseudomorphose (Pseudomorphose) darin, daß alle östlichen Kirchen zu Kulten westlichen Stils wurden. Dies ist eine wesentliche Seite des Synkretismus (Synkretismus). Die persische Religion dringt als Mithraskult ein, die chaldäisch-syrische in den Kulten der Gestirngötter und Baale (Jupiter, Dolichenus, Sabazios, Sol Invictus, Atargatis), das Judentum in Gestalt des Jahwekultes, denn die ägyptischen Gemeinden der Ptolemäerzeit lassen sich nicht anders bezeichnen, und auch das früheste Christentum, wie die Paulinischen Briefe und die römischen Katakomben deutlich erkennen lassen, als Jesuskult. Mögen alle diese Kulte, die etwa seit Hadrian (also seit etwa 117-138) die der echt antiken Stadtgötter völlig in den Hintergrund drängen, noch so laut den Anspruch erheben, eine Offenbarung des einzig wahren Glaubens zu sein - Isis nennt sich deorum dearumque facies uniformis -, so tragen sie doch sämtliche Merkmale des antiken Einzelkultes: sie vermehren deren Zahl ins Unendliche; jede Gemeinde steht für sich und ist örtlich begrenzt, alle diese Tempel, Katakomben, Mithräen, Hauskapellen sind Kultorte, an welche die Gottheit nicht ausdrücklich, aber gefühlsmäßig gebunden ist; aber trotzdem liegt magisches Empfinden in dieser Frömmigkeit. (). Antike Kulte übt man aus, und zwar in beliebiger Zahl, von diesen gehört man einem einzigen an. Die Mission ist dort undenkbar, hier ist sie selbstverständlich, und der Sinn religiöser Übungen verschiebt sich deutlich nach der lehrhaften Seite.“ (Ebd., S. 800-801Spengler)

„Mit dem Hinschwinden der apollinischen und dem Aufblühen der magischen Seele seit dem zweiten Jahrhundert kehrt sich das Verhältnis um. Das Verhängnis der Pseudomorphose bleibt, aber es sind jetzt Kulte des Westens, die zu einer neuen Kirche des Ostens werden. Aus der Summe von Einzelkulten entwickelt sich eine Gemeinschaft derer, welche an diese Gottheiten und Übungen glauben, und nach dem Vorgange des Persertums und Judentums entsteht ein neues Griechentum als magische Nation. Aus der sorgfältig festgelegten Form der Einzelhandlung bei Opfern und Mysterien wird eine Art Dogma über den Gesamtsinn dieser Akte. Die Kulte können sich gegenseitig vertreten; man übt sie nicht eigentlich aus, sondern »hängt ihnen an«. Und aus der Gottheit des Ortes wird, ohne daß jemand sich der Schwere dieser Wendung bewußt wäre, die am Orte gegenwärtige Gottheit.“ (Ebd., S. 800-801Spengler).

„So sorgfältig der Synkretismus seit Jahrzehnten durchforscht ist, so wenig hat man doch den Grundzug seiner Entwicklung, zuerst die Verwandlung östlicher Kirchen in westliche Kulte und dann mit umgekehrter Tendenz die Entstehung der Kultkirche, erkannt. Infolgedessen erscheint er als formloser Mischmasch aller denkbaren Religionen. Nichts ist weniger richtig. Die Formenbildung geht erst von West nach Ost, dann von Ost nach West.“ (Ebd., S. 801Spengler). Vgl. auch: Pseudomorphose (Pseudomorphose) am antik-magischen Beispiel (Beispiel einer Pseudomorphose).

„Die magische Seele war erwacht. Was in den prophetischen Religionen wie eine Ahnung lag, was zur Zeit Alexanders in metaphysischen Umrissen hervortrat, das erfüllte sich jetzt. Und diese Erfüllung weckte in unnennbarer Stärke das Urgefühl der Angst. Es gehört zu den letzten Geheimnissen des Menschentums und des unbeweglichen Lebens überhaupt, daß die Geburt des Ich und der Weltangst ein und dasselbe sind. Daß sich vor einem Mikrokosmos ein Makrkosmos auftut, weit, übermächtig, ein Abgrund von fremdem lichtüberstrahlten Sein und Treiben, das läßt das kleine, einsame Selbst scheu in sich zurückweichen. Eine Angst vor dem eigenen Wachsein, wie sie Kinder zuweilen überfällt, lernt kein Erwachsener in den schwärzesten Stunden seines Lebens wieder kennen. Diese Todesangst lag auch über dem Anbruch der neuen Kultur. In dieser Morgenröte magischen Weltbewußtseins, das verzagt, ungewiß, dunkel über sich selbst war, fiel ein neuer Blick auf das nahe Ende der Welt. Es ist der erste Gedanke, mit dem bis jetzt jede Kultur zum Bewußtsein ihrer selbst kam.“ (Ebd., S. 815-816Spengler).

„Man dachte, man lebte nur noch in apokalyptischen Bildern. Die Wirklichkeit wurde zum Schein. .... Der Jüngste Tag war nahe herangekommen, Man erwartete ihn. Man wußte, daß »er« jetzt erscheinen müsse, von dem in allen Offenbarungen die Rede war. Propheten standen auf. Man schloß sich zu immer neuen Gemeinden und Kreisen zusammen, in der Überzeugung, die angeborene Religion nun besser erkannt oder die wahre gefunden zu haben. In dieser Zeit ungeheuerster, von Jahr zu Jahr wachsender Spannung ist, ganz nahe der Geburt Jesu, neben zahllosen Gemeinschaften und Sekten auch die mandäische Erlösungsreligion entstanden (Mandäer), deren Stifter oder Ursprung wir nicht kennen. .... Überall ist »er«, der Menschensohn, der in die Tiefe gesandte Erlöser, der selbst erlöst werden muß, das Ziel der Erwartung. .... Alle Züge der großen prophetischen Religionen und der ganze Schatz tiefster Einsichten und Gestalten, der sich seitdem in der Apokalyptik gesammelt hatte, liegen hier gemeinsam zugrunde. Von antikem Denken und Fühlen ist in diese Unterwelt des Magischen nicht ein Hauch gedrungen. Die Anfänge der neuen Religion sind wohl für immer verschollen. Eine geschichtliche Gsetalt des Mandäertums aber tritt mit ergreifender Deutlichkeit hervor, tragisch in ihrem Wollen und Untergang wie Jesus selbst: es ist Johannes der Täufer. (Mandäer). Dem Judentum kaum noch angehörig und von einem mächtigem Hasse - er entspricht genau dem urrussichen Hasse gegen Petersburg - gegen den Geist von Jerusalem erfüllt, predigt er das Ende der Welt und des nahen Barnasha, des Menschensohn, der nicht mehr der verheißene Messias der Juden, sondern der Bringer des Weltbrandes ist. Zu ihm ging Jesus und wurde einer seiner Jünger. (Nach Reitzenstein [Das mandäische Buch des Herrn der Größe, 1919, S. 65Reitzenstein] ist er als Johannesjünger in Jerusalem verurteilt worden. Nach Lidzbarski [Mandäische Liturgien, 1920, XVILidzbarski] und Zimmern [Zeitschrift d. D. Morg. Gesellschaft, 1920, S. 429] weist der Ausdruck Jesus der Nazaräer oder Nasoräer, der später von der christlichen Gemeinde auf Nazareth bezogen wurde [Matthäus, 2, 23, mit einem unechten Zitat], auf die Zugehörigkeit zu einem mandäischen Orden hin [Mandäer].). Er war dreißig Jahre alt, als die Erweckung über ihn kam. Die apokalyptische und im besonderen die mandäische Gedankenwelt erfüllte von nun an sein ganzes Bewußtsein. Nur scheinhaft, fremd und bedeutungslos lag die andere Welt der geschichtlichen Wirklichkeit um ihn her. Daß »er« jetzt kommen und dieser so unwirklichen Wirklichkeit ein Ende machen werde, war seine große Gewißheit, und für sie trat er wie sein Meister Johannes als Verkünder auf. Noch jetzt lassen die ältesten ins Neue Testament aufgenommenen Evangelien diese Zeit hindurchschimmern, in der er in seinem Bewußtsein nichts war als ein Prophet (vgl. z.B. Markus 6 und dazu die große Wendung Markus 8, 27ff.. Es gibt keine zweite Religion, aus deren Entstehungszeit Stücke von so treuherziger Berichterstattung erhalten sind.).“ (Ebd., S. 816-818Spengler). Sloterdijk

„Als Jesus aber vor Pilatus geführt wurde, da traten sich die Welt der Tatsachen und die der Wahrheiten unvermittelt und unversöhnlich gegenüber, in so erschreckender Deutlichkeit und Wucht der Symbolik wie in keiner zweiten Szene der gesamten Weltgeschichte. Der Zwiespalt, der allem freibeweglichen Leben von Anfang an zugrunde liegt, schon damit, daß es ist, daß es Dasein und Wachsein ist, hat hier die höchste überhaupt denkbare Form menschlicher Tragik angenommen. In der berühmten Frage des römischen Prokurators: Was ist Wahrheit? – das einzige Wort im Neuen Testament, das Rasse hat – liegt der ganze Sinn der Geschichte, die Alleingeltung der Tat, der Rang des Staates, des Krieges, des Blutes, die ganze Allmacht des Erfolges und der Stolz auf ein großes Geschick. Darauf hat nicht der Mund, aber das schweigende Gefühl Jesu mit der andern, über alles Religiöse entscheidenden Frage geantwortet: Was ist Wirklichkeit? Für Pilatus war sie alles, für ihn selbst nichts. Anders kann echte Religiosität der Geschichte und ihren Mächten niemals gegenüberstehen, anders darf sie das tätige Leben nie einschätzen, und wenn sie es dennoch tut, so hat sie aufgehört, Religion zu sein, und ist selbst dem Geist der Geschichte verfallen.“ (Ebd., S. 820Spengler).

Mein Reich ist nicht von dieser Welt – das ist das letzte Wort, von dem sich nichts abdeuten läßt und an dem jeder ermessen muß, wohin Geburt und Natur ihn gewiesen haben. Ein Dasein, das sich des Wachseins bedient, oder ein Wachsein, welches das Dasein unterwirft; Takt oder Spannung, Blut oder Geist, Geschichte oder Natur, Politik oder Religion: hier gibt es nur ein Entweder-Oder und keinen ehrlichen Vergleich. Ein Staatsmann kann tief religiös sein, ein Frommer kann für sein Vaterland fallen – aber sie müssen beide wissen, auf welcher Seite sie wirklich stehen. Der geborne Politiker verachtet die weltfremden Betrachtungsweisen des Ideologen und Ethikers mitten in seiner Tatsachenwelt – er hat recht. Für den Gläubigen sind aller Ehrgeiz und Erfolg der geschichtlichen Welt sündhaft und ohne ewigen Wert – er hat auch recht. Ein Herrscher, der die Religion in der Richtung auf politische, praktische Ziele verbessern will, ist ein Tor. Ein Sittenprediger, der Wahrheit, Gerechtigkeit, Frieden, Versöhnung in die Welt der Wirklichkeit bringen will, ist ebenfalls ein Tor. Kein Glaube hat je die Welt verändert und keine Tatsache kann je einen Glauben widerlegen. Es gibt keine Brücke zwischen der gerichteten Zeit und dem zeitlos Ewigen, zwischen dem Gang der Geschichte und dem Bestehen einer göttlichen Weltordnung, in deren Bau »Fügung« das Wort für den höchsten Fall von Kausalität ist. Das ist der letzte Sinn jenes Augenblicks, in dem Pilatus und Jesus sich gegenüberstanden. In der einen, der historischen Welt ließ der Römer den Galiläer ans Kreuz schlagen – das war sein Schicksal. In der andern war Rom der Verdammnis verfallen und das Kreuz die Bürgschaft der Erlösung. Das war »Gottes Wille«. (Die Betrachtungsweise dieses Buches ist historisch. Sie erkennt also die entgegengesetzte als Tatsache an. Dagegen muß die religiöse Betrachtung mit Notwendigkeit sich selbst als wahr, die andere als falsch erkennen. Dieser Zwiespalt läßt sich nicht überwinden.)“ (Ebd., S. 820-821Spengler).

Religion ist Metaphysik, nichts anderes: Credo, quia absurdum. Und zwar ist erkannte, bewiesene, für bewiesen gehaltene Metaphysik bloße Philosophie oder Gelehrsamkeit. Hier ist erlebte Metaphysik gemeint, das Undenkbare als Gewißheit, das Übernatürliche als Ereignis, das Leben in einer nichtwirklichen, aber wahren Welt. Anders hat Jesus auch nicht einen Augenblick gelebt. Er war kein Sittenprediger. In der Sittenlehre das letzte Ziel sehen, heißt sie nicht kennen. Das ist neunzehntes Jahrhundert. »Aufklärung«, humanes Philistertum. Ihm soziale Absichten zuschreiben, ist eine Lästerung. Seine gelegentlichen Sittensprüche, soweit sie ihm nicht nur zugeschrieben sind, dienen lediglich der Erbauung. Sie enthalten gar keine neue Lehre. Seine Lehre was einzig die Verkündigung der letzten Dinge, deren Bilder ihn beständig erfüllten: der Anbruch des neuen Weltalters, die Herabkunft des himmlischen Gesandten, das letzte Gericht, ein neuer Himmel und eine neue Erde. Einen anderen Begriff von Religion hat er nie gehabt, und einen anderen besitzt überhaupt keine wahrhaft innerliche Zeit. Religion ist durch und durch Metaphysik, Jenseitigkeit. Wachsein inmitten einer Welt, in welcher das Zeugnis der Sinne nur den Vordergrund aufhellt; Religion ist das Leben in und mit dem Übersinnlichen, und wo die Kraft zu solchem Wachsein, die Kraft, auch nur daran zu glauben, fehlt, da ist die wirkliche Religion zu Ende. Mein Reich ist nicht von dieser Welt - nur wer das ganze Gewicht dieser Einsicht ermißt, kann seine tiefsten Aussprüche begreifen. Erst späte, städtische Zeiten, die solcher Einblicke nicht mehr fähig waren, haben den Rest von Religiosität auf die Welt des äußeren Lebens bezogen und die Religion durch humane Gefühle und Stimmungen, die Metaphysik durch Sittenpredigt und Sozialethik ersetzt. In Jesus findet man das gerade Gegenteil. »Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist« - das heißt: Fügt euch den Mächten der Tatsachenwelt, duldet, leidet und fragt nicht, ob sie »gerecht« sind. Wichtig ist nur das Heil der Seele. »Sehet die Lilien auf dem Felde« - das heißt: Kümmert euch nicht um Reichtum und Armut. Sie fesseln beide die Seele an die Sorgen dieser Welt. »Man muß Gott dienen oder dem Mammon« - da ist mit dem Mammon die ganze Wirklichkeit gemeint. Es ist flach und feige, die Größe aus dieser Forderung fortzudcuten. Zwischen der Arbeit für den eignen Reichtum und der für die soziale Bequemlichkeit »aller« hätte er überhaupt keinen Unterschied empfunden. Welm er vor dem Reichtum erschrak und wenn die Urgemeinde in Jerusalem, die ein strenger Orden war und kein Sozialistenklub, den Besitz verwarf, so liegt darin der größte überhaupt denkbare Gegensatz zu aller »sozialen Gesinnung«: nicht weil die äußere Lage alles, sondern weil sie nichts ist, nicht aus der Alleinschätzung, sondern aus der unbedingten Verachtung des diesseitigen Behagens gehen solche Überzeugungen hervor. Aber es muß allerdings etwas da sein, dem gegenüber alles irdische Glück zu nichts versinkt. Es ist wieder der Unterschied von Tolstoi und Dostojewski. Tolstoi, der Städter und Westler, hat in Jesus nur einen Sozialethiker erblickt und wie der ganze zivilisierte Westen, der nur verteilen, nicht verzichten kann, das Urchristentum zum Range einer sozialrevolutionären Bewegung herabgezogen, und zwar aus Mangel an metaphysischer Kraft. Dostojewski, der arm war, aber in gewissen Stunden fast ein Heiliger, hat nie an soziale Verbesserungen gedacht - was wäre der Seele damit geholfen, wenn man das Eigentum abschafft?“ (Ebd., S. 821-823Spengler).

Anfang des Kapitels„Die magische Seele“

„Die Welt, wie sie sich vor dem magischen Wachsein ausbreitet, besitzt eine Art von Ausgedehntheit, die höhlenhaft genannt werden darf (Höhle), so schwer es dem Menschen des Abendlandes auch ist, im Vorrat seiner Begriffe auch nur ein Wort ausfindig zu machen, mit dem er den Sinn des magischen »Raumes« wenigstens andeuten könnte. Denn »Raum« bedeutet für das Empfinden beider Kulturen durchaus zweierlei. Die Welt als Höhle ist von der faustischen Welt als Weite mit ihrem leidenschaftlichen Tiefendrang ebenso verschieden wie von der antiken Welt als Inbegriff körperlicher Dinge.“ (Ebd., S. 840Spengler).

„Alle Religionen der magischen Kultur von den Schöpfungen des Jesaja und Zarathustra bis zum Islam bilden eine vollkommene innere Einheit des Weltgefühls, und so wenig im Awestaglauben auch nur ein brahmanischer Zug, im Urchristentum auch nur eine Spur antiken Gefühls zu finden ist, sondern nur Namen, Bilder und äußere Formen, so wenig hat das germanisch-katholische Christentum des Abendlandes auch nur einen Hauch vom Weltgefühl jener Jesusreligion herübernehmen können, als es deren ganzen Bestand an Sätzen und Bräuchen übernahm.“ (Ebd., S. 843Spengler).

„Wenn man ahnen will, wie fremd das Innenleben Jesu uns allen ist – eine schmerzliche Einsicht für den Christen des Abendlandes, der seine Frömmigkeit gern auch innerlich an ihn anknüpfen möchte – und wie es heute eigentlich nur von einem frommen Moslim nacherlebt werden kann, so versenke man sich in diese Märchenzüge eines Weltbildes, das auch das seinige war. Dann erst wird man erkennen, wie wenig das faustische Christentum aus dem Reichtum der pseudomorphosen Kirche herübergenommen hat, nämlich nichts vom Weltgefühl, wenig von der inneren Form und viel an Begriffen und Gestalten“ (Ebd., S. 846Spengler).

„Weltgeschichte ist das Bild der lebendigen Welt, in das der Mensch sich durch seine Geburt, durch Vorfahren und Nachkommen hineinverwebt sieht und das er aus seinem Weltgefühl heraus zu begreifen sucht. Das Geschichtsbild des antiken Menschen drängt sich um das rein Gegenwärtige zusammen. Es enthält ein Sein, kein eigentliches Werden, und als abschließenden Hintergrund den zeitlosen Mythos, rationalisiert als goldenes Zeitalter. Dieses Sein aber war ein buntes Gewimmel von Aufstieg, Niedergang, Glück und Unglück, ein blindes Ungefähr, eine ewige Veränderung, aber in allem Wechsel doch immer dasselbe, ohne Richtung, ohne Ziel, ohne »Zeit«. Das Höhlengefühl fordert eine übersehbare Geschichte mit Weltanfang und Weltende, die zugleich Anfang und Ende der Menschheit sind, als den Akten einer zaubergewaltigen Gottheit und dazwischen, in die Grenzen der Höhle gebannt und von vorbestimmter Dauer, das Ringen des Lichtes mit der Finsternis, der Engel und Jazatas mit Ahriman, Satan, Iblis, in das der Mensch mit Geist und Seele verwickelt ist. Die gegenwärtige Höhle kann von Gott zertrümmert und durch eine neue Schöpfung ersetzt werden. Die persisch-chaldäischen Vorstellungen und die Apokalyptik gewährten den Blick über eine Reihe solcher Aionen, und Jesus wie seine ganze Zeit erwartete das Ende des bestehenden. (Vgl. M. Horten, Die religiöse Gedankenwelt des Volkes im heutigen Islam, 1917, S. XXVI.) Daraus ergibt sich ein historischer Blick über die gegebene Zeit, wie er heute noch dem Menschen des Islam durchaus natürlich ist. »Die Weltanschauung des Volkes zerfällt naturgemäß in die großen Teile: Weltentstehung, Weltentwicklung, Weltuntergang. Für den so tief ethisch empfindenden Moslim ist in der Weltentwicklung das Wesentlichste die Heilsgeschichte und der ethische Lebensweg, die als ›Menschenleben‹ zusammengefaßt werden. Dasselbe mündet in den Weltuntergang, der die Sanktion der sittlichen Menschheitsgeschichte enthält.« Es ist eine große Lücke in unserer Forschung, daß wir eine Reihe von Werken über die antike Religion und besonders ihre Götter und Kulte besitzen, aber keines über antike Religiosität und ihre Geschichte.)“ (Ebd., S. 849Spengler).

„Für das magische Menschendasein aber ergibt sich aus dem Gefühl von dieser Zeit und dem Erblicken dieses Raumes eine ganz einzige Art von Frömmigkeit, die ebenfalls höhlenhaft genannt werden darf, eine willenlose Ergebung, die das geistige Ich überhaupt nicht kennt und das geistige Wir, das in den beseelten Leib eingegangen ist, als bloßen Widerschein des göttlichen Lichtes empfindet. Das arabische Wort hierfür ist »islam«, Ergebung, aber »islam« war auch die beständige Fühlweise Jesu und die jeder andern Persönlichkeit von religiösem Genie, die in dieser Kultur hervorgetreten ist. Antike Frömmigkeit ist etwas ganz anderes (es ist eine große Lücke in unserer Forschung, daß wir eine Reihe von Werken über die antike Religion und besonders ihre Götter und Kulte besitzen, aber keines über antike Religiosität und ihre Geschichte), und wenn man aus der Frömmigkeit der heiligen Teresia, Luthers oder Pascals das Ich fortdenken wollte, das sich gegen das Göttlich-Unendliche behaupten, sich vor ihm beugen oder in ihm erlöschen will, so wird nichts übrig bleiben. Das faustische Ursakrament der Buße setzt ein starkes und freies Wollen voraus, das sich selbst überwindet. Aber »islam« ist gerade die Unmöglichkeit eines Ich als einer freien Macht dem Göttlichen gegenüber. Jeder Versuch, der Wirkung Gottes mit einer eigenen Absicht oder auch nur Ansicht entgegenzutreten, ist »masija«, das heißt nicht ein böses Wollen, sondern der Beweis, daß die Mächte der Finsternis und des Bösen Besitz von einem Menschen ergriffen und das Göttliche daraus verdrängt haben. Das magische Wachsein ist der bloße Schauplatz eines Kampfes zwischen beiden Mächten und nicht etwa eine Macht für sich. In dieser Art von Weltgeschehen gibt es auch keine einzelnen Ursachen und Wirkungen mehr und vor allem keine das All durchherrschende – dynamische – Kausalverkettung, mithin auch keine notwendige Verknüpfung von Schuld und Strafe, keinen Anspruch auf Lohn, keine altisraelitische »Gerechtigkeit«. Dergleichen sieht die echte Frömmigkeit dieser Kultur tief unter sich. Die Naturgesetze sind nichts für immer Gegebenes, das Gott nur durch ein Wunder aufheben kann, sondern gewissermaßen der Gewohnheitszustand des selbstherrlichen göttlichen Wirkens und ohne innere – logische, faustische – Notwendigkeit. Es gibt in der ganzen Welthöhle nur eine Ursache, die allen sichtbaren Wirkungen unmittelbar zugrunde liegt, die Gottheit, die selbst keine Gründe für ihre Handlungen mehr hat. Über solche Gründe auch nur nachzudenken, ist Sünde. Aus diesem Grundgefühl ergibt sich die rein magische Idee der Gnade. Sie liegt allen Sakramenten dieser Kultur, vor allem dem magischen Ursakrament der Taufe zugrunde und bildet den innerlichsten Gegensatz zur Buße im faustischen Sinne. Die Buße setzt den Willen eines Ich voraus, die Gnade kennt ihn gar nicht. Es war ein großes Verdienst Augustins, diesen vollkommen islamischen Gedanken mit unerbittlicher Logik entwickelt zu haben – so eindringlich, daß die faustische Seele seit Pelagius auf jedem Wege versucht hat, diese für sie an Selbstvernichtung streifende Gewißheit zu umgehen, und den Ausdruck ihres eigenen Gottbewußtseins jedesmal in einem tiefen und innigen Mißverstehen augustinischer Sätze fand. In Wirklichkeit ist Augustin der letzte große Denker der früharabischen Scholastik und nichts weniger als ein abendländischer Geist. (»Er ist in Wahrheit Abschluß und Vollendung der christlichen Antike, ihr letzter und größter Denker, ihr geistlicher Praktiker und Volkstribun. Von hier aus muß er zuerst verstanden werden. Was dann spätere Zeiten aus ihm gemacht haben, ist eine andere Frage. Seinen eigentlichen, antike Kultur, kirchlich-episkopale Autorität und innerlichste Mystik zusammenfassenden Geist können sie gar nicht fortgesetzt haben, da sie, von anderen Verhältnissen umgeben, andere praktische Aufgaben vor sich hatten.« (E. Troeltsch, Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter [1915], S. 7.) Seine Macht beruht wie die Tertullians auch darauf, daß seine Schriften nicht ins Lateinische übersetzt, sondern in dieser heiligen Sprache der abendländischen Kirche gedacht waren. Eben das schließt beide von dem Gebiet aramäischen Denkens aus. Vgl. Bd. II, S. 832 f..)“ (Ebd., S. 849-850Spengler).

„Das folgt mit Notwendigkeit aus dem Weltgefühl der magischen Menschen und führt zur Verwandlung der Herrscher in Kalifen - Beherrscher vor allem der Gläubigen, nicht eines Gebietes - und damit zur Auffassung der Rechtgläubigkeit als der Voraussetzung wirklicher Staatsangehörigkeit, zur Pflicht der Verfolgung falscher Religionen - der heilige Krieg des Islam ist so alt wie diese Kultur selbst und hat ihre ersten Jahrhunderte vollkommen erfüllt -, zur Stellung der im Staate nur geduldeten Ungläubigen unter eigenes Recht und Verwaltung - denn das göttliche Recht ist Ketzern versagt - und damit zur Wohnweise des Ghetto.“ (Ebd., S. 868Spengler).

„Mit dem Ende der arabischen Frühzeit tritt der endgültige Zerfall des Christentums in drei Religionen ein, die sich symbolisch mit den Namen Paulus, Petrus und Johannes bezeichnen lassen und von denen keine mehr die eigentliche und wahre genannt werden darf, wenn man nicht historischen und theologischen Vorurteilen nachgibt. Sie sind zugleich drei Nationen im Stammgebiet der älteren griechischen, jüdischen und persischen Nation, und sie bedienen sich der von diesen entlehnten Kirchensprachen des Griechischen, Aramäischen und Pehlewi.“ (Ebd., S. 875Spengler).

„Den Islam muß man als den Puritanismus der gesamten Gruppe frühmagischer Religionen betrachten, der nur in Form einer neuen Religion aufgetreten ist und zwar im Bereich der Südkirche und des talmudischen Judentums. In dieser tieferen Bedeutung und nicht allein in der Wucht des kriegerischen Ansturms liegt das Geheimnis seiner märchenhaften Erfolge“ (Ebd., S. 878-879Spengler).

„Jeder Blick in irgendein Buch über Religionsgeschichte lehrt, daß »das« Christentum zwei Zeitalter großer Gedankenbewegung kennengelernt hat, 0–500 im Orient und 1000–1500 im Okzident. (Ein drittes »gleichzeitiges«, wird in der ersten Hälfte des nächsten Jahrtausends in der russischen Welt folgen.)“ (Ebd., S. 868Spengler).

Anfang des Kapitels„Pythagoras, Mohammed, Cromwell“

„Auch der Schlaf erlöst. Der Tod selbst ist der Bruder des Schlafs.“ (Ebd., S. 881Spengler).

„Das Verstehen von Ursachen erlöst. Der Glaube an die gefundenen Zusammenhänge bringt die Weltangst zum Weichen. Gott ist die Zuflucht des Menschen vor dem Schicksal, das sich fühlen, erleben, aber nicht denken, vorstellen, nennen läßt, das versinkt, solange das »kritische« – scheidende – furchtgeborne Verstehen Ursachen hinter Ursachen greifbar, d.h. für das äußere oder innere Auge in optischer Aufreihung feststellt, aber auch nur so lange. Es ist die verzweifelte Lage des höheren Menschen, daß sein mächtiges Verstehenwollen sich in beständigem Widerspruch zu seinem Dasein befindet. Es dient dem Leben nicht mehr; herrschen kann es auch nicht; so bleibt etwas Ungelöstes in allen bedeutenden Lagen. »Es darf sich einer nur für frei erklären, so fühlt er sich den Augenblick als bedingt. Wagt er es, sich für bedingt zu erklären, so fühlt er sich frei.« (Goethe)“ (Ebd., S. 883-884Spengler).

„Das erste und vielleicht das einzige Ergebnis des menschlichen Verstehenwollens ist der Glaube. »Ich glaube« ist das große Wort gegen die metaphysische Angst und zugleich ein Bekenntnis der Liebe. Mag das Forschen und Kennenlernen seinen Gipfel in einer plötzlichen Erleuchtung oder einer erfolgreichen Berechnung haben, so wäre doch alles eigene Empfinden und Begreifen ohne Sinn, wenn nicht die innere Gewißheit von »etwas« sich einstellte, das als das Andre und Fremde und zwar genau in der ermittelten Gestalt in der Verkettung von Ursache und Wirkung »ist«. Der Mensch als Wesen des sprachgeleiteten Denkens kennt also als seinen höchsten geistigen Besitz den endlich errungenen festen Glauben an dieses der Zeit und dem Schicksal entrückte Etwas, das er schauend abgesondert und durch Name und Zahl gezeichnet hat. Aber was das ist, bleibt zuletzt dennoch dunkel. Wurde die geheime Logik des Alls damit selbst berührt oder nur ein Schattenbild? Das ganze Ringen und Leiden, die ganze Angst des grübelnden Menschen richtet sich auf diesen neuen Zweifel, der Verzweiflung werden kann. Er braucht in seinem geistigen Tiefendrang den Glauben an ein letztes Etwas, das sich denkend erreichen, ein Ende des Zertrennens, das keinen Rest von Geheimnis mehr übrig läßt. Die Winkel und Abgründe seiner geschauten Welt müssen sämtlich durchleuchtet sein – nichts anderes kann ihn erlösen.“ (Ebd., S. 886Spengler).

„Hier geht der Glaube über in das aus dem Mißtrauen erwachsene »Wissen« oder, was wahrer ist, in den Glauben an ein solches Wissen. Denn diese Form des Verstehens ist durchaus abhängig von jener, später, künstlicher und fragwürdiger. Es kommt hinzu, daß die religiöse Theorie – das gläubige Schauen – zu einer priesterlichen Praxis führt, die wissenschaftliche Theorie aber sich umgekehrt durch[886] jene aus der Praxis, dem technischen Wissen des alltäglichen Lebens ablöst. (Vgl. S. 580 f..) Der feste Glaube, der sich aus Erleuchtungen, Offenbarungen, plötzlichen Tiefblicken ergibt, kann kritischer Arbeit entbehren. Das kritische Wissen aber setzt den Glauben voraus, daß seine Methoden genau zu dem führen, was man sucht, nicht zu neuen Bildern, sondern zu »Wirklichem«. Aber die Geschichte lehrt, daß der Zweifel am Glauben zum Wissen führt und der Zweifel am Wissen nach einer Zeit des kritischen Optimismus wieder zurück zum Glauben. Je mehr das theoretische Wissen sich vom gläubigen Hinnehmen befreit, desto näher kommt es der Selbstaufhebung. Was übrig bleibt, ist einzig und allein die technische Erfahrung.“ (Ebd., S. 886-887Spengler).

Wahr ist nur das Zeitlose. Wahrheiten liegen jenseits der Geschichte und des Lebens; dafür ist das Leben selbst etwas jenseits aller Ursachen, Wirkungen und Wahrheiten. Beides, die Kritik am Wachsein und am Dasein, ist geschichtswidrig und lebensfremd. Aber im ersten Falle entspricht das durchaus der kritischen Absicht und der inneren Logik des Gegenstandes, den man meint, im letzten nicht. Der Unterschied von Glauben und Wissen oder Furcht und Neugier oder Offenbarung und Kritik ist also nicht der letzte. Wissen ist nur eine späte Form des Glaubens. Aber Glaube und Leben, Liebe aus der geheimen Furcht vor der Welt und Liebe aus dem geheimen Haß der Geschlechter, die Kenntnis der anorganischen und das Fühlen der organischen Logik, Ursachen und Schicksale – das ist der tiefste aller Gegensätze. Hier entscheidet es sich nicht, was für eine Art zu denken man hat – ob religiös oder kritisch – oder worüber man denkt, sondern ob man ein Denker ist – gleichviel über was – oder ein Täter.“ (Ebd., S. 889Spengler).

Es gibt nur kausale Moral, d.h. eine sittliche Technik auf dem Hintergrunde einer gläubigen Metaphysik.“ (Ebd., S. 890Spengler).

„Zeugung und Tod begrenzen das Leben des Leibes im Raume. Daß es der Leib ist, macht das eine zur Schuld, das andere zur Strafe.“ (Ebd., S. 891Spengler).

„Sozialethik ist nichts als praktische Politik. Sie gehört als sehr spätes Produkt derselben geschichtlichen Welt an, in der die Sitte auf der Höhe aller Frühzeiten als Edelmut und Ritterlichkeit starker Geschlechter erscheint, gegenüber denen, die es im Leben der Geschichte und des Schicksals schlecht haben, das was man heute in wohlerzogenen Kreisen, die Takt und Zucht besitzen, gentlemanlike oder Anstand nennt und dessen Gegenstück nicht die Sünde ist, sondern die Gemeinheit. Das ist wieder der Unterschied von Dom und Burg. Diese Gesinnung fragt nicht nach Geboten und Gründen. Sie fragt überhaupt nicht. Sie liegt im Blute – eben das bedeutet Takt – und sie fürchtet sich nicht vor Strafe und Vergeltung, sondern vor Verachtung, im besonderen Selbstverachtung. Sie ist nicht selbstlos, sondern folgt gerade aus der Fülle eines starken Selbst. Aber das Mitleid hat, gerade weil es ebenfalls innere Größe verlangt, in ganz denselben Frühzeiten seine heiligsten Diener wie Franz von Assisi und Bernhard von Clairvaux gefunden, die eine Durchgeistigung des Entsagens besaßen, eine Seligkeit in dem Sich-selbst-darbringen, eine ätherische, blutlose, zeitlose, geschichtslose Caritas, in welcher die Furcht vor dem All sich ganz in reine, fleckenlose Liebe verwandelt hat, eine Höhe der kausalen Moral, deren späte Zeiten überhaupt nicht mehr fähig sind.“ (Ebd., S. 892Spengler).

„Um sein Blut zu bezwingen, muß man welches haben. Deshalb gibt es ein Mönchtum großen Stils nur in ritterlichen und kriegerischen Zeiten, und das höchste Symbol für den vollkommenen Sieg des Raumes über die Zeit ist der zum Asketen gewordene Krieger, nicht der geborene Träumer und Schwächling, der von Natur ins Kloster gehört, oder der Gelehrte, der in seiner Stube an einem Moralsystem baut. Man sei doch kein Heuchler – was heute sich Moral nennt, die maßvolle Nächstenliebe und die Betätigung anständiger Gesinnungen oder die Ausübung der Caritas mit dem Hintergedanken der Erwerbung politischer Macht, ist nach dem Maßstabe der Frühzeit nicht einmal Rittersinn von irgendwelchem Rang. Noch einmal: eine große Moral gibt es nur im Hinblick auf den Tod, aus einer das ganze Wachsein erfüllenden Furcht vor metaphysischen Gründen und Folgen, aus einer Liebe, die das Leben überwindet, aus dem Bewußtsein, unentrinnbar im Banne eines kausalen Systems heiliger Gebote und Zwecke zu stehen, das man als wahr verehrt und dem man ganz angehören oder ganz entsagen muß. Eine beständige Spannung, Selbstbeobachtung, Selbstprüfung begleitet die Ausübung dieser Moral, die eine Kunst ist und neben der die Welt als Geschichte zu nichts versinkt. Man sei Held oder Heiliger. In der Mitte liegt nicht die Weisheit, sondern die Alltäglichkeit.“ (Ebd., S. 892-893Spengler).

„Die Zeit verschlingt den Raum – das ist das Schicksal jedes wachen Augenblicks.“ (Ebd., S. 893Spengler).

„Trotzdem gibt es »ewige Wahrheiten«. Jeder Mensch besitzt sie in Menge, insofern er verstehend sich in einer Gedankenwelt befindet, in deren Zusammenhang sie unveränderlich feststehen, nämlich »eben jetzt«, im Augenblick des Denkens, nach Grund und Folge, Ursache und Wirkung eisern verklammert. Nichts in dieser Ordnung kann sich verlagern, wie er glaubt, aber eine Woge des Lebens hebt sein waches Ich und seine Welt. Der Einklang bleibt, aber er hat als Ganzes, als Tatsache eine Geschichte. Absolut und relativ verhalten sich wie Querschnitt und Längsschnitt einer Generationenfolge: der zweite sieht vom Räume ab, der erste aber von der Zeit. Wer systematisch denkt, bleibt in der kausalen Ordnung eines Augenblicks. Nur wer physiognomisch die Folge der Einstellungen überblickt, erkennt die beständige Veränderung dessen, was wahr ist.“ (Ebd., S. 893Spengler).

„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis – das gilt auch von den ewigen Wahrheiten, sobald man ihrer Bahn im Strom der Geschichte folgt, wo sie eingeschlossen im Weltbilde lebender und sterbender Geschlechter weitertreiben. Für jeden Menschen und seines Daseins kurze Spanne ist die eine Religion ewig und wahr, die das Schicksal ihm durch Ort und Zeit seiner Geburt bestimmt hat. Mit ihr fühlt er, aus ihr bildet er die Anschauungen und Überzeugungen seiner Tage. An ihren Worten und Formen hält er fest, obwohl er sie beständig anders meint. Ewige Wahrheiten gibt es in der Welt als Natur; in der Welt als Geschichte gibt es ein ewig wechselndes Wahrsein.“ (Ebd., S. 894Spengler).

„Die Religionen der hohen Kulturen sind nicht entwickelter, sondern anders. Sie liegen heller und geistiger im Lichte da, sie kennen die verstehende Liebe, sie haben Probleme[895] und Ideen, strenggeistige Theorien und Techniken, aber die religiöse Symbolik des gesamten Alltagslebens kennen sie nicht mehr. Die primitive Religiosität durchdringt alles, die späten Einzelreligionen sind geschlossene Formenwelten für sich.“ (Ebd., S. 895-896Spengler).

„Nichts hebt den abgrundtiefen Gegensatz von Raum und Zeit auf .... “ (Ebd., S. 901Spengler).

„Vor dem chinesischen Wachsein waren Himmel und Erde Hälften des Makrokosmos, ohne Gegensatz und jede ein Spiegelbild der andern. Das Werden erscheint in der ungezwungenen Wechselwirkung zweier Prinzipien, des yang und yin, die eher periodisch als polar gedacht sind. (Yang-Yin). Dementsprechend gibt es zwei Seelen im Menschen .... Aber von beiden Seelenarten gibt es außerhalb des Menschen noch unzählige Mengen .... Das Leben der Natur und das menschliche Leben bestehen ganz eigentlich aus dem Spiel solcher Einheiten. Klugheit, Glück, Kraft und Tugend hängen von ihrem Verhältnis ab. .... Alles das wird in dem Urwort tao zusammengefaßt. Der Kampf zwischen dem yang und yin im Menschen ist das tao seines Lebens; das Weben der Geisterscharen draußen ist das tao der Natur. Die Welt besitzt tao, insofern sie Takt, Rhythmus und Periodizität hat. Sie besitzt li, Spannung, insofern man sie erkennt und fertige Verhältnisse zur ferneren Anwendung daraus abzieht. .... Der Weg des Pharao durch den dunklen Gang zu seinem Heiligtum ist ihm verwandt, das faustische Pathos der dritten Dimension ist es auch: aber tao ist doch von dem Gedanken der technischen Überwindung der Natur weit entfernt. Der chinesische Park vermeidet die energische Perspektive. Er legt Horizont hinter Horizont und lädt zum Wandeln ein, statt auf ein Ziel zu weisen. Der chinesische »Dom« der Frühzeit, das Pi-yung, hat mit seinen Pfaden, die durch Tore, Gebüsche, über Treppen, geschwungene Brücken und Plätze führen, niemals den unerbittlichen Zug Ägyptens und den Tiefendrang der Gotik.“ (Ebd., S. 910-911Spengler).

„In steilem Aufstieg das germanisch-katholische Christentum .... Die mythische Welt, die sich nun rings um diese junge Seele aufbaut, ein Ganzes von Kraft, Wille und Richtung, unter dem Ursymbol des Unendlichen gesehen, ein riesenhaftes Wirken fernhin, Abgründe des Entsetzens und der Seligkeit, die sich plötzlich auf tun –, das war den Auserwählten dieser frühen Religiosität etwas ganz Natürliches, so daß sie gar nicht den Abstand fanden, um es als Einheit zu »erkennen«. - Die väterliche Gottheit empfand man als die Kraft selbst, das ewige, große und allgegenwärtige Wirken, die heilige Kausalität, die für irdische Augen kaum eine greifbare Gestalt gewinnen konnte. Aber die ganze Sehnsucht der jungen Rasse, das ganze Verlangen dieses mächtig strömenden Blutes, sich in Demut vor dem Sinn des Blutes zu beugen, fand ihren Ausdruck in der Gestalt der Jungfrau und Mutter Maria, deren Krönung im Himmel eins der frühesten Motive gotischer Kunst geworden ist .... Aber diese Welt der Reinheit, des Lichts und der geistigen Schönheit wäre undenkbar gewesen ohne das Gegenbild, das davon nicht zu trennen ist und zu den Höhepunkten der Gotik gehört, eine ihrer unergründlichsten Schöpfungen, die man heute stets vergißt – vergessen will. Während sie dort oben thront, lächelnd in ihrer Schönheit und Milde, liegt eine andere Welt im Hintergrunde: überall in der Natur und in der Menschheit webt es, brütet Unheil, bohrt, zerstört, verführt: das Reich des Teufels. Es durchdringt die ganze Schöpfung; es liegt überall auf der Lauer. Ein Heer von Kobolden, Nachtfahrenden, Hexen, Werwölfen ist ringsum da, und zwar in menschlicher Gestalt. Niemand weiß von dem Nächsten, ob er sich nicht den Unholden verschrieben hat. Niemand weiß von einem kaum erblühten Kinde, ob es nicht schon eine Teufelsbuhle ist. Eine entsetzliche Angst, wie vielleicht nur noch in ägyptischer Frühzeit, lastet auf den Menschen, die jeden Augenblick in den Abgrund stürzen können. Es gab eine schwarze Magie, Teufelsmessen und Hexensabatte, nächtliche Feste auf Berghöhen, Zaubertränke und Besprechungen. Der Höllenfürst mit seinen Verwandten – Mutter und Großmutter, denn da er das Sakrament der Ehe durch sein Dasein verhöhnt, darf er Weib und Kind nicht haben –, mit den gefallenen Engeln und unheimlichen Gesellen ist eine der großartigsten Schöpfungen der gesamten Religionsgeschichte, im germanischen Loki kaum vorgedeutet. Ihre grotesken Gestalten mit Hörnern, Klauen und Pferdehuf waren in den Mysterienspielen des 11. Jahrhunderts schon ganz ausgebildet, erfüllen allenthalben die künstlerische Phantasie und sind aus der gotischen Malerei bis auf Dürer und Grünewald nicht wegzudenken. Der Teufel ist schlau, bösartig, schadenfroh und wird doch von den Mächten des Lichtes zuletzt geprellt. Er und seine Brut sind launig, tolpatschig, erfinderisch und von ungeheuerlicher Phantastik, die Verkörperung des Höllengelächters gegenüber dem verklärten Lächeln der Himmelskönigin, aber auch des faustischen Welthumors gegenüber dem Jammer zerknirschter Sünder. Man kann sich die Wucht und Eindringlichkeit dieses Bildes nicht groß, den Glauben daran nicht tief genug denken. Marienmythos und Teufelsmythos haben sich zusammen ausgebildet und keiner ist ohne den andern möglich. Der Unglaube an beide ist Todsünde. Es gibt einen Marienkult der Gebete und einen Teufelskult der Beschwörungen und Exorzismen. Der Mensch wandelt beständig über einem Abgrund, der unter dünner Decke liegt. Das Leben in dieser Welt ist ein beständiger verzweifelter Kampf mit dem Teufel, in dem jeder einzelne als Glied der streitenden Kirche dreinschlagen, sich wehren, sich als Ritter erproben muß. Von droben schaut die triumphierende Kirche der Engel und Heiligen in ihrer Glorie zu. In diesem Ringen wirkt die himmlische Gnade wie ein Schild. Maria ist die Beschützerin, in deren Schoß man flüchten kann, und die Richterin, die den Kampfpreis erteilt. Beide Welten haben ihre Legende, ihre Kunst, ihre Scholastik und Mystik. Auch der Teufel kann Wunder tun. Was in keiner andern Frühreligion erscheint, ist die sinnbildliche Farbe. Zur Madonna gehören das Weiß und Blau, zum Teufel das Schwarz, Schwefelgelb und Rot. Die Heiligen und Engel schweben im Äther, aber die Teufel springen und hinken und die Hexen sausen durch die Nacht. Erst beide zusammen, Licht und Nacht, Liebe und Angst, füllen die gotische Kunst mit ihrer unbeschreiblichen Innerlichkeit. Das ist nichts weniger als »künstlerische« Phantasie. Jeder Mensch wußte die Welt bevölkert mit Scharen von Engeln und Teufeln. Die lichtumgebenen Engel des Fra Angelico und der frührheinischen Meister und die Fratzengesichter an den Portalen der großen Dome erfüllten wirklich die Luft. Man sah sie, man fühlte überall ihre Anwesenheit. Wir wissen heute gar nicht mehr, was ein Mythos ist, nämlich nicht ein ästhetisch bequemes Sichvorstellen, sondern ein Stück leibhaftigster Wirklichkeit, das ganze Wachsein durchwühlend und das Dasein bis ins Innerste erschütternd. Diese Wesen sind ringsumher beständig da. Man erblickte sie, ohne sie zu sehen. Man glaubte an sie mit dem Glauben, der den Gedanken an Beweise als Lästerung empfindet. Was wir heute Mythos nennen, unsere literaturgesättigte Schwärmerei für gotische Farbigkeit, ist nichts als Alexandrinismus. Damals »genoß« man ihn nicht; der Tod stand dahinter. Es war in der Antike ganz ebenso. Die homerischen Gestalten waren für den hellenistisch Gebildeten nichts als Literatur, Vorstellung, künstlerisches Motiv und schon für die Zeit Platos nicht viel mehr. Aber um 1100 brach ein Mensch vor der furchtbaren Wirklichkeit der Demeter und des Dionysos zusammen.“ (Ebd., S. 911-914Spengler).

„Cäsarius von Heisterbach war bereits mit der ganzen Teufelslegende vertraut; in der Legenda Aurea ist sie ebenso wirklich und wirksam wie die Marienlegende. 1233, als man die Dome von Mainz und Speier einwölbte, erschien die Bulle Vox in Rama, durch welche der Teufels- und Hexenglaube kanonisch geworden ist. Es war nicht lange nach dem »Sonnengesang« des heiligen Franz, und während die Franziskaner im inbrünstigen Gebet vor Maria knieten und ihren Kult ausbreiteten, rüsteten die Dominikaner sich zum Kampf gegen den Teufel durch die Inquisition. Gerade weil in der einen Gestalt die himmlische Liebe ihren Mittelpunkt gefunden hatte, wurde die irdische dem Teufel verwandt. Das Weib ist die Sünde – so empfanden es die großen Asketen, wie sie es in der Antike, in China und Indien empfunden hatten. Der Teufel herrscht nur durch das Weib; die Hexe[915] ist die Verbreiterin der Todsünden. Thomas von Aquino hat die unheimliche Lehre vom Incubus und Succubus entwickelt. .... Als Lionardo an der Heiligen Anna Selbdritt arbeitete, auf[916] der Höhe der Renaissance, wurde in Rom in bestem Humanistenlatein der Hexenhammer geschrieben (1487). Der große Mythos der Renaissance war dieser, und ohne ihn versteht man die prachtvolle, echt gotische Stärke dieser antigotischen Bewegung nicht. Menschen, die den Teufel nicht um sich spürten, hätten weder die Göttliche Komödie noch die Fresken in Orvieto noch die Decke der Sixtina schaffen können.“ (Ebd., S. 915-917Spengler).

„Erst auf dem gewaltigen Hintergrunde dieses Mythos erwuchs der faustischen Seele ein Gefühl von dem, was sie war. Ein Ich im Unendlichen verloren; ganz und gar Kraft, aber in einer Unendlichkeit größerer Kräfte ohnmächtig; ganz und gar Wille, aber voller Angst für seine Freiheit. Das Problem der Willensfreiheit ist nie tiefer, nie qualvoller durchdacht worden. Andere Kulturen haben es gar nicht gekannt. Aber eben weil die magische Ergebung hier ganz unmöglich war, weil es kein »es« war, kein Teil eines allgemeinen Geistes, der dachte, sondern ein einzelnes, kämpfendes Ich, das sich zu behaupten suchte, wurde jede Grenze der Freiheit als eine Kette empfunden, die man durch das Leben schleppte, und dieses selbst als ein lebendiger Tod. Wenn es aber so war – warum? wofür?“ (Ebd., S. 917Spengler).

„Aus dieser Einsicht erhob sich ein ungeheures Schuldbewußtsein, das wie eine einzige verzweifelte Klage durch diese Jahrhunderte geht. Die Dome richten sich immer bittender zum Himmel auf, die gotischen Gewölbe werden wie ein Händefalten; kaum schimmert aus hohen Fenstern ein tröstliches Licht in die Nacht der langen Kirchenschiffe. Die atembeklemmenden Parallelfolgen des Kirchengesangs, die lateinischen Hymnen sprechen von wundgescheuerten Knien und von Geißelhieben in nächtlicher Zelle. Für den magischen Menschen war die Welthöhle eng und der Himmel nah gewesen; hier war er unendlich fern; keine Hand schien aus diesen Räumen herabzureichen, und um das verlorene Ich lagerte sich höhnend die Teufelswelt. Deshalb wurde es die große Sehnsucht der Mystik, entbildet zu werden von der Kreatur, wie Heinrich Seuse sagte, sein selbst und aller Dinge ledig zu werden (Meister Eckart), das Lassen der Ichheit (Theologie-deutsch). Daneben erhob sich ein endloses Grübeln und Sichhalten an Begriffe, die immer feiner und feiner[917] zerspalten wurden, um das Warum zu erfahren, und endlich der allgemeine Schrei nach Gnade, nicht der magischen, die als Substanz herabkam, sondern der faustischen, die den Willen losband.“ (Ebd., S. 917Spengler).

Frei wollen zu dürfen ist im tiefsten Grunde das einzige Geschenk, das die faustische Seele vom Himmel erfleht. Die sieben Sakramente der Gotik, von Petrus Lombardus als Einheit empfunden, 1215 auf dem Lateranskonzil zum Dogma erhoben, von Thomas von Aquino mystisch begründet, haben nur diesen Sinn. Sie begleiten die einzelne Seele von der Geburt bis zum Tode und schirmen sie vor den teuflischen Mächten, die sich in den Willen einzunisten suchen. Denn sich dem Teufel verschreiben, heißt ihm seinen Willen ausliefern. Die streitende Kirche auf Erden ist die sichtbare Gemeinschaft derer, die durch den Genuß der Sakramente begnadet sind, wollen zu können. Diese Gewißheit des Freiseins erscheint verbürgt im Altarsakrament, das nun von Grund aus umgedacht wird. Das Wunder der Heiligen Wandlung, das sich in den Händen des Priesters täglich vollzieht, die geweihte Hostie im Hochaltar des Domes, in welcher der Gläubige die Anwesenheit dessen spürte, der sich einst geopfert hatte, um den Seinen die Freiheit des Wollens zu gewähren – das schuf ein Aufatmen, wie wir es uns heute gar nicht mehr vorstellen können und für das zum Danke 1264 das Hauptfest der katholischen Kirche, Fronleichnam, gestiftet worden ist.“ (Ebd., S. 918Spengler).

„Aber weit darüber hinaus greift das eigentlich faustische Ursakrament der Buße. Es ist mit dem Marien- und dem Teufelsmythos die dritte große Schöpfung der Gotik, aber es gibt beiden erst Tiefe und Bedeutung; es deckt die letzten Geheimnisse der Seele dieser Kultur auf und stellt sie damit abseits von allen andern. Mit dem magischen Ursakrament der Taufe wurde der Mensch dem großen consensus einverleibt; das eine große »Es« des göttlichen Geistes nahm auch in ihm seinen Sitz und für alles, was geschah, folgte daraus die Pflicht der Ergebung. In der faustischen Buße aber liegt die Idee der Persönlichkeit. Es ist nicht richtig, daß die Renaissance sie entdeckt habe. (Oder gar wiederentdeckt. Der antike Mensch ist als durchseelter Leib eine unter vielen voneinander ganz unabhängigen Einheiten. Der faustische Mensch ist ein Mittelpunkt im All und umfaßt mit seiner Seele das Ganze. Persönlichkeit [Individualität] bedeutet aber nicht etwas einzelnes, sondern einziges.) Sie hat ihr nur eine glänzende und flache Fassung gegeben, so daß jeder sie plötzlich bemerken konnte. Geboren wurde sie mit der Gotik; sie ist ihr innerstes Eigentum; sie ist mit dem gotischen Geiste eins und dasselbe. Denn diese Buße vollbringt jeder nur für sich allein. Er allein kann sein Gewissen erforschen. Er allein steht reuig vor dem Unendlichen da; er allein muß in der Beichte seine persönliche Vergangenheit verstehen und in Worte fassen, und auch die Lossprechung, die Befreiung seines Ich zu neuem verantwortlichen Tun erfolgt für ihn allein. Die Taufe ist ganz unpersönlich. Man empfängt sie, weil man ein Mensch, nicht weil man dieser Mensch ist. Die Idee der Buße aber setzt voraus, daß jede Tat ihren einzigartigen Wert erst durch den erhält, der sie tut. Das ist es, was die abendländische Tragödie von der antiken, chinesischen und indischen unterscheidet, was unser Strafrecht immer deutlicher auf den Täter und nicht die Tat gerichtet hat, was alle sittlichen Grundbegriffe aus dem individuellen Tun und nicht aus der typischen Haltung ableitet. Faustische Verantwortung statt magischer Ergebung, der einzelne Wille statt des consensus, die Entlastung statt der Resignation: es ist der Unterschied zwischen dem aktivsten und dem passivsten aller Sakramente und leitet wieder zum Unterschied der Welthöhle von der Dynamik des Unendlichen zurück. Die Taufe wird vollzogen, die Buße vollzieht jeder einzelne in sich selbst. Aber die gewissenhafte Erforschung der eignen Vergangenheit ist zugleich das früheste Zeugnis und die große Schule für den historischen Sinn des faustischen Menschen. Es gibt keine zweite Kultur, in welcher das eigne Leben dem Lebenden Zug um Zug und pflichtgemäß so bedeutend war, weil er dafür in Worten Rechenschaft abzulegen hatte. Wenn Geschichtsforschung und Lebensbeschreibung den Geist des Abendlandes von Anfang an auszeichnen; wenn beide im tiefsten Grunde Selbstprüfung und Beichte sind, und das Dasein mit einer Bewußtheit und bewußten Beziehung auf einen geschichtlichen Hintergrund geführt wird, wie man es anderswo niemals auch nur für möglich und erträglich gehalten hätte; wenn wir zuerst die Geschichte aus dem Aspekt von Jahrtausenden zu betrachten gewöhnt sind, nicht rhapsodisch und ausschmückend wie in der Antike und in China, sondern richtend – mit der fast sakramentalen Formel im Untergrunde: tout comprendre, c'est tout pardonner – so hegt der Ursprung davon in diesem Sakrament der gotischen Kirche, in dieser beständigen Entlastung des Ich durch historische Prüfung und Rechtfertigung. Jede Beichte ist eine Selbstbiographie. Diese eigentliche Befreiung des Willens ist uns so notwendig, daß die versagte Lossprechung zur Verzweiflung, ja zur Vernichtung führt. Nur wer die Seligkeit einer solchen innern Freisprechung ahnt, begreift den alten Namen des sacramentum resurgentium, des Sakraments der Wiedererstandenen. Deshalb hat das Sakrament dem abendländischen Priester eine ungeheure Machtstellung verliehen. Er empfängt die persönliche Beichte, er spricht persönlich im Namen des Unendlichen los. Ohne ihn ist das Leben nicht zu ertragen. – Der Gedanke der Beichtpflicht, die 1215 endgültig festgesetzt wurde, stammt wie die ersten Bußbücher (Pönitentiale) aus England. Eben dort ist der Gedanke der unbefleckten Empfängnis entstanden, und auch die Idee des Papsttums zu einer Zeit, wo es in Rom selbst noch als bloße Macht- und Rangfrage behandelt wurde. Es beweist die Unabhängigkeit des gotischen vom magischen Christentum, daß die entscheidenden Ideen an der entferntesten Stelle, jenseits des Frankenreiches, aufgewachsen sind.“ (Ebd., S. 918-920Spengler).

„Wird die Seele in dieser schwersten Entscheidung auf sich selbst verwiesen, so bleibt etwas Ungelöstes wie eine ewige Wolke über ihr. Keine Einrichtung einer zweiten Religion hat vielleicht so viel Glück in die Welt gebracht. Die ganze Inbrunst und himmlische Liebe der Gotik ruhte auf der Gewißheit der vollen Erlösung durch die dem Priester verliehene Kraft. Die Ungewißheit, die sich aus dem Verfall dieses Sakraments ergab, ließ mit der tiefen gotischen Lebensfreude auch die Marienwelt des Lichtes verblassen und die Teufelswelt blieb in ihrer düsteren Allgegenwart allein zurück. An die Stelle der nie mehr zu erreichenden Seligkeit trat der protestantische und vor allem puritanische Heroismus, der auch ohne Hoffnung auf verlorenem Posten weiterkämpft. »Die Ohrenbeichte hätte dem Menschen nie sollen genommen werden«, hat Goethe einmal bemerkt. Ein schwerer Ernst breitete sich über die Länder, in denen sie abgestorben war. Die Sitte, die Tracht, die Kunst, das Denken nahmen die nächtliche Farbe des einzigen Mythos an, der übrigblieb. Es gibt nichts Sonnenärmeres als die Lehre Kants. »Jedermann sein eigener Priester«: zu dieser Überzeugung mochte man sich durchkämpfen, soweit sie Pflichten, nie soweit sie Rechte enthielt. Mit der innigen Gewißheit der Lossprechung beichtet niemand sich selbst. Deshalb hat das ewig nagende Bedürfnis, die Seele dennoch von ihrer Vergangenheit richtend zu entlasten, alle höheren Formen der Mitteilung umgestaltet und in protestantischen Ländern die Musik, die Malerei, die Dichtung, den Brief, das Denkerbuch aus Mitteln der Darstellung zu solchen der Selbstanklage, Beichte und schrankenlosen Konfession gemacht. Auch im katholischen Gebiet, vor allem in Paris, begann mit dem Zweifel am Bußsakrament die Kunst als Psychologie. Der Blick in die Welt verschwand vor dem endlosen Wühlen im eigenen Innern. Statt des Unendlichen wurde die Mit- und Nachwelt der Menschen als Priester und Richter angerufen. Persönliche Kunst in dem Sinne, wie er Goethe von Dante, Rembrandt von Michelangelo unterscheidet, ist ein Ersatz für das Sakrament der Buße, aber damit befindet sich diese Kultur schon mitten in ihrer Spätzeit. Den unermeßlichen Unterschied der faustischen und der russischen Seele verraten einige Wortklänge. Das russische Wort für Himmel ist njébo, eine Verneinung (n). Der Mensch des Abendlandes blickt hinauf, der Russe blickt zum Horizont ins Weite. Man muß den Tiefendrang beider also dahin unterscheiden, daß er dort die Leidenschaft des Vordringens nach allen Seiten in den unendlichen Raum ist, hier ein Sichentäußern, bis das »Es« im Menschen mit der endlosen Ebene eins geworden ist. So versteht der Russe die Worte Mensch und Bruder: er sieht auch das Menschentum als Ebene. Der Gedanke, daß ein Russe Astronom ist? Er sieht die Sterne gar nicht; er sieht nur den Horizont. Statt Himmelsdom sagt er Himmelsabhang. Es ist das, was mit der Ebene irgendwo in der Ferne den Horizont bildet. Das kopernikanische System ist seelisch für ihn etwas Lächerliches, mag es mathematisch sein, was es will. »Schicksal« klingt wie eine Fanfare, »ssudjbá« knickt ein. Es gibt kein Ich unter diesem niedrigen Himmel. »Alle sind an allem schuldig«, das »Es« am »Es« in dieser endlos gedehnten Ebene – das ist das metaphysische Grundgefühl aller Schöpfungen Dostojewskis. Deshalb muß Iwan Karamasoff sich den Mörder nennen, obwohl ein anderer den Mord begangen hat. Der Verbrecher ist der Unglückliche – das ist die vollkommenste Verneinung faustischer persönlicher Verantwortlichkeit. Russische Mystik besitzt nichts von jener hinaufschwebenden Inbrunst der Gotik, Rembrandts, Beethovens, die bis zum himmelstürmenden Jubel anwachsen kann. Gott ist hier nicht die azurne Tiefe dort oben. Die mystische russische Liebe ist die der Ebene, die zu den Brüdern unter gleichem Drucke, immer längs der Erde – längs der Erde; die zu den armen gequälten Tieren, die auf ihr wandern, zu den Pflanzen, niemals zu den Vögeln, Wolken und Sternen. Das russische wolja, unser Wille, bedeutet vor allem Nicht-müssen, Freisein – nicht für, sondern von etwas, vor allem von der Verpflichtung zu persönlicher Tat. Willensfreiheit erscheint als der Zustand, in dem kein anderes »Es« befiehlt und man sich also der Laune hingeben kann. Geist, esprit, spirit ist Pfeil nach rechts oben, das russische duch ist Pfeil von oben nach rechts. Was für ein Christentum wird aus diesem Weltgefühl einst hervorgehen?“ (Ebd., S. 920-921Spengler).

„Reformation bedeutet in allen Kulturen dasselbe: Rückführung der Religion zur Reinheit ihrer ursprünglichen Idee, wie sie in den großen Jahrhunderten am Anfang in Erscheinung getreten war. Diese Bewegung fehlt in keiner Kultur, ob wir davon wissen wie in Ägypten oder nicht wie in China. Sie bedeutet auch, daß die Stadt und damit der bürgerliche Geist sich von der Seele des Landes allmählich befreien, ihrer Allmacht entgegentreten und das Fühlen und Denken der stadtlosen Urstände in bezug auf sich selbst nachprüfen.“ (Ebd., S. 922Spengler).

„Wie weit die Reformationen der einzelnen Kulturen sich auch sonst unterscheiden mögen, sie wollen alle den Glauben, der sich allzuweit in die Welt als Geschichte – die »Zeitlichkeit« – verirrt hat, in das Reich der Natur, des reinen Wachseins und des reinen, zeitlosen, kausal durchherrschten Raumes zurückführen, aus der Welt der Wirtschaft (»Reichtum«) in die der Wissenschaft (»Armut«), aus patrizisch-ritterlichen Kreisen, denen auch Renaissance und Humanismus angehören, in die geistlich-asketischen und endlich, was ebenso wichtig als unmöglich war, aus dem politischen Ehrgeiz der Rassemenschen im Priesterkleid in den Bereich der heiligen Kausalität, die nicht von dieser Welt ist.“ (Ebd., S. 923Spengler).

„Die gewaltige Tat Luthers ist eine rein geistige Entscheidung. .... Er hat die faustische Persönlichkeit vollkommen befreit; zwischen ihr und dem Unendlichen verschwindet die vermittelnde Person des Priesters. Sie ist jetzt ganz allein, ganz auf sich selbst gestellt, ihr eigener Priester und Richter. Aber das Volk konnte den befreienden Zug darin nur empfinden, nicht verstehen. Es hat, und zwar mit Begeisterung, das Zerbrechen sichtbarer Pflichten begrüßt; daß sie durch noch strengere, rein geistige Pflichten ersetzt wurden, begriff es nicht mehr. Franz von Assisi hat viel gegeben und wenig genommen, die städtischen Reformatoren nahmen viel und gaben den meisten zu wenig zurück.“ (Ebd., S. 924Spengler).

„Die heilige Kausalität des Bußsakraments ersetzte Luther durch das mystische Erlebnis der inneren Lossprechung »allein durch den Glauben«. Darin kommt er Bernhard von Clairvaux sehr nahe: das ganze Leben eine Buße, nämlich eine ununterbrochene geistige Askese gegenüber der sichtbaren im äußeren Werke. Die innere Lossprechung haben beide als göttliches Wunder verstanden: indem der Mensch sich verwandelt, verwandelt er auch Gott. Was aber keine rein geistige Mystik ersetzen kann, ist das Du draußen, in der freien Natur. Sie haben beide ermahnt: Du mußt auch glauben, daß Gott dir vergeben hat; aber für jenen wurde der Glaube durch die Macht des Priesters zum Wissen erhoben, für diesen sank er zum Zweifel, zur Verzweiflung herab. Dies kleine, aus dem Kosmischen abgelöste, in ein Einzeldasein verschlagene Ich, allein in der schreckhaftesten Bedeutung, bedurfte der Nähe eines mächtigen Du, und um so mehr, je schwächer der Geist war. Darin liegt die letzte Bedeutung des abendländischen Priesters, der seit 1215 durch da Sakrament der Priesterweihe und den character indelebilis aus der übrigen Menschheit herausgehoben war: eine Hand, mit der auch der Ärmste Gott ergreifen konnte. Diese sichtbare Verbindung mit dem Unendlichen hat der Protestantismus zerstört. Starke Geister eroberten es sich zurück, den Schwachen ging es langsam verloren. Bernhard, dem für sich das innere Wunder gelang, wollte doch den andern den milderen Weg nicht nehmen; gerade für seine lichte Seele war die Marienwelt überall in der lebendigen Natur das ewige Nahe und Hilfsbereite. Luther, der nur sich, nicht die Menschen gekannt hat, setzte an die Stelle der wirklichen Schwäche den geforderten Heroismus. Für ihn war das Leben ein verzweifelter Kampf gegen den Teufel, und den forderte er von jedem. Und jeder stand in diesem Kampf allein.“ (Ebd., S. 925-926Spengler).

„Die Reformation hat die ganze lichte und tröstende Seite des gotischen Mythos beseitigt: den Marienkult, die Heiligenverehrung, die Reliquien, die Bilder, die Wallfahrten, das Meßopfer. Der Teufels- und Hexenmythos blieb, denn er war die Verkörperung und Ursache der inneren Qual, die nun erst zu ihrer letzten Größe heranwuchs. Die Taufe war wenigstens für Luther ein Exorzismus, das eigentliche Sakrament der Teufelsbannung. Es entstand eine große, rein protestantische Teufelsliteratur. (Vgl. Max Osborn, Die Teufelsliteratur des 16. Jahrhunderts, 1893.) Von dem Farbenreichtum der Gotik blieb das Schwarz, von ihren Künsten die Musik und zwar die Orgelmusik zurück. Aber an Stelle der mythischen Lichtwelt, deren hilfreiche Nähe der Volksglaube doch nicht entbehren konnte, tauchte nun aus längst verschollener Tiefe ein Stück des altgermanischen Mythos wieder auf. Es geschah so heimlich, daß es in seiner wahren Bedeutung noch gar nicht erkannt worden ist. Man sagt zu wenig, wenn man von Volkssage und Volksbrauch redet: es war ein echter Mythos und ein echter Kultus, der in dem festen Glauben an Zwerge, Kobolde, Nixen, Hausgeister, schweifende Seelen, und in den mit heiliger Scheu geübten Riten, Opferhandlungen und Bannungen steckt. In Deutschland wenigstens trat die Sage unbemerkt wieder an Stelle des Marienmythos. Maria hieß nun Frau Holde und wo einst ein Heiliger gestanden hatte, erschien jetzt der getreue Eckart. Im englischen Volk entstand etwas, das dort längst als Bibelfetischismus bezeichnet worden ist.“ (Ebd., S. 926-927Spengler).

„Was Luther fehlte, ein ewiges Verhängnis für Deutschland, war der Blick für Tatsachen und die Kraft der praktischen Organisation. Er hat weder seine Lehre in ein klares System gebracht noch die große Bewegung geleitet und ihr ein bestimmtes Ziel gesetzt. Beides leistete allein sein großer Nachfolger Calvin. Während die lutherische Bewegung im mittleren Europa führerlos weitertrieb, betrachtete er seine Herrschaft in Genf als den Ausgangspunkt einer planmäßigen Unterwerfung der Welt unter das rücksichtslos zu Ende gedachte System des Protestantismus. Deshalb wurde er und er allein eine Weltmacht. Deshalb war es der Entscheidungskampf zwischen den Geistern Calvins und Loyolas, der seit dem Untergang der spanischen Armada die Weltpolitik im Staatensystem des Barock und den Kampf um die Herrschaft der Meere völlig beherrscht hat. Während Reformation und Gegenreformation in Mitteleuropa um eine kleine Reichsstadt oder ein paar elende Schweizerkantone rangen, fielen in Kanada, an der Gangesmündung, am Kap, am Mississippi Entscheidungen zwischen Frankreich, Spanien, England und den Niederlanden, in denen überall diese beiden großen Organisatoren der Spätreligion des Abendlandes sich gegenüberstanden.“ (Ebd., S. 927Spengler).

„Innerhalb der Barockphilosophie steht die abendländische Naturwissenschaft ganz für sich. Etwas Ähnliches besitzt keine andere Kultur. Sicherlich war sie von Anfang an nicht die Magd der Theologie, sondern Dienerin des technischen Willens zur Macht und nur deshalb mathematisch und experimentell gerichtet und von Grund aus praktische Mechanik. Da sie durch und durch zuerst Technik ist und dann Theorie, so muß sie so alt sein wie der faustische Mensch überhaupt. Technische Arbeiten von einer erstaunlichen Energie der Kombination erscheinen schon um 1000. Schon im 13. Jahrhundert hat Robert Grosseteste den Raum als Funktion des Lichtes behandelt, Petrus Peregrinus 1289 die bis auf Gilbert (1600) herab beste, experimentell begründete Abhandlung über den Magnetismus geschrieben, und beider Schüler Roger Bacon eine naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie als Grundlage für seine technischen Versuche entwickelt. Aber die Kühnheit im Entdecken dynamischer Zusammenhänge geht noch viel weiter. Das kopernikanische System ist in einer Handschrift von 1322 angedeutet und einige Jahrzehnte darauf von den Schülern Occams zu Paris, Buridan, Albert von Sachsen und Nicolas von Oresme, in Verbindung mit der vorweggenommenen Mechanik Galileis mathematisch entwickelt worden.(Vgl. M. Baumgartner, Geschichte der Philosophie des Mittelalters, 1915, S. 425 ff., 571 ff., 620 ff..) Man täusche sich nicht über die letzten Triebe, die all diesen Entdeckungen zugrunde liegen: das reine Schauen hätte des Experiments nicht bedurft, aber das faustische Symbol der Maschine, das schon im 12. Jahrhundert zu mechanischen Konstruktionen trieb und das Perpetuum mobile zum Prometheusgedanken des abendländischen Geistes gemacht hat, konnte es nicht entbehren. Die Arbeitshypothese ist immer das erste, gerade das, was für keine andre Kultur einen Sinn hatte. Man muß sich durchaus mit der erstaunlichen Tatsache vertraut machen, daß der Gedanke, jede Kenntnis von natürlichen Zusammenhängen sofort praktisch auszubeuten, den Menschen durchaus fernliegt mit Ausnahme der faustischen und derer, die wie die Japaner, Juden und Russen heute unter dem geistigen Zauber ihrer Zivilisation stehen. Daß unser Weltbild dynamisch angelegt ist, enthält schon den Begriff der Arbeitshypothese. Erst das zweite ist für jene grübelnden Mönche die Theorie, das wirkliche »Schauen«, und ganz unvermerkt, wie diese aus der technischen Leidenschaft entstanden war, leitete sie nun hinüber zu der echt faustischen Auffassung Gottes als des großen Maschinenmeisters, der alles konnte, was sie selbst in ihrer Ohnmacht nur zu wollen wagten. Unvermerkt wird die Welt Gottes von einem Jahrhundert zum andern dem Perpetuum mobile ähnlicher. Und als, ebenfalls ganz unvermerkt, vor dem immer mehr durch Experiment und technische Erfahrung geübten Blick auf die Natur der gotische Mythos schattenhaft wurde, entstanden aus den Begriffen mönchischer Arbeitshypothesen seit Galilei jene kritisch abgeklärten numina der modernen Naturwissenschaft, die Stoß- und Fernkräfte, die Gravitation, die Lichtgeschwindigkeit, endlich »die« Elektrizität, die im elektrodynamischen Weltbilde durch Einverleibung der übrigen Energieformen eine Art von physikalischem Monotheismus heraufgeführt hat. Es sind die Begriffe, welche den Formeln unterlegt werden, um ihnen mythische Anschaulichkeit zu verleihen. Die Zahlen selbst sind Technik, Hebel und Schrauben, abgelauschtes Weltgeheimnis. Das antike und jedes andre Naturdenken brauchte keine Zahlen, weil es keine Macht erstrebte. Die reine Mathematik des Pythagoras und Plato steht zu den Naturansichten des Demokrit und Aristoteles in gar keiner Beziehung.“ (Ebd., S. 928-930Spengler).

„Jede späte Philosophie enthält den kritischen Protest gegen das unkritische Schauen der Frühzeit. Aber diese Kritik eines seiner Überlegenheit sicheren Geistes trifft auch den Glauben selbst und ruft die einzige große Schöpfung im Religiösen hervor, die Eigentum der Spätzeit ist und zwar jeder: den Puritanismus. - “ (Ebd., S. 930Spengler).

„Er erscheint im Heere Cromwells und seiner eisernen, bibelfesten, psalmensingend in die Schlacht ziehenden Independenten, im Kreise der Pythagoräer, die im bittren Ernst ihrer Pflichtenlehre das fröhliche Sybaris zerstörten und ihm für immer den Makel einer sittenlosen Stadt anhängten, im Heere der ersten Kalifen, das nicht nur Staaten, sondern auch die Seelen unterwarf. Miltons Verlorenes Paradies, manche Suren des Koran, das wenige, was sich über pythagoräische Lehren feststellen läßt – das ist alles eins: Begeisterung eines nüchternen Geistes, kalte Glut, trockne Mystik, pedantische Ekstase. Aber noch einmal lodert doch eine wilde Frömmigkeit darin auf. Was die zur unbedingten Herrschaft über die Seele des Landes gelangte große Stadt an transzendenter Inbrunst aufbringen kann, das ist hier gesammelt, wie mit der Angst, daß es künstlich und vorübergehend ist, und deshalb ungeduldig, ohne Verzeihung, ohne Barmherzigkeit. Dem Puritanismus nicht nur des Abendlandes sondern aller Kulturen fehlt das Lächeln, das die Religion aller Frühzeiten verklärt hatte, die Augenblicke tiefer Lebensfreude, der Humor. Nichts von der stillen Glückseligkeit, die in magischer Frühzeit in den Kindheitsgeschichten Jesu oder bei Gregor von Nazianz so oft aufleuchtet, findet sich in den Suren des Koran, nichts von der versonnenen Heiterkeit der Gesänge des heiligen Franz bei Milton. Ein tödlicher Ernst ruht über den jansenistischen Geistern von Port Royal und den Versammlungen der schwarzgekleideten Rundköpfe, die das old merry England Shakespeares, auch ein Sybaris, in wenigen Jahren vernichtet haben. Der Kampf gegen den Teufel, dessen leibhafte Nähe sie alle fühlten, wurde erst jetzt mit einer finstren Erbitterung geführt. Im 17. Jahrhundert sind mehr als eine Million Hexen verbrannt worden und nicht nur im protestantischen Norden und katholischen Süden, sondern auch in Amerika und Indien. Freudlos und gallig ist die Pflichtenlehre des Islam (fikh) mit ihrer harten Verständigkeit so gut wie die des Westminsterkatechismus (1643) und die Ethik der Jansenisten (Jansens »Augustinus« 1640) – denn auch im Reiche Loyolas gab es mit innerer Notwendigkeit eine puritanische Bewegung. Religion ist erlebte Metaphysik, aber sowohl die Gemeinschaft der Heiligen, wie die Independenten sich nannten, als die Pythagoräer, als die Umgebung Mohammeds erlebten sie nicht mit den Sinnen, sondern zuerst als Begriff. Parshva, der um 600 v. Chr. am Ganges die Sekte der »Entfesselten« gründete, lehrte wie die andern Puritaner seiner Zeit, daß nicht Opfer und Riten, sondern allein die Erkenntnis der Identität von atman und brahman zur Erlösung führe. Ein zügelloser und doch trockener allegorischer Geist ist in aller puritanischen Dichtung an die Stelle gotischer Visionen getreten. Der Begriff ist die wahre und einzige Macht im Wachsein dieser Asketen. Um Begriffe und nicht wie Meister Eckart um Gestalten ringt Pascal. Man verbrennt Hexen, weil sie bewiesen sind, und nicht, weil man sie nachts in den Lüften sieht; die protestantischen Juristen wenden den Hexenhammer der Dominikaner an, weil er auf Begriffen errichtet ist. Die Madonnen der frühen Gotik waren den Betenden erschienen, die Madonnen Berninis hat niemand gesehen. Sie sind vorhanden, weil sie bewiesen sind, und man begeistert sich für diese Art von Existenz. Cromwells großer Staatssekretär Milton verkleidet Begriffe in Gestalten und Bunyan hat einen ganzen Begriffsmythos in eine ethisch-allegorische Handlung gebracht. Ein Schritt weiter und man steht vor Kant, aus dessen Begriffsethik zuletzt der Teufel als Begriff in Gestalt des Radikal-Bösen herauswuchs.“ (Ebd., S. 930-932Spengler).

„Die Seele der magischen Kultur fand endlich im Islam ihren wahren Ausdruck. Damit ist diese Kultur wirklich »arabisch« und endgültig von der Pseudomorphose erlöst worden.“ (Ebd., S. 933Spengler).

„Die großen Gestalten der Umgebung Mohammeds wie Abu Bekr und Omar sind durchaus den puritanischen Führern der englischen[933] Revolution wie John Pym und Hampdon verwandt, und diese Ähnlichkeit der Gesinnung und Haltung würde noch größer sein, wüßten wir mehr von den Hanifen, den arabischen Puritanern vor und neben Mohammed. Sie besaßen alle das Bewußtsein einer großen Sendung, das sie Leben und Besitz verachten ließ; sie hatten alle aus der Prädestination für sich die Bürgschaft gewonnen, die Auserwählten Gottes zu sein. Der großartig alttestamentliche Schwung in den Parlamenten und Heerlagern der Independenten, der noch im 19. Jahrhundert in vielen englischen Familien den Glauben zurückgelassen hatte, daß die Engländer Nachkommen der zehn Stämme Israels seien, ein Volk von Heiligen, dem die Lenkung der Welt bestimmt sei, hat auch die Auswanderung nach Amerika beherrscht, die mit den Pilgervätern von 1620 ihren Anfang nahm; er hat das geschaffen, was man heute die amerikanische Religion nennen darf, und das herangezüchtet, was der Engländer noch jetzt an politischer Unbedenklichkeit besitzt, die ganz religiös auf der Gewißheit der Prädestination gegründet ist. Selbst die Pythagoräer haben – etwas Unerhörtes in der antiken Religionsgeschichte – die politische Macht zu religiösen Zwecken in die Hand genommen und den Puritanismus von Polis zu Polis durchzusetzen versucht. Überall sonst gab es Einzelkulte in Einzelstaaten, von denen jeder den andern in seinen religiösen Übungen unbeachtet ließ; nur hier findet sich eine Gemeinschaft von Heiligen, deren praktische Energie über die alten Orphiker ebensoweit hinausgeht wie die independentische Kampfbegeisterung über die der Reformationskriege.“ (Ebd., S. 933-934Spengler).

„Aber im Puritanismus liegt schon der Rationalismus verborgen, der nach einigen Generationen der Begeisterung überall hervorbricht und die Herrschaft an sich nimmt. Es ist der Schritt von Cromwell zu Hume. Nicht die Stadt überhaupt, auch nicht die große Stadt, sondern einzelne wenige Städte sind nun Schauplatz der Geistesgeschichte geworden, das sokratische Athen, das Bagdad der Abbassiden, das London und Paris des 18. Jahrhunderts. Aufklärung ist das Wort für diese Zeit, die Sonne bricht hervor – aber was ist es, was da am Himmel des kritischen Bewußtseins abzieht?“ (Ebd., S. 934Spengler).

„Rationalismus bedeutet den Glauben allein an die Ergebnisse des kritischen Verstehens, also an den »Verstand«. Wenn in einer Frühzeit das credo quia absurdum ausgesprochen wurde, so lag darin die Gewißheit, daß Begreifliches und Unbegreifliches erst zusammen die Welt bilden, die Natur, die Giotto malte, in welche die Mystiker sich versenkten, in welche der Verstand nur so tief dringen kann, als die Gottheit es gestattet. Jetzt entsteht aus einem stillen Ärger der Begriff des Irrationalen; es ist das, was durch seine Unbegreiflichkeit bereits entwertet ist. Man kann es als Aberglauben offen oder als Metaphysik heimlich verachten; Wert besitzt nur das kritisch gesicherte Verstehen. Und Geheimnisse sind nichts als Beweise von Unwissenheit. Die neue geheimnislose Religion heißt in ihren höchsten Möglichkeiten Weisheit, sofia; ihr Priester ist der Philosoph und ihr Anhänger der Gebildete. Nur für den Ungebildeten ist die alte Religion unentbehrlich, meint Aristoteles (Met. XI, 8 p. 1074 b 1), und das ist durchaus die Meinung von Konfuzius und Gotamo Buddha, Lessing und Voltaire. Man kehrt zur Natur zurück, von aller Kultur, aber es ist keine erlebte, sondern eine bewiesene, aus dem Verstand geborene und ihm allein zugängliche Natur, die für das Bauerntum gar nicht vorhanden ist, und man wird von ihr nicht erschüttert, sondern in eine empfindsame Stimmung versetzt. Natürliche Religion, Vernunftreligion, Deismus, das ist alles nicht erlebte Metaphysik, sondern begriffene Mechanik, das, was Konfuzius »Gesetze des Himmels« und der Hellenismus Tyche nennt. Einst war Philosophie die Dienerin der jenseitigsten Religiosität, jetzt kommt die Empfindung auf, Philosophie müsse Wissenschaft sein, nämlich Erkenntniskritik, Wertkritik. Zwar fühlt man, daß sie auch jetzt nichts ist als abgeschwächte Dogmatik, Glaube an ein Wissen, das reines Wissen sein möchte. Man spinnt Systeme aus scheinbar gesicherten Anfängen heraus, aber man sagt zuletzt doch nur statt Gott Kraft und statt Ewigkeit Erhaltung der Energie. Allem antiken Rationalismus liegt der Olymp, allem abendländischen die Lehre von den Sakramenten zugrunde. Deshalb schwankt diese Philosophie hin und her zwischen Religion und Fachwissenschaft und wird in jedem Falle anders definiert,[935] je nachdem der Urheber noch etwas vom Priester und Seher in sich hat oder reiner Fachmann und Techniker des Denkens ist.“ (Ebd., S. 935-936Spengler).

„»Weltanschauung« ist der eigentliche Ausdruck für ein aufgeklärtes Wachsein, das unter Leitung des kritischen Verstehens sich in einer götterlosen Lichtwelt umsieht und die Sinne Lügen straft, sobald sie etwas empfinden, was der »gesunde Menschenverstand« nicht anerkennt. Was einst Mythos war, das Wirklichste des Wirklichen, unterliegt jetzt der Methode des Euhemerismus, die nach jenem Gelehrten ihren Namen trägt, welcher um 300 v. Chr. die antiken Gottheiten für Menschen erklärte, die sich einst verdient gemacht hatten. In irgendeiner Form erscheint dies Verfahren in jeder aufgeklärten Zeit. Es ist euhemeristisch, wenn die Hölle als das böse Gewissen, der Teufel als die böse Lust und Gott als die Schönheit der Natur gedeutet werden.“ (Ebd., S. 936Spengler).

„Die Aufklärung des Abendlandes ist englischen Ursprungs und das Ergebnis des Puritanismus: von Locke geht der gesamte Rationalismus des Festlands aus. Gegen ihn vor allem lehnen sich in Deutschland die Pietisten auf (seit 1700 die Herrnhuter Brüdergemeinde, Spener und Francke, in Württemberg Oetinger), in England die Methodisten (1738 Wesley von Herrnhut aus »erweckt«). Es ist wieder der Unterschied von Luther und Calvin, daß diese sich alsbald zu einer Weltbewegung organisierten und jene sich in mitteleuropäischen Konventikeln verloren.“ (Ebd., S. 938Spengler).

„Zwei Jahrhunderte nach dem Puritanismus steht die mechanistische Weltauffassung auf ihrem Gipfel. Sie ist die wirkliche Religion der Zeit. Auch wer jetzt noch überzeugt ist, im alten Sinne religiös zu sein, »an Gott zu glauben«, täuscht sich nur über die Welt, in der sich sein Wachsein spiegelt. Religiöse Wahrheiten sind in seinem Verstehen immer mechanistische Wahrheiten, und meist ist es nur die Gewohnheit der Worte, welche die wissenschaftlich gesehene Natur mythisch überfärbt. Kultur ist immer gleichbedeutend mit religiöser Gestaltungskraft. Jede große Kultur beginnt mit einem gewaltigen Thema, das sich aus dem stadtlosen Lande erhebt, in den Städten mit ihren Künsten und Denkweisen vielstimmig durchgeführt wird und in den Weltstädten im Finale des Materialismus ausklingt. Aber selbst die letzten Akkorde halten streng die Tonart des Ganzen fest. Es gibt einen chinesischen, indischen, antiken, arabischen, abendländischen Materialismus, der in jedem einzelnen Falle nichts ist als die ursprüngliche mythische Gestaltenfülle, unter Abziehung alles Erlebten und Erschauten mechanistisch gefaßt.“ (Ebd., S. 939Spengler).

„Sokrates ist so gut der Erbe der Sophisten wie der Ahnherr der kynischen Wanderprediger und der pyrrhonischen Skepsis.“ (Ebd., S. 939Spengler).

„Ganz für sich steht wieder der faustische Materialismus im engeren Sinne, in dem die technische Weltanschauung ihre Vollendung erreicht hat. Die ganze Welt als dynamisches System, exakt, mathematisch angelegt, experimentell bis in die letzten Ursachen aufzuschließen und in Zahlen zu fassen, so daß der Mensch sie beherrschen kann: das unterscheidet diese Rückkehr zur Natur von jeder andern. Wissen ist Tugend – das glaubten auch Konfuzius, Buddha und Sokrates. Wissen ist Macht – das hat nur innerhalb der europäisch-amerikanischen Zivilisation einen Sinn. Diese Rückkehr zur Natur bedeutet die Ausschaltung aller Mächte, die zwischen der praktischen Intelligenz und der Natur stehen. Überall sonst hat sich der Materialismus begnügt, scheinbar einfache Einheiten anschaulich oder begrifflich festzustellen, deren kausales Spiel alles ohne jeden Rest von Geheimnis erklärt, und das Übernatürliche auf Unwissenheit zurückzuführen. Aber der große Verstandesmythos von Energie und Masse ist außerdem eine ungeheure Arbeitshypothese. Er zeichnet das Naturbild so, daß man es gebrauchen kann. Das Schicksalhafte wird als Evolution, Entwicklung, Fortschritt mechanisiert und mitten in das System gestellt, der Wille ist ein Eiweißprozeß, und alle diese Lehren, nenne man sie Monismus, Darwinismus, Positivismus, erheben sich damit zu einer Zweckmäßigkeitsmoral, die dem amerikanischen Geschäftsmann und englischen Politiker ebenso einleuchtet wie dem deutschen Fortschrittsphilister, und die im letzten Grunde nichts ist als eine intellektuelle Karikatur der Rechtfertigung durch den Glauben.“ (Ebd., S. 940Spengler).

„Der Materialismus würde nicht vollständig sein ohne das Bedürfnis, die geistige Spannung hin und wieder loszuwerden, sich in mythische Stimmungen fallen zu lassen, irgend etwas Kultisches zu betreiben, um zur innern Entlastung den Reiz des Irrationalen, des Wesensfremden, des Absonderlichen, wenn es sein muß, auch des Albernen zu genießen. Was in der Zeit etwa des Meng-tse (372–289) und der ersten buddhistischen Brüdergemeinden noch jetzt deutlich hervortritt, gehört in ganz derselben Bedeutung auch zu den wichtigsten Zügen des Hellenismus. Um 312 wurde in Alexandria von dichtenden Gelehrten in der Art des Kallimachos der Sarapiskult erfunden und mit einer ausgeklügelten Legende versehen. Der Isiskult im republikanischen Rom war etwas, das man mit dem nachmaligen Kult der Kaiserzeit und mit der sehr ernsten Isisreligion Ägyptens nicht verwechseln darf, nämlich ein religiöser Zeitvertreib der guten Gesellschaft, der den Anlaß teils zu öffentlichem Spott gab, teils zu Skandalen und zur Schließung des Kultgebäudes, die 59–48 viermal angeordnet wurde. Die chaldäische Astrologie war damals eine Mode, gleich weit entfernt von dem echt antiken Orakelglauben und dem magischen Glauben an die Macht der Stunde. Es war »Entspannung«; man machte sich und anderen etwas vor, und dazu kamen die zahllosen Scharlatane und Schwindelpropheten, die alle Städte durchzogen und mit wichtigtuenden Bräuchen den Halbgebildeten eine religiöse Erneuerung einzureden suchten. Dem entspricht in der heutigen europäisch-amerikanischen Welt der okkultistische und theosophische Schwindel, die amerikanische Christian Science, der verlogene Salonbuddhismus, das religiöse Kunstgewerbe, das in Deutschland mehr noch als in England mit gotischen, spätantiken und taoistischen Stimmungen in Kreisen und Kulten betrieben wird. Es ist überall das bloße Spiel mit Mythen, an die man nicht glaubt, und der bloße Geschmack an Kulten, mit denen man die innere Öde ausfüllen möchte. Der wirkliche Glaube ist noch immer der an Atome und Zahlen, aber es bedarf des gebildeten Hokuspokus, um auf die Länge ertragen zu werden. Der Materialismus ist flach und ehrlich, das Spielen mit Religion ist flach und unehrlich; aber damit, daß es überhaupt möglich ist, verweist es schon auf ein neues und echtes Suchen, das sich leise im zivilisierten Wachsein meldet und zuletzt deutlich an den Tag tritt.“ (Ebd., S. 940-941Spengler).

„Was nun folgt, nenne ich die zweite Religiosität. Sie erscheint in allen Zivilisationen, sobald diese zur vollen Ausbildung gelangt sind und langsam in den geschichtslosen Zustand hinübergehen, für den Zeiträume keine Bedeutung mehr haben. Daraus ergibt sich, daß die abendländische Welt von dieser Stufe noch um viele Generationen entfernt ist.“ (Ebd., S. 941-942Spengler).

„Die zweite Religiosität ist das notwendige Gegenstück zum Cäsarismus, der endgültigen politischen Verfassung später Zivilisationen. Sie wird demnach in der Antike etwa von Augustus an sichtbar, in China etwa mit Schi Hoang-ti. .... Die zweite Religiosität enthält, nur anders erlebt und ausgedrückt, wieder den Bestand der ersten .... Zuerst verliert sich der Rationalismus, dann kommen die Gestalten der Frühzeit zum Vorschein, zuletzt ist es die ganze Welt der primitiven Religion, die vor den großen Formen des Frühglaubens zurückgewichen war und nun in einem volkstümlichen Synkretismus (Synkretismus), der auf dieser Stufe keiner Kultur fehlt, mächtig wieder hervordringt.“ (Ebd., S. 942Spengler).

„Jede Aufklärung schreitet von einem schrankenlosen Verstandesoptimismus, der stets mit dem Typus des Großstadtmenschen verbunden ist, zur unbedingten Skepsis fort. Das souveräne Wachsein, das durch Gemäuer und Menschenwerk rings von der lebendigen Natur und von der Erde unter sich abgeschnitten ist, erkennt nichts an außer sich. Es übt Kritik an seiner vorgestellten, vom alltäglichen Sinneserleben abgezogenen Welt, und zwar so lange, bis es das Letzte und Feinste gefunden hat, die Form der Form – sich selbst, also nichts. Damit sind die Möglichkeiten der Physik als des kritischen Weltverstehens erschöpft, und der Hunger nach Metaphysik meldet sich wieder. Aber es ist nicht der religiöse Zeitvertreib gebildeter und literaturgesättigter Kreise und überhaupt nicht der Geist, aus dem die zweite Religiosität hervorgeht, sondern ein ganz unbemerkter und von selbst entstehender naiver Glaube der Massen an irgendwelche mythische Beschaffenheit des Wirklichen, für die alle Beweisgründe ein Spiel mit Worten, etwas Dürftiges und Langweiliges zu sein beginnen, und zugleich ein naives Herzensbedürfnis, dem Mythos mit einem Kultus demütig zu antworten. Die Formen beider können weder vorausgesehen noch willkürlich gewählt werden. Sie erscheinen von selbst, und wir sind weit von ihnen entfernt. (Wenn aber heute schon etwas diese Formen ahnen läßt, die selbstverständlich zu gewissen Elementen des gotischen Christentums zurückleiten, so ist es nicht der Literatengeschmack an spätindischer und spätchinesischer Spekulation, sondern z.B. der Adventismus und ähnliche Sekten.) Aber die Meinungen von Comte und Spencer, der Materialismus, Monismus und Darwinismus, die im 19. Jahrhundert die Leidenschaft der besten Geister geweckt hatten, sind heute doch schon die Weltanschauung der Provinz geworden.“ (Ebd., S. 942-943Spengler).

„Die antike Philosophie hatte um 250 v. Chr. ihre Gründe erschöpft. Das »Wissen« ist von nun an nicht mehr ein beständig durchgeprüfter und vergrößerter Besitz, sondern der zur Gewohnheit gewordene Glaube daran, der durch altgewohnte Methoden immer wieder Überzeugungskraft erhält. Zur Zeit des Sokrates gab es den Rationalismus als Religion der Gebildeten. Darüber stand die gelehrte Philosophie, darunter der »Aberglaube« der Massen. Jetzt entwickelt sich die Philosophie zu einer geistigen, der Synkretismus des Volkes zu einer handgreiflichen Religiosität von ganz derselben Tendenz, und zwar dringen Mythenglaube und Frömmigkeit hinauf, nicht hinab. Die Philosophie hat viel zu empfangen und wenig zu geben. Die Stoa war vom Materialismus der Sophisten und Kyniker ausgegangen und hatte den gesamten Mythos allegorisch erklärt, aber schon von Kleanthes († 232) stammt das Tischgebet an Zeus, eins der schönsten Stücke der antiken zweiten Religiosität. Zur Zeit von Sulla gab es einen durch und durch religiösen Stoizismus höherer Kreise und einen synkretistischen Volksglauben, der phrygische, syrische, ägyptische Kulte und zahllose antike, damals fast vergessene Mysterien verband, und das entspricht genau der Entwicklung der aufgeklärten Weisheit Buddhas zum Hinayana der[943] Gelehrten und Mahayana der Menge, und dem Verhältnis des lehrhaften Konfuzianismus zum Taoismus, der sehr bald das Gefäß des chinesischen Synkretismus geworden ist.“ (Ebd., S. 943-944Spengler).

„Es war ein echter Pogrom, als im Jahre 88 v. Chr. (Vesper von Ephesus) auf einen Wink von Mithridates VI. (von Pontus) hin an einem Tage 100 000 römische Geschäftsleute von der erbitterten Bevölkerung Kleinasiens ermordet wurden. Die »Juden« dieser Zeit waren die Römer, und in dem apokalyptischen Haß der Aramäer gegen sie (vgl. die Aufstände 66-70 und 132-135) liegt auch etwas dem westeuropäischen Antisemitismus ganz Verwandtes. Alle magischen Nationen (also nicht nur die ins Abendland gezogenen Diaspora-Juden) befinden sich seit den Kreuzzügen (seit 1096-1270) auf dieser Stufe.“ (Ebd., S. 952Spengler).

„Am tiefsten trennend und verbitternd hat aber die Tatsache gewirkt, welche in ihrer vollen Targik am wenigsten begriffen worden ist: während der abendländische Mensch von den Tagen der Sachsenkaiser bis zur Gegenwart Geschichte im allerbedeutendsten Sinne durchlebt, und zwar mit einer Bewußtheit, die in keiner anderen Kultur ihresgleichen findet, hat der jüdische consensus aufgehört Geschichte zu haben. Seine Probleme waren gelöst, seine innere Form abgeschlossen und unveränderlich geworden; Jahrhunderte hatten für ihn wie für den Islam, die griechische Kirche und die Parsen keine Bedeutung mehr, und deshalb kann, wer innerlich diesem consensus verbunden ist, die Leidenschaft gar nicht begreifen, mit welcher faustische Menschen die ... Entscheidungen ihrer Geschichte, ihres Schicksals durchleben ....“ (Ebd., S. 953Spengler).

NACH OBEN „Der Staat“ (S. 961-1144):

• I. Das Problem der Stände: Adel und Priestertum (S. 961-1004) • Mann und Weib [S. 961] • Stamm und Stand [S. 964] • Bauerntum und Gesellschaft [S. 966] • Stand, Kaste, Beruf [S. 967] • Adel und Priestertum als Symbole von Zeit und Raum [S. 970] • Zucht und Bildung, Sitte und Moral [S. 979] • Eigentum, Macht und Beute [S. 983] • Priester und Gelehrte [S. 986] • Wirtschaft und Wissenschaft: Geld und Geist [S. 989] • Geschichte der Stände: Frühzeit [S. 990] • Der dritte Stand: Stadt - Freiheit - Bürgertum [S. 998]  • II. Staat und Geschichte (S. 1004-1107) • Bewegtes und Bewegung, „In-Form-sein“ [S. 1004] • Recht und Macht [S. 1008] • Stand und Staat [S. 1011] • Der Lehnsstaat [S. 1018] • Vom Lehnsverband zum Ständestaat [S. 1024] • Polis und Dynastie [S. 1027] • Der absolute Staat, Fronde und Tyrannis [S. 1038] • Wallenstein [S. 1043] • Kabinettspolitik [S. 1046] • Von der ersten zur zweiten Tyrannis [S. 1050] • Die bürgerliche Revolution [S. 1056] • Geist und Geld [S. 1059] • Formlose Gewalten (Napoleonismus) [S. 1065] • Emanzipation des Geldes [S. 1072] • „Verfassung“ [S. 1076] • Vom Napoleonismus zum Cäsarismus (Zeitalter der „kämpfenden Staaten“) [S. 1081] • Die großen Kriege [S. 1085] • Römerzeit [S. 1088] • Vom Kalifat zum Sultanat [S. 1090] • Ägypten [S. 1095] • Die Gegenwart [S. 1097] • Der Cäsarismus [S. 1101]  • III. Philosophie der Politik (S. 1107-1144) • Das Leben ist Politik [S. 1107] • Politische Begabung [S. 1111] • Der Staatsmann [S. 1112] • Tradition schaffen [S. 1115] • Physiognomischer (diplomatischer) Takt [S. 1117] • Stand und Partei [S. 1121]• Das Bürgertum als Urpartei (Liberalismus) [S. 1122] • Vom Stand über die Partei zum Gefolge von Einzelnen [S. 1125] • Die Theorie: Von Rousseau bis Marx [S. 1127] • Geist und Geld (Demokratie) [S. 1130] • Die Presse [S. 1137] • Selbstvernichtung der Demokratie durch das Geld [S. 1143]

Anfang des Kapitels„Das Problem der Stände: Adel und Priestertum“

„Ein unergründliches Geheimnis der kosmischen Flutungen (Vgl. S. 557 ff.Spengler), die wir Leben nennen, ist ihre Sonderung in zwei Geschlechter. Schon in den erdverbundenen Daseinsströmen der Pflanzenwelt strebt es auseinander, wie das Sinnbild der Blüte zeigt: etwas das dieses Dasein ist, und etwas, das es aufrecht erhält. Tiere sind frei, kleine Welten inmitten einer großen; Kosmisches, als Mikrokosmos abgeschlossen und dem Makrokosmos gegenübergestellt. Hier steigert sich, und zwar im Verlauf der Tiergeschichte mit immer größerer Entschiedenheit, das Zweierlei der Richtungen zu zweierlei Wesen, männlichen und weiblichen.“ (Ebd., S. 961Spengler).

„Das Weibliche steht dem Kosmischen näher. Es ist der Erde tiefer verbunden und unmittelbar einbezogen in die großen Kreisläufe der Natur. Das Männliche ist freier, tierhafter, beweglicher auch im Empfinden und Verstehen, wacher und gespannter.“ (Ebd., S. 961Spengler).

„Der Mann erlebt das Schicksal und begreift die Kausalität, die Logik des Gewordnen nach Ursache und Wirkung. Das Weib aber ist Schicksal, ist Zeit, ist die organische Logik des Werdens selbst. Eben deshalb bleibt das Kausalprinzip ihm ewig fremd. So oft sich der Mensch das Schicksal faßlich zu machen sucht, er hat immer den Eindruck von etwas Weiblichem empfangen, von Moiren, Parzen und Nomen. Der höchste Gott ist nie das Schicksal selbst, sondern er vertritt oder beherrscht es – wie der Mann das Weib. Das Weib ist in ursprünglichen Zeiten auch die Seherin, nicht weil es die Zukunft kennt, sondern weil es sie ist. Der Priester deutet nur, das Weib aber ist Orakel. Die Zeit selbst redet aus ihm.“ (Ebd., S. 961-962Spengler).

„Der Mann macht Geschichte, das Weib ist Geschichte.“ (Ebd., S. 962Spengler).

„In geheimnisvoller Weise enthüllt sich hier ein doppelter Sinn alles lebendigen Geschehens: es ist kosmisches Dahinströmen an sich, und dann doch wieder die Reihenfolge der Mikrokosmen selbst, die das Strömen in sich faßt, schützt und erhält. Diese »zweite« Geschichte ist die eigentlich männliche, die politische und soziale; sie ist bewußter, freier, bewegter. Sie reicht tief in die Anfänge der Tierwelt zurück und empfängt in den Lebensläufen der hohen Kulturen ihre höchste sinnbildliche und welthistorische Gestalt. Weiblich ist die erste, die ewige, mütterliche, pflanzenhafte – die Pflanze selbst hat immer etwas Weibliches –, die kulturlose Geschichte der Folge von Generationen, die sich nie ändert, die durch das Dasein aller Tier- und Menschenarten, durch alle kurzlebigen Einzelkulturen gleichmäßig und still hindurchgeht. Blickt man zurück, so ist sie gleichbedeutend mit dem Leben selbst. Auch sie hat ihre Kämpfe und ihre Tragik. Das Weib erringt seinen Sieg im Wochenbett. Bei den Azteken, den Römern der mexikanischen Kultur, wurde die gebärende Frau als tapferer Krieger begrüßt und die an der Geburt gestorbene unter denselben Formeln bestattet wie die in der Schlacht gefallenen Helden. Des Weibes ewige Politik ist die Eroberung des Mannes, durch den sie Mutter von Kindern, durch den sie also Geschichte, Schicksal, Zukunft sein kann. Ihre tiefe Klugheit und Kriegslist richtet sich stets auf den Vater ihres Sohnes. Der Mann aber, der mit dem Schwergewicht seines Wesens der andern Geschichte angehört, will seinen Sohn haben als Erben, als Träger seines Blutes und seiner geschichtlichen Tradition.“ (Ebd., S. 962Spengler).

„Hier kämpfen in Mann und Weib die beiden Arten von Geschichte um die Macht. Das Weib ist stark und ganz, was es ist, und es erlebt den Mann und die Söhne nur in bezug auf sich und seine Bestimmung. Im Wesen des Mannes liegt etwas Zwiespältiges. Er ist dies und noch etwas andres, was das Weib weder begreift noch anerkennt und als Raub und Gewalt an seinem Heiligsten empfindet. Das ist der geheime Urkrieg der Geschlechter, der ewig dauert, seit es Geschlechter gibt, schweigend, erbittert, ohne Versöhnung, ohne Gnade. Es gibt auch da Politik, Schlachten, Bündnisse, Vertrag und Verrat. Die Rassegefühle von Haß und Liebe, die beide aus den Tiefen der Weltsehnsucht, aus dem Urgefühl der Richtung stammen, herrschen zwischen den Geschlechtern unheimlicher noch als in der andern Geschichte zwischen Mann und Mann. Es gibt Liebeslyrik und Kriegslyrik, Liebestänze und Waffentänze und zwei Arten der Tragödie – Othello und Macbeth –, aber bis an die Abgründe von Klytämnestras und Kriemhilds Rache reicht nichts in der politischen Welt.“ (Ebd., S. 962-963Spengler).

„Deshalb verachtet das Weib diese andre Geschichte, die Politik des Mannes, die sie nie versteht, von der sie nur weiß, daß sie ihr die Söhne raubt. Was ist ihr eine siegreiche Schlacht, die den Sieg in tausend Wochenbetten vernichtet? Die Geschichte des Mannes opfert die des Weibes sich auf, und es gibt ein weibliches Heldentum, das die Söhne mit Stolz zum Opfer bringt – Katharina Sforza auf den Wällen von Imola –, aber trotzdem ist es die ewige, geheime, bis in die Anfänge der Tierwelt zurückreichende Politik des Weibes, den Mann von ihr abzuziehen, um ihn ganz in die eigne, pflanzenhafte der Geschlechterfolgen einzuspinnen, das heißt in sich selbst. Und trotzdem erfolgt alles in der andern Geschichte nur, um diese ewige Geschichte des Zeugens und Sterbens zu schützen und zu erhalten, man mag es ausdrücken wie man will, für Haus und Herd, für Weib und Kind, für das Geschlecht, das Volk, die Zukunft. Der Kampf zwischen Mann und Mann geschieht stets um des Blutes, um des Weibes willen. Das Weib als Zeit ist das, wofür es Staatengeschichte gibt.“ (Ebd., S. 963Spengler).

„Das Weib von Rasse fühlt das, auch wenn sie es nicht weiß. Sie ist das Schicksal, sie spielt das Schicksal. Es beginnt mit dem Kampfe zwischen den Männern um ihren Besitz – Helena; die Carmentragödie; Katharina II., Napoleon und Désirée Clary, die Bernadotte zuletzt auf die feindliche Seite zog –, der schon die Geschichte ganzer Tiergattungen ausfüllt, und endet mit ihrer Macht als Mutter, Gattin, Geliebte über das Schicksal von Reichen: die Hallgerd der Njalssaga; die Frankenkönigin Brunhilde; Marozia, die den päpstlichen Stuhl an Männer ihrer Wahl vergibt. Der Mann steigt in seiner Geschichte empor, bis er die Zukunft eines Landes in Händen hält – dann kommt ein Weib und zwingt ihn auf die Knie. Mögen darüber Völker und Staaten zugrunde gehen, sie hat in ihrer Geschichte gesiegt. Der politische Ehrgeiz des Weibes von Rasse hat im letzten Grunde nie ein anderes Ziel. (Erst das Weib ohne Rasse, das Kinder nicht haben kann oder will, das nicht mehr Geschichte ist, möchte die Geschichte der Männer machen, nachmachen. Und umgekehrt hat es einen tiefen Grund, wenn man die antipolitische Gesinnung von Denkern, Doktrinären und Menschheitsschwärmern als altweiberhaft bezeichnet. Sie wollen die andere Geschichte, die des Weibes, nachmachen, obwohl sie es nicht – können.)“ (Ebd., S. 963-964Spengler).

„Geschichte besitzt demnach einen heiligen Doppelsinn. Sie ist kosmisch oder politisch. Sie ist das Dasein oder bewahrt das Dasein. Es gibt zwei Arten von Schicksal, zweierlei Krieg, zweierlei Tragik: öffentliche und private. Nichts kann diesen Gegensatz aus der Welt schaffen. Er ist von Anfang an im Wesen des tierischen Mikrokosmos begründet, der zugleich etwas Kosmisches ist. Er tritt in allen bedeutenden Lagen in Gestalt eines Konflikts der Pflichten hervor, der nur für den Mann, nicht für das Weib vorhanden ist, und er wird im Verlauf der hohen Kulturen nicht überwunden, sondern beständig vertieft. Es gibt ein öffentliches und ein Privatleben, öffentliches und privates Recht, Gemeinde- und Hauskulte. Als Stand ist das Dasein »in Form« für die eine, als Stamm ist es in Fluß als die andere Geschichte. Das ist der altgermanische Unterschied der »Schwertseite« und »Spindelhälfte« einer Blutsverwandtschaft. Seinen höchsten Ausdruck findet dieser Doppelsinn der gerichteten Zeit in den Ideen des Staats und der Familie.“ (Ebd., S. 964Spengler).

„Die Gliederung der Familie ist in lebendigem, was die Gestalt des Hauses in totem Stoff ist. (Vgl. S. 698Vgl. S. g98). Ein Wandel in Aufbau und Bedeutung des Familiendaseins, und der Grundriß des Hauses wird anders. Der antiken Wohnweise entsprach die Agnatenfamilie antiken Stils, die in hellenischen Stadtrechten noch schärfer ausgeprägt war wie in dem jüngeren römischen. (Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht, 1891, S. 63.) Sie ist ganz auf den gegenwärtigen Stand, das euklidische Jetzt und Hier gestellt, ebenso wie die als Summe gegenwärtig vorhandener Körper aufgefaßte Polis. Blutsverwandtschaft ist also für sie weder notwendig noch ausreichend; sie hört auf mit der Grenze der patria potestas, des »Hauses«. Die Mutter ist an sich mit ihren leiblichen Kindern agnatisch nicht verwandt; nur insofern sie der patria potestas des lebenden Gatten untersteht, ist sie die agnatische Schwester ihrer Kinder. (Sohm, Institutionen, 1912, S. 614.) Dem consensus dagegen entspricht die magische Kognatenfamilie (hebräisch Mischpacha), die durch väterliche und mütterliche Blutsgemeinschaft weithin dargestellt und einen »Geist« besitzt, einen consensus im Kleinen, aber kein bestimmtes Oberhaupt. (Auf diesem Prinzip beruht der Dynastiebegriff der arabischen Welt [der Ommaijaden, Komnenen, Sassaniden], der uns schwer begreiflich ist. Wenn ein Usurpator den Thron erobert hat, so vermählt er sich mit irgend einem weiblichen Mitgliede aus der Blutsgemeinschaft und setzt so die Dynastie fort. Von einer gesetzlichen Erbfolge ist der Idee nach nicht die Rede. Vgl. auch J. Wellhausen, Ein Gemeinwesen ohne Obrigkeit, 1900.) Es ist für das Erlöschen der antiken und die Entfaltung der magischen Seele bezeichnend, daß das »römische« Recht der Kaiserzeit von der Agnation allmählich zur Kognation übergeht. Noch einige Novellen Justinians (118, 127) schaffen eine Neuregelung des Erbrechts infolge des Sieges der magischen Familienidee.“ (Ebd., S. 964-965Spengler).

„Auf der andern Seite erblicken wir Massen von Einzelwesen, die werdend und vergehend, aber Geschichte machend dahinströmen. Je reiner, tiefer, stärker, selbstverständlicher der gemeinsame Takt dieser Geschlechterfolgen, desto mehr »Blut«, desto mehr Rasse haben sie. Aus der Unendlichkeit aller heben sich beseelte Einheiten ab (vgl. S. 577), Scharen, die sich im gleichen Wellenschlag des Daseins als Ganzes fühlen, nicht geistige Gemeinschaften wie Orden, Künstlergilden und Gelehrtenschulen, die durch gleiche Wahrheiten verbunden sind, sondern Blutverbände mitten im kämpfenden Leben.“ (Ebd., S. 965Spengler).

„Es sind Daseinsströme »in Form«, um einen Sportausdruck zu gebrauchen, der in die Tiefe dringt. In Form ist ein Feld von Rennpferden, das sicher in den Gelenken mit feinem Schwung über die Hürde geht und sich dann wieder im gleichen Takt der Hufe über die Ebene bewegt. In Form sind Ringer, Fechter und Ballspieler, denen das Gewagteste leicht und selbstverständlich von der Hand geht. In Form ist eine Kunstepoche, für welche die Tradition Natur ist wie der Kontrapunkt für Bach. In Form ist eine Armee, wie sie Napoleon bei Austerlitz und Moltke bei Sedan hatten. So gut wie alles, was in der Weltgeschichte geleistet worden ist, im Krieg und in jener Fortsetzung des Krieges durch geistige Mittel, die wir Politik nennen, alle erfolgreiche Diplomatie, Taktik, Strategie, sei es die von Staaten, Ständen oder Parteien, rührt von lebendigen Einheiten her, die sich in Form befanden.“ (Ebd., S. 965-966Spengler).

„Das Wort für die rassemäßige Art von Erziehung ist Zucht, Züchtung, im Unterschied von Bildung, die durch die Gleichheit des Gelernten oder Geglaubten Wachseinsgemeinschaften begründet. Zur Bildung gehören Bücher, zur Zucht gehört der stetige Takt und Einklang der Umgebung, in die man sich hineinfühlt, hineinlebt: Klostererziehung und Pagenerziehung der frühen Gotik. Alle guten Formen einer Gesellschaft, jedes Zeremoniell ist versinnlichter Takt einer Art von Dasein. Um sie zu beherrschen, muß man Takt haben. Deshalb gewöhnen sich Frauen, weil sie triebhafter und dem Kosmischen näher sind, schneller an die Formen einer neuen Umgebung. Frauen aus der Tiefe bewegen sich nach ein paar Jahren mit voller Sicherheit in einer vornehmen Welt, aber sie sinken ebenso schnell wieder herab. Der Mann ändert sich schwerer, weil er wacher ist. Der Proletarier wird nie ganz Aristokrat, der Aristokrat nie ganz Proletarier. Erst die Söhne haben den Takt der neuen Umgebung.“ (Ebd., S. 966Spengler).

„Je tiefer die Form, desto strenger und abweisender ist sie. Dem nicht Zugehörigen erscheint sie als Sklaverei; der Zugehörige beherrscht sie mit vollkommener Freiheit und Leichtigkeit. Der Fürst von Ligne war ebenso wie Mozart Herr, nicht Sklave der Form; und das gilt von jedem geborenen Aristokraten, Staatsmann und Heerführer.“ (Ebd., S. 966Spengler).

„Deshalb gibt es in allen hohen Kulturen ein Bauerntum, das Rasse überhaupt und also gewissermaßen Natur ist, und eine Gesellschaft, die in anspruchsvoller Weise »in Form« ist, als Gruppe von Klassen oder Ständen und ohne Zweifel künstlicher und vergänglicher. Aber die Geschichte dieser Klassen und Stände ist Weltgeschichte in höchster Potenz. Erst im Hinblick auf sie erscheint das Bauerntum als geschichtslos. Die gesamte Geschichte großen Stils von sechs Jahrtausenden hat sich in den Lebensläufen der hohen Kulturen vollzogen, nur weil diese Kulturen selbst ihren schöpferischen Mittelpunkt in Ständen haben, die Zucht besitzen, in Vollendung gezüchtet worden sind. Eine Kultur ist Seelentum, das in sinnbildlichen Formen zum Ausdruck gelangt, aber diese Formen sind lebendig und in Entwicklung begriffen, auch die der Kunst, deren wir uns erst durch ihre Abziehung von der Kunstgeschichte bewußt geworden sind; sie liegen im gesteigerten Dasein von Einzelnen und Kreisen, eben in dem, was soeben »Dasein in Form« genannt worden ist und durch diese Höhe des Geformtseins erst die Kultur repräsentiert.“ (Ebd., S. 966-967Spengler).

„Das ist etwas Großes und Einziges innerhalb der organischen Welt. Es ist der einzige Punkt, wo der Mensch sich über die Mächte der Natur erhebt und selbst Schöpfer wird. Noch als Rasse ist er Schöpfung der Natur; da wird er gezüchtet; als Stand aber züchtet er sich selbst, ganz wie die edlen Tier- und Pflanzenrassen, mit denen er sich umgeben hat; und eben das ist im höchsten und letzten Sinne Kultur. Kultur und Klasse sind Wechselbegriffe; sie entstehen als Einheit, sie vergehen als Einheit. Die Züchtung erlesener Wein-, Obst- und Blumenarten, die Züchtung von Pferden reinen Blutes ist Kultur, und in genau demselben Sinne entsteht erlesene menschliche Kultur als Ausdruck eines Daseins, das sich selbst in große Form gebracht hat.“ (Ebd., S. 967Spengler).

„Aber eben deshalb gibt es in jeder Kultur ein starkes Gefühl dafür, ob jemand dazu gehört oder nicht. Der antike Begriff des Barbaren, der arabische des Ungläubigen – des Amhaarez oder Giaur –, der indische des Tschudra mögen noch so verschieden gedacht sein, sie drücken zunächst weder Haß noch Verachtung aus, sondern stellen eine Verschiedenheit im Takt des Daseins fest, die eine unüberschreitbare Grenze in allen tiefen Dingen zieht. Diese ganz klare und eindeutige Tatsache ist durch den indischen Begriff der »vierten Kaste« verdunkelt worden, die es in Wirklichkeit, wie wir heute wissen, nie gegeben hat. (Vgl. R. Fick, Die soziale Gliederung im nordöstlichen Indien zu Buddhas Zeit, 1897, S. 201; A. Hillebrandt, Alt-Indien, 1899, S. 82.) Das Gesetzbuch des Manu mit seinen berühmten Bestimmungen über die Behandlung des Tschudra entstammt dem ausgebildeten Fellachentum Indiens und zeichnet ohne Rücksicht auf die rechtlich vorhandene oder auch nur erreichbare Wirklichkeit das dünkelhafte Brahmanenideal durch seinen Gegensatz, wie es mit dem Begriff des arbeitenden Banausen in der spätantiken Philosophie nicht viel anders gewesen ist. Das hat für uns dort zum Mißverstehen der Kaste als einer spezifisch indischen Erscheinung, hier zu einer grundfalschen Meinung von der Stellung des antiken Menschen zur Arbeit geführt. Es handelt sich in allen Fällen um den Rest, der für das innere Leben der Kultur und ihre Symbolik nicht in Betracht kommt und von dem bei jeder bedeutungsvollen Einteilung von vornherein abgesehen wird.“ (Ebd., S. 967-968Spengler).

„In karolingischer Vorzeit unterschied man Knechte, Freie und Edle. Das ist ein primitiver Rangunterschied auf Grund bloßer Tatsachen des äußeren Lebens. In frühgotischer Zeit heißt es in Freidanks Bescheidenheit: »Got hât driu leben geschaffen, // Gebûre, Ritter, phaffen.«.“ (Ebd., S. 970Spengler).

„Jeder Adel ist ein lebendiges Symbol der Zeit, jede Priesterschaft eins des Raumes.“ (Ebd., S. 971Spengler).

„Schicksal und heilige Kausalität, Geschichte und Natur, das Wann und das Wo, Rasse und Sprache, Geschlechtsleben und Sinnenleben: das alles kommt darin zum höchstmöglichen Ausdruck.“ (Ebd., S. 971Spengler).

„Der Adel lebt in einer Welt von Tatsachen, der Priester in einer Welt von Wahrheiten; jener ist Kennen, dieser Erkenner, jener Täter, dieser Denker. Aristokratisches Weltgefühl ist durch und durch Takt, priesterliches verläuft durchaus in Spannungen.“ (Ebd., S. 971Spengler).

„Beide Stände schließen sich der Idee nach aus. Der Urgegensatz von Kosmischem und Mikrokosmischem, der alle frei im Raum beweglichen Wesen durchdringt, liegt auch ihrem Doppeldasein zugrunde. Jeder ist nur durch den andern möglich und notwendig.“ (Ebd., S. 972Spengler).

„Und zwar ist der Adel der eigentliche Stand, der Inbegriff von Blut und Rasse, ein Daseinsstrom, in denkbar vollendeter Form. Adel ist eben damit höheres Bauerntum. Noch um 1250 galt weithin im Abendlande der Spruch: »Wer morgens ackert, reitet nachmittags zum Turnier«, und die Sitte, daß Ritter Bauerntöchter freiten. Die Burg ist im Gegensatz zum Dom auf dem Wege über den ländlichen Edelsitz etwa der Frankenzeit aus dem Bauernhause herangewachsen. In den isländischen Sagas werden Bauernhöfe wie Burgen belagert und erstürmt. Adel und Bauerntum sind ganz pflanzenhaft und triebhaft, tief im Stammlande wurzelnd, im Stammbaum sich fortpflanzend, züchtend und gezüchtet. Im Vergleich dazu ist das Priestertum der eigentliche Gegen-Stand, der Stand des Verneinens, die Nichtrasse, die Unabhängigkeit vom Boden, das freie, zeitlose, geschichtslose Wachsein. In jedem Bauerndorf von der Steinzeit bis zu den Höhepunkten der Kultur, in jedem Bauerngeschlecht spielt sich Weltgeschichte im Kleinen ab. Es sind statt der Völker Familien, statt der Länder Höfe, aber die letzte Bedeutung dessen, um das hier wie dort gekämpft wird, ist dieselbe: die Erhaltung des Blutes, die Geschlechterfolge, das Kosmische, das Weib, die Macht. Macbeth und König Lear hätten auch als Dorftragödien erdacht werden können; das ist ein Beweis von echter Tragik. In allen Kulturen erscheinen Adel und Bauerntum in der Form von Geschlechtern, und das Wort dafür berührt sich in allen Sprachen mit der Bezeichnung der beiden Geschlechter, durch die das Leben sich fortpflanzt, Geschichte hat und Geschichte macht. Und da das Weib Geschichte ist, so bestimmt sich der innere Rang von Bauern- und Adelsgeschlechtern danach, wieviel Rasse ihre Frauen haben, bis zu welchem Grade sie Schicksal sind. Deshalb liegt ein tiefer Sinn in der Tatsache, daß Weltgeschichte, je echter und rassehafter sie ist, um so mehr den Strom des öffentlichen Lebens in das Privatleben großer Einzelgeschlechter hinüberleitet und ihm einordnet. Eben darauf beruht das dynastische Prinzip, aber auch der Begriff der welthistorischen Persönlichkeit. Die Schicksale ganzer Staaten werden von dem zu ungeheuren Dimensionen gesteigerten Privatschicksal Weniger abhängig. Die Geschichte Athens im 5. Jahrhundert ist zum großen Teil die der Alkmäoniden, die Geschichte Roms die von einigen Geschlechtern von der Art der Fabier und Claudier. Die Staatengeschichte des Barock ist im Umriß identisch mit den Wirkungen der habsburgischen und bourbonischen Familienpolitik, und ihre Krisen haben die Form von Heiraten und Erbfolgekriegen. Die Geschichte von Napoleons zweiter Ehe umfaßt auch den Brand von Moskau und die Schlacht bei Leipzig. Die Geschichte des Papsttums ist bis ins 18. Jahrhundert hinein die Geschichte einiger Adelsgeschlechter, welche die Tiara erstrebten, um einen fürstlichen Familienbesitz zu gründen. Aber das gilt auch von byzantinischen Würdenträgern und von englischen Premierministern, wie die Familiengeschichte der Cecils zeigt, und sogar noch von sehr vielen Führern großer Revolutionen.“ (Ebd., S. 973-974Spengler).

„Alles das wird vom Priestertum verneint und also auch von der Philosophie, soweit sie Priestertum ist. Der Stand des reinen Wachseins und der ewigen Wahrheiten richtet sich gegen die Zeit, die Rasse, das Geschlecht in jedem Sinne. Der Mann als Bauer oder Ritter ist dem Weibe als dem Schicksal zu-, der Mann als Priester ist ihm abgewandt. Der Adel ist stets in Gefahr, das öffentliche Leben im Privatleben verschwinden zu lassen, indem er den breiten Daseinsstrom in das Bett des kleineren seiner Ahnen und Enkel leitet. Der echte Priester erkennt das Privatleben, das Geschlecht, das »Haus« der Idee nach überhaupt nicht an. Für den Menschen von Rasse ist erst der Tod ohne Erben der wahre und furchtbare Tod, was die isländischen Sagas so gut wie der chinesische Ahnenkult lehren. Wer in Söhnen und Enkeln fortlebt, stirbt nicht ganz. Aber für den wahren Priester gilt das media vita in morte sumus: sein Erbe ist geistig und verwirft den Sinn des Weibes. Die überall wiederkehrenden Erscheinungsformen dieses zweiten Standes sind die Ehelosigkeit, das Kloster, die Bekämpfung des Geschlechtlichen bis zur Selbstentmannung, die Verachtung des Muttertums, die sich im Orgiasmus und der heiligen Prostitution ausspricht und in der begrifflichen Herabwürdigung des Geschlechtslebens bis zu jener unflätigen Definition der Ehe durch Kant. (Wonach sie ein Vertrag auf den wechselseitigen Besitz zweier Personen ist, der durch den wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtseigentümlichkeiten verwirklicht wird.) Für die gesamte Antike gilt das Gesetz, daß im heiligen Tempelbezirk, dem temenos, niemand geboren werden und sterben darf. Das Zeitlose darf mit der Zeit nicht in Berührung kommen. Es ist möglich, daß ein Priester die großen Augenblicke von Zeugung und Geburt begrifflich anerkennt und durch Sakramente ehrt, aber erleben darf er sie nicht.“ (Ebd., S. 974-975Spengler).

„Denn der Adel ist etwas, das Priestertum bedeutet etwas. Auch damit erscheint es als das Gegenteil von allem, was Schicksal, Rasse, Stand ist. Auch die Burg mit ihren Gemächern, Türmen, Wällen und Gräben redet von einem mächtig strömenden Sein; der Dom mit Wölbung, Pfeilern und Chor aber ist durch und durch Bedeutung, nämlich Ornament; und jede alte Priesterschaft hat sich zu einer wundervoll schweren und prächtigen Art von Haltung entwickelt, in welcher jeder Zug von Miene und Tonfall bis zu Tracht und Gang Ornament ist, und das Privatleben, auch das Innenleben als wesenlos verschwindet, während gerade im Gegenteil eine reife Aristokratie, wie die französische des 18. Jahrhunderts, ein vollendetes Leben zur Schau stellt. Wenn gotisches Denken aus der Idee des Priesters den character indelebilis entwickelte, wonach die Idee unzerstörbar und in ihrer Würde von der Lebensführung ihres Trägers in der Welt als Geschichte gänzlich unabhängig ist, so gilt das unausgesprochen von jedem Priestertum und also auch von aller Philosophie im Sinne der Schulen. Hat ein Priester Rasse, so führt er ein äußeres Dasein wie jeder Bauer, Ritter oder Fürst. Die Päpste und Kardinale der gotischen Zeit waren Lehnsfürsten, Heerführer, Jagdfreunde, Liebhaber und trieben Familienpolitik. Unter den Brahmanen des vorbuddhistischen »Barock« gab es Großgrundbesitzer, gepflegte Abbes, Hofleute, Verschwender, Feinschmecker, aber gerade die Frühzeit hat im Priestertum die Idee von der Person zu unterscheiden gewußt, was dem Wesen des Adels gänzlich widerspricht, und erst die Aufklärung beurteilte den Priester nach seinem Privatleben, nicht weil ihre Augen schärfer sahen, sondern weil ihr die Idee abhanden gekommen war.“ (Ebd., S. 975-976Spengler).

„Der Adlige ist der Mensch als Geschichte, der Priester der Mensch als Natur. Geschichte großen Stils ist immer Ausdruck und Nachwirkung des Daseins einer adligen Gemeinschaft gewesen, und der innere Rang der Ereignisse bestimmt sich nach dem Takt in diesem Daseinsstrom. Das ist der Grund, weshalb die Schlacht von Cannä viel und die Schlachten spätrömischer Kaiser gar nichts bedeuten. Der Anbruch einer Frühzeit sieht regelmäßig auch die Geburt eines Uradels – der Fürst wird als primus inter pares empfunden und mit Mißtrauen betrachtet, denn eine starke Rasse hat den großen Einzelnen nicht nötig; er stellt ihren Wert sogar in Frage, und deshalb sind Vasallenkriege die vornehmste Form, in der frühzeitliche Geschichte sich vollzieht – und dieser Adel hat fortan das Schicksal der Kultur in Händen. Hier wird in schweigender und deshalb um so nachdrücklicherer Gestaltungskraft das Dasein in Form gebracht, der Takt im Blute herangebildet und gefestigt und zwar für alle Zukunft. Denn was für jede Frühzeit dieser schöpferische Aufstieg zur lebendigen Form, das ist für jede Spätzeit die Macht der Tradition, nämlich die alte und feste Zucht, der sicher gewordene Takt von solcher Stärke, daß er das Absterben der alten Geschlechter überdauert und unaufhörlich neue Menschen und Daseinsströme aus der Tiefe in seinen Bann zieht. Es kann gar nicht bezweifelt werden, daß alle Geschichte später Zeitalter nach Form, Takt und Tempo schon in den ersten Generationen und zwar unwiderruflich angelegt ist. Ihre Erfolge sind genau so groß wie die Macht der im Blute liegenden Tradition. Es ist in der Politik wie in jeder großen und reifen Kunst: Erfolge setzen voraus, daß das Dasein vollkommen in Form ist, daß der große Schatz uralter Erfahrungen Instinkt und Trieb geworden ist und ebenso unbewußt als selbstverständlich. Eine andere Art von Meisterschaft gibt es nicht; der große Einzelne ist nur dadurch Herr der Zukunft und mehr als ein Zwischenfall, daß er in dieser Form und aus ihr heraus wirkt oder wirkend gemacht wird, Schicksal ist oder Schicksal hat. Das unterscheidet notwendige und überflüssige Kunst und also auch historisch notwendige und überflüssige Politik. Mögen dann noch so viel Männer aus dem Volk – das ist hier der Inbegriff der Traditionslosen – in die leitende Schicht gelangen, mögen sie endlich sogar allein übrig sein, sie selbst sind ahnungslos besessen von dem großen Schwung der Tradition, die ihre geistige und praktische Haltung formt, ihre Methoden regelt und die nichts ist als der Takt längst erstorbener Geschlechterfolgen.“ (Ebd., S. 976-977Spengler).

„Zivilisation aber – wirkliche Rückkehr zur Natur – ist das Erlöschen des Adels nicht als Stamm, was von geringer Bedeutung wäre, sondern als lebendiger Tradition, und der Ersatz des schicksalhaften Taktes durch kausale Intelligenz. Der Adel ist dann nur noch Prädikat; aber zivilisierte Geschichte ist eben damit Oberflächengeschichte, auf zerstreute und nahe Zwecke gerichtet und also formlos im Kosmischen geworden, vom Zufall der großen Einzelnen abhängig, ohne innere Sicherheit, ohne Linie, ohne Sinn. Mit dem Cäsarismus kehrt die Geschichte wieder ins Geschichtslose zurück, in den primitiven Takt der Urzeit und zu den ebenso endlosen als bedeutungslosen Kämpfen um die materielle Macht, welche die Zeit der römischen Soldatenkaiser des 3. Jahrhunderts und der ihnen entsprechenden »sechzehn Staaten« Chinas (265 bis 420) von den Ereignissen im Wildbestand eines Waldes nur noch unwesentlich unterscheidet.“ (Ebd., S. 977Spengler).

„Und daraus folgt, daß echte Geschichte nicht »Kulturgeschichte« in dem antipolitischen Sinne ist, wie er unter Philosophen und Doktrinären jeder beginnenden Zivilisation und also gerade heute wieder beliebt wird, sondern ganz im Gegenteil Rassegeschichte, Kriegsgeschichte, diplomatische Geschichte, das Schicksal von Daseinsströmen in Gestalt von Mann und Weib, Geschlecht, Volk, Stand, Staat, die sich im Wellenschlag der großen Tatsachen verteidigen und gegenseitig überwältigen wollen. Politik im höchsten Sinne ist Leben, und Leben ist Politik. Jeder Mensch, er mag wollen oder nicht, ist Glied dieses kämpfenden Geschehens, als Subjekt oder Objekt; etwas drittes gibt es nicht. Das Reich des Geistes ist nicht von dieser Welt, gewiß, aber es setzt sie voraus, wie das Wachsein das Dasein voraussetzt; es ist nur möglich als ein beständiges Neinsagen zur Wirklichkeit, die eben und trotzdem da ist. Die Rasse kann der Sprache entbehren, aber schon das Sprechen der Sprache ist Rasseausdruck (vgl. S. 704), und ebenso ist alles, was in der Geistesgeschichte erfolgt – daß es eine solche Geschichte überhaupt gibt, beweist schon die Macht des Blutes über das Empfinden und Verstehen –, alle Religionen, alle Künste, alle Gedanken, weil sie tätiges Wachsein in Form sind, mit allen ihren Entwicklungen, ihrer ganzen Symbolik, ihrer ganzen Leidenschaft Ausdruck auch noch des Blutes, das diese Formen im Wachsein ganzer Geschlechterfolgen durchströmt. Ein Held braucht von dieser zweiten Welt gar nichts zu ahnen; er ist Leben durch und durch, aber ein Heiliger kann nur durch die strengste Askese das Leben in sich niederzwingen, um mit seinem Geist allein zu sein – und die Kraft dazu ist doch wieder das Leben selbst. Der Held verachtet den Tod, und der Heilige verachtet das Leben, aber da dem Heroismus der großen Asketen und Märtyrer gegenüber die Frömmigkeit der meisten von der Art ist, von welcher es in der Bibel heißt: »Weil Du weder kalt noch warm bist, will ich Dich ausspeien aus meinem Munde«, so entdeckt man, daß selbst Größe im Religiösen Rasse voraussetzt, ein starkes Leben, an dem es etwas zu überwinden gibt – der Rest ist bloße Philosophie.“ (Ebd., S. 977-978Spengler).

„Aber deshalb ist auch Adel im welthistorischen Sinne unendlich viel mehr, als bequeme Spätzeiten gelten lassen, nämlich nicht eine Summe von Titeln, Rechten und Zeremonien, sondern ein innerer Besitz, der schwer zu erwerben und schwer zu halten ist und der, wenn man ihn begreift, schon das Opfer eines ganzen Lebens wert erscheint. Ein altes Geschlecht bedeutet nicht einfach eine Reihe von Vorfahren – Ahnen haben wir alle –, sondern von Vorfahren, die durch ganze Geschlechterfolgen auf den Höhen der Geschichte lebten und Schicksal nicht nur hatten, sondern auch waren, in deren Blut durch jahrhundertelange Erfahrung die Form des Geschehens bis zur Vollendung gezüchtet worden ist.“ (Ebd., S. 978Spengler).

„Den Priester umgibt die Welt als Natur; er vertieft ihr Bild, indem er es durchdenkt. Der Adel lebt in der Welt als Geschichte und vertieft sie, indem er ihr Bild verändert. Beides entwickelt sich zur großen Tradition, aber die eine ist das Ergebnis von Bildung, die andere das von Zucht. Dies ist ein grundlegender Unterschied zwischen beiden Ständen, weshalb nur der eine wirklicher Stand ist und der andere durch den aufs äußerste getriebenen Gegensatz dazu als Stand erscheint. Zucht, Züchtung erstreckt sich auf das Blut und geht von den Vätern zu den Söhnen weiter. Bildung aber setzt Begabung voraus, und deshalb ist ein echtes und starkes Priestertum stets eine Sammlung von Einzelbegabungen – eine Wachseinsgemeinschaft – ohne Rücksicht auf Herkunft im Rassesinne und auch darin eine Verneinung von Zeit und Geschichte. Geistesverwandt und blutsverwandt – man vertiefe sich in den Unterschied dieser Worte. Erbliches Priestertum ist ein Widerspruch in sich selbst. Im vedischen Indien liegt ihm die Tatsache zugrunde, daß es einen zweiten Adel gibt, der die priesterlichen Rechte den Begabungen aus seiner Mitte vorbehält; das Zölibat macht aber anderswo selbst dieser Grenzüberschreitung ein Ende. Der »Priester im Menschen« – mag dieser Mensch von Adel sein oder nicht – bedeutet einen Mittelpunkt der heiligen Kausalität im Weltraume. Die priesterliche Kraft selbst ist kausaler Natur, von höherer Ursache bewirkt und als Ursache weiterhin wirkend. Der Priester ist der Mittler im zeitlos Ausgedehnten, das zwischen dem Wachsein des Laien und dem letzten Geheimnis ausgespannt ist, und damit ist das Priestertum aller Kulturen seiner Bedeutung nach durch deren Ursymbol bestimmt. Die antike Seele verneint den Raum und bedarf also des Mittlers nicht; deshalb schwand der antike Priesterstand schon in den Anfängen hin. Der faustische Mensch steht dem Unendlichen gegenüber und nichts schützt ihn vor der drückenden Gewalt dieses Aspekts; deshalb hat das gotische Priestertum sich bis zur Idee des Papsttums gesteigert.“ (Ebd., S. 979-980Spengler).

Zwei Anschauungen der Welt, zwei Arten, wie das Blut in den Adern fließt und das Denken ins tägliche Sein und Tun verflochten wird – es sind endlich mit jeder hohen Kultur zwei Moralen entstanden, von denen jede auf die andere herabblickt: adlige Sitte und geistliche Askese, die sich wechselseitig als weltlich oder sklavisch verwerfen. Es war gezeigt worden (vgl. S. 890), wie die eine aus der Burg, die zweite aus Kloster und Dom hervorgeht, die eine aus dem vollen Dasein mitten im Strom der Geschichte, die andere abseits davon aus einem reinen Wachsein inmitten einer gotterfüllten Natur. Späte Zeiten machen sich keine Vorstellung mehr von der Gewalt dieser ursprünglichen Eindrücke. Das weltliche und geistliche Standesgefühl sind im Aufstieg begriffen und prägen sich ein sittliches Standesideal, das nur dem Zugehörigen und diesem nur durch eine lange und strenge Schule erreichbar ist. Der große Daseinsstrom fühlt sich als Einheit gegenüber dem Rest, in dem das Blut träge und ohne Takt dahinfließt; die große Wachseinsgemeinschaft weiß sich als Einheit gegenüber dem Rest der Nichteingeweihten. Das ist die Heldenschar und die Gemeinschaft der Heiligen.“ (Ebd., S. 980-981Spengler).

„Es wird immer das große Verdienst Nietzsches bleiben, als erster das Doppelwesen aller Moral erkannt zu haben (vgl. Jenseits von Gut und Böse, § 260). Er hat mit seinen Begriffen Herren- und Sklavenmoral die Tatsachen nicht richtig gezeichnet und »das Christentum« viel zu eindeutig auf die eine Seite gestellt, aber das liegt klar und stark all seinen Betrachtungen zugrunde: gut und schlecht sind adlige, gut und böse priesterliche Unterscheidungen. Gut und schlecht, die Totembegriffe schon der primitiven Männerbünde und Sippen, bezeichnen nicht Gesinnungen, sondern Menschen und zwar nach der Ganzheit ihres lebendigen Seins. Die Guten sind die Mächtigen, Reichen, Glücklichen. Gut bedeutet stark, tapfer, von edler Rasse, und zwar im Sprachgebrauch aller Frühzeiten. Schlecht, feil, elend, gemein im ursprünglichen Sinne sind die Machtlosen, Besitzlosen, Unglücklichen, Feigen, Geringen, die Söhne Niemands, wie man im alten Ägypten sagte. Gut und böse, die Tabubegriffe, werten den Menschen hinsichtlich seines Empfindens und Verstehens, also seiner wachen Gesinnung und bewußten Handlungen. Gegen die Liebessitte im Rassesinne verstoßen ist gemein; gegen das Kirchengebot der Liebe fehlen ist böse. Die vornehme Sitte ist das ganz unbewußte Ergebnis einer langen und beständigen Zucht. Man lernt sie im Umgang und nicht aus Büchern. Sie ist gefühlter Takt und nicht Begriff. Die andre Moral aber ist Satzung, nach Grund und Folge durchaus gegliedert und also lernbar und Ausdruck einer Überzeugung.“ (Ebd., S. 981Spengler).

„Die eine ist durch und durch geschichtlich und erkennt alle Rangunterschiede und Vorrechte als tatsächlich und gegeben an. Ehre ist immer Standesehre; eine Ehre der ganzen Menschheit gibt es nicht. Der Zweikampf steht dem Unfreien nicht zu. Jeder Mensch hat, sei er Beduine, Samurai oder Korse, Bauer, Arbeiter, Richter oder Räuber, seine eigenen, verpflichtenden Begriffe von Ehre, Treue, Tapferkeit, Rache, die auf keine andre Art von Leben anwendbar sind. Jedes Leben hat Sitte; anders ist es gar nicht zu denken. Schon die Kinder haben sie, wenn sie spielen. Sie wissen sofort und von selbst, was sich schickt. Niemand hat diese Regeln gegeben, aber sie sind da. Sie entstehen ganz unbewußt aus dem »Wir«, das sich durch den einheitlichen Takt des Kreises gebildet hat. Auch im Hinblick darauf ist jedes Dasein »in Form«. Jede Menge, die sich aus irgendeinem Anlaß auf der Straße zusammenballt, hat im Augenblick auch ihre Sitte; wer sie nicht als selbstverständlich in sich trägt – »befolgen« ist schon viel zu verstandesmäßig –, der ist schlecht, gemein, er gehört nicht dazu. Ungebildete und Kinder besitzen eine erstaunliche Feinfühligkeit dafür. Kinder haben aber auch den Katechismus zu lernen. Da erfahren sie von gut und böse, die gesetzt sind und nichts weniger als selbstverständlich. Sitte ist nicht, was wahr ist, sondern was da ist. Sie ist gewachsen, angeboren, erfühlt, von organischer Logik. Moral ist im Gegensatz dazu niemals Wirklichkeit – sonst wäre alle Welt heilig – sondern eine ewige Forderung, die über dem Bewußtsein hängt und zwar der Idee nach über dem aller Menschen, unabhängig von allen Unterschieden des wirklichen Lebens und der Geschichte. Deshalb ist jede Moral verneinend, jede Sitte bejahend. Ehrlos ist hier das Schlimmste, sündlos dort das Höchste.“ (Ebd., S. 981-982Spengler).

„Der Grundbegriff aller lebendigen Sitte ist die Ehre. Alles andere, Treue, Demut, Tapferkeit, Ritterlichkeit, Selbstbeherrschung, Entschlossenheit liegen darin. Und Ehre ist Sache des Blutes, nicht des Verstandes. Man überlegt nicht – sonst ist man schon ehrlos. Die Ehre verlieren, heißt für das Leben, die Zeit, die Geschichte vernichtet sein. Die Ehre des Standes, der Familie, des Mannes und Weibes, des Volkes und Vaterlandes, die Ehre des Bauern, Soldaten, selbst des Banditen: Ehre bedeutet, daß das Leben in einer Person etwas wert ist, historischen Rang, Abstand, Adel besitzt. Sie gehört zur gerichteten Zeit wie die Sünde zum zeitlosen Räume. Ehre im Leibe haben, heißt beinahe soviel wie Rasse haben. Das Gegenteil sind die Thersitesnaturen, die Kotseelen, der Pöbel: »Tritt mich, aber laß mich leben.« Eine Beleidigung hinnehmen, eine Niederlage vergessen, vor dem Feinde winseln –, das ist alles Zeichen wertlos und überflüssig gewordenen Lebens und also etwas ganz anderes als priesterliche Moral, die sich nicht an das wenn auch noch so verächtlich gewordene[982] Leben klammert, sondern vom Leben und damit der Ehre überhaupt absieht. Es war schon gesagt worden: jede moralische Handlung ist im tiefsten Grunde ein Stück Askese und Abtötung des Daseins. Und eben damit steht sie außerhalb des Lebens und der geschichtlichen Welt.“ (Ebd., S. 982-983Spengler).

„Hier muß etwas vorweggenommen werden, was der Weltgeschichte namentlich in den Spätzeiten der großen Kulturen und der beginnenden Zivilisation erst ihren Farbenreichtum und die sinnbildliche Tiefe der Ereignisse gibt. Die Urstände Adel und Priestertum sind der reinste Ausdruck der beiden Lebensseiten, aber nicht der einzige. Schon ganz früh, und im primitiven Zeitalter vielfach vorgedeutet, brechen noch andere Daseinsströme und Wachseinsverbindungen hervor, in denen die Symbolik von Zeit und Raum zu lebendigem Ausdruck gelangt und die erst zusammen mit jenen die ganze Fülle dessen ausmachen, was wir soziale Gliederung oder Gesellschaft nennen.“ (Ebd., S. 983Spengler).

„Das Priestertum ist mikrokosmisch und tierhaft, der Adel kosmisch und pflanzenhaft; daher seine tiefe Verbundenheit mit dem Lande. Er ist selbst eine Pflanze, fest in der Erde wurzelnd, bodenständig und auch darin ein gesteigertes Bauerntum. Aus dieser Art von kosmischer Verbundenheit ist die Idee des Eigentums hervorgegangen, die dem frei im Räume beweglichen Mikrokosmos als solchem ganz fremd ist. Eigentum ist ein Urgefühl, kein Begriff, und es gehört zur Zeit, zur Geschichte und zum Schicksal und nicht zu Raum und Kausalität. Begründen läßt es sich nicht, aber es ist da. (Umgekehrt läßt es sich widerlegen, und das ist in der chinesischen, antiken, indischen und abendländischen Philosophie oft genug geschehen, aber man schafft es damit nicht ab.) Das »Haben« beginnt mit der Pflanze und setzt sich in der Geschichte des höheren Menschen genau so weit fort, als er Pflanzenhaftes, als er Rasse in sich hat. Deshalb ist Eigentum im eigentlichsten Sinne immer Grundeigentum, und der Trieb, Erworbenes in Grund und Boden zu verwandeln, immer das Zeugnis für Menschen von gutem Schlage. Die Pflanze besitzt den Boden, in dem sie wurzelt. Er ist ihr Eigentum, das sie mit Verzweiflung ihr ganzes Dasein hindurch verteidigt, gegen fremde Keime, gegen übermächtige Nachbarpflanzen, gegen die ganze Natur. (Jünger und von viel geringerer sinnbildlicher Kraft ist der Besitz von beweglichen Sachen, Nahrung, Geräten, Waffen, der auch im Tierreich weit verbreitet ist. Dagegen ist das Nest eines Vogels pflanzenhaftes Eigentum.) So verteidigt ein Vogel das Nest, in dem er brütet. Die erbittertsten Kämpfe um das Eigentum werden nicht in den Spätzeiten der großen Kulturen und zwischen reich und arm um bewegliches Gut geführt, sondern hier, in den Anfängen der Pflanzenwelt. Wer mitten in einem Walde fühlt, wie der schweigende Kampf um den Boden rings um ihn vor sich geht, Tag und Nacht, ohne Gnade, den erfaßt ein Grauen vor der Tiefe dieses Triebes, der mit dem Leben beinahe eins ist. Hier gibt es jahrelanges, zähes, erbittertes Ringen, aussichtslosen Widerstand des Schwachen gegen den Mächtigen, der so lange dauert, bis auch der Sieger gebrochen ist, Tragödien, wie sie sich nur im ursprünglichsten Menschentum wiederholen, wenn ein altes Bauerngeschlecht von der Scholle, aus dem Nest getrieben oder eine Familie von adligem Stamm durch das Geld in des Wortes eigentlichster Bedeutung entwurzelt wird. (Eigentum in diesem bedeutendsten Sinne, Verwachsensein mit etwas, gibt es also weniger in bezug auf eine einzelne Person als auf die Geschlechterfolge, der sie angehört. Das kommt in jedem Streit innerhalb einer Bauernfamilie oder auch eines Fürstenhauses mit Gewalt zum Durchbruch; der jeweilige Herr hat den Besitz nur im Namen des Geschlechts. Daher die Angst vor dem Tode, wenn der Erbe fehlt. Auch das Eigentum ist ein Zeitsymbol und deshalb tief mit der Ehe verwandt, die ein festes pflanzenhaftes Verwachsensein und Sichbesitzen zweier Menschen ist, das sich zuletzt selbst in der zunehmenden Ähnlichkeit der Züge spiegelt.) Die weithin sichtbaren Kämpfe in den späten Städten haben eine ganz andere Bedeutung, denn hier, im Kommunismus jeder Art, handelt es sich nicht um das Erlebnis, sondern den Begriff des Eigentums als eines rein materiellen Mittels. Verneinung des Eigentums ist nie ein Rassetrieb – ganz im Gegenteil –, sondern der doktrinäre Protest des rein geistigen, städtischen, entwurzelten, das Pflanzenhafte verleugnenden Wachseins von Heiligen, Philosophen und Idealisten. Der mönchische Einsiedler wie der wissenschaftliche Sozialist, hieße er Moh-ti, Zenon oder Marx, verwerfen es aus demselben Grunde; die Menschen von Rasse verteidigen es aus demselben Gefühl. Auch hier stehen sich Tatsachen und Wahrheiten gegenüber. Eigentum ist Diebstahl; das ist in denkbar materialistischer Form der alte Gedanke: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Der Priester gibt mit dem Eigentum etwas Gefährliches und Fremdes, der Adel sich selbst auf.“ (Ebd., S. 983-985Spengler).

„Von hier aus entwickelt sich nun ein doppeltes Eigentumsgefühl: Haben als Macht und Haben als Beute. Beides liegt im ursprünglichen Rassemenschen unvermittelt nebeneinander. Jeder Beduine und Wikinger will beides zugleich. Der Seeheld ist stets auch Seeräuber; jeder Krieg geht auch um Besitz und zwar vor allem den Besitz von Land; nur ein Schritt ist nötig und der Ritter wird zum Raubritter, der Abenteurer zum Eroberer und König, wie der Normanne Rurik in Rußland und mancher achäische und etruskische Pirat in homerischer Zeit. In aller Heldendichtung findet sich neben der starken und natürlichen Lust am Kampf, an der Macht, am Weibe, und den ungezügelten Ausbrüchen von Glück, Schmerz, Zorn und Liebe die mächtige Freude am »Haben«. Als Odysseus in seiner Heimat landet, zählt er zuerst die Schätze im Boot, und als in der isländischen Saga die Bauern Hjalmar und Ölvarod sehen, daß der andere keine Güter im Schiff hat, lassen sie sofort vom Zweikampf ab: ein Tor, wer aus Übermut und um die Ehre kämpft. Im indischen Heldenepos bedeutet kampflustig soviel wie viehlüstern, und die »kolonisierenden« Griechen des 10. Jahrhunderts waren zunächst Räuber wie die Normannen. Auf dem Meere ist ein fremdes Schiff ohne weiteres gute Prise. Aber aus den Fehden südarabischer und persischer Ritter von 200 n. Chr. und den guerres privées der provenzalischen Barone von 1200, die nicht viel mehr waren als Viehdiebstähle, entwickelt sich mit dem Ende der Feudalzeit der große Krieg mit dem Ziel der Eroberung von Land und Leuten. Alles das bringt die hohe adlige Kultur zuletzt in Zucht und Form, während es Priester und Philosophen verachten.“ (Ebd., S. 985Spengler).

„Diese Urtriebe treten mit steigender Kultur weit auseinander und geraten unter sich in Kampf. Die Geschichte davon ist beinahe die Weltgeschichte. Aus dem Machtgefühl stammen Eroberung, Politik und Recht, aus dem Beutegefühl stammen Handel, Wirtschaft und Geld. Recht ist das Eigentum des Mächtigen. Sein Recht ist das Recht aller. Geld ist die stärkste Waffe des Erwerbenden. Mit ihm unterwirft er sich die Welt. Die Wirtschaft will einen Staat, der schwach ist und ihr dient; die Politik fordert die Einordnung des wirtschaftlichen Lebens in den Machtbereich des Staates: Adam Smith und Friedrich List, Kapitalismus und Sozialismus. Es gibt in allen Kulturen am Anfang einen Kriegs- und einen Kaufmannsadel, dann einen Grund- und Geldadel, zuletzt eine militärische und wirtschaftliche Kriegführung und einen ununterbrochenen Kampf des Geldes mit dem Rechte.“ (Ebd., S. 985-986Spengler).

„Auf der anderen Seite trennen sich Priestertum und Gelehrsamkeit. Sie sind beide nicht auf das Tatsächliche, sondern auf das Wahre gerichtet, beide zur Tabuseite des Lebens und zum Räume gehörig. Die Furcht vor dem Tode ist nicht nur der Ursprung aller Religion sondern auch aller Philosophie und Naturwissenschaft. Aber der heiligen wird nun die profane Kausalität entgegengestellt. Profan ist der neue Gegenbegriff zum Religiösen, das die Gelehrsamkeit nur als Dienerin geduldet hatte. Profan ist die gesamte späte Kritik, ihr Geist, ihre Methode und ihr Ziel. Auch die späte Theologie macht davon keine Ausnahme; aber trotzdem bewegt sich die Gelehrsamkeit aller Kulturen durchaus in den Formen des vorauf gegangenen Priestertums und beweist damit, daß sie nur aus dem Widerspruch erwachsen und von dem Urbild in allem und jedem abhängig ist und bleibt. Die antike Wissenschaft lebt deshalb in Kultgemeinden orphischen Stils wie die milesische Schule, der Pythagoräerbund, die Ärzteschulen von Kroton und Kos, die attischen Schulen der Akademie, des Peripatos und der Stoa, deren Schulhäupter insgesamt zum Typus des Opferpriesters und Sehers gehören, bis zu den römischen Rechtsschulen der Sabinianer und Proculianer. Arabisch ist auch in der Wissenschaft das heilige Buch, der Kanon wie der naturwissenschaftliche des Ptolemäos (Almagest), der medizinische des Ibn Sina, das philosophische Korpus des »Aristoteles« mit vielen unechten Stücken, und dazu wieder meist ungeschriebene Zitiergesetze und -methoden, der Kommentar als Form des Gedankenfortschritts, die Hochschulen als Klosteranlagen (Medressen), welche den Lehrern und Hörern eine Zelle, Kost und Kleidung gewährten, und die gelehrten Richtungen als Bruderschaften. Die Gelehrtenwelt des Abendlandes besitzt durchaus die Gestalt der katholischen Kirche, besonders in den protestantischen Gebieten. Den Übergang von den gelehrten Orden der gotischen Zeit zu den ordensartigen Schulen des 19. Jahrhunderts, wie die Hegel-, Kant- und historische Rechtsschule, aber auch manche englischen Colleges, bilden die Mauriner und Bollandisten Frankreichs, die seit 1650 die historischen Hilfswissenschaften beherrscht und zum Teil begründet haben. Es gibt in allen Fachwissenschaften, Medizin und Kathederphilosophie einbegriffen, eine ausgebildete Hierarchie mit Schulpäpsten, Graden, Würden – der Doktor als die Priesterweihe –, Sakramenten und Konzilen. Der Laienbegriff wird schroff aufrecht erhalten und das allgemeine Priestertum der Gläubigen in Gestalt der populären Wissenschaft wie der darwinistischen leidenschaftlich bekämpft. Die Gelehrtensprache war ursprünglich das Latein; heute haben sich überall Fachsprachen ausgebildet, die z.B. auf dem Gebiete der Radioaktivität oder im Obligationenrecht nur noch dem verständlich sind, der die höheren Weihen empfangen hat. Es gibt Sektenstifter wie manche Jünger Kants und Hegels, eine Mission unter Ungläubigen wie die der Monisten, Ketzer wie Schopenhauer und Nietzsche, den großen Bann und als Index eine Übereinkunft des Schweigens. Es gibt ewige Wahrheiten wie die Teilung der Rechtsobjekte in Personen und Sachen, und Dogmen wie das von Energie und Masse und die Vererbungstheorie, einen Ritus des Zitierens rechtgläubiger Schriften und eine Art von wissenschaftlicher Seligsprechung. (Nach dem Tode sind die Irrlehrer ausgeschlossen von der ewigen Seligkeit des Lehrbuchs und in das Fegefeuer der Anmerkungen verwiesen, von wannen sie auf die Fürbitte der Gläubigen geläutert aufsteigen in das Paradies der Paragraphen.)“ (Ebd., S. 986-987Spengler).

„Dazu kommt, daß der Typus des abendländischen Gelehrten, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte – gleichzeitig mit dem Tiefpunkt des Priestertypus –, auch die Gelehrtenstube als Zelle eines profanen Mönchtums und die unbewußten Gelübde dieses Mönchtums zu hoher Vollendung gebracht hat: Armut in Gestalt einer ehrlichen Geringschätzung von Wohlleben und Besitz, in Verbindung mit der ungeheuchelten Verachtung des kaufmännischen Berufes und jeder Verwertung wissenschaftlicher Ergebnisse zum Gelderwerb, Keuschheit bis zur Entwicklung eines Gelehrtenzölibats, dessen Vorbild und Gipfel Kant ist, Gehorsam bis zur Aufopferung für den Standpunkt der Schule. Dazu kommt endlich eine Art von Weltfremdheit, welche der profane Nachhall der gotischen Weltflucht ist und zur Geringschätzung fast des gesamten öffentlichen Lebens und aller Formen der guten Gesellschaft geführt hat: wenig Zucht und viel zuviel Bildung. Was für den Adel auch noch in seinen späten Verzweigungen, für den Richter, Gutsbesitzer und Offizier die naturwüchsige Freude an der Fortdauer des Stammes, an Besitz und Ehre ist, das scheint ihm gering gegenüber dem Besitz eines reinen Gelehrtengewissens und der Fortdauer einer Methode oder Einsicht fern von allen Händeln der Welt. Daß der Gelehrte heute aufgehört hat, weltfremd zu sein, und die Wissenschaft oft mit großem Verständnis in den Dienst der Technik und des Geldverdienens stellt, ist ein Zeichen dafür, daß der reine Typus im Abstieg begriffen ist, und daß also die große Zeit des Verstandesoptimismus, dessen lebendiger Ausdruck er ist, bereits der Vergangenheit angehört.“ (Ebd., S. 987-988Spengler).

„Aus alledem ergibt sich ein natürlicher Aufbau der Stände, der in seiner Entwicklung und Wirkung das Grundgerüst im Lebenslauf einer jeden Kultur bildet. Kein Entschluß hat ihn geschaffen und kann ihn abändern; Revolutionen ändern ihn nur, wenn sie Formen der Entwicklung und nicht Ergebnis eines privaten Willens sind: er kommt dem handelnden und denkenden Menschen in seiner letzten kosmischen Bedeutung gar nicht zum Bewußtsein, weil er zu tief im menschlichen Dasein liegt und also selbstverständlich ist; nur dem Oberflächenbild werden die Schlagworte und Anlässe entnommen, um die man in jener Seite der Geschichte kämpft, die von der Theorie als sozial abgetrennt wird und sich in Wirklichkeit doch gar nicht trennen läßt. Adel und Priestertum erwachsen zuerst aus dem freien Lande und stellen die reine Symbolik von Dasein und Wachsein, Zeit und Raum dar: aus den Seiten des Beutemachens und Grübelns entwickelt sich dann ein doppelter Typus von geringerer Symbolik, der in städtischen Spätzeiten in Gestalt von Wirtschaft und Wissenschaft zur Vormacht aufsteigt. In diesen beiden Daseinsströmen sind rücksichtslos und traditionsfeindlich die Ideen von Schicksal und Kausalität zu Ende gedacht; es entstehen Mächte, die eine Todfeindschaft von den Standesidealen des Heldentums und der Heiligkeit trennt: das Geld und der Geist. Sie verhalten sich beide zu jenen wie die Seele der Stadt zu der des Landes. Eigentum heißt von nun an Reichtum und Weltanschauung Wissen: entheiligtes Schicksal und profane Kausalität. Aber auch Wissenschaft und Adel sind ein Widerspruch. Der Adel beweist und forscht nicht, sondern ist. Es ist bürgerlich-unvornehm, das de omnibus dubitandum, aber es widerspricht andrerseits auch dem Grundgefühl des Priestertums, das die Kritik in eine dienende Rolle verweist. Weiterhin stößt die reine Wirtschaft hier auf eine asketische Moral, die den Geldgewinn verwirft, so wie ihn der echte auf seinem Boden sitzende Adel verachtet. Selbst der alte Kaufmannsadel ist vielfach zugrunde gegangen, z.B. in den Hansestädten und in Venedig und Genua, weil er die unbedenklichen Formen des großstädtischen Geschäfts aus Tradition nicht mitmachen wollte oder konnte. Und endlich stehen Wirtschaft und Wissenschaft selbst sich feindlich gegenüber und wiederholen in dem Kampfe zwischen Geldgewinn und Erkenntnis, zwischen Kontor und Gelehrtenstube, geschäftlichem und doktrinärem Liberalismus die alte große Gegnerschaft von Handeln und Schauen, Burg und Dom. In irgendeiner Gestalt wiederholt sich diese Gliederung im Aufbau jeder Kultur und macht damit eine vergleichende Morphologie auch im Sozialen möglich.“ (Ebd., S. 988-989Spengler).

„Eine Geschichte der Stände, die von den Berufsklassen grundsätzlich abzusehen hat, ist also eine Darstellung des Metaphysischen im höheren Menschentum, soweit es sich in Arten von dahinströmendem Leben zu großer Symbolik erhebt, Arten, in und an denen die Geschichte der Kulturen sich vollzieht. - Schon der scharf ausgeprägte Typus des Bauern am Anfang ist etwas Neues.“ (Ebd., S. 990Spengler).

„Adel und Priestertum sind als Möglichkeiten mit jeder neuen Kultur gegeben. Die scheinbaren Ausnahmen beruhen lediglich auf einem Mangel an greifbarer Überlieferung.“ (Ebd., S. 992Spengler).

„Der Adel, ganz Pflanze, geht überall vom Lande als dem Ureigentum aus, mit dem er fest verwachsen ist. Er besitzt überall die Grundform des Geschlechts, in dem auch die »andere« Geschichte, die des Weibes, zum Ausdruck kommt, und stellt sich durch den Willen zur Dauer, nämlich des Blutes, als das große Sinnbild von Zeit und Geschichte dar. Es wird sich zeigen, daß das frühe, auf persönlichem Vertrauen beruhende hohe Beamtentum des Vasallenstaates überall, in China und Ägypten so gut wie in der Antike und im Abendland, vom Marschalk (chinesisch sse-ma), Kämmerer (chen) und Truchseß (ta-tsai) bis zum Vogt (nan) und Grafen (peh) (die chinesischen Rangstufen bei Schindler, Das Priestertum im alten China, S. 61 f., die ihnen genau entsprechenden ägyptischen bei Ed. Meyer, Gesch. des Altertums I, § 222, die byzantinischen in der Notitia dignitatum, zum Teil vom Sassanidenhof stammend; in der antiken Polis deuten einige uralte Beamtentitel auf Hofämter [Kolakreten, Prytanen, Konsuln]; siehe weiter unten), zuerst lehnsartige Hofämter und Würden schafft, dann die erbliche Verbindung mit dem Boden sucht und so endlich zum Ursprung adliger Geschlechter wird.“ (Ebd., S. 992-993Spengler).

„Der faustische Wille zum Unendlichen kommt in dem genealogischen Prinzip zum Ausdruck, das, so sonderbar es klingt, dieser Kultur allein angehört, hier aber auch alle historischen Gebilde, vor allem die Staaten selbst bis ins Innerste durchdringt und gestaltet. Der historische Sinn, der über Jahrhunderte hinweg das Schicksal des eignen Blutes kennen und das Wann und Woher bis zu den Urahnen urkundlich belegt sehen will, die sorgfältige Gliederung des Stammbaums, die den gegenwärtigen Besitz und seine Erbfolge vom Schicksal einer Ehe abhängig machen kann, die vielleicht ein halbes Jahrtausend vorher geschlossen worden ist, die Begriffe des reinen Blutes, der Ebenbürtigkeit, der Mißheirat, das alles ist Wille zur Richtung in die zeitliche Ferne, wie sie vielleicht nur noch im ägyptischen Adel zu einer verwandten, aber sehr viel schwächeren Form gelangt ist.“ (Ebd., S. 993Spengler).

„Dagegen erhebt sich ... das faustische Priestertum ... in steilem Aufstieg zu jener ungeheuren Mittlerrolle, die sich der Idee nach zwischen die gesamte Menschheit und die mit dem vollen Pathos der dritten Dimension ausgespannte Weite des Makrokosmos stellt, die aus der Geschichte durch das Zölibat, aus der Zeit durch den character indelebilis ausgeschlossen ist und im Papsttum gipfelt, das das größte überhaupt denkbare Symbol des heiligen dynamischen Raumes darstellt und in der protestantischen Idee des allgemeinen Priestertums der Gläubigen nicht aufgehoben, sondern nur von einem Punkt und einer Person in die Brust jedes einzelnen Gläubigen verlegt worden ist.“ (Ebd., S. 995-996Spengler).

„Der in jedem Mikrokosmos vorhandene Widerspruch zwischen Dasein und Wachsein treibt mit innerer Notwendigkeit auch die beiden Stände gegeneinander. Die Zeit will den Raum, der Raum die Zeit sich einordnen. Geistliche und weltliche Macht sind Größen von so verschiedener Ordnung und Tendenz, daß eine Versöhnung oder auch nur Verständigung unmöglich erscheint. Aber in allen andern Kulturen ist dieser Kampf nicht zu welthistorischem Ausbruch gekommen: in China war dem Adel um des tao, in Indien dem Priestertum um des endlos verschwimmenden Raumes willen die Vorherrschaft gesichert; innerhalb der arabischen Kultur ist die Einordnung des sichtbar weltlichen Zusammenhangs der Rechtgläubigen in den großen geistigen consensus mit dem magischen Weltgefühl unmittelbar gegeben und damit also auch die Einheit von weltlichem und geistlichem Staat, Recht, Herrschertum. Das hat die Reibungen beider Stände nicht verhindert und im Sassanidenreich zu blutigen Fehden zwischen dem Adel der Dinkane und der Magierpartei und zu Mordtaten selbst an einzelnen Herrschern geführt, in Byzanz das ganze 5. Jahrhundert mit Kämpfen zwischen Kaisergewalt und Geistlichkeit ausgefüllt, die überall im Hintergrunde der monophysitischen und nestorianischen Streitigkeiten stehen (ein Beispiel ist das Leben des Johannes Chrytostomus), aber das grundsätzliche Verhältnis stand dabei nicht in Frage. In der Antike, die das Unendliche in jedem Sinne von sich wies, waren die Zeit auf die Gegenwart, das Ausgedehnte auf den greifbaren Einzelkörper zurückgeführt, und die Stände von großer Symbolik mithin so bedeutungslos geworden, daß sie gegenüber dem Stadtstaat, der das antike Ursymbol in denkbar stärkster Form zum Ausdruck bringt, als selbständige Mächte nicht in Betracht kamen. Dagegen läßt die Geschichte des ägyptischen Menschentums, in dem ein gewaltiger Tiefendrang mit gleicher Kraft in die zeitliche und räumliche Ferne strebt, das Ringen beider Stände und ihrer Symbolik bis in das ausgebildete Fellachentum hinein beständig erkennen. Denn der Übergang von der vierten zur fünften Dynastie ist auch mit einem deutlichen Triumph des priesterlichen über das ritterliche Weltgefühl verbunden; der Pharao wird vom Leibe und Träger zum Diener der höchsten Gottheit, und das Heiligtum des Re überwindet an architektonischer wie an sinnbildlicher Wucht den Totentempel des Herrschers. Das Neue Reich sieht gleich nach den ersten großen Cäsaren die politische Allmacht der Amonspriesterschaft von Theben und dagegen wieder die Umwälzung des Ketzerkönigs Amenophis IV., die doch auch eine sehr fühlbare politische Seite hat, bis die Geschichte der ägyptischen Welt nach endlosem Ringen zwischen Krieger- und Priesterkaste mit der Fremdherrschaft zu Ende geht.“ (Ebd., S. 996-997Spengler).

„Dieser Kampf zweier gleich mächtiger Symbole ist in der faustischen Kultur mit verwandtem Geist, aber noch viel größerer Leidenschaft geführt worden und läßt zwischen Staat und Kirche von der frühesten Gotik an den Frieden nur als Waffenstillstand möglich erscheinen. In diesem Kampf kommt die Bedingtheit des Wachseins zum Ausdruck, das vom Dasein unabhängig sein möchte und doch nicht kann. Die Sinne bedürfen des Blutes, das Blut aber nicht der Sinne. Der Krieg gehört in die Welt der Zeit und Geschichte – geistig ist nur der Streit mit Gründen, die Disputation –, eine kämpfende Kirche begibt sich aus dem Reich der Wahrheiten in das der Tatsachen, aus dem Reich Jesu in das des Pilatus; sie wird ein Element innerhalb der Rassengeschichte und unterliegt durchaus der Gestaltungskraft der politischen Seite des Lebens; sie kämpft mit Schwert und Geschütz, mit Gift und Dolch, mit Bestechung und Verrat, mit allen Mitteln des jeweiligen Parteikampfes von der Feudalzeit bis zur modernen Demokratie; sie opfert Glaubenssätze gegen weltliche Vorteile und verbündet sich mit Ketzern und Heiden gegen rechtgläubige Mächte. Das Papsttum als Idee besitzt eine Geschichte für sich, aber unabhängig davon waren die Päpste des 6. und 7. Jahrhunderts byzantinische Statthalter syrischer und griechischer Herkunft, dann mächtige Landbesitzer mit Scharen höriger Bauern; endlich wurde das Patrimonium Petri zu Beginn der Gotik eine Art Herzogtum im Besitz der großen Adelsgeschlechter der Campagna, die abwechselnd Päpste stellten, voran die Colonna, Orsini, Savelli, Frangipani, bis das allgemein abendländische Lehnswesen auch hier herrschend wurde und der Stuhl Petri innerhalb der Familien römischer Barone zur Verleihung kam, so daß der neue Papst wie jeder deutsche und französische König die Rechte seiner Vasallen zu bestätigen hatte. Die Grafen von Tusculum ernannten 1032 einen zwölfjährigen Knaben zum Papst. Achthundert Burgtürme erhoben sich damals im Stadtgebiet zwischen und auf den antiken Ruinen. Im Jahre 1045 hatten sich drei Päpste im Vatikan, Lateran und in Santa Maria Maggiore verschanzt und wurden von ihrer adligen Gefolgschaft verteidigt.“ (Ebd., S. 997-998Spengler).

„Dazu tritt nun die Stadt mit ihrer Seele, die sich von der Seele des Landes erst löst, dann sich ihr gleichstellt, endlich sie zu unterdrücken und auszulöschen sucht. Aber diese Entwicklung vollzieht sich in Arten des Lehens und gehört also auch der Ständegeschichte an. Kaum ist das Stadtleben als solches aufgetaucht und in der Bewohnerschaft dieser kleinen Siedlungen ein Gemeingeist erwachsen, der das eigne Leben als etwas anderes empfindet als das Leben draußen, da beginnt der Zauber persönlicher Freiheit zu wirken und immer neue Daseinsströme in die Mauern zu ziehen. Es gibt da eine Art Leidenschaft, Städter zu sein und Stadtleben auszubreiten. Aus ihr und nicht aus materiellen Anlässen geht das Fieber der antiken Gründungszeit hervor, die uns in ihren letzten Ausläufern noch erkennbar ist und da nicht ganz richtig als Kolonisation bezeichnet wird. Es ist die zeugende Begeisterung des Menschen der Stadt, die seit dem 10. Jahrhundert in der Antike und »gleichzeitig« in den anderen Kulturen immer neue Geschlechterfolgen in den Bann eines neuen Lebens zwingt, mit dem zum erstenmal inmitten der Menschengeschichte die Idee der Freiheit erscheint. Sie ist nicht politischen und noch viel weniger abstrakten Ursprungs, sondern sie bringt die Tatsache zum Ausdruck, daß innerhalb der Stadtmauern das pflanzenhafte Verbundensein mit dem Lande ein Ende hat und die das ganze Landleben durchsetzenden Bindungen zerrissen sind. Ihr Wesen hat deshalb immer etwas Verneinendes. Sie löst, erlöst, verteidigt; frei ist man immer von etwas. Die Stadt ist der Ausdruck dieser Freiheit; städtischer Geist ist freigewordnes Verstehen, und alles was in Spätzeiten unter dem Namen Freiheit an geistigen, sozialen und nationalen Bewegungen hervorbricht, leitet seinen Ursprung zu dieser einen Urtatsache des Freiseins vom Lande zurück.“ (Ebd., S. 998-999Spengler).

„Aber die Stadt ist älter als der »Bürger«. Sie zieht zunächst die Berufsklassen an, die außerhalb der symbolischen Ständeordnung stehen und hier die Form von Zünften erhalten, dann aber die Urstände selbst, die wie der Kleinadel ihre Burgen und wie die Franziskaner ihre Klöster in das Weichbild verlegen, ohne daß damit innerlich viel geändert wäre. Nicht nur das päpstliche Rom, alle italienischen Städte dieser Zeit sind mit den Festungstürmen der Geschlechter erfüllt, von denen aus die Fehden in den Straßen ausgefochten werden. Auf einem bekannten Gemälde von Siena aus dem 14. Jahrhundert ragen sie wie Fabrikschlote rings um den Markt empor, und der florentinische Palast der Renaissance ist nicht nur durch das prachtvolle Leben in ihm ein Nachfolger der provenzalischen Edelhöfe, sondern mit seiner Rustikafassade auch ein Abkomme der gotischen Burg, welche die deutsche und französische Ritterschaft noch für lange Zeit auf den Bergen baute. Erst langsam sondert sich ein neues Leben ab. 1250–1450 haben sich im ganzen Abendland die eingewanderten Geschlechter den Zünften gegenüber zum Patriziat zusammengeschlossen und eben damit auch geistig vom Landadel gelöst; genau dasselbe war im frühen China, Ägypten und im byzantinischen Reiche der Fall, und erst von hier aus sind die ältesten antiken Städtebünde wie der etruskische, vielleicht noch der latinische, und die sakrale Verbindung der kolonialen Tochterstädte mit der Mutterstadt zu verstehen: nicht die Polis als solche, sondern das Patriziat der Phylen und Phratrien in ihnen ist Träger der Ereignisse. Die ursprüngliche Polis ist mit dem Adel identisch, wie es in Rom bis 471 und in Sparta und den etruskischen Städten dauernd der Fall war; von ihm geht der Synoikismus und die Bildung des Stadtstaates aus, aber auch in den andern Kulturen ist der Unterschied von Land- und Stadtadel zunächst ganz ohne Bedeutung gegenüber dem starken und tiefen zwischen dem Adel überhaupt und dem Rest.“ (Ebd., S. 999Spengler).

„Das Bürgertum entsteht erst aus dem grundsätzlichen Widerspruch zwischen Stadt und Land, der die »Geschlechter und Zünfte«, so schroff sie sich sonst bekämpfen, dem Uradel und dem Lehnsstaat überhaupt, auch dem Lehnswesen der Kirche gegenüber sich als Einheit fühlen läßt. Der Begriff des dritten Standes, des »tiers«, um das berühmte Wort der französischen Revolution zu gebrauchen, ist eine Einheit lediglich des Widerspruchs und inhaltlich also gar nicht zu bestimmen, ohne eigene Sitte und Symbolik, denn die vornehme bürgerliche Gesellschaft artet dem Adel und die städtische Frömmigkeit dem frühen Priestertum nach; und der Gedanke, daß das Leben nicht einem praktischen Zweck, sondern vor allem mit seiner ganzen Haltung dem Ausdruck der Symbolik von Zeit und Raum zu dienen habe und allein dadurch einen hohen Rang in Anspruch nehmen dürfe, reizt gerade die städtische Vernunft zu erbittertem Widerspruch. Diese Vernunft, zu deren Domäne die gesamte politische Literatur der Spätzeit gehört, nimmt eine neue Gruppierung der Stände von der Stadt aus vor, die zunächst Theorie ist, aber durch die Allmacht des Rationalismus endlich Praxis, sogar die blutige Praxis von Revolutionen wird. Adel und Priestertum erscheinen, soweit sie noch da sind, mit einer gewissen Betonung als privilegierte Stände, womit stillschweigend ausgedrückt wird, daß ihr Anspruch auf verbriefte Vorrechte auf Grund ihres geschichtlichen Ranges vor dem zeitlosen Vernunft- oder Naturrecht veraltet und sinnlos ist. Sie haben jetzt ihren Mittelpunkt in Hauptstädten – ein wichtiger Begriff der Spätzeit – und entwickeln erst jetzt die aristokratischen Formen zu jener ehrfurchtgebietenden Vornehmheit .... Ihnen treten die geistigen Mächte der zur Herrschaft gelangten Stadt, Wirtschaft und Wissenschaft, entgegen, die zusammen mit der Masse der Handwerker, Beamten und Arbeiter sich als Partei fühlen, uneinig in sich selbst, aber einig stets, sobald der Kampf der Freiheit, also der städtischen Unverbundenheit gegen die großen Symbole der alten Zeit und die aus ihnen fließenden Rechte beginnt. Sie alle sind Bestandteile des dritten Standes, der nicht nach dem Range, sondern nach Köpfen zählt, in allen Spätzeiten aller Kulturen irgendwie »liberal«, nämlich frei von den innerlichen Mächten nichtstädtischen Lebens, die Wirtschaft frei für den Gelderwerb, die Wissenschaft frei in der Kritik, wobei in allen großen Entscheidungen der Geist in Büchern und Versammlungen das Wort führt – Demokratie – und das Geld den Vorteil zieht – Plutokratie – und das Ende nie der Sieg der Ideen ist, sondern der des Kapitals. Aber das ist wieder der Gegensatz von Wahrheiten und Tatsachen, so wie er sich aus dem Stadtleben entwickelt.“ (Ebd., S. 1000-1001Spengler).

„Und aus Protest gegen die uralten Symbole des erdverbundenen Lebens stellt die Stadt nun dem Geburtsadel die Begriffe des Geldadels und des Geistesadels entgegen: der eine kein lauter Anspruch, aber eine um so wirksamere Tatsache, der andre eine Wahrheit, aber weiter nichts und für das Auge ein zweifelhaftes Schauspiel. In jeder Spätzeit entwickelt sich zum Uradel – Kreuzzugsadel ist ein gewichtiges Wort –, in dem ein Stück gewaltiger Geschichte Form und Takt geworden ist und der an den großen Höfen vielfach innerlich zugrunde geht, ein echter Nachwuchs. So entsteht im 4. Jahrhundert durch das Eindringen großer plebejischer Geschlechter als conscripti in den römischen Staat der patres die Nobilität als grundbesitzender Amtsadel innerhalb des Senatorenstandes. Im päpstlichen Rom bildet sich in ganz ähnlicher Weise der Nepotenadel; es gab um 1650 kaum fünfzig Familien von mehr als dreihundertjährigem Stammbaum. In den Südstaaten der Union entwickelt sich seit dem späten Barock jene Pflanzeraristokratie, die im Sezessionskriege von 1861–65 von den Geldmächten des Nordens vernichtet wurde. Der alte Kaufmannsadel im Stile der Fugger, Welser, Medici und der großen Häuser von Venedig und Genua, dem fast das gesamte Patriziat der hellenischen Koloniestädte von 800 an zuzurechnen ist, hat immer etwas Aristokratisches gehabt, Rasse, Tradition, gute Sitte und den natürlichen Trieb, durch Grunderwerb die Verbindung mit dem Boden wiederherzustellen (obwohl das alte Stammhaus in der Stadt kein übler Ersatz war). Aber der neue Geldadel der Händler und Spekulanten dringt mit seinem schnell erworbenen Geschmack an vornehmen Formen zuletzt auch in den Geburtsadel ein – in Rom als equites seit dem 1. Punischen Kriege, in Frankreich unter Ludwig XIV.–, erschüttert und verdirbt ihn, während der Geistesadel der Aufklärung ihn mit Hohn überschüttet. Die Konfuzianer haben den altchinesischen Begriff des shi von der adligen Sitte zur geistigen Tugend herabgezogen und das Pi-yung aus einer Stätte ritterlicher Kampf spiele zur »geistigen Ringschule«, zum Gymnasium gemacht, ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts.“ (Ebd., S. 1001-1002Spengler).

„Mit dem Ausgang der Spätzeit jeder Kultur kommt auch die Ständegeschichte zu mehr oder weniger gewaltsamem Abschluß. Es ist der Sieg des bloßen Lebenwollens in wurzelloser Freiheit über die großen bindenden Kultursymbole, welche das jetzt ganz von der Stadt beherrschte Menschentum weder versteht noch erträgt. Aus dem Geldwesen verschwindet jeder Sinn für die bodenständigen, unbeweglichen Werte, aus der wissenschaftlichen Kritik jeder Rest von Pietät. Ein Sieg über sinnbildliche Ordnungen ist zum Teil auch die Bauernbefreiung; der Bauer wird dem Druck der Hörigkeit enthoben, aber der Macht des Geldes ausgeliefert, das nun den Boden zur beweglichen Ware macht; sie erfolgt bei uns im 18. Jahrhundert, in Byzanz um 740 durch den Nomos Georgikos, den Gesetzgeber Leos III.,35 womit der Kolonat langsam verschwindet, in Rom im Zusammenhang mit der Begründung der Plebs im Jahre 471. In Sparta hat damals Pausanias die Helotenbefreiung vergeblich angestrebt.“ (Ebd., S. 1002Spengler).

„Der Adel aller Frühzeiten war der Stand im ursprünglichsten Sinne gewesen, die fleischgewordene Geschichte, die Rasse in höchster Potenz. Das Priestertum trat als Gegen-Stand neben ihn, überall Nein sagend, wo der Adel bejahte, und damit die andere Seite des Lebens durch ein großes Sinnbild zur Schau stellend.“ (Ebd., S. 1003Spengler).

„Der dritte Stand, innerlich ohne alle Einheit, wie wir sahen, war der Nichtstand, der Protest in ständischer Form gegen das Ständewesen, und zwar nicht gegen diese oder jene, sondern gegen die sinnbildliche Form des Lebens überhaupt. Er verwirft alle Unterschiede, die von der Vernunft und durch den Nutzen nicht gerechtfertigt sind, aber trotzdem »bedeutet« er selbst etwas, und zwar mit voller Deutlichkeit: er ist das städtische Leben als Stand dem ländlichen entgegengesetzt; er ist die Freiheit als Stand gegenüber der Verbundenheit. Aber er ist von sich selbst aus betrachtet keineswegs der Rest, wie es von den Urständen aus erscheint. Das Bürgertum hat Grenzen; es gehört zur Kultur; es umfaßt im besten Sinne alle ihre Zugehörigen, und zwar unter der Bezeichnung Volk, populus, demos, wobei Adel und Priestertum, Geld und Geist, Handwerk und Lohnarbeit als Einzelbestandteile ihm eingeordnet werden.“ (Ebd., S. 1003-1004Spengler).

„Diesen Begriff findet die Zivilisation vor und vernichtet ihn durch den Begriff des vierten Standes, der Masse, der die Kultur mit ihren gewachsenen Formen grundsätzlich ablehnt. Es ist das absolut Formlose, das jede Art von Form, alle Rangunterschiede, den geordneten Besitz, das geordnete Wissen mit Haß verfolgt. Es ist das neue Nomadentum der Weltstädte (vgl. S. 676 ff.), für das die Sklaven und Barbaren in der Antike, der Tschudra in Indien, alles was Mensch ist, gleichmäßig ein flutendes Etwas bilden, das mit seinem Ursprung gänzlich zerfallen ist, seine Vergangenheit nicht anerkennt und eine Zukunft nicht besitzt. Damit wird der vierte Stand zum Ausdruck der Geschichte, die ins Geschichtslose übergeht. Die Masse ist das Ende, das radikale Nichts.“ (Ebd., S. 1004Spengler).

Anfang des Kapitels„Staat und Geschichte“

„Innerhalb der Welt als Geschichte, in die wir lebend verwoben sind, so daß unser Empfinden und Verstehen beständig dem Fühlen gehorcht, erscheinen die kosmischen Flutungen als das, was wir Wirklichkeit, wirkliches Leben nennen. Daseinsströme in leiblicher Gestalt. Man kann sie, die das Merkmal der Richtung tragen, verschieden erfassen: hinsichtlich der Bewegung oder des Bewegten. Jenes heißt Geschichte, dieses Geschlecht, Stamm, Stand, Volk, aber eins ist nur durch das andre möglich und vorhanden. Geschichte gibt es nur von etwas. Meinen wir die Geschichte der großen Kulturen, so ist Nation das Bewegte. Staat, status heißt Zustand. Den Eindruck des Staates erhält man, wenn man von einem in bewegter Form dahinströmenden Dasein die Form für sich ins Auge faßt, als etwas in zeitlosem Beharren Ausgedehntes, und von der Richtung, dem Schicksal ganz absieht. Der Staat ist die Geschichte als stillstehend, Geschichte der Staat als fließend gedacht. Der wirkliche Staat ist die Physiognomie einer geschichtlichen Daseinseinheit; nur der ausgedachte Staat der Theoretiker ist ein System. Eine Bewegung hat Form, das Bewegte ist in Form oder, um wiederum einen Sportasudruck von Bedeutung anzuwenden: ein vollendet Bewegtes befindet sich in vollkommener Verfassung.“ (Ebd., S. 1004-1005Spengler).

„Wäre alles Leben ein gleichförmiger Daseinsstrom, so würden wir die Worte Volk, Staat, Krieg, Politik, Verfassung nicht kennen. Aber das ewige und gewaltige Verschiedensein des Lebens, das durch die Gestaltungskraft der Kulturen bis aufs Äußerste gesteigert wird, ist eine Tatsache, die mit all ihren Folgen geschichtlich schlechthin gegeben ist. Pflanzenleben gibt es nur in bezug auf tierisches; die beiden Urstände bedingen sich gegenseitig; ebenso ist ein Volk nur wirklich in bezug auf andre Völker, und diese Wirklichkeit besteht in natürlichen und unaufhebbaren Gegensätzen, in Angriff und Abwehr, Feindschaft und Krieg. Der Krieg ist der Schöpfer aller großen Dinge. Alles Bedeutende im Strom des Lebens ist durch Sieg und Niederlage entstanden.“ (Ebd., S. 1007Spengler).

„In jedem Falle aber ist der Staat die Form, welche die äußere Lage bestimmt, so daß die Beziehungen zwischen Völkern stets politischer und nicht sozialer Natur sind. Innenpolitisch ist die Lage dagegen derart von ständischen Gegensätzen beherrscht, daß hier die soziale und politische Taktik auf den ersten Blick untrennbar erscheinen und beide Begriffe im Denken von Menschen, die ihr eigenes, etwa bürgerliches Standesideal mit der geschichtlichen Wirklichkleit gleichsetzen und deshalb nicht außenpolitisch denken können, sogar identisch sind. Im Außenkampfe sucht ein Staat Bündnisse mit anderen Staaten; im Innenkampf ist er stets auf ein Bündnis mit Ständen angewiesen ....“ (Ebd., S. 1012-1013Spengler).

„Und da ist es deutlich, daß der Staat und der erste Stand als Lebensformen bis in die Wurzel hinein verwandt sind, nicht nur mit ihrer Symbolik von Zeit und Sorge, ihrer gemeinsamen Beziehung zur Rasse, zu den Tatsachen der Geschlechterfolge, zur Familie und damit zu den Urtrieben allen Bauerntums, auf das jeder Staat und jeder Adel von Dauer sich letzten Endes stützen, nicht nur in ihrer Beziehung zum Boden, zum Stammsitz, Erbgut oder Vaterland, das in seiner Bedeutung für die Nationen magischen Stils nur deshalb zurücktritt, weil die Rechtgläubigkeit ihr vornehmster Zusammenhalt ist, sondern vor allem in der großen Praxis inmitten aller Tatsachen der geschichtlichen Welt, in der gewachsenen Einheit des Taktes und der Triebe, in der Diplomatie, der Menschenkenntnis, der Kunst des Befehlens, im Männerwillen nach Erhaltung und Erweiterung der Macht, der in Urzeiten Adel und Volk aus ein und derselben Heeresversammlung hervorgehen läßt, und endlich in dem Sinn für Ehre und Tapferkeit, so daß bis in die letzten Zeiten hinein der Staat am festesten steht, in dem der Adel oder die von ihm geschaffene Tradition ganz in den Dienst der allgemeinen Sache gestellt ist, wie es in Sparta den Athenern, in Rom den Karthagern, im chinesischen Staate Tsin dem taoistisch gestimmten Tsu gegenüber der Fall war.“ (Ebd., S. 1013-1014Spengler).

„Der Unterschied ist, daß der ständisch geschlossene Adel wie jeder Stand den Rest der Nation nur in bezug auf sich selbst erlebt und nur in diesem Sinne Macht ausüben will, der Staat aber der Idee nach die Sorge für alle ist und erst insofern auch die für den Adel. Aber ein echter und alter Adel stellt sich dem Staate gleich und sorgt für alle wie für ein Eigentum. Das gehört zu seinen vornehmsten und am tiefsten in sein Bewußtsein gedrungenen Pflichten. Er fühlt sogar ein angebornes Vorrecht auf diese Pflicht und betrachtet den Dienst in Heer und Verwaltung als seinen eigentlichen Beruf.“ (Ebd., S. 1014Spengler).

„Ganz anders ist der Unterschied zwischen dem Staatsgedanken und der Idee der übrigen Stände, die sämtlich dem Staat als solche innerlich fernstehen und von ihrem Leben aus ein Staatsideal prägen, das nicht aus dem Geist der tatsächlichen Geschichte und ihrer politischen Mächte erwachsen ist und eben deshalb gern mit Betonung als sozial bezeichnet wird. Und zwar ist die Kampflage der Frühzeit die, daß dem Staat als geschichtliche Tatsache schlechthin die kirchliche Gemeinschaft zur Verwirklichung religiöser Ideale gegenübertritt, während die Spätzeit noch das geschäftliche Ideal des freien Wirtschaftslebens und die utopischen Ideale der Träumer und Schwärmer hinzufügt, in denen irgendwelche Abstraktionen verwirklicht werden sollen.“ (Ebd., S. 1014-1015Spengler).

„Aber in der geschichtlichen Wirklichkeit gibt es keine Ideale; es gibt nur Tatsachen. Es gibt keine Wahrheiten; es gibt nur Tatsachen. Es gibt keine Gründe, keine Gerechtigkeit, keinen Ausgleich, kein Endziel; es gibt nur Tatsachen – wer das nicht begreift, der schreibe Bücher der Politik, aber er mache keine Politik. In der wirklichen Welt gibt es keine nach Idealen aufgebauten, sondern nur gewachsene Staaten, die nichts sind als lebendige Völker in Form. Allerdings: »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«, aber geprägt vom Blut und Takt eines Daseins, ganz triebhaft und ungewollt; und entwickelt entweder von staatsmännischen Begabungen in der im Blute liegenden Richtung, oder von Idealisten in der Richtung ihrer Überzeugungen, das heißt ins Nichts.“ (Ebd., S. 1015Spengler).

„Die Schicksalsfrage für wirklich vorhandene und nicht in den Köpfen entworfene Staaten ist aber nicht die ihrer idealen Aufgabe und Gliederung, sondern die ihrer innern Autorität, die auf die Dauer nicht durch materielle Mittel aufrechterhalten wird, sondern durch das Vertrauen selbst der Gegner auf ihre Leistungsfähigkeit. Die entscheidenden Probleme liegen nicht in der Ausarbeitung von Verfassungen, sondern in der Organisation einer gut arbeitenden Regierung; nicht in der Verteilung politischer Rechte nach »gerechten« Grundsätzen, die in der Regel nichts sind als die Vorstellung, welche ein Stand sich von seinen berechtigten Ansprüchen macht, sondern im arbeitenden Takt des Ganzen – arbeiten wieder im Sportsinne verstanden: die Arbeit der Muskeln und Sehnen im gestreckten Galopp eines Pferdes, das sich dem Ziel nähert – in jenem Takt, der starke Begabungen von selbst in seinen Bann zieht; und endlich nicht in einer weltfremden Moral, sondern in der Beständigkeit, Sicherheit und Überlegenheit der politischen Führung. Je selbstverständlicher das alles ist, je weniger man darüber redet oder gar streitet, desto vollkommener ist ein Staat, desto höher ist der Rang, die geschichtliche Leistungsfähigkeit und damit das Schicksal einer Nation. Staatshoheit, Souveränität ist ein Lebenssymbol erster Ordnung. Sie unterscheidet Subjekte und Objekte der politischen Ereignisse nicht nur in der innern, sondern, was sehr viel wichtiger ist, in der äußeren Geschichte. Die Stärke der Führung, die in der klaren Scheidung beider Faktoren zum Ausdruck kommt, ist das unzweideutige Kennzeichen der Lebenskraft einer politischen Einheit, und zwar bis zu dem Grade, daß die Erschütterung der bestehenden Autorität etwa durch die Anhänger eines entgegengesetzten Verfassungsideals so gut wie immer nicht etwa diese Anhängerschaft zum Subjekt der innern, sondern die ganze Nation zum Objekt einer fremden Politik macht, und zwar sehr oft für immer.“ (Ebd., S. 1015-1016).

„Aus diesem Grunde ist in jedem gesunden Staat der Buchstabe der geschriebenen Verfassung von geringer Bedeutung gegenüber dem Brauch der lebendigen »Verfassung« im Sportsinne, die sich aus Erfahrungen der Zeit, der Lage und vor allem aus den Rasseeigenschaften der Nation ganz von selbst und unbemerkt entwickelt hat. Je kräftiger diese natürliche Form des Staatskörpers herausgebildet ist, desto sicherer arbeitet er in jeder unvorhergesehenen Lage, wobei es zuletzt ganz gleichgültig wird, ob der tatsächliche Führer den Titel König, Minister, Parteiführer oder überhaupt kein bestimmbares Verhältnis zum Staate besitzt, wie Cecil Rhodes in Südafrika. Die römische Nobilität, welche die Politik im Zeitalter der drei Punischen Kriege beherrscht hat, war staatsrechtlich gar nicht vorhanden. In jedem Falle aber ist der Staat auf eine Minderheit von staatsmännischem Instinkt angewiesen, welche den Rest der Nation im Kampf der Geschichte repräsentiert“ (Ebd., S. 1016Spengler).

„Deshalb muß die Tatsache unzweideutig ausgesprochen werden: es gibt nur Standesstaaten, Staaten, in denen ein einzelner Stand regiert. Man verwechsle das nicht mit Ständestaat, dem der einzelen nur vermöge seiner Zugehörigkeit zu einem Stande angehört. Das letzte ist der Fall in der älteren Polis, in den Normannenstaaten von England und Sizilien, aber auch in dem Frankreich der Verfassung von 1791 und in Sowjetrußland. Das erste bringt dagegen die allgemeine geschichtliche Erfahrung zum Ausdruck, daß es stets eine einzelne Schicht ist, von welcher, gleichviel ob verfassungsmäßig oder nicht, die politische Führung ausgeht. Es ist immer eine entschiedene Minderheit, welche die welthistorische Tendenz eines Staates vertritt, und innerhalb dieser wieder eine mehr oder weniger geschlossene Minderheit, welche die Leitung kraft ihrer Fähigkeiten tatsächlich, und oft genug im Widerspruch mit dem Geist der Verfassung in Händen hat. Und wenn man von revolutionären Zwischenzeiten und von cäsarischen Zuständen absieht, die als Ausnahme die Regel bestätigen, ... - so ist es die Minderheit innerhalb eines Standes, welche durch Tradititon regiert, weitaus am meisten innerhalb des Adels ....“ (Ebd., S. 1016-1017Spengler).

„Eine Staatengeschichte ist Physiognomik und nicht Systematik. Sie hat nicht zu zeigen, wie »die Menschheit« allmählich zur Eroberung ihrer ewigen Rechte, zu Freiheit und Gleichheit und der Entwicklung des weisesten und gerechtesten Staates fortschreitet, sondern die in der Tatsachenwelt wirklich vorhandenen politischen Einheiten zu beschreiben, wie sie aufblühen, reifen und welken, ohne je etwas anderes zu sein als wirkliches Leben in Form. In diesem Sinne sei sie hier versucht.“ (Ebd., S. 1018Spengler).

„Die Geschichte großen Stils beginnt in jeder Kultur mit dem Lehnsstaat, der nicht Staat im kommenden Sinne ist, sondern die Ordnung des Gesamtlebens in bezug auf einen Stand. Das edelste Gewächs des Bodens, die Rasse im stolzesten Sinne, baut sich da eine Rangordnung auf, von der einfachen Ritterschaft bis zum primus inter pares, dem Lehnsherrn .... Der Gedanke des Feudalwesens, der alle Frühzeiten beherrscht hat, ist der Übergang aus dem urzeitlichen, rein praktischen und tatsächlichen Verhältnis des Machthabers zu den Gehorchenden – mögen sie ihn gewählt haben oder von ihm unterworfen sein – in das privatrechtliche und eben dadurch tiefsymbolische des Lehnsherrn zu den Vasallen. Dieses beruht durchaus auf der adligen Sitte, auf Ehre und Gefolgstreue, und beschwört die härtesten Konflikte herauf zwischen der Anhänglichkeit an den Herrn und der an das eigne Geschlecht. Der Abfall Heinrichs des Löwen ist ein tragisches Beispiel dafür.“ (Ebd., S. 1018Spengler).

„Der »Staat« existiert hier nur vermöge der Grenzen des Lehnsverbandes und erweitert sein Gebiet durch den Eintritt fremder Vasallen in diesen. Der ursprünglich persönliche und zeitlich begrenzte Dienst und Auftrag des Herrschers wird sehr bald dauerndes Lehen, das bei einem Heimfall wieder verliehen werden muß – schon um das Jahr 1000 gilt im Abendland der Grundsatz »kein Land ohne Herrn« – und endlich zum Erblehen wird, in Deutschland durch das Lehnsgesetz Konrads II. vom 28. Mai 1037. Damit sind die ehemals unmittelbaren Untertanen des Herrschers mediatisiert – sie sind nur noch als Untertanen eines Vasallen auch die seinen. Allein die starke gesellschaftliche Bindung des Standes sichert den Zusammenhalt, der auch unter diesen Bedingungen Staat heißt.“ (Ebd., S. 1018-1019Spengler).

„Die Begriffe von Macht und Beute erscheinen hier in klassischer Verbindung. Als 1066 die normannische Ritterschaft unter Herzog Wilhelm England eroberte, wurde der gesamte Grund und Boden Eigentum des Königs und Lehen und ist es dem Namen nach noch heute. Das ist die echte Wikingerfreude am »Haben«, und die Sorge des heimkehrenden Odysseus, der zuerst seine Schätze zählt. Aus diesem Beutesinn kluger Eroberer ist das vielbewunderte Rechnungswesen und Beamtentum der Frühkulturen ganz plötzlich entstanden. Diese Beamten sind von den Inhabern der großen Vertrauensämter, die aus persönlicher Sendung hervorgehen (vgl. S. 993Spengler), wohl zu unterscheiden – Clerici, Schreiber, nicht Ministerialen oder Minister, was ebenfalls Diener heißt, aber jetzt im stolzen Sinne den Diener des Herrn bedeutet. Die rein rechnende und schreibende Beamtenschaft ist ein Ausdruck der Sorge und entwickelt sich also in genau demselben Maße wie das dynastische Prinzip. Sie hat deshalb in Ägypten gleich zu Anfang des Alten Reiches eine erstaunliche Ausbildung erfahren. (Vgl. Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, § 244.) Der im Dschou-li beschriebene frühchinesische Beamtenstaat ist so umfangreich und kompliziert, daß die Echtheit des Buches daraufhin bezweifelt worden ist, aber er entspricht dem Geist und der Bestimmung nach vollkommen dem diokletianischen, der eine feudale Ständeordnung aus den Formen eines ungeheuren Steuerwesens hat entstehen lassen. (Vgl. S. 991.) In der frühen Antike fehlt er mit Betonung. Carpe diem ist der Wahlspruch der antiken Finanzwirtschaft bis in ihre letzten Tage. Die Sorglosigkeit, die Autarkeia der Stoiker ist auch auf diesem Gebiet zum Prinzip erhoben. Gerade die besten Rechner machen darin keine Ausnahme, wie Eubulos, der um 350 in Athen auf Überschüsse hin wirtschaftete, um sie dann unter die Bürgerschaft zu verteilen.“ (Ebd., S. 1019-1020Spengler).

„Den äußersten Gegensatz dazu bilden die rechnenden Wikinger des frühen Abendlandes, die in der Finanzverwaltung ihrer Normannenstaaten den Grund zu der faustischen, heute über die ganze Welt verbreiteten Art von Geldwirtschaft gelegt haben. Von dem schachbrettartig ausgelegten Tisch in der Rechnungskammer Roberts des Teufels von der Normandie (1028–35) stammen der Name des englischen Schatzamtes (Exchequer) und das Wort Scheck. Ebenso sind hier die Worte Konto, Kontrolle, Quittung, Rekord (vgl. compotus, contrarotulus [die zur Prüfung aufbewahrte Gegenrolle], quittancia, recordatum) entstanden. Von hier aus wird England 1066 als Beute unter rücksichtsloser Knechtung der Angelsachsen organisiert und ebenso der Normannenstaat Siziliens, den Friedrich II. von Hohenstaufen schon vorfand und in den Konstitutionen von Melfi (1231), seinem persönlichsten Werke, nicht geschaffen, sondern durch Methoden der arabischen, also einer hochzivilisierten Geldwirtschaft, nur bis zur Meisterschaft vervollkommnet hat. Von hier aus sind dann die finanztechnischen Methoden und Bezeichnungen in die lombardische Kaufmannschaft und von da in alle Handelsstädte und Verwaltungen des Abendlandes gedrungen.“ (Ebd., S. 1020Spengler).

„Aber Aufschwung und Abbau des Lehnswesens liegen dicht nebeneinander. Inmitten der blühenden Vollkraft der Urstände regen sich die künftigen Nationen und damit die eigentliche Staatsidee. Der Gegensatz zwischen adliger und geistlicher Gewalt und zwischen der Krone und ihren Vasallen wird immer wieder durch den von deutschem und französischem Volkstum (schon unter Otto dem Großen) unterbrochen, oder von deutschem und italienischem, der die Stände in Guelfen und Ghibellinen zerriß und das deutsche Kaisertum vernichtete, und von englischem und französischem, der zur englischen Herrschaft über Westfrankreich geführt hat. Indessen tritt das weit zurück hinter den großen Entscheidungen innerhalb des Lehnsstaates selbst, der den Begriff der Nation nicht kennt. England war in 60215 Lehen zerlegt worden, die in dem noch heute zuweilen nachgeschlagenen Domesday Book von 1084 verzeichnet wurden, und die straff organisierte Zentralgewalt ließ sich auch von den Untervasallen der Pairs den Treueid schwören, aber trotzdem wurde schon 1215 die Magna Charta durchgesetzt, welche die tatsächliche Gewalt vom König auf das Parlament der Vasallen überträgt – die Großen und die Kirche im Oberhaus, die Vertreter der Gentry und der Patrizier im Unterhaus vereinigt –, das von nun an Träger der nationalen Entwicklung geworden ist. In Frankreich erzwangen die Barone in Verbindung mit dem Klerus und den Städten 1302 die Berufung der Generalstände; durch das Generalprivilegium von Saragossa 1283 wurde Aragonien fast eine von den Cortes regierte Adelsrepublik, und in Deutschland machte einige Jahrzehnte vorher eine Gruppe großer Vasallen als Kurfürsten das Königtum von ihrer Wahl abhängig.“ (Ebd., S. 1020-1021Spengler).

„Den gewaltigsten Ausdruck nicht nur in der abendländischen Kultur, sondern in allen Kulturen überhaupt hat der Lehnsgedanke in dem Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum gefunden, dem als letztes Ziel die Verwandlung der ganzen Welt in einen ungeheuren Lehnsverband vorschwebte, und beide Mächte haben sich mit dem Ideal so tief verschwistert, daß sie mit dem Verfall des Lehnswesens zugleich von ihrer Höhe jäh herabstürzten.“ (Ebd., S. 1021Spengler).

„Die Idee eines Herrschers, dessen Machtbereich die ganze geschichtliche Welt, dessen Schicksal das der ganzen Menschheit ist, trat bis jetzt dreimal in Erscheinung, zuerst in der Auffassung des Pharao als des Horus (vgl. S. 900), dann in der gewaltigen chinesischen Vorstellung vom Herrscher der Mitte, dessen Reich tien-hia ist, alles unter dem Himmel Liegende (Anmerkung), endlich in frühgotischer Zeit, als Otto d. Gr. 962 aus einem tiefen mystischen Gefühl und Sehnen nach geschichtlicher und räumlicher Unendlichkeit, das damals durch alle Welt ging, den Gedanken eines Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation empfing. Aber vorher schon hatte Papst Nikolaus I. (860), noch ganz in augustinischen, also magischen Gedanken befangen, von einem päpstlichen Gottesstaat geträumt, der über den Fürsten dieser Welt stehen sollte, und seit 1059 ging Gregor VII. mit der vollen Urgewalt seiner faustischen Natur daran, eine päpstliche Weltherrschaft in den Formen eines universalen Lehnsverbandes mit Königen als Vasallen zu verwirklichen. Das Papsttum selbst bildete zwar nach innen den kleinen Lehnsstaat der Campagna, deren Adelsgeschlechter die Wahl beherrschten und die sehr bald auch das 1059 mit der Papstwahl betraute Kardinalskollegium in eine Art Adelsoligarchie verwandelten. Nach außen aber hat Gregor VII. die Lehnshoheit über die Normannenstaaten in England und Sizilien erreicht, die beide mit seiner Unterstützung begründet wurden, und die Kaiserkrone vergab er wirklich, wie vorher Otto der Große die Tiara. Aber dem Staufen Heinrich VI. gelang wenige Jahre später das Gegenteil; selbst Richard Löwenherz leistete ihm den Vasalleneid für England, und das allgemeine Kaisertum war der Verwirklichung nahe, als der größte aller Päpste, Innocenz III. (1198 bis 1216), die Lehnshoheit der Welt für kurze Zeit zur Tatsache machte. England wurde 1213 päpstliches Lehen, Aragonien, Leon, Portugal, Dänemark, Polen, Ungarn, Armenien, das eben begründete lateinische Kaisertum in Byzanz folgten, aber mit seinem Tode begann der Zerfall innerhalb der Kirche selbst, und zwar mit dem Streben der großen geistlichen Würdenträger, den durch die Investitur auch zu ihrem Lehnsherrn gewordenen Papst durch eine Standesvertretung zu beschränken. (Es darf nicht vergessen werden, daß der ungeheure Grundbesitz der Kirche Erblehen der Bistümer und Erzbistümer geworden war, die gar nicht daran dachten, dem Papst als Lehnsherrn Eingriffe zu gestatten.) Der Gedanke, daß ein allgemeines Konzil über dem Papst stehe, ist nicht religiösen Ursprungs, sondern zunächst aus dem Lehnsprinzip hervorgegangen. Seine Tendenz entspricht genau dem, was die englischen Großen durch die Magna Charta erreicht hatten. Auf den Konzilen von Konstanz (seit 1414) und Basel (seit 1431) ist zum letzten Male der Versuch gemacht worden, die Kirche nach ihrer weltlichen Seite hin in einen Lehnsverband der Geistlichkeit zu verwandeln, wodurch eine Kardinalsoligarchie Vertreterin des gesamten abendländischen Klerus an Stelle des römischen Adels geworden wäre. Aber der Lehnsgedanke war damals längst vor dem des Staates zurückgetreten, und so trugen die römischen Barone, die den Wahlkampf auf den engsten Kreis der Umgebung Roms beschränkten und eben damit dem Gewählten die unumschränkte Macht nach außen im Organismus der Kirche sicherten, den Sieg davon, nachdem das Kaisertum schon vorher ganz wie das ägyptische und chinesische ein ehrwürdiger Schatten geworden war.“ (Ebd., S. 1021-1023).

„Es gab hier wie überall eine Zeit, in welcher das Lehnswesen im Zerfall begriffen, der heraufkommende Staat aber noch nicht vollendet, die Nation noch nicht in Form war. Das ist die furchtbare Krise, welche überall als Interregnum in Erscheinung tritt und die Grenze zwischen Lehnsverband und Ständestaat bildet.“ (Ebd., S. 1024Spengler).

„Diese Erschütterung bedeutet den Sieg des Staates über den Stand. Dem Lehnswesen lag das Gefühl zugrunde, daß Alle um eines »Lebens« willen da seien, das mit Bedeutung geführt wurde. Die Geschichte erschöpfte sich in den Schicksalen adligen Blutes. Jetzt bricht ein Gefühl hervor, daß es noch etwas gibt, dem auch der Adel untersteht und zwar in Gemeinschaft mit allem andren, sei es Stand oder Beruf, etwas Ungreifbares, eine Idee. Die unbeschränkte privatrechtliche Auffassung der Ereignisse geht in eine staatsrechtliche über. Mag dieser Staat noch so sehr Adelsstaat sein, und das ist er fast ohne Ausnahme, mag sich äußerlich im Übergang vom Lehnsverband zum Ständestaat noch so wenig ändern, mag der Gedanke, daß es außerhalb der Urstände nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte gibt, noch so unbekannt sein – das Gefühl ist doch anders geworden, und das Bewußtsein, daß das Leben auf den Höhen der Geschichte da sei, um gelebt zu werden, ist dem andern gewichen, daß es eine Aufgabe enthält. Der Abstand wird sehr deutlich, wenn man die Politik Rainalds von Dassel († 1167), eines der größten deutschen Staatsmänner aller Zeiten, mit der Kaiser Karls IV. († 1378) vergleicht ....“ (Ebd., S. 1025-1026Spengler).

„Das römische Imperium ist nichts als der letzte und größte Stadtstaat der Antike auf Grund eines riesenhaften Synoikismos. Der Redner Aristides konnte unter Marc Aurel mit vollem Recht sagen (in seiner Rede auf Rom): »Rom hat diese Welt im Namen einer Stadt zusammengefaßt. Wo man auch in ihr geboren sein mag, man wohnt doch in ihrer Mitte«.“ (Ebd., S. 1035-1036Spengler).

„Eine entscheidende Wendung vollzieht sich mit dem Beginn der Spätzeit, dort wo Stadt und Land sich im Gleichgewicht befinden und die eigentlichen Mächte der Stadt, Geld und Geist, so stark geworden sind, daß sie sich als Nichtstand den Urständen gewachsen fühlen. Es ist der Augenblick, wo der Staatsgedanke sich endgültig über die Stände erhebt, um sie durch den Begriff der Nation zu ersetzen.“ (Ebd., S. 1038Spengler).

„Der Staat hatte sein Recht erkämpft auf dem Wege vom Lehnsverband zum Ständestaat. In diesem sind die Stände nur noch vermöge des Staates vorhanden, nicht umgekehrt. Aber es lag doch so, daß die Regierung der regierten Nation nur derart gegenübertrat, als und soweit diese ständisch gegliedert war. Der Nation zugehörig waren alle, den Ständen aber eine Auswahl, und nur diese kam politisch in Betracht.“ (Ebd., S. 1038Spengler).

„Je mehr sich aber der Staat seiner reinen Form nähert, je absoluter er wird, abgelöst nämlich von jedem andern Formideal, desto mehr gewinnt der Begriff der Nation dem des Standes gegenüber an Gewicht, und es kommt der Augenblick, wo die Nation als solche regiert wird und die Stände nur noch gesellschaftliche Unterschiede bezeichnen. Gegen diese Entwicklung, die zu den Notwendigkeiten der Kultur gehört und unvermeidlich und unwiderruflich ist, erheben sich noch einmal die frühen Mächte, Adel und Priestertum. Für sie steht alles auf dem Spiel, das Heldenhafte und Heilige, das alte Recht, der Rang, das Blut, und von ihnen aus betrachtet – gegen was?“ (Ebd., S. 1038-1039Spengler).

„Dieser Kampf der Urstände gegen die Staatsgewalt besitzt im Abendlande die Gestalt der Fronde; in der Antike, wo keine Dynastie die Zukunft vertritt und der Adel politisch allein da ist, bildet sich etwas Dynastisches, das den Staatsgedanken verkörpert und, gestützt auf den nichtständischen Teil der Nation, diesen selbst erst zu einer Macht erhebt. Das ist die Mission der Tyrannis.“ (Ebd., S. 1039Spengler).

„In dieser Wendung vom Ständestaat zum absoluten Staat, der alles nur in bezug auf sich gelten läßt, haben die Dynastien des Abendlandes und ebenso diejenigen Ägyptens und Chinas den Nichtstand, das »Volk«, zu Hilfe gerufen und damit als politische Größe anerkannt. Darin liegt die Bedeutung des Kampfes gegen die Fronde, und die Mächte der großen Stadt konnten für sich zunächst nur einen Vorteil darin erblicken. Der Herrscher steht hier im Namen des Staates, der Sorge für alle, und er bekämpft den Adel, weil dieser den Stand als politische Größe aufrecht erhalten will.“ (Ebd., S. 1039Spengler).

„Wallenstein knüpft unbewußt dort an, wo die Hohenstaufen aufgehört hatten. Nach dem Tode Friedrichs II. (1250) war die Gewalt der Reichsstände eine unbedingte geworden und gegen diese, für einen absoluten Kaiserstaat, trat er während seines ersten Kommandos ein. .... Auf dem Reichstag zu Regensburg (1630) war er abwesend, weil, wie er sagte, sein Quartier demnächst in Paris sein werde. Es war der schwerste politische Fehler seines Lebens, denn hier siegte die Fronde der Kurfürsten über den Kaiser durch die Drohung, Ludwig XIII. an seine Stelle zu setzen, und erzwang die Abdankung des Generals. Damit hatte die Zentralgewalt in Deutschland, ohne die Tragweite des Schrittes zu erkennen, ihr Heer aus der Hand gegeben. n über den Kaiser durch die Drohung, Ludwig XIII. an seine Stelle zu setzen, und erzwang die Abdankung des Generals. Damit hatte die Zentralgewalt in Deutschland, ohne die Tragweite des Schrittes zu erkennen, ihr Heer aus der Hand gegeben. Von nun an unterstützte Richelieu die große Fronde in Deutschland, um hier die spanische Stellung zu erschüttern, während auf deren Seite Olivarez und der wieder zum Kommando gelangte Wallenstein sich mit der Ständepartei in Frankreich verbündeten, die daraufhin unter der Königin-Mutter und Gaston von Orléans zum Angriff überging. Aber die kaiserliche Gewalt hatte den großen Augenblick versäumt. In beiden Fällen behielt der Kardinal die Oberhand. Er ließ 1632 den letzten Montmorency hinrichten und brachte die katholischen Kurfürsten Deutschlands in ein offenes Bündnis mit Frankreich. Von da an trat Wallenstein, der in seinen Endzielen unsicher wurde, mehr und mehr dem spanischen Gedanken entgegen, den er von dem Reichsgedanken trennen zu können glaubte, und näherte sich (wie in Frankreich der Marschall Turenne) damit von selbst den Ständen. Es ist die entscheidende Wendung in der späteren deutschen Geschichte. Erst mit diesem Abfall ist der absolute Kaiserstaat unmöglich geworden. Wallensteins Ermordung 1634 änderte daran nichts mehr, denn man fand für ihn keinen Ersatz.“ (Ebd., S. 1043-1045Spengler).

„Und eben jetzt wären die Umstände noch einmal günstig gewesen, denn 1640 brach in Spanien, Frankreich und England der Entscheidungskampf zwischen Staatsgewalt und Ständen aus. Gegen Olivarez erhoben sich die Cortes in fast allen Provinzen. Portugal und damit Indien und Afrika gingen für immer verloren; Neapel und Katalonien konnten erst nach Jahren wieder unterworfen werden. In England muß – ganz wie im Dreißigjährigen Kriege – der Verfassungskampf zwischen dem Königtum und der im Unterhaus herrschenden Gentry von der religiösen Seite der Revolution sorgfältig getrennt werden, so tief die beiden Tendenzen sich auch durchdringen. Aber der wachsende Widerstand, den Cromwell gerade in der Unterklasse gefunden hat und der ihn ganz gegen seinen Willen in eine Militärdiktatur hineintrieb, und dann die Volkstümlichkeit des zurückkehrenden Königtums beweisen, in welchem Grade der Sturz der Dynastie über alle Zwistigkeiten in religiösen Dingen hinaus durch ständische Interessen bewirkt war.“ (Ebd., S. 1045Spengler).

„Als Karl I. hingerichtet wurde, kam es auch in Paris zum Aufstand, der die königliche Familie zur Flucht zwang. Man baute Barrikaden und rief die Republik aus (1649). Wäre der Kardinal von Retz Cromwell ähnlicher gewesen, so war ein Sieg der Ständepartei über Mazarin wohl möglich. Aber der Ausgang dieser großen abendländischen Krise ist durchaus vom Gewicht und Schicksal weniger Persönlichkeiten bestimmt und gestaltete sich deshalb so, daß in England allein die im Parlament vertretene Fronde den Staat und das Königtum ihrer Führung unterwarf und diesen Zustand in der »glorreichen Revolution« von 1688 dauernd begründet hat, so daß heute noch wesentliche Teile des alten Normannenstaates zu Recht bestehen. In Frankreich und Spanien siegte das Königtum unbedingt. “ (Ebd., S. 1045-1046Spengler).

„In Deutschland wurde im Westfälischen Frieden für die große Fronde der Reichsfürsten gegen den Kaiser das englische, für die kleine Fronde den Landesfürsten gegenüber das französische Verhältnis durchgesetzt. Im Reich regieren die Stände, in deren Gebieten aber die Dynastie. Von da an war das Kaisertum wie das englische Königtum ein Name, umgeben mit Resten des spanischen Prunks aus dem frühen Barock ....“ (Ebd., S. 1046 Spengler).

„Mit dieser Epoche war der im Dasein jeder Kultur als Möglichkeit angelegte Staat verwirklicht und eine Höhe des politischen Geformtseins erreicht, die nicht mehr überboten, aber auch nicht lange aufrecht erhalten werden konnte. Ein leiser herbstlicher Zug geht schon durch die Zeit, als Friedrich der Große in Sanssouci Tafel hielt. Es sind die Jahre, in welchen auch die großen Sonderkünste ihre letzte, zarteste, geistigste Reife erlangen, neben den Rednern der athenischen Agora Zeuxis und Praxiteles, neben dem Filigran der Kabinettsdiplomatie die Musik von Bach und Mozart.“ (Ebd., S. 1046Spengler).

„Diese Kabinettspolitik ist selbst eine hohe Kunst geworden, ein artistischer Genuß für den, der seine Finger darin hatte, wundervoll in ihrer Feinheit und Eleganz, höflich, raffiniert, unheimlich in die Ferne wirkend, wo jetzt schon Rußland, die nordamerikanischen Kolonien, selbst die indischen Staaten angesetzt werden, um an ganz anderen Punkten der Erde durch das bloße Gewicht einer überraschenden Kombination Entscheidungen herbeizuführen. Es ist ein Spiel in strengen Regeln mit eröffneten Briefen und geheimen Vertrauten, mit Allianzen und Kongressen innerhalb eines Systems von Regierungen, das damals schon mit tiefbedeutendem Ausdruck das Konzert der Mächte genannt worden ist, voller noblesse und esprit, um die Worte der Zeit zu gebrauchen, eine Art, die Geschichte in Form zu halten, wie sie nie und nirgends sonst auch nur denkbar ist.“ (Ebd., S. 1046-1047Spengler).

„In der abendländischen Welt, deren Einflußgebiet jetzt schon mit der Erdoberfläche beinahe gleichbedeutend war, umfaßt die Zeit des absoluten Staates kaum eineinhalb Jahrhunderte, von 1660, wo im Pyrenäenfrieden das Haus Bourbon über Habsburg triumphiert und die Stuarts nach England zurückkehren, bis zu den Koalitionskriegen gegen die französische Revolution, in denen London über Paris siegt, oder dem Wiener Kongreß, auf welchem die alte Diplomatie des Blutes, nicht des Geldes, der Welt zum letzten Male ein großes Schauspiel gab. Das entspricht dem Zeitalter des Perikles in der Mitte zwischen erster und zweiter Tyrannis, und dem tschun-tsiu, »Frühling und Herbst«, wie die Chinesen die Zeit zwischen den Protektoren und den »Kämpfenden Staaten« nennen.“ (Ebd., S. 1047Spengler).

„In dieser letzten Zeit vornehmer Politik in den Formen eines Herkommens, das Abstand besitzt, werden die Höhepunkte dadurch bezeichnet, daß die beiden habsburgischen Linien rasch nacheinander aussterben (aber »nur« im Mannesstamm! HB), und die diplomatischen wie die kriegerischen Ereignisse sich 1710 um die spanische, 1760 um die österreichische Erbfolge drängen. (Der fünfzigjährige Abstand dieser kritischen Punkte, der sich in dem klaren geschichtlichen Aufbau des Barock besonders deutlich abhebt und auch in der Folge der drei Punischen Kriege erkennbar wird, deutet wieder darauf hin, daß die kosmischen Flutungen in Gestalt des menschlichen Lebens an der Oberfläche eines kleinen Gestirns nichts irgendwie für sich Bestehendes sind, sondern mit dem unendlichen Bewegtsein des Alls in tiefem Einklang stehen. In einem kleinen merkwürdigen Buch: R. Mewes, Die Kriegs- und Geistesperioden im Völkerleben und Verkündigung des nächsten Weltkrieges [1896] ist die Verwandtschaft dieser Kriegsperioden mit Perioden der Witterung, der Sonnenflecken und gewisser Planetenkonstellationen festgestellt und daraufhin ein großer Krieg für 1910–1920 angesetzt worden. Aber diese und zahllose ähnliche Zusammenhänge, die in den Bereich unsrer Sinne treten (vgl. Bd. II, S. 559 f.), bergen ein Geheimnis, das wir zu ehren haben und nicht durch kausale Erklärungen oder mystische Gedankengespinste antasten sollten.) Es ist der Höhepunkt auch des genealogischen Prinzips. Bella gerant alii, tu felix Austria nube – das war in der Tat eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Das Wort ist einst mit Beziehung auf Maximilian I. geprägt worden, aber das Prinzip erlangt erst jetzt seine höchste Wirkung. Die Kriege der Fronde gehen in Erbfolgekriege über, die im Kabinett beschlossen und mit kleinen Heeren kavaliermäßig und nach strengen Regeln ausgefochten werden. Es handelt sich um die Erbschaft der halben Welt, welche durch die habsburgische Heiratspolitik des frühen Barock zusammengekommen war. Der Staat ist noch immer fest in Form; der Adel ist loyal, Dienst- und Hofadel geworden; er führt die Kriege der Krone und organisiert die Verwaltung. Neben dem Frankreich Ludwigs XIV. entsteht in Preußen ein Meisterstück staatlicher Organisation. Der Weg vom Kampfe des Großen Kurfürsten (Friedrich Wilhelm; HB) mit seinen Ständen (1660) bis zum Tode Friedrichs des Großen, der Mirabeau 1786, drei Jahre vor dem Bastillesturm noch empfangen hat, ist genau derselbe und hat zur Schöpfung eines Staates geführt, der wie der französische in jedem Punkt das Gegenteil der englischen Gestaltung der Dinge ist.“ (Ebd., S. 1047-1048Spengler).

„An diesem Punkte, wo die Kultur im Begriff ist, Zivilisation zu werden, greift der Nichtstand entscheidend in die Ereignisse ein und zwar zum ersten Male als selbständige Macht. Unter der Tyrannis und Fronde hatte der Staat ihn gegen die eigentlichen Stände zu Hilfe gerufen, und er hatte sich erst damit als Macht fühlen gelernt. Jetzt verwendet er diese Macht für sich und zwar als Stand der Freiheit gegen den Rest, und er sieht im absoluten Staate, in der Krone, in den starken Institutionen die natürlichen Verbündeten der Urstände und die eigentlichen und letzten Vertreter der sinnbildlichen Tradition. Das ist der Unterschied zwischen erster und zweiter Tyrannis, zwischen Fronde und bürgerlicher Revolution, zwischen Cromwell und Robespierre.“ (Ebd., S. 1056Spengler).

„Der Staat mit seinen großen Forderungen an jeden einzelnen wird von der städtischen Vernunft als Last empfunden, genau wie man eben jetzt die großen Formen der Barockkünste als Last zu empfinden beginnt und klassisch oder romantisch, das heißt schwächlich in der Form oder formlos wird; die deutsche Literatur seit 1770 ist eine einzige Revolution starker Einzelpersönlichkeiten gegen die strenge Poesie; das »in Form sein für etwas« der ganzen Nation wirkt unerträglich, weil es der Einzelne innerlich selbst nicht mehr ist. Das gilt von der Sitte, das gilt in den Künsten und im Gedankenbau, das gilt vor allem in der Politik. Das Kennzeichen jeder bürgerlichen Revolution, als deren Ort ausschließlich die große Stadt erscheint, ist der Mangel an Verständnis für die alten Symbole, an deren Platz jetzt handgreifliche Interessen treten, und sei es auch nur der Wunsch begeisterter Denker und Weltverbesserer, ihre Begriffe verwirklicht zu sehen. Wert hat nur noch, was sich vor der Vernunft rechtfertigen läßt; aber ohne die Höhe einer Form, die durch und durch symbolisch und eben deshalb in metaphysischer Weise wirksam ist, verliert das nationale Leben die Kraft, sich inmitten der geschichtlichen Daseinsströme zu behaupten. Man verfolge die verzweifelten Versuche der französischen Regierung, das Land in Form zu halten, die unter dem beschränkten Ludwig XVI. von einer ganz kleinen Zahl fälliger und vorausblickender Männer unternommen wurden, nachdem die äußere Lage sich durch den Tod von Vergennes sehr ernst gestaltet hatte (1787). Mit dem Tode dieses Diplomaten scheidet Frankreich auf Jahre aus den politischen Kombinationen Europas aus; gleichzeitig bleibt die großartige Reform, welche die Krone trotz aller Widerstände durchgeführt hatte, vor allem die allgemeine Verwaltungsreform dieses Jahres auf der Grundlage freiester Selbstverwaltung, vollkommen unwirksam, weil für die Stände angesichts der Nachgiebigkeit des Staates plötzlich die Machtfrage in den Vordergrund rückte. (A. Wahl, Vorgeschichte der französischen Revolution, Band II, 1907; die ... Katastrophe beginnt ... unter den Gebildeten, und zwar aller Stände, im hohen Adel und Klerus noch etwas früher als im höheren Bürgertum, weil der Verlauf der ersten Notabelnversammlung [1787] die Möglichkeit enthüllt hatte, die Regierungsform nach Standeswünschen radikal umzugestalten.) Ein europäischer Krieg nahte wie ein Jahrhundert vorher und nachher mit unerbittlicher Notwendigkeit, der dann in Form der Revolutionskriege zur Entwicklung gekommen ist, aber niemand beachtete mehr die äußere Lage. Der Adel als Stand hat selten, das Bürgertum als Stand aber nie außenpolitisch und weltgeschichtlich gedacht: ob der Staat in einer neuen Form sich unter den andern Staaten überhaupt noch halten kann, danach fragt man nicht; ob er die »Rechte« sichert, ist alles“ (Ebd., S. 1056-1057Spengler).

„Aber das Bürgertum, der Stand der städtischen »Freiheit«, so stark auch sein Standesgefühl auf mehrere Generationen hin blieb, in Westeuropa noch über die Märzrevolution hinaus, war durchaus nicht immer Herr seiner Handlungen. Denn zunächst trat in jeder kritischen Lage der Umstand hervor, daß diese Einheit negativ und nur in Momenten des Widerstandes gegen irgendetwas andres wirklich vorhanden war – dritter Stand und Opposition sind beinahe identisch –, daß aber überall da, wo etwas Eignes aufgebaut werden sollte, die Interessen der einzelnen Gruppen weit auseinandergingen. Frei sein von etwas – das wollten alle; aber der Geist wollte den ] Staat als Verwirklichung der »Gerechtigkeit« gegenüber der Gewalt geschichtlicher Tatsachen oder der allgemeinen Menschenrechte oder der kritischen Freiheit gegenüber der herrschenden Religion; das Geld wollte freie Bahn für den geschäftlichen Erfolg. Es gab sehr viele, die Ruhe und Verzicht auf geschichtliche Größe verlangten oder Achtung vor mancher Tradition und ihren Verkörperungen, von denen sie – leiblich oder seelisch – lebten. Aber dazu kam von hier an ein Element, das in den Kämpfen der Fronde und also der englischen Revolution und der ersten Tyrannis noch gar nicht vorhanden war, nun aber eine Macht darstellte: das was man in allen Zivilisationen eindeutig als Hefe, Mob oder Pöbel bezeichnet. In den großen Städten, die jetzt allein entscheiden – das flache Land kann höchstens zu vollzogenen Ereignissen Stellung nehmen, wie das ganze 19. Jahrhundert beweist –, sammelt sich eine Masse wurzelloser Bevölkerungsteile an, die außerhalb jeder gesellschaftlichen Bindung stehen. Sie fühlen sich weder einem Stande zugehörig noch einer Berufsklasse – im innersten Herzen auch nicht der wirklichen Arbeiterklasse, obwohl sie zur Arbeit gezwungen sind; dem Instinkt nach gehören Glieder aller Stände und Klassen dazu, entwurzeltes Bauernvolk, Literaten, ruinierte Geschäftsleute, vor allem aus der Bahn geratener Adel, wie die Zeit Catilinas mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt hat. Ihre Macht übersteigt bei weitem ihre Zahl, denn sie sind immer am Platze, immer in der Nähe der großen Entscheidungen, zu allem bereit und ohne jede Achtung vor irgend etwas Geordnetem und sei es selbst die Ordnung innerhalb einer Revolutionspartei. Sie erst geben den Ereignissen die vernichtende Gewalt, welche die französische von der englischen Revolution und die zweite von der ersten Tyrannis unterscheidet. Das Bürgertum wehrt sich mit wahrer Angst gegen diese Menge, von der es sich unterschieden sehen will – einem dieser Abwehrakte, dem 13. Vendémiaire, verdankt Napoleon seinen Aufstieg –, aber die Grenze läßt sich im Gedränge der Tatsachen nicht ziehen, und überall, wo das Bürgertum seine im Verhältnis zur Zahl geringe Stoßkraft gegen die älteren Ordnungen ansetzt, gering, weil die innere Einheit in jedem Augenblick auf dem Spiele steht, hat sich diese Masse in seine Reihen und an die Spitze gedrängt, die Erfolge zum weitaus größten Teil erst entschieden und die gewonnene Stellung sehr oft für sich zu behaupten gewußt, und zwar häufig mit der ideellen Unterstützung durch die Gebildeten, welche das Begriffliche daran fesselte, oder der materiellen durch die Mächte des Geldes, welche die Gefahr von sich auf Adel und Priestertum ablenkten.“ (Ebd., S. 1057-1059Spengler).

„Aber diese Epoche hat auch noch die Bedeutung, daß zum erstenmal die abstrakten Wahrheiten in den Bereich der Tatsachen einzugreifen suchen. Die Hauptstädte sind so groß geworden und der städtische Mensch so überlegen in seinem Einfluß auf das Wachsein der gesamten Kultur – dieser Einfluß heißt öffentliche Meinung –, daß die Mächte des Blutes und der im Blut liegenden Tradition in ihrer bis dahin unangreifbaren Stellung erschüttert werden. Denn man bedenke, daß gerade der Barockstaat und die absolute Polis in der letzten Vollendung ihrer Form durch und durch lebendiger Ausdruck einer Rasse sind und die Geschichte, so wie sie sich in dieser Form vollzieht, den vollkommenen Takt dieser Rasse besitzt. Wenn es hier eine Staatstheorie gibt, so ist sie aus den Tatsachen abgezogen und beugt sich vor deren Größe. Die Idee des Staates hatte endlich das Blut der ersten Stände gebändigt und ganz, ohne Rest, in ihren Dienst gestellt. Absolut – das bedeutet, daß der große Daseinsstrom als Einheit in Form ist, eine Art von Takt und Instinkt besitzt, möge er als diplomatischer oder strategischer Takt, als vornehme Sitte oder als erlesener Geschmack an Künsten und Gedanken in Erscheinung treten.“ (Ebd., S. 1059Spengler).

„Im Widerspruch zu dieser großen Tatsache breitet sich nun der Rationalismus aus, jene Wachseinsgemeinschaft der Gebildeten (vgl. S. 669, 935 f.), deren Religion in Kritik besteht und deren Numina nicht Gottheiten sind, sondern Begriffe. Jetzt gewinnen Bücher und allgemeine Theorien Einfluß auf die Politik, im China des Laotse wie im sophistischen Athen und zur Zeit Montesquieus, und die von ihnen gestaltete öffentliche Meinung tritt als politische Größe von ganz neuer Art der Diplomatie in den Weg. Es würde eine sinnlose Annahme sein, daß Peisistratos oder Richelieu oder selbst Cromwell ihre Entschlüsse unter der Einwirkung abstrakter Systeme gefaßt hätten, aber seit dem Sieg der Aufklärung ist das der Fall.“ (Ebd., S. 1059-1060Spengler).

„Allerdings ist die geschichtliche Rolle der großen zivilisierten Begriffe sehr verschieden von der Beschaffenheit, die sie innerhalb der gelehrten Ideologien selbst besitzen. Die Wirkung einer Wahrheit ist immer ganz anders als ihre Tendenz. In der Tatsachenwelt sind Wahrheiten nur Mittel, insofern sie die Geister beherrschen und damit die Handlungen bestimmen. Nicht ob sie tief, richtig oder auch nur logisch sind, sondern ob sie wirksam sind, entscheidet über ihren geschichtlichen Rang. Ob man sie mißversteht oder überhaupt nicht zu verstehen vermag, ist vollkommen gleichgültig. Das liegt in der Bezeichnung Schlagwort. Was für die großen Frühreligionen einige zum Erlebnis gewordene Symbole sind, wie das Heilige Grab für die Kreuzfahrer oder die Substanz Christi für die Zeit des Konzils von Nikäa, das sind zwei oder drei begeisternde Wortklänge für jede zivilisierte Revolution. Allein die Schlagworte sind Tatsachen; der Rest aller philosophischen oder sozialethischen Systeme kommt für die Geschichte nicht in Betracht. Aber als solche sind sie für etwa zwei Jahrhunderte Mächte ersten Ranges und erweisen sich stärker als der Takt des Blutes, der innerhalb der steinernen Welt ausgebreiteter Städte matt zu werden beginnt.“ (Ebd., S. 1060Spengler).

„Aber – der kritische Geist ist nur eine der beiden Tendenzen, die sich aus der ungeordneten Masse des Nichtstandes herausheben. Neben den abstrakten Begriffen erscheint das abstrakte, von den Urwerten des Landes abgelöste Geld, neben der Denkerstube das Kontor als politische Macht. Beide sind innerlich verwandt und untrennbar. Es ist der frühe Gegensatz von Priestertum und Adel, der mit ungeminderter Schärfe innerhalb des Bürgertums in städtischer Fassung fortbesteht (vgl. S. 990 f., 1002 f.). Und zwar erweist sich das Geld als reine Tatsache den idealen Wahrheiten unbedingt überlegen, die wie gesagt nur als Schlagworte, als Mittel für die Tatsachenwelt vorhanden sind. Versteht man unter Demokratie die Form, welche der dritte Stand als solcher dem gesamten öffentlichen Leben zu geben wünscht, so muß hinzugefügt werden, daß Demokratie und Plutokratie gleichbedeutend sind. Sie verhalten sich wie der Wunsch zur Wirklichkeit, wie Theorie und Praxis, wie die Erkenntnis zum Erfolg. Es ist das Tragikomische an dem verzweifelten Kampf, den Weltverbesserer und Freiheitslehrer auch gegen die Wirkung des Geldes führen, daß sie es eben damit unterstützen. Zu den Standesidealen des Nichtstandes gehört sowohl die Achtung vor der großen Zahl, wie sie in den Begriffen der Gleichheit aller, der angebornen Rechte und weiterhin im Prinzip des allgemeinen Wahlrechts zum Ausdruck kommt, als auch die Freiheit der öffentlichen Meinung, vor allem die Pressefreiheit. Das sind Ideale, aber in Wirklichkeit gehört zur Freiheit der öffentlichen Meinung die Bearbeitung dieser Meinung, die Geld kostet, zur Pressefreiheit der Besitz der Presse, der eine Geldfrage ist, und zum Wahlrecht die Wahlagitation, die von den Wünschen des Geldgebers abhängig bleibt. Die Vertreter der Ideen erblicken nur die eine Seite, die Vertreter des Geldes arbeiten mit der andern. Alle Begriffe des Liberalismus und Sozialismus sind erst durch Geld in Bewegung gesetzt worden und zwar im Interesse des Geldes. Die Volksbewegung des Ti. Gracchus ist durch die Partei der großen Geldleute, der equites, erst möglich gemacht worden und war zu Ende, sobald diese den für sie vorteilhaften Teil der Gesetze gesichert sah und sich zurückzog. Cäsar und Crassus haben die catilinarische Bewegung finanziert und statt gegen den Besitz gegen die Senatspartei gerichtet. In England stellten angesehene Politiker schon um 1700 fest, »daß man an der Börse mit Wahlen wie mit Wertpapieren handle und daß der Preis einer Stimme ebenso wohl bekannt sei wie der eines Morgens Land.« Als die Kunde von Waterloo nach Paris kam, stieg dort der Kurs der französischen Rente: die Jakobiner hatten die alten Bindungen des Blutes zerstört und damit das Geld emanzipiert; jetzt trat es hervor und ergriff die Herrschaft über das Land. (Aber selbst während der Schreckenszeit befand sich mitten in Paris die Anstalt des Dr. Belhomme, in der Angehörige des höchsten Adels tafelten und tanzten und außer aller Gefahr waren, solange sie den Jakobinern zahlen konnten [G. Lenôtre, Das revolutionäre Paris, S. 409].) Es gibt keine proletarische, nicht einmal eine kommunistische Bewegung, die nicht, ohne daß es den Idealisten unter ihren Führern irgend zum Bewußtsein käme, im Interesse des Geldes wirkte, in welcher Richtung das Geld es will und solange es will. (Die große Bewegung, welche sich der Schlagworte von Marx bedient, hat das Unternehmertum nicht von den Arbeitern, sondern beide von der Börse abhängig gemacht.) Der Geist denkt, das Geld lenkt: so ist es die Ordnung aller ausgehenden Kulturen, seit die große Stadt Herr über den Rest geworden ist. Und zuletzt ist das nicht einmal ein Unrecht gegen den Geist. Er hat damit doch gesiegt, im Reich der Wahrheiten nämlich, dem der Bücher und Ideale, das nicht von dieser Welt ist. Seine Begriffe sind der beginnenden Zivilisation heilig geworden. Aber das Geld siegt eben durch sie in seinem Reich, das nur von dieser Welt ist.“ (Ebd., S. 1060-1062Spengler).

„Innerhalb der abendländischen Staatenwelt haben beide Seiten der bürgerlichen Standespolitik, die ideale wie die reale, ihre hohe Schule in England durchgemacht. Hier allein war es möglich, daß der dritte Stand nicht gegen einen absoluten Staat vorzugehen brauchte, um ihn zu zerstören, und auf den Trümmern seine eigne Herrschaft aufzurichten, sondern in die starke Form des ersten Standes hineinwuchs, wo er eine ausgebildete Interessenpolitik vorfand und als deren Methode eine Taktik von altem Herkommen, die er für seine eignen Zwecke nicht vollkommener wünschen konnte. Hier ist der echte und gar nicht nachzuahmende Parlamentarismus zu Hause, der ein Inseldasein statt des Staates und die Gewohnheiten des ersten statt des dritten Standes voraussetzt und außerdem den Umstand, daß diese Form noch im blühenden Barock gewachsen ist, also Musik in sich hat. Der parlamentarische Stil ist völlig identisch mit dem der Kabinettsdiplomatie (die beiden Parteien leiten ihre Tradition und Sitte bis 1680 zurück.); auf dieser antidemokratischen Herkunft beruht das Geheimnis seiner Erfolge.“ (Ebd., S. 1062Spengler).

„Aber ebenso sind die rationalistischen Schlagworte sämtlich auf englischem Boden entstanden und zwar in enger Fühlung mit den Grundsätzen der Manchesterlehre: Hume war der Lehrer von Adam Smith. Liberty bedeutet mit Selbstverständlichkeit geistige und geschäftliche Freiheit. In England ist der Gegensatz von Tatsachenpolitik und Schwärmerei für abstrakte Wahrheiten ebenso unmöglich, wie er im Frankreich Ludwigs XVI. unvermeidlich war. Später konnte Edmund Burke gegen Mirabeau betonen: »Wir verlangen unsere Freiheiten nicht als Menschenrechte, sondern als Rechte von Engländern.« Frankreich hat die revolutionären Ideen ohne jeden Rest von England erhalten, wie es den Stil des absoluten Königtums von Spanien empfing; es hat beiden eine glänzende und unwiderstehliche Fassung gegeben, die weit über das Festland hin vorbildlich blieb, aber auf die praktische Verwendung verstand es sich nicht. Die Ausnützung der bürgerlichen Schlagworte für den politischen Erfolg setzt den Kennerblick einer vornehmen Klasse für die geistige Verfassung der Schicht voraus, die jetzt zur Herrschaft kommen wollte, ohne herrschen zu können, und ist deshalb in England ausgebildet worden; aber ebenso die rücksichtslose Anwendung des Geldes in der Politik, nicht jene Bestechung einzelner Persönlichkeiten von Rang, wie sie dem spanischen und venezianischen Stil geläufig war, sondern die Bearbeitung der demokratischen Mächte selbst. Hier sind während des 18. Jahrhunderts erst die Parlamentswahlen und dann die Entschließungen des Unterhauses planmäßig durch Geld geleitet worden, und hier hat man mit dem Ideal der Pressefreiheit zugleich auch die Tatsache entdeckt, daß die Presse dem dient, der sie besitzt. Sie verbreitet nicht, sondern sie erzeugt die »freie Meinung«“ (Ebd., S. 1062-1063Spengler).

„Beides zusammen ist liberal, frei nämlich von den Hemmungen des erdverbundenen Lebens, seien es Rechte, Formen oder Gefühle, der Geist frei für jede Art von Kritik, das Geld frei für jede Art von Geschäft. Beides ist aber auch rücksichtslos auf die Herrschaft eines Standes gerichtet, der die Hoheit des Staates über sich nicht anerkennt. Geist und Geld, anorganisch wie sie sind, wollen den Staat nicht als gewachsene Form von großer Symbolik, die Achtung fordert, sondern als Einrichtung, die einem Zweck dient. Darin liegt der Unterschied von den Mächten der Fronde, die nur die gotische Art, lebendig in Form zu sein, gegen die des Barock, das Lehnswesen gegen den Absolutismus verteidigt haben, und die jetzt, in die Verteidigung gedrängt, von diesem kaum noch zu unterscheiden sind. Allein in England hat die Fronde nicht nur den Staat in offenem Kampf, sondern auch den dritten Stand durch innere Überlegenheit entwaffnet und deshalb die einzige Art von demokratischem In-Form-Sein erreicht, die nicht entworfen oder nachgeahmt, sondern herangereift ist, Ausdruck einer alten Rasse und eines ungebrochenen und sicheren Taktes, der mit jedem neuen, durch die Zeit gegebenen Mittel fertig zu werden weiß. Deshalb hat das englische Parlament die Erbfolgekriege der absoluten Staaten mitgeführt, aber als Wirtschaftskriege mit geschäftlichem Endziel.“ (Ebd., S. 1064Spengler).

„Das Mißtrauen gegen die hohe Form ist in dem innerlich formlosen Nichtstand so groß, daß er immer und überall bereit gewesen ist, seine Freiheit – von aller Form – durch eine Diktatur zu retten, die regellos und deshalb allem Gewachsenen feind ist, aber gerade durch das Mechanisierende ihrer Wirksamkeit dem Geschmack von Geist und Geld entgegenkommt; man denke an den Aufbau der französischen Staatsmaschine, den Robespierre begonnen und Napoleon vollendet hat. Die Diktatur im Interesse eines Standesideals haben Rousseau, Saint Simon, Rodbertus und Lasalle ebenso gewünscht, wie die antiken Ideologen des 4. Jahrhunderts, Xenophon in der Kyropädie und Isokrates im Nikokles.“ (Ebd., S. 1064Spengler).

„In dem bekannten Satze Robespierres: »Die Regierung der Revolution ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei« kommt aber auch die tiefe Furcht zum Ausdruck, die jede Menge befällt, welche sich im Angesicht ernster Ereignisse nicht sicher in Form fühlt. Eine in ihrer Disziplin erschütterte Truppe räumt den Führern des Zufalls und Augenblicks freiwillig eine Macht ein, die der legitimen Führung weder dem Umfang noch dem Wesen nach erreichbar ist und als legitim auch gar nicht ertragen werden könnte. Aber das, ins Große übertragen, ist die Lage zu Beginn jeder Zivilisation. Nichts ist für das Sinken der politischen Form bezeichnender als die Heraufkunft formloser Gewalten, die man nach ihrem berühmtesten Fall als Napoleonismus bezeichnen kann. Wie vollständig war noch das Dasein Richelieus und Wallensteins in das unerschütterliche Herkommen ihrer Zeit gebunden! Wie formvoll ist die englische Revolution gerade unter der Decke äußerer Unordnung! Hier steht es umgekehrt. Die Fronde kämpft um die Form, der absolute Staat in ihr, das Bürgertum gegen sie. Nicht daß eine verjährte Ordnung zertrümmert wird, ist neu. Das haben Cromwell und die Häupter der ersten Tyrannis auch getan. Sondern daß hinter den Ruinen der sichtbaren keine unsichtbare Form mehr steht, daß Robespierre und Bonaparte nichts um sich und in sich finden, was die selbstverständliche Grundlage jeder Neugestaltung bleibt, daß statt einer Regierung der großen Tradition und Erfahrung ein Zufallsregiment unvermeidlich wird, dessen Zukunft nicht mehr durch die Eigenschaften einer langsam herangezüchteten Minderheit gesichert ist, sondern ganz davon abhängt, ob sich gerade ein Nachfolger von Bedeutung findet – das kennzeichnet diese Zeitwende und gibt den Staaten die sich eine Tradition länger als andere zu erhalten wissen, auf Generationen hin ihre ungeheure Überlegenheit.“ (Ebd., S. 1064-1065Spengler).

„In Rom hat die starke und glückliche Form des Staates, wie sie um 340 erreicht war, die soziale Revolution in verfassungsmäßigen Grenzen gehalten. Eine napoleonische Erscheinung wie der Censor von 310, Appius Claudius, Erbauer der ersten Wasserleitung und der Via Appia, der in Rom fast wie ein Tyrann herrschte, ist sehr bald mit seinem Versuch gescheitert, die Bauernschaft durch die großstädtische Masse auszuschalten und damit die Politik in eine einseitig athenische Richtung zu lenken. Denn das war der Zweck jener Aufnahme von Sklavensöhnen in den Senat, der neuen Centurienordnung nach Geld statt nach Grundbesitz (die nach K. J. Neumann [Neumann] auf den großen Censor zurückgeht) und der Verteilung der Freigelassenen und Besitzlosen über alle Tribus, wo sie die selten zur Stadt kommenden Landleute überstimmen sollten und jederzeit konnten. Schon die nächsten Censoren haben diese Leute ohne Grundbesitz wieder in die vier großen Stadttribus überschrieben. Der Nichtstand selbst, der durch eine Minderheit angesehener Geschlechter gut geführt wurde, sah das Ziel, wie schon erwähnt, nicht mehr in der Zerstörung, sondern der Eroberung des senatorischen Verwaltungsorganismus. Er hat endlich den Zugang zu allen Ämtern erzwungen, durch die lex Ogulnia von 300 sogar zu den politisch wichtigen Priestertümern der Pontifices und Auguren und durch den Aufstand von 287 die Rechtsgültigkeit der Plebiszite auch ohne Genehmigung des Senats.“ (Ebd., S. 1069-1070Spengler).

„Wenn das Römertum eine ganz einzige, wundervolle Erscheinung innerhalb der Weltgeschichte ist, so verdankt es das nicht dem »römischen Volk«, das an sich ebenso ein Rohstoff ohne Form war wie jedes andere, sondern dieser Klasse, die es in Form brachte und mit oder gegen seinen Willen hielt, so daß dieser Daseinsstrom, der noch um 350 kaum eine mittelitalische Bedeutung hatte, allmählich die gesamte antike Geschichte in sein Bett gefaßt und ihre letzte große Zeit zu einer römischen gemacht hat.“ (Ebd., S. 1072Spengler).

„Die Vollendung seines politischen Taktes beweist dieser kleine Kreis, der keinerlei öffentliches Recht besaß, in der Handhabung der von der Revolution geschaffenen demokratischen Formen, die wie überall das wert waren, was man aus ihnen machte. Gerade was in ihnen gefährlich werden konnte, sobald man daran rührte, das Nebeneinander zweier sich ausschließender Gewalten, ist mit vollkommener Meisterschaft und schweigend so behandelt worden, daß die höhere Erfahrung stets den Ausschlag gab und das Volk stets überzeugt blieb, die Entscheidung selbst und in seinem Sinne herbeigeführt zu haben. Volkstümlich und doch von höchstem geschichtlichen Erfolg, das ist das Geheimnis dieser Politik und die einzige Möglichkeit der Politik überhaupt in allen solchen Zeiten, eine Kunst, in welcher das römische Regiment bis jetzt unerreicht geblieben ist.“ (Ebd., S. 1072Spengler).

„Aber auf der andern Seite war das Ergebnis der Revolution trotz alledem die Emanzipation des Geldes, das von nun an in den Zenturiatkomitien herrschte. Was hier sich populus nannte, wird mehr und mehr ein Werkzeug in der Hand der großen Vermögen, und es bedurfte der ganzen taktischen Überlegenheit der regierenden Kreise, um in der plebs ein Gegengewicht aufrechtzuerhalten und in ihren einunddreißig ländlichen Tribus wirklich eine Vertretung des bäuerlichen Grundbesitzes unter Leitung der adligen Geschlechter bereit zu haben, von welcher die großstädtische Masse ausgeschlossen blieb. Daher die energische Art, mit welcher die Anordnungen des Appius Claudius wieder beseitigt worden sind. Das natürliche Bündnis zwischen Hochfinanz und Masse, wie es sich später unter den Gracchen und dann unter Marius verwirklichte, um die Tradition des Blutes zu zerstören, und wie es unter anderm auch den deutschen Umsturz von 1918 vorbereitet hat, ist auf viele Generationen hin unmöglich gemacht worden. Bürgertum und Bauerntum, Geld und Grundbesitz hielten sich in gesonderten Organen das Gleichgewicht und wurden durch den in der Nobilität verkörperten Staatsgedanken zusammengefaßt und wirksam gemacht, bis deren innere Form zerfiel und beide Tendenzen feindselig auseinandertraten. Der erste Punische Krieg war ein Handelskrieg und gegen die Interessen der Landwirtschaft gerichtet, weshalb der Konsul Appius Claudius, ein Nachkomme des großen Zensors, die Entscheidung 264 den Zenturiatkomitien vorlegte. Die Eroberung der Poebene seit 225 dagegen lag im Interesse der Bauernschaft und wurde durch den Tribun C. Flaminius, die erste wirklich cäsarische Erscheinung Roms, den Erbauer der Via Flaminia und des Circus Flaminius, in den Tributkomitien durchgesetzt. Aber gerade weil er in Verfolgung dieser Politik als Zensor von 220 den Senatoren Geldgeschäfte verbot und gleichzeitig die altadligen Rittercenturien der Plebs zugänglich machte, was in Wirklichkeit nur dem neuen Geldadel aus der Zeit des ersten Punischen Krieges zugute kam, ist er ganz gegen seinen Willen der Schöpfer einer als Stand organisierten Hochfinanz geworden, eben der equites, welche ein Jahrhundert später der großen Zeit der Nobilität ein Ende gemacht haben. Von da an – seit dem Siege über Hannibal, gegen den Flaminius fiel – wird das Geld auch für die Regierung das letzte Mittel, um ihre Politik fortzusetzen, die letzte wirkliche Staatspolitik, die es in der Antike gab.“ (Ebd., S. 1072-1073Spengler).

„Als die Scipionen und ihr Kreis aufgehört hatten, die leitende Macht zu sein, gab es nur noch eine Privatpolitik von Einzelnen, die rücksichtslos ihr Interesse verfolgten und für die der orbis terrarum eine willenlose Beute war. Wenn Polybios, der jenem Kreis angehörte, in Flaminius einen Demagogen und den Urheber des ganzen Unglücks der Gracchenzeit sah, so irrte er sich vollkommen in dessen Absichten, aber nicht in der Wirkung. Flaminius hat ebenso wie der ältere Cato, der mit dem blinden Eifer des Bauernführers den großen Scipio um seiner Weltpolitik willen stürzte, das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte. An Stelle des führenden Blutes trat das Geld, und das Geld hat in weniger als drei Generationen den Bauernstand vernichtet.“ (Ebd., S. 1073-1074Spengler).

„Wenn es inmitten der antiken Völkerschicksale ein unwahrscheinlicher Glücksfall war, daß Rom als der einzige Stadtstaat die soziale Revolution in fester Verfassung überstand, so war es im Abendlande mit seinen auf die Ewigkeit gegründeten genealogischen Formen fast ein Wunder, daß doch an einem Ort eine gewaltsame Revolution zum Ausbruch kam, in Paris. Nicht die Stärke, sondern die Schwäche des französischen Absolutismus ist es gewesen, welche hier die englischen Ideen in Verbindung mit der Dynamik des Geldes zu einer Explosion führte, die den Schlagworten der Aufklärung eine lebendige Gestalt gab, die Tugend mit dem Schrecken, die Freiheit mit der Despotie verband und noch in den kleinen Bränden von 1830 und 1848 und in der sozialistischen Katastrophensehnsucht nachwirkte. (Und selbst in Frankreich, wo der Richterstand in den Parlaments die Regierung offen verhöhnte, sogar ungestraft königliche Verfügungen von den Mauern reißen und eigne arrêts an ihre Stelle kleben ließ [R. Holtzmann, Franz. Verfassungsgeschichte, 1910, S. 353], wo »befohlen, aber nicht gehorcht, Gesetze gemacht, aber nicht ausgeführt wurden« [A. Wahl, Vorgesch. d. franz. Revolution, I, S. 29 und überall] wo die Hochfinanz Turgot und jeden andern stürzen konnte, der ihr mit seinen Reformplänen unbequem wurde, wo die gebildete Welt, Prinzen, Adlige, hohe Geistliche und Militärs an der Spitze, der Anglomanie verfallen war und jeder Art von Opposition Beifall klatschte, selbst dort wäre nichts geschehen, hätte nicht eine plötzliche Reihe von Zwischenfällen zusammengewirkt: die zur Mode gewordne Beteiligung von Offizieren an dem Kampf amerikanischer Republikaner gegen das englische Königtum, die diplomatische Niederlage in Holland (27. Oktober 1787) mitten in der großartigen Reformtätigkeit der Regierung, und der fortgesetzte Ministerwechsel unter dem Druck unverantwortlicher Kreise. Im britischen Reich war der Abfall der amerikanischen Kolonien die Folge der Versuche hochtorystischer Kreise, im Einverständnis mit Georg III., aber selbstverständlich im eignen Interesse die Königsgewalt zu stärken. Diese Partei besaß in den Kolonien eine starke Anhängerschaft von Royalisten, namentlich im Süden, die auf englischer Seite kämpfend die Schlacht von Canden entschieden hat und nach dem Sieg der Rebellen zum größten Teil in das königstreu gebliebene Kanada ausgewandert ist.) In England selbst, wo der Adel absoluter herrschte als irgend jemand in Frankreich, hat zwar ein kleiner Kreis um Fox und Sheridan die Ideen der französischen Revolution – sie waren sämtlich englischer Herkunft – begrüßt; man sprach von allgemeinem Stimmrecht und Parlamentsreform. (1793 wurden 306 Mitglieder des Unterhauses von insgesamt 160 Personen gewählt. Der Wahlkreis des alten Pitt, Old Sarum, bestand aus einem Pachthause, das zwei Abgeordnete entsandte.) Aber das genügte, um beide Parteien unter Führung eines Whig, des jüngeren Pitt, zu den schärfsten Maßregeln zu veranlassen, die alle Versuche vereitelt haben, das Adelsregiment zugunsten des dritten Standes auch nur anzurühren. Der englische Adel hat den zwanzigjährigen Krieg gegen Frankreich entfesselt und alle Monarchen Europas in Bewegung gesetzt, um endlich bei Waterloo nicht dem Kaisertum, sondern der Revolution ein Ende zu machen, die es gewagt hatte, die Privatansichten englischer Denker ganz naiv in die praktische Politik einzuführen und damit dem gänzlich formlosen tiers eine Stellung zu geben, deren Folgen man nicht in den Pariser Salons, aber um so besser im englischen Unterhause voraussah. (Seit 1832 hat der englische Adel dann selbst durch eine Reihe von vorsichtigen Reformen das Bürgertum zur Mitarbeit herangezogen, aber unter seiner beständigen Leitung und vor allem im Rahmen seiner Tradition, in welche die jungen Talente hineinwuchsen. Die Demokratie verwirklichte sich so, daß die Regierung streng in Form blieb, und zwar in der alten aristokratischen, es aber jedem [seiner Meinung nach] freistand, Politik zu machen. Dieser Übergang mitten in einer bauernlosen und von Geschäftsinteressen beherrschten Gesellschaft ist die größte innerpolitische Leistung des 19. Jahrhunderts.)“ (Ebd., S. 1074-1075Spengler).

„Was man hier Opposition nannte, war die Haltung der einen Adelspartei, solange die andre die Regierung führte. Sie bedeutete hier nicht, wie überall auf dem Festland, berufsmäßige Kritik an einer Arbeit, die zu leisten der Beruf anderer war, sondern den praktischen Versuch, die Regierungstätigkeit in eine Form zu zwingen, die man jeden Augenblick bereit und fähig war, selbst aufzunehmen. Aber diese Opposition wurde sofort unter völliger Unkenntnis ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen vorbildlich für das, was die Gebildeten in Frankreich und anderswo erstrebten, eine Standesherrschaft des tiers unter den Augen der Dynastie, über deren fernere Stellung man sich immerhin nicht ganz klar war. Die Einrichtungen Englands wurden seit Montesquieu mit einem begeisterten Mißverständnis gepriesen, obwohl all diese Staaten keine Inseln waren und deshalb die wesentlichste Voraussetzung der englischen Entwicklung nicht besaßen. Nur in einem Punkte war England wirklich ein Vorbild. Als das Bürgertum daranging, den absoluten Staat wieder in einen Ständestaat zu verwandeln, fand es drüben ein Gebilde, das nie etwas andres gewesen war. Allerdings war es der Adel allein, der regierte, aber zum wenigsten war es nicht die Krone.“ (Ebd., S. 1075-1076Spengler).

„Das Ergebnis der Epoche und die Grundform der Festlandstaaten zu Beginn der Zivilisation ist die »konstitutionelle Monarchie«, als deren äußerste Möglichkeit die Republik erscheint, so wie wir heute das Wort verstehen. Denn man muß sich endlich von dem Geschwätz der Doktrinäre befreien, die in zeitlosen und also wirklichkeitsfremden Begriffen denken und für welche »die Republik« eine Form an sich ist. So wenig England eine Konstitution im festländischen Sinne besitzt, so wenig hat das republikanische Ideal des 19. Jahrhunderts irgend etwas mit der antiken res publica oder auch nur mit Venedig und den Schweizer Urkantonen zu tun. Was wir so nennen, ist eine Negation, die das Verneinte mit innerer Notwendigkeit als beständig möglich voraussetzt. Es ist die Nichtmonarchie in Formen, die der Monarchie entlehnt sind. Das genealogische Gefühl ist im abendländischen Menschen so ungeheuer stark und straft sein Bewußtsein bis zu dem Grade Lügen, daß die Dynastie die gesamte politische Haltung bestimmt, auch wenn sie gar nicht mehr da ist. In ihr verkörpert sich das Historische, und unhistorisch können wir nicht leben. Es ist ein großer Unterschied, ob der antike Mensch das dynastische Prinzip aus dem Grundgefühl seines Seins heraus überhaupt nicht kennt oder ob es der abendländische Gebildete seit der Aufklärung und für die Dauer von etwa zwei Jahrhunderten aus abstrakten Gründen in sich niederzukämpfen sucht. Dies Gefühl ist der geheime Feind aller entworfenen und nicht gewachsenen Verfassungen, die im letzten Grunde nichts als Abwehrmaßregeln und aus Furcht und Mißtrauen geboren sind. Der Freiheitsbegriff der Stadt – frei sein von etwas – verengt sich bis zu einer lediglich antidynastischen Bedeutung; die republikanische Begeisterung lebt nur von diesem Gefühl.“ (Ebd., S. 1076Spengler).

„Zum Wesen einer solchen Verneinung gehört unvermeidlich ein Vorwiegen der Theorie. Während die Dynastie und die ihr innerlich nahestehende Diplomatie die alte Tradition, den Takt bewahren, haben in den Verfassungen Systeme, Bücher und Begriffe ein Übergewicht, wie es in England, wo der Regierungsform nichts Verneinendes und Defensives anhaftet, ganz undenkbar ist. Nicht umsonst ist die faustische Kultur die des Schreibens und Lesens. Das gedruckte Buch ist ein Sinnbild der zeitlichen, die Presse außerdem ein Sinnbild der räumlichen Unendlichkeit. Gegenüber der ungeheuren Macht und Tyrannei dieser Symbole erscheint selbst die chinesische Zivilisation beinahe schriftlos. In den Verfassungen wird die Literatur gegen die Kenntnis der Menschen und Dinge, die Sprache gegen die Rasse, das abstrakte Recht gegen die erfolgreiche Tradition angesetzt, ohne Rücksicht darauf, ob die Nation mitten im Strom der Ereignisse noch arbeitsfähig und in Form bleibt. Mirabeau hat ganz allein und vergeblich gegen eine Versammlung gekämpft, welche »die Politik mit einem Roman verwechselte«. Nicht nur die drei doktrinärsten Verfassungen des Zeitalters, die französische von 1791, die deutschen von 1848 und 1919, sondern so gut wie alle wollen das große Schicksal der Tatsachenwelt nicht sehen und glauben es damit widerlegt zu haben. Statt des Unvorhergesehenen, des Zufalls der starken Persönlichkeiten und Umstände soll die Kausalität herrschen, zeitlos, gerecht, immer derselbe verständige Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Es ist bezeichnend, daß kein Verfassungstext das Geld als politische Größe kennt. Sie enthalten sämtlich reine Theorie“ (Ebd., S. 1076-1077Spengler).

„Dieser Zwiespalt im Wesen der konstitutionellen Monarchie läßt sich nicht aufheben. Hier stehen Wirkliches und Gedachtes, Arbeit und Kritik schroff gegeneinander, und die wechselseitige Reibung ist das, was dem Gebildeten vom Durchschnitt als innere Politik erscheint. Nur in England – wenn man von Preußen-Deutschland und von Österreich absieht, wo anfangs eine Verfassung zwar vorhanden, aber der politischen Tradition gegenüber nicht sehr einflußreich war – erhielten sich Regierungsgewohnheiten aus einem Guß. Hier behauptete sich die Rasse gegenüber dem Prinzip. Man ahnte, daß wirkliche, das heißt ausschließlich auf den geschichtlichen Erfolg gerichtete Politik auf Zucht und nicht auf Bildung beruhe. Das war kein aristokratisches Vorurteil, sondern eine kosmische Tatsache, die in den Erfahrungen englischer Vollblutzüchter viel deutlicher hervortritt als in sämtlichen Philosophiesystemen der Welt. Bildung kann die Zucht verfeinern, aber nicht ersetzen. Und so werden die hohe englische Gesellschaft, die Schule von Eton, das Balliol College in Oxford die Stätten, wo Politiker gezüchtet werden mit einer Folgerichtigkeit, die nur in der Züchtung des preußischen Offizierskorps ihresgleichen hatte, Kenner nämlich, die den geheimen Takt der Dinge beherrschen, auch den stillen Gang der Meinungen und Ideale, und die deshalb seit 1832 den ganzen Strom der bürgerlich-revolutionären Grundsätze über das von ihnen gelenkte Dasein hingehen ließen ohne die Gefahr, den Zügel aus der Hand zu verlieren. Sie besaßen das training, die Biegsamkeit und Beherrschtheit eines menschlichen Leibes, der, das jagende Pferd unter sich, den Sieg heranfühlt. Man ließ die großen Grundsätze die Masse bewegen, weil man wußte, daß es das Geld war, mit dem man die großen Grundsätze bewegen konnte, und man fand statt der brutalen Methoden des 18. Jahrhunderts feinere und nicht weniger wirksame, von denen die Drohung mit den Kosten einer Neuwahl die einfachste ist. Die doktrinären Verfassungen des Festlands sahen nur die eine Seite der Tatsache Demokratie. Hier, wo man keine Verfassung hatte, sondern in Verfassung war, übersah man sie ganz.“ (Ebd., S. 1077-1078Spengler).

„Ein dunkles Gefühl davon ist auf dem Festland nie verschwunden. Für den absoluten Barockstaat gab es eine klare Form; für die konstitutionelle Monarchie gab es nur schwankende Kompromisse, und die konservative und liberale Partei unterscheiden sich nicht wie in England – seit Canning – nach längst erprobten Regierungsmethoden, die sie abwechselnd zur Anwendung brachten, sondern nach der Richtung, in welcher sie die Verfassung abzuändern wünschten, nämlich nach der Tradition oder der Theorie hin. Sollte die Dynastie dem Parlament dienen oder umgekehrt? Das war die Streitfrage, über welcher man den außenpolitischen Endzweck vergaß. Die »spanische« und die – mißverstandene – »englische« Seite der Verfassung wuchsen nicht zusammen und konnten es nicht, so daß während des 19. Jahrhunderts der diplomatische Außendienst und die parlamentarische Tätigkeit sich nach zwei ganz verschiedenen Seiten hin entwickelten, sich dem Grundgefühl und der Methode nach vollkommen fremd wurden und einander gründlich verachteten. Das Leben rieb sich wund in einer Form, die es nicht aus sich selbst entwickelt hatte. Frankreich verfiel seit dem Thermidor einer Herrschaft der Börse, gemildert durch gelegentliche Aufrichtung einer Militärdiktatur: 1800, 1851, 1871, 1918. In der Schöpfung Bismarcks, die in den Grundzügen dynastischer Natur war, mit einem entschieden untergeordneten parlamentarischen Bestandteil, wurde die innere Reibung so stark, daß sie die gesamte politische Energie und zuletzt, seit 1916, den Organismus selbst verbraucht hat. Das Heer hatte seine eigne Geschichte und eine große Tradition von Friedrich Wilhelm I. an, ebenso die Verwaltung. Hier liegt der Ursprung des Sozialismus als einer Art, politisch in Form zu sein, die der englischen streng entgegengesetzt ist (vgl. Preußentum und Sozialismus, S, 40 ff.SpenglerSpengler), aber ebenso wie diese der vollkommene Ausdruck einer starken Rasse. Der Offizier und der Beamte wurden in Vollendung gezüchtet, aber die Aufgabe, den entsprechenden politischen Typus zu züchten, wurde nicht erkannt. Die hohe Politik wurde »verwaltet«, die niedere war hoffnungsloses Gezänk. So wurden Heer und Verwaltung endlich Selbstzweck, seit mit Bismarck der Mann gegangen war, für den sie Mittel sein konnten auch ohne die Mitarbeit eines Stammes von Politikern, den nur eine Tradition erzeugt. Als mit dem Ausgang des Weltkriegs der Oberbau verschwand, blieben die nur zur Opposition erzogenen Parteien allein übrig und brachten die Regierungstätigkeit plötzlich auf ein Niveau herab, das unter zivilisierten Staaten bis jetzt unbekannt war.“ (Ebd., S. 1078-1079Spengler).

„Aber der Parlamentarismus ist heute in vollem Verfall begriffen. Er war eine Fortsetzung der bürgerlichen Revolution mit andern Mitteln, die Revolution des dritten Standes von 1789, in gesetzmäßige Form gebracht und mit ihrer Gegnerin, der Dynastie, zur Regierungseinheit verbunden. In der Tat ist jeder moderne Wahlkampf ein mit dem Stimmzettel und allen Mitteln der Aufreizung durch Rede und Schrift geführter Bürgerkrieg und jeder große Parteiführer eine Art bürgerlicher Napoleon. Diese auf Dauer berechnete Form, die ausschließlich der abendländischen Kultur angehört und in jeder andern sinnlos und unmöglich wäre, enthüllt wieder den Hang zum Unendlichen, die historische Voraussicht (*) und Vorsorge und den Willen, die ferne Zukunft zu ordnen und zwar nach bürgerlichen Grundsätzen der Gegenwart. (Die Entstehung des römischen Tribunats ist ein blinder Zufall, dessen glückliche Folgen niemand ahnte. Dagegen sind die abendländischen Verfassungen wohl durchdacht und in ihren Wirkungen genau berechnet worden, gleichviel ob die Rechnung falsch war oder nicht.)“ (Ebd., S. 1079-1080Spengler).

„Trotzdem ist der Parlamentarismus kein Gipfel wie die absolute Polis und der Barockstaat, sondern ein kurzer Übergang, nämlich von der Spätzeit mit ihren gewachsenen Formen zum Zeitalter der großen Einzelnen inmitten einer formlos gewordenen Welt. Er enthält einen Rest guten Barockstils wie die Häuser und Möbel aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die parlamentarische Sitte ist englisches Rokoko, aber nicht mehr selbstverständlich und im Blute liegend, sondern oberflächlich nachgeahmt und Sache des guten Willens. Nur in den kurzen Zeiten anfänglicher Begeisterung besitzt sie einen Schein von Tiefe und Dauer und nur deshalb, weil man eben gesiegt hatte und aus Achtung vor dem eignen Stand die guten Manieren der Besiegten sich zur Pflicht machte. Die Form zu wahren, auch wo sie dem Vorteil widerspricht: auf dieser Übereinkunft beruht die Möglichkeit des Parlamentarismus. Dadurch, daß er erreicht ist, ist er eigentlich schon überwunden. Der Nichtstand zerfällt wieder in natürliche Interessengruppen; das Pathos des leidenden und siegreichen Widerstandes ist zu Ende. Und sobald die Form nicht mehr die Anziehungskraft eines jungen Ideals besitzt, für das man auf die Barrikaden geht, erscheinen die außerparlamentarischen Mittel, um trotz der Abstimmung und ohne sie das Ziel zu erreichen: darunter das Geld, der wirtschaftliche Druck, vor allem der Streik. Weder die großstädtische Masse noch der starke Einzelne haben wahre Achtung vor dieser Form ohne Tiefe und Vergangenheit, und sobald man entdeckt, daß sie nur Form ist, ist sie auch schon Maske und Schatten geworden. Mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts nähert sich der Parlamentarismus, auch der englische, mit schnellen Schritten der Rolle, die er selbst dem Königtum bereitet hat. Er wird ein eindrucksvolles Schauspiel für die Menge der Gläubigen, während der Schwerpunkt der großen Politik, wie er rechtlich von der Krone zur Volksvertretung hinüberging, nun aus dieser in Privatkreise und den Willen von Privatpersonen verlegt wird. Der Weltkrieg hat diese Entwicklung beinahe abgeschlossen. Von der Herrschaft Lloyd Georges führt kein Weg zum alten Parlamentarismus zurück und ebensowenig von dem Napoleonismus der französischen Militärpartei. Und für Amerika, das bis jetzt für sich dalag und eher ein Gebiet als ein Staat war, ist mit dem Eintritt in die Weltpolitik das einer Theorie von Montesquieu entstammende Nebeneinander von Präsidentschaft und Kongreß unhaltbar geworden und wird in Zeiten wirklicher Gefahr formlosen Gewalten Platz machen, wie sie Südamerika und Mexiko längst kennengelernt haben.“ (Ebd., S. 1080-1081Spengler).

„Damit ist der Eintritt in das Zeitalter der Riesenkämpfe vollzogen, in dem wir uns heute befinden. Es ist der Übergang vom Napoleonismus zum Cäsarismus, eine allgemeine Entwicklungsstufe ..., die in allen Kulturen nachzuweisen ist. Die Chinesen nennen sie tschan-kuo, Zeit der kämpfenden Staaten. Am Anfang werden sieben Großmächte gezählt, die erst planlos, dann mit immer klareren Blick für das unvermeidliche Endergebnis in diese dichte Folge von Kriegen und Revolutionen eintreten. Ein Jahrhundert später sind es noch fünf. .... Gleichzeitig beginnt der rasche Aufstieg des Römerstaates Tsin im unphilosophischen Nordwesten, der seinen Einfluß nach West und Süd über Tibet und Yünnan ausdehnt und die übrige Staatenwelt in weitem Bogen umklammert. Den Mittelpunkt der Gegnerschaft bildet das Königreich Tsu im taoistischen Süden, von wo aus die chinesische Zivilisation langsam in die damals noch wenig bekannten Länder jenseits des großen Stromes drängt. Das ist in der Tat ein Gegensatz wie der zwischen Römertum und Hellenismus: dort der harte Wille zur Macht, hier der Hang zur Träumerei und Weltverbesserung.     368-320 (antik etwa Zeit des Zweiten Punischen Krieges, 218-201) steigert sich der Kampf zu einem ununterbrochenen Ringen der gesamten chinesischen Welt, mit Massenheeren, die bis zur äußersten Anspannung der Bevölkerungszahl aufgebracht werden.“ (Ebd., S. 1081-1082Spengler).

„Kein Zeitalter zeigt so deutlich wie das der kämpfenden Staaten die weltgeschichtliche Alternative: große Form oder große Einzelgewalten. In demselben Grade wie die Nationen aufhören, politisch in Verfassung zu sein, wachsen die Möglichkeiten für den energischen Privatmann, der politisch schöpferisch sein, der um jeden Preis Macht besitzen will und durch die Wucht seiner Erscheinung das Schicksal ganzer Völker und Kulturen wird. Die Ereignisse sind der Form nach voraussetzungslos geworden. An Stelle der gesicherten Tradition, die des Genies entbehren kann, weil sie selbst kosmische Kraft in höchster Potenz ist, tritt nun der Zufall großer Tatsachenmenschen; der Zufall ihres Aufstiegs führt ein schwaches Volk wie das makedonische über Nacht an die Spitze der Ereignisse und der Zufall ihres Todes kann die Welt aus persönlich gefestigter Ordnung unvermittelt in das Chaos stürzen, wie die Ermordung Cäsars beweist.“ (Ebd., S. 1083Spengler).

„Das hat sich früher schon in den kritischen Übergangszeiten offenbart. Die Epoche der Fronde, der Ming-dschu, der ersten Tyrannis, wo man nicht in Form war, sondern um die Form kämpfte, hat jedesmal eine Reihe großer Gestalten heraufgeführt, die über alle Schranken eines Amtes hinauswuchsen. Die Wende von der Kultur zur Zivilisation tut es noch einmal im Napoleonismus. Mit diesem aber, der das Zeitalter der unbedingten geschichtlichen Formlosigkeit einleitet, bricht die eigentliche Blütezeit der großen Einzelnen an, die für uns mit dem Weltkrieg fast auf ihren Höhepunkt gelangt ist. In der Antike geschah das mit Hannibal, der im Namen des Hellenismus, dem er innerlich angehörte, den Kampf gegen Rom eröffnet hat, aber zugrunde ging, weil der hellenistische Osten, ganz antik, den Sinn der Stunde zu spät oder gar nicht begriff. Mit seinem Untergang beginnt jene stolze Reihe, die von den beiden Scipionen über Aemilius Paulus, Flaminius, die Catonen, die Gracchen, über Marius und Sulla zu Pompejus, Cäsar und Augustus führt. Ihnen entspricht jene Folge von Staatsmännern und Feldherrn im China der kämpfenden Staaten, die sich wie dort um Rom, so hier um Tsin sammeln. Bei der Verständnislosigkeit, mit welcher die politische Seite der chinesischen Geschichte behandelt zu werden pflegt, hat man sie als Sophisten bezeichnet. (Wenn der Ausdruck in den chinesischen Texten annähernd so töricht gemeint sein sollte, wie er von den Übersetzern verstanden worden ist, so beweist das nur, daß das Verständnis für politische Probleme in der chinesischen Kaiserzeit ebenso schnell dahinschwand wie in der römischen – weil man selbst keine Probleme mehr erlebte. Der vielbewunderte Se-ma-tsien ist im Grunde doch nur ein Kompilator etwa vom Range Plutarchs, dem er auch zeitlich entspricht. Der Höhepunkt geschichtlichen Verstehens, der ein gleichwertiges Erleben voraussetzt, muß in der Zeit der kämpfenden Staaten selbst gelegen haben, wie er für uns mit dem 19. Jahrhundert beginnt.) Sie waren es auch, aber in dem Sinne, wie die vornehmen Römer der gleichen Zeit Stoiker waren, nachdem sie im griechischen Osten philosophischen und rhetorischen Unterricht empfangen hatten. Sie waren alle geschulte Redner und haben alle gelegentlich über Philosophie geschrieben, Cäsar und Brutus so gut wie Cato und Cicero, aber nicht als Berufsphilosophen, sondern auf Grund einer vornehmen Sitte und aus ihrem otium cum dignitate heraus. Abgesehen davon waren sie Meister der Tatsachen, auf dem Schlachtfelde wie in der hohen Politik, und genau dasselbe gilt von den Staatskanzlern Dschang-yi und Su-tsin (beide waren wie die meisten führenden Staatsmänner der Zeit Hörer des Kwei-ku-tse gewesen, der durch seine Menschenkenntnis, den tiefen Blick für das geschichtlich Mögliche und seine Beherrschung der damaligen diplomatischen Technik – der »Kunst des Senkrechten und Wagerechten« – als eine der einflußreichsten Persönlichkeiten des Zeitalters erscheint. Eine ähnliche Bedeutung hatte nach ihm der eben erwähnte Denker und Kriegstheoretiker Sun-tse, unter anderm Erzieher des Kanzlers Li-si), dem gefürchteten Diplomaten Fan-sui, der den General Pe-ki gestürzt hat, dem Gesetzgeber von Tsin Wei-yang, dem Mäcenas des ersten Kaisers Lui-schi, und andern.“ (Ebd., S. 1083-1084Spengler).

„Die Kultur hatte alle Kräfte in strenge Form gebunden. Jetzt sind sie entfesselt und »die Natur«, das heißt das Kosmische, bricht unvermittelt hervor. Die Wendung vom absoluten Staat zur – kämpfenden – Völkergemeinschaft jeder beginnenden Zivilisation mag für Idealisten und Ideologen bedeuten, was sie will; in der Tatsachenwelt bedeutet sie den Übergang vom Regieren im Stil und Takt einer strengen Tradition zu dem sic volo, sic jubeo des schrankenlosen persönlichen Regiments. Das Maximum von sinnbildlicher, überpersönlicher Form fällt mit dem Gipfel der Spätzeiten zusammen, in China um 600, in der Antike um 450, für uns um 1700; das Minimum liegt in der Antike unter Sulla und Pompejus und wird für uns im nächsten Jahrhundert erreicht und vielleicht schon durchschritten sein. Die großen zwischenstaatlichen Kämpfe sind überall mit innerstaatlichen durchsetzt, Revolutionen von einer furchtbaren Art, aber sie dienen – ob sie es wissen und wollen oder nicht – ohne Ausnahme außerstaatlichen und zuletzt rein persönlichen Machtfragen; was sie selbst theoretisch erstreben, ist geschichtlich bedeutungslos, und wir brauchen nicht zu wissen, unter welchen Schlagworten die chinesischen und arabischen Revolutionen dieser Epoche ausbrachen oder ob sie ohne dergleichen geführt worden sind. Keine der zahllosen Revolutionen dieses Zeitalters, die mehr und mehr blinde Ausbrüche entwurzelter großstädtischer Massen werden, haben je ein Ziel erreicht oder auch nur erreichen können. Eine geschichtliche Tatsache bleibt nur der beschleunigte Abbau uralter Formen, der für cäsarische Gewalten freie Bahn schafft.“ (Ebd., S. 1085Spengler).

„Aber dasselbe gilt auch von den Kriegen, in denen die Heere und ihre Taktik mehr und mehr Schöpfungen nicht mehr der Epoche, sondern unumschränkter Einzelführer werden, die oft genug ihr Genie erst spät und durch Zufall entdeckt haben. Um 300 gibt es römische Heere, seit 100 gibt es nur noch Heere des Marius, Sulla, Cäsar, und Oktavian wurde von seinem Heere, dem der Veteranen Cäsars, mehr geführt als daß er es führte. Aber damit nehmen die Methoden der Kriegführung, ihre Mittel und Ziele ganz andere, naturalistische, erschreckende Formen an. Es sind nicht mehr wie im 18. Jahrhundert Duelle in ritterlichen Formen wie ein Zweikampf im Park von Trianon, bei denen es feste Regeln dafür gibt, wann jemand seine Kräfte für erschöpft erklärt, was als das Höchstmaß aufzubringender Streitkräfte gilt und welche Bedingungen der Sieger als Kavalier stellen darf. Es sind Ringkämpfe wütender Menschen mit allen Mitteln, mit Fäusten und Zähnen, die bis zum körperlichen Zusammenbruch des einen und zur schrankenlosen Ausnutzung des Erfolgs durch den andern geführt werden. Das erste große Beispiel dieser Rückkehr zur Natur geben die Heere der Revolution und Napoleons, welche an die Stelle kunstvollen Manövrierens mit kleinen Truppenkörpern den Sturmangriff von Massen ohne Rücksicht auf die Verluste setzen und damit die ganze feine Strategie des Rokoko in Trümmer schlagen. Die Muskelkraft eines ganzen Volkes auf den Schlachtfeldern anzusetzen, wie es durch die Anwendung der allgemeinen Wehrpflicht geschieht, ist ein Gedanke, welcher dem Zeitalter Friedrichs des Großen gänzlich fern lag.“ (Ebd., S. 1085-1086Spengler).

„Und ebenso ist in allen Kulturen die Technik des Krieges der des Handwerks zögernd gefolgt, bis sie zu Beginn einer jeden Zivilisation plötzlich die Führung übernimmt, alle mechanischen Möglichkeiten rücksichtslos in ihren Dienst stellt und ganz neue Gebiete durch das militärische Bedürfnis überhaupt erst erschließt, damit aber auch das persönliche Heldentum des Rassemenschen, das adlige Ethos und den feinen Geist der Spätzeit in weitem Umfange ausschaltet. Innerhalb der Antike, wo das Wesen der Polis Massenheere unmöglich machte – im Verhältnis zur Kleinheit aller antiken Formen, auch der taktischen, sind die Zahlen von Cannä, Philippi und Actium ganz ungeheuer –, hat die zweite Tyrannis die mechanische Technik eingeführt, und zwar durch Dionys von Syrakus gleich in großartigem Maßstab. (Das heißt im Vergleich zu der ganz geringfügigen sonstigen Technik der Antike, während sie gegenüber etwa der assyrischen und chinesischen nicht gerade bedeutend erscheint.) Erst jetzt werden Belagerungen möglich wie die von Rhodos (305), Syrakus (213), Karthago (146) und Alesia (52), an denen sich zugleich die steigende Bedeutung der Schnelligkeit selbst für die antike Kriegführung erkennen läßt; und aus demselben Grunde wirkt eine römische Legion, deren Aufbau ja erst eine Schöpfung der hellenistischen Zivilisation ist, wie eine Maschine gegenüber den athenischen und spartanischen Aufgeboten des 5. Jahrhunderts. Dem entspricht es, wenn im »gleichzeitigen« China seit 474 Eisen für die Hieb- und Stichwaffen verarbeitet wird, seit 450 die leichte Reiterei nach mongolischem Vorbild den schweren Kriegswagen verdrängt und der Festungskampf plötzlich einen gewaltigen Aufschwung nimmt. (Das Buch des Sozialisten Moh-ti aus dieser Zeit handelt im ersten Teil von der allgemeinen Menschenliebe, im zweiten von der Festungsartillerie, ein seltsamer Beleg zum Gegensatz von Wahrheiten und Tatsachen: Forke in der Ostasiat. Ztschr. VIII [Hirthnummer].) Die Grundneigung des zivilisierten Menschen zur Schnelligkeit, Beweglichkeit und Massenwirkung hat sich endlich in der westeuropäisch-amerikanischen Welt mit dem faustischen Willen zur Herrschaft über die Natur verbunden und zu dynamischen Methoden geführt, die noch Friedrich der Große für wahnwitzig erklärt haben würde, die aber in der Nachbarschaft unserer Verkehrs- und Industrietechnik etwas ganz Natürliches haben. Napoleon machte die Artillerie beritten und also schnell beweglich, wie er auch das Massenheer der Revolution in ein System schnell zu verschiebender Einzelkörper aufgelöst hat, und er hat schon bei Wagram und an der Moskwa ihre rein physikalische Wirkung bis zum wirklichen Schnell- und Trommelfeuer gesteigert. Die zweite Stufe bringt, was sehr bezeichnend ist, der amerikanische Bürgerkrieg von 1861–65, der auch hinsichtlich der Truppenstärke zum erstenmal die Größenordnung der napoleonischen Zeit bei weitem überschritten hat (mehr als 1½ Millionen Mann auf kaum 20 Millionen Einwohner der Nordstaaten), und in dem zuerst für die Verschiebung großer Truppenmassen die Eisenbahn, für den Nachrichtendienst der elektrische Telegraph, für die Blockade eine monatelang auf hoher See gehaltene Dampferflotte erprobt und das Panzerschiff, der Torpedo, die gezogenen Schußwaffen und die ganz großen Geschütze von außerordentlicher Tragweite erfunden wurden. (Zu den ganz neuen Aufgaben gehörte auch der Schnellbau von Bahnen und Brücken; die für die schwersten Militärzüge bestimmte Chattanoogabrücke von 240 m Länge und 30 m Höhe wurde in 4½ Tagen gebaut.) Die dritte Stufe bezeichnet nach dem Vorspiel des russisch-japanischen Krieges (das moderne Japan gehört ebenso zur abendländischen Zivilisation wie das »moderne« Karthago von 300 v. Chr. zur antiken) der Weltkrieg, der die Luft- und Unterseewaffen in seinen Dienst stellte, das Tempo der Erfindungen zu einer neuen Waffe erhob, und mit dem vielleicht der Umfang, aber durchaus noch nicht die Intensität der verwendeten Mittel den Höhepunkt erreicht hat. Aber dem Aufwand an Kraft entspricht denn auch allenthalben in diesem Zeitalter die Härte der Entscheidungen. Gleich am Eingang der chinesischen Periode tschan-kuo steht die vollständige Vernichtung des Staates Wu (472), die unter den ritterlichen Sitten der vorauf gegangenen Periode tschun-tsiu nicht möglich gewesen wäre; Napoleon überschritt schon im Frieden von Campo Formio bei weitem die Konvenienz des 18. Jahrhunderts und begründete seit Austerlitz eine Gewohnheit der Ausnützung von kriegerischen Erfolgen, für die es andere als materielle Schranken überhaupt nicht mehr gab. Den letzten noch möglichen Schritt vollzieht der Typus des Versailler Friedens, der gar keinen Abschluß mehr enthalten will, sondern die Möglichkeit offen läßt, aus jeder Neugestaltung der Lage heraus neue Bedingungen zu stellen. Dieselbe Entwicklung zeigt die Folge der drei Punischen Kriege. Der Gedanke, eine der führenden Großmächte von der Erdoberfläche zu vertilgen, wie er durch Catos ganz nüchtern gemeintes Carthaginem esse delendam jedem geläufig geworden war, ist dem Sieger von Zama nicht in den Sinn gekommen und würde trotz der wilden Gewohnheiten der antiken Polis dem Lysander, als er Athen bezwungen hatte, wie ein Frevel an allen Göttern erschienen sein.“ (Ebd., S. 1086-1088Spengler).

„Die Zeit der kämpfenden Staaten beginnt für die Antike mit der Schlacht bei Ipsus (301), durch welche die Dreizahl der östlichen Großmächte festgelegt wurde, und dem römischen Sieg von Sentinum (295) über Etrusker und Samniten, der im Westen neben Karthago noch eine mittelitalische Großmacht schuf. Das antike Haften an der Nähe und Gegenwart hat dann aber bewirkt, daß Rom, ohne beobachtet zu werden, durch das Abenteuer mit Pyrrhus den italischen Süden, durch den ersten Krieg mit Karthago das Meer, durch C. Flaminius den keltischen Norden gewann, und daß selbst Hannibal noch unverstanden blieb, vielleicht der einzige Mensch seiner Zeit, die Römer nicht ausgenommen, der den Gang der Entwicklung deutlich voraussah. Bei Zama (202) und nicht erst bei Magnesia (190) und Pydna (168) sind auch die hellenistischen Ostmächte besiegt worden. Es war ganz umsonst, wenn der große Scipio (235-189) mit wahrer Angst vor dem Schicksal, dem eine mit den Aufgaben der Weltherrschaft belastete Polis entgegenging, von nun an jede Eroberung zu vermeiden suchte. Es war umsonst, wenn seine Umgebung gegen den Willen aller Kreise den makedonischen Krieg durchsetzte, nur um den Osten dann gefahrlos sich selbst überlassen zu können. „Der Imperialismus ist ein so notwendiges Ergebnis, daß er ein Volk im Nacken packt und in die Herrenrolle stößt, wenn es sie zu spielen sich weigert. Das römische Reich ist nicht erobert worden. Der orbis terrarum hat sich in diese Form hineingedrängt und die Römer gezwungen, ihr den Namen zu geben. Das ist ganz antik. Während die chinesischen Staaten auch noch den letzten Rest ihrer Selbständigkeit in erbitterten Kriegen verteidigt haben, ging Rom seit 146 nur deshalb an die Verwandlung der östlichen Ländermasse in Provinzen, weil es ein anderes Mittel gegen die Anarchie nicht mehr gab. Und auch das hatte zur Folge, daß die innere Form Roms, die letzte, die noch aufrecht geblieben war, sich unter dieser Belastung in den gracchischen Unruhen auflöste. Es ist ohne Beispiel, daß hier der Endkampf um das Imperium überhaupt nicht mehr zwischen Staaten stattfindet, sondern zwischen den Parteien einer Stadt; aber die Form der Polis ließ einen andern Ausweg gar nicht zu. Was einst Sparta und Athen gewesen war, heißt jetzt Optimaten- und Popularpartei. In der gracchischen Revolution, die 134 schon der erste Sklavenkrieg voraufging, wurde der jüngere Scipio heimlich ermordet und C. Gracchus öffentlich erschlagen: das sind der erste Prinzeps und der erste Tribun als die politischen Mittelpunkte einer formlos gewordenen Welt. Wenn die stadtrömische Masse 104 zum erstenmal ein Imperium in gesetzloser und tumultuarischer Weise einem Privatmann – Marius – übertrug, so ist die tiefere Bedeutung dieses Schauspiels der Annahme des mythischen Kaisertitels durch[1089] Tsin 288 vergleichbar: der unvermeidliche Ausgang des Zeitalters, der Cäsarismus, zeichnet sich plötzlich am Horizont.“ (Ebd., S. 1088-1090Spengler).

„Der Erbe des Tribunen ist Marius, der wie jener den Mob mit der Hochfinanz verbindet und 87 den alten Adel in Masse hinmordet; der Erbe des Prinzeps war Sulla, der 82 den Stand der großen Geldleute durch seine Proskriptionen vernichtet hat. Von nun an vollziehen sich die letzten Entscheidungen schnell, wie in China seit dem Auftreten des Wang-dscheng. Der Prinzeps Pompejus und der Tribun Cäsar - Tribun nicht dem Amte, aber der Haltung nach - vertreten noch Parteien, aber sie haben auch schon in Lucca (56) zusammen mit Crassus zum ersten Male die Welt unter sich verteilt. Als bei Philippi (42) die Erben gegen die Mörder Cäsars kämpften, waren es nur noch Gruppen; bei Actium (31) waren es nur noch Einzelpersonen: damit ist auch auf diesem Wege der Cäsarismus erreicht.“ (Ebd., S. 1090Spengler).

„Für uns hat das Zeitalter der kämpfenden Staaten mit Napoleon und der Gewaltsamkeit seiner Maßregeln begonnen. In seinem Kopf ist zuerst der Gedanke einer militärischen und zugleich volkstümlichen Weltherrschaft wirksam geworden, etwas ganz anderes als das Reich Karls V. und das englische Kolonialreich noch zu seiner Zeit. Wenn das 19. Jahrhundert an großen Kriegen – und Revolutionen – arm gewesen ist und die schwersten Krisen auf Kongressen diplomatisch überwunden hat, so beruht das gerade auf einer beständigen so ungeheuren Bereitschaft zum Kriege, daß die Furcht vor den Folgen in letzter Stunde immer wieder zur Vertagung der endgültigen Entscheidung und zum Ersatz des Krieges durch politische Schachzüge geführt hat. Denn dieses Jahrhundert ist das der stehenden Riesenheere und der allgemeinen Wehrpflicht. Wir sind ihm noch zu nahe, um das Schauerliche dieses Anblicks und das Beispiellose innerhalb der gesamten Weltgeschichte zu empfinden. Seit Napoleon stehen beständig Hunderttausende, zuletzt Millionen marschbereit, liegen gewaltige Flotten, die alle zehn Jahre erneuert werden, in den Häfen. Es ist ein Krieg ohne Krieg, ein Krieg des Überbietens mit Rüstungen und Schlagfertigkeit, ein Krieg der Zahlen, des Tempos, der Technik, und die Diplomaten verhandeln nicht von Hof zu Hof, sondern von Hauptquartier zu Hauptquartier. Je länger die Entladung verzögert wird, desto ungeheuerlicher werden die Mittel, desto unerträglicher wächst die Spannung. Das ist die faustische, die dynamische Form der kämpfenden Staaten in ihrem ersten Jahrhundert, aber sie ist mit der Entladung des Weltkriegs zu Ende. Denn durch das Aufgebot dieser vier Jahre ist das der französischen Revolution entstammende, in dieser Form durch und durch revolutionäre Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht samt den aus ihr entwickelten taktischen Mitteln überwunden. (Sie mag als begeisternde Idee festgehalten werden; in die Wirklichkeit umgesetzt wird sie nie wieder) An Stelle der stehenden Heere werden von nun an allmählich Berufsheere freiwilliger und kriegsbegeisterter Soldaten treten, an Stelle der Millionen wieder die Hunderttausende, aber eben damit wird dieses zweite Jahrhundert wirklich das der kämpfenden Staaten sein. Das bloße Dasein dieser Heere ist kein Ersatz des Krieges. Sie sind für den Krieg da und sie wollen ihn. In zwei Generationen werden sie es sein, deren Wille stärker ist als der aller Ruhebedürftigen. In diesen Kriegen um das Erbe der ganzen Welt werden Kontinente angesetzt, Indien, China, Südafrika, Rußland, der Islam aufgeboten, neue Techniken und Taktiken gegeneinander ausgespielt werden. Die großen weltstädtischen Machtmittelpunkte werden über die kleineren Staaten, ihr Gebiet, ihre Wirtschaft und Menschen nach Gutdünken verfügen; das alles ist nur noch Provinz, Objekt, Mittel zum Zweck; sein Schicksal ist ohne Bedeutung für den großen Gang der Dinge. Wir haben in wenigen Jahren gelernt, Ereignisse kaum noch zu beachten, die vor dem Kriege die Welt hätten erstarren lassen. Wer denkt heute ernsthaft an die Millionen, die in Rußland zugrunde gehen?“ (Ebd., S. 1097-1098Spengler).

„Daß zwischen diesen Katastrophen voller Blut und Entsetzen immer wieder der Ruf nach Völkerversöhnung und Frieden auf Erden erschallt, ist in dem Grade notwendig, als Hintergrund und Widerhall eines großartigen Geschehens, daß man es auch dort noch annehmen muß, wo nichts davon überliefert ist wie im Ägypten der Hyksoszeit, in Bagdad und Byzanz. Man mag den Wunsch einschätzen, wie man will, aber man sollte den Mut haben, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Das zeichnet den Menschen von Rasse aus, durch dessen Dasein allein es Geschichte gibt. Das Leben ist hart, wenn es groß sein soll. Es läßt nur die Wahl zwischen Sieg und Niederlage, nicht zwischen Krieg und Frieden, und die Opfer des Sieges gehören zum Siege. Denn es ist nichts als Literatur, geschriebene, gedachte, gelebte Literatur, die hier anklagend und eifernd neben den Ereignissen einhergeht. Es sind bloße Wahrheiten, die sich im Gedränge der Tatsachen verlieren. Die Geschichte hat nie geruht, von diesen Vorschlägen Kenntnis zu nehmen. In der chinesischen Welt hat Hiang-sui schon 535 v. Chr. eine Friedensliga zu stiften versucht. Zur Zeit der kämpfenden Staaten wird dem Imperialismus (lienheng) vor allem in den südlichen Ländern am Jangtse die Völkerbundsidee (hohtsung) entgegengesetzt; sie war von Anfang an zum Tode verurteilt wie alles Halbe, das dem Ganzen in den Weg tritt, und verschwand schon vor dem Endsieg des Nordens. Aber beide wandten sich gegen den antipolitischen Geschmack der Taoisten, die in diesen furchtbaren Jahrhunderten eine geistige Selbstentwaffnung vornahmen und sich damit zum bloßen Material herabsetzten, das in den großen Entscheidungen von andern und für andre verbraucht wurde. Auch die römische Politik, so fern dem antiken Geiste sonst das Vorausdenken liegt, hat noch einmal versucht, die Welt in ein System gleichgeordneter Mächte zu bringen, das fernere Kriege zwecklos machen sollte: damals, als sie nach der Niederlage Hannibals auf die Einverleibung des Ostens verzichtete. Das Ergebnis war so trostlos, daß die Partei des jüngeren Scipio zum entschiedenen Imperialismus überging, um dem Chaos ein Ende zu machen, obwohl ihr Führer mit klarem Blick das Schicksal seiner Stadt voraussah, welche die antike Unfähigkeit, irgend etwas zu organisieren, im höchsten Grade besaß. Aber der Weg von Alexander zu Cäsar ist eindeutig und unvermeidlich, und die stärkste Nation jeder Kultur hat ihn gehen müssen, ob sie es wollte und wußte oder nicht.“ (Ebd., S. 1099-1100Spengler).

„Vor der Härte dieser Tatsachen gibt es keine Ausflucht. Die Friedenskonferenz im Haag von 1907 war das Vorspiel zum Weltkrieg, die in Washington von 1921 wird das Vorspiel neuer Kriege sein. Die Geschichte dieser Zeit ist nicht mehr ein geistreiches Spiel in guten Formen um ein Mehr oder Weniger, aus dem man sich jederzeit zurückziehen kann. Standhalten oder untergehen – ein drittes gibt es nicht. Die einzige Moral, welche die Logik der Dinge uns heute gestattet, ist die eines Bergsteigers auf steilem Grat. Ein Augenblick der Schwäche, und alles ist zu Ende. Aber alle »Philosophie« ist heute nichts als ein innerliches Abdanken und Sichgehenlassen und die feige Hoffnung, durch Mystik den Tatsachen zu entschlüpfen. Sie war zur Römerzeit nichts anderes. Tacitus erzählt (Hist. III, 81), wie der berühmte Musonius Rufus durch Vorträge über die Güter des Friedens und die Übel des Krieges auf die Legionen, die im Jahre 70 vor den Toren Roms standen, einzuwirken versuchte und ihren Schlägen kaum entging. Der Heerführer Avidius Cassius nannte den Kaiser Marc Aurel ein philosophisches altes Weib.“ (Ebd., S. 1100Spengler).

„Was den Nationen des 20. Jahrhunderts an alter und großer Tradition erhalten bleibt, an historischem Geformtsein, an Erfahrung, die ins Blut gedrungen ist, erhebt sich damit zu einer Macht ohnegleichen. Die schöpferische Pietät oder, um es tiefer zu fassen, ein uralter Takt aus ferner Frühzeit, der im Wollen gestaltend weiterwirkt, haftet für uns nur an Formen, die älter sind als Napoleon und die Revolution (dazu gehört also auch die amerikanische Verfassung, und dies allein erklärt die merkwürdige Ehrfurcht, welche der Amerikaner für sie empfindet, auch wo er ihre Unzulänglichkeit klar erkennt), die gewachsen und nicht entworfen sind. Jeder noch so bescheidene Rest davon, der sich im Dasein irgendeiner geschlossenen Minderheit erhält, wird bald genug zu unermeßlichem Werte steigen und geschichtliche Wirkungen hervorbringen, die im Augenblick noch niemand für möglich hält. Die Traditionen einer alten Monarchie, eines alten Adels, einer alten vornehmen Gesellschaft, soweit sie noch gesund genug sind, um die Politik als Geschäft oder um einer Abstraktion willen von sich fernzuhalten, soweit sie Ehre, Entsagung, Disziplin, das echte Gefühl einer großen Sendung besitzen, Rasseeigenschaften also, Zucht, Sinn für Pflichten und Opfer, können zu einem Mittelpunkt werden, der den Daseinsstrom eines ganzen Volkes zusammenhält, es diese Zeit überdauern und die Küste der Zukunft erreichen läßt. In Verfassung sein ist alles. Es handelt sich um die schwerste Zeit, welche die Geschichte einer hohen Kultur kennt. Die letzte Rasse in Form, die letzte lebendige Tradition, der letzte Führer, der beides hinter sich hat, gehen als Sieger durchs Ziel.“ (Ebd., S. 1100-1101Spengler).

„Cäsarismus nenne ich die Regierungsart, welche trotz aller staatsrechtlichen Formulierung in ihrem inneren Wesen wieder gänzlich formlos ist. Es ist gleichgültig, ob Augustus in Rom, Hoang-ti in China, Amosis in Ägypten, Alp Arslan in Bagdad ihre Stellung mit altertümlichen Bezeichnungen umkleiden. Der Geist dieser alten Formen ist tot. (Cäsar hat das klar erkannt: Nihil esse rem publicam, appellationem modo sine corpore ac specie (Sueton, Cäsar. 77).) Und deshalb sind alle Institutionen, sie mögen noch so peinlich aufrecht erhalten werden, von nun an ohne Sinn und Gewicht. Bedeutung hat nur die ganz persönliche Gewalt, welche der Cäsar oder an seiner Stelle irgend jemand durch seine Fähigkeiten ausübt. Es ist die Heimkehr aus einer formvollendeten Welt ins Primitive, ins Kosmisch-Geschichtslose. Biologische Zeiträume nehmen wieder den Platz historischer Epochen ein. (Vgl. S. 613 f..)“ (Ebd., S. 1101Spengler).

„Am Anfang, dort, wo die Zivilisation sich zur vollen Blüte entfaltet – heute – steht das Wunder der Weltstadt, das große steinerne Sinnbild des Formlosen, ungeheuer, prachtvoll, im Übermut sich dehnend. Sie zieht die Daseinsströme des ohnmächtigen Landes in sich hinein, Menschenmassen, die wie Dünen aus einer in die andre verweht werden, wie loser Sand zwischen den Steinen verrieseln. Hier feiern Geist und Geld ihre höchsten und letzten Siege. Es ist das Künstlichste und Feinste, was in der Lichtwelt des menschlichen Auges erscheint, etwas Unheimliches und Unwahrscheinliches, das fast schon jenseits der Möglichkeiten kosmischer Gestaltung steht.“ (Ebd., S. 1101-1102Spengler).

„Dann aber treten die ideenlosen Tatsachen wieder nackt und riesenhaft hervor. Der ewig-kosmische Takt hat die geistigen Spannungen einiger Jahrhunderte endgültig überwunden. In Gestalt der Demokratie hatte das Geld triumphiert. Es gab eine Zeit, wo es allein oder fast allein Politik machte. Aber sobald es die alten Ordnungen der Kultur zerstört hat, taucht aus dem Chaos eine neue, übermächtige, bis in den Urgrund alles Werdens hinabreichende Größe empor: die Menschen von cäsarischem Schlage. An ihnen geht die Allmacht des Geldes zugrunde. Die Kaiserzeit bedeutet, und zwar in jeder Kultur, das Ende der Politik von Geist und Geld. Die Mächte des Blutes, die urwüchsigen Triebe alles Lebens, die ungebrochne körperliche Kraft treten ihre alte Herrschaft wieder an. Die Rasse bricht rein und unwiderstehlich hervor: der Erfolg des Stärksten und der Rest als Beute. Sie ergreift das Weltregiment, und das Reich der Bücher und Probleme erstarrt oder versinkt in Vergessenheit. Von nun an werden Heldenschicksale im Stil der Vorzeit wieder möglich, die nicht durch Kausalitäten für das Bewußtsein verschleiert sind. Es gibt keinen inneren Unterschied mehr zwischen dem Leben des Septimius Severus und Gallienus oder dem Alarichs und Odoakers. Ramses, Trajan, Wu-ti gehören in das gleichförmige Auf und Nieder geschichtsloser Zeiträume.“ (Ebd., S. 1102Spengler).

„Seit dem Anbruch der Kaiserzeit gibt es keine politischen Probleme mehr. Man findet sich ab mit den Lagen und Gewalten, die vorhanden sind. Ströme von Blut hatten zur Zeit der kämpfenden Staaten das Pflaster aller Weltstädte gerötet, um die großen Wahrheiten der Demokratie in Wirklichkeit zu verwandeln und Rechte zu erkämpfen, ohne die das Leben nicht wert schien, gelebt zu werden. Jetzt sind diese Rechte erobert, aber die Enkel sind selbst durch Strafen nicht mehr zu bewegen, von ihnen Gebrauch zu machen. Hundert Jahre später, und sogar die Historiker verstehen die alten Streitfragen nicht mehr. Schon zur Zeit Cäsars beteiligte sich die anständige Bevölkerung kaum noch an den Wahlen. (Cicero weist in der Rede für Sestius darauf hin, daß bei den Plebisziten von jeder Tribus fünf Leute da seien, die noch dazu in der Wirklichkeit einer andern angehörten. Aber diese fünf waren auch nur da, um sich von den Machthabern kaufen zu lassen. Und kaum fünfzig Jahre vorher waren die Italiker in Masse für eben dieses Wahlrecht gefallen.) Es hat dem großen Tiberius das Leben verbittert, daß die fähigsten Männer seiner Zeit sich von aller Politik zurückhielten, und Nero konnte auch durch Drohungen die Ritter nicht mehr zwingen, zur Ausübung ihrer Rechte nach Rom zu kommen. Das ist das Ende der großen Politik, die einst ein Ersatz des Krieges durch geistigere Mittel gewesen war und nun dem Kriege in seiner ursprünglichsten Gestalt wieder Platz macht.“ (Ebd., S. 1102-1103Spengler).

„Es heißt deshalb den Sinn der Zeit vollständig verkennen, wenn Mommsen (und merkwürdigerweise auch Ed. Meyer in seinem Meisterwerk »Cäsars Monarchie«, der einzigen Arbeit von staatsmännischem Range über diese Zeit [und vorher schon in dem Aufsatz über Kaiser Augustus, Kl. Schr., S. 441 ff.].) eine tiefsinnige Zergliederung der von Augustus geschaffenen »Dyarchie« mit ihrer Gewaltenteilung zwischen Prinzeps und Senat vornimmt. Ein Jahrhundert vorher wäre diese Verfassung etwas Wirkliches gewesen, eben deshalb aber auch keinem der damaligen Gewaltmenschen in den Sinn gekommen. Jetzt bedeutet sie nichts als den Versuch einer schwachen Persönlichkeit, sich über unwiderrufliche Tatsachen durch bloße Formen hinwegzutäuschen. Cäsar sah die Dinge, wie sie waren, und richtete seine Herrschaft ohne Sentimentalität nach praktischen Gesichtspunkten ein. Die Gesetzgebung seiner letzten Monate beschäftigte sich ausschließlich mit Übergangsbestimmungen, von denen keine einzige für die Dauer gedacht war. Eben das hat man immer übersehen. Er war ein viel zu tiefer Kenner der Dinge, um in diesem Augenblick, dicht vor dem Partherfeldzug, die Entwicklung vorauswissen und endgültige Formen für sie festsetzen zu wollen. Augustus aber war wie vor ihm Pompejus nicht der Herr seines Anhangs, sondern durchaus von ihm und dessen Anschauungen abhängig. Die Form des Prinzipats ist gar nicht seine Erfindung, sondern die doktrinäre Durchführung eines veralteten Parteiideals, das ein anderer Schwächling, Cicero, entworfen hatte (De re publica vom Jahre 54, eine für Pompejus bestimmte Denkschrift). Als Augustus am 13. Januar 27 in einer ehrlich gemeinten, aber eben deshalb um so sinnloseren Szene dem »Senat und Volk von Rom« die Staatsgewalt zurückgab, behielt er das Tribunat für sich, und das war in der Tat das einzige Stück politischer Wirklichkeit, das damals zum Vorschein kam. Der Tribun war der legitime Nachfolger des Tyrannen (vgl. S. 1052), und schon C. Gracchus hatte 122 dem Titel einen Inhalt gegeben, der nicht mehr durch die gesetzmäßigen Schranken eines Amtes, sondern nur noch durch die persönlichen Talente des Inhabers begrenzt wurde. Von ihm führt eine gerade Linie über Marius und Cäsar zu dem jungen Nero, als er den politischen Absichten seiner Mutter Agrippina entgegentrat. Dagegen war der Prinzeps (vgl. S. 1071) von nun an ein Kostüm, ein Rang, vielleicht eine gesellschaftliche, sicherlich aber nicht mehr eine politische Tatsache. Gerade dieser Begriff war in der Theorie Ciceros mit einem verklärenden Schimmer umgeben und schon von ihm mit dem des Divus verbunden worden. (Im Somnium Scipionis VI, 26, wo der ein Gott genannt wird, der den Staat so regiert, quam hunc mundum ille princeps deus.) Dagegen ist die »Mitarbeit« von Senat und Volk eine altertümliche Zeremonie, in der nicht mehr Leben enthalten war als in den ebenfalls von Augustus wieder hergestellten Bräuchen der Arvalbrüder. Aus den großen Parteien der Gracchenzeit waren längst Gefolgschaften geworden, Cäsarianer und Pompejaner, und endlich war auf der einen Seite die formlose Allgewalt geblieben, »die Tatsache« im brutalsten Sinne, »der Cäsar« oder wer ihn unter seinen Einfluß zu bringen vermochte, und auf der andern Seite das Häuflein beschränkter Ideologen, die ihr Mißvergnügen hinter einer Philosophie verbargen und von da aus mit Verschwörungen ihrem Ideal aufzuhelfen suchten. Es waren in Rom die Stoiker, in China die Konfuzianer. Erst jetzt versteht man die berühmte »große Bücherverbrennung«, die der chinesische Augustus 212 v. Chr. anordnete und die in den Köpfen später Literaten den Schein einer ungeheuerlichen Barbarei angenommen hat. Aber Cäsar war den stoischen Schwärmern für ein unmöglich gewordenes Ideal zum Opfer gefallen (es war vollkommen richtig, wenn Brutus neben der Leiche den Namen Ciceros ausrief und Antonius diesen als intellektuellen Urheber der Tat bezeichnete; die »Freiheit« bedeutete aber nichts als die Oligarchie einiger Familien, denn die Menge war ihrer Rechte längst müde geworden; daß neben dem Geist das Geld hinter der Tat stand, die großen Vermögen Roms, die im Cäsarismus das Ende ihrer Allmacht heraufkommen sahen, war selbstverständlich); dem Divuskult wurde in stoischen Kreisen ein Cato- und Brutuskult entgegengestellt; die Philosophen im Senat (damals nur noch eine Art von Adelsklub) wurden nicht müde, den Untergang der »Freiheit« zu beklagen und Verschwörungen wie die pisonische von 65 anzustiften, was beim Tode Neros beinahe die Zustände der Zeit Sullas wieder heraufbeschworen hätte. Deshalb ließ Nero den Stoiker Paetus Thrasea, und Vespasian den Helvidius Priscus hinrichten, und deshalb wurde das Geschichtswerk des Cremutius Cordus, in dem Brutus als der letzte Römer gepriesen worden war, überall in Rom eingesammelt und verbrannt. Es war ein Akt der Notwehr des Staates gegenüber einer blinden Ideologie, wie wir ähnliche von Cromwell und Robespierre kennen, und in genau derselben Lage befanden sich die chinesischen Cäsaren gegenüber der Schule des Konfuzius, die einst ihr Ideal einer Staatsordnung herausgearbeitet hatte und nun die Wirklichkeit nicht zu ertragen verstand. Die große Bücherverbrennung war nichts als die Zerstörung eines Teils der politisch-philosophischen Literatur und die Aufhebung der Lehrbetriebe und geheimen Organisationen. (Dagegen wurde der Taoismus unterstützt, weil er die Abkehr von aller Politik predigte. »Laßt wohlbeleibte Männer um mich sein«, sagt Cäsar bei Shakespeare.) Diese Abwehr hat in beiden Imperien ein Jahrhundert gedauert; dann war selbst die Erinnerung an parteipolitische Leidenschaften geschwunden, und die beiden Philosophien – des Zenon und des Konfuzius – wurden die herrschende Weltstimmung der reifen Kaiserzeit. (Das hat Tacitus nicht mehr verstanden. Er haßt diese ersten Cäsaren, weil sie mit allen denkbaren Mitteln sich gegen eine schleichende Opposition wehrten – in seinen Kreisen –, die seit Trajan eben nicht mehr vorhanden war.) Die Welt aber ist nun der Schauplatz tragischer Familiengeschichten, welche die Staatengeschichte ablösen, wie sie das julisch-claudische Haus und das des Schi Hoang-ti (schon 206 vor Chr.) vernichtet haben und wie sie aus den Schicksalen der ägyptischen Herrscherin Hatschepsut und ihrer Brüder (1501–1447) düster aufleuchten. Es ist der letzte Schritt zum Definitiven. Mit dem Weltfrieden – dem Frieden der hohen Politik – tritt die »Schwertseite« (vgl. S. 9641) des Daseins zurück und die »Spindelhälfte« herrscht wieder; es gibt nur noch Privatgeschichte, private Schicksale, privaten Ehrgeiz, von den kümmerlichen Nöten des Fellachen angefangen bis zu den wüsten Fehden der Cäsaren um den Privatbesitz der Welt. Die Kriege im Zeitalter des Weltfriedens sind Privatkriege, furchtbarer als alle Staatenkriege, weil sie formlos sind.“ (Ebd., S. 1103-1106Spengler).

„Denn der Weltfriede - der oft schon dagewesen ist - enthält den privaten Verzicht der ungeheuren Mehrzahl auf den Krieg, damit aber auch die uneingestandene Bereitschaft, die Beute der andern zu werden, die nicht verzichten.“ (Ebd., S. 1106Spengler).

„Es beginnt mit dem staatenzerstörenden Wunsch einer allgemeinen Versöhnung und endet damit, daß niemand die Hand rührt, sobald das Unglück nur den Nachbar trifft.“ (Ebd., S. 1106Spengler).

„Mit dem geformten Staat hat auch die hohe Geschichte sich schlafen gelegt. Der Mensch wird wieder Pflanze, an der Scholle haftend, dumpf und dauernd. Das zeitlose Dorf, der »ewige« Bauer (vgl. S. 660, 990 f.) treten hervor, Kinder zeugend und Korn in die Mutter Erde versenkend, ein emsiges, genügsames Gewimmel, über das der Sturm der Soldatenkaiser hinbraust. Mitten im Lande liegen die alten Weltstädte, leere Gehäuse einer erloschenen Seele, in die sich geschichtslose Menschheit langsam einnistet. Man lebt von der Hand in den Mund, mit einem kleinen, sparsamen Glück, und duldet. Massen werden zertreten in den Kämpfen der Eroberer um Macht und Beute dieser Welt, aber die Überlebenden füllen mit primitiver Fruchtbarkeit die Lücken und dulden weiter. Und während man in den Höhen siegt und unterliegt in ewigem Wechsel, betet man in der Tiefe, betet mit jener mächtigen Frömmigkeit der zweiten Religiosität, die alle Zweifel für immer überwunden hat(Vgl. S. 941 f.). Da, in den Seelen, ist der Weltfriede Wirklichkeit geworden, der Friede Gottes, die Seligkeit greiser Mönche und Einsiedler, und da allein. Er hat jene Tiefe im Ertragen von Leid geweckt, welche der historische Mensch in dem Jahrtausend seiner Entfaltung nicht kennen lernt. Erst mit dem Ende der großen Geschichte tritt das heilige, stille Wachsein wieder hervor. Es ist ein Schauspiel, das in seiner Zwecklosigkeit erhaben ist, zwecklos und erhaben wie der Gang der Gestirne, die Drehung der Erde, der Wechsel von Land und Meer, von Eis und Urwäldern auf ihr. Man mag es bewundern oder beweinen – aber es ist da.“ (Ebd., S. 1107Spengler).

Anfang des Kapitels„Philosophie der Politik“

„Die menschlichen Daseinsströme nennen wir Geschichte, sobald wir sie als Bewegung, – Geschlecht, Stand, Volk, Nation, sobald wir sie als etwas Bewegtes ins Auge fassen. Politik ist die Art und Weise, in der dieses strömende Dasein sich behauptet, wächst, über andere Lebensströme triumphiert. Das ganze Leben ist Politik, in jedem triebhaften Zuge, bis ins innerste Mark. (Vgl. S. 977.) Was wir heute gern als Lebensenergie (Vitalität) bezeichnen, jenes »es« in uns, das vorwärts und aufwärts will um jeden Preis, der blinde, kosmische, sehnsüchtige Drang nach Geltung und Macht, der pflanzenhaft und rassehaft mit der Erde, der »Heimat« verbunden bleibt, das Gerichtetsein und Wirkenmüssen ist es, was überall unter höheren Menschen als politisches Leben die großen Entscheidungen sucht und suchen muß, um ein Schicksal entweder zu sein oder zu erleiden. Denn man wächst oder stirbt ab. Es gibt keine dritte Möglichkeit.“ (Ebd., S. 1108-1109Spengler).

„Deshalb ist der Adel als Ausdruck einer starken Rasse der eigentlich politische Stand, und Zucht, nicht Bildung die eigentlich politische Art der Erziehung. Jeder große Politiker, eine Kraftmitte im Strom des Geschehens, hat etwas Adliges in seinem Sichberufenfühlen und innerlich Gebundensein. Dagegen ist alles Mikroskosmische, aller »Geist« unpolitisch, und deshalb besitzt alle Programmpolitik und Ideologie etwas Priesterliches. Die besten Diplomaten sind die Kinder, wenn sie spielen oder etwas haben wollen. Da bricht das im Einzelwesen gebundene kosmische »es« sich unmittelbar und mit nachtwandlerischer Sicherheit Bahn. Sie lernen nicht, sie verlernen diese Meisterschaft der ersten Jahre mit dem Wachwerden der Jugend. Eben deshalb ist unter Männern der Staatsmann etwas so Seltenes.“ (Ebd., S. 1109Spengler).

„Diese Daseinsströme im Bereich einer hohen Kultur, in und zwischen denen allein es große Politik gibt, sind nur in Mehrzahl möglich. Ein Volk ist wirklich nur in bezug auf andere Völker. (Vgl. S. 1007.) Aber das natürliche, rassehafte Verhältnis zwischen ihnen ist eben deshalb der Krieg. Das ist eine Tatsache, die durch Wahrheiten nicht verändert wird. Der Krieg ist die Urpolitik alles Lebendigen und zwar bis zu dem Grade, daß Kampf und Leben in der Tiefe eins sind und mit dem Kämpfenwollen auch das Sein erlischt. Altgermanische Worte dafür wie orrusta und orlog bedeuten Ernst und Schicksal im Gegensatz zu Scherz und Spiel; das ist eine Steigerung, nichts dem Wesen nach Verschiedenes. Und wenn alle hohe Politik der Ersatz des Schwertes durch geistigere Waffen sein will und der Ehrgeiz des Staatsmannes auf der Höhe aller Kulturen dahin geht, den Krieg fast nicht mehr nötig zu haben, so bleibt doch die Urverwandtschaft zwischen Diplomatie und Kriegskunst bestehen: der Charakter des Kampfes, dieselbe Taktik, dieselbe Kriegslist, die Notwendigkeit materieller Kräfte im Hintergrund, um den Operationen Gewicht zu geben; und auch das Ziel bleibt das gleiche: das Wachstum der eignen Lebenseinheit – Stand oder Nation – auf Kosten der andern. Und jeder Versuch, dies rassemäßige Element auszuschalten, führt nur zu seiner Verlegung auf ein andres Gebiet: statt zwischen Parteien zwischen Landschaften, oder wenn auch da der Wille zum Wachstum erlischt, zwischen den Gefolgschaften von Abenteurern, denen sich der Rest der Bevölkerung freiwillig fügt“ (Ebd., S. 1109-1110Spengler).

„In jedem Kriege zwischen Lebensmächten handelt es sich darum, wer das Ganze regiert. Es ist stets ein Leben, nie ein System, Gesetz oder Programm, das im Strom des Geschehens den Takt angib“ (Ebd., S. 1110Spengler).

„Zum Begriff der ausübenden Gewalt gehört, daß eine Lebenseinheit – schon unter Tieren – in Subjekte und Objekte der Regierung zerfällt. Das ist so selbstverständlich, daß diese innere Struktur jeder Masseneinheit selbst in den schwersten Krisen wie der von 1789 auch nicht einen Augenblick verloren geht. Nur der Inhaber verschwindet, nicht das Amt, und wenn wirklich ein Volk im Strom der Ereignisse jede Führung verliert und regellos dahintreibt, so bedeutet das nur, daß seine Führung nach auswärts verlegt, daß es als Ganzes Objekt geworden ist.“ (Ebd., S. 1111Spengler).

„Wie man Politik macht? - Der geborene Staatsmann ist vor allem Kenner, Kenner der Menschen, Lagen, Dinge. Er hat den »Blick«, der ohne Zögern, unbestechlich den Kreis des Möglichen umfaßt. Der Pferdekenner prüft mit einem Blick die Haltung des Tieres und weiß, welche Aussichten es im Rennen besitzt. Der Spieler wirft einen Blick auf den Gegner und kennt den nächsten Zug. Das Richtige tun, ohne es zu »wissen«, die sichere Hand, die den Zügel unmerklich kürzer faßt oder fallen läßt - es ist das Gegenteil von der Begabung des theoretischen Menschen. Der geheime Takt alles Werdens ist in ihm und in den geschichtlichen Dingen ein und derselbe. Sie ahnen einander; sie sind für einander da. Der Tatsachenmensch kommt nie in Gefahr, Gefühls- und Programmpolitik zu treiben. Er glaubt nicht an die großen Worte: Er hat die Frage des Pilatus beständig auf den Lippen. Wahrheiten - der geborne Staatsmann steht jenseits von wahr und falsch. Er verwechselt die Logik der Ereignisse nicht mit der Logik der Systeme. »Wahrheiten« – oder »Irrtümer«, was hier dasselbe ist – kommen für ihn nur als geistige Strömungen in Betracht, hinsichtlich ihrer Wirkung, deren Stärke, Dauer und Richtung er überblickt und für das Schicksal der von ihm gelenkten Macht in seine Rechnung stellt. Er hat Überzeugungen, die ihm teuer sind, gewiß, aber als Privatmann; kein Politiker von Rang hat sich, solange er handelte, von ihnen abhängig gefühlt. »Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen, als der Betrachtende« (Goethe). Das gilt von Sulla und Robespierre so gut wie von Bismarck und Pitt. Die großen Päpste und englischen Parteiführer haben, solange sie die Dinge zu meistern hatten, keine andern Grundsätze befolgt als die Eroberer und Empörer aller Zeiten. Man leite aus den Handlungen Innocenz' III., der die Kirche beinahe zur Weltherrschaft geführt hat, die Grundregeln ab und man erhält einen Katechismus des Erfolges, der das äußerste Gegenteil aller religiösen Moral darstellt, ohne den es aber keine Kirche, keine englischen Kolonien, keine amerikanischen Vermögen, keine siegreiche Revolution und endlich weder einen Staat, noch eine Partei, noch überhaupt ein Volk in erträglicher Lage geben würde. Das Leben, nicht der Einzelne ist gewissenlos.“ (Ebd., S. 1112-1113Spengler).

„Deshalb gilt es die Zeit verstehen, für die man geboren ist.“ (Ebd., S. 1113Spengler).

„Der Staatsmann von Rang sollte aber auch Erzieher in einem großen Sinne sein, nicht Vertreter einer Moral oder Doktrin, sondern vorbildlich in seinem Tun.185 Es ist eine bekannte Tatsache, daß keine neue Religion den Stil des Daseins je verändert hat. Sie durchdrang das Wachsein, den geistigen Menschen, sie warf neues Licht auf eine jenseitige Welt, sie schuf unermeßliches Glück durch die Kraft des Sichbescheidens, des Entsagens und des Duldens bis zum Tode; über die Mächte des Lebens besaß sie keine Gewalt. Schöpferisch im Lebendigen, nicht bildend, sondern züchtend, den Typus ganzer Stände und Völker verwandelnd wirkt nur die große Persönlichkeit, das »es«, die Rasse in ihr, die in ihr gebundene kosmische Kraft. Nicht die Wahrheit, das Gute, das Erhabene, sondern der Römer, der Puritaner, der Preuße ist eine Tatsache. Ehrgefühl, Pflichtgefühl, Disziplin, Entschlossenheit – das lernt man nicht aus Büchern. Es wird im strömenden Dasein geweckt durch ein lebendiges Vorbild. Deshalb war Friedrich Wilhelm I. einer der größten Erzieher aller Zeiten, dessen persönliche rassebildende Haltung aus der Folge von Generationen nicht wieder verschwindet. Es unterscheidet den echten Staatsmann von dem Nurpolitiker, dem Spieler aus Freude am Spiel, dem Glücksjäger auf den Höhen der Geschichte, dem Habgierigen und Rangsüchtigen, dem Schulmeister eines Ideals, daß er Opfer fordern darf und sie erhält, weil sein Gefühl, für die Zeit und Nation notwendig zu sein, von Tausenden geteilt wird, sie bis ins Innerste umgestaltet und zu Taten befähigt, denen sie sonst nicht gewachsen wären. (Das gilt endlich auch von den Kirchen, die etwas ganz anderes sind als Religionen, nämlich Elemente der Tatsachenwelt und deshalb im Charakter ihrer Führung politisch und nicht religiös. Nicht die christliche Predigt, der christliche Märtyrer hat die Welt erobert, und daß er die Kraft dazu besaß, verdankt er nicht der Lehre, sondern dem Vorbild des Mannes am Kreuz.)“ (Ebd., S. 1113-1114Spengler).

„Das Höchste aber ist nicht handeln sondern befehlen können. Erst damit wächst der Einzelne über sich selbst hinaus und wird zum Mittelpunkt einer tätigen Welt. Es gibt eine Art des Befehlens, die das Gehorchen zu einer stolzen, freien und vornehmen Gewohnheit macht und die z.B. Napoleon nicht besaß. Ein Rest von subalterner Gesinnung hat ihn verhindert, Männer und nicht Zubehöre einer Registratur zu erziehen, durch Persönlichkeiten und nicht durch Verordnungen zu herrschen; und weil er sich auf diesen feinsten Takt des Befehlens nicht verstand und deshalb alles wirklich Entscheidende selbst zu tun hatte, ist er am Mißverhältnis zwischen den Aufgaben seiner Stellung und den Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit langsam zugrunde gegangen. Wer aber diese höchste und letzte Gabe vollkommensten Menschentums besitzt wie Cäsar oder Friedrich der Große, der empfängt am Abend einer Schlacht, wenn die Operationen dem gewollten Ende zueilen und mit dem Sieg der Feldzug sich entscheidet, oder in einer Stunde, wo mit der letzten Unterschrift eine Epoche der Geschichte beschlossen wird, ein wunderbares Gefühl von Macht, das dem Wahrheitsmenschen für immer verschlossen bleibt. Es gibt Augenblicke, und sie bezeichnen die Höhepunkte kosmischer Strömungen, in denen ein Einzelner sich mit dem Schicksal und der Weltmitte identisch weiß und seine Persönlichkeit beinahe als Hülle empfindet, in welche die Geschichte der Zukunft sich zu kleiden im Begriff ist.“ (Ebd., S. 1114-1115Spengler).

„Die erste Aufgabe ist: selbst etwas zu machen; die zweite, unscheinbarer, aber schwerer und größer in ihrer Fernwirkung: eine Tradition zu schaffen, andere dahin zu bringen, daß sie das eigne Werk fortsetzen, dessen Takt und Geist; einen Strom einheitlicher Tätigkeit zu entfesseln, der des ersten Führers nicht mehr bedarf, um in Form zu bleiben. Damit wächst der Staatsmann zu etwas empor, das die Antike wohl als Gottheit bezeichnet hätte. Er wird zum Schöpfer eines neuen Lebens, zum geistigen Ahnherrn einer jungen Rasse. Er selbst als Wesen entschwindet nach wenig Jahren aus diesem Strom. Aber eine von ihm ins Dasein gerufene Minderheit, ein anderes Wesen von seltsamster Art, tritt an seine Stelle, und zwar für unabsehbare Zeit. Dies kosmische Etwas, diese Seele einer herrschenden Schicht kann ein Einzelner erzeugen und als Erbe hinterlassen, und das ist es, was in aller Geschichte die Wirkungen von Dauer hervorgebracht hat. Der große Staatsmann ist selten. Ob er kommt, ob er zur Geltung kommt, zu früh, zu spät – das alles ist Zufall. Die großen Einzelnen zerstören oft mehr, als sie aufgebaut haben – durch die Lücke, die ihr Tod im Strom des Geschehens läßt. Aber eine Tradition schaffen, heißt den Zufall ausschalten. Eine Tradition züchtet einen hohen Durchschnitt, mit dem die Zukunft sicher rechnen darf, keinen Cäsar, aber einen Senat, keinen Napoleon, aber ein unvergleichliches Offizierkorps. Eine starke Tradition zieht von allen Seiten die Talente an und erzielt mit kleinen Begabungen große Erfolge. Das beweisen die Malerschulen in Italien und Holland nicht weniger wie das preußische Heer und die Diplomatie der römischen Kurie. Es war eine große Schwäche Bismarcks imVergleich zu Friedrich Wilhelm I., daß er zwar zu handeln, aber keine Tradition zu bilden verstand, daß er neben dem Offizierkorps Moltkes keine entsprechende Rasse von Politikern schuf, die sich mit seinem Staat und dessen neuen Aufgaben identisch fühlte, die fortgesetzt bedeutende Menschen von unten aufnahm und ihrem Takt des Handelns für immer einverleibte. Geschieht das nicht, so bleibt statt einer regierenden Schicht aus einem Guß eine Sammlung von Köpfen, die dem Unvorhergesehenen hilflos gegenübersteht. Glückt es aber, so entsteht ein »souveränes« Volk in dem einzigen Sinne, der eines Volkes würdig und in der Tatsachenwelt möglich ist: eine sich selbst ergänzende hochgezüchtete Minderheit mit sicherer, in langer Erfahrung gereifter Tradition, die jede Begabung in ihren Bann zieht und ausnützt und sich eben deshalb mit dem von ihr regierten Rest der Nation in Einklang befindet. Eine solche Minderheit wird langsam zur echten Rasse, selbst wenn sie einmal Partei gewesen war, und sie entscheidet mit der Sicherheit des Blutes, nicht des Verstandes. Eben deshalb aber geschieht in ihr alles »von selbst«; sie bedarf des Genies nicht mehr. Das bedeutet, wenn man so sagen darf, den Ersatz des großen Politikers durch die große Politik.“ (Ebd., S. 1115-1116Spengler).

„Aber was ist Politik? - Die Kunst des Möglichen; das ist ein altes Wort und mit ihm ist beinahe alles gesagt. Der Gärtner kann eine Pflanze aus dem Samen ziehen oder ihren Stamm veredeln. Er kann die in ihr verborgenen Anlagen, ihren Wuchs und ihre Tracht, ihre Blüten und Früchte zur Entfaltung bringen oder verkümmern lassen. Von seinem Blick für das Mögliche und also Notwendige hängt ihre Vollkommenheit, ihre Kraft, ihr ganzes Schicksal ab. Aber die Grundgestalt und Richtung ihres Daseins, dessen Stufen, Geschwindigkeit und Dauer, das »Gesetz, nach dem sie angetreten«, stehen nicht in seiner Gewalt. Sie muß es erfüllen oder sie verdirbt, und dasselbe gilt von der ungheuren Pflanze »Kultur« und den in ihre politische Formenwelt gebannten Daseinsströmen menschlicher Geschlechter. Der große Staatsmann ist der Gärtner eines Volkes.“ (Ebd., S. 1116Spengler).

„Jeder Handelnde ist in eine Zeit und für eine Zeit geboren. Damit ist der Umkreis des für ihn Erreichbaren bestimmt. Für die Großväter und Enkel ist etwas anderes gegeben und also Ziel und Aufgabe.“ (Ebd., S. 1116Spengler).

„Das Geheimnis aller Siege liegt in der Organisation des Unscheinbaren. Wer sich darauf versteht, kann als Vertreter des Besiegten den Sieger beherrschen wie Talleyrand in Wien. Cäsar, dessen Lage damals fast verzweifelt war, hat in Lucca die Macht des Pompejus unvermerkt seinen Zielen dienstbar gemacht und damit untergraben; aber es gibt eine gefährliche Grenze des Möglichen, welche der vollendete Takt der großen Barockdiplomaten kaum je verletzt hat, während es Vorrecht des Ideologen ist, beständig darüber zu stolpern. Es gibt Wendungen in der Geschichte, von denen der Kenner sich eine Zeitlang treiben läßt, um die Herrschaft nicht zu verlieren. Jede Lage besitzt ihr Maß von Elastizität, über das man sich nicht im geringsten täuschen darf.“ (Ebd., S. 1117-1118Spengler).

„Eine zum Ausbruch gekommene Revolution beweist immer einen Mangel an politischem Takt bei den Regierenden und ihren Gegnern.“ (Ebd., S. 1118Spengler).

„Aber die absteigende Demokratie wiederholt den gleichen Fehler, halten zu wollen, was das Ideal von gestern war. Es ist die Gefahr des 20. Jahrhunderts. Auf jedem Pfade zum Cäsarismus findet sich ein Cato (Marcus Porcius Cato Censorius [auch genannt: Cato Maior bzw. Cato d.Ä.; 234-149]; sein Urenkel: Marcus Porcius Cato Uticensis [auch genannt: Cato Minor bzw. Cato d.J.; 95-46]).“ (Ebd., S. 1118 Spengler).

„Der Einfluß, den selbst ein Staatsmann von ungewöhnlich starker Stellung auf die politischen Methoden besitzt, ist sehr gering, und es gehört zum Range des Staatsmannes, daß er sich darüber nicht täuscht. Seine Aufgabe ist es, mit und in der vorliegenden geschichtlichen Form zu arbeiten; nur der Theoretiker begeistert sich daran, idealere Formen zu erfinden. Zum politischen »In Form sein« gehört aber die unbedingte Beherrschung der modernsten Mittel. Hier gibt es keine Wahl. Die Mittel und Methoden sind durch die Zeit gegeben und gehören zur inneren Form einer Zeit. Wer sich in ihnen vergreift, wer seinem Geschmack und Gefühl Macht über seinen Takt gestattet, verliert die Tatsachen aus der Hand. Die Gefahr einer Aristokratie ist es, konservativ in den Mitteln zu sein; die Gefahr der Demokratie ist die Verwechslung der Formel mit der Form. Die Mittel der Gegenwart sind noch auf Jahre hinaus die parlamentarischen: Wahlen und Presse. Man kann über sie denken, wie man will, sie verehren oder verachten, aber man muß sie beherrschen. Bach und Mozart beherrschten die musikalischen Mittel ihrer Zeit. Das ist das Kennzeichen jeder Art von Meisterschaft. Mit der Staatskunst steht es nicht anders. Aber die allgemein sichtbare Außenform ist allerdings nicht die, auf welche es ankommt, sondern nur deren Verkleidung. Deshalb läßt sie sich ändern, ohne daß am Wesen des Geschehens etwas geändert wird, auf Begriffe und in Verfassungstexte bringen, ohne die Wirklichkeit auch nur zu berühren, und der Ehrgeiz aller Revolutionäre erschöpft sich darin, sich in dieses Spiel von Rechten, Grundsätzen und Freiheiten an der geschichtlichen Oberfläche zu mischen. Der Staatsmann weiß, daß die Ausdehnung eines Wahlrechts ganz unwesentlich ist gegenüber der athenischen oder römischen, jakobinischen, amerikanischen und nun auch deutschen Technik, Wahlen zu machen. Wie die englische Verfassung lautet, ist gleichgültig gegenüber der Tatsache, daß ihre Anwendung von einer kleinen Schicht vornehmer Familien beherrscht wird, so daß Eduard VII. ein Minister seines Ministeriums war. Und was die moderne Presse betrifft, so mag der Schwärmer zufrieden sein, wenn sie verfassungsmäßig »frei« ist; der Kenner fragt nur danach, wem sie zur Verfügung steht.“ (Ebd., S. 1118-1119Spengler)

„Politik ist endlich die Form, in der die Geschichte einer Nation innerhalb einer Mehrzahl von Nationen vollzogen wird. Die große Kunst ist, die eigene innerlich in Form zu halten für die Ereignisse draußen. Das ist nicht nur für Völker, Staaten und Stände, sondern für lebendige Einheiten jeder Art bis zu den einfachsten Tierschwärmen und bis zum einzelnen Körper hinab das natürliche Verhältnis von Innen- und Außenpolitik, von denen die erste ausschließlich für die zweite da ist, nicht umgekehrt. Der eche Demokrat pflegt jene als Selbstzweck zu behandeln, der Durchschnittsdiplomat denkt nur an diese. Aber eben deshalb hängen die Einzelerfolge beider in der Luft. Der politische Meister zeigt sich ohne Zweifel am sichtbarsten in der Taktik innerer Reformen, in seiner wirtschaftlichen und sozialen Tätigkeit, in dem Geschick, die öffentliche Form des Ganzen, die »Rechte und Freiheiten« mit dem Zeitgeschmack in Einklang und zugleich leistungsfähig zu halten, in der Erziehung von Gefühlen, ohne die es nicht möglich ist, daß ein Volk in Verfassung bleibt: Vertrauen, Achtung vor der Führung, Machtbewußtsein, Zufriedenheit und, wenn es notwendig wird, Begeisterung. Aber das alles erhält seinen Wert erst im Hinblick auf die Grundtatsache der höheren Geschichte, daß ein Volk nicht allein in der Welt ist und daß über seine Zukunft durch das Kräfteverhältnis zu andern Völkern und Mächten entschieden wird und nicht durch die bloße Ordnung in sich selbst. Und da der Blick des gewöhnlichen Menschen so weit nicht reicht, ist es die regierende Minderheit, welche ihn für den Rest besitzen muß, jene Minderheit, in welcher der Staatsmann erst das Werkzeug findet, mit dem er seine Absichten ausführen kann. (Es sollte eigentlich kaum betont werden müssen, daß das nicht die Grundsätze einer aristokratischen Regierung sind, sondern die des Regierens überhaupt. Kein begabter Massenführer, weder Kleon noch Robespierre noch Lenin hat sein Amt anders behandelt. Wer sich wirklich als Beauftragter der Menge fühlt statt als Regent von solchen, die nicht wissen, was sie wollen, würde keinen Tag lang Herr im Hause sein. Die Frage ist nur, ob gerade die großen Volksführer ihre Stellung für sich oder für die andern verwalten, und darüber ließe sich manches sagen.)“ (Ebd., S. 1119-1120Spengler)

„Für die frühe Politik aller Kulturen sind die leitenden Mächte fest gegeben. Das gesamte Dasein ist streng in patriarchalischer und sinnbildlicher Form; die Bindungen des mütterlichen Landes sind so stark, der Lehnsverband und auch noch der Ständestaat sind für das in sie gebannte Leben etwas so Selbstverständliches, daß die Politik der homerischen und gotischen Zeit sich darauf beschränkt, im Rahmen der schlechthin gegebenen Form zu handeln. Diese Formen ändern sich gewissermaßen von selbst. Daß das eine Aufgabe der Politik sei, kommt niemand deutlich zum Bewußtsein, selbst wenn ein Königtum gestürzt oder ein Adel untertänig wird. Es gibt nur Standespolitik, kaiserliche, päpstliche, Vasallenpolitik. Das Blut, die Rasse, spricht aus triebhaften, halbbewußten Unternehmungen, denn auch der Priester, soweit er Politik betreibt, handelt hier als Mensch von Rasse. Die »Probleme« des Staates sind noch nicht erwacht. Das Herrschertum und die Urstände, die ganze frühe Formenwelt überhaupt ist gottgegeben, und nur unter ihrer Voraussetzung bekämpfen sich organische Minderheiten, Faktionen. Zum Wesen der Faktion gehört, daß ihr der Gedanke, die Ordnung der Dinge könne planmäßig geändert werden, gar nicht zugänglich ist. Sie will innerhalb dieser Ordnung einen Rang erkämpfen, Macht und Besitz, wie alles Wachsende in einer wachsenden Welt. Es sind Gruppen, in denen Verwandtschaft der Häuser, Ehre, Treue, Bündnisse von fast mystischer Innerlichkeit eine Rolle spielen und abstrakte Ideen ganz ausgeschlossen bleiben. So sind die Faktionen in homerischer und gotischer Zeit, Telemach und die Freier in Ithaka, die Blauen und Grünen unter Justinian, die Welfen und Waiblinger, die Häuser Lancaster und York, die Protestanten (urspr. eine Vereinigung von neunzehn Fürsten und freien Städten [1529]), die Hugenotten und auch noch die treibenden Mächte der Fronde und der ersten Tyrannis. Das Buch von Macchiavelli ruht ganz auf diesem Geist.“ (Ebd., S. 1120-1121Spengler)

„Die Wendung tritt ein, sobald mit der großen Stadt der Nichtstand, das Bürgertum die Führung übernimmt. (Vgl. S. 1000 f., 1056.) Jetzt ist es im Gegenteil die politische Form, die zum Gegenstand des Kampfes, zum Problem erhoben wird. Bis dahin war sie gereift, jetzt soll sie geschaffen werden. Die Politik wird wach, nicht nur begriffen, sondern auch auf Begriffe gebracht. Gegen Blut und Tradition erheben sich die Mächte des Geistes und Geldes. An Stelle des Organischen tritt das Organisierte, an Stelle des Standes die Partei. Eine Partei ist kein Rassegewächs, sondern eine Sammlung von Köpfen und deshalb an Geist den alten Ständen ebenso überlegen, wie sie an Instinkt ärmer ist als sie. Sie ist der Todfeind aller gewachsenen ständischen Gliederung, deren bloßes Vorhandensein ihrem Wesen widerspricht. Eben deshalb ist der Begriff der Partei immer mit dem unbedingt verneinenden, auflösenden, gesellschaftlich einebnenden der Gleichheit verbunden. Nicht Standesideale, sondern nur noch Berufsinteressen werden anerkannt. (Deshalb nimmt auf dem Boden der bürgerlichen Gleichheit sofort der Geldbesitz die Stelle des genealogischen Ranges ein.)Aber auch mit dem ebenso verneinenden der Freiheit (vgl. S. 998 f.): Parteien sind eine rein städtische Erscheinung. Mit der völligen Befreiung der Stadt vom Lande weicht die Standespolitik überall der Parteipolitik, ob wir davon Kenntnis haben oder nicht ....“ (Ebd., S. 1121-1122Spengler)

„Immer aber ist es der Nichtstand, die Einheit des Protestes gegen das Wesen des Standes überhaupt, dessen führende Minderheit – »Bildung und Besitz« – als Partei auftritt, mit einem Programm, einem nicht gefühlten, sondern definierten Ziel und der Ablehnung alles dessen, was sich verstandesmäßig nicht erfassen läßt. Es gibt deshalb im Grunde nur eine Partei, die des Bürgertums, die liberale, und sie ist sich dieses Ranges auch bewußt. Sie setzt sich dem »Volke« gleich. Ihre Gegner, die echten Stände vor allem, »Junker und Pfaffen«, sind Feinde und Verräter »des Volkes«, die eigne Meinung ist die »Stimme des Volkes«, die diesem mit allen Mitteln parteipolitischer Bearbeitung, der Rede des Forums, der Presse des Abendlandes eingeimpft wird, um dann vertreten zu werden.“ (Ebd., S. 1122Spengler).

„Die Urstände sind Adel und Priestertum. Die Urpartei ist die des Geldes und Geistes, die liberale, die der großen Stadt. Hier liegt die tiefe Berechtigung der Begriffe Aristokratie und Demokratie, und zwar für alle Kulturen. Aristokratisch ist die Verachtung des Geistes der Städte, demokratisch die Verachtung des Bauern, der Haß gegen das Land. Es ist der Unterschied von Standespolitik und Parteipolitik,von Standesbewußtsein und Parteigesinnung, von Rasse und Geist, Wachstum und Konstruktion. Aristokratisch ist die vollendete Kultur, demokratisch die beginnende weltstädtische Zivilisation, bis der Gegensatz im Cäsarismus aufgehoben wird. So gewiß der Adel der Stand ist, und der tiers es niemals dahin bringt, in dieser Weise wirklich in Form zu sein, so gewiß mißlingt es dem Adel, als Partei sich nicht zu organisiseren, aber zu fühlen.“ (Ebd., S. 1122-1123Spengler).

„Aber der Verzicht darauf steht ihm nicht frei. Alle modernen Verfassungen verleugnen die Stände und sind auf die Partei als die selbstverständliche Grundform der Politik hin angelegt. Das 19. Jahrhundert, und also auch das vorchristliche dritte, ist die Glanzzeit der Parteipolitik. Ihr demokratischer Zug erzwingt die Bildung von Gegenparteien, und während einst – noch im 18. Jahrhundert! – der tiers sich nach dem Vorbild des Adels als Stand konstituierte, so entsteht jetzt nach dem Vorbild der liberalen das Abwehrgebilde der konservativen Partei (und überall da, wo zwischen den beiden Urständen auch ein politischer Gegensatz besteht wie in Ägypten, Indien und im Abendland, noch eine klerikale, d.h. nicht etwa die Religion, sondern die Kirche, nicht die Gläubigen, sondern die Priesterschaft als Partei), durchaus von deren Formen beherrscht, verbürgerlicht, ohne bürgerlich zu sein, und auf eine Taktik verwiesen, deren Mittel und Methoden ausschließlich durch den Liberalismus bestimmt sind. Sie haben nur die Wahl, diese Mittel besser zu handhaben als der Gegner (und ihr stärkerer Gehalt an Rasse gibt ihnen alle Aussicht dazu) oder zu unterliegen, aber es ist tief im Wesen eines Standes begründet, daß er diese Lage nicht begreift und nicht den Feind, sondern die Form bekämpfen will: Ein Appell an die äußersten Mittel, der zu Beginn jeder Zivilisation die Innenpolitik ganzer Staaten verheert und sie dem äußeren Gegner wehrlos überliefert. Der Zwang jeder Partei, der Erscheinung nach bürgerlich zu sein, erhebt sich zur Karikatur, sobald sich unterhalb der städtischen Schichten von Bildung und Besitz auch noch der Rest als Partei organisiert. Der Marxismus z.B., der Theorie nach eine Verneinung des Bürgertums, ist als Partei nach Haltung und Führung spießbürgerlich durch und durch. Es besteht ein fortwährender Konflikt zwischen dem Wollen, das notwendig aus dem Rahmen der Parteipolitik und damit jeder Verfassung heraustritt – beides ist ausschließlich liberal – und ehrlicherweise nur als Bürgerkrieg bezeichnet werden kann, und dem Auftreten, das man sich schuldig zu sein glaubt und das man jedenfalls haben muß, um in dieser Zeit irgendeinen dauernden Erfolg zu erzielen. Aber das Auftreten einer Adelspartei in einem Parlament ist innerlich ebenso unecht wie das einer proletarischen. Nur das Bürgertum ist hier zu Hause.“ (Ebd., S. 1123-1124Spengler).

„In Rom haben Patrizier und Plebejer von der Einsetzung der Tribunen 471 bis zur Anerkennung ihrer gesetzgeberischen Vollmacht in der Revolution von 287 (vgl. S. 1070 f.) im wesentlichen als Stände gekämpft. Von da an besitzt dieser Gegensatz nur noch genealogische Bedeutung, und es entwickeln sich Parteien, die man sehr wohl als liberal und konservativ bezeichnen kann: der auf dem Forum tonangebende Populus (Plebs entspricht dem tiers – Bürger und Bauern – des 18., populus der großstädtischen »Masse« des 19. Jahrhunderts; der Unterschied kommt in der Haltung gegenüber den freigelassenen Sklaven meist nichtitalischer Herkunft zum Ausdruck, welche die Plebs als Stand in möglichst wenige Tribus zurückzudrängen sucht, während sie im Populus als einer Partei bald die ausschlaggebende Rolle spielten) und die Nobilität mit ihrem Stützpunkt im Senat. Dieser hat sich um 287 aus einem Familienrat der alten Geschlechter in einen Staatsrat der Verwaltungsaristokratie verwandelt. Dem Populus stehen die nach dem Besitz abgestuften Zenturiatkomitien und die Gruppe der großen Geldleute, der equites, nahe, der Nobilität die in den Tributkomitien einflußreiche Bauernschaft. Man denke dort an die Gracchen und Marius, hier an C. Flaminius; und man braucht nur schärfer hinzusehen, um die ganz veränderte Stellung der Konsuln und Tribunen zu bemerken. Sie sind nicht mehr die ernannten Vertrauensmänner des ersten und dritten Standes, deren Haltung damit bestimmt ist, sondern sie vertreten und wechseln die Partei. Es gibt »liberale« Konsuln wie den älteren Cato und »konservative« Tribunen wie Octavius, den Gegner des Ti. Gracchus. Beide Parteien stellen für die Wahlen ihre Kandidaten auf und suchen sie mit allen Mitteln demagogischer Bearbeitung durchzubringen, und wenn das Geld bei den Wahlen keinen Erfolg gehabt hat, so gelingt es ihm bei den Gewählten immer besser.“ (Ebd., S. 1124Spengler).

„In England haben Tories und Whigs zu Beginn des 19. Jahrhunderts sich selbst als Parteien konstituiert, der Form nach verbürgerlicht und dem Wortlaut nach beide das liberale Programm angenommen, wodurch die öffentliche Meinung wie immer vollkommen überzeugt und zufriedengestellt war. (Vgl. S. 1075.) Durch diese meisterhaft und rechtzeitig vollzogene Schwenkung ist es überhaupt nicht zur Bildung einer standesfeindlichen Partei gekommen wie in dem Frankreich von 1789. Die Mitglieder des Unterhauses wurden aus Sendboten der herrschenden Schicht zu Volksvertretern, die von ihr weiterhin finanziell abhängig waren; die Führung blieb in derselben Hand und der Parteigegensatz, für den sich seit 1830 die Worte liberal und konservativ wie von selbst einstellten, beruhte auf einem Mehr oder Weniger, nicht auf einem Entweder-Oder. Es sind dieselben Jahre, in denen die literarische Freiheitsstimmung des »Jungen Deutschland« in eine Parteigesinnung überging, und wo in Amerika unter Präsident Jackson sich der republikanischen Partei gegenüber die demokratische organisierte und der Grundsatz, daß Wahlen ein Geschäft und sämtliche Staatsämter die Beute des Siegers seien, in aller Form anerkannt wurde. (In aller Stille ging gleichzeitig die katholische Kirche von der Standes- zur Parteipolitik über, und zwar mit einer strategischen Sicherheit, die nicht genug bewundert werden kann. Im 18. Jahrhundert war sie, was den Stil ihrer Diplomatie, die Vergebung der großen Stellen und den Geist ihrer höheren Kreise betrifft, durchaus aristokratisch gewesen. Man denke an den Typus des Abbé und an die Kirchenfürsten, welche Minister und Gesandte wurden wie der junge Kardinal Rohan. Jetzt tritt, ganz »liberal«, an Stelle der Abkunft die Gesinnung, an Stelle des Geschmacks die Arbeitskraft, und die großen Mittel der Demokratie, die Presse, die Wahlen, das Geld, werden mit einem Geschick gehandhabt, das der eigentliche Liberalismus selten erreicht und nirgends übertroffen hat.)“ (Ebd., S. 1125Spengler).

„Aber die Form der regierenden Minderheit entwickelt sich vom Stand über die Partei hinaus unaufhaltsam weiter zur Gefolgschaft von Einzelnen. Das Ende der Demokratie und der Übergang zum Cäsarimus äußert sich deshalb darin, daß nicht mehr etwa die Partei des 3. Standes, der Liberalismus, verschwindet, sondern die Partei als Form überhaupt. Die Gesinnung, das volkstümliche Ziel, die abstrakten Ideale aller echten Parteipolitik lösen sich auf, und an ihre Stelle tritt die Privatpolitik, der ungehemmte Machtwille weniger Rassemenschen. Ein Stand hat Instinkte, eine Partei hat ein Progrramm, eine Gefolgschaft hat einen Herrn: das ist der Weg von Patriziat und Plebs über Optimaten und Popularen zu den Pompejanern und Cäsarianern. Das Zeitalter der echten Parteiherrschaft umfaßt kaum zwei Jahrhunderte und ist für uns seit dem Weltkrieg bereits in vollem Niedergang begriffen. Daß die gesamte Masse der Wählerschaft aus einem gemeinsamen Antrieb heraus Männer entsendet, die ihre Sache führen sollen, wie es in allen Verfassungen ganz naiv gemeint ist, war nur im ersten Anlauf möglich und setzt voraus, daß nicht einmal die Ansätze zur Organisation bestimmter Gruppen vorhanden sind. So war es 1789 in Frankreich, 1848 in Deutschland. Mit dem Dasein einer Versammlung ist aber sofort die Bildung taktischer Einheiten verbunden, deren Zusammenhalt auf dem Willen beruht, die einmal errungene herrschende Stellung zu behaupten, und die sich nicht im geringsten mehr als Sprachrohr ihrer Wähler betrachten, sondern umgekehrt diese mit allen Mitteln der Agitation sich gefügig machen, um sie für ihre Zwecke einzusetzen. Eine Richtung im Volk, die sich organisiert hat, ist damit bereits das Werkzeug der Organisation geworden und sie schreitet unaufhaltsam auf diesem Wege weiter, bis auch die Organisation das Werkzeug der Führer geworden ist. Der Wille zur Macht ist stärker als alle Theorie. Am Anfang entsteht die Führung und der Apparat des Programms wegen; dann werden sie von den Inhabern um der Macht und Beute willen verteidigt, wie es heute schon ganz allgemein der Fall ist, wo in allen Ländern Tausende von der Partei und den von ihr vergebenen Ämtern und Geschäften leben, und endlich verschwindet das Programm aus der Erinnerung und die Organisation arbeitet für sich allein.“ (Ebd., S. 1125-1126Spengler).

„Beim älteren Scipio und Qu. Flamininus ist noch von Freunden die Rede, die sie in den Krieg begleiten, aber der jüngere Scipio hat sich eine cohors amicorum gebildet, wohl das erste Beispiel eines organisierten Gefolges, das dann auch vor Gericht und bei den Wahlen arbeitet. (Zum folg.: M. Gelzer, Die Nobilität der römischen Republik, 1912, ...) Ebenso entwickelt sich das ursprünglich ganz patriarchalische und aristokratische Treuverhältnis des Patrons zu seinen Klienten zu einer Interessengemeinschaft auf sehr materieller Grundlage, und schon vor Cäsar gibt es schriftliche Verträge zwischen Kandidaten und Wählern mit genauer Festsetzung von Zahlung und Gegenleistung. Auf der anderen Seite bilden sich, ganz wie im heutigen Amerika (allbekannt ist Tammany Hall in New York, aber die Verhältnisse nähern sich diesem Zustand in allen von Parteien regierten Ländern; der amerikanische »Caucus«, der die Staatsämter unter seine Mitglieder verteilt und deren Namen dann der Wählermasse aufzwingt, ist als National Liberal Federation von Chamberlain in England eingeführt worden und seit 1919 auch in Deutschland in rascher Entwicklung begriffen), die Klubs und Wahlvereine der Tribulen, welche die Masse der Wähler des Bezirks beherrschen oder verscheuchen, um mit den großen Führern, den Vorläufern der Cäsaren, von Macht zu Macht über das Wahlgeschäft zu verhandeln. Das ist nicht ein Scheitern, sondern der Sinn und das notwendige Endergebnis der Demokratie, und die Klage weltfremder Idealisten über diese Zerstörung ihrer Hoffnungen kennzeichnet nur deren Blindheit für das unerbittliche Zweierlei von Wahrheiten und Tatsachen und die innere Verbundenheit von Geist und Geld.“ (Ebd., S. 1126-1127Spengler).

„Niemand sollte sich darüber täuschen, daß das Zeitalter der Theorie auch für uns zu Ende geht. Die großen Systeme des Liberalismus und Sozialismus sind sämtlich zwischen 1750 und 1850 entstanden. .... Wer die Hingabe bis zum Tode, die Rousseaus Gedanken in der französischen Revolution gefunden haben, mit der Haltung der Sozialisten von 1918 vergleicht, die eine Überzeugung, welche sie nicht mehr besaßen, vor ihrer Anhängerschaft und in ihr aufrecht erhalten mußten, nicht um der Idee, sondern um der Macht willen, die davon abhängig war, der sieht auch den ferneren Weg vorgezeichnet, auf dem endlich jedes Programm fallen wird, weil es dem Kampf um die Gewalt nur noch im Wege steht. Der Glaube daran hatte die Großväter ausgezeichnet; für die Enkel ist er ein Beweis von Provinzialismus. An seiner Stelle keimt heute schon aus Seelennot und Gewissensqual eine neue resignierte Frömmigkeit empor, die es aufgibt, ein neues Diesseits zu begründen, die statt der grellen Begriffe das Geheimnis sucht und es in den Tiefen der zweiten Religiosität (vgl. S. 941 f.) auch endlich finden wird.“ (Ebd., S. 1129-1130Spengler).

„In den Anfängen einer Demokratie gehört dem Geiste das Feld allein. Es gibt nichts Edleres und Reineres als die Nachtsitzung des 4. August 1789 und den Schwur im Ballhause oder die Gesinnung in der Frankfurter Paulskirche, wo man mit der Macht in Händen so lange über allgemeine Wahrheiten beriet, bis die Mächte der Wirklichkeit sich gesammelt hatten und die Träumer beiseite schoben. Bald genug indessen meldet sich die andere Größe jeder Demokratie und mahnt an die Tatsache, daß man von verfassungsmäßigen Rechten nur Gebrauch machen kann, wenn man Geld hat. (Die frühe Demokratie, die der hoffnungsvollen Verfassungsentwürfe, die für uns etwa bis zu Lincoln, Bismarck und Gladstone reicht, muß diese Erfahrung machen; die späte, für uns die des reifen Parlamentarismus, geht von ihr aus. Da haben sich Wahrheiten und Tatsachen in Gestalt von Parteiideal und Parteikasse endgültig getrennt. Der echte Parlamentarier fühlt sich eben durch das Geld von der Abhängigkeit befreit, die in der naiven Auffassung des Wählers vom Gewählten enthalten ist.) Daß ein Wahlrecht annähernd leistet, was der Idealist sich dabei denkt, setzt voraus, daß es keine organisierte Führerschaft gibt, die in ihrem Interesse und im Maßstabe des verfügbaren Geldes auf die Wähler einwirkt. Sobald sie da ist, hat die Wahl nur noch die Bedeutung einer Zensur, welche die Menge den einzelnen Organisationen erteilt, auf deren Gestaltung sie zuletzt nicht den geringsten Einfluß mehr besitzt. Und ebenso bleibt das ideale Grundrecht abendländischer Verfassungen, das der Masse, ihre Vertreter frei zu bestimmen, bloße Theorie, denn jede entwickelte Organisation ergänzt sich in Wirklichkeit selbst. (Vgl. S. 1126.) Endlich erwacht ein Gefühl davon, daß das allgemeine Wahlrecht überhaupt kein wirkliches Recht enthält, nicht einmal das der Wahl zwischen den Parteien, weil die auf seinem Boden erwachsenden Machtgebilde durch das Geld alle geistigen Mittel der Rede und Schrift beherrschen und damit die Meinung des Einzelnen über die Parteien nach Belieben lenken, während sie andrerseits durch ihre Verfügung über Ämter, Einfluß und Gesetze einen Stamm unbedingter Anhänger züchten, eben den »Caucus«, der den Rest ausschaltet und ihn zu einer Wahlmüdigkeit führt, die endlich selbst in den großen Krisen nicht mehr überwunden werden kann.“ (Ebd., S. 1131-1132Spengler).

„Scheinbar besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen der abendländischen, parlamentarischen Demokratie und denen der ägyptischen, chinesischen, arabischen Zivilisation, welchen der Gedanke allgemeiner Volkswahlen ganz fremd ist. Aber für uns ist in diesem Zeitalter die Masse als Wählerschaft »in Form«, in genau demselben Sinne, wie sie es vorher als Untertanenverband gewesen war, als Objekt nämlich für ein Subjekt, und wie sie es in Bagdad und Byzanz als Sekte oder Mönchtum und anderswo als regierendes Heer, Geheimbund oder Sonderstaat im Staate ist. Die Freiheit ist wie immer lediglich negativ. (Vgl. S. 998.) Sie besteht in der Ablehnung der Tradition: der Dynastie, der Oligarchie, des Kalifats; aber die ausübende Macht geht von diesen sofort und ungeschmälert an neue Gewalten über, an Parteihäupter, Diktatoren, Prätendenten, Propheten und ihren Anhang, und ihnen gegenüber bleibt die Menge weiterhin bedingungslos Objekt. (Wenn sie sich trotzdem befreit fühlt, so beweist das wiederum die tiefe Unverträglichkeit zwischen großstädtischem Geist und gewachsener Tradition, während zwischen seiner Tätigkeit und dem Regiertwerden durch das Geld eine innere Beziehung besteht.) »Selbstbestimmungsrecht des Volkes« ist eine höfliche Redensart; tatsächlich hat mit jedem allgemeinen – anorganischen – Wahlrecht sehr bald der ursprüngliche Sinn des Wählens überhaupt aufgehört. Je gründlicher die gewachsenen Gliederungen der Stände und Berufe politisch ausgelöscht werden, desto formloser, desto hilfloser wird die Wählermasse, desto unbedingter ist sie den neuen Gewalten ausgeliefert, den Parteileitungen, welche der Menge mit allen Mitteln geistigen Zwanges ihren Willen diktieren, den Kampf um die Herrschaft unter sich ausfechten, mit Methoden, von denen die Menge zuletzt weder etwas sieht noch versteht, und welche die öffentliche Meinung lediglich als selbstgeschmiedete Waffe gegeneinander erheben. Aber eben deshalb treibt ein unwiderstehlicher Zug jede Demokratie auf diesem Wege weiter, der sie zu ihrer Aufhebung durch sich selbst führt. (Die deutsche Verfassung von 1919, also schon an der Schwelle der absteigenden Demokratie entstanden, enthält in aller Naivität eine Diktatur der Parteimaschinen, die sich selbst alle Rechte übertragen haben und niemandem ernsthaft verantwortlich sind. Die berüchtigte Verhältniswahl und die Reichsliste sichern ihnen die Selbstergänzung. Statt der Rechte des »Volkes«, wie sie die Verfassung von 1848 der Idee nach enthielt, gibt es nur solche der Parteien, was harmlos klingt, aber den Cäsarismus der Organisationen in sich schließt. In diesem Sinne ist sie allerdings die fortgeschrittenste Verfassung des Zeitalters; sie läßt das Ende bereits erkennen; einige ganz kleine Änderungen, und sie verleiht Einzelnen die unumschränkte Gewalt.)“ (Ebd., S. 1132-1133Spengler).

„Die römische Ämterlaufbahn forderte, seit sie sich in der Form von Volkswahlen vollzog, ein Kapital, das den angehenden Politiker zum Schuldner seiner ganzen Umgebung machte. Vor allem die Ädilität, wo man durch öffentliche Spiele die Vorgänger überbieten mußte, um später die Stimmen der Zuschauer zu haben. Sulla fiel bei der ersten Bewerbung für die Prätur durch, weil er nicht Ädil gewesen war. Dann das glänzende Gefolge, mit dem man sich täglich auf dem Forum zu zeigen hatte, um der müßigen Menge zu schmeicheln. Ein Gesetz verbot das Geleit gegen Bezahlung, aber die Verpflichtung von Vornehmen durch Darlehen, Empfehlung zu Ämtern und Geschäften und Verteidigung vor Gericht, die diese wiederum zu Begleitung und zu täglichen Morgenbesuchen verpflichtete, war teuer. Pompejus war Patron der halben Welt, von den picenischen Bauern an bis zu den Königen im Orient; er vertrat und beschützte alles; das war sein politisches Kapital, das er gegen die zinslosen Darlehen des Crassus und die »Vergoldung« aller Ehrgeizigen durch den Eroberer Galliens einsetzen konnte. Man läßt den Wählern bezirksweise Frühstücke servieren (Inaurari, zu welchem Zweck Cicero seinen Freund Trebatius an Cäsar empfahl), Freiplätze für die Gladiatorenspiele anweisen oder auch wie Milo unmittelbar Geld ins Haus senden. Cicero nennt das »die Sitten der Väter achten«. Das Wahlkapital nahm amerikanische Dimensionen an und betrug zuweilen Hunderte von Millionen Sesterzen. Bei den Wahlen von 54 (v. Chr.) stieg der Zinsfuß von 4 auf 8%, weil der größte Teil der ungeheuren Bargeldmasse, die in Rom vorhanden war, in der Agitation festgelegt wurde. Cäsar hatte als Ädil so viel ausgegeben, daß Crassus für 20 Millionen bürgen mußte, damit die Gläubiger ihm die Abreise in die Provinz gestatteten, und bei der Wahl zum Pontifex maximus hatte er seinen Kredit noch einmal so überspannt, daß sein Gegner Catulus ihm Geld für den Rücktritt bieten konnte, weil er im Falle einer Niederlage verloren war. Aber die auch deshalb unternommene Eroberung und Ausbeutung Galliens machte ihn zum reichsten Mann der Welt; hier ist eigentlich Pharsalus schon gewonnen worden. Es handelte sich um Milliarden von Sesterzen, die seitdem durch Cäsars Hände gingen. Die Weihgeschenke der gallischen Tempel, die er in Italien ausbieten ließ, riefen einen Sturz des Goldwertes hervor. Vom König Ptolemäus erpreßten er und Pompejus für die Anerkennung 144 (und Gabinius noch einmal 240) Millionen. Der Konsul Aemilius Paulus (50) wurde mit 36, Curio mit 60 Millionen erkauft. Man kann daraus auf die vielbeneideten Vermögen seiner näheren Umgebung schließen. Bei dem Triumph von 46 (v. Chr.) erhielt jeder der weit über hunderttausend Soldaten je 24000 Sesterzen, die Offiziere noch ganz andere Summen. Trotzdem reichte der Staatsschatz nach seinem Tode aus, um die Stellung des Antonius zu sichern. Denn Cäsar hat diese Milliarden um der Macht willen erobert, wie Cecil Rhodes, und nicht aus Freude am Reichtum, wie Verres und im Grunde auch Crassus, ein großer Geldmann mit politischem Nebenberuf. Er begriff, daß auf dem Boden einer Demokratie die verfassungsmäßigen Rechte ohne Geld nichts, mit Geld alles bedeuten. Als Pompejus noch davon träumte, er könne Legionen aus der Erde stampfen, hatte sie Cäsar durch sein Geld längst zur Wirklichkeit verdichtet. Er hatte diese Methoden vorgefunden; er beherrschte sie, aber er identifizierte sich nicht mit ihnen. Man muß sich klar machen, daß sich etwa seit 150 (v. Chr.) die um Grundsätze versammelten Parteien zu persönlichen Gefolgschaften auflösen um Männer, die ein privatpolitisches Ziel hatten und sich auf die Waffen ihrer Zeit verstanden.“ (Ebd., S. 1134-1136Spengler).

„Aber während die Antike, an der Spitze das Forum von Rom, die Volksmasse zu einem sichtbaren und dichten Körper zusammenzog, um ihn zu zwingen, von seinen Rechten den Gebrauch zu machen, den man wollte, schuf »gleichzeitig« die europäisch-amerikanische Politik durch die Presse ein Kraftfeld von geistigen und Geldspannungen über die ganze Erde hin, in das jeder einzelne eingeordnet ist, ohne daß es ihm zum Bewußtsein kommt, so daß er denken, wollen und handeln muß, wie es irgendwo in der Ferne eine herrschende Persönlichkeit für zweckmäßig hält. Das ist Dynamik gegen Statik, faustisches gegen apollinisches Weltgefühl, das Pathos der dritten Dimension gegen die reine, sinnliche Gegenwart. Man spricht nicht von Mann zu Mann; die Presse und in Verbindung mit ihr der elektrische Nachrichtendienst halten das Wachsein ganzer Völker und Kontinente unter dem betäubenden Trommelfeuer von Sätzen, Schlagworten, Standpunkten, Szenen, Gefühlen, Tag für Tag, Jahr für Jahr, so daß jedes Ich zur bloßen Funktion eines ungeheuren geistigen Etwas wird. Das Geld nimmt seinen politischen Weg nicht als Metall aus einer Hand in die andre. Es verwandelt sich nicht in Spiele und Wein. Es wird in Kraft umgesetzt und bestimmt durch seine Menge die Intensität dieser Bearbeitung.“ (Ebd., S. 1137Spengler).

Die Demokratie hat das Buch aus dem Geistesleben der Volksmassen vollständig verdrängt. .... Das Volk liest die eine, »seine« Zeitung, die in Millionen Exemplaren täglich in alle Häuser dringt, die Geister vom frühen Morgen an in ihren Bann zieht, durch ihre Anlage die Bücher in vergessenheit bringt, und, wenn eins oder das andre doch einmal in den Gesichtskreis tritt, seine Wirkung durch eine vorweggenommene Kritik ausschaltet. Was ist Wahrheit ?  Für die Menge das, was man ständig liest und hört. Die andre ... ist heute ein Produkt der Presse. Was sie will, ist wahr. Ihre Befehlshaber erzeugen, verwandeln, vertauschen Wahrheiten. Drei Wochen Pressearbeit, und alle Welt hat die Wahrheit erkannt. (Das stärkste Beispiel wird für künftige Geschlechter die Frage der »Schuld« am Weltkrieg sein, das heißt die Frage, wer durch Beherrschung der Presse und Kabel aller Erdteile die Macht besitzt, für die Weltmeinung diejenige Wahrheit herzustellen, die er für seine politischen Zwecke braucht, und sie solange zu halten, als er sie braucht. Eine ganz andre Frage, die nur in Deutschland noch nicht mit der ersten verwechselt wird, ist die rein wissenschaftliche, wer ein Interesse daran besaß, ein Ereignis gerade im Sommer 1914 eintreten zu lassen, über das es damals schon eine ganze Literatur gab.) Ihre Gründe sind so lange unwiderleglich, als Geld vorhanden ist, um sie ununterbrochen zu wiederholen. Auch die antike Rhetorik war auf den Eindruck und nicht den Inhalt berechnet - ... - aber sie beschränkte sich auf die Anwesenden und den Augenblick.. Die Dynamik der Presse will dauernde Wirkungen Sie muß die Geister dauernd unter Druck halten. Ihre Gründe sind widerlegt, sobald die größere Geldmacht sich bei den Gegengründen befindet und sie noch häufiger vor aller Ohren und Augen bringt. In demselben Augenblick dreht sich die Magnetnadel der öffentlichen Meinung nach dem stärkeren Pol. Jedermann überzeugt sich sofort von der neuen Wahrheit. Man ist plötzlich aus einem Irrtum erwacht.“ (Ebd., S. 1139-1140Spengler).

„Mit der politischen Presse hängt das Bedürfnis nach allgemeiner Schulbildung zusammen, das der Antike durchaus fehlt. Es ist ein ganz unbewußter Drang darin, die Massen als Objekte der Parteipolitik dem Machtmittel der Zeitung zuzuführen. Dem Idealisten der frühen Demokratie erschien das als Aufklärung ohne Hintergedanken, und heute noch gibt es hier und da Schwachköpfe, die sich am Gedanken der Pressefreiheit begeistern, aber gerade damit haben die kommenden Cäsaren der Weltpresse freie Bahn. Wer lesen gelernt hat, verfällt ihrer Macht, und aus der erträumten Selbstbestimmung wird die späte Demokratie zu einem radikalen Bestimmtwerden der Völker durch die Gewalten, denen das gedruckte Wort gehorcht.“ (Ebd., S. 1140Spengler).

„Man bekämpft sich heute, indem man sich diese Waffe entreißt. In den naiven Anfängen der Zeitungsmacht wurde sie durch Zensurverbote geschädigt, mit denen die Vertreter der Tradition sich wehrten, und das Bürgertum schrie auf, die Freiheit des Geistes sei in Gefahr. Jetzt zieht die Menge ruhig ihres Wegs; sie hat diese Freiheit endgültig erobert, aber im Hintergrunde bekämpfen sich ungesehen die neuen Mächte, indem sie die Presse kaufen. Ohne daß der Leser es merkt, wechselt die Zeitung und damit er selbst den Gebieter. (n Vorbereitung des Weltkrieges wurde die Presse ganzer Länder finanziell unter das Kommando von London und Paris gebracht, und damit die zugehörigen Völker in eine strenge geistige Sklaverei. Je demokratischer die innere Form einer Nation, desto leichter und vollständiger erhegt sie dieser Gefahr. Das ist der Stil des 20. Jahrhunderts. Ein Demokrat vom alten Schlage würde heute nicht Freiheit für die Presse, sondern von der Presse fordern, aber inzwischen haben die Führer sich in »Angekommene« verwandelt, die ihre Stellung gegenüber der Masse sichern müssen.) Das Geld triumphiert auch hier und zwingt die freien Geister in seinen Dienst. Kein Tierbändiger hat seine Meute besser in der Gewalt. Man läßt das Volk als Lesermasse los, und es stürmt durch die Straßen, wirft sich auf das bezeichnete Ziel, droht und schlägt Fenster ein. Ein Wink an den Pressestab und es wird still und geht nach Hause. Die Presse ist heute eine Armee mit sorgfältig organisiserten Waffengattungen, mit Journalisten als Offizieren, Lesern als Soldaten. Aber es ist hier wie in jeder Armee: der Soldat gehorcht blind, und die Wechsel in Kriegsziel und Operationsplan vollziehen sich ohne seine Kenntnis. Der Leser weiß nichts von dem, was man mit ihm vor hat, und soll es auch nicht, und er soll auch nicht wissen, welch eine Rolle er damit spielt. Eine furchtbarere Satire auf die Gedankenfreiheit gibt es nicht. Einst durfte man nicht wagen, frei zu denken; jetzt darf man es, aber man kann es nicht mehr. Man will nur noch denken, was man wollen soll, und eben das empfindet man als seine Freiheit.“ (Ebd., S. 1140-1141Spengler).

„Und die andere Seite dieser späten Freiheit: es ist jedem erlaubt zu sagen, was er will; aber es steht der Presse frei, davon Kenntnis zu nehmen oder nicht. Sie kann jede »Wahrheit« zum Tode verurteilen, indem sie ihre Vermittlung an die Welt nicht übernimmt, eine furchtbare Zensur des Schweigens. die um so allmächtiger ist, als die Sklavenmasse der Zeitungsleser ihr Vorhandensein gar nicht bemerkt. (Die Bücherverbrennung der Chinesen [vgl. S. 1104] ist harmlos dagegen.) Hier taucht, wie überall in den Geburtswehen des Cäsarismus, ein Stück versunkener Frühzeit auf. (Vgl. S. 1106.) Der Bogen des Geschehens ist im Begriff, sich zu schließen. Wie in den Bauten von Beton und Stahl noch einmal der Ausdruckswille der ersten Gotik hervorbricht, aber nun kalt, beherrscht, zivilisiert, so meldet sich hier der eiserne Machtwille der gotischen Kirche über die Geister – als »Freiheit der Demokratie«. Die Zeit des »Buches« wird durch die gotische Predigt und die moderne Zeitung eingefaßt. Bücher sind ein persönlicher Ausdruck, Predigt und Zeitung gehorchen einem unpersönlichen Zweck. Die Jahre der Scholastik bieten in der Weltgeschichte das einzige Beispiel einer geistigen Zucht, die über alle Länder hin keine Schrift, keine Rede, keinen Gedanken hervortreten ließ, die der gewollten Einheit widersprachen. Das ist geistige Dynamik. Antike, indische, chinesische Menschen würden entsetzt auf dies Schauspiel geblickt haben. Aber gerade das kehrt als notwendiges Ergebnis des europäisch-amerikanischen Liberalismus wieder, so wie es Robespierre meinte: »Der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei«. An Stelle der Scheiterhaufen tritt das große Schweigen. Die Diktatur der Parteihäupter stützt sich auf die Diktatur der Presse. Man sucht durch das Geld Leserscharen und ganze Völker der feindlichen Hörigkeit zu entreißen und unter die eigne Gedankenzucht zu bringen. Hier erfahren sie nur noch, was sie wissen sollen, und ein höherer Wille gestaltet das Bild ihrer Welt. Man braucht nicht mehr, wie die Fürsten des Barock, die Untertanen zum Waffendienst zu verpflichten. Man peitscht ihre Geister auf, durch Artikel, Telegramme, Bilder – Northcliffe! – bis sie Waffen fordern und ihre Führer zu einem Kampfe zwingen, zu dem diese gezwungen sein wollten.“ (Ebd., S. 1141-1142Spengler).

„Das ist das Ende der Demokratie. Wenn in der Welt der Wahrheiten der Beweis alles entscheidet, so in der Tatsachenwelt der Erfolg. Erfolg, das bedeutet den Triumph eines Daseinsstromes über die andern. Das Leben hat sich durchgesetzt; die Träume der Weltverbesserer sind Werkzeuge von Herrennaturen geworden. In der späten Demokratie bricht die Rasse hervor und knechtet die Ideale oder wirft sie mit Gelächter in den Abgrund. So war es im ägyptischen Theben, in Rom, in China, aber in keiner zweiten Zivilisation erhielt der Wille zur Macht eine so unerbittliche Form. Das Denken und dadurch das Handeln der Masse wird unter eisernem Druck gehalten. Deshalb und nur deshalb ist man Leser und Wähler, also in zweifacher Sklaverei, während die Parteien zu gehorsamen Gefolgschaften von Wenigen werden, über welche der Cäsarismus schon seine ersten Schatten wirft. Wie das englische Königtum im 19. Jahrhundert, so werden die Parlamente im 20. langsam ein feierliches und leeres Schauspiel. Wie dort Szepter und Krone, so werden hier die Volksrechte mit großem Zeremoniell vor der Menge einhergetragen und um so peinlicher geachtet, je weniger sie bedeuten. Das ist der Grund, weshalb der kluge Augustus keine Gelegenheit versäumt hat, die altgeheiligten Bräuche römischer Freiheit zu betonen. Aber die Macht verlagert sich heute schon aus den Parlamenten in private Kreise, und ebenso sinken die Wahlen unaufhaltsam zu einer Komödie herab, für uns wie für Rom. Das Geld organisiert den Vorgang im Interesse derer, die es besitzen (hier liegt das Geheimnis, weshalb alle radikalen, also armen Parteien notwendig die Werkzeuge der Geldmächte, in Rom der equites, heute der Börse werden; theoretisch greifen sie das Kapital an, praktisch aber nicht die Börse, sondern in deren Interesse die Tradition; das war zur Zeit der Gracchen ebenso wie heute, und zwar in allen Ländern; die Hälfte der Massenführer ist durch Geld, Ämter, Beteiligung an Geschäften zu erkaufen und mit ihnen die ganze Partei), und die Wahlhandlung wird ein verabredetes Spiel, das als Selbstbestimmung des Volkes inszeniert ist. Und wenn eine Wahl ursprünglich eine Revolution in legitimen Formen war (vgl. Bd. II, S. 1079 f.), so hat sich diese Form erschöpft und man »wählt« sein Schicksal wieder mit den ursprünglichen Mitteln blutiger Gewalt, wenn die Politik des Geldes unerträglich wird.“ (Ebd., S. 1142-1143Spengler).

„Durch das Geld vernichtet die Demokratie sich selbst, nachdem das Geld den Geist vernichtet hat. Aber eben weil alle Träume verflogen sind, daß die Wirklichkeit sich jemals durch die Gedanken irgendeines Zenon oder Marx verbessern ließe, und man gelernt hat, daß im Reiche der Wirklichkeit ein Machtwille nur durch einen andern gestürzt werden kann – das ist die große Erfahrung im Zeitalter der kämpfenden Staaten –, erwacht endlich eine tiefe Sehnsucht nach allem, was noch von alten, edlen Traditionen lebt. Man ist der Geldwirtschaft müde bis zum Ekel. Man hofft auf eine Erlösung irgendwoher, auf einen echten Ton von Ehre und Ritterlichkeit, von innerem Adel, von Entsagung und Pflicht. Und nun bricht die Zeit an, wo in der Tiefe die formvollen Mächte des Blutes wieder erwachen, die durch den Rationalismus der großen Städte verdrängt worden sind. Alles was sich an dynamischer Tradition, an altem Adel für die Zukunft aufgespart hat, an vornehmer, über das Geld erhabener Sitte, alles was in sich stark genug ist, um nach dem Worte Friedrichs des Großen Diener des Staates zu sein in harter, entsagungsvoller, sorgender Arbeit, gerade im Besitz einer schrankenlosen Gewalt, alles was ich dem Kapitalismus gegenüber als Sozialismus bezeichnet hatte (Spengler), alles das wird plötzlich zum Sammelpunkt ungeheurer Lebenskräfte. Der Cäsarismus wächst auf dem Boden der Demokratie, aber seine Wurzeln reichen tief in die Untergründe des Blutes und der Tradition hinab. Seine Gewalt verdankt der antike Cäsar dem Tribunat, seine Würde und damit seine Dauer aber besitzt er als Prinzeps. Auch hier erwacht die Seele der frühen Gotik noch einmal: Der Geist der Ritterorden überwindet das beutelustige Wikingertum. Mögen die Machthaber der Zukunft, da die große politische Form der Kultur unwiderruflich zerfallen ist, die Welt als Privatbesitz beherrschen, so enthält diese formlose und grenzenlose Macht doch eine Aufgabe, die der unermüdlichen Sorge um diese Welt, die das Gegenteil aller Interessen im Zeitalter der Geldherrschaft ist und die ein hohes Ehrgefühl und Pflichtbewußtsein fordert. Aber eben deshalb erhebt sich nun der Endkampf zwischen Demokratie und Cäsarismus, zwischen den führenden Mächten einer diktatorischen Geldwirtschaft und dem rein politischen Ordnungswillen der Cäsaren. Um das zu verstehen, diesen Endkampf zwischen Wirtschaft und Politik, in welchem die Politik ihr Reich zurückerobert, bedarf es eines Blickes auf die Physiognomie der Wirtschaftsgeschichte.“ (Ebd., S. 1143-1144Spengler).

NACH OBEN „Die Formenwelt des Wirtschaftslebens“ (S. 1145-1195):

• I. Das Geld (S. 1145-1182) • Die Nationalökonomie [S. 1145] • Die politische und die wirtschaftliche Seite des Lebens [S. 1147] • Erzeugende und erobernde Wirtschaft (Landbau und Handel) [S. 1151] • Politik und Handel (Macht und Beute) [S. 1153] • Urwirtschaft und Wirtschaftsstil der hohen Kulturen [S. 1156] • Stand und Wirtschaftsklasse [S. 1157] • Das stadtlose Land: Denken in Gütern [S. 1160] • Die Stadt: Denken in Geld [S. 1162] • Weltwirtschaft: Mobilisierung der Güter durch das Geld [S. 1166] • Das antike Geld: Die Münze [S. 1169] • Der Sklave als Geld [S. 1171 • Das faustische Denken in Geld: Der Buchwert [S. 1173] • Die doppelte Buchführung [S. 1174] • Die Münze im Abendland [S. 1175] • Geld und Arbeit [S. 1177] • Der Kapitalismus [S. 1179] • Wirtschaftliche Organisation [S. 1180] • Erlöschen des Denkens in Geld: Diokletian. Das Wirtschaftsdenken der Russen [S. 1181]  • II. Die Maschine (S. 1183-1195) • Geist der Technik [S. 1183] • Primitive Technik und Stil der hohen Kulturen [S. 1185] • Antike „Technik“ [S. 1186] • Die faustische Technik: Der Wille zur Macht über die Natur. Der Erfinder [S. 1186] • Rausch der modernen Erfindungen [S. 1187] • Der Mensch als Sklave der Maschine [S. 1190] • Unternehmer, Arbeiter, Ingenieur [S. 1190] • Ringen zwischen Geld und Industrie [S. 1192] • Endkampf zwischen Geld und Politik; Sieg des Blutes [S. 1193].

Anfang des Kapitels„Das Geld“

„Der Standpunkt, von dem aus die Wirtschaftsgeschichte der hohen Kulturen verstanden werden kann, darf auf dem Boden der Wirtschaft selbst nicht gesucht werden. Wirtschaftliches Denken und Handeln ist eine Seite des Lebens, die in falsche Beleuchtung rückt, sobald man sie als eine selbständige Art von Leben betrachtet. Am allerwenigsten findet man ihn auf dem Boden der heutigen Weltwirtschaft, die seit 150 Jahren einen phantastischen, gefährlichen, zuletzt fast verzweifelten Aufstieg genommen hat, der ausschließlich abendländisch und dynamisch ist und nichts weniger als allgemein menschlich.“ (Ebd., S. 1145Spengler).

„Was wir heute Nationalökonomie nennen, ist aufgebaut aus lauter spezifisch englischen Voraussetzungen. Die allen andern Kulturen ganz unbekannte Maschinenindustrie steht in der Mitte, als ob das selbstverständlich wäre, und beherrscht durchaus die Begriffsbildung und die Ableitung sogenannter Gesetze, ohne daß man sich dessen bewußt wird. Das Kreditgeld in der besonderen Gestalt, welche sich aus dem englischen Verhältnis von Welthandel und Exportindustrie in einem bauernlosen Lande ergeben hat, dient als Unterlage von Definitionen der Worte Kapital, Wert, Preis, Vermögen, die dann ohne weiteres auf andere Kulturstufen und Lebenskreise angewandt werden. Die Insellage Englands hat in allen ökonomischen Theorien die Auffassung der Politik und ihrer Beziehung zur Wirtschaft bestimmt. Die Schöpfer dieses Wirtschaftsbildes sind David Hume und Adam Smith. Was seitdem über sie hinaus und gegen sie geschrieben worden ist, setzt immer die kritische Anlage und Methode ihrer Systeme unbewußt voraus. Das gilt von Carey und List so gut wie für Fourier und Lasalle. Und was den größten gegner von Adam Smith, Marx betrifft, so macht es wenig aus, ob man, ganz in der Vorstellungswelt des englischen Kapitalismus befangen, laut gegen ihn protestiert: man erkennt ihn eben damit an und will nur durch andre Art von Verrechnung dessen Objekten den Vorteil der Subjekte zuwenden.“ (Ebd., S. 1145-1146Spengler).

Jedes Wirtschaftsleben ist Ausdruck eines Seelenlebens.“ (Ebd., S. 1147Spengler).

„Das ist eine neue, eine deutsche Wirtschaftsauffassung, jenseits von Kapitalismus und Sozialismus, die beide aus der nüchtern bürgerlichen Verständigkeit des 18. Jahrhunderts hervorgegangen sind und die nichts sein wollten als eine stoffliche Analyse – und daraufhin eine Konstruktion – der wirtschaftlichen Oberfläche. Was bis jetzt gelehrt worden ist, bereitet nur vor. Das Wirtschaftsdenken steht wie das Rechtsdenken noch vor seiner eigentlichen Entfaltung (vgl. S. 652), die heute wie in hellenistisch-römischer Zeit erst dort einsetzt, wo Kunst und Philosophie unwiderruflich Vergangenheit geworden sind.“ (Ebd., S. 1147Spengler).

„Der folgende Versuch will nichts sein als ein flüchtiger Blick auf die hier vorhandenen Möglichkeiten.“ (Ebd., S. 1147Spengler).

„Wirtschaft und Politik sind Seiten des einen lebendig dahinströmenden Daseins, nicht des Wachseins, des Geistes. (Vgl. S. 557, 971.) In beiden offenbart sich der Takt kosmischer Flutungen, die in Geschlechterfolgen von Einzelwesen eingefangen sind. Sie haben nicht etwa, sondern sie sind Geschichte. Die nichtumkehrbare Zeit, das Wann regiert in ihnen. Sie gehören beide zur Rasse und nicht zur Sprache mit ihren] raumhaft-kausalen Spannungen wie Religion und Wissenschaft; sie richten sich beide auf Tatsachen und nicht auf Wahrheiten. Es gibt politische und wirtschaftliche Schicksale, so wie es in allen religiösen und wissenschaftlichen Lehren einen zeitlosen Zusammenhang von Ursache und Wirkung gibt.“ (Ebd., S. 1147-1148Spengler).

„Das Leben besitzt also eine politische und eine wirtschaftliche Art, für die Geschichte »in Form« zu sein. Sie überlagern, stützen oder bekämpfen sich, aber die politische ist unbedingt die erste. Das Leben will sich erhalten und durchsetzen oder vielmehr, es will sich stärker machen, um sich durchzusetzen. In wirtschaftlicher Verfassung befinden sich die Daseinsströme nur für sich selbst, in politischer für ihr Verhältnis zu den andern. Daran ändert sich nichts von den einfachsten einzelligen Pflanzen bis zu den Schwärmen und Völkern der höchsten frei im Räume beweglichen Wesen. Sich ernähren und sich bekämpfen: den Rangunterschied beider Lebensseiten läßt ihr Verhältnis zum Tode erkennen. Es gibt keinen tieferen Gegensatz als den von Hungertod und Heldentod. Wirtschaftlich wird das Leben bedroht, entwürdigt, erniedrigt durch den Hunger im weitesten Sinne; auch die Unmöglichkeit, seine Kräfte zur vollen Entwicklung zu bringen, gehört dazu, die Enge im Lebensraum, die Dunkelheit, der Druck, nicht nur die unmittelbare Gefahr. Ganze Völker haben durch die zehrende Kümmerlichkeit ihrer Lebenshaltung die Spannkraft der Rasse verloren. Hier stirbt man an etwas, nicht für etwas. Die Politik opfert Menschen für ein Ziel; sie fallen für eine Idee; die Wirtschaft läßt sie nur verderben. Der Krieg ist der Schöpfer, der Hunger der Vernichter aller großen Dinge. Dort wird das Leben durch den Tod gehoben, oft bis zu jener unwiderstehlichen Kraft, deren bloßes Vorhandensein schon den Sieg bedeutet; hier weckt der Hunger jene häßliche, gemeine, ganz unmetaphysische Art von Lebensangst, unter welcher die höhere Formenwelt einer Kultur jäh zusammenbricht und der nackte Daseinskampf menschlicher Bestien beginnt.“ (Ebd., S. 1148Spengler).

„Es war schon die Rede von dem Doppelsinn aller Geschichte, wie er im Gegensatz von Mann und Weib zutage tritt. (Vgl. S. 962 ff..) Es gibt eine private Geschichte, die als Zeugungsfolge der Generationen das »Leben im Räume« darstellt, und eine öffentliche, die es als politisches In-Form-sein verteidigt und sichert: die »Spindelhälfte« und die »Schwertseite« des Daseins. Sie finden ihren Ausdruck in den Ideen der Familie und des Staates, aber auch in der Urgestalt des Hauses (vgl. S. 660, 698), in dem die guten Geister des Ehebetts – der Genius und die Juno jeder altrömischen Wohnstätte – von der Tür, dem Janus, geschützt werden. Der privaten Geschichte des Geschlechts tritt nun die Wirtschaft zur Seite. Von der Dauer eines blühenden Lebens kann seine Kraft, vom Geheimnis der Zeugung und Empfängnis die Ernährung nicht getrennt werden. Am reinsten erscheint der Zusammenhang im Dasein rassestarker Bauerngeschlechter, die gesund und fruchtbar in ihrer Scholle wurzeln. Und wie im Bilde des Leibes das Geschlechtsorgan mit dem des Kreislaufs verbunden ist (vgl. S. 560), so bildet die Mitte des Hauses im andern Sinne der heilige Herd, die Vesta.“ (Ebd., S. 1148-1149Spengler).

„Eben deshalb bedeutet Wirtschaftsgeschichte etwas ganz anderes als politische Geschichte. Hier stehen die großen einmaligen Schicksale im Vordergrund, die sich zwar in den bindenden Formen der Epoche vollziehen, aber jede für sich streng persönlich sind. Dort handelt es sich wie in der Geschichte der Familie um den Entwicklungsgang der Formensprache, und alles Einmalige und Persönliche ist ein wenig bedeutendes Privatschicksal. Nur die Grundform von Millionen Fällen kommt in Betracht. Aber die Wirtschaft ist doch nur die Unterlage alles irgendwie sinnvollen Daseins. Es kommt nicht eigentlich darauf an, daß man in Verfassung, gut genährt und fruchtbar ist, als Einzelner oder als Volk, sondern wofür man es ist, und je höher der Mensch geschichtlich steigt, desto weiter überragt sein politisches und religiöses Wollen an Innerlichkeit der Symbolik und Gewalt des Ausdrucks alles, was das Wirtschaftsleben als solches an Form und Tiefe besitzt. Erst wenn mit der Heraufkunft einer Zivilisation die Ebbe der gesamten Formenwelt beginnt, treten die Umrisse der bloßen Lebenshaltung nackt und aufdringlich hervor: das ist denn die Zeit, wo der platte Spruch von »Hunger und Liebe« als den Triebkräften, des Daseins aufhört, schamlos zu sein, wo nicht das Starkwerden für eine Aufgabe, sondern das Glück der Meisten, Behagen und Bequemlichkeit, »panem et circenses« den Sinn des Lebens bilden und an Stelle der großen Politik die Wirtschaftspolitik als Selbstzweck tritt.“ (Ebd., S. 1149-1150Spengler).

„Weil die Wirtschaft zur Rasseseite des Lebens gehört, so besitzt sie wie die Politik eine Sitte und keine Moral (vgl. S. 981 f.), denn das unterscheidet Adel und Priestertum, Tatsachen und Wahrheiten. Jede Berufsklasse hat wie jeder Stand ein selbstverständliches Gefühl nicht für Gut und Böse, sondern für Gut und Schlecht. Wer es nicht besitzt, ist unehrenhaft und gemein. Denn die Ehre steht auch hier im Mittelpunkt und trennt das Feingefühl für das, was sich schickt, das Taktgefühl wirtschaftlich tätiger Menschen von der religiösen Weltbetrachtung und ihrem Grundbegriff der Sünde. Es gibt eine sehr bestimmte Berufsehre unter Kaufleuten, Handwerkern, Bauern, mit feinen und doch nicht weniger bestimmten Abstufungen für den Ladenbesitzer, Exportkaufmann, Bankier, Unternehmer, für Bergleute, Matrosen, Ingenieure, sogar, wie jeder weiß, für Räuber und Bettler, insofern sie sich als Berufsgenossen fühlen. Niemand hat diese Sitten gesetzt oder aufgeschrieben, aber sie sind da; sie sind wie alle Standessitten überall und zu allen Zeiten anders und jedesmal nur innerhalb des Kreises der Zugehörigen verbindlich. Neben den adligen Tugenden der Treue, Tapferkeit, Ritterlichkeit, Kameradschaft, die keiner Berufsgenossenschaft fremd sind, erscheinen scharf ausgeprägte Anschauungen über den ethischen Wert des Fleißes, des Erfolges, der Arbeit und ein erstaunliches Distanzgefühl. Dergleichen hat man, ohne viel darum zu wissen – erst der Verstoß bringt die Sitte zum Bewußtsein –, im Gegensatz zu religiösen Geboten, die zeitlos und allgemeingültig sind, aber als nie verwirklichte Ideale, und die man lernen muß, um sie zu wissen und befolgen zu können.“ (Ebd., S. 1150Spengler).

„Die religiös-asketischen Grundbegriffe wie »selbstlos« und »sündlos« sind innerhalb des Wirtschaftslebens ohne Sinn. Für den wahren Heiligen ist die Wirtschaft überhaupt Sünde negotium [damit ist jede Art von Erwerbstätigkeit gemeint; das Geschäft heißt commercium] negat otium neque quaerit veram quietem, quae est deus«, heißt es im Decretum Gratiani [vgl. S. 647]), nicht nur das Zinsnehmen und die Freude am Reichtum oder der Neid der Armen darauf. Das Wort von den Lilien auf dem Felde ist für tief religiöse – und philosophische – Naturen unbedingt wahr. Sie stehen mit dem ganzen Schwergewicht ihres Wesens außerhalb der Wirtschaft und Politik und aller andern Tatsachen »dieser Welt«. Das lehrt die Zeit Jesu ebenso wie die des heiligen Bernhard und das Grundgefühl im heutigen Russentum, und ebenso die Lebensführung eines Diogenes oder Kant. Deshalb wählt man freiwillige Armut und Wanderschaft oder flüchtet sich in Mönchszellen und Gelehrtenstuben. Wirtschaftlich betätigt sich nie eine Religion oder Philosophie sondern immer nur der politische Organismus einer Kirche oder der soziale einer theoretisierenden Genossenschaft. Es ist immer ein Kompromiß mit »dieser Welt« und ein Zeichen des Willens zur Macht. (Die Frage des Pilatus stellt auch das Verhältnis von Wirtschaft und Wissenschaft fest. Der religiöse Mensch wird vergebens, den Katechismus in der Hand, das Treiben seiner politischen Umwelt zu bessern suchen. Sie geht ruhig ihres Weges und überläßt ihn seinen Gedanken. Der Heilige hat nur die Wahl, sich anzupassen – dann wird er Kirchenpolitiker und gewissenlos – oder sich aus der Welt zu flüchten, in die Einsiedelei, selbst ins Jenseits. Aber dasselbe wiederholt sich, nicht ohne Komik, innerhalb der städtischen Geistigkeit. Hier möchte der Philosoph, der ein ethisch-soziales System errichtet hat, das voll von abstrakter Tugend ist und allein richtig, wie sich versteht, das Wirtschaftsleben darüber aufklären, wie es sich zu verhalten und wohin es zu streben habe. Es ist immer das gleiche Schauspiel, sei das System liberal, anarchistisch oder sozialistisch .... Aber auch die Wirtschaft geht unbekümmert weiter und überläßt dem Denker die Wahl, sich zurückzuziehen und seinen Jammer über diese Welt auf dem Papier auszuströmen, oder in sie als Wirtschaftspolitiker einzutreten, wo er sich entweder lächerlich macht oder alsbald seine Theorie zum Teufel schickt, um sich einen führenden Platz zu erkämpfen.)“ (Ebd., S. 1150-1151Spengler).

„Was man das Wirtschaftsleben einer Pflanze nennen darf, vollzieht sich an und in ihr, ohne daß sie selbst etwas andres wäre als der Schauplatz und willenlose Gegenstand eines Naturvorgangs. (Vgl. S. 557) Dies pflanzenhafte, traumhafte Element liegt unverändert der »Wirtschaft« auch noch des menschlichen Leibes zugrunde, wo es in Gestalt der Kreislauforgane sein fremdartiges und willenloses Dasein führt. Mit dem frei im Raum beweglichen Leibe des Tieres aber tritt zum Dasein das Wachsein, das verstehende Empfinden und damit der Zwang, für die Erhaltung des Lebens selbständig zu sorgen. Hier beginnt die Lebensangst und führt zu einem Tasten, Wittern, Spähen, Horchen mit immer schärferen Sinnen und daraufhin zu Bewegungen im Räume, zum Suchen, Sammeln, Verfolgen, Überlisten, Rauben, das sich bei manchen Arten wie den Bibern, Ameisen, Bienen, vielen Vögeln und Raubtieren bis zu den Anfängen einer wirtschaftlichen Technik steigert, welche Überlegung, das heißt eine gewisse Ablösung des Verstehens vom Empfinden voraussetzt. Der Mensch ist eigentlich Mensch in dem Grade, als sich sein Verstehen vom Empfinden befreit hat und als Denken in die Beziehungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos schöpferisch eingreift. (Vgl. S. 561.) Ganz tierhaft ist noch die Frauenlist dem Manne gegenüber und jene Bauernschlauheit im Erobern kleiner Vorteile, die sich beide von der Schlauheit des Fuchses in nichts unterscheiden und mit einem verstehenden Blick das ganze Geheimnis ihres Opfers durchdringen; aber darüber erhebt sich nun das Wirtschaftsdenken, das den Acker bestellt, das Vieh zähmt, die Dinge verwandelt, veredelt, tauscht und tausend Mittel und Methoden erfindet, um die Lebenshaltung zu erhöhen und die Abhängigkeit von der Umwelt in eine Herrschaft über sie zu verwandeln. Dies ist die Unterlage aller Kulturen. Die Rasse bedient sich eines Wirtschaftsdenkens, das so mächtig werden kann, daß es sich von seinen Zwecken löst, abstrakte Theorien aufbaut und sich in utopische Weiten verliert.“ (Ebd., S. 1151-1152Spengler).

„Alles höhere Wirtschaftsleben entwickelt sich an und über einem Bauerntum. Nur das Bauerntum selbst setzt nichts andres voraus. (Es ist mit den Wanderscharen von Jägern und Viehzüchtern ganz ebenso, aber die wirtschaftliche Grundlage der hohen Kulturen bildet immer eine Menschenart, die fest am Boden haftet und die höheren Wirtschaftsformen ernährt und trägt.) Es ist gewissermaßen die Rasse an sich, pflanzenhaft und geschichtslos (vgl. S. 966), ganz für sich erzeugend und verbrauchend, mit einem Blick auf die Welt, vor dem sich alles andre Wirtschaftswesen beiläufig und verächtlich ausnimmt. Dieser erzeugenden tritt nun eine erobernde Art von Wirtschaft entgegen, die sich der ersten als eines Objekts bedient, sich von ihr nähren läßt, sie tributpflichtig macht oder beraubt. Politik und Handel sind in den Anfängen durchaus untrennbar, beide herrenmäßig, persönlich, kriegerisch, mit einem Hunger nach Macht und Beute, der einen ganz andern Blick auf die Welt mit sich führt – nicht aus einem Winkel auf sie hinaus sondern auf ihr Gewimmel herab –, wie er sich in der Wahl des Löwen, Bären, Geiers, Falken zu Wappentieren deutlich genug ausspricht. Der Urkrieg ist immer auch Raubkrieg, der Urhandel mit Plünderung und Piraterie aufs engste verwandt. Die isländischen Sagas erzählen, wie die Wikinger oft mit der Bevölkerung einen Marktfrieden von zwei Wochen verabreden, um Handel zu treiben, worauf man zu den Waffen greift und das Beutemachen beginnt.“ (Ebd., S. 1152-1153Spengler).

„Politik und Handel in entwickelter Form – die Kunst, durch geistige Überlegenheit Sacherfolge über den Gegner zu erzielen – sind beide ein Ersatz des Krieges durch andere Mittel. Jede Art Diplomatie ist geschäftlicher, jedes Geschäft diplomatischer Natur, und beide beruhen auf eindringender Menschenkenntnis und physiognomischem Takt. Der Unternehmungsgeist großer Seefahrer, wie wir sie unter den Phönikern, Etruskern, Normannen, Venezianern, Hanseaten finden, kluger Bankherren wie die Fugger und Medici, mächtiger Geldleute wie Crassus und die Minen- und Trustmagnaten unserer Tage erfordert die strategische Begabung von Feldherrn, wenn die Operationen glücken sollen. Der Stolz auf das Stammhaus, das väterliche Erbe, die Familientradition bilden sich hier wie dort in gleicher Weise heraus; die »großen Vermögen« sind wie Königreiche und haben ihre Geschichte;16 und Polykrates, Solon, Lorenzo de' Medici, Jürgen Wullenweber sind durchaus nicht die einzigen Beispiele von politischem Ehrgeiz, der sich aus kaufmännischem entwickelt hat.“ (Ebd., S. 1153-1154Spengler).

„Aber der echte Fürst und Staatsmann will herrschen, der echte Geschäftsmann will nur reich sein; hier trennt sich die erobernde Wirtschaft als Mittel und als Zweck. Man kann die Beute um der Macht und die Macht um der Beute willen suchen. Auch der große Herrscher wie Hoang-ti, Tiberius oder Friedrich II. will »reich an Land und Leuten« sein, aber mit dem Bewußtsein einer vornehmen Verpflichtung. (Vgl. S. 985. Als Mittel von Regierungen heißt sie Finanzwirtschaft. Die ganze Nation ist hier Objekt einer Tributerhebung in Gestalt von Steuern und Zöllen, deren Verwendung nicht etwa ihre Lebenshaltung bequemer gestalten, sondern ihre geschichtliche Lage sichern und ihre Macht erhöhen soll.). Man nimmt mit gutem Gewissen und als etwas Selbstverständliches die Schätze der ganzen Welt in Anspruch und kann ein Leben in strahlendem Glanz und selbst in Verschwendung führen, wenn man sich zugleich als Träger einer Sendung fühlt wie Napoleon, Cecil Rhodes und auch der römische Senat des 3. Jahrhunderts, und deshalb den Begriff des Privatbesitzes in bezug auf sich selbst kaum kennt.“ (Ebd., S. 1154Spengler).

„Wer auf bloße Wirtschaftsvorteile aus ist wie zur Römerzeit die Karthager und heute in noch viel höherem Grade die Amerikaner, der vermag auch nicht rein politisch zu denken. Er wird bei den Entscheidungen der hohen Politik immer ausgenützt und betrogen sein, wie das Beispiel Wilsons zeigt, zumal wenn der Mangel an staatsmännischem Instinkt durch moralische Stimmungen ersetzt ist. Deshalb häufen die großen Wirtschaftsverbände der Gegenwart wie Unternehmertum und Arbeiterschaft einen politischen Mißerfolg auf den andern, wenn sie nicht einen echten Politiker als Führer finden, der – sich ihrer bedient. Wirtschaftliches und politisches Denken sind bei hoher Übereinstimmung der Form in der Richtung und damit in allen taktischen Einzelheiten grundverschieden. Große geschäftliche Erfolge (im weitesten Sinne, wozu auch der Aufstieg von Arbeitern, Journalisten, Gelehrten zu einer führenden Stellung gehört.) wecken ein schrankenloses Gefühl von öffentlicher Macht. Man wird diesen Unterton im Worte »Kapital« nicht verkennen. Aber nur bei einzelnen ändert sich damit Farbe und Richtung ihres Wollens und ihr Maßstab für die Lagen und Dinge. Erst wenn man wirklich aufgehört hat, sein Unternehmen als Privatsache zu empfinden und als dessen Ziel die bloße Anhäufung von Besitz, besteht die Möglichkeit, aus einem Unternehmer ein Staatsmann zu werden. Das war der Fall von Cecil Rhodes. Aber umgekehrt besteht für Menschen der politischen Welt die Gefahr, daß ihr Wollen und Denken von geschichtlichen Aufgaben zur bloßen Sorge für die private Lebenshaltung herabsinkt. Dann wird aus dem Adel ein Raubrittertum; es erscheinen die bekannten Fürsten, Minister, Volksmänner und Revolutionshelden, deren Eifer sich in einem Schlaraffenleben und dem Sammeln gewaltiger Reichtümer erschöpft – zwischen Versailles und dem Jakobinerklub, Unternehmern und Arbeiterführern, russischen Gouverneuren und Bolschewisten besteht da kaum ein Unterschied –, und in der reif gewordenen Demokratie ist die Politik der »Arrivierten« nicht nur mit Geschäft, sondern mit den schmutzigsten Arten großstädtischer Spekulationsgeschäfte identisch.“ (Ebd., S. 1154-1155Spengler).

„Gerade darin aber offenbart sich der geheime Gang einer hohen Kultur. Am Anfang erscheinen die Urstände Adel und Priestertum mit ihrer Symbolik von Zeit und Raum. Damit haben, in einer wohlgeordneten Gesellschaft (vgl. S. 966 f.), das politische Leben wie das religiöse Erleben ihren festen Platz, ihre berufenen Träger und ihre für Tatsachen wie für Wahrheiten schlechthin gegebenen Ziele, und in der Tiefe bewegt sich das Wirtschaftsleben in einer unbewußten sicheren Bahn. Der Strom des Daseins verfängt sich im steinernen Gehäuse der Stadt und von hier aus übernehmen Geld und Geist die geschichtliche Führung. Das Heldenhafte und Heilige mit der sinnbildlichen Wucht ihrer frühen Erscheinung werden selten und ziehen sich in enge Kreise zurück. Eine kühle bürgerliche Klarheit tritt an ihre Stelle. Im Grunde erfordern ein Systemabschluß und ein Geschäftsabschluß ein und dieselbe Art von fachmännischer Intelligenz. Durch den symbolischen Rang kaum noch getrennt, dringen politisches und wirtschaftliches Leben, religiöse und wissenschaftliche Erkenntnis aufeinander ein, berühren und mischen sich. Der Strom des Daseins verliert die strenge und reiche Form im Treiben der großen Städte. Elementare Wirtschaftszüge treten an die Oberfläche und treiben mit den Resten formvoller Politik ihr Spiel, wie gleichzeitig die souveräne Wissenschaft die Religion unter ihre Objekte aufnimmt. Über ein Leben von wirtschaftspolitischem Selbstgenügen breitet sich eine kritisch-erbauliche Weltstimmung. Aber aus ihm treten endlich an Stelle der zerfallenen Stände einzelne Lebensläufe von echt politischer und religiöser Gewalt hervor, die für das Ganze zum Schicksal werden“ (Ebd., S. 1155-1156Spengler).

„Daraus ergibt sich die Morphologie der Wirtschaftsgeschichte. Es gibt eine Urwirtschaft »des« Menschen, die ebenso wie die der Pflanze und des Tiers ihre Form in biologischen Zeiträumen (vgl. S. 591) verändert. Sie beherrscht das primitive Zeitalter vollkommen und bewegt sich zwischen und in den hohen Kulturen ohne erkennbare Regel unendlich langsam und verworren fort. Tiere und Pflanzen werden herangezogen und durch Zähmung, Züchtung, Veredlung, Aussaat umgeschaffen, das Feuer und die Metalle ausgenützt, die Eigenschaften der unlebendigen Natur durch technische Verfahren in den Dienst der Lebenshaltung gestellt. Alles das ist durchdrungen von politisch-religiöser Sitte und Bedeutung, ohne daß totem und tabu, Hunger, Seelenangst, Geschlechtsliebe, Kunst, Krieg, Opferbrauch, Glaube und Erfahrung deutlich zu trennen wären.“ (Ebd., S. 1156Spengler).

„Etwas ganz anderes nach Begriff und Entwicklung ist die strenggeformte und in Tempo und Dauer scharf begrenzte Wirtschaftsgeschichte der hohen Kulturen, von denen jede einzelne einen eignen Wirtschaftsstil besitzt. Zum Lehnswesen gehört die Wirtschaft des stadtlosen Landes. Mit dem von Städten aus regierten Staat erscheint die Stadtwirtschaft des Geldes, die sich mit dem Anbruch jeder Zivilisation zur Diktatur des Geldes erhebt, gleichzeitig mit dem Sieg der weltstädtischen Demokratie. Jede Kultur besitzt ihre selbständig entwickelte Formenwelt. Das körperhafte Geld apollinischen Stils – die geprägte Münze – steht dem faustisch-dynamischen Beziehungsgelde – der Buchung von Krediteinheiten – ebenso fern wie die Polis dem Staate Karls V. Aber das wirtschaftliche Leben bildet sich ganz wie das gesellschaftliche zu einer Pyramide aus. (Vgl. S. 591.) Im dörflichen Untergrunde hält sich eine völlig primitive, kaum von der Kultur berührte Lage. Die späte Stadtwirtschaft, bereits das Tun einer entschiedenen Minderheit, sieht beständig auf eine frühzeitliche Landwirtschaft herab, die rings umher ihr Wesen weiter treibt und voll Argwohn und Haß auf den durchgeistigten Stil innerhalb der Mauern blickt. Zuletzt führt die Weltstadt eine – zivilisierte – Weltwirtschaft herauf, die von ganz engen Kreisen weniger Mittelpunkte ausstrahlt und den Rest als Provinzwirtschaft sich unterwirft, während in entlegenen Landschaften oft noch durchaus die primitive – »patriarchalische« – Sitte herrscht. Mit dem Wachstum der Städte wird die Lebenshaltung immer künstlicher, feiner, verwickelter. Der Großstadtarbeiter im cäsarischen Rom, im Bagdad Harun al Raschids und im heutigen Berlin empfindet vieles als selbstverständlich, was dem reichen Bauern fern im Lande als wahnwitziger Luxus erscheint, aber dieses Selbstverständliche ist schwer zu erreichen und schwer zu behaupten; das Arbeitsquantum aller Kulturen wächst in ungeheurem Maße, und so entwickelt sich am Anfang jeder Zivilisation eine Intensität des Wirtschaftslebens, die in ihrer Spannung übertrieben und stets gefährdet ist und nirgends lange aufrecht erhalten werden kann. Zuletzt bildet sich ein starrer und dauerhafter Zustand heraus mit einem seltsamen Gemisch raffiniert durchgeistigter und ganz primitiver Züge, wie ihn die Griechen in Ägypten und wir im heutigen Indien und China kennen lernen, wenn er nicht vor dem unterirdischen Nachdrängen einer jungen Kultur dahinschwindet wie der antike zur Zeit Diokletians.“ (Ebd., S. 1156-1157Spengler).

„Dieser Wirtschaftsbewegung gegenüber sind die Menschen als Wirtschaftsklasse in Form, wie sie es der Weltgeschichte gegenüber als politischer Stand sind. Jeder einzelne hat eine wirtschaftliche Stellung innerhalb der ökonomischen Gliederung so, wie er irgend einen Rang innerhalb der Gesellschaft einnimmt. Beide Arten von Zugehörigkeit nehmen gleichzeitig sein Fühlen, Denken und Sichverhalten in Anspruch. Ein Leben will da sein und darüber hinaus noch etwas bedeuten; und die Verwirrung unserer Begriffe ist endlich noch dadurch gesteigert worden, daß politische Parteien, heute wie in hellenistischer Zeit, gewisse wirtschaftliche Gruppen, deren Lebenshaltung sie glücklicher gestalten wollten, durch Erhebung in einen politischen Stand gewissermaßen adelten, wie es Marx mit der Klasse der Fabrikarbeiter getan hat.“ (Ebd., S. 1157-1158Spengler).

„Denn der erste und echte Stand ist der Adel. Von ihm leitet sich der Offizier und Richter ab und alles, was zu den hohen Regierungs- und Verwaltungsämtern gehört. Es sind standesartige Gebilde, die etwas bedeuten. Ebenso gehört zum Priestertum die Gelehrtenschaft (einschließlich der Ärzte, die in Urzeiten von Priestern und Zauberern nicht zu trennen sind) mit einer sehr ausgeprägten Art von ständischer Abgeschlossenheit. Aber mit Burg und Dom ist die große Symbolik zu Ende. Der tiers ist bereits der Nichtstand, der Rest, eine bunte und vielfältige Sammlung, die als solche wenig bedeutet außer in Augenblicken des politischen Protestes, und die sich deshalb Bedeutung gibt, indem sie Partei ergreift. Man fühlt sich, nicht als Bürger, sondern weil man »liberal« ist, und also eine große Sache zwar nicht durch seine Person repräsentiert, aber ihr durch seine Überzeugung angehört. Infolge der Schwäche dieses gesellschaftlichen Geformtseins tritt das wirtschaftliche in »bürgerlichen« Berufen, Gilden und Verbänden um so sichtbarer hervor. In den Städten wenigstens ist ein Mensch zuerst durch das bezeichnet, wovon er lebt.“ (Ebd., S. 1158Spengler).

„Wirtschaftlich ist das erste und ursprünglich fast das einzige das Bauerntum (Hirten, Fischer und Jäger gehören dazu;außerdem besteht eine seltsame und sehr tiefe Beziehung zum Bergbau, wie die Verwandtschaft der alten Sagen und Bräuche lehrt; die Metalle werden dem Schacht nicht anders abgelockt wie das Korn der Erde und das Wild dem Forst; aber für den Bergmann sind die Metalle auch etwas, das lebt und wächst.), die schlechthin erzeugende Art von Leben, die jede andre erst möglich macht. Auch die Urstände gründen ihre Lebenshaltung in früher Zeit durchaus auf Jagd, Viehhaltung und Ackerbesitz, und noch für Adel und Geistlichkeit der Spätzeiten ist es die einzig vornehme Möglichkeit, »begütert« zu sein. Ihr steht die vermittelnde, erbeutende Lebensart des Handels (von der urzeitlichen Seefahrt bis zum weltstädtischen Börsengeschäft; aller Verkehr auf Flüssen, Straßen, Bahnen gehört dazu.) gegenüber, im Verhältnis zur kleinen Zahl von gewaltiger Macht und schon ganz früh unentbehrlich, ein feiner Parasitismus, vollkommen unproduktiv und deshalb landfremd und schweifend, »frei«, auch seelisch unbeschwert von Sitten und Bräuchen der Erde, ein Leben, das von anderem Leben sich nährt. Dazwischen wächst nun eine dritte Art von Wirtschaft heran, die verarbeitende der Technik in zahllosen Handwerken, Gewerben und Berufen, welche ein Nachdenken über die Natur zur schöpferischen Anwendung bringen und deren Ehre und Gewissen an der Leistung haftet. (Vgl. S. 989. Auch die Maschinenindustrie gehört hierher mit dem rein abendländischen Typus des Erfinders und Ingenieurs, und praktisch ein großer Teil der modernen Landwirtschaft ....) Ihre älteste, bis in die Urzeit zurückreichende Zunft und zugleich ihr Urbild mit einer Fülle dunkler Sagen, Bräuche und Anschauungen sind die Schmiede, die infolge ihrer stolzen Absonderung vom Bauerntum und der um sie verbreiteten Scheu, die zwischen Achtung und Ächtung wechselt, oft zu wirklichen Volksstämmen eigner Rasse geworden sind ....“ (Ebd., S. 1158-1159Spengler).

„Mit dem Anbruch jeder Frühzeit beginnt ein Wirtschaftsleben in fester Form. (Vgl. S. 625.) Die Bevölkerung lebt durchaus bäuerlich im freien Lande. Das Erlebnis der Stadt ist für sie nicht vorhanden. Was sich vom Dorfe, von Burg, Pfalz, Kloster, Tempelbezirk abhebt, ist nicht eine Stadt, sondern ein Markt, ein bloßer Treffpunkt bäuerlicher Interessen, der gleichzeitig und selbstverständlich eine gewisse religiöse und politische Bedeutung besitzt, ohne daß von einem Sonderleben die Rede sein kann. Die Einwohner, auch wenn sie Handwerker oder Kaufleute sind, empfinden doch als Bauern und werden irgendwie auch als solche tätig sein.“ (Ebd., S. 1160-1161Spengler).

„Eine ganz andere Art von Leben erwacht mit der Seele der Stadt. (Vgl. S. 661.) Sobald der Markt zur Stadt geworden ist, gibt es nicht mehr bloße Schwerpunkte des Güterstroms, der durch eine rein bäuerliche Landschaft geht, sondern eine zweite Welt innerhalb der Mauern, für die das schlechthin erzeugende Leben »da draußen« nichts ist als Mittel und Objekt, und aus der heraus ein anderer Strom zu kreisen beginnt. Das ist das Entscheidende: der echte Städter ist nicht erzeugend im ursprünglich erdhaften Sinne. Ihm fehlt die innere Verbundenheit mit dem Boden wie mit dem Gut, das durch seine Hände geht. Er lebt nicht mit ihm, sondern er betrachtet es von außen und nur in bezug auf seinen Lebensunterhalt.“ (Ebd., S. 1162Spengler).

„Damit wird das Gut zur Ware, der Tausch zum Umsatz, und an Stelle des Denkens in Gütern tritt das Denken in Geld.“ (Ebd., S. 1162Spengler).

„Damit wird ein rein ausgedehntes Etwas, eine Form der Grenzsetzung, von den sichtbaren Wirtschaftsdingen abgezogen, ganz wie das mathematische Denken von der mechanisch aufgefaßten Umwelt etwas abzieht, und das Abstraktum Geld entspricht durchaus dem Abstraktum Zahl. (Zum folgenden vgl. Kapitel I, S. 71 ff..) Beides ist vollkommen anorganisch. Das Wirtschaftsbild wird ausschließlich auf Quantitäten zurückgeführt, unter Absehen von der Qualität, die gerade das wesentliche Merkmal des Gutes bildet. Für den frühzeitlichen Bauern ist »seine« Kuh zuerst gerade dieses eine Wesen und dann erst Tauschgut; für den Wirtschaftsblick eines echten Städters gibt es nur einen abstrakten Geldwert in der zufälligen Gestalt einer Kuh, der jederzeit in die Gestalt etwa einer Banknote umgesetzt werden kann. Ebenso erblickt der echte Techniker in einem berühmten Wasserfall nicht ein einzigartiges Naturschauspiel, sondern ein reines Quantum unverwerteter Energie.“ (Ebd., S. 1162-1163Spengler).

„Es ist ein Fehler aller modernen Geldtheorien, daß sie von den Wertzeichen oder sogar vom Stoff der Zahlungsmittel statt von der Form des wirtschaftlichen Denkens ausgehen. (Mark und Dollar sind so wenig »Geld« wie Meter und Gramm Kräfte sind. Geldstücke sind Sachwerte. Nur weil wir die antike Physik nicht kannten, haben wir Gravitation und Gewichtsstück nicht verwechselt, wie wir es auf Grund der antiken Mathematik mit Zahl und Größe und infolge der Nachahmung antiker Münzen mit Geld und Geldstück getan haben und noch tun.) Aber Geld ist wie Zahl und Recht eine Kategorie des Denkens. Es gibt ein Gelddenken so wie es ein juristisches, mathematisches, technisches Denken der Umwelt gibt. Von dem Sinnenerlebnis eines Hauses wird ganz Verschiedenes abgezogen, je nachdem man es als Händler, Richter oder Ingenieur im Geiste prüft und in bezug auf eine Bilanz, einen Rechtsstreit oder eine Einsturzgefahr hin wertet. Am nächsten aber steht dem Denken in Geld die Mathematik. Geschäftlich denken heißt rechnen. Der Geldwert ist ein Zahlenwert, der an einer Rechnungseinheit gemessen wird. (Deshalb könnte man umgekehrt das metrische (cm-g) System eine Währung nennen, und in der Tat gehen sämtliche Geldmaße von physikalischen Gewichtssätzen aus.) Diesen exakten »Wert an sich« hat, wie die Zahl an sich, erst das Denken des Städters, des wurzellosen Menschen hervorgebracht. Für den Bauern gibt es nur flüchtige, gefühlte Worte in bezug auf ihn, die er im Tausch von Fall zu Fall geltend macht. Was er nicht braucht oder besitzen will, hat für ihn »keinen Wert«. Erst im Wirtschaftsbilde des echten Städters gibt es objektive Werte und Wertarten, die als Elemente des Denkens unabhängig von seinem privaten Bedarf bestehen und der Idee nach allgemeingültig sind, obwohl in Wirklichkeit jeder einzelne sein eignes Wertsystem und seine eigne Fülle der verschiedensten Wertarten besitzt und von ihnen aus die geltenden Wertansätze (Preise) des Marktes als teuer oder billig empfindet. (Ebenso sind alle Werttheorien, obwohl sie objektiv sein sollen, aus einem subjektiven Prinzip entwickelt, und es kann auch gar nicht anders sein. Die von Marx z.B. definiert »den« Wert so, wie es das Interesse des Handarbeiters fordert, so daß die Leistung des Erfinders und Organisators als wertlos erscheint. Aber es wäre verfehlt, sie als falsch zu bezeichnen. All diese Lehren sind richtig für ihre Anhänger und falsch für ihre Gegner, und ob man Anhänger oder Gegner wird, entscheiden nicht die Gründe, sondern das Leben.)“ (Ebd., S. 1163-1164Spengler).

„Während der frühe Mensch Güter vergleicht und nicht nur mit dem Verstande, berechnet der späte den Wert der Ware, und zwar nach einem starren qualitätslosen Maß. Jetzt wird nicht mehr das Geld an der Kuh, sondern die Kuh am Gelde gemessen und das Ergebnis durch eine abstrakte Zahl, den Preis, ausgedrückt. Ob und in welcher Weise dieses Wertmaß in einem Wertzeichen sinnbildlichen Ausdruck findet – so wie das geschriebene, gesprochene, vorgestellte Zahlzeichen Sinnbild einer Zahlenart ist –, das hängt vom Wirtschaftsstil der einzelnen Kulturen ab, die jedesmal eine andere Art von Geld hervorbringen. Diese Geldart ist vorhanden nur infolge des Vorhandenseins einer städtischen Bevölkerung, die in ihr wirtschaftlich denkt, und sie bestimmt weiterhin, ob das Wertzeichen zugleich als Zahlungsmittel dient wie die antike Münze aus Edelmetall und vielleicht die babylonischen Silbergewichte. Dagegen ist der ägyptische deben, das nach Pfunden abgewogene Rohkupfer, ein Tauschmaß, aber weder Zeichen noch Zahlungsmittel, die abendländische und die »gleichzeitige« chinesische Banknote (jene in sehr bescheidenem Maße seit Ende des 18. Jahrhunderts durch die Bank von England eingeführt, diese zur Zeit der kämpfenden Staaten) ein Mittel, aber kein Maß, und über die Rolle, welche Münzen aus Edelmetall in unserer Art von Wirtschaft spielen, pflegen wir uns vollkommen zu täuschen: sie sind eine in Nachahmung der antiken Sitte hergestellte Ware und besitzen deshalb, am Buchwert des Kreditgeldes gemessen, einen Kurs.“ (Ebd., S. 1164-1165Spengler).

„Aus dieser Art von Denken heraus wird der mit dem Leben und dem Boden verbundene Besitz zum Vermögen, das dem Wesen nach beweglich und qualitativ unbestimmt ist: es besteht nicht in Gütern, sondern es wird in solchen »angelegt«. An sich betrachtet ist es ein rein zahlenmäßiges Quantum von Geldwert. (Die »Höhe« des Vermögens, was man mit dem »Umfang« eines Güterbesitzes vergleiche.)“ (Ebd., S. 1165Spengler).

„Als Sitz dieses Denkens wird die Stadt zum Geldmarkt (Geldplatz) und Wertmittelpunkt, und ein Strom von Geldwerten beginnt den Güterstrom zu durchdringen, zu durchgeistigen und zu beherrschen. Aber damit erhebt sich der Händler vom Organ zum Herrn des Wirtschaftslebens. Denken in Geld ist immer irgendwie kaufmännisches, »geschäftliches« Denken. Es setzt die erzeugende Wirtschaft des Landes voraus und ist deshalb zunächst immer erobernd, denn es gibt nichts Drittes. Die Worte Erwerb, Gewinn, Spekulation deuten auf einen Vorteil, welcher den zum Verbraucher wandernden Dingen unterwegs abgelistet wird, auf intellektuelle Beute, und sind deshalb auf das frühe Bauerntum, nicht anwendbar. Man muß sich ganz in den Geist und Wirtschaftsblick des echten Städters versetzen. Er arbeitet nicht für den Bedarf, sondern für den Verkauf, »für Geld«.“ (Ebd., S. 1165Spengler).

„Die geschäftliche Auffassung durchdringt allmählich jede Art von Tätigkeit. Mit dem Güterverkehr innerlich verbunden war der ländliche Mensch Geber und Nehmer zugleich; auch der Händler auf dem frühen Markte macht kaum eine Ausnahme. Mit dem Geldverkehr erscheint zwischen Erzeuger und Verbraucher wie zwischen zwei getrennten Welten »der Dritte«, dessen Denken das Geschäftsleben alsbald beherrscht. Er zwingt den ersten zum Angebot, den zweiten zur Nachfrage an ihn; er erhebt die Vermittlung zum Monopol und dann zur Hauptsache im Wirtschaftsleben, und zwingt die beiden andern, in seinem Interesse in Form zu sein, die Ware nach seiner Berechnung herzustellen und unter dem Druck seiner Angebote abzunehmen.“ (Ebd., S. 1165Spengler).

„Wer dieses Denken beherrscht, ist Meister des Geldes. (Bis zu den modernen Piraten des Geldmarktes, welche die Vermittlung vermitteln und mit der Ware »Geld« ein Glücksspiel treiben, wie es Zola in seinem berühmten Roman beschrieben hat.) Die Entwicklung geht in allen Kulturen diesen Weg. Lysias stellt in seiner Rede gegen die Getreidehändler fest, daß die Spekulanten im Piräus manchmal das Gerücht verbreiteten, eine Getreideflotte sei gescheitert oder ein Krieg ausgebrochen, um eine einträgliche Panik hervorzurufen. In hellenistisch-römischer Zeit war es eine verbreitete Sitte, auf Verabredung den Anbau zu beschränken oder die Einfuhr stocken zu lassen, um die Preise hinaufzutreiben. In Ägypten machte das dem abendländischen Bankverkehr vollkommen ebenbürtige Girowesen des Neuen Reiches (vgl. Friedrich Preisigke, Girowesen im griechischen Ägypten, 1910; die damaligen Verkehrsformen standen schon unter der 18. Dynastie auf gleicher Höhe) Getreidecorner amerikanischen Stils möglich. Kleomenes, der Finanzverwalter Alexanders des Großen für Ägypten, konnte durch Buchkäufe den gesamten Getreidevorrat in seine Hand bringen, was eine Hungersnot weithin in Griechenland hervorrief und ungeheuren Gewinn abwarf. Wer wirtschaftlich anders denkt, sinkt damit zum bloßen Objekt großstädtischer Geldwirkungen herab. Dieser Stil ergreift bald das Wachsein der gesamten Stadtbevölkerung und damit aller, welche für die Lenkung der Wirtschaftsgeschichte ernsthaft in Betracht kommen. Bauer und Bürger bedeutet nicht nur den Unterschied von Land und Stadt, sondern auch den von Gut und Geld. Die prunkvolle Kultur der homerischen und provenzalischen Fürstenhöfe ist etwas, das mit dem Menschen gewachsen und verwachsen ist wie heute noch vielfach das Leben auf den Landsitzen alter Familien; die feinere Kultur des Bürgertums, der »Komfort«, ist etwas von außen Kommendes, das bezahlt werden kann. (Es steht mit dem bürgerlichen Ideal der Freiheit nicht anders. In der Theorie und also auch in Verfassungen mag man grundsätzlich frei sein. Im wirklichen Privatleben der Städte ist man unabhängig nur durch das Geld..) Alle hochentwickelte Wirtschaft ist Stadtwirtschaft. Die Weltwirtschaft, diejenige aller Zivilisationen, sollte man Weltstadtwirtschaft nennen. Die Schicksale auch der Wirtschaft entscheiden sich nur noch an wenigen Punkten, den Geldplätzen (die man auch in den übrigen Kulturen Börsenplätze nennen kann, wenn man unter Börse das Denkorgan einer vollendeten Geldwirtschaft versteht), in Babylon, Theben, Rom, in Byzanz und Bagdad, in London, New York, Berlin und Paris. Der Rest ist Provinzwirtschaft, die ihre Kreise dürftig im Kleinen zieht, ohne sich des vollen Umfangs ihrer Abhängigkeit bewußt zu sein. Geld ist zuletzt die Form von geistiger Energie, in welcher der Herrscherwille, die politische, soziale, technische, gedankliche Gestaltungskraft, die Sehnsucht nach einem Leben von großem Zuschnitt zusammengefaßt sind. Shaw hat vollkommen recht: »Die allgemeine Achtung vor dem Gelde ist die einzige hoffnungsvolle Tatsache in unserer Zivilisation ... Geld und Leben sind unzertrennlich ... Geld ist das Leben.« (Vorwort zu »Major Barbara«.) Zivilisation bezeichnet also die Stufe einer Kultur, auf welcher Tradition und Persönlichkeit ihre unmittelbare Geltung verloren haben und jede Idee zunächst in Geld umgedacht werden muß, um verwirklicht zu werden. Am Anfang war man begütert, weil man mächtig war. Jetzt ist man mächtig, weil man Geld hat. Erst das Geld erhebt den Geist auf den Thron. Demokratie ist die vollendete Gleichsetzung von Geld und politischer Macht.“ (Ebd., S. 1166-1167Spengler).

„Es geht ein Verzweiflungskampf durch die Wirtschaftsgeschichte jeder Kultur, den die im Boden wurzelnde Tradition einer Rasse, ihre Seele, gegen den Geist des Geldes führt. Die Bauernkriege zu Beginn einer Spätzeit – in der Antike 700–500, bei uns 1450–1650, in Ägypten am Ausgang des Alten Reiches – sind die erste Auflehnung des Blutes gegen das Geld, das von den mächtig werdenden Städten her seine Hand nach dem Boden ausstreckt. (Vgl. S. 984.) Die Warnung des Freiherrn vom Stein: »Wer den Boden mobilisiert, löst ihn in Staub auf«, deutet auf eine Gefahr jeder Kultur; kann das Geld den Besitz nicht angreifen, so dringt es in das bäuerliche und adlige Denken selbst ein; der ererbte, mit dem Geschlecht verwachsene Besitz erscheint dann als Vermögen, das in Grund und Boden nur angelegt und an und für sich beweglich ist. (Der »Farmer« ist der Mensch, den nur noch praktische Beziehung mit einem Stück Land verbindet.) Das Geld erstrebt die Mobilisierung aller Dinge. Weltwirtschaft ist die zur Tatsache gewordene Wirtschaft in abstrakten, vom Boden völlig fortgedachten, verflüssigten Werten. (Die zunehmende Intensität dieses Denkens erscheint im Wirtschaftsbilde als Wachstum der vorhandenen Geldmasse, die als etwas ganz abstraktes und eingebildetes mit dem sichtbaren Vorrat von Gold als einer Ware gar nichts zu tun hat. Die »Versteifung des Geldmarktes« z.B. ist ein rein geistiger Vorgang, der sich in den Köpfen einer ganz kleinen Zahl von Menschen abspielt. Die steigende Energie des Gelddenkens erweckt deshalb in allen Kulturen das Gefühl, daß der »Geldwert sinkt«, in gewaltigem Maße z.B. von Solon bis Alexander, nämlich im Verhältnis zur Rechnungseinheit. In Wirklichkeit sind die geschäftlichen Werteinheiten etwas Künstliches geworden und mit den erlebten Urwerten der bäuerlichen Wirtschaft gar nicht mehr vergleichbar. Es ist zuletzt gleichgültig, mit was für Zahlen beim attischen Bundesschatz auf Delos (454), bei den karthagischen Friedensschlüssen (241, 201) und dann bei der Beute des Pompejus (64) gerechnet wird und ob wir in einigen Jahrzehnten von den um 1850 noch unbekannten und uns heute ganz geläufigen Milliarden zu Billionen übergehen werden. Es fehlt an jedem Maßstab, um etwa den Wert eines Talents in den Jahren 430 und 30 zu vergleichen, denn das Gold wie das Vieh und Getreide haben nicht nur ihren Ziffernwert, sondern auch ihre Bedeutung innerhalb der vorschreitenden Stadtwirtschaft fortgesetzt verändert. Es bleibt nur die Tatsache, daß die Geldmenge, welche mit dem Bestand an Wertzeichen und Zahlungsmitteln nicht verwechselt werden darf, ein alter ego des Denkens ist.) Das antike Gelddenken hat seit den Tagen Hannibals ganze Städte in Münze, ganze Völkerschaften in Sklaven verwandelt und damit in Geld, das sich von allen Seiten nach Rom bewegt, um dort als Macht zu wirken. Das faustische Gelddenken »erschließt« ganze Kontinente, die Wasserkräfte riesenhafter Stromgebiete, die Muskelkraft der Bevölkerung weiter Landschaften, Kohlenlager, Urwälder, Naturgesetze und wandelt sie in finanzielle Energie um, die irgendwo in Gestalt der Presse, der Wahlen, der Budgets und Heere angesetzt wird, um Herrscherpläne zu verwirklichen. Immer neue Werte werden aus dem geschäftlich noch indifferenten Weltbestand abgezogen, »des Goldes schlummernde Geister«, wie John Gabriel Borkman sagt; was die Dinge abgesehen davon noch sind, kommt wirtschaftlich nicht in Betracht.“ (Ebd., S. 1167-1168Spengler).

„Jede Kultur besitzt, wie ihre eigne Art in Geld zu denken, so auch ihr eignes Symbol des Geldes, durch das sie ihr Prinzip der Wertung im Wirtschaftsbilde sichtbar zum Ausdruck bringt. Dies Etwas, eine Versinnlichung des Gedachten, steht den für Ohr und Auge gesprochenen, geschriebenen, gezeichneten Ziffern, Figuren und andern[1168] Symbolen der Mathematik an Bedeutung völlig gleich, ein tiefes und reiches Gebiet, das noch fast unerforscht daliegt. Nicht einmal die Grundfragen sind richtig gestellt worden. Es ist deshalb heute noch ganz unmöglich, die Geldidee zu umschreiben, welche dem ägyptischen Naturalien- und Geldgiroverkehr, dem babylonischen Bankwesen, der chinesischen Buchführung und dem Kapitalismus der Juden, Parsen, Griechen, Araber seit Harun al Raschid zugrunde liegt. Möglich ist nur eine Gegenüberstellung des apollinischen und faustischen Geldes, des Geldes als Größe und des Geldes als Funktion. (Zum folgenden vgl. Kapitel I, S. 71 ff..)“ (Ebd., S. 1168-1169Spengler).

„Dem antiken Menschen erscheint auch wirtschaftlich die Umwelt als Summe von Körpern, die ihren Ort wechseln, wandern, sich drängen, stoßen, vernichten, so wie es Demokrit von der Natur beschreibt. Der Mensch ist Körper unter Körpern. Die Polis ist als Summe davon ein Körper höherer Ordnung. Der gesamte Lebensbedarf besteht aus körperlichen Größen. Also stellt auch ein Körper das Geld dar, so wie eine Apollostatue die Gottheit darstellt. Um 650 ist, gleichzeitig mit dem Steinkörper des dorischen Tempels und der allseitig frei durchgebildeten Statue auch die Münze entstanden, ein Metallgewicht von schön geprägter Form. Der Wert als Größe war längst vorhanden und ist so alt wie diese Kultur überhaupt. Bei Homer wird unter Talent eine kleine Menge goldener Geräte und Schmucksachen von bestimmtem Gesamtgewicht verstanden. Auf dem Schilde des Achill sind »zwei Talente« abgebildet, und noch zur Römerzeit war die Gewichtsangabe auf Silber- und Goldgefäßen allgemein üblich.“ (Ebd., S. 1169Spengler).

„Die Erfindung des klassisch geformten Geldkörpers aber ist so außerordentlich, daß wir seine tiefe, rein antike Bedeutung noch gar nicht begriffen haben. Wir halten ihn für eine jener berühmten »Errungenschaften der Menschheit«. Allenthalben werden seitdem Münzen geprägt, so wie überall Statuen auf Straßen und Plätzen herumstehen. So weit reicht unsere Macht. Wir können die Gestalt nachahmen, aber ihr die gleiche wirtschaftliche Bedeutung geben können wir nicht. Die Münze als Geld ist eine rein antike Erscheinung und nur in einer ganz euklidisch gedachten Umgebung möglich; hier hat sie aber auch das gesamte Wirtschaftsleben gestaltend beherrscht. Begriffe wie Einkommen, Vermögen, Schuld, Kapital bedeuten in antiken Städten etwas ganz anderes als bei uns, weil nicht wirtschaftliche Energie damit gemeint ist, die von einem Punkte ausstrahlt, sondern eine Summe von Wertgegenständen, die sich in einer Hand befinden. Vermögen ist immer ein beweglicher Barvorrat, der durch Addition und Subtraktion von Wertsachen verändert wird und mit Grundbesitz gar nichts zu tun hat. Beide sind im antiken Denken völlig getrennt. Kredit besteht im Leihen von Bargeld in der Erwartung, daß es als solches wieder zurückgegeben werden kann. Catilina war arm, weil er trotz seiner großen Güter (vgl. Sallust, Catilina, 35, 3) niemand fand, der ihm zu politischen Zwecken Bargeld anvertraute, und die ungeheuren Schulden römischer Politiker (vgl. S. 1134) haben nicht einen entsprechenden Grundbesitz zur Unterlage, sondern die bestimmte Aussicht auf eine Provinz, deren bewegliche Sachwerte ausgebeutet werden konnten. (Wie schwer es dem antiken Menschen war, sich den Umsatz einer körperlich nicht allseitig abgegrenzten Sache wie Grund und Boden in körperliches Geld vorzustellen, zeigen die Steinpfähle (oroi) auf griechischen Grundstücken, welche die Hypothek darstellen sollten, und der römische Kauf per aes et libram, wobei gegen eine Münze eine Erdscholle vor Zeugen überreicht wurde. Einen wirklichen Güterhandel hat es infolgedessen nie gegeben, und ebensowenig etwas wie Tagespreise für Ackerland. Ein regelmäßiges Verhältnis zwischen Bodenwert und Geldwert ist im antiken Denken ebenso unmöglich wie ein solches zwischen Kunstwert und Geldwert. Geistige, also unkörperliche Erzeugnisse wie Dramen oder Fresken besaßen wirtschaftlich überhaupt keinen Wert. Über den antiken Rechtsbegriff der Sache vgl. S. 653.) Erst das Denken in körperlichem Geld macht eine Reihe von Erscheinungen begreiflich: die Massenhinrichtung von Reichen unter der zweiten Tyrannis und die römischen Proskriptionen, um einen größeren Teil der umlaufenden Bargeldmasse in die Hand zu bekommen, das Einschmelzen der delphischen Tempelschätze durch die Phoker im Heiligen Kriege, der Kunstschätze von Korinth durch Mummius, der letzten römischen Weihgeschenke durch Cäsar, der griechischen durch Sulla, der kleinasiatischen durch Brutus und Cassius, ohne Rücksicht auf den Kunstwert, weil man die edlen Stoffe, Metalle und Elfenbein, brauchte. (Schon zur Zeit des Augustus kann von den antiken Kunstwerken aus Edelmetall und Bronze nicht viel übrig gewesen sein. Selbst der gebildete Athener dachte viel zu unhistorisch, um eine Statue aus Gold und Elfenbein nur deshalb zu schonen, weil sie von Phidias war. Man erinnere sich, daß an dessen berühmter Athenefigur die Goldteile abnehmbar angefertigt waren und von Zeit zu Zeit nachgewogen wurden. Die wirtschaftliche Verwendung war also von vornherein ins Auge gefaßt.) Was bei den Triumphen an Statuen und Gefäßen aufgeführt wurde, war in den Augen der Zuschauer bares Geld, und Mommsen konnte den Versuch machen (vgl. Ges. Schriften, IV, 200 ff.), den Ort der Varusschlacht nach Münzfunden zu bestimmen, weil der römische Veteran sein ganzes Vermögen in Edelmetall auf dem Körper trug. Antiker Reichtum ist kein Guthaben, sondern ein Geldhaufen; ein antiker Geldplatz ist nicht Mittelpunkt des Kredits wie die heutigen Börsenplätze und das ägyptische Theben, sondern eine Stadt, in welcher sich ein erheblicher Teil des Bargeldbestandes der Welt gesammelt hat. Man darf annehmen, daß zur Zeit Cäsars weit über die Hälfte des antiken Goldes sich jederzeit in Rom befand.“ (Ebd., S. 1169-1171Spengler).

„Aber als diese Welt in das Zeitalter der unbedingten Geldherrschaft getreten war, etwa seit Hannibal, reichte die natürlich begrenzte Masse von Edelmetall und stofflich wertvollen Kunstwerken innerhalb ihres Machtgebietes nicht mehr aus, um den Bedarf an Barmitteln zu decken, und es entstand ein wahrer Heißhunger nach neuen geldfähigen Körpern. Da fiel der Blick auf den Sklaven, der eine andere Art von Körper, aber nicht Person sondern Sache war (vgl. S. 625) und deshalb als Geld gedacht werden konnte. Erst von da an wird der antike Sklave etwas Einzigartiges in der gesamten Wirtschaftsgeschichte. Die Eigenschaften der Münze haben sich auf lebendige Objekte ausgedehnt, und damit tritt neben den Metallbestand der durch die Plünderungen von Statthaltern und Steuerpächtern wirtschaftlich »erschlossenen« Gebiete deren Menschenbestand. Es entwickelt sich eine bizarre Art von Doppelwährung. Der Sklave hat einen Kurs, was vom Grund und Boden nicht gilt. Er dient zur Anhäufung großer Barvermögen, und erst infolge davon erscheinen jene ungeheuren Sklavenmassen der Römerzeit, die aus einem andern Bedarf gar nicht zu erklären sind. Solange man nur soviel Sklaven hielt, als man gewerblich brauchte, war ihre Zahl gering und aus Kriegsbeute und Schuldknechtschaft leicht zu decken. (Der Glaube, daß die Sklaven selbst in Athen oder Ägina jemals auch nur ein Drittel der Bevölkerung ausgemacht hätten, ist vollkommen sinnlos. Die Revolutionen seit 400 [vgl. S. 1066] setzen im Gegenteil eine gewaltige Überzahl der freien Armen voraus.) Erst im 6. Jahrhundert hat Chios mit der Einfuhr gekaufter Sklaven (Argyroneten) den Anfang gemacht. Ihr Unterschied gegen die viel zahlreicheren Lohnarbeiter war zunächst politisch-rechtlicher und nicht wirtschaftlicher Natur. Da die antike Wirtschaft statisch und nicht dynamisch ist und die planmäßige Erschließung von Energiequellen nicht kennt, so waren die Sklaven der Römerzeit nicht da, um ausgebeutet zu werden, sondern sie wurden beschäftigt, so gut es ging, um in möglichst großer Zahl gehalten werden zu können. Man bevorzugte Prunksklaven, die sich auf irgend etwas verstanden, weil sie bei gleichem Unterhalt einen höheren Wert darstellten; man vermietete sie, wie man bares Geld auslieh; man ließ sie Geschäfte auf eigene Rechnung treiben, so daß sie reich werden konnten (vgl. S. 1160); man unterbot mit ihnen die freie Arbeit, alles nur, um wenigstens die Erhaltungskosten dieses Kapitals zu decken. (Das ist der Gegensatz zur Negersklaverei unserer Barockzeit, die eine Vorstufe der Maschinenindustrie darstellt: eine Organisation von »lebendiger« Energie, bei welcher man vom Menschen endlich zur Kohle überging, und das erste erst dann als unmoralisch empfand, als das zweite eingebürgert war. Von dieser Seite betrachtet, bedeutet der Sieg des Nordens im amerikanischen Bürgerkrieg (1865) den wirtschaftlichen Sieg der konzentrierten Energie der Kohle über die einfache Energie der Muskeln.) Die Mehrzahl konnte gar nicht voll beschäftigt werden. Sie erfüllten ihren Zweck, indem sie einfach da waren, als ein Geldvorrat, den man zur Hand hatte und dessen Umfang nicht an die natürlichen Grenzen der damals vorhandenen Goldmenge gebunden war. Und damit stieg allerdings der Sklavenbedarf ins Ungemessene und führte über Kriege, die nur der Sklavenbeute wegen unternommen wurden, hinaus zu Sklavenjagden von Privatunternehmern längs allen Küsten des Mittelmeeres, die von Rom geduldet wurden, und zu einer neuen Art, Vermögen zu machen, indem man als Statthalter die Bevölkerung ganzer Landstriche aussog und dann in die Schuldknechtschaft verkaufte. Auf dem Markt von Delos sollen an einem Tage zehntausend Sklaven verkauft worden sein. Als Cäsar nach Britannien ging, wurde die Enttäuschung in Rom über die Goldarmut des Volkes durch die Aussichten auf reiche Sklavenbeute aufgewogen. Für antikes Denken war es ein und dieselbe Operation, wenn etwa bei der Zerstörung von Korinth die Statuen ausgemünzt und die Einwohner auf den Sklavenmarkt gebracht wurden: in beiden Fällen hatte man körperliche Gegenstände in Geld verwandelt. Den äußersten Gegensatz dazu bildet das Symbol des faustischen Geldes, des Geldes als Funktion, als Kraft, dessen Wert in seiner Wirkung, nicht in seinem bloßen Dasein liegt. Der neue Stil dieses Wirtschaftsdenkens erscheint schon in der Art, wie die Normannen um 1000 ihre Beute an Land und Leuten zu einer wirtschaftlichen Macht organisierten. (Vgl. S. 1019 f.. Die Verwandtschaft mit der ägyptischen Verwaltung des Alten Reiches und der chinesischen der frühesten Dschouzeit ist unverkennbar.) Man vergleiche den reinen Buchwert im Rechnungswesen ihrer Herzöge, aus dem die Worte Scheck, Konto und Kontrolle stammen (die clerici in diesen Rechnungskammern sind das Urbild der modernen Bankbeamten [engl. clerk]), mit den gleichzeitigen »Talenten Goldes« der Ilias, und man erhält gleich am Anfang den Begriff des modernen Kredits, der aus dem Vertrauen auf die Kraft und Dauer einer Wirtschaftsführung hervorgeht und mit der Idee unseres Geldes beinahe identisch ist. Diese durch Roger II. auf das sizilische Normannenreich übertragene Finanzmethode hat der Hohenstaufe Friedrich II. um 1230 zu einem gewaltigen System ausgebaut, das in seiner Dynamik weit über das Vorbild hinausging und ihn »zur ersten Kapitalkraft der Welt« machte. (Hampe, Deutsche Kaisergeschichte, S. 246. Leonardo Pisano, dessen Liber Abaci (1202) für das kaufmännische Rechnen weit über die Renaissance hinaus maßgebend war, und der außer dem arabischen Ziffernsystem auch die negativen Zahlen als Debitum eingeführt hat, wurde von dem großen Hohenstaufen gefördert.) Und während diese Verschwisterung von mathematischer Denkkraft und königlichem Machtwillen von der Normandie nach Frankreich eindrang und 1066 auf das erbeutete England in großartigem Maßstab angewandt wurde – der englische Boden ist heute noch dem Namen nach königliche Domäne –, wurde sie in Sizilien von den italienischen Städterepubliken nachgeahmt, deren regierende Patrizier sie bald vom Gemeindehaushalt auf ihre eigenen Handelsbücher und damit auf das kaufmännische Denken und Rechnen der ganzen abendländischen Welt übertrugen. Wenig später wurde die sizilische Praxis auch vom Deutschritterorden und der aragonischen Dynastie übernommen, worauf sich vielleicht das mustergültige Rechnungswesen Spaniens unter Philipp II. und Preußens unter Friedrich Wilhelm I. zurückführen läßt.“ (Ebd., S. 1171-1174Spengler).

„Entscheidend aber wurde, »gleichzeitig« mit der Erfindung der antiken Münze um 650, die der doppelten Buchführung durch Fra Luca Pacioli (1494). »Es ist eine der schönsten Erfindungen des menschlichen Geistes«, heißt es in Goethes Wilhelm Meister. In der Tat darf sich ihr Urheber seinen Zeitgenossen Kolumbus und Kopernikus ohne Scheu zur Seite stellen. Den Normannen verdanken wir die Kontenrechnung, den Lombarden diese Buchführung. Es sind die germanischen Stämme, welche die beiden verheißungsvollsten Rechtswerke der frühen Gotik geschaffen haben (cgl. S. 645 f.) und von deren Sehnsucht nach fernen Meeren die beiden Entdeckungen Amerikas ihren Anstoß erhielten. »Die doppelte Buchhaltung ist aus demselben Geiste geboren wie die Systeme Galileis und Newtons. .... Mit denselben Mitteln wie diese ordnet sie die Erscheinungen zu einem kunstvollen System, und man kann sie als den ersten auf dem Grundsatz des mechanischen Denkens aufgebauten Kosmos bezeichnen. Die doppelte Buchhaltung erschließt uns den Kosmos der wirtschaftlichen Welt nach derselben Methode wie später die großen Naturforscher den Kosmos der Sternenwelt .... Die doppelte Buchhaltung ruht auf dem folgerichtig durchgeführten Grundgedanken, alle Erscheinungen nur als Quantitäten zu erfassen.« (Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, II, S. 119.)“ (Ebd., S. 1174Spengler).

Die doppelte Buchführung ist eine reine Analysis des Wertraums, bezogen auf ein Koordinatensystem, dessen Anfangspunkt »die Firma« ist. Die antike Münze hatte nur ein arithmetisches Rechnen mit Wertgrößen gestattet. Wiederum stehen sich Pythagoras und Descartes gegenüber. Man darf von der Integration eines Unternehmens sprechen, und die graphische Kurve ist in der Wirtschaft wie der Wissenschaft das gleiche optische Hilfsmittel. Die antike Wirtschaftswelt gliedert sich wie der Kosmos Demokrits nach Stoff und Form. Ein Stoff in der Form der Münze ist Träger der wirtschaftlichen Bewegung und drängt die Bedarfsgrößen von gleichem Wertquantum an den Ort ihrer Verwendung. Unsere Wirtschaftswelt gliedert sich nach Kraft und Masse. Ein Kraftfeld von Geldspannungen liegt im Räume und erteilt jedem Objekt, unter Absehen von dessen besonderer Art, einen positiven oder negativen Wirkungswert (eng verwandt mit unserm Bilde vom Wesen der Elektrizität ist der Vorgang des Clearing, bei dem der positive oder negative Geldstand mehrerer Firmen (Spannungszentren) untereinander durch einen reinen Denkakt ausgeglichen und der wahre Stand durch eine Buchung versinnbildlicht wird; vgl. Band I, Kapitel VI, S. 482 ff.), der durch einen Bucheintrag dargestellt wird. »Quod non est in libris, non est in mundo.« Aber das Sinnbild des hier gedachten funktionalen Geldes, das was allein mit der antiken Münze verglichen werden darf, ist nicht der Buchvermerk und auch nicht der Wechsel, Scheck oder die Banknote, sondern der Akt, durch welchen die Funktion schriftlich vollzogen wird und als dessen bloßes geschichtliches Zeugnis das Wertpapier im weitesten Sinne zu gelten hat.“ (Ebd., S. 1174-1175Spengler).

„Aber daneben hat das Abendland in starrer Bewunderung der Antike Münzen geprägt, nicht nur als Hoheitszeichen, sondern in dem Glauben, daß das bewiesenes Geld sei, dem Wirtschaftsdenken wirklich entsprechendes Geld. Ganz ebenso ist schon in gotischer Zeit das römische Recht übernommen worden mit seiner Gleichsetzung von Sache und körperlicher Größe, und die euklidische Mathematik, die auf dem Begriff der Zahl als Größe aufgebaut war. So kam es, daß die Entwicklung dieser drei geistigen Formenwelten sich nicht wie die der faustischen Musik in rein aufblühender Entfaltung vollzog, sondern in Gestalt einer fortschreitenden Emanzipation vom Größenbegriff. Die Mathematik ist bereits mit dem Ausgang des Barock zum Ziele gelangt. (Vgl. Band I., Kapitel I, S. 71 ff..) Die Rechtswissenschaft hat ihre eigentliche Aufgabe bis jetzt noch nicht einmal erkannt (vgl. S. 655), aber sie ist diesem Jahrhundert gestellt, und zwar fordert sie, was für den römischen Juristen selbstverständlich war, die innere Kongruenz von Wirtschaftsdenken und Rechtsdenken und die gleiche Vertrautheit mit beiden. Der durch die Münze symbolisierte Geldbegriff deckt sich vollkommen mit dem Geist des antiken Sachenrechts; für uns ist das nicht im entferntesten der Fall. Unser gesamtes Leben ist dynamisch angelegt, nicht statisch und stoisch; deshalb sind Kräfte, Leistungen, Beziehungen, Fähigkeiten – Organisationstalent, Erfindergeist, Kredit, Ideen, Methoden, Energiequellen – das Wesentliche, und nicht das bloße Dasein körperlicher Sachen. Das »römische« Sachdenken unsrer Juristen ist deshalb ebenso lebensfremd wie eine Geldtheorie, die bewußt oder unbewußt vom Geldstück ausgeht. Der gewaltige Münzbestand, der in Nachahmung der Antike bis zum Ausbruch des Weltkriegs stets vermehrt worden ist, hat sich zwar eine Rolle abseits vom Wege geschaffen, aber mit der inneren Form der modernen Wirtschaft, ihren Aufgaben und Zielen hat er nichts zu tun, und sollte er infolge des Krieges endgültig aus dem Verkehr verschwinden, so würde damit nichts verändert sein. (Der Kredit eines Landes beruht in unsrer Kultur auf seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und deren politischer Organisation, welche den Finanzoperationen und Buchungen den Charakter wirklicher Geldschöpfungen gibt, und nicht auf einer irgendwo eingelagerten Goldmenge. Erst der antikisierende Aberglaube erhebt die Goldreserve zum wirklichen Kreditmesser, weil ihre Höhe nun nicht mehr vom Wollen, sondern vom Können abhängt. Die umlaufenden Münzen aber sind eine Ware, die im Verhältnis zum Landeskredit einen Kurs besitzt – je schlechter der Kredit, desto höher steht das Gold, bis zu dem Punkte, wo es unbezahlbar wird und aus dem Verkehr verschwindet, so daß man es nur noch gegen andere Waren erhalten kann; das Gold wird also wie jede Ware an der buchmäßigen Rechnungseinheit gemessen, nicht umgekehrt, wie es das Wort Goldwährung andeutet – und bei kleinen Zahlungen als Mittel dient, wie gelegentlich die Briefmarke auch. In Ägypten, dessen Gelddenken dem abendländischen erstaunlich ähnlich ist, hat es auch im Neuen Reiche nichts der Münze irgendwie Ähnliches gegeben. Die schriftliche Überweisung genügte vollkommen, und von 650 an bis zur Hellenisierung durch die Gründung von Alexandria wurden die ins Land kommenden antiken Münzen in der Regel zerhackt und als Ware nach Gewicht verrechnet.)“ (Ebd., S. 1175-1176Spengler).

„Unglücklicherweise entstand die moderne Nationalökonomie im Zeitalter des Klassizismus, wo nicht nur Statuen, Vasen und steife Dramen als die allein wahre Kunst galten, sondern auch schön geprägte Münzen als das allein wahre Geld. Was Wedgwood seit 1768 mit seinen zartgetönten Reliefs und Tassen, das erstrebte im Grunde Adam Smith eben damals mit seiner Werttheorie: die reine Gegenwart greifbarer Größen. Denn es entpricht durchaus der Verwechslung von Geld und Geldstück, wenn der Wert einer Sache an der Größe einer Arbeitsmenge gemessen wird. Da ist »Arbeit« nicht mehr ein Wirken innerhalb einer Welt von Wirkungen, das Arbeiten, das dem inneren Range, der Intensität und der Tragweite nach unendlich verschieden ist, in immer weiteren Kreisen fortwirkt und wie ein elektrisches Kraftfeld gemessen, aber nicht abgegrenzt werden kann, sondern das ganz stofflich vorgestellte Resultat davon, das Gearbeitete, ein greifbares Etwas, an dem nichts bemerkenswert erscheint als eben der Umfang.“ (Ebd., S. 1176-1177Spengler).

„Aber die Wirtschaft der europäisch-amerikanischen Zivilisation ist ganz im Gegenteil auf einer Arbeit aufgebaut, die einzig durch ihren inneren Rang gekennzeichnet ist, mehr als jemals in China und Ägypten, um von der Antike zu schweigen. Wir leben nicht umsonst in einer Welt wirtschaftlicher Dynamik: die Arbeit der Einzelnen wird nicht euklidisch addiert, sondern steht in funktionaler Beziehung zueinander. Die lediglich ausführende Arbeit, von der Marx allein Kenntnis nimmt, ist nichts als die Funktion einer erfindenden, anordnenden, organisierenden Arbeit, die der andern erst Sinn, relativen Wert und die Möglichkeiten gibt, überhaupt getan zu werden. Die ganze Weltwirtschaft seit Erfindung der Dampfmaschine ist die Schöpfung einer ganz kleinen Zahl überlegener Köpfe, ohne deren hochwertige Arbeit alles andere nicht da wäre, aber diese Leistung ist schöpferisches Denken und kein »Quantum« (und für unser Sachenrecht also bis jetzt nicht vorhanden), und ihr Gegenwert besteht also auch nicht in einer Anzahl von Geldstücken, sondern sie ist Geld, faustisches Geld nämlich, das nicht geprägt, sondern als Wirkungszentrum gedacht wird aus einem Leben heraus, dessen innerer Rang den Gedanken zur Bedeutung einer Tatsache erhebt. Denken in Geld erzeugt Geld: das ist das Geheimnis der Weltwirtschaft. Wenn ein Organisator großen Stils eine Million auf ein Papier schreibt, so ist sie da, denn seine Persönlichkeit als Wirtschaftszentrum bürgt für eine entsprechende Erhöhung der Wirtschaftsenergie seines Gebietes. Das und nichts anderes bedeutet für uns das Wort Kredit. Aber alle Goldstücke der Welt würden nicht ausreichen, der Tätigkeit des Handarbeiters einen Sinn und damit Geldwert zu geben, wenn mit der berühmten »Expropriation der Expropriateure« die überlegenen Fähigkeiten aus ihren Schöpfungen beseitigt und diese damit entseelt, willenlos, zu leeren Gehäusen würden. Darin ist Marx Klassizist wie Adam Smith und ein echtes Produkt des römischen Rechtsdenkens: er sieht nur die fertige Größe, nicht die Funktion. Er möchte die Produktionsmittel von denen trennen, deren Geist durch Erfindung von Methoden, Organisation von leistungsfähigen Betrieben, Eroberung von Absatzgebieten aus einem Haufen Stahl und Mauerwerk erst eine Fabrik macht, und die ausbleiben, wenn ihre Kraft keinen Spielraum findet. (Gesetzt den Fall, daß Arbeiter die Führung der Werke übernehmen, so würde damit nichts geändert. Entweder sie können nichts: dann geht alles zugrunde; oder sie können etwas: dann werden sie innerlich selbst Unternehmer und denken nur noch an die Behauptung ihrer Macht. Keine Theorie schafft diese Tatsache aus der Welt; so ist das Leben.)“ (Ebd., S. 1177-1178Spengler).

„Wer eine Theorie der modernen Arbeit geben will, der denke an diesen Grundzug alles Lebens; es gibt Subjekte und Objekte jeder Art von Lebensführung, und der Unterschied ist um so ausgeprägter, je bedeutender, je formvoller das Leben ist. Jeder Strom von Dasein besteht aus einer Minderheit von Führern und einer gewaltigen Mehrheit von Geführten, jede Art von Wirtschaft also aus Führerarbeit und ausführender Arbeit. Aus der Froschperspektive von Marx und den sozialethischen Ideologen überhaupt wird nur die letzte, kleine, massenhafte sichtbar, aber sie ist nur vermöge der ersten da, und der Geist dieser Welt von Arbeit kann nur von den höchsten Möglichkeiten aus erfaßt werden. Der Erfinder der Dampfmaschine ist maßgebend, nicht der Heizer. Auf das Denken kommt es an.“ (Ebd., S. 1178Spengler).

„Und ebenso gibt es Subjekte und Objekte des Denkens in Geld: solche, die es kraft ihrer Persönlichkeit erzeugen und lenken, und solche, die von ihm erhalten werden. Das Geld faustischen Stils ist die aus der Wirtschaftsdynamik faustischen Stils abgezogene Kraft, und es gehört zum Schicksal des Einzelnen – zur Wirtschaftsseite seines Lebensschicksals –, ob er durch den inneren Rang seiner Persönlichkeit einen Teil dieser Kraft darstellt oder ihr gegenüber nichts als Masse ist.“ (Ebd., S. 1178-1179Spengler).

„Das Wort Kapital bezeichnet den Mittelpunkt dieses Denkens, nicht den Inbegriff dieser Werte, sondern das, was sie als solche in Bewegung hält. Kapitalismus gibt es erst mit dem weltstädtischen Dasein einer Zivilisation, und er beschränkt sich auf den ganz kleinen Kreis derer, welche dies Dasein durch ihre Person und Intelligenz darstellen. Der Gegensatz dazu ist Provinzwirtschaft. Erst die unbedingte Herrschaft der Geldmünze über das antike Leben, auch dessen politische Seite, erzeugt das statische Kapital, die aformh, den »Ausgangspunkt«, der durch sein Vorhandensein immer neue Massen von Dingen mit einer Art von Magnetismus an sich zieht. Erst die Herrschaft der Buchwerte, deren abstraktes System durch die doppelte Buchführung von der Persönlichkeit gleichsam abgelöst ist und mit eigener innerer Dynamik fortarbeitet, hat das moderne Kapital hervorgebracht, dessen Kraftfeld die Erde umspannt. (Erst seit 1770 also werden die Banken als Kreditmittelpunkte eine wirtschaftliche Macht, die auf dem Wiener Kongreß zum erstenmal in die Politik eingreift. Bis dahin besorgte der Bankier vorwiegend Wechselgeschäfte. Die chinesischen und selbst die ägyptischen Banken haben eine andere Bedeutung, und die antiken Banken auch im cäsarischen Rom sollte man besser Kassen nennen. Sie sammelten Steuererträge in Bargeld ein und liehen Bargeld gegen Wiedererstattung aus; so werden die Tempel mit ihrem Metallvorrat an Weihgeschenken zu »Banken«. Der Tempel von Delos lieh jahrhundertelang zu 10% aus.)“ (Ebd., S. 1179Spengler).

„Unter der Einwirkung des antiken Kapitals nimmt das Wirtschaftsleben die Form eines Goldstroms an, der von den Provinzen nach Rom und zurück fließt und der immer neue Gebiete sucht, deren Bestände an verarbeitetem Gold noch nicht »erschlossen« sind. Brutus und Cassius führten das Gold der kleinasiatischen Tempel in langen Maultierkolonnen auf das Schlachtfeld von Philippi – man begreift, was für eine Wirtschaftsoperation die Plünderung eines Lagers nach der Schlacht sein konnte –, und schon C. Gracchus wies darauf hin, daß die mit Wein gefüllten Amphoren, die von Rom in die Provinzen gingen, mit Gold gefüllt zurückkehrten. Dieser Zug nach dem Goldbesitz fremder Völker entspricht durchaus dem heutigen Zug zur Kohle, die im tieferen Sinn keine »Sache«, sondern ein Schatz von Energie ist.“ (Ebd., S. 1179-1180Spengler).

„Es entspricht aber auch dem antiken Hang zur Nähe und Gegenwart, wenn zum Ideal der Polis das Wirtschaftsideal der Autarkeia tritt. Der politischen Atomisierung der antiken Welt sollte die wirtschaftliche entsprechen. Jede dieser winzigen Lebenseinheiten wollte einen eignen und ganz in sich geschlossenen Wirtschaftsstrom haben, der unabhängig von allen andern, und zwar in Sehweite, kreiste. Den äußersten Gegensatz dazu bildet der abendländische Begriff der Firma, ein ganz unpersönlich und unkörperlich gedachtes Kraftzentrum, dessen Wirkung nach allen Seiten ins Unendliche ausstrahlt und das der »Inhaber« durch seine Fähigkeit, in Geld zu denken, nicht darstellt, sondern wie einen kleinen Kosmos besitzt und leitet, das heißt in seiner Gewalt hat. Diese Zweiheit von Firma und Inhaber wäre dem antiken Denken gänzlich unvorstellbar gewesen. (Der Begriff der Firma war schon in spätgotischer Zeit als ratio oder negotiatio ausgebildet und läßt sich durch kein Wort einer antiken Sprache wiedergeben. Negotium bezeichnet für den Römer einen konkreten Vorgang [»ein Geschäft machen«, nicht »haben«].)“ (Ebd., S. 1180Spengler).

„Deshalb bedeuten die abendländische und die antike Kultur ein Maximum und Minimum von Organisation, die dem antiken Menschen selbst als Begriff vollkommen gefehlt hat. Seine Finanzwirtschaft ist das zur Regel erhobene Provisorium: da werden reiche Bürger in Athen und Rom mit der Ausrüstung von Kriegsschiffen belastet; die politische Macht des römischen Ädils und seine Schulden beruhen darauf, daß er Spiele, Straßen und Gebäude nicht nur ausführt, sondern auch bezahlt, und sich später allerdings durch die Plünderung seiner Provinz wieder bezahlt machen durfte. An Einnahmequellen dachte man erst, wenn man sie brauchte, und man nahm sie ohne jedes Vorausdenken so in Anspruch, wie es der augenblickliche Bedarf forderte, auch wenn sie dadurch zerstört werden mußten. Plünderung der eignen Tempelschätze, Seeraub an Schiffen der eignen Stadt, Konfiskation von Vermögen der eignen Mitbürger waren alltägliche Finanzmethoden. Waren Überschüsse vorhanden, so wurden sie an die Bürger verteilt, ein Verfahren, dem z.B. Eubulos in Athen seinen Ruf verdankte. (Vgl. Robert von Pöhlmann, Griechische Geschichte, 1914, S. 216 f.) Es gab weder einen Etat noch etwas wie Wirtschaftspolitik. Die »Bewirtschaftung« der römischen Provinzen war ein öffentlicher und privater Raubbau, der von Senatoren und Geldleuten betrieben wurde ohne Rücksicht darauf, ob und wie die abgeführten Werte wieder ergänzt werden konnten. Der antike Mensch hat nie an eine planmäßige Steigerung des Wirtschaftslebens gedacht, nur an das augenblickliche Ergebnis, das erreichbare Quantum von barem Geld. Ohne das alte Ägypten wäre das kaiserliche Rom verloren gewesen: hier lag zum Glück eine Zivilisation, die seit einem Jahrtausend an nichts gedacht hatte als an die Organisation ihrer Wirtschaft. Der Römer verstand weder diesen Lebensstil noch konnte er ihn nachahmen (vgl. Alfred Gercke / Eduard Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft, III, S. 291.), aber der Zufall, daß hier eine unerschöpfliche Quelle von Geld für den floß, welcher die politische Macht über diese Fellachenwelt besaß, hat die Erhebung der Proskriptionen zu einer Sitte unnötig gemacht. Die letzte dieser Finanzoperationen in Gestalt einer Schlächterei war die vom Jahre 43, kurze Zeit vor der Einverleibung Ägyptens. (Vgl. Kromayer in Hartmanns Röm. Gesch., S. 150.) Die Goldmasse, welche Brutus und Cassius damals aus Asien heranführten und die ein Heer und damit die Weltherrschaft bedeutete, machte die Ächtung der 2000 reichsten Bewohner Italiens nötig, deren Köpfe um der ausgesetzten Belohnung willen in Säcken auf das Forum geschleppt wurden. Man war nicht mehr in der Lage, die eignen Verwandten, Kinder und Greise, Leute, die sich nie mit Politik befaßt hatten, zu schonen, wenn sie einen Schatz an barem Gelde besaßen. Das Ergebnis wäre zu gering geworden.“ (Ebd., S. 1180-1181Spengler).

„Aber mit dem Hinschwinden des antiken Weltgefühls in der frühen Kaiserzeit erlischt auch diese Art des Denkens in Geld. Die Geldmünzen werden wieder zu Gütern, weil der Mensch wieder bäuerlich lebt (*), und so erklärt sich das ungeheure Abströmen des Goldes seit Hadrian in den fernen Osten, für das man bis jetzt keine Erklärung fand. (* Die Juden dieser Zeit waren die Römer[vgl S. 951 f.). Dagegen sind die Juden damals Bauern, Handwerker, kleine Gewerbetreibende [vgl. ... Mommsen, Röm. Gesch. V, S. 471), d.h. sie üben die Berufe aus, welche in gotischer Zeit das Objekt ihrer Handelsgeschäfte geworden wären. In derselben Lage befinden sich heute »Europa« gegenüber die Russen, deren ganz mystisches Innenleben das Denken in Geld als Sünde empfindet. [Der Pilger in Gorkis Nachtasyl und die ganze Gedankenwelt Tolstois; vgl. S. 792, 898]. Hier liegen heute wie in Syrien zur Zeit Jesu zwei Wirtschaftswelten übereinander [vgl. S. 788 ff.], eine obere, fremde, zivilisierte, die von Westen eingedrungen ist und zu der als Hefe der ganz abendländische und unrussische Bolschewismus der ersten Jahre gehört, und eine stadtlose, nur unter Gütern lebende in der Tiefe, die nicht rechnet, sondern ihren unmittelbaren Bedarf eintauschen möchte. Man muß die Schlagworte der Oberfläche als eine Stimme auffassen, aus welcher der ganz mit seiner Seele beschäftigte einfache Russe den Willen Gottes heraushört. Der Marxismus unter Russen beruht auf einem inbrünstigen Mißverständnis. Man hat das höhere Wirtschaftsleben des Petrinismus ertragen, aber weder geschaffen noch anerkannt. Der Russe bekämpft das Kapital nicht, sondern er begreift es nicht. Wer Dostojewski zu lesen versteht, wird hier eine junge Menschheit ahnen, für die es noch gar kein Geld gibt, nur Güter in bezug auf ein Leben, dessen Gewicht nicht auf der Wirtschaftsseite liegt. Die »Angst vor dem Mehrwert«, die vor dem Kriege manchen bis zum Selbstmord getrieben hat, ist eine unverstandene literarische Verkleidung der Tatsache, daß der Gelderwerb durch Geld für das stadtlose Güterdenken ein Frevel ist, aus der werdenden russischen Religion heraus gedacht eine Sünde. So wie heute die Städte des Zarentums verfallen und der Mensch in ihnen wieder wie im Dorfe lebt, unter der Kruste des städtisch denkenden, rasch hinschwindenden Bolschewismus, so hat er sich von der westlichen Wirtschaft befreit. Der apokalyptische Haß – der auch das einfache Judentum zur Zeit Jesu gegen Rom beherrschte – richtete sich nicht nur gegen Petersburg als Stadt, als Sitz einer politischen Macht westlichen Stils, sondern auch als Mitte eines Denkens in westlichem Geld, was das ganze Leben vergiftet und in eine falsche Bahn gelenkt hat. Das Russentum der Tiefe läßt heute eine noch priesterlose, auf dem Johannesevangelium aufgebaute dritte Art des Christentums entstehen, die der magischen unendlich viel näher steht als der faustischen, die deshalb auf einer neuen Symbolik der Taufe beruht und, weit entfernt von Rom und Wittenberg, in einer Vorahnung künftiger Kreuzzüge über Byzanz hinweg nach Jerusalem blickt. Damit allein beschäftigt, wird es sich die Wirtschaft des Westens wieder gefallen lassen, wie der Urchrist die römische, der gotische Christ die jüdische, aber es beteiligt sich innerlich nicht mehr an ihr. [Hierzu , S. 788 ff., 835, 898, 921 Anm. 1.]) Das Wirtschaftsleben in Gestalt eines Goldstroms war unter dem Heraufdringen einer jungen Kultur erloschen, und deshalb hat auch der Sklave aufgehört, Geld zu sein. Dem Abfluß des Goldes geht jene massenhafte Freilassung der Sklaven zur Seite, die durch keins der zahlreichen kaiserlichen Gesetze seit Augustus aufzuhalten war, und unter Diokletian, dessen berühmter Maximaltarif sich überhaupt nicht mehr auf eine Geldwirtschaft bezieht, sondern eine Tauschordnung für Güter darstellt, ist der Typus des antiken Sklaven nicht mehr vorhanden.“ (Ebd., S. 1181-1182Spengler).

Anfang des Kapitels„Die Maschine“

„Die Technik ist so alt wie das frei im Raume bewegliche Leben überhaupt. .... Die entscheidende Wendung in der Geschichte des höheren Lebens erfolgt, wenn das Fest-stellen der Natur - um sich danach zu richten - in ein Fest-machen übergeht, durch das sie absichtlich verändert wird. Damit wird die Technik gewissermaßen souverän, und die triebhafte Urerfahrung geht in ein Urwissen über, dessen man sich deutlich »bewußt« ist. Das Denken hat sich vom Empfinden emanzipiert. Erst die Wortsprache hat diese Epoche heraufgeführt.“ (Ebd., S. 1183-1184Spengler).

„Man »weiß«, was man will, aber es muß vieles geschehen sein, um das Wissen zu haben, und man täusche sich nicht über den Charakter dieses »Wissens«. Durch die zahlenmäßige Erfahrung kann der Mensch mit dem Geheimnis schalten, aber er hat es nicht enthüllt. Das Bild des modernen Zauberers: eine Schalttafel mit ihren Hebeln und Bezeichnungen, an welcher der Arbeiter durch einen Fingerdruck gewaltige Wirkungen ins Dasein ruft, ohne von ihrem Wesen eine Ahnung zu haben, ist das Symbol der menschlichen Technik überhaupt. Das Bild der Lichtwelt um uns, so wie wir es kritisch, zerlegend, als Theorie, als Bild entwickelt haben, ist nichts als eine solche Tafel, auf der gewisse Dinge so bezeichnet sind, daß auf eine Berührung hin gewisse Wirkungen mit Sicherheit erfolgen. Das Geheimnis bleibt nicht weniger drückend.(Die »Richtigkeit« physikalischer Kenntnisse. d.h. ihre bis zum Augenblick durch keine Erscheinung widerlegte Anwendbarkeit als »Deutung«, ist ganz unabhängig von ihrem technischen Werte. Eine sicherlich falsche und in sich widerspruchsvolle Theorie kann für die Praxis wertvoller sein als eine »richtige« und tiefe, und die Physik hütet sich längst, die Worte falsch und richtig im populären Sinne überhaupt auf ihre Bilder statt auf die bloßen Formeln anzuwenden.) Aber durch diese Technik greift das Wachsein doch gewaltsam in die Tatsachenwelt; das Leben bedient sich des Denkens wie eines Zauberschlüssels, und auf der Höhe mancher Zivilisation, in deren großen Städten, erscheint endlich der Augenblick, wo technische Kritik es müde ist, dem Leben zu dienen, und sich zu seinem Tyrannen aufwirft. Eine Orgie dieses entfesselten Denkens von wahrhaft tragischen Maßen erlebt die abendländische Kultur eben jetzt.“ (Ebd., S. 1184-1185Spengler).

„Man hat den Gang der Natur belauscht und sich Zeichen gemerkt. Man beginnt sie nachzuahmen durch Mittel und Methoden, welche die Gesetze kosmischen Taktes sich zunutze machen. Der Mensch wagt es, die Gottheit zu spielen und amn begreift, daß die frühesten Verfertiger und Kenner dieser künstlichen Dinge - denn hier ist dei Kunst als Gegenbegriff von Natur entstanden -, vor allem die Hüter der Schmiedekunst von den andern als etwas ganz Seltsames betrachtet, scheu verehrt oder verabscheut wurden.“ (Ebd., S. 1185Spengler).

„Es versteht sich von selbst, daß der antike Mensch, euklidisch wie er sich in seiner Umwelt fühlt, schon dem Gedanken an der Technik feindselig gegenübersteht. Meint man mit antiker Technik etwas, das sich mit entschiedenem Streben über die allverbreiteten Fertigkeiten der mykenischen Zeit erhebt, so gibt es keine antike Technik. (Anmerkung (Spengler)). Diese Trieren sind vergrößerte Ruderboote, die Katapulte und Onager ersetzen Arme und Fäuste und können sich mit den assyrischen und chinesischen Kriegsmaschinen nicht messen, und was Heron und andere seines Schlages betrifft, so sind Einfälle keine Erfindungen. Es fehlt das innere Gewicht, das Schicksalvolle des Augenblicks, die tiefe Notwendigkeit. Man spielt hier und da mit Kenntnissen - warum auch nicht -, die wohl aus dem Osten stammten, aber niemand achtet darauf, und niemand denkt vor allem daran, sie ernstlich in die Lebensgestaltung einzuführen.“ (Ebd., S. 1185-1186Spengler).

„Etwas ganz anderes ist die faustische Technik, die mit dem vollen Pathos der dritten Dimension ... auf die Natur eindringt, um sie zu beherrschen. Hier und nur hier ist die Verbindung von Einsicht und Verwertung selbstverständlich. Die Theorie ist von Anfang an Arbeitshypothese (vgl. S. 929).“ (Ebd., S. 1186Spengler).

„Die chinesische Kultur hat fast alle abendländischen Erfindungen auch gemacht, aber der Chinese schmeichelt der Natur etwas ab, er vergewaltigt sie nicht. Er empfindet wohl den Vorteil seines Wissens und macht Gebrauch davon, aber er stürzt sich nicht darauf, um es auszubeuten.“ (Ebd., S. 1186Spengler).

„Der faustische Erfinder und Entdecker ist etwas Einzigartiges. Die Urgewalt seines Wollens, die Leuchtkraft seiner Visonen, die stählerne Energie seines praktischen Nachdenkens müssen jedem, der aus fremden Kulturen herüberblickt, unheimlich und unverständlich sein, aber sie liegen uns allen im Blute. Unsre ganze Kultur hat eine Entdeckerseele. Ent-decken, das was man nicht sieht, in die Lichtwelt des inneren Auges ziehen, um sich seiner zu bemächtigen, das war vom ersten Tage an ihre hartnäckigste Leidenschaft. Alle ihre großen Erfindungen sind in der Tiefe langsam gereift, durch vorwegnehmende Geister verkündigt und versucht worden, um mit der Notwendigkeit eines Schicksals endlich hervorzubrechen. Sie waren alle schon dem seligen Grübeln frühgotischer Mönche ganz nahegerückt. Wenn irgendwo, so offenbart sich hier der religiöse Ursprung alles technischen Denkens. Diese inbrünstigen Erfinder in ihren Klosterzellen, die unter Beten und Fasten Gott sein Geheimnis abrangen, empfanden das als einen Gottesdienst. Hier ist die Gestalt Fausts entstanden, das große Sinnbild einer echten Erfinderkultur. Die scientia experimentalis, wie zuerst Roger Bacon die Naturforschung definiert hatte, die gewaltsame Befragung der Natur mit Hebeln und Schrauben beginnt, was als Ergebnis in den mit Fabrikschloten und Fördertürmen übersäten Ebenen der Gegenwart vor unsern Augen liegt. Aber für sie alle bestand auch die eigentlich faustische Gefahr, daß der Teufel seine Hand im Spiele hatte, um sie im Geist auf jenen Berg zu führen, wo er ihnen alle Macht der Erde versprach. Das bedeutet der Traum jener seltsamen Dominikaner wie Petrus Peregrinus vom perpetuum mobile, mit dem Gott seine Allmacht entrissen gewesen wäre. Sie erlagen diesem Ehrgeiz immer wieder; sie zwangen der Gottheit ihr Geheimnis ab, um selber Gott zu sein. Sie belauschten die Gesetze des kosmischen Taktes, um sie zu vergewaltigen, und sie schufen so die Idee der Maschine als eines kleinen Kosmos, der nur noch dem Willen des Menschen gehorcht. Aber damit überschritten sie jene feine Grenze, wo für die allbetende Frömmigkeit der andern die Sünde begann, und daran gingen sie zugrunde, von Bacon bis Giordano Bruno. Die Maschine ist des Teufels: so hat der echte Glaube immer wieder empfunden.“ (Ebd., S. 1186-1187Spengler).

„Eine Leidenschaft im Erfinden zeigt schon die gotische Architektur - die man mit der gewollten Formenarmut der dorischen vergleiche - und unsre gesamte Musik. Es erscheinen der Buchdruck und die Fernwaffe. (Das griechische Feuer will nur erschrecken und zünden; hier aber wird die Spannkraft der Explosionsgase in Bewegungsenergie umgesetzt. Wer das ernsthaft vergleicht, der versteht den Geist abendländischer Technik nicht.). Auf Kolumbus und Kopernikus folgen das Fernrohr, das Mikroskop, die chemischen Elemente und endlich die ungeheure Summe der technischen Verfahren des frühen Barock.“ (Ebd., S. 1187-1188Spengler).

„Dann aber folgt zugleich mit dem Rationalismus die Erfindung der Dampfmaschine, die alles umstürzt und das Wirtschaftsbild von Grund aus verwandelt. Bis dahin hatte die Natur Dienste geleistet, jetzt wird sie als Sklavin ins Joch gespannt und ihre Arbeit wie zum Hohn nach Pferdestärken bemessen. Man ging von der Muskelkraft des Negers, die in organisierten Betrieben angesetzt wurde, zu den organischen Reserven der Erdrinde über, wo die Lebenskraft von Jahrtausenden als Kohle aufgespeichert liegt, und richtet heute den Blick auf die anorganische Natur, deren Wasserkräfte schon zur Unterstützung der Kohle herangezogen sind. Mit den Millionen und Milliarden Pferdekräften steigt die Bevölkerungszahl in einem Grade, wie keine andre Kultur es je für möglich gehalten hätte. Dieses Wachstum ist ein Produkt der Maschine, die bedient und gelenkt sein will und dafür die Kräfte jedes Einzelnen verhundertfacht. Um der Maschine willen wird das Menschenleben kostbar. Arbeit wird das große Wort des ethischen Nachdenkens. Es verliert im 18. Jahrhundert in allen Sprachen seine geringschätzige Bedeutung. Die Maschine arbeitet und zwingt den Menschen zur Mitarbeit. Die ganze Kultur ist in einen Grad von Tätigkeit geraten, unter dem die Erde bebt.“ (Ebd., S. 1188Spengler).

„Was sich nun im Laufe kaum eines Jahrhunderts entfaltet, ist ein Schauspiel von solcher Größe, daß den Menschen einer künftigen Kultur mit andrer Seele und andern Leidenschaften das Gefühl überkommen muß, als sei damals die Natur ins Wanken geraten. Auch sonst ist die Politik über Städte und Völker hinweggeschritten; menschliche Wirtschaft hat tief in die Schicksale der Tier- und Pflanzenwelt eingegriffen, aber das rührt nur an das Leben und verwischt sich wieder. Diese Technik aber wird die Spur ihrer Tage hinterlassen, wenn alles andere verschollen und versunken ist. Diese faustische Leidenschaft hat das Bild der Erdoberfläche verändert. Es ist das hinaus- und hinaufdrängende und eben deshalb der Gotik tief verwandte Lebensgefühl, wie es in der Kindheit der Dampfmaschine durch die Monologe des Goetheschen Faust zum Ausdruck gelangte. Die trunkene Seele will Raum und Zeit überfliegen. Eine unnennbare Sehnsucht lockt in grenzenlose Fernen. Man möchte sich von der Erde lösen, im Unendlichen aufgehen, die Bande des Körpers verlassen und im Weltraum unter Sternen kreisen. Was am Anfang die glühend hinaufschwebende Inbrunst des heiligen Bernhard suchte, was Grünewald und Rembrandt in ihren Hintergründen und Beethoven in den erdfernen Klängen seiner letzten Quartette ersannen, das kehrt nun wieder in dem durchgeistigten Rausch dieser dichten Folge von Erfindungen. Deshalb entsteht dieser phantastische Verkehr, der Erdteile in wenigen Tagen kreuzt, der mit schwimmenden Städten über Ozeane setzt, Gebirge durchbohrt, in unterirdischen Labyrinthen rast, von der alten, in ihren Möglichkeiten längst erschöpften Dampfmaschine zur Gaskraftmaschine übergeht und von Straßen und Schienen sich endlich zum Flug in die Lüfte erhebt; deshalb wird das gesprochene Wort in einem Augenblick über alle Meere gesandt; deshalb bricht dieser Ehrgeiz der Rekorde und Dimensionen hervor, die Riesenhallen für Riesenmaschinen, ungeheure Schiffe und Brückenspannungen, wahnwitzige Bauten bis in die Wolken hinauf, fabelhafte Kräfte, die auf einen Punkt zusammengedrängt sind und dort der Hand eines Kindes gehorchen, stampfende, zitternde, dröhnende Werke aus Stahl und Glas, in denen sich der winzige Mensch als unumschränkter Herr bewegt und endlich die Natur unter sich fühlt.“ (Ebd., S. 1188-1189Spengler).

„Und diese Maschinen werden in ihrer Gestalt immer mehr entmenschlicht, immer asketischer, mystischer, esoterischer. Sie umspinnen die Erde mit einem unendlichen Gewebe feiner Kräfte, Ströme und Spannungen. Ihr Körper wird immer geistiger, immer verschwiegener. Diese Räder, Walzen und Hebel reden nicht mehr. Alles, was entscheidend ist, zieht sich ins Innere zurück. Man hat die Maschine als teuflisch empfunden, und mit Recht. Sie bedeutet in den Augen eines Gläubigen die Absetzung Gottes. Sie liefert die heilige Kausalität dem Menschen aus und sie wird schweigend, unwiderstehlich, mit einer Art von vorausschauender Allwissenheit von ihm in Bewegung gesetzt.“ (Ebd., S. 1189-1190Spengler).

„Niemals hat sich ein Mikrokosmos dem Makrokosmos überlegener gefühlt. Hier gibt es kleine Lebewesen, die durch ihre geistige Kraft das Unlebendige von sich abhängig gemacht haben. Nichts scheint diesem Triumph zu gleichen, der nur einer Kultur geglückt ist und vielleicht nur für eine kleine Zahl von Jahrhunderten.“ (Ebd., S. 1190Spengler).

„Aber gerade damit ist der faustische Mensch zum Sklaven seiner Schöpfung geworden. Seine Zahl und die Anlage seiner Lebenshaltung werden durch die Maschine auf eine Bahn gedrängt, auf der es keinen Stillstand und keinen Schritt rückwärts gibt. Der Bauer, der Handwerker, selbst der Kaufmann erscheinen plötzlich unwesentlich gegenüber den drei Gestalten, welche sich die Maschine auf dem Weg ihrer Entwicklung herangezüchtet hat: dem Unternehmer, dem Ingenieur, dem Fabrikarbeiter. Aus einem ganz kleinen Zweige des Handwerks, der verarbeitenden Wirtschaft, ist in dieser eitlen Kultur und keiner andern der mächtige Baum aufgewachsen, welcher über alle sonstigen Berufe seinen Schatten wirft: die Wirtschaftswelt der Maschinenindustrie. Sie zwingt den Unternehmer wie den Fabrikarbeiter zum Gehorsam. Beide sind Sklaven, nicht Herren der Maschine, die ihre teuflische geheime Macht erst jetzt entfaltet. Aber wenn die sozialistische Theorie der Gegenwart nur die Leistung des letzten hat sehen wollen und für sie allein das Wort Arbeit in Anspruch nahm, so ist diese doch nur durch die souveräne und entscheidende Leistung des ersten möglich. Das berühmte Wort von dem starken Arm, der alle Räder stillstehen läßt, ist falsch gedacht. Anhalten - ja, aber dazu braucht man nicht Arbeiter zu sein. In Bewegung halten - nein. Der Organisator und Verwalter bildet den Mittelpunkt in diesem künstlichen und komplizierten Reich der Maschine. Der Gedanke hält es zusammen, nicht die Hand. Aber gerade deshalb ist eine Gestalt noch wichtiger, um diesen stets gefährdeten Bau zu erhalten, als die ganze Energie unternehmender Herrenmenschen, die Städte aus dem Boden wachsen lassen und das Bild der Landschaft verändern, eine Gestalt, die man im politischen Streit zu vergessen pflegt: der Ingenieur, der wissende Priester der Maschine. Nicht nur die Höhe, das Dasein der Industrie hängt vom Dasein von hunderttausend begabten, streng geschulten Köpfen ab, welche die Technik beherrschen und immer weiter entwickeln. Der Ingenieur ist in aller Stille ihr eigentlicher Herr und ihr Schicksal. Sein Denken ist als Möglichkeit, was die Maschine als Wirklichkeit ist. Man hat, ganz materialistisch, die Erschöpfung der Kohlenlager gefürchtet. Aber solange es technische Pfadfmder von Rang gibt, gibt es keine Gefahren dieser Art. Erst wenn der Nachwuchs dieser Armee ausbleibt, deren Gedankenarbeit mit der Arbeit der Maschine eine innere Einheit bildet, muß die Industrie trotz Unternehmertum und Arbeiterschaft erlöschen. Gesetzt den Fall, daß das Heil der Seele den Begabtesten künftiger Generationen näher liegt als alle Macht in dieser Welt, daß unter dem Eindruck der Metaphysik und Mystik, die heute den Rationalismus ablösen, das wachsende Gefühl für den Satanismus der Maschine gerade die Auslese des Geistes ergreift, auf die es ankommt - es ist der Schritt von Roger Bacon zu Bernhard von Clairvaux -, so wird nichts das Ende dieses großen Schauspiels aufhalten, das ein Spiel der Geister ist, bei dem die Hände nur helfen dürfen.“ (Ebd., S. 1190-1191Spengler).

„Die abendländische Industrie hat die alten Handelsbahnen der übrigen Kulturen verlagert. Die Ströme des Wirtschaftslebens bewegen sich nach den Sitzen der »Königin Kohle« und den großen Rohstoffgebieten hin; die Natur wird erschöpft, der Erdball dem faustischen Denken in Energien geopfert. Die arbeitende Erde ist der faustische Aspekt; in ihrem Anblick stirbt der Faust des zweiten Teils, in dem die unternehmende Arbeit ihre höchste Verklärung erfahren hat. Nichts ist dem ruhend gesättigten Sein der antiken Kaiserzeit mehr entgegengesetzt. Der Ingenieur ist es, der dem römischen Rechtsdenken am fernsten steht, und er wird es durchsetzen, daß seine Wirtschaft ihr eignes Recht erhält, in dem Kräfte und Leistungen die Stelle von Person und Sache einnehmen.“ (Ebd., S. 1192Spengler).

„Aber ebenso titanisch ist nun der Ansturm des Geldes auf diese geistige Macht. Auch die Industrie ist noch erdverbunden wie das Bauerntum. Sie hat ihren Standort und ihre dem Boden entströmenden Quellen der Stoffe. Nur die Hochfinanz ist ganz frei, ganz ungreifbar. Die Banken und damit die Börsen haben sich seit 1789 am Kreditbedürfnis der ins Ungeheure wachsenden Industrie zur eigenen Macht entwickelt und sie wollen, wie das Geld in allen Zivilisationen, die einzige Macht sein. Das uralte Ringen zwischen erzeugender und erobernder Wirtschaft erhebt sich zu einem schweigenden Riesenkampf der Geister, der auf dem Boden der Weltstädte ausgefochten wird. Es ist der Verzweiflungskampf des technischen Denkens um seine Freiheit gegenüber dem Denken in Geld. (Dies gewaltige Ringen einer sehr kleinen Zahl stahlharter Rassemenschen von ungeheurem Verstand, wovon der einfache Städter weder etwas sieht noch versteht, läßt von fern betrachtet, welthistorisch also, den bloßen Interessenkampf zwischen Unternehmertum und Arbeitersozialismus zur flachen Bedeutungslosigkeit herabsinken. Die Arbeiterbewegung ist, was ihre Führer aus ihr machen, und der Haß gegen die Inhaber der industriellen Führerarbeit hat sie längst in den Dienst der Börse gestellt. Der praktische Kommunismus mit seinem »Klassenkampf«, einer heute längst veralteten und unecht gewordenen Phrase, ist nichts als ein zuverlässiger Diener des Großkapitals, das ihn wohl zu benützen weiß.)“ (Ebd., S. 1192Spengler).

„Die Diktatur des Geldes schreitet vor und nähert sich einem natürlichen Höhepunkt, in der faustischen wie in jeder andern Zivilisation. Und nun geschieht etwas, das nur begreifen kann, wer in das Wesen des Geldes eingedrungen ist. Wäre es etwas Greifbares, so wäre sein Dasein ewig; da es eine Form des Denkens ist, so erlischt es, sobald es die Wirtschaftswelt zu Ende gedacht hat, und zwar aus Mangel an Stoff. Es drang in das Leben des bäuerlichen Landes ein und setzte den Boden in Bewegung; es hat jede Art von Handwerk geschäftlich umgedacht; es dringt heute siegreich auf die Industrie ein, um die erzeugende Arbeit von Unternehmern, Ingenieuren und Ausführenden gleichmäßig zu seiner Beute zu machen. Die Maschine mit ihrer menschlichen Gefolgschaft, die eigentliche Herrin des Jahrhunderts, ist in Gefahr, einer stärkeren Macht zu verfallen. Aber damit steht das Geld am Ende seiner Erfolge, und der letzte Kampf beginnt, in welchem die Zivilisation ihre abschließende Form erhält: der zwischen Geld und Blut.“ (Ebd., S. 1193Spengler).

„Die Heraufkunft des Cäsarismus bricht die Diktatur des Geldes und ihrer politischen Waffe, der Demokratie. Nach einem langen Triumph der weltstädtischen Wirtschaft und ihrer Interessen über die politische Gestalttmgskraft erweist sich die politische Seite des Lebens doch als stärker. Das Schwert siegt über das Geld, der Herrenwille unterwirft sich wieder den Willen zur Beute. Nennt man jene Mächte des Geldes Kapitalismus, und Sozialismus den Willen, über alle Klasseninteressen hinaus eine mächtige politisch-wirtschaftliche Ordnung ins Leben zu rufen, ein System der vornehmen Sorge und Pflicht, die das Ganze für den Entscheidungskampf der Geschichte in fester Form hält, so ist das zugleich ein Ringen zwischen Geld und Recht. (Zu dem die Interessenpolitik der Arbeiterparteien auch gehört, denn sie wollen die Geldwerte nicht überwinden, sondern besitzen.) Die privaten Mächte der Wirtschaft wollen freie Bahn für ihre Eroberung großer Vermögen. Keine Gesetzgebung soll ihnen im Wege stehen. Sie wollen die Gesetze machen, in ihrem Interesse, und sie bedienen sich dazu ihres selbstgeschaffenen Werkzeugs, der Demokratie, der bezahlten Partei. Das Recht bedarf, um diesen Ansturm abzuwehren, einer vornehmen Tradition, des Ehrgeizes starker Geschlechter, der nicht im Anhäufen von Reichtümern sondern in den Aufgaben echten Herrschertums jenseits aller Geldvorteile Befriedigung findet. Eine Macht läßt sich nur durch eine ander stürzen, nicht durch das Prinzip, und es gibt dem Geld gegenüber keine andere. Das Geld wird nur vom Blut überwältigt und aufgehoben. Das Leben ist das erste und letzte, das kosmische Dahinströmen in mikrokosmischer Form. Es ist die Tatsache innerhalb der Welt als Geschichte. Vor dem unwiderstehlichen Takt der Geschlechterfolgen schwindet zuletzt alles hin, was das Wachsein in seinen Geisteswelten aufgebaut hat. Es handelt sich in der Geschichte um das Leben und immer nur um das Leben, die Rasse, den Triumph des Willens zur Macht, und nicht um den Sieg von Wahrheiten, Erfindungen oder Geld. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: sie hat immer dem stärkeren, volleren, seiner selbst gewisseren Leben Recht gegeben, Recht nämlich auf das Dasein, gleichviel ob es vor dem Wachsein recht war, und sie hat immer die Wahrheit und Gerechtigkeit der Macht, der Rasse geopfert und die Menschen und Völker zum Tode verurteilt, denen die Wahrheit wichtiger war als Taten, und Gerechtigkeit wesentlicher als Macht. So schließt das Schauspiel einer hohen Kultur, diese ganze wundervolle Welt von Gottheiten, Künsten, Gedanken, Schlachten, Städten, wieder mit den Urtatsachen des ewigen Blutes, das mit den ewig kreisenden kosmischen Fluten ein und dasselbe ist. Das helle, gestaltenreiche Wachsein taucht wieder in den schweigenden Dienst des Daseins hinab, wie es die chinesische und römische Kaiserzeit lehren; die Zeit siegt über den Raum, und die Zeit ist es, deren unerbittlicher Gang den flüchtigen Zufall Kultur auf diesem Planeten in den Zufall Mensch einbettet, eine Form, in welcher der Zufall Leben eine Zeitlang dahinströmt, während in der Lichtwelt unserer Augen sich dahinter die strömenden Horizonte der Erdgeschichte und Sternengeschichte auftun.“ (Ebd., S. 1193-1194Spengler).

„Für uns aber, die ein Schicksal in diese Kultur und diesen Augenblick ihres Werdens gestellt hat, in welchem das Geld seine letzten Siege feiert und sein Erbe, der Cäsarismus, leise und unaufhaltsam naht, ist in einem eng umschriebenen Kreise die Richtung des Wollens und Müssens gegeben, ohne das es sich nicht zu leben lohnt. Wir haben nicht die Freiheit, dies oder jenes zu erreichen, aber die, das Notwendige zu tun oder nichts. Und eine Aufgabe, welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst, mit dem einzelnen oder gegen ihn.“ (Ebd., S. 1194-1195Spengler).

„Ducunt fata volentem, nolentem trahunt (Spengler).“ (Ebd., S. 1195Spengler).

 

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