Gibt es eine Logik der Geschichte? Gibt es jenseits von allen Zufällen
und Unberechenbaren der Einzelereignisse eine sozusagen metaphysische Struktur
der historischen Menschheit, die von den weithin sichtbaren, populären geistig-politischen
Gebilden der Oberfläche wesentlich unabhängig ist? - Spengler
stellte diese beiden Fragen ganz bewußt an den Anfang seines Buches. Um
diesen Brennpunkt herum wurde mit seinem Buch erstmalig der Versuch gewagt,
Geschichte vorauszubestimmen. (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes,
1917, S. 3 ).
Spenglers Behauptung, Geschichte wiederhole sich dem Typus nach ( ),
ist nicht identisch mit der Behauptung, daß Geschichte sich generell oder
in jeder Einzelheit wiederholt. Das glauben nur seine Kritiker ( ).
Nicht mit den Naturgesetzen der Naturwissenschaft wollte Spengler Geschichte
verstanden wissen, sondern mit einem Regelwerk, das mit wissenschaftlichen
Mitteln nicht bewiesen und auch mit den genialsten Mathematiken nicht symbolisiert
werden kann. Das wußte der Naturwissenschaftler und Mathematiker Spengler,
besonders in seiner Eigenschaft als Kulturphilosoph, als Geschichtsphilosoph,
als Lebensphilosoph ( ).
Auch deshalb die Vorausbestimmung der Geschichte als Versuch:
Es
handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute
auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen,
in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen. (Spengler, 1918, ebd.,
S. 3 ).
Der Untergang einer Kultur ist ihr Zivilisierungsprozeß im Erwachsen-geworden-sein
( ),
ihre Moderne ( ).
Aber eine Zivilisation ist ja auch ganz angenehm. Schließlich ist sie die
Fortsetzung der Kultur mit zivilen Mitteln: eine zivile Kultur!
Der Untergang des Abendlandes, zunächst ein örtlich und zeitlich
beschränktes Phänomen wie das ihm entsprechende des Untergangs der Antike,
ist, wie man sieht, ein philosophisches Thema, das in seiner ganzen Schwere begriffen
alle großen Fragen des Seins in sich schließt. (Spengler, 1918,
ebd., S. 4 ).
Das abendländische Erwachsen-geworden-sein ( ),
also unsere Moderne ( )
begann philosophisch mit der Vollendung des Kritizismus durch Kant ( )
- Ende des 18. Jahrhunderts (Nachkritische Stufe ).
Der moderne Weg, der zu Spengler führte, begann methodisch
bei Goethe ( ),
schulphilosophisch bei Schopenhauer ( )
und verlief über dessen Schüler Nietzsche ( ),
dem Spengler die Fragestellungen verdankte.  Als
Philosoph - genauer als Geschichtsphilosoph und noch genauer als Kulturphilosoph
- dachte Spengler also gewissermaßen in Biographien. Gleich auf den
ersten Seiten des UdA ( )
fragt er, ob nicht »allem Historischen biographische Urformen« ( )
zugrunde lägen. Weltgeschichte, sagt er, sei Lebensläufe
großer Kulturen und die Beziehung zwischen ihnen. ( ).
... Und in den Urfragen heißt es: Biographie ist die einzige Form,
Miterlebenden das Geheimnis eines Lebens nahezubringen. (Ebd., S.
125 ).
Wenden wir uns den Hauptgedanken von Der Untergang des Abendlandes zu.
Der Mathematiker Spengler sucht nach einer Logik der Geschichte ( ).
Er unterscheidet zwischen einer Logik des Raumes, die nach kausalen Gesetzen verläuft,
und einer der Zeit, die organisch aufzufassen ist. Kulturen, der Logik der Zeit
folgend, seien Organismes, die wie alle Lebewesen Phasen des Wachstums, der Reife
und es Alters durchliefen und am Ende stürben. Zyklisch wiederhole sich dieser
Prozeß an jeder Kultur. Deshalb stünden alle diese Lebensläufe
gleichberechtigt nebeneinander, gewissermaßen unmittelbar vor der Geschichte.
Spengler zweifelt nicht nur Inhalt und Bedeutung des Begriffs Europa
( )
an, sondern löst sich auch aus dem alten Schema zur Epochenbegrenzung von
Altertum-Mittelalter-Neuzeit ( ),
und bricht rückhaltlos mit dem seine Zeitgenossen noch völlig
beherrschenden europazentrischen Weltbild ( ),
welches das Denken so verzerrt habe. Warum soll, morphologisch betrachtet,
das 18. Jahrhundert wichtiger sein als eins der sechzig voraufgehenden?
( ).
Kultur und Geschichte sei nichts anderes als die Verwirklichung einer Seele
( ),
sei geprägte Form, die lebend sich entwickelt ( ),
wie Goethe sich ausdrückte. Und eine Kultur stirbt, wenn diese Seele
die volle Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen,
Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht hat und damit
wieder ins Urseelentum zurückkehrt. ( ).
... Spengler wendet sich gegen den Allgemeingültigkeitsanspruch abendländischer
Erkenntnisse und Lebensformen und vermißt unter den Denkern des Westens
das Wissen um die notwendigen Grenzen ihrer Gültigkeit, die Überzeugung,
daß seine unumstößlichen Wahrheiten und ewigen
Einsichten eben nur für ihn wahr und in seinem Weltaspekt ewig sind
und daß es Pflicht ist, darüber hinaus nach denen zu suchen, die der
Mensch anderer Kulturen mit derselben Gewißheit aus sich selbst heraus entwickelt
hat. ( ).
Die meisten europäischen Philosophen haben nur für das Abendland Bedeutung.
... Sein physiognomischer Blick für Formen und Zusammenhänge geschichtlichen
Werdens lenkt seine Aufmerksamkiet auf neue Mächte, die er bald in
die aktive Politik eintreten sieht, wie etwa den Islam oder Japan.
(Frank Lisson, Oswald Spengler - Philosoph des Schicksals, 2005, S. 47-48
).
Ja überhaupt: Asien und Afrika (Afrika v.a. auch, weil es immer mehr vom
Islam bekehrt werden würde), und heute wissen wir: Oswald Spengler hat es
richtig vorausgesagt!
Der Untergang des Abendlandes war ja von Spengler 1911 als Kritik an der deutschen
Außenpolitik der spät-wilhelminischen Ära konzipiert worden. Er
erweiterte sein Werk jedoch zu einer Geschichts- und Kulturphilosophie (oder einer
Philosophie der Zukunft, insofern es Vorausbestimmungen der Zukunft erlaubte)
und einer Morphologie der Weltgeschichte, für die er sich besonders auf Goethe
und Nietzsche berief. ( ).
Spengler prophezeite einen Niedergang der kulturellen Produktivität des Abendlandes
und das Heraufkommen eines neuen Zeitalters des Cäsarentums, charakterisiert
durch rücksichtslose Machtpolitik, zunehmende Technisierung sowie gleichzeitig
fortschreitende Primitivierung der politischen Formen. Das Abendland, und vor
allem Deutschland, habe keine andere Wahl als fest zu stehen oder unterzugehen,
einen dritten Weg gebe es nicht. Schon seit Ende des 18. Jahrhunderts, und zwar
verstanden als Beginn des 19. Jahrhunderts, das ein Jahrhundert des Materialismus,
der Formlosigkeit, beständiger Kriege und der Massendemokratie gewesen sei,
habe der Untergang des Abendlandes begonnen. Allerdings ließe sich dem weiteren
Abstieg einer zerfallenden Massenzivilisation durch eine Rückkehr zu preußischen
Traditionen der Staatsführung und der Organisation der Gesellschaft Einhalt
gebieten. Als Spengler 1933 sein Werk Jahre der Entscheidung ( )
veröffentlichte, begrüßte er zunächst die nationale
Revolution als Freisetzung der tiefsten Instinkte in unserem Blut.
Obwohl also Spengler (wie Heidegger )
im Nationalsozialismus anfangs ein mächtiges Phänomen erblickte,
hatte er bald jede Illusion verloren, was Hitler und seine Partei mit ihrer Rassenlehre
anging, die Spengler als kindischen Unsinn betrachtete. Spengler verwarf offen
den heftigen, gewalttätigen Antisemitismus der Nationalsozialisten und blieb
einer der wenigen konservativ-revolutionären Denker, die für
eine Assimilierung der Juden eintraten. Die NSDAP kritisierte Spenglers pessimistischen
Determinismus, sein konservativ-elitäres Denken und seine offenkundige
Geringschätzung des Volkes. Mehr und mehr sah Spengler sich also isoliert
in dem neuen Deutschen Reich, das er selbst prophezeit hatte (z.B. in seinem Werk
Neubau des Deutschen Reiches, 1924 )
- einem Reich, dessen politische Führung andere Ziele hatte als er und deren
Absichten nicht die seinen sein konnten.
Der
Untergang des Abendlandes ist nicht als Katastrophe zu verstehen;
sondern muß als Vollendung begriffen werden! Spengler verwahrte
sich mehrfach gegen das Mißverständis, seine Geschichtstheorie sei
pessimistisch. Er wollte sie nicht als Aufforderung zur Resignation,
sondern als Appell zum Ausharren in der gegebenen Lage und zum Verfolgen von greifbaren
Zielen verstanden wissen. Diese Aufgabe der eigenen Zeit hat Spengler in
seinem Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes, und zwar ausdrücklicher
besonders im zweiten Band, thematisiert. Schon bei der ersten Lektüre wird
jedem aufmerksamen Leser klar, was hier z.B. mit dem Wort Untergang
gemeint ist: Untergang nicht im Sinne eines Schiffsunterganges, sondern
im Sinne der Vollendung. Untergang: Der Begriff einer Katastrophe
ist in dem Worte nicht enthalten. Sagt man statt Untergang Vollendung, ein Ausdruck,
der im Denken Goethes mit einem ganz bestimmten Sinn verbunden ist, so ist die
»pessimistische« Seite einstweilen ausgeschaltet, ohne daß der
eigentliche Sinn des Begriffs verändert worden wäre. Ein Beispiel
für das Mißverständnis ist der Fall jener älteren Dame, die
gestand, Spenglers Buch zwar nicht gelesen zu haben, Spengler aber um Rat bat,
wo und wie sie ihre Wertpapiere jetzt anlegen solle ( ).
Doch: Der Untergang des Abendlandes bedeutet nicht Katastrophe, sondern
Vollendung des Abendlandes.
Die Menschheit bewegt sich auf mindestens
zwei Bahnen ( ):
In der bisherigen Menschheitsgeschichte war das Reflexivwerden von
falschen und bösen Bewußtseinslagen immer ein kulturpathologisches
Symptom - Ausdruck dessen, daß herrschende Schichten in ein morbides,
zur Verwilderung und Enthemmung geneigtes Stadium eingetreten waren. Hierüber
hat ... Oswald Spengler ... Aussagen von verblüffender physiognomischer
Präzision gemacht. Um Spätzeiten handelt es sich, wenn ursprüngliche
Kräfte, wertstabile Naivitäten und primitive Willensspannungen
in einer kulturbeherrschenden Schicht sich durch strategische Lernprozesse
aufgezehrt haben. .... Das Phänomen der reflexiven Ideologie ist
doch nicht ganz mit Verfall identisch. Wenn die Naivitäten sinken
und die Nüchternheit steigt, so muß das nicht den Untergang
des Abendlandes bedeuten. (Peter Sloterdijk, Kritik der
zynischen Vernunft, 1983, S. 699-700). Darum noch einmal: Untergang
des Abendlandes bedeutet nicht Katastrophe, sondern Vollendung des
Abendlandes.
In
meinen Augen stehen die Skeptizisten ( ),
die oft zu Unrecht Pessimisten genannt werden, besser da als die Nicht-Skeptizisten,
die oft zu Unrecht Optimisten genannt werden. Wer z.B. die Natur des Menschen
pessimistischer und damit realistischer einschätzt, kann letztendlich auch
mehr Optimismus verbreiten; wer jedoch die Natur des Menschen optimistischer
und damit idealistischer einschätzt, muß schon ein Genie sein - und
Genies gibt es ja durchaus (selten) -, um den Optimismus noch zu steigern oder
wenigstens zu bewahren. Die Geschichte hat gezeigt, daß es nur wenigen Opimisten,
aber um so mehr Pessimisten gelang, die Natur des Menschen realistisch
einzuschätzen. Ein Idealist, der gegen das Schwere ankämpft, hat es
schwerer als ein Realist, der gegen das Leichte ankämpft. Der Realist symbolisiert
eher das Schwere, also das Bodenhafte, Verwurzelte, Erdige (bei mehr Dynamik:
Wässrige), dagegen der Idealist eher das Leichte, also das Himmlische, Schwebende,
Luftige (bei mehr Dynamik: Feurige). Scheinbar unversöhnlich stehen sich
das Erschwerende (bzw. das Tragende) und das Erleichternde (bzw. das Verwöhnende)
gegenüber. Niedergedrückte und Abgehobene sind aber tatsächlich
nur scheinbar inkompatibel, wie man weiß, doch meistens muß erst die
Pathologie deren Kompatibilität, z.B. als Manie, unter Beweis stellen - und
wie uns die Geologie z.B. durch Vulkane am Meeresboden immer mehr deutlich macht,
daß auch Feuer und Wasser gar nicht so unverträglich sind, so kann
man ja wohl erst recht davon ausgehen, daß auch Erde und Luft gar nicht
so unverträglich sind. Die männlichen Elemente (Feuer und
Luft) und die weiblichen Elemente (Erde und Wasser) sind also doch,
jedenfalls unter bestimmten Bedingungen, kompatibel, und vor allem das heterogene
Primär-Paar beweist, daß das auch so sein soll, denn die beiden
primären Elemente (Feuer und Erde) ermöglichen als Energie-Masse-Paar
die beiden sekundären Elemente (Luft und Wasser); auf politische Weltanschauungen
übertragen: das Zerstörerische und Lebenspendende ist als das Verwöhnende
(Feuer) zusammen mit dem Erschwerenden und Heimatspendenden als dem Gravitativen
(Erde) das Primärpaar, und erst nachdem dies sich geöffnet hat, kann
auch das Sekundärpaar zum Erfolg beitragen, indem es - sozusagen - auf einer
zweiten Paar-Ebene die erste Paar-Ebene bestätigt. Wenn man davon ausgeht,
daß ein Paar immer schon deshalb gebildet wird, weil es eine Äquivalenzregel
gibt, dann hat man nur die Ausnahmen dieser Regel zu untersuchen. Wenn also die
Äquivalenzregel auch für Leichtes und Schweres gilt, dann ist es sinnlos,
sie strikt voneinander trennen zu wollen, doch genau das passiert z.B. in den
extremen Weltanschuungen. Betrachtet man z.B. zwei verschiedene Positionen, die
als Ausnahmen die Regel bestätigen, dann gibt es immer eine (wichtigere)
erste Liste und eine (alternative) zweite Liste. Also
gilt z.B. für Gruppen (bzw. Gesellschaften) wie für Völker
(bzw. Nationen) genau das, was auch für Kulturen (bzw. Zivilisationen)
gilt: Die aspektweise Öffnung der ersten Liste auf die zweite Liste bezeichnet
den Elan und die Garantie für das Gelingen einer Kultur (bzw. Zivilisation),
die sich erhält, indem sie sich erweitert, steigert, differenziert
- allein die aufmerksame Rückbindung der zweiten an die erste verhindert
aber die Gespensterherrschaft. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum
des Kapitals, 2005, S. 414 ).
Das gilt es zu beachten und nicht, wo wer wie die Rechte und wo wer wie
die Linke sehen möchte. Denn auch und gerade die Lebensform
»demokratische Nation« überlebt nur, wenn die Semantik des Eigeninteresses
und der Selbstpräferenz mit der Semantik der Freiheit für anderes und
des Etwas-zu-geben-Habens zum Ausgleich kommt. Somit taucht aus dem entfalteten
Begriff des Lokalen eine Gruppe von Merkmalen auf, die den Abstrakt-Progressiven
die Röte ins Gesicht treibt. Was unter dem Druck des konfusen Universalismus
durch Gegendruck geklärt in Sicht kommt ist das Ausgedehnte des erfolgreich
geführten Lebens, das nicht wird, wie es werden kann, ohne immun, selbstpräferentiell,
exklusiv, selektiv, asymmetrisch, protektionistisch, unkomprimierbar und irreversibel
zu sein. Dieser Katalog klingt wie die Zusammenfassung eines rechtsradikalen Parteiprogramms;
in Wahrheit bietet er die erste Liste der Charakteristika, die der Infrastruktur
des Werdens in realen Humansphären inhärieren. Sie gehören zu den
Merkmalen des endlichen, konkreten, eingebetteten und überlieferungsfähigen
Daseins. Um noch einmal die Redeweise der Ontologie zu bemühen: Das Ausgedehntsein
am eigenen Ort ist die gute Gewohnheit zu sein. Solange die Linke vorhat, eine
irdische Linke zu bleiben oder es zu werden, wird sie sich bei aller Liebe zur
Symmetrie mit diesen Bestimmungen ins Benehmen setzen, es sei denn, sie zieht
die Affaire mit dem Unendlichen vor - was man durchaus verstehen kann, weil irdische
Sozialdemokratie philosophisch langweilt und ästhetisch nicht befriedigt.
Von den Werten der alternativen Liste, genauer von den Forderungen nach einem
Metaleben, dessen Weltbezug immunitätsvergessen, fremdpräferentiell,
inklusiv, unselktiv, symmetrisch, zollfrei sowie beliebig kompressibel und reversibel
wäre, lassen sich hin und wieder einige Aspekte im Realen verwirklichen,
jedoch nur diejenigen, die von der ersten Liste mitgetragen werden. (Ebd.,
2005, S. 412-413 ).
Sloterdijk gelang es besonders mit seinem als Trilogie erschienen Sphären-Projekt
( ),
das Erzählerische und das Philosophische auf eine teils neo-skeptische,
teils neo-morphologische Weise miteinander zu konfigurieren. .... Die Philosophie
kann und will kunstmäßig betrieben werden als eine Quasi-Wissenschaft
von den Totalisierungen und ihrer Metaphern, als erzählende Theorie der Genesis
des Allgemeinen und schließlich als Meditation des Seins-in-Situationen
- alias In-der-Welt-Seins ( );
ich nenne das »Theorie der Immersion« oder allgemeine Theorie des
Zusammenseins und begründe von dort her die Verwandtschaft der jüngeren
Philosophie mit der Kunst der Installation. (Ebd., 2005, S.
16 ).
Deshalb verfolgen wir nun Skeptizismus und Morphologie mit der von Spengler begründeten
Neo-Form und suchen dabei nach unterschiedlichen Spengler-Anhängern:
Kulturmorphologie und Spenglerianer 
Die
Kulturmorphologie zeichnet sich unter anderem auch dadurch aus, daß sie
vom Zyklus der Geschichte ausgeht, vom zyklischen Geschichtsmodell also. Die zyklische
Geschichtsdeutung ist übrigens viel älter als die lineare. Das zyklische
Geschichtsmodell wurde zu der Zeit vom linearen Geschichtsmodell verdrängt,
als das Christentum begann, genauer: als das Christentum allmählich mächtiger
wurde (2. und 3. Jh.) und sich im Römischen Reich auch tatsächlich durchsetzte
(4. Jh.). Das lineare Geschichtsmodell geht darauf zurück, daß nach
christlicher Auffassung alles menschliche Geschehen in den Heilsplan Gottes eingebettet
ist. Im Abendland hat es kanonische Bedeutung, was auch an unserem Kalender deutlich
wird. Gemäß dieses christlichen Kanons hat alle Menschengeschichte
einen Anfang, nämlich den Schöpfungsakt Gottes, und ein Ziel, nämlich
das Jüngste Gericht und das Ewige Leben der als gerecht Befundenen im Paradies.
Nicht nur die wesentlichen heilsgeschichtlichen Vorgänge - der Sündenfall,
die Menschwerdung Gottes, der Erlösungstod und die erwartete Wiederkehr Christi
-, sondern alles Geschehen überhaupt läßt sich damit im linearen
Sinn deuten. Richtung und Ziel sind also eindeutig definiert. Zu dieser Richtschnur
gab es in der abendländischen Geschichte zwar immer auch einige wenige Abtrünnige,
die zurück zum zyklischen Geschichtsmodell wollten und als Ausnahmen doch
immer nur die Regel bestätigten: Abweichlern drohte die Exkommunikation!
Stärker wurden die Ausnahmen jedoch seit der Bürgerlichen Revolution,
also seit Ende des 18. Jahrhunderts - Beispiele hierfür gibt es jedenfalls
genug ( ).
Trotzdem ist das zyklische Geschichtsmodell die Ausnahme der Regel geblieben,
ist das lineare Geschichtsmodell ganz klar und deutlich vorherrschend geblieben.
Es ist ein Verdienst von Karl Löwith (1897-1973 ),
deutlich gemacht zu haben, daß die gesamte abendländische Geschichtsphilosophie
auf diesem Dogma beruht. In seinem Buch Weltgeschichte und Heilsgeschehen
(1948 )
hat er eindrucksvoll nachgewiesen, daß sich alle bis zum Übergang vom
18. zum 19. Jahrhundert entwickelten abendländischen geschichtsphilosophischen
Systeme von den heilsbringenden Grundmuster herleiten und daß das auch danach
noch überwiegend galt und gilt. Besonders deutlich werde dies gerade beim
Marxismus, denn genau wie das Christentum kennt ja auch der Marxismus ein ursprüngliches
Paradies, einen Sündenfall (Übergang zum Privateigentum!), eine Menschheitserlösung
(Weltrevolution der Arbeiterklasse!) und ein freilich irdisches Paradies - außerdem
die vergleichbaren äußeren Formen, in denen sich dieser Glaube darstellt:
Helden- und Märtyrerverehrung, Exkommunikation von Abweichlern,
heilige Texte, Prozessionen von Massenaufmärschen.Von
den erwähnten wenigen Ausnahmen abgesehen ( ),
ist also auch die Geschichtsphilosophie seit der Bürgerlichen Revolution
- das heißt: seit Ende des 18. Jahrhunderts - eine säkularisierte Variante
des christlichen Heilsmodells und demzufolge eine Geschichtsphilosophie mit linearem
Geschichtsmodell. Dies gilt auch z.B für die Geschichtsphilosophien von Herder
(1744-1803 )
oder Hegel (1770-1831 )
- obwohl gerade bei diesen beiden auch (auch!) Zyklentheorien thematisiert werden
- und fast alle Philosophen nach ihnen, bis auf die eben erwähnten Ausnahmen
- d.h.: Moderne (Zivilisation, Nihilismus) oder Historismus ist nicht gleichbedeutend
mit der Abkehr vom linearen Geschichtsmodell, aber doch mit der Zunahme der Ausnahmen,
die das zyklische Geschichtsmodell bevorzugen. Und: der Wunsch, zum alten zyklischen
Geschichtsmodell zurückzukehren, wächst. Wie alt die zyklische Geschichtsvorstellung
ist, ist nicht genau bekannt, wohl aber, daß durch die Seßhaftwerdung,
die Neolithische Revolution, eben die produzierende Wirtschaftsweise
( )
der Vegetationszyklus Säen, Reifen, Ernten seinen Niederschlag
in religiösen Vorstellungen fand und mit dem Lebenszyklus: Geburt,
Werden, Tod verglichen wurde, daß also die zyklische Geschichtsvorstellung
kulturell sinnvoll war, weil es zwischen dem Glauben und der Produktion, zwischen
der Religion (bzw. Theologie) und der Wirtschaft (bzw. Ökonomie) eine Rückkoppelung
gab, die Kultur stiftet und damals zusammen mit Technik und Kunst Neues bewirkte:
Historienkulturen ( ).
Das zyklische Geschichtsmodell blieb vorherrschend bis zum Christentum, wie bereits
erwähnt, und das Christentum ist praktisch eine Synonym für die Vorherrschaft
des linearen Geschichtsmodells. Das Christentum hatte eine durchaus realistische
Vorstellung von der naturgegebenen Schwäche des Menschen, seiner Sündhaftigkeit;
und die sogenannte Moderne ändert daran im Grunde nichts - auch dann nicht,
wenn in ihr die Vorstellung vorherrscht, daß der Mensch von Natur aus gut
sei. In beiden Fällen - ob realistisch-pessimistisch oder idealistisch-optimistisch
- geht es um die permanente Aufwärtsentwicklung, mal mehr innerlich und geistig,
mal mehr äußerlich und materiell. Andere als diese kleinen Unterschiede
gibt es nicht. Es geht in beiden Fällen um eine Himmelfahrt!
Der Fortschritt im Dieseits entspricht genau dem Zustreben auf das Paradies im
Jenseits, doch nicht das aufstrebende Traditionschristentum, sondern das aufstrebende
Bürgertum begeht den Fehler im Fortschrittsglauben, weil es die Fortschrittsidee
auch auf den geistig-moralischen und den politischen Bereich überträgt,
obwohl der Fortschritt nur in der Technik - in Wissenschaft, Medizin, Kommunikation
u.s.w. - nicht zu leugnen ist, weil er ja ein technischer Fortschritt ist, sogar
ein enormer und immer stärker sich beschleunigender (der übrigens deshalb
auch nicht mehr als linear, sondern als stark exponentiell zu bezeichnen ist).
Aber eben nur hier! Statt dies zu berücksichtigen, steht für die Modernen
das Ziel der säkularen Heilserwartung außer Frage: die Menschheit wird
immer mehr zu den Höhen des Paradieses emporsteigen. Kein Wort von Kultur,
von Wirtschaft, von Kunst - nur von Menschheit, verstanden als ein Individuum
auf der Himmelfahrt! Wie eine Bombe mußte hier Spenglers These
einschlagen, daß es eine Menschheit in diesem Sinne gar nicht gibt, daß
sich vielmehr jeweils untereinander nicht oder kaum verbundene Kulturkreise entwickeln,
und zwar nach der Art organischer Wesen. Es
war Goethe, dem Spengler ausdrücklich dankte ( ),
auch für die Analogie aus der Botanik, die Spiraltendenz, die
die Wiederkehr des ewig Gleichen anschaulich verdeutlicht. 
 | Das
absolut untragbar gewordene progressiv-lineare Geschichtsmodell wird wohl erst
in Zukunft durch das zyklisch-spiralförmige Geschichtsmodell ersetzt werden.
Es ist in der Geschichte nahezu immer so gewesen, daß Modelle sich nicht
dann durchgesetzt haben, wenn mit ihnen theoretische Triumphe einhergingen, sondern
dann, wenn mit ihnen ebenso praktische Triumphe einhergingen. Kopernikanische
Wenden soll es angeblich schon viele gegeben haben, und die echte war auch
zunächst nur für Theoretiker interessant, sichtbar geworden ist sie
erst durch die Praktiker.
|
Leo Frobenius (1873-1938 ),
Begründer des Forschungsinstituts für Kulturmorphologie, entwickelte
den Begriff Kulturkreis, wonach die Kulturformen für bestimmte
Lebensräume charakteristisch und auf ihn beschränkt sind und jede
Kultur mit ihrer Wirkkraft (Paideuma; )
ein Organismus, eine selbständige Wesenheit mit denselben Lebensstufen
ist, wie sie Pflanze, Tier und Mensch durchlaufen (Kulturkreislehre, Kulturmorphologie).
Frobenius war auch Direktor des Völkerkundemuseums in Frankfurt (Main)
und unternahm 12 Expeditionen nach Afrika. Er betrachtete die einzelnen
Kulturen als lebende Organismen und lehnte die rein statistische Arbeitsweise
ab. Der Innensinn der Dinge ist laut Frobenius das räumliche
Innen: der Innenraum als Intimität. Sind dann Übertragungen in
die Weite und in das Weitere, besonders wenn sie ohne Selbstverlustangst
geschehen können, typisch für Kulturen mit einem Weitegefühl?
War Spengler von Frobenius Unterscheidung
zwischen Kulturen des Höhlenfefühls und Kulturen
des Weitegefühls etwa inspiriert? Sloterdijk meint ja;
in einem mit Hans-Jürgen Heinrichs ( )
geführten Gespräch behauptete er, daß die von Frobenius eingeführte Unterscheidung zwischen den weiteliebenden
und den weitefürchtenden Völkern Spengler dazu angeregt habe,
die Kulturen nach dem Modus ihrer Raumbildung zu bestimmen. Spengler sei
dabei etwas in den Blick gekommen, was man gewissermaßen als
Impfung einer Kulturseele mit einer spezifischen Herausforderung, mit einem
initialen Schock bezeichnen könnte. Spengler redet in solchen Zusammenhängen
ganz nietzscheanisch, wobei man wissen muß, daß Nietzsche ( )
in seinen besten Augenblicken als Immunologe spricht, wie ein Kulturarzt,
der weiß, daß Kulturen und ihre Träger, die Menschen, Wesen
sind, die mit dem Ungeheuren geimpft werden und eigensinnige Immunreaktionen
entwickeln, aus denen verschiedene kulturelle Temperamente hervorgehen.
In diesem Sinne muß man Spenglers These auffassen, daß es nur
acht Hochkulturen (* vgl. 8 Kulturen )
im eigentlichen Wortsinn gegeben habe. Nur in dieser kleinen Zahl von Fällen
haben sich die hochkulturschöpferischen Immunreaktionen vollzogen,
von denen jede einzelne einen unverwechselbaren Charakter besaß. Die
acht hohen Kulturen wären demnach die Abwicklung lokaler Immunreaktionen.
.... Man darf sich von Spenglers botanischen Metaphern nicht in die Irre
führen lassen. Seine Kulturen sind nicht so sehr Pflanzen höchster
Ordnung, wie er vorgibt, sondern Generationsprozesse über dem Input
einer schöpferischen Immunantwort, die sich immer mehr formalisiert,
bis zur Erstarrung. .... Spengler gibt sein Bestes, darüber sind sich
auch seine skeptischen Leser einig, wenn er über die faustische und
die arabische Kultur spricht. (Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen
Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 226).
Alle
primären kulturellen Einheiten lassen sich nur als sich selbst erzeugende
morphogenetische Prozesse verstehen. Das unmittelbare Projekt jeder Gemeinschaft
ist die fortgesetzte Selbstbergung der Gruppe in ihrer morphologischen Hülle:
Alle konkreten »Gesellschaften«, die primitiven wie die komplexen,
sind sphäro-poietische Projekte. Die Feststellung ist trivial, daß
die weitaus größte Zahl der Sphärenbildungen in der Geschichte
der menschlichen Gattung kleine clanartige und stammeskulturelle Ensembles geblieben
sind, von denen nur wenigen die Fortbildung zu ethnischen Gebilden mittleren Formats
gelingt - tatsächlich ist schon ein Volk ein morphologischer Effekt,
der, von den Hordenanfängen her gedacht, ans Unmögliche grenzt, denn
er setzt die kulturelle und meist auch politische Synthesis von Tausenden von
Horden (nunmehr: Familien oder Geschlechtern) voraus. Nur in den seltensten Fällen
sind diese Gebilde, über Volkseinheiten hinausgehend, zu Makrosphären
höchster Ordnung herangewachsen - daß heißt zu Stadtstaaten und
multi-ethnischen Imperien, im Sinne von Spengler ... sogar zu »Kulturen«,
die sich politisch und ontologisch die Form von Welten zu geben vermochten.
Der Ausdruck Welt bezeichnet dann nicht »alles, was der Fall ist«,
sondern alles, was von einer Form oder einer gewußten Grenze enthalten
werden kann. (Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S.
200-201).Nach dem bekannten scholastischen Lehrsatz
hat das Endliche mit dem Unendlichen kein gemeinsames Maß. Operationen mit
dem Wert unendlich sind seither als eine ständige Selbstgefährdung der
menschlichen Intelligenz hintergründig präsent. Im Grunde geht es hier
nicht mehr um das Unvorstellbare als das Unsagbare, weil eben das Unendliche
per definitionem das ist, was das Vorstellen übersteigt. Zugleich ist
unsere Intelligenz so organisiert, daß wir dennoch versuchen, das Unvorstellbare
vorzustellen. Ein gewisses Maß an Unendlichkeitsstreß gehört
zum modus operandi der europäischen Intelligenz. Über Fragen
dieser Art hat Spengler aufschlußreiche Bemerkungen zu Papier gebracht,
als er die Kulturen im Hinblick auf ihre mathematischen Stile unterschied. Er
hat etwa gezeigt, daß für die Antike die Quadratur des Kreises ein
charakteristisches Problem war, also der Versuch, den Abgrund zwischen zwei endlichen
geometrischen Figuren zu überbrücken. Hingegen hat sich der Geist der
abendländischen Kultur in der Infinitesimalrechnung des Leibnizschen oder
des Newtonschen Typs manifestiert, also in Rechnungen mit dem Wert Unendlich.
Leibniz hat vormachen können, wie man den Unendlichkeitsdämon mathematisch
zähmt, indem man einen diskreten Sprung ins unendlich Große oder unendlich
Kleine vollzieht und trotzdem so tut, als sei man in einem rechnerisch kontrollierten
Kontinuum geblieben. (Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die
Sonne und der Tod, 2001, S. 91).Spengler
ist Sloterdijks Ideentrainer, besonders dann, wenn es um raumphilosophische
Motive geht. Spengler hat zusammen mit Frobenius die Unterscheidung eingeführt,
die ein »Kulturarzt« machen muß, wenn er seine Aufgabe ernst
nimmt .... (Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne
und der Tod, 2001, S. 228).Spenglers zentrale Denkerfahrung
liegt in der Beobachtung, daß Formen ein Eigenleben haben - sein ganzes
Genie steckt in diesem Motiv. .... Die Form, die Spengler vor allem interessiert,
ist das, was er eine Kultur nennt. Nun ist Spenglers Formbegriff, der über
Goethes Idee der Urpflanze bis auf die aristotelische Zoologie zurückgeht,
durch und durch organologisch geprägt, er gehört zu einem lebensphilosophischen
Sprachspiel, in dem das Leben als Substanz betrachtet wird und die Individuen
als Akzidentien. ( ).
Nur darum konnte Spengler die von ihm so genannten Kulturen als »Lebewesen
höchsten Ranges« bezeichnen. Er meint damit, daß es ein Gestaltgesetz
gibt, ein strukturelles Muß, welches bewirkt, daß in einer Kultur
an dieser oder jener Stelle ihres Gestaltbogens nur Ereignisse, Akteure und Institutionen
von einer gewissen formal vorherbestimmten Qualität auftreten müssen
und keine anderen. Man kann dieser Idee eine gewisse logische Mächtigkeit
nicht absprechen. (Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die
Sonne und der Tod, 2001, S. 177). So versteht man Spenglers Frage: Gibt
es eine Logik der Geschichte? Gibt es jenseits von allen Zufällen und
Unberechenbaren der Einzelereignisse eine sozusagen metaphysische Struktur der
historischen Menschheit, die von den weithin sichtbaren, populären geistig-politischen
Gebilden der Oberfläche wesentlich unabhängig ist? ( ).
Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen ....
( ),
so Spenglers Danksagung.Sloterdijk rät: Man
sollte Spengler progressiv fruchtbar machen und ihn als einen Experten in Primärraumfragen
hören. (Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne
und der Tod, 2001, S. 228). Vor allem würdigt Sloterdijk Spengler als
einen der bedeutendsten Theoretiker des Raums. 
| Auffällig
eng angelehnt an Spenglers Hauptwerk ist das Werk von Arnold Joseph Toynbee (1889-1975 ),
eine Studie zur Weltgeschichte (im Original: A Study of History,
1934-1961 ):
Der Gang der Weltgeschichte - Aufstieg und Verfall der Kulturen. Es kann
nicht sein, daß Toynbee Spenglers Werke, die doch schon seit dem 1. Weltkrieg
fast überall in der Welt kursierten, jahrzehntelang nicht bekannt waren;
und 1949 schrieb er zu Spenglers Untergang des Abendlandes: Als ich
jene Seiten las, aus denen gleichsam ein Feuerwerk überraschender geschichtlicher
Einsichten in Fülle aufleuchtete, hatte ich zunächst den Eindruck, daß
Spengler meine ganze Untersuchung bereits vorweg genommen hatte .... (Arnold
J. Toynbee, Die Kultur am Scheideweg, 1949, S. 15).
Auch für Toynbee verläuft die Geschichte nicht linear,
sondern zyklisch, wobei die Entstehung einer Kultur stets nach dem Prinzip von
Herausforderungen (challenges) und Antworten
(responses) geschieht: für eine große Menschengruppe ergibt
sich eine besondere Herausforderung äußerer Natur, der man in schöpferischer
Weise begegnet, wodurch die Kräfte geweckt werden, die dann in der Folgezeit
den Gang der betreffenden Kultur bestimmen. Das klingt fast nach einem behaviouristischen
Stimulus-Response-Modell für Kulturen. So besteht die Herausforderung (challenge),
die z.B. zur Entstehung der ägyptischen Kultur führte, in der jährlichen
Nilschwemme, die nicht nur eine leistungfähige ägyptische Landwirtschaft
und einen entsprechenden ägyptischen Handel hervorbrachte, sondern im Zusammenhang
mit der Bewältigung der sich jährlich stellenden Aufgaben auch z.B.
die Entwicklung der ägyptischen Schrift, der ägyptischen Wissenschaft
(v.a. Geometrie, Astronomie) und nicht zuletzt der ägyptischen Staatsorganisation
(v.a. Verwaltung, Administration) vorantreibt. Die einzelnen Kulturen entwickeln
sich bei Toynbee nicht ganz so isoliert voneinander wie bei Spengler, sondern
haben mannigfache Beziehungen, und es gibt auch Mutter- und Tochterkulturen. Genau
wie Spengler geht Toynbee von der Parallelität bestimmter innerlich
verwandter Entwicklungsformen und Entwicklungsphasen aus. So fällt jeweils
in die Epoche des Niedergangs eine Zeit der Wirren, und das Zeitalter
der Großstaaten ist die Zeit vor dem endgüligen Zerfall bzw.
mit ihm identisch. Auch für Toynbee enden Kulturen, die er Gesellschaftskörper
nennt, in Sterilität, obwohl nicht ganz so extrem wie für sein Vorbild
Spengler. Toynbees Gang der Weltgeschichte
knüpft eindeutig an Spenglers Untergang des Abendlandes an, vertritt
aber nicht dessen deterministische Sicht, nach der alle Kulturen eine voneinander
unabhängige Entwicklung von Aufstieg, Blüte und Verfall durchlaufen.
Vielmehr propagiert Toynbee eine evolutionäre, also prinzipiell ergebnisoffene
Sichtweise. Demgemäß entwickeln sich alle Kulturen jeweils unterschiedlich
und je nach ihrer Fähigkeit, Antworten (responses)
auf Herausforderungen (challenges) zu finden. Toynbee
vertritt die Auffassung: Je höher der Anreiz zur Entwicklung einer Kultur,
desto höher deren spätere Entwicklungsstufe. Die Herausforderung könne
aber auch zu stark sein und zu einer Überdehnung der Kräfte führen.
In den Fällen entwickelten sich Kulturen, die vor zu einfache oder zu schwere
Herausforderungen gestellt werden, überhaupt nicht oder fallen in Stagnation.
Letzteres sei beispielsweise bei den Polynesiern und den Eskimos der Fall, die
sich der extremen Herausforderung gestellt hätten, die Wasserwüsten
des Pazifik bzw. die Eiswüsten der Arktis zu besiedeln. Insbesondere der
Aspekt der Fähigkeit von Kulturen, Antworten auf Herausforderungen
zu finden, macht den Unterschied zwischen der Theorie Toynbees und der seines
Lehrers Spengler deutlich. Wenn man ...
von den eigentlichen Differenzen zwischen den beiden Denkern ... zunächst
absieht und den morphologischen Gesichtspunkt als das eigentlich Neuartige in
den Vordergrundstellz, dann ist Toynbee keineswegs ohne Vorgänger, zumal
Spengler selbst der größte unter ihnen ist. Denn
als der eigentliche Begründer einer kulturmorphologischen Betrachtungsweise
der weltgeschichtlichen Auffassung gilt tatsächlich Spengler selbst, dessen
Theorie universal amgelegt ist und jedem national oder umgreifend politisch bedingten
Vorurteil fernbleibt. Es ist der erste abendländische Entwurf einer umfassenden
Kulturzyklenlehre, nachdem solche Geundgedanken nur dem antiken Denken bekannt
waren und vielleicht nur vereinzelt im 17. (und 18.)
Jahrhundert einmal neu aufgegriffen worden sind. Hauptträger der Weltgeschichte
ist weder die »einheitliche Menschheit«, deren Existenz auf Erden
in den nacheinanderfolgenden Perioden von »Altertum, Mittelalter und Neuzeit«
eingeteilt wird, noch sind es einzelne auserwähle Völker, die sich unter
Umständen ewig behaupten könnten. Träger der geschichtlichen Menschheit
sind die einzelnen, sich völlig autonom antfaltenden »Kultureinheiten«
oder »Kulturorganisationen«. Der herkömmlichen Lehre vom kontinuierlicehn
Fortschritt der gesamten Menschheit stellt Spengler die These vom pflanzenhaften
Aufkeimen, Wachsen, Blühen und Verwelken der Kulturorganismen entgegen, die
meist zu verschiedenen geschichtlichen Zeiten »dasselbe Lebensalter«
durchlebt haben. (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph
Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 62-63). Was
der Auffassung Spenglers fehlte, war die innere Dynamik unerschöpflicher
Kräfte, die neben aller empirischer Determination nur aus der metaphysischen
Offenheit der Fundamente menschlicher Existenz richtig verstanden werden kann.
Daß neugestellte Aufgaben und herausfordernde Situationen solche Kräfte
in einer nicht nur biologisch verstehbaren Weise intensivieren konnten, zummal
gerade derartige Kräfte irn Hintergrund als etwa metaphysisch gespeist gedeutet
werden müßten, zu einem solchen Irrationalismus scheint Spengler keinen
Zugang gefunden zu haben. Die Dialektik von Mensch und Welt, von Begegnung und
Reflexion oder schließlich von Herausforderung und Antwort, wobei letztere
mehr ist als eine empirisch bedingte Reaktion, -gerade diese Dialektik des inneren
Aufschwunges fehlt im Denken Spenglers; oder sie dürfte zumindest mit seiner
morphologischen Betrachtungsweise unvereinbar sein. Das Fehlen einer solchen Dynamik
im gesamthistorischen Prozeß ist freilich nicht auf die von Spengler eingeführten
»Geschichtseinheiten«, die er als Kulturorganismen versteht, zurückzuführen,
sondern lediglich auf deren starre, nach außen abgeschlossene Gesetzmäßigkeit.
Das Bedürfnis nach einer Auflockerung sowohl des Begriffes
von »Geschichtseinheit« wie auch von deren gesetzmäßigen
Entfaltung leitete dann zu dem neuen Ansatz, auf den Toynbee sein System aufgebaut
hat. (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee,
in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 66). Die
Kategorien »Herausforderung« und »Antwort« als Wesensmomente
im weltgeschichtlichen Prozeß erkannt zu haben, ist das große Verdienst
von Arnold J. Toynbee .... Auch für Toynbee hat jede wirklich sinnvolle Geschichtsforschung
ihren Gegenstand in den Kulturen, die er allerdings als »Zivilisationen«
( )
oder »Gesellschaften« bezeichnet. Schon in dieser terminologischen
Abweichung ist ein ganz anderer Begriff von Kultur enthalten, als dies in Spenglers
»Kulturorganismen« der Fall war. Es geht Toynbee nicht um parallele,
gesetzmäßige Abläufe gleichartiger Zivilisationen, sondern um
die geschichtliche Dynamik, die solche Zivilisationen überhaupt entstehen
und dann wachsen oder vergehen läßt. »Die Wandlung des Untermenschen
zum Menschen ... wurde unter der Obhut primitiver Gesellschaften durchgeführt
und stellt einen größeren Schritt, einen größeren Wachstumsvorgang
dar, als irgendein anderer Vorgang, den der Mensch unter der Zivilisation je vollbracht
hat.« (Arnold J. Toynbee, Studie zur Weltgeschichte, 1934-1961, S.
64). Auf die Geburt einer Kultur muß nicht unbedingt ihr Wachstum und Blühen
folgen. Es gibt »steckengebliebene« Zivilisationen, wie die der Eskimo,
Nomaden und Polynesier. Der Wachstumsprozeß einer Zivilisation geht nicht
aus günstigen Lebensbedingungen hervor, sondern aus Schwierigkeiten und bedrohlichen
Umständen, die als eine »Herausforderung« empfunden werden.
(Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien,
Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 66-67). Toynbee
betont in jeder von ihm konkret geschilderten Situation, daß Herausforderung
allein zu nichts führt. Herausfordernd sind z.B. die durch Naturkatastrophen
plötzlich veränderten klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnisse,
wie etwa bei der tropischen Austrocknung Afrikas und Vorderasiens nach der Eiszeit.
Aber nicht alle dort lebenden Völker haben Kraft und Geschick aufgebracht,
um diese Herausforderung zu beantworten. Die es taten und auswanderten, gründeten
neue Kulturen, die anderen kamen um. Die darauf gegebene »Antwort«,
die Handlungen, Ideen und Kräfte, die daraufhin mobilisiert werden, sind
entscheidend; dies gilt in gleicher Weise auch für die »Antwort«,
die auf einen plötzlich ins Land hereinbrechenden Feind gegeben wird. Sofern
die Herausforderung ein Mindestmaß nicht überschreitet, also der Abwehrkraft
und Intelligenzstufe angemessen, gilt es für Toynbee als sicher, daß
die Antwort darauf nicht ausbleiben wird. Die Festigung einer Kultureinheit (Zivilisation )
beginnt aber damit, daß es nicht bei einer einmaligen »siegreichen
Antwort« bleibt, sondern zu einer Kette von solchen, »einer sich selbst
erneuernden Kette von Aufgaben« (Arnold J. Toynbee, Studie
zur Weltgeschichte, 1934-1961, S. 201), kommt, indem die Antwort
jeweils »weiter geht als die Aufgabe selbst und somit zu neuen Aufgaben
führt, die abermals zu neuen Antworten und Aufgaben führen« (ebd.,
S. 254). (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee,
in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 67-68). Unter
Wachstum einer Kultur versteht Toynbee nicht ihre äußere, gebietsmäßige
Ausweitung, sondern hauptsächlich ihre geistige Entfaltung und Innewerdung,
welche die Mitglieder der Gesellschaft freilich nicht in gleicher Weise ergreift.
Deshalb gilt auch, daß die Antworten nicht durch die Gesamtheit aller in
der Kultur gegeben werden, sondern von schöpferischen Einzelnen oder schöpferischen
Minderheiten, deren Handlungen und Ideen so überzeugend sind, daß sie
spontan Gefolgschaft finden. Diese Spontaneität aller beim Zusammengehen
auf die von Bahnbrechern gewiesenen Wege bewirkt das Wachstum. Das ungehinderte
Auftreten oft unbekannter schöpferischer Einzelner setzt stillschweigend
eine freie gesellschaftliche Ordnung voraus, was etwa die Folgerung zuläßt,
daß in unfreien Staatsordnungen wie Diktaturen und totalitären Systemen
die Chancen zum Aufkommen völlig neuer schöpferischer Antworten auf
plötzlich eintretende Herausforderungen von vornherein begrenzt sind. Das
Handeln der schöpferischen Einzelnen sowie der schöpferischen Minderheit
ist meist durch die beiden Stadien der »Einkehr«, also der Zurückhaltung,
Besinnung und Kräftesammlung, und der »Rückkehr« zur Aktion
bestimmt. Echtes Schöpfertum ist freilich selten und es bleibt von der ihm
folgenden Menge stets abgehoben. Es ist auch nicht sicher, daß sich auf
jede Herausforderung schöpferische Kräfte und Antworten finden, was
noch von vielen äußeren Umständen abhängt. Deshalb gehört
es zum Schicksal jeder Zivilisation, daß sie einmal »versagt«,
daß ihr Wachstum durch ihren Stillstand oder Zerfall abgelöst wird,
und dies geschieht eben nicht auf Grund einer naturgesetzlichen »Vergreisung«
des Kulturorganismus. (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold
Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965,
S. 68). Es bleibt in Toynbees Theorie freilich nicht
bei der Herausarbeitung von Grundbegriffen und der Prinzipienlehre einer Dynamik
des welthistorischen Geschehens. .... Toynbee zählt zunächst folgende
neunzehn Zivilisationen ( )
auf: die westliche, die orthodoxe, die arabische, die Zivilisationen der Hindus,
des Fernen Ostens, der Hellenen, der Syrier, der Inder, der Chinesen, die Kultur
von Minos, die der sumerischen, hethitischen, babylonischen und ägyptischen
Gesellschaften, ... die der Anden, Mexikos, Yukatans und der Maya (vgl. Arnold
J. Toynbee, Studie zur Weltgeschichte, 1934-1961, S. 49). Heute
existieren nur fünf davon: die westliche, die christlich-orthodoxe (diese
gelegentlich in eine byzantisch-orthodoxe und russisch-orthodoxe aufgeteilt),
die mohammedanische, die Hindu-Gesellschaft und die des Fernen Ostens, in der
wiederum eine chinesische und japanisch-koreanische Welt unterschieden wird. Während
diese Herausarbeitung der einzelnen selbständigen Zivilisationen vom ersten
Blick willkürlich aussehen könnte, ist die empirische Beweisführung
in dem großen Werk meist völlig überzeugend. Da die Kleinarbeit
Sache des Historikers ist, genügt dem geschichtsphilosophisch Interessierten
die Orientierung über die Prinzipienlehre an Hand der von D. C. Sommerwell
besorgten zusammenfassenden Darstellung in einem einzigen Band .... (Georgi
Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien,
Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 68-69). Toynbees
Dynamik von Herausforderung und Antwort erscheint ... deshalb besonders bestechend,
was ihm auch zur noch größeren Popularität verholfen hatte, weil
damit nicht nur welthistorische Geschehnisse, sondern auch die konkret politischen
Abläufe einer Zeit näher beleuchtet werden können. (Georgi
Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien,
Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 69). Eingriffe
in die Spannungsverhältnisse zu einem brauchbaren Instrument der modernen
politischen Wissenschaft entwickeln ließe. Toynbee ist mit seiner realistischen
Betrachtungsweise weit entfernt von jedem Geschichtspessimismus, weshalb seine
Ergebnisse der Untergangsprophetie Spenglers gerade entgegengesetzt laufen. Nicht
eine naturgesetzliche Vergreisung, sondern die mobilisierbaren schöpferischen
Kräfte einer Kultur bestimmen es, ob sie, an einem »Endpunkt«
angelangt, eine »schicksalhafte« Krise bestehen wird oder nicht. Toynbee
bedient sich gelegentlich Bergsons Begriff »elan vital« ( )
und meint, daß es intuitive, vital bedingte Kräfte sind, die eine gegebene
Sit,uation aus der totalen Indetermi1riertheit der inneren Natur des Menschen
bewältigen. So betrachtet stehen jeder Kultur Wege zur Erneuerung offen.
- Diese Überlegung dürfte dazu geeignet sein, mit Toynbees Methode der
Prophetie Spenglers vom Untergang des Abendlandes entgegenzutreten (obwohl
offensichtlich doch Spenglers Prophetie durch die Entwicklung bestätigt wurde
und wird; HB): Läßt man nämlich gelten, daß
eine geschichtsphilosophische Erkenntnis, die Deutung einer kritischen Situation
(auch die der »Vergreisung«) ein Stück schöpferische Antwort
auf herausfordernd bewußt auftretende Geschichtsfaktoren darstellt, so dürfte
sich unsere abendländische Kultur, im Gegensatz zu allen anderen, an ihrem
»Ende« insofern in einer besonders ausgezeichneten Stellung befinden,
als sie eben ihren Oswald Spengler nicht nur als den Pessimisten, sondern auch
als den großen Herausforderer zu ihrem geistigen Bestand zählt. Man
wird es kaum behaupten können, daß auch alle anderen Kulturen in ihren
... »Vergreisungs-Perioden« ebenfalls eine so herausfordernde (nicht
fatalistische) Geschichtsschreibung und Philosophie oder gar ihren Spengler und
ihren Toynbee gehabt hätten! (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler
und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek,
1965, S. 72). Es sei schließlich
auf zwei weitere Vergleichsmomente hingewiesen, welche die Vorteile und Nachteile
jedes der beiden Systeme klar erkennen lassen. Will man den morphologischen Charakter
in den Vordergrund stellen und in dessen Rahmen von Gesetzmäßigkeit
im weltgeschichtlichen Prozeß sprechen, so ist der Nachweis einer solchen
Gesetzmäßigkeit Spengler insofern weitaus treffender gelungen, als
er völlig gleichförmige Kulturorganismen beschreibt, die sich zeitlich
und kulturlandschaftlich voneinander genau abgrenzen lassen. Eine solche morphologische
Einheitlichkeit und genaue Abgrenzung können von Toynbees »Zivilisationen«
( )
nicht behauptet werden, was man z.B. daran erkennt, daß er sich oft gezwungen
sieht, manche ihm zu komplex erscheinenden Einzelzivilisationen zu unterteilen.
Andererseits kann man Toynbee nicht immer folgen, wenn er manche benachbarten
Zivilisationen voneinander isoliert betrachtet, während man unter anderen
Gesichtspunkten dazu neigen könnte, sie als eine Einheit aufzufassen. Dieses
Verhältnis von Vorteil und Nachteil der beiden Systeme verschiebt sich gleich
zugunsten von Toynbee, wenn man die Offenheit seiner Zivilisationsprozesse in
Betracht zieht. Die sehr geringe Zahl von »Kulturorganismen« und das
»unumgängliche« Aussterben der abendländischen Kultur, die
sich bereits im technischen Zivilisationsstadium befinden, lassen den Pessimismus
als sehr begründet erscheinen - selbst wenn damit die Entstehung einer Nachfolgekultur
für möglich gehalten wird -, weil das Absterben »der einzigen,
noch bestehenden Kultur« ja nicht notwendigerweise die Bedingungen zur Entstehung
eines neuen Kulturorganismus hinterläßt. Bei Toynbee ist eine solche
Gefahr des endgültigen Aussterbens jedes Kulturgeschehens auf Erden gerade
durch die große Anzahl der von ihm beschriebenen Zivilisationen, von denen
mehrere heute gleichzeitig leben und wachsen, als so gut wie ausgeschlossen zu
betrachten. Denn sie sind keinem Gesetz des notwendigen Unterganges unterworfen,
und ihre Kräfte sowie ihre Fortsetzung in weiteren Zivilisationen sind von
der oben beschriebenen inneren Dynamik des schöpferischen Zivilisationsgeschehens
gewährleistet. (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph
Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 72-73). Das
eigentliche Gesetz, das Spengler eine Handhabe zum Verstehen der Zukunft gab,
liegt in den Analogien der »gleichzeitigen« Stadien in den verschiedenen
Kulturen bzw. in dem feststehenden Ablauf der einzelnen Altersstufen. (Georgi
Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien,
Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 73). Toynbees
Geschichtsschreibung ist ... zwar nicht auf Zukunftsdeutung angelegt. Aber sie
läßt eben alle möglichen Antworten auf die jeweils auftretenden
Situationen unvoreingenommen in Betracht ziehen, wozu noch festgestellt werden
muß, daß allein die Erkenntnis der Möglichkeit neuer schöpferischer
Antworten herausfordernd wirkt und ungeahnte Kräfte mobilisiert. (Georgi
Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien,
Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 74). Die
Einmaligkeit unserer Epoche besteht unverkennbar darin, daß wir uns dabei
befinden, die Synthese einer nunmehr innerlich verflochtenen »Menschheit«
als das kulturell und politisch zusammenwachsende Ganze zu vollziehen ( ).
Als Historiker der früheren Jahrhunderte noch von dieser »Menschheit«
und ihrer »einheitlichen« Geschichte sprachen, beruhte solche Begriffsbildung
nur auf Fiktionen (gegenwärtig ist das nicht viel anders,
und zukünftig wird das wahrscheinlich auch nicht viel anders sein; HB).
Die wirtschaftliche und politische Expansion des Abendlandes mit ihrer Naturwissenschaft
und Technik brachte jedenfalls einen sicheren Nivellierungsprozeß mit sich
für alle bisher noch so eigenständigen Kulturen. Was früher von
einzelenen »Kulturorganismen« ausgetragen wurde, was auf Herausforderungen
stets als spezifisch eigene »Antworten« aufbrachte, ist heute im Begriffe,
in die (eigentlich innerlich zersetzende) Synthese einer »Welktkultur auf
Erden« einbezogen zu werden (aber nur dann, wenn sie
keine Fiktion bleiben wird). (Georgi Schischkoff, Oswald
Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton
Koktanek, 1965, S. 74-75). Spengler
war kein Pessimist, und Toynbee war kein Optimist! Wenn ein Meteorologe schlechtes
Wetter vorhersagt, gilt er doch auch nicht als Pessimist. Seine
Prognosen sind, falls sie sich später als zutreffend herausstellen, lediglich
richtig. Und Spenglers Prognosen sind richtig. Also ist Spengler nicht als Pessimist
zu bezeichnen. Mit solchen Titulierungen sollte man eh stets vorsichtig umgehen.
An einem Beispiel läßt sich sehr gut erkennen, daß nicht nur
Wettergeschehnisse, sondern auch Geschichtsereignisse richtig vorhergesagt werden
können:Das,
was wir den Individualismus oder den krankhaften Egoismus
(Egozentrismus) nennen, ist Ausdruck einer Dekadenz, die man z.B.
an der immer geringer werdenden Zahl an Kindern ( )
sehr gut erkennen kann. Im Abendland begann der Kinderschwund zuerst beim Adel
- während der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert -, setzte sich über
das Großbürgertum bis zum Kleinbürgertum fort, das er zu der Zeit,
als Spenglers Hauptwerk entstand ( )
bereits erreicht hatte, und die Tatsache, daß heute nur noch die unterste
Unterschicht (  ),
das sogenannte Prekariat (das Proletariat gibt es ja nicht
mehr - zuerst wurde es in Deutschland in den 1930er Jahren von den Nationalsozialisten
in das Kleinbürgertum integriert), zu dem obendrein hauptsächlich Migranten
gehören, eine ausreichende oder sogar zu hohe Zahl an Kindern aufweist, zeigt
doch sehr deutlich, daß der bereits seit 1789 erkennbare Untergang
des Abendlandes heute, wo er schon die ersten beängstigenden Dimensionen
erkennen läßt, nicht mehr zu leugnen ist. | Spenglers
Vorhersage ist also richtig - nicht pessimistisch. Sie ist richtig,
weil sie zutreffend ist. Sie ist zutreffend, weil sie objektiv wahr, weil sie
Wirklichkeit geworden ist, sich als eine Tatsache herausgestellt hat. Es ist einfach
nicht statthaft, auch dann von Pessimismus zu sprechen, wenn eine
Vorhersage sich als richtig erwiesen hat. Man nennt ja einen Meteorologen auch
nicht einen Pessimisten, wenn er schlechtes Wetter vorhersagt,
und einen Optimisten, wenn er gutes Wetter vorhersagt.
Spengler war ein guter Meteorologe der weltgeschichtlichen Kulturmorphologie.
Er war der Erfinder der Kulturmorphologie der Weltgeschichte.  Da
Spengler der Erfinder der Kulturmorphologie der Weltgeschichte ist und
Erfindungen oftmals verfeinert werden, kann Toynbee immer nur als Nachahmer und
Ergänzer zu Spengler verstanden werden - um so mehr, als Toynbee das kulturmorphologische
und organische Geschichtsdenken von Spengler bewunderte ( ),
ausdrücklich: Als ich jene Seiten las, aus denen gleichsam ein Feuerwerk
überraschender geschichtlicher Einsichten in Fülle aufleuchtete, hatte
ich zunächst den Eindruck, daß Spengler meine ganze Untersuchung bereits
vorweg genommen hatte .... (Arnold J. Toynbee, Die Kultur am Scheideweg,
1949, S. 15). Toynbee verschwieg hier natürlich, daß er Spenglers Hauptwerk
noch vor der Entstehung seines eigenen Hauptwerkes gelesen hatte. Toynbee
hat Spengler sowohl nachgeahmt als auch ergänzt. Bei Nachahmern ist es fast
immer so, daß sie über ihre Eigenschaft als Nachahmer hinaus Ergänzer
(so auch Toynbee) oder kritischer Gegner (nicht so Toynbee) oder sogar beides
(nicht so Toynbee) sind, denn sie suchen ja den Erfolg über ihre Vaterfigur. Auch
obwohl bzw. weil Toynbee im Gegensatz zu Spengler keine deterministische,
sondern eine evolutionäre, also prinzipiell ergebnisoffene Sichtweise vertritt,
ist er als Spenglers Nachahmer, als ein Spenglerianer, der bekannteste Nachfolger
Spenglers sogar, anzusehen. Man könnte es auch so sagen: So wie Karl Marx
ein Hegelianer war, wenn auch nur Linkshegelianer (Junghegelianer), so war Arnold
J. Toynbee ein Spenglerianer.
| Vom Sozialisten zum
Spenglerianer - der Sozialdemokrat August Winnig (1878-1956 )
aus Blankenburg (Harz) war früh zum Sozialismus gekommen, hatte aber die
Lehre des wissenschaftlichen Sozialismus als dem Arbeiterwesen fremd empfunden:
Ich mußte mir Gewalt antun, um diesen Erklärungen folgen zu können.
Aber erst nach seiner Trennung von der SPD stellte sich ihm die Frage nach einem
adäquaten metaphysischen Ersatz. Bereits in Riga, wo er im Herbst 1918 Generalbevollmächtigter
des Deutschen Reiches für die Baltischen Lande war, hatte er Spenglers
Untergang des Abendlandes gelesen; er erklärte, er wüßte
wohl kein Buch zu nennen, das mich in meinen reiferen Jahren mehr beschäftigt
und stärker beeinflußt hat als Oswald Spenglers Hauptwerk .... Von
dieser Zeit an fühlte ich mich Oswald Spengler verpflichtet und verbunden.
Im Herbst 1920 stellte sich durch Paul Lensch - ebenfalls ein Sozialdemokrat,
der eine ähnliche weltanschauliche Entwicklung wie Winnig genommen hatte
- der persönliche Kontakt zu Spengler her, dessen philosophische Grundposition,
so hatte er ihm am 27. August geschrieben, er so zu beherrschen strebte,
daß er sie zu einem lückenlosen politischen System ausbauen könnte.
Zunächst habe ich den Willen dazu. Winnigs Buch Frührot
(1920 )
war dem großen Heimatgenossen (auch Spengler stammte aus Blankenburg)
gewidmet, und in seiner Schrift Der Glaube an das Proletariat (1926 )
preist Winnig Spengler als den Überwinder des Materialismus. Von 1922 bis
1924 hatte der Autodidakt Winnig in Berlin Geschichte, Volkswirtschaft und öffentliches
Recht studiert und so Gesichtspunkte aufgenommen und durchgearbeitet, die
mir bis dahin fremd waren und die auch innerhalb der sozialistischen Literatur
unbekannt sind. Ich muß gestehen, daß ich hierdurch zu einer Auffassung
gekommen bin, in welcher der Sozialismus (in seiner heutigen Form) eine ganz andere
Bedeutung hat, als ich ihm bis dahin beimaß. In diesen Jahren widmete
Winnig sich der mühevollen Lektüre aller bis dahin veröffentlichten
Schriften Spenglers, die er, der Geschichte nur vom Standpunkt des Arbeiters
denken konnte, mit seiner proletarischen Identität in Einklang zu bringen
suchte. Im Juli 1924 sandte Winnig dem Sozialdemokraten und preußischen
Innenminister Wolfgang Heine (1861-1944) Spenglers Neubau des Deutschen Reiches
zu, wovon sich Heine allerdings enttäuscht zeigte. Wie kann man Marx
lediglich nach dem Kommunistischen Manifest beurteilen! Spengler kennt
von Marx anscheinend weiter nichts. Die Einseitigkeiten des Marxismus, das konstruierte
und abstrakte in seinem Begriff der Klasse, des Volkes und der Abhängigkeit
des Geistigen vom Ökonomischen sind mir sehr klar, und ich habe mich schon
vor 25 Jahren darüber ausgesprochen, aber es sind in Marx Wahrheiten oder
Anläufe zu Wahrheiten, die nicht einfach weggeschüttet werden dürfen,
weil kurzsichtige Professoren diese Juwelen nicht erkennen. Dagegen sah
Winnig wie Spengler in Marx das Verhängnis des Sozialismus. Als bürgerlicher
Außenseiter hätte Marx die Arbeiterbewegung unter die Herrschaft bürgerlicher
Muster gezwungen und von ihrer eigenen Lebenslinie abgedrängt:
Es vollzog sich, was die Naturwissenschaft eine Pseudomorphose nennt: ein
neues Leben mußte sich im Wachsen einer alten Hülle anpassen
(Spenglers Begriff der Pseudomorphose scheint damals ähnlich
ansteckend gewirkt zu haben wie Freuds Begriff des Unbewußten; HB).
Aus dem Materialismus sei der Klassenkampf, aus dem Rationalismus die Gottlosigkeit,
aus dem Weltbürgertum eine vaterlandslose Internationalität geboren;
und so gehe Spengler in seiner Kapitalismuskritik doch weit über Marx hinaus,
indem er das Ende des bürgerlichen Zeitalters prophezeie und dem Arbeiter
seine geschichtliche Mission zuweise. Wie das westliche Christentum (der Klerus)
seine große Aufgabe in der religiösen Organisation der Abendländer
zur geschichtlichen Kultur, wie der Adel seine große Aufgabe in der
Organisation des Volks zur geschichtlichen Nation, wie das Bürgertum
seine große Aufgabe in der Schaffung der großen Wirtschaft wahrgenommen
und umgesetzt hätten, so sei auch das Arbeitertum berufen, das
nationale Leben durch ein großes Werk zu erhöhen. Wäre es nicht
berufen, so wäre seine ganze Bewegung eine subversive Emeute, so wäre
sie ohne geschichtliches Recht. (Nicht schlecht; HB).
Dann wäre es ein Fluch, Arbeiter zu sein. Ich müßte aufhören,
politisch zu denken, zu streben, wenn ich nicht die Gewißheit dieses großen
Berufenseins der Arbeiter hätte. Diese historische Mission leitete
Winnig von Spengler her, dessen Geschichtsmodell er sich mittlerweile umfassend
zu eigen gemacht hatte, und für die er die Arbeiter, Gefäß
eines neuen geschichtlichen Formwillens, eines noch jungen und unverbrauchten
Blutes, zu rüsten strebte. So also lebte Winnig in dem Gedanken
an die Arbeiterbewegung der Zukunft. Dabei habe ich die Hoffnung aufgegeben, daß
diese Bewegung aus der Sozialdemokratie hervorgehen könnte. Auf diesem Boden
kann nichts mehr gedeihen. .... Ich denke mir die Arbeiterbewegung, deren Losung
nicht Friede, Freiheit Brot!, sondern Kampf, Gehorsam, Entbehrung! lautet. Eine
Arbeiterbewegung also, die nicht ihr Recht zur Führung fordert, sondern die
sich dies Recht nimmt, indem sie es sich verdient. Wäre eine solche Bewegung
vorhanden und wäre ich ihr Führer, so würde ich in ihrem Namen
die Arbeitszeit der Vorkriegsjahre dekretieren. Ich würde das Parlament zwingen,
durch Gesetz ein Arbeitspflichtjahr einzuführen. Ich würde diese Bewegung
siegreich machen durch die moralischen Eroberungen, durch das Vorbild, das sie
der Nation durch ihren Gehorsam, durch Pflichtgeist und Hingabe an das Ganze gibt.
Eine solche Bewegung brauchte nicht mehr um die Führung zu kämpfen,
sie hätte sie kraft ihres Geistes und ihrer Taten. Winnigs politisches
Programm war, wie er behauptete: Spenglerisch. Im Frühjahr 1926
erschienen seine zwei programmatischen Schriften (Befreiung und Der
Glaube an das Proletariat ),
die er als das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung mit Spenglers Gedanken
bezeichnete und in denen er die nationale Erhebung gegen Demokratie und Kapital
sowie den militärischen Kampf gegen die Versailler Friedensmächte proklamierte.
( ).
August Winnigs Weg vom Sozialdemokraten zum jungkonservativen Publizisten und
Programmatiker, der ohne Spengler nicht zu verstehen wäre, hatte sich damit
erfüllt. Der nationale Sozialismus war von einem Projekt der
Linken zu einem Projekt der Rechten geworden. Im Sommer 1927 wurde August Winnig
durch Ernst Niekisch, auch er ein sozialistischer Renegat, für die Altsozialistische
Partei (ASP) gewonnen, eine Rechtsabspaltung der sächsischen SPD, deren national-republikanisches
Programm auch Wolfgang Heine begrüßte. Anders als Niekisch bemühte
sich Winnig aber um die Anbindung der ASP an die nationalen Kampfbünde, an
Jungdeutschen Orden und Stahlhelm. Damit war ein Weg beschritten,
der Winnig, nach dem späteren Bruch mit Niekisch, sehr weit führte:
über die Volkskonservativen zu den Nationalsozialisten zurück in den
Schoß des evangelischen Christentums und auf die Seite des konservativen
Widerstands. Immer fühlte er sich dabei Oswald Spengler verpflichtet. Für
die deutsche Linke war Winnig verloren, aber, so schrieb Wolfgang Heine an einen
Freund: es ist schade um Winnig. Winnigs Geschichte, diese Anekdote,
ist interessant, auch amüsant und rührselig, aber sie klingt auch ein
wenig traurig.Zu den entschlossenen
Verfechtern des Spenglerschen Wegs gehörte auch Albrecht Erich
Günther ( ).
Günther hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg und der Teilnahme an den Freikorpskämpfen
zuerst einem radikalen Nationalkommunismus zugewandt, dann aber eine Korrektur
vollzogen. 1926 war er neben Wilhelm Stapel in die Schriftleitung des Deutschen
Volkstums eingetreten. Anders als der in vielem noch den Vorkriegstraditionen
verhaftete Stapel neigte Günther zum Bruch mit Überlieferungen und war
skeptisch gegenüber den üblichen konservativen Affekten. So veröffentlichte
er einen stark diskutierten Aufsatz unter der bezeichnenden Überschrift Zivilisation.
Er plädierte hier unter ausdrücklichem Bezug auf Spenglers Preußentum
und Sozialismus ( )
für einen organisatorischen - wie er sagte: kategorischen - Sozialismus.
Vor allem aber ging es ihm um den Abschied von aller Kultursentimentalität:
Wie die Jahrtausende alte Einsicht in unsere individuelle Sterblichkeit
die Tatkraft des Menschen nicht gemindert, sondern ihre verantwortliche Anspannung
begründet hat, so bewirkt die Überzeugung von der Endlichkeit der geschichtlichen
Gestaltungskraft eines Volkes eine harte, männliche Entschlossenheit, die
gesetzte Frist rühmlich zu nutzen. Inhalt und Duktus der Argumentation
Günthers erinnern nicht zufällig an Ernst
Jünger (1895-1998 ).
Beide waren eng befreundet, und es wäre reizvoll zu untersuchen, ob Günther
Jünger beeinflußte, und wenn ja, wie stark. Jedenfalls entwickelten
beide bis zum Beginn der 1930er Jahre eine Position, die durch Bejahung der Modernität
und vor allem der Technik gekennzeichnet war. Diesen Weg haben viele Anhänger
Jüngers nicht nachvollziehen können, was hinreichend ihre verstörten
Reaktionen bei Erscheinen des Arbeiters, 1932 ( ),
erklärt. Die Wirkung von Jüngers Arbeiter war in vielem ähnlich
derjenigen von Spenglers Untergang des Abendlandes. Im einen wie im anderen
Fall erlebten gerade die konservativen Menschen ... eine außerordentliche
Erschütterung, weil ihnen die Einsicht abverlangt wurde, daß
der Nomos der Ahnen erlischt (Albrecht Erich Günther). Diese
Gemeinsamkeit war insofern kein Zufall, als die Spenglersche Geschichtsphilosophie
große Bedeutung für Jüngers Denken besaß. Man könnte
sicher die Ähnlichkeit zwischen dem von Spengler geforderten Ethos und dem
heroischen Realismus nachweisen, und Jüngers Forderung nach organischer
Konstruktion erschien auch als Konsequenz der Einsicht, daß sich die
Kultur nicht wiederbeleben ließ und jetzt die Gestaltung der
Zivilisation gefordert war. Spengler hat diese Nähe allerdings
nicht gesehen. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, daß er sich
mit der 1931 erschienenen Schrift Der Mensch und die Technik ( )
auf Distanz zum futuristischen Elan seiner früheren Jahre gegangen war. Letztlich
war es aber Desinteresse an einer anderen, selbständigen Deutung. Nachdem
Jünger ihm den Arbeiter mit einer respektvollen Widmung zugesandt
hatte, antwortete Spengler sehr höflich, aber doch auch mit Unverständnis:
Wenn man dem angeblichen sterbenden Bauerntum »den Arbeiter«,
das heißt den Fabrikarbeiter, als neuen Typus gegenüberstellt, entfernt
man sich von der Wirklichkeit und damit von jedem Einfluß auf die Zukunft,
die ganz andre Wege gehen wird. (Oswald Spengler an Ernst Jünger).
Spenglers
Verdienst liegt darin, daß er den großen Gedanken der Entwicklung,
wie Herder und Goethe sie verstanden, auf sein Geschichtsbild anwendet, und das
zu einem Zeitpunkt, an dem dieser Gedanke durch Mißverständnis und
Verflachung der Hegelschen Geschichtsphilosophie nicht nur im historischen Selbstbewußtsein
der Gebildeten, sondern bis in die politische Praxis hinein zu einer Art von optimistischem
Religionsersatz vereinfacht worden war. Demgegenüber ist Spenglers Geschichtsbild,
vor allem hinsichtlich der Kulturprognose, mit Recht pessimistisch. Es führt
von der Vorstellung der linearen und eo ipso aufsteigenden Entwicklung zu zyklischen
Konfigurationen zurück. Dadurch übt es großen und wachsenden Einfluß
aus. | (Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 454 ). |
Unter
den Spenglerianern ist für mich einer besonders hervorzuheben: Fritz Schachermeyr
(1895-1987 );
er war wie Spengler der Meinung, daß nicht die Rasse, sondern die Kultur
selbst der entscheidende Faktor sei und daß es sich - ganz im Sinne Spenglers
- bei Kulturen um organische Größen handele, deren Lebenszeit
allein von immanenten Faktoren abhänge. Schachermeyr hat seine Position unter
dem Eindruck der gesellschaftlichen Krise, die in den 1960er Jahren einsetzte,
noch einmal zusammengefaßt und 1981 ein umfangreiches Werk veröffentlicht:
Die Tragik der Voll-Endung. Aus diesem Buch stammen die folgenden Überlegungen:Folgendes
haben wir zu unterscheiden: Ein Verenden entweder durch brutale Gewalt oder aber
durch eigenes Altern. Ein Verenden könnte aber auch durch eine Krankheit
erfolgen, sofern es gegen eine solche kein Remedium gibt. Verenden kann
dabei sowohl von einer Regeneration gefolgt sein, würde sich also nur auf
den bisherigen Entwicklungsablauf beziehen, oder aber mit der Vernichtung der
Entwicklungsträger einen endgültigen Abschluß bedeuten. Im folgenden
wollen wir die einzelnen hier in Frage kommenden Möglichkeiten aufzählen:
|
1.
Ein absolutes Ende ohne Regeneration kann erfolgen bei einer totalen Vernichtung
durch einen brutalen äußeren Feind. Die Vernichtung der Azteken ...
und Inka ... durch die Spanier bietet dafür ein Beispiel .... |
2.
Ein absolutes Ende ohne Regeneration würde sich auch ergeben aus einer globalen
Vernichtung des Menschengeschlechtes durch die Segnungen unserer technisierten
Naturwissenschaften. |
3.
Die Beendigung einer Entwicklung, verbunden mit einer Erhaltung seiner Träger
und mit der großen Wahrscheinlichkeit zu einer echten Regeneration wird
uns dagegen durch die ... Wende ... von der Antike zum Abendland verbürgt.
... Voraussetzungen wären ... zuerst enmal das Eintreten gewisser Negativerlebnisse:
So etwa die Reduktion eines allzu lastenden Kulturerbes durch barbarische Zerstörung,
wodurch das bisherige kulturelle Establishment so weit zerbrach, daß die
bisherigen Zentralwerte verloren gingen und damit auch das bisherige Kultursystem.
Was sich freilich erhalten mußte, das waren ... die Träger ..., dann
aber auch die einzelnen Kulturelemente. Diese waren nach dem Zusammenbruch der
bisherigen Zentralwerte ja ohne feste Bindung und Steuerung, sie waren gleichsam
frei und ihres bisherigen traditionellen Strukturzwanges ledig. So
fanden diese Elemente die Möglichkeit, sich irgendwelchen neugebildeten Zentralwerten
oder Zentralwertkomplexen anzuschließen, wodurch dann eine neue Wertstruktur
entstand, aus der eine neue Kulturentwicklung mit einer neuen, bis dahin noch
nie verfolgten, daher völlig unverbrauchten Richtung eingeschlagen
werden konnte. Dabei sind diese Wendungen nicht aus dem Intellekt inauguriert
worden, sondern aus dem Unbewußten aufgewachsen. Wir lernen daraus, daß
solche Regenerationen gar nicht gewollt und gemacht werden können, sondern
einen elementaren Prozeß darstellen, von dem man zuerst gar nichts merkt
und der gerade dadurch vom Intellekt nicht verpfuscht werden kann. (Daher
erfolgten bei einer solchen Regeneration zuerst Jahrhunderte eines statischen
Winters, bis man sich allmählich der Möglichkeiten zu einer
dynamischen Aufwärtsentwicklung mit Hilfe von Phantasieleistungen bewußt
wurde; HB). Für eine solche Regeneration wäre eine weitere Voraussetzung,
daß sie von außen durch Fremdeinflüsse nicht so sehr gestört
wird, daß sie darüber ihre bisherige menschliche und kulturelle Substanz
verliert. Vor allem bedarf eine solche Regeneration ja der Erhaltung der durch
die Zertrümmerung des bisherigen Systems freigewordenen Kulturelemente, damit
sie neue Zentralwerte und dann eine neue Wertstruktur hervorbringen können.
(Vgl. Germanen; HB ). |
4.
Eine ganz andere Möglichkeit, den Niedergang und das Ende wenigstens aufzuhalten,
läge darin, daß er noch vor seiner Endkatastrophe von einem lebenstüchtigeren
Seitenzweig (Satelliten) der gleichen oder einer verwandten Entwicklung aufgefangen
würde. Dieser kräftigere Seitenzweig übernimmt nun die Führung
und eine Art von Protektorat. Er sorgt für ein statisches Weiterbestehen
der Niedergangskultur im Rahmen seiner eigenen Gesittung. So ... nahm Rom den
Hellenismus in sein Imperium mit auf. Wenn wir diesen Seitenzweigen höhere
Lebenskraft zuschrieben, so meinten wir damit, daß ihnen in der von ihnen
eingeschlagenen Richtung noch ein höheres Maß von unerfüllten
Aufgaben und Phantasiemöglichkeiten zur Verfügung standen und damit
zugleich auch noch eine härtere konformistischere Haltung. Dabei
müssen wir bedenken, daß extreme pluralistische Systeme wie das des
Hellenismus gegenüber konformistischen Gesittungen (zum Beispiel Rom) ohnehin
niemals eine Chance haben. Extremer Pluralismus ist zu sehr gespalten und durch
die Luftblasen des Egoismus aufgeplustert. Bei gleichem Stand der Technik wird
der extreme Pluralismus gegenüber einem konformistischen Gegner immer den
Kürzeren ziehen. |
5. Eine letzte und zugleich allergünstigste Art der Regeneration würde
sich schließlich einstellen, wenn man im Rahmen der bisherigen Entwicklung
(also ganz ohne Mithilfe eines Seitenzweiges) aus eigener Kraft einen neuen, noch
unverbrauchten Zentralwert (etwa Europa! )
zu gewinnen vermöchte. Daraus würden sich dann ohnehin so viele Anreize
für neuere Phantasieleistungen ergeben, daß sich die bisher eingeschlagene
Entwicklung wie von selbst in durchaus gesunder Weise um eine neue Phase weiter
fortsetzen würde. |
(Fritz
Schachermeyr, Die Tragik der Voll-Endung, 1981 ). | Jeder Einwohner der westlichen Welt werde
im geistigen Sinne zukünftig (US-) Amerikaner
sein, soll Oswald Spengler dem abgedankten Kaiser
Wilhelm II. geschrieben haben - andererseits wuchs in den USA auch die Anzahl
der Spenglerianer.In den USA fanden die deutsche Philosophie
und vor allem der deutsche Kulturbegriff breiten Einzug in den intellektuellen
Diskurs, besonders stark seit Franz Boas (1858-1942) einer der Vermittler war.
Es gibt so viele Moralen, als es Kulturen gibt, nicht mehr und nicht weniger
- dieses Diktum von Oswald Spengler interessierte den Ethnologen und Anthropologen
Franz Boas besonders. Nach dem 2. Weltkrieg trat der Kulturrelativismus, verbreitet
durch Boas' Schüler, seinen Siegeszug durch die Universitäten der USA
an. Boas' Schülerin Ruth Benedict (1887-1948) z.B. legte ihrem ethnologischen
Klassiker Patterns of Culture (Urformen der Kultur )
Spenglers Unterscheidung zwischen faustischer Kultur und apollinischer Kultur
zugrunde. Das Buch wurde ein Riesenerfolg.Zu
den Spenglerianern der USA zählt auch der prominente Henry Kissinger (*1923 ).
In seiner Stellung als nationaler Sicherheitsberater Richard Nixons und als Außenminister
(während der Watergate-Affäre De-facto-Präsident)
war er geradezu die Verkörperung des Spenglerschen Tatsachenmenschen. Kissinger
widmete Spengler in seiner voluminösen Abschlußarbeit - Die Bedeutung
der Geschichte - ein eigenes Kapitel unter der Überschrift: Geschichte
als Intuition. ( ).
Kissingers Betrachtung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der Geschichtstheorie
Spenglers und dem Freiheitsbegriff von Immanuel Kant ( ).
Seine jugendliche Begeisterung für Kants politische Schriften hätten
Kissinger eigentlich eher zu Woodrow Wilsons Ansichten über Mission und Interessen
der USA führen müssen, statt dessen aber führten sie ihn zu den
beiden größten Praktikern der Machtpolitik: Metternich ( )
und Bismarck ( ).
Daß Kissinger sich nicht zum Verfechter der idealistischen Position entwickelt
hat, verdankt sich ganz sicher nicht zuletzt einer skeptizistischen (böse
Zungen behaupten: pessimistischen )
Anthropologie. Professor Stanley Hoffmann, ein Bekannter aus der Studentenzeit,
erinnert sich noch genau: Henry schien stets mit dem Geist von Spengler
an seiner Seite herumzulaufen.Auch andere
einflußreiche politische Praktiker in den USA waren und sind von Oswald
Spengler fasziniert. George F. Kennan lernte Spenglers Schriften 1926 bei seinem
Deutschlandbesuch in Berlin und Heidelberg kennen. Paul Nitze (er stand von 1963
bis 1967 an der Spitze des Marineministeriums, diente 8 Präsidenten in verschiedenen
Funktionen, zuletzt Ronald Reagan )
gab Ende der 1930er Jahre seine Tätigkeit an der Wall Street auf und beschäftigte
sich in Harvard intensiv mit dem Untergang des Abendlandes. Spengler machte
großen Eindruck vor allem bei politischen Realisten und traditionellen Konservativen,
die sich schon im Grundsätzlichen vom Optimismus und Moralismus der Neokonservativen
unterscheiden. In einer kritischen Buchbesprechung des vom neokonservativen Vordenker
Robert Kagan verfaßten Titels Paradise and Power im American Conservative
empfahl der Rezensent dem Präsidenten Bush ( ),
er solle nach dem Irak-Krieg statt den essayistischen Schriften seiner neokonservativen
Berater zu folgen, lieber zu den Schriften von Oswald Spengler greifen. Von Spengler
könne der Präsident lernen, daß Imperialismus eine Folgeerscheinung
der kulturellen Dekadenz sei und in seiner Konsequenz in die Barbarei führe.
Der mutige Rezensent verschweigt allerdings, daß man von Spengler auch lernen
kann, was der Cäsarismus darstellt: das zwangsläufige -
also unabwendbare - Endstadium, die Vollendungsphase, das Ergebnis einer jeden
Kultur - den Höhepunkt einer jeden Zivilisation aber eben auch. Was
die moderne Presse betrifft, um Spengler frei zu zitieren, so mag der Schwärmer
zufrieden sein, wenn sie verfassungsmäßig »frei« ist; der
Kenner fragt nur danach, wem sie zur Verfügung steht. Spengler hatte
bereits ganz klar den Einfluß vorausgesehen, dem der Einzelne durch die
sanfte Manipulation der Massenmedien ausgesetzt sein wird. Eine furchtbarere
Satire auf die Gedankenfreiheit gibt es nicht. Einst durfte man wagen, frei zu
denken; jetzt darf man es, aber man kann es nicht mehr. Man will nur noch denken,
was man wollen soll, und eben das empfindet man als seine Freiheit .... Es ist
jedem erlaubt, zu sagen, was er will; aber es steht der Presse frei, davon Kenntnis
zu nehmen oder nicht. Spengler hat hier prophezeit, was ich die Zeusiokratie
( )
nenne, das zentrale Merkmal der Phase, die ich Befruchtung oder Cäsarismus
( )
nenne.Vielleicht ist der Begriff Cäsarismus
etwas unglücklich gewählt, wie schon Julius Evola (1898-1974 )
meinte, der trotzdem stark von Spengler beeinflußt war und viele Schriften
Konservativer deutscher Autoren und auch Spenglers Untergang des Abendlandes
ins Italienische übersetzte. Laut Spengler werden die Cäsristen von
ihren Vorgängern ungewollt hervorgebracht, es entzündet sich der Kampf
zwischen Politik und Wirtschaft um die Vorherrschaft, und schließlich siegen
die Cäsaristen über die Tyrannei des Geldes. Mit dem cäsaristischen
Typus oder gar dem cäsaristischen Individuum geht also ein neues Prinzip
einher, das ganz wesentlich gekennzeichnet ist durch die absolute Politik, die
Konzentration aller Macht und Gesetze, das heißt: die cäsaristischen
Individuen herrschen tatsächlich alleine und sorgen für ein Goldenes
Zeitalter. Die von Spengler bereits um 1911 formulierte Prophezeiung für
den Westen, so Evola, lautet, daß die cäsaristischen Individuen in
den Vereinigten Staaten von Amerika, wo (und von wo aus) sie herrschen werden,
werden die Wirtschaft dem reinen politischen Prinzip gefügig machen. Schließlich
werden zwischen den verschiedenen neuen Cäsaren rivalisierende Kriege um
die Weltherrschaft ausbrechen. Die Kriege im Zeitalter des Weltfriedens
sind Privatkriege, furchtbarer als alle Staatenkriege, weil sie formlos sind.
Denn der Weltfriede - der oft schon dagewesen ist - enthält den privaten
Verzicht der ungeheuren Mehrzahl auf den Krieg, damit aber auch die uneingestandene
Bereitschaft, die Beute der andern zu werden, die nicht verzichten. (Oswald
Spengler, a.a.O., S. 1106 ).
Evola, der Spenglers Werk als Meisterwerk ansah, hatte lediglich am Begriff des
Cäsarismus etwas auszusetzen und glaubte, bei Spengler eine seltsame und
widersprüchliche Interferenz der Motive gefunden zu haben. Im Cäsarismus
sollen tatsächlich, so Evola, die Werte der Aristokratie oder gar der Tradition
erneut aufblühen, dazu gehört auch der Wert der Rasse, aber Spengler
meinte eine Rasse, die man hat, nicht eine Rasse, zu der man gehört.
Das eine ist Ethos, das andere - Zoologie (Oswald Spengler, a.a.O., S. 161 ).
Wie aber sollten solche Werte die Zerstörungen überlebt haben, die den
Prämissen zufolge dieser letzten Phase als Wegbereiter vorausgingen?
fragt man sich, mögliche Antworten bietet z.B. das Werk Tragik der Voll-Endung
von Schachermeyr ( ).
Doch für Evola blieb unbegreiflich, wie in diesen neuen großen
Individuen (Cäsaristen), die ganz Willen sind, ein Bewußtsein
für Ehre, für Verantwortung, für die eigennützige Sorge um
alles, was sie mit ihrer absoluten Macht der Tyrannei des Geldes entzogen haben,
hervorbrechen soll. Evola wollte einfach nur den Begriff des Cäsarismus durch
den des Totalitarismus ersetzen, denn Evola stand dem Nationalsozialismus nahe.
Merken wir an, daß man ihn nur aus der damaligen Zeit heraus verstehen kann.
Trotzdem hielt Evola es für möglich, daß Spenglers Prognosen zutreffen,
daß der Westen also in seinem Untergang das Erscheinen (falscher) Cäsaren
erleben wird und den Kampf der von ihnen aufgestellten Kräfte um die Weltherrschaft.
Ich nenne diese
Phase Cäsarismus oder Befruchtung oder auch die Globalismus-Phase
( );
und ein solches Globales Zeitalter ist durchaus auch ein Goldenes
Zeitalter. Die psychopolitische Herausforderung des Globalen Zeitalters,
das wir ... als ... Resultatsstufe ... verstehen, besteht darin, daß
die Schwächung der Container-Immunitäten nicht einfach als Formverlust
und Dekadenz, das heißt als ambivalente oder zynische Beihilfe zur
Selbstzerstörung, verarbeitet werden darf. Was auf dem Spiel steht,
sind erfolgreiche neue Designs von lebbaren Immunverhältnissen ....
(Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 239 ).
Für Sloterdijk stellen sich alle Fragen der sozialen und personalen
Identität unter morphologischen und immunologischen Aspekten dar, also
unter dem Gesichtspunkt, wie in geschichtlich bewegten Großwelten
so etwas wie lebbare Formen des »Wohnens« oder des Bei-sich-und-den-Seinen-Seins
eingerichtet werden können. (Ebd., 2005, S. 234 ).
Sloterdijk folgt der These, daß der europäische (abendländische)
Historismus, den der junge Nietzsche ( )
aus anachronistischer heroischer Gesinnung bekämpfte, nichts
anderes sei als eine Abendröte der terrestrischen Globalisierungsära,
die Dämmerung des abendländischen Weltnahme- und Weltstiftungszeitalters
! Unter denen, die sein Ende kommen sahen, ragt Oswald Spengler noch
immer hervor: Seine Studien zum »Untergang des Abendlandes«
sind ein geschichtsmorphologischer Abgesang auf die »faustische«
Kultur als die einzige, die den Gedanken der Geschichte zu denken vermochte
und die als einzige »Geschichte« im engeren Wortsinn hevorbrachte,
erlebte und reflektierte - so Sloterdijk (ebd., 2005, S. 262 ).
Die neuen Immunitätstechniken (in ihrem institutionellen Zentrum:
die Privatversicherungen und Pensionfonds, an ihrer individuellen Peripherie:
Diätetik und Biotechnik) empfehlen sich als Existentialstrategien für
»Gesellschaften« aus Einzelnen, bei denen der lange Marsch in
die Flexibilisierung, die Schwächung der »Objektbeziehungen«
und die generelle Lizensierung von untreuen oder reversiblen Verhältnissen
zwischen Menschen zum »Ziel« geführt haben - zu dem von
Spengler richtig prophezeiten Endstadium jeder Kultur: jenem Zustand, in
dem es unmöglich ist zu entscheiden, ob die Einzelnen tüchtig
oder dekadent sind (aber tüchtig in welcher Hinsicht und dekadent in
bezug auf welche Höhe?). Es ist der Zustand, in dem den Individuen
die Fähigkeit zur exemplarischen Fähigkeit zur Weltbildung abhanden
gekommen ist. (Ebd., 2005, S. 241-242 ).
| Als Spenglerianer
gilt auch der mehrfache US-Präsidentschaftskandidat Patrick Buchanan (*1938);
sein Buch: The Death of the West (2001 )
ist schon im Titel angelehnt an Decline of the West - die englische Übersetzung
von Spenglers Untergang des Abendlandes. Auch Buchanans Abgesang auf den
Westen besagt, er richte sich durch Geburtenschwund und Masseneinwanderung selbst
zugrunde, aber anders als Spengler kennt Buchanan einen Schuldigen, nämlich
die Frankfurter Schule und die aus ihr hervorgegangene Neue Linke, deren Protagonisten
somit zu Akteuren von welthistorischem Format aufgeblasen werden.Besonders
intensiv wurde Spengler im Lager der politisch kaum relevanten Rechtsextremen
der USA studiert. Für diesen Rezeptionsstrang steht wie kein zweiter der
Name des Juristen Francis Parker Yockey (1917-1960), der sich selbst als legitimen
Nachfolger Spenglers ansah. Sein kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfaßtes
Hauptwerk Imperium - The Philosophy of History and Politics -, das er Adolf
Hitler widmete, folgt Spenglers Theorie mitunter bis ins Detail und fordert folgerichtig
ein großes europäisches Imperium als krönenden Abschluß
der abendländischen Kulturentwicklung. Mit der europäischen Revolution
von 1933 sei ein erster Schritt in diese Richtung erfolgt. Ein mächtiges
Hindernis auf diesem sehr spezifischen Weg zur europäischen Einheit sah der
Antisemit Yockey vor allem im Semitismus kleiner kulturentstellender
Gruppen. Und ohne diese Kulturverderber könnten auch die USA
dem abendländischen Imperium beitreten.Daß eine
Rezeption der Spenglerschen Thesen auch bei einem breiteren us-amerikanischen
Publikum existiert, wird schon anhand eines Blicks auf die us-amerikanische Presselandschaft
deutlich. Am Rand der großen Debatten treten dort bestimmte Verweise, Diskussionen
und direkte Bezüge auf Spengler sporadisch an die Oberfläche. Mit der
Leserbriefüberschrift Spengler was right reagierte im September
1996 ein Leser des Spectator auf eine gegen Spengler gerichtete Polemik
mit einer genauen Darlegung und Richtigstellung der von Spengler vorgelegten Zeittafeln
und ihrer Übereinstimmung mit der eingetretenen Entwicklung. In einem weiteren
Leserbrief wurde die Ignoranz gegenüber dem Werk Spenglers angeprangert,
der schon vor dem Ersten Weltkrieg die heutige Situation vorausgesagt habe. Spenglers
Prophezeiung von der Allianz der Unterklassenanarchie und dem Aufstand der farbigen
Völker sei eine exakte Vorwegnahme der gegenwärtigen Bewegung für
eine antirassistische und multikulturelle Gesellschaft. In einem langen Artikel
der Kansas City Post vom 4. Dezember 2004 wird die christliche Apokalypse
( ),
die im Ideengut der religiösen Rechten einen großen Stellenwert besitzt,
in ein Verhältnis gesetzt mit der Gestalt der von Spengler beschriebenen
Spätzivilisation. Der Autor sieht in der Gegenwart deutliche Zeichen für
die Erfüllung von Spenglers Prophezeiung. Der demographische Niedergang Europas
und das Anwachsen muslimischer Minderheiten in Europa werden, Spengler folgend,
in Analogie zur Entvölkerung und Neubesiedlung des römischen Territoriums
in der Spätantike interpretiert. Nach dem 11. September 2001 konstatierte
Oliver Bennett im New Statesman, der Pessimismus sei zur vorherrschenden
geistigen Grundhaltung aufgestiegen und hätte die Progressionstheorien der
Aufklärung endgültig abgelöst. Diese geistige Depression habe bereits
in den 1960er Jahren eingesetzt und seine wichtigsten Vordenker seien Oswald Spengler
und Sigmund Freud. Gerade in akademischen Kreisen blühe der intellektuelle
Pessimismus in Form der postmodernen Wertekritik, der sich zu einer der mächtigsten
Kräfte des herrschenden Zeitgeistes aufgeschwungen habe. Der intellektuelle
Optimismus sei in die Defensive geraten. Francis Fukuyama sei mit seiner These
vom Ende der Geschichte einer der letzten einflußreichen, gegen den Strom
der Degenerationstheoretiker schwimmenden Denker. ( ).
Fukuyama kann man mit Blick auf seine Werke der 1990er Jahre tatsächlich
als liberalen Gegenpol zur Spenglerschen Geschichtsbetrachtung ansehen, doch in
seinen Arbeiten seit Beginn des 21. Jahrhunderts (wohl nicht zufällig) zeigen
sich sogar Parallelen zu Spenglers zyklischer Geschichtsbetrachtung. Der Optimismus
von Fukuyama ergibt sich nicht wie unterstellt aus einem einseitig linear-progressiven
Geschichtsbild, sondern daraus, daß er von kürzeren Zyklen der kulturellen
Degeneration und sittlichen Erneuerung ausgeht. Der Prozeß, der bei Spengler
ein Millenium umfaßt, ist bei Fukuyama auf hundert bis hundertfünfzig
Jahre verkürzt. In seinem Buch Der Große Aufbruch (2000 )
beschreibt Fukuyama die Dekadenzerscheinungen der westlichen Gesellschaft, den
Rückgang der Geburtenraten, den Anstieg der Kriminalität, den Verfall
der Familie und den Verlust von Sozialkapital. Eine ähnliche Entwicklung
habe sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzogen, die dann durch
neue Formen der sozialen Disziplinierung in der Viktorianischen Ära überwunden
worden sei. In den 1950er Jahren habe der in den 1920er Jahren erst nur in der
Elite einsetzende moralische Bruch langsam die gesamte Gesellschaft erfaßt,
die Gegentendenzen seien jedoch schon klar erkennbar und würden in der ersten
Hälfte des 21. Jahrhunderts quasi zu einem neuen Viktorianischen Zeitalter
führen, womit erneut ein kulturhistorischer Zyklus seinen Anfang nehme. Ein
von Fukuyamas abweichendes Zyklenmodell legte der Historiker Paul Kennedy in seinem
Werk Aufstieg und Fall der großen Mächte dar. Kennedy sieht
die Weltgeschichte als ewigen Prozeß des Auf- und Abstiegs von Großmächten,
bedingt durch die Spannung zwischen der Begrenztheit ökonomischer Ressourcen
und die Anforderungen hegemonialer Expansion. Der Niedergang eines Reiches kann
durch geschickte Politik zwar hinausgezögert, jedoch langfristig nicht verhindert
werden. Kennedys Argumenten kam in der Abrüstungsdebatte und der Diskussion
über die Überforderung des US-Haushalts und der us-amerikanischen Wirtschaft
besonders in der Clinton-Ära eine gewisse Bedeutung zu. Neben Vorstellungen
von kultureller Degeneration und der Popularität zyklischer Geschichtsbilder
gewann noch ein drittes Element des Spenglerschen Denkens seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs an Bedeutung. Der Kulturdeterminismus, also die Vorstellung, daß
alle politischen, ökonomischen und ideologischen Entwicklungen durch einen
kulturellen Rahmen mehr oder weniger vorgegeben sind, korrespondiert dabei mit
dem Kulturrelativismus, der Idee nebeneinander existierender Wertesysteme, die
nur aus sich selbst heraus verstanden werden dürfen und einen universellen
Wertekonsens unmöglich machen.
| In den USA erschien
1993 der politische Bestseller Kampf der Kulturen von Samuel Huntington
( ),
der dem Lager der politischen Realisten um die Zeitschrift Foreign Affairs
zuzurechnen ist. Bei Huntington ist die Spengler-Rezeption explizit und klar formuliert.
Wie bei Spengler bilden Kulturkreise bei Huntington die primären Größen
der Identitätsbildung, woraus folgt, daß auch die globalen Konfliktgrenzen
vor allem kulturell bestimmt sind. Folgende Frage beantworten wir also mit einem
Ja: |