Das
anhaltende letzte Ereignis der geschichtlichen Welt ist die aktuelle Globalisierung
( )
als Herstellung der permanenten Erdgegenwart. Dieses Großereignis, von Menschen
gemacht, verläuft durch die Lebensmitte der gegenwärtigen Generationen.
Sie ist das Ungeheure in der Zeit. An ihm läßt sich ablesen, daß
neuzeitliche Menschen im Grunde nicht Geschichte machen wollen, wie die Geschichtsphilosophien
suggerierten, sondern daß sie im Sinn haben, die Geschichte abzuschließen
und nachgeschichtliche Zustände herbeiführen. Die fortlaufende Annäherung
an die ewige Gegenwart, in der die Summe aller Ereignisse Null ergäbe, war
das eigentliche Projekt der Moderne. Insofern war die Idee
des Dritten Reiches nicht nur eine faschistoide Parodie auf den christlichen
Millennarismus, wie er sich von Joachim von Fiore (ca. 1130 - 1202) bis zu Lessing
(1729-1781), Schelling (1775-1854) und Saint-Simon (1760-1825) entfaltet hatte;
sie bleibt zugleich die latente Matrix aller anspruchsvollen Modernismen, weil
sie die logische Form eines potentiell letzten Zeitalters zuerst mit einem zureichend
formellen Anspruch erfaßt hatte. Um ein modernes, vielleicht sogar ein letztes
zu sein, muß ein Zeitalter strukturell zumindest ein drittes sein. Ein letztes
ist ein Zeitalter dann, wenn es so verfaßt ist, daß in ihm beleibig
viel passieren darf, ohne daß irgend etwas in ihm - und nach ihm - noch
Epoche machen könnte. Tatsächlich ist die Moderne ihrem zeitlogischen
Design zufolge ein immerwährender Anbruch eines dritten oder millennarischen
Zeitalters, ein permanenter Übertritt aus der Geschichte in die Nachgeschichte,
ein unentwegter Übergang in eine Endzeit ohne Ende. Dies kann nicht anders
sein, weil die Ambitionen der Modernität, eine Epoche durchdringender Selbstreflexivität
zu sein, formal unüberbietbar ist.Von der Triftigkeit
dieses Anspruchs kann man sich durch ein Gedankenexperiment überzeugen, bei
dem wir fragen, wie aus der Moderne heraus noch eine folgende Epoche vorzustellen
wäre. Hierauf gibt es zwei Typen von Antworten: katastrophische und kontinuierliche.
Unter
Moderne verstehen wir, eher konventionell, die Epoche, in der sich in der Alten
Welt der Ausbruch aus der metaphysischen Monozentrik vollzog. In ihr wurde der
magisch einfache Kreis gesprengt, der vormals allen Lebewesen die Immunität
in ihrem Einen Gott - sprich in der glatten Ganzheit - zusagte.Das
heitere Denkbild Schaum dient uns dazu, den vormetaphysischen Pluralismus der
Welterfindungen nachmetaphysisch wiederzugewinnen.
Das Nomotop (Sloterdijks Verfassungslehre)
Alle
menschlichen Insulationsgruppen,
die sich in Generationsprozessen bewähren und dadurch in ihrer Eigenschaft
existieren, haben an einem wenig untersuchten Stabilitätsgeheimnis Anteil,
ohne das man ihren Bestand schwerlich begreifbar machen kann: Sie erzeugen in
sich selbst eine Normenarchitektur, die genügend Überpersönlichkeit,
Imposanz und Torsionsfestigkeit aufweist, um von den Anwendern als geltendes Gesetz,
als verbindliche Satzung und zwingende Regelwirklichkeit empfunden zu werden.
Dieser sittliche Äther besitzt, um mit Hegel
zu reden, die Merkmale des objektiven
Geistes: Er ist den Einzelnen vorgeordnet wie etwas, das ihrem Gutdünken
unberührt gegenübersteht und sich gleich Götternamen, Mythen und
Ritualen eines Stammes stabil, oder nur unmerklich verwandelt, durch Generationen
vererbt. Die Sterblichen kommen und gehen, die Formen, die Gesetze bleiben.Im
Jahr 1949 notierte Wittgenstein:
»Kultur ist eine Ordensregel. Oder setzt doch eine Ordensregel voraus.«
Wir nennen das Wirkungsfeld solcher Regeln das Nomotop. Wer sich auf der Humaninsel
aufhält, macht die Beobachtung, daß ihre Bewohnergruppe unter einer
lokalen Regelspannung steht - eine Spannung, die für die soziale Statik von
elementarer Bedeutung ist. Daß das normative Klima einer Gruppe mit ihrer
Stabilität, also ihrer Überlebensfähigkeit, positiv korreliert,
ist eine frühe Intuition der Weisen und Ältesten in allen Völkern
- keine der anfänglichen Überlebensgemeinschaften hat es sich jemals
leisten können, ihre Sitten, ihre Formen, ihre Dogmen leicht zu nehmen. ...
Wittgensteins blitzende Bemerkung trägt der Doppelung im Begriff des Ordens
Rechnung, indem sie hinsichtlich gegebener Kulturen das einzelne konkret Ordensartig-Eingerichtete
betont wie auch die Regel hevorkehrt, der das Einrichten folgt. Man könnte
diesen Doppelsinn in den zwei Sätzen: »Kultur ist ein Text« und
»Kultur ist eine Syntax« wiedergeben. ( ).
Hinsichtlich der Architektur des Gemeinwesens würde das zu den Thesen führen:
»Kultur ist ein Gebäude« und »Kultur folgt einer Raum-Erzeugungsregel«.
( ).
Wo immer die Humaninsel Konturen annimmt, entsteht eine Regelspannung, die bezeugt,
daß in ihr eine Hausordnung in Kraft ist - für die Angehörigen
(bis auf Ausnahmesituationen) eher unmerklich, für Fremde auffällig
oder befremdlich, für Philosophen ein Motiv zum Nachdenken über den
Geist der Institutionen und die Institutionalität von Geist.  Kollektive
schwingen in einer intern erzeugten Dauererregung, die den normativen Streß
in ihren normalen Tonus umwandelt. Es gehört zur »Verborgenheit der
Gesundheit« (vgl. Hans-Georg Gadamer,
Über die Verborgenheit der Gesundheit, 1993) in Gruppen, daß
diese ihre nomotopische Grundspannung nicht spüren und kaum thematisieren
- nur an ihren anarchischen Rändern spricht man zuweilen mit prekärer
Ausdrücklichkeit über die Kündigung des Normengehorsams und des
Leistungswillens. Die Abdrängung der normativen Stessoren ins Unterschwellige
geschieht dadurch, daß die Gruppe ihre Handlungserwartungen in Routinen
einbettet. Eine Routine ist die durch Wiederholung eingeschliffene und damit unauffällig
gemachte Form der erwarteten Anstrengung. Arnold Gehlen
hat in seiner anthropogischen Grundlehre die überragende Bedeutung normalisierter
Anstrengungserwartungen hervorgekehrt und diese unter dem Begriff der Institutionen
zusammengefaßt - wobei er unter Institution den geglückten Dauerkompromiß
zwischen Entlastungen und Belastungen versteht; sie ist der Inbegriff einer »stabilisierten
Spannung«. (Vgl. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische
Ergebnisse und Aussagen, 1956, S. 88f.). Man kann diesen Institutionenbegriff
wie ein Plädoyer für das Unbewußthalten von Ordnung lesen - wobei
ein Konzept vom Unbewußten ins Spiel kommt, das auf das Latente, nicht das
Verdrängte zielt. (Wie aber das personale Unbewußte eine Wiederkehr
des Verdrängten kennt, so das Latente eine Wiederkehr des Paradoxen.) Zwar
haben sich dieser Auffassung gemäß die Einzelnen zugunsten der Ordnungen,
in denen sie leben, unter Einsatz ihrer gesamten Existenz zu verwenden, zugleich
aber nehmen diese Ordnungen den Einzelnen die Mühe ab, sich eigens für
sie wie für eine persönliche Option zu entscheiden. Indem sie belasten,
entlasten sie. Indem sie entlasten, setzen sie Energien für die Neubindung
an gemeinsame Aufgaben oder munera frei. Hier tritt der Begriff der Regel
noch einmal in seiner fundamentalen Bedeutsamkeit ans Licht, weil es die Regelobjektivität
ist, welche die Einzelnen wie die Gruppen von der Not der Formlosigkeit ebenso
wie von der Zumutung ständiger Originalität befreit. So sehr Gehlens
Theorem von den Institutionen als hintergrundwirksamen Ordnungsmächten einer
verbreiteten Stimmung des 20. Jahrhunderts entspricht, die sich Ordnungen am liebsten
wie diskrete Infrastrukturen und die Ordnungshüter wie Beamte vorstellt,
die ihr Amt am besten versehen, wenn sie dienen und schweigen, erlaubt es doch
nur eine einäugige Wahrnehmung der nomotopischen Grundverhältnisse.
Das Nomotop besitzt nämlich zumeist auch eme Schauseite, die dem Hang zur
Verbergung von Macht und Gewalt in leisen Routinen entgegensteht. Als eine selbstbeeindruckende,
selbsterschreckende Größe, lebt die von den Normen beatmete Gruppe
von der performativen Kraft der Rituale und deren Erscheinungsdrang. In diesem
hat das politisch Erhabene seine Quelle. Das Rechtssystem zumal entfaltet von
den Tagen der Römer an eine Theatralität eigenen Typs. Wie die Macht
nicht ohne ihre typischen Epiphanien auskommt, seien es Festlichkeiten, Vereidigungen,
Paraden, Hoheitssymbole und peinlich wahrzunehmende Protokolle, so auch das Recht
nicht ohne die pünktliche Inszenierung seiner Förmlichkeit - besonders
bei der Iurisdiktion, die in ihren prozessualen Spielregeln einen Kompromiß
aus Untersuchung und Theater bildet. Beides dient der Sichtbarmachung der ordnungschaffenden
Gewalt, die sich von alters her nicht damit begnügt, die Individuen vom Rücken
her, sozusagen unbewußt, mit motivationalem Schub auszustatten. Jede Kultur
hat ihre tarpejischen Felsen. Zu der Zeit, als die gesetzgebende oder gesetz-inszenierende
Macht in Europa ihre dogmatische Potenzen am offensten hervorkehrte, im 17. Jahrhundert,
sprach sie ohne Reserve vom Recht als einem »Theater der Wahrheit und Gerechtigkeit«.
Aus ihrem Dogmatismus leitete sie eine Fähigkeit zur Strenge her, die vor
aller Augen erscheinen wollte - und die nach den Über-Ich-Implosionen in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur noch als ein unbegreifliches
Ärgernis oder als anmaßendes Relikt aus der Zeit des persönlichen
Regiments wahrgenommen werden kann. Für »Herrlichkeit« haben
sich ausschließlich einige unbelehrbar alteuropäische Theologen einen
Sinn bewahrt. Sie müßten die ersten sein zu verstehen, warum der erhabene
Staat in seinen Hochzeiten ebenso die Züge der Glorie an den Tag legte wie
die des Schreckens. Auch Könige sind bewunderswert, wenn sie es gelassen
verschmähen, uns zu zerstören. Aus den Zerfallsprodukten des Majestätsschreckens
entwickelte sich von der Romantik an die politische Ästhetik der Lebensgefahr,
die von der Philosophie des Bürgertums nach Burke und Kant
mystifiziert wurde als das Vermögen des menschlichen Gemüts, über
erhabene oder erschütternde Gegenstände zu urteilen. Nichtsdestoweniger
besitzt der Hinweis auf die habitualisierte und quasi unbewußte Seite des
Aufenthalts im Normenraum einen guten Grund in der Sache. Das Objektive und Hintergrundhafte
der Regel hält das Mißverständnis fern, die »Sitten«
oder Gesetze müßten dem Selbstausdruck der Individuen dienen. Was man
modern den Ausdruck nennt, wurde erst möglich vor dem Hintergrund von selbstverständlich
(daher auch unverständlich) gewordenen symbolischen Institutionen und kulturellen
Automatismen - sei es, daß er deren Assimilation vollzieht (erwirb es, um
es zu besitzen), sei es, daß er die revoltische Gegendifferenzierung vorantreibt.
Für die Ausdruckswelt gilt die Regel, daß die Einzelnen auf originelle
Weise von der Regel abweichen sollen. Wenn Mephistopheles erklärt, »es
erben sich Gesetz' und Rechte, wie eine ew'ge Krankheit fort« -spricht er
bereits als bürgerlicher Expressivist, der meint, die Form sei etwas, was
von innen nach außen wächst (und was uns als Fall von »Entfremdung«
stört, sobald sie wie eine selbständige Tatsache gelten will). Im chronischen
Konflikt zwischen dem Regelgehorsam und der Bekundung eigener Neigungen votiert
er dem neuen Zeitgeist gemäß für die zweite Option. Hält
man sich an die Auskünfte von Goethes
Teufel, so macht er keinen Hehl daraus, daß er sich ganz der Moderne zurechnet
- einem Kulturunternehmen, das sich auf das Abenteuer der permanenten Neueinstellung
der Regeln eingelassen hat - von romantischen und katholischen Rückgriffen
aufs Festeingestellte wenig beeindruckt. Hier wird nicht weniger versucht als
die Überbietung der Tradition des Bewahrens durch die Tradition des Lernens.
Darin verbirgt sich die für alle Konservativen bis hin zu Gehlen ungeheuerliche
Vorstellung, daß Sitten, Institutionen, Gesetze, Syntaxen und Lebensformen
etwas seien, was man verändern darf, sobald man es besser machen kann - vorausgesetzt,
man versteht auch die geänderte Regel als eine Regel, die gilt. Eben diese
pragmatistische Auffassung vom Gesetz ist es, was der konservativen Angst vor
dem Umsturz bis gestern um nichts in der Welt einleuchten wollte: Für sie
schien jede bewußt gewagte Abweichung von Herkommen, Norm und fester Einrichtung
(Nietzsche
sagt: von »Alter«, »Heiligkeit« und »Indiscutabilität
der Sitte«; vgl. Friedrich Nietzsche, 1881, Morgenröthe, Erstes
Buch, 19) auch schon die Absage an Ordnung überhaupt einzuschließen,
und darin kündigt sich für sie das Schlimmste an - der anarchische Generalstreik
gegen die Form, die Absage an den Takt, den Tonus, den institutionellen Grund
der Welt. Von einer »offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten«
erwartet man sich in den Kreisen nichts Gutes. Folglich trauern die wahren Konservativen
dem starken Staat nach oder, in dezenterer Form, der Ordnung des Vaters, des Sohnes
und des Signifikanten. Durch diesen Argwohn jedoch und dieses Heimweh nach dem
Erhabenen wird das Wesen von Regeleinstellungen im modernen Nomotop mißverstanden:
Das Leben unter den geltenden Regeln einer Gemeinschaft will eben, wenn es modern
ist, etwas anderes sein als nur ein »unbefristeter Aufenthalt im Geltungsbereich
des Gesetzes«; es denkt nicht mehr daran, sich von den bestehenden Zuständen,
nur weil es Zustände sind, konsumieren zu lassen. Betet es nicht zum Gott
des status quo und sinkt vor dem Stehenden und Staatlichen nicht a priori
in die Knie, so ist es gleichwohl weder der Anarchie noch dem leerlaufenden Management
verfallen. Das moderne Leben will die »Ordensregel«, der es folgt,
als Ausdruck eines Optimierungsprozesses, an dem es selbst beteiligt ist, verstanden
wissen - daher die revisionistische Grundstimmung der neueren Zeiten; daher auch
die Neudeutung dieser Regel in Ausdrücken von akkumuliertem »sozialem
Kapital« und aktiv zu vergrößernden »Vertrauensradien«
(Francis Fukuyama,
Der große Aufbruch. Wie unsere Gesellschaft eine neue Ordnung erfindet,
2000, bes. Teil 2: Über die Genealogie der Moral, S. 193-326). Bei
alledem bleiben die Bürger der Gegenwart ebenso an lebbaren Formsicherheiten
interessiert wie nur je eine ordo-gläubige Epoche. lm Gegenteil, mehr
als jede frühere Zivilisation machen sie Sicherheitsfragen auf allen Ebenen
explizit und arbeiten ihre lmmunitäten auf die artikulierteste Weise aus.
So weit der Weg vom Absolutismus der Sitten und Formen bis zu ihrerVerflüssigung
in Funktionsausdrücke und spontane Regelschöpfungen gewesen sein mag:
Von den aktiven Parteigängern der modernen Zivilgesellschaft wird er im Bewußtsein
der Kosten in voller Länge durchmessen, als wäre er das curriculum
humanitatis überhaupt. In der entfalteten Modernität stellen
sich nomotopische Tatsachen wie eine Menge von politischen und privaten Diätvorschlägen
dar, die sich als Arbeitshypothesen für das Zusammensein des Kollektivs bewähren,
Man könnte den Tardeschen Ausdruck »Moral-Mode« (morale-mode)
hierfür verwenden, vorausgesetzt, man versteht unter Mode auch die epidemische
Nachahmung des Sinnvollen und Praktischen. Von einem numinosen Grund des Rechts
- der mystischen Selbstüberhöhung imperialer Verwaltungen während
der letzten beiden Jahrtausende - will die Moderne nichts mehr hören. Dem
widerspricht auch die Tatsache nicht, daß diese Hypothesen bei uns weiterhin
in der quasi-erhabenen Diktion einer Verfassung niedergelegt sind. Sieht man die
Umstände aus der Nähe an, läßt sich bemerken, daß auch
Verfassungen in ihrem Kern Erfindungen und Gelegenheitsdichtungen sind. Daß
dies buchstäblich zutreffen kann, zeigt der bekannte Satz von Thomas Jefferson
über den okkasionellen Charakter der Unabhängigkeitserklärung vom
4. Juli 1776: »Neither aiming at originality of principle or sentiment,
nor yet copied fromany panicular and previous writing, it was intended to be an
expression of the american mind, and to give to that expression the proper tone
and spirit called for by the occassion.« Zitiert nach: Hannah Arendt,
Über die Revolution, 1974, S. 168.)
Der Tensegritätscharakter
des menschlichen Zusammenseins im nomotopischen Feld der nicht mehr statischen
und nicht mehr etatistischen Assoziationen wird vor allem in der Komplexität
der Arbeitsteilung manifest. Ohne die chronische Zugspannung aus der Ferne, die
im Recht und der Sitte wirksam wird, läßt sich nicht verstehen, wie
es möglich ist, daß Menschen der Versuchung durch Selbstversorgung
in kleinen Einheiten widerstehen und sich auf einen Beruf im arbeitsteiligen Gemeinwesen
einlassen: Ein solcher ernährt bekanntlich seinen Mann nur dann, wenn zahlreiche
andere in ausreichendem Maß komplementäres anderes tun - bis aus den
differentiellen Beziehungen der auseinandergespannten Aktivitäten der Markteffekt
und mit ihm die Tauschgesellschaft entsteht. Was man den Markt nennt, ist eine
durch Fernspannungen integrierte Konstruktion aus ineinander verschränkten
Erwartungen. Das »System der Bedürfnisse«
(G.W.F. Hegel,
Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, §§ 189-208) gewinnt
seine mechanischen Qualitäten durch die Komplementarität der von ferne
miteinander verfugten Einzelproduktionen. In der Art einer moralischen Fachwerkkonstruktion
erzeugt die Tausch-Tensegrität neuartige Ansprüche an das Ethos der
Marktteilnehmer: nicht nur, indem sie von ihnen Garantien für Produktqualität
und Zahlungszuverlässigkeit, einschließlich des loyalen Gebrauchs der
Münze, verlangt, sondern mehr noch, indem sie das Rechnen mit den Bedürfnissen
entfernter Anderer zur Denk- und Lebensform erhebt. Wahrscheinlich ist die Fähigkeit
von Menschen, in größeren sozialen Einheiten zu existieren, ohne die
zivilisierende Wirkung der Tausch-Tensegritäten nicht zu erklären: Die
Einübung in das Interesse am Interesse anderer bringt den anthropologisch
höchst unwahrscheinlichen Zustand der Fern-Rücksicht hervor - auf welche
spätere Morallehrer die noch unwahrscheinlichere Empfehlung der Fernsten-Liebe
aufsetzen werden. Wo der Übergang vom Konkreten zum Abstrakten, von der Kleingruppenexistenz
ins imperiale Format vollzogen werden muß, sind außer den Metaphern
der Verwandtschaft und des Wohnens (vgl. Dieter Claessens,
Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie,
1980) stets auch die handelsethischen Fernverspannungstechniken am Werk, um eine
erste Form von »Weltethos« zu ermöglichen. Unter den Alten war
es Aristoteles,
der von solchen Zusammenhängen am explizitesten gehandelt hat - vorausgesetzt,
man darf unsere Theorie der moralischen Fernspannungen innerhalb der Polis und
im Inter-Polis-Raum als eine Neubeschreibung der aristotelischen Analyse des städtischen
In-Ruf-Stehens von Männern und der regulierenden Macht des Ansehens präsentieren.
Aus der bürgerlichen Fern-Rücksicht als chronischem Interesse am Interesse
anderer entwickelt sich in den Tagen des Deutschen
Idealismus der sogenannte kategorischer
Imperativ - eine formale Injunktion, die ihren Adressaten jenseits aller näheren
Informationen über den Inhalt ihres Sollens die Regel einprägt: Du sollst
nur solche Dinge wollen, von denen du wollen kannst, daß auch andere sie
wollen - und zwar, um dem universalistischen Motiv Genüge zu tun: alle anderen,
und, um dem rationalistischen Gebot zu entsprechen: all jene anderen, die Vernunft
anzunehmen fähig und willens sind. Nach Kant
ist der zurechnungsfähige Mensch der Beamte seiner eigenen Urteilskraft und
als solcher der Pflicht, richtig zu denken, untertan. Intelligenz ist Gehorsam
gegenüber den Geboten, die den Fähigkeiten - oder, in der Sprache des
18. Jahrhunderts, den Vermögen des Gemüts - inhärent sind. Die
eifrigen Mütter der Bürgerzeit driickten das in sinnverwandten Worten
aus: Ein Talent verpflichtet auch zu etwas! Darum legten sie ihren Glaubenselan
in ihre Brut wie eine Mission - mit dem Ergebnis, daß der Zustrom der begabten
Kinder den zivilisatorischen Prozeß nach vorn katapultierte. Seit diese
Investitionen sporadisch werden oder ausbleiben, ist das moderne Nomotop mit Deprimierten
und Verwöhnten übervölkert, die vom Sollen verlassen wie vom Wollen
enttäuscht sind - eine Stimmung kollektiver Formlosigkeit liegt über
der Landschaft, Formlosigkeit, die sich gern durch Politikverdrossenheit erklärt
(und die von Moralisten ohne theoretische Mittel gern als »Nihilismus«
gedeutet wird). Indem Kant das individuelle Sollen gesetzesförmig faßte,
bestätigte er den Einzelnen formal als den Weltbürger oder das sittliche
Subjekt der Globalisierung, genauer als den Weltmarktteilnehmer, dem das Interesse
am Interesse der An- deren in einem entgrenzten Nomotop zur zweiten Natur geworden
wäre. Kants Imperativ bietet die äußerste Formalisierung des Glaubens
an die moralische Produktivität von Fernspannung durch Arbeitsteilung. Er
drückt zugleich die Annahme aus, daß der vernünftige Einzelne
der imaginäre Gesamtmensch sei, der in seiner eigenen Person die Gattung
vertrete und ihre Berufung zur Selbstgestaltung respektiere. Nach der Umformung
des Deutschen Idealismus in die Deutsche
Systemtheorie erscheint der kategorische Imperativ ermäßigt zu
dem Satz: Handle jederzeit so, daß Andere an den Ergebnissen deines Handelns
anschließen können. In negativer Fassung ergibt dies die Vorschrift:
Du sollst nicht andere nicht brauchen. Anders: Du sollst die Menschen stets auch
als Mittel und nie nur als Zwecke betrachten. Das Verbot, sich selbst zu genügen,
dient dazu, den Akzent von der Arbeitsteilung auf die Kommunikation zu verlagern
- wobei der letztere Ausdruck einigermaßen kühl als Aufeinander-Bezugnehmen
(und nicht als Miteinander-Einigwerden) verstanden werden muß. Daß
dieser Kommunikationsbegriff um vieles nüchterner ist als jener der Konsensusidealisten,
leuchtet ein; daß er eine ironische Dimension besitzt, wird erkennbar, wenn
man bedenkt, daß auch das Anknüpfen des Kommissars an den Spuren des
Täters einen Fall von Kommunikation darstellt; ebenso das Anknüpfen
des Grabräubers an den Beigaben, die einem Pharao die Reise durchs Totenreich
erleichterten. Hier taucht ein Begriff von Kommunikation auf, der näher am
Modell des Parasitismus liegt als bei der Verständigung unter Chancengleichen.
Da aber ... der ungeladene Gast regelmäßig seinerseits Besucher oder
Kommunikatoren dulden muß, die sich auf seine Kosten einladen, und diese
wiederum von Mitessern dritter Ordnung genassauert werden und so fort, läßt
sich das soziale Feld auch als ein Netzwerk von selbstbedienenden Anknüpfungen
an den Leistungen und Lebensspielen anderer verstehen. Vielleicht ist das, was
man mit den modernen Biologen die Umwelt nennt, nur das Verzeichnis der von einem
gegebenen Standort aus parasitierbaren Adressen (oder die Liste der Parasiten,
auf deren Besuch man gefaßt sein sollte).Neben dem
seit Adam Smith
und Hegel
gut beschriebenen »System der Bedürfnisse« ( ),
das über den Tausch komplementärer arbeitsteiliger Leistungen integriert
wird, ist ein bisher wenig beachtetes System hintereinandergeschalteter Parasitierungen
für die Versteifung des Ensembles »stabilisierter Spannungen«,
das der status quo heißt, in Ansatz zu bringen. An seiner Basis beobachten
wir die Einnistung von Embryonen in ihre Mütter als die nachgiebigsten Unter
den Wirten; in der breiten Mitte entfaltet sich die sogenannte Arbeitswelt als
integraler Parasit der Biosphäre: sie trägt den einseitigen Angriff
der produzierenden Menschenwelten auf die Ressourcen des pflanzlichen und tierischen
Lebens vor, den Marx
in einer sonntäglichen Wendung als »Stoffwechsel des Menschen mit der
Natur« bezeichnet hatte; an seiner Spitze steht das fiskalische System -
der grandiose Parasitismus, mit dem der moderne Umverteilungsstaat sich selbst
zur Tafel der GeseIlschaft lädt - als der Gast, der per Gesetz beschließt,
daß er das größte Stück bekommt. Der integrale Kommunikator
weiß, wie man an jeder Gehaltsüberweisung, jeder Zigarette, jeder Dienstleistung
zwischen Bürgern anknüpft. Fazit des Systemikers: Ohne die Tensegritätseffekte
der »kommunizierenden Bedürfnisse« und der parasitierten Parasitismen
keine Ausdifferenzierung der Subsysteme.
Vigilanz, befreite Laune, leichte Sexualität (Sloterdijks Windrose
des Luxus)
Daß es sich bei der Vigilanz um wirklichen
Luxus handelt, zeigen die hohen Verschwendungsraten auf allen Feldern an. Es ist
das signifikante Privileg von Besitzenden, mit ihrem Reichtum wenig anzufangen.
Hierin halten es die postmodernen Besitzer extensiver freier wacher Zeit nicht
selten wie die Herren von früher, denen nichts so fern lag wie der Gedanke,
auf den Grundlagen ihrer ererbten Vorzüge etwas hervorzubringen.Vigilanzüberschüsse
bedeuten für die Subjektivitäten, was fossile Brennstoffe und Sonnenenergie
für die Maschinensysteme im Luxustreibhaus sind. Die freien Wachzeiten sind
das Treibmittel, um die agglomerierten mikro-manischen Räume zu wölben
und auszugestalten. Aus ihren Reservoirs lassen sich verschiebbare Quanten an
subjektiver Energie für die Ausarbeitung von kultivierbaren Feldern abziehen,
beginnend mit den einfachsten Vergnügen. Ihrer Uberschußnatur wegen
werden zahllose Aktivitäten, denen jeder Arbeits- oder Pruduktionscharakter
fehlt, wie sinnvolle Anstrengungen trainierbar; ist dies geschehen, legt sich
der Übergang in die Wettbewerbsformen nahe; kurz nach seiner Einführung
ist jedes Amüsement meisterschaftsfähig. Hat es sich ausreichend organisiert,
setzt es auch seine spezifischen Pathologien frei, die wiederum durch entsprechende
Trainer und Therapeuten betreubar werden.Schon das Wenige, das in den
Aktivismus der Launen fließt, ergibt unfaßbar Vielfältiges und
unresümierbar viel. Man muß, um die Effekte von einem abstrakten Punkt
aus zu überblicken, mit dem Satz beginnen, daß Reichtum nur Reichtum
für Vigilanz ist, die ihn schätzt. Weil Vigilanzluxus die Schlüsselfunktion
für jeden Luxus darstellt, bildet er das Zentralnervensystem des Konsumismus
und der Freizeitindustrien. Mehr noch: Er birgt die Kryptospiritualität der
scheinbar entgeisterten Epoche in sich, weil sie die Matrix für alle Nuancierungstätigkeiten
liefert. Von der Ironie der Schatzsuche: daß im Wachbewußtsein des
Suchers der Schatz liegt, der in den Gegenständen vermutet wird, nehmen nur
meditative Subkulturen Notiz. Es sind wenige Einzelne, die sich klarmachen, daß
der Reflexions- und Meditationsluxus - das Aufmerksamwerden für das eigene
Aufmerksamsein - die Grundform der Gipfelerlebnisse vorgibt.Der Hauptstrom
der Vigilanz fließt zu Gegenständen hin, deren Vergegenwärtigung
in wacher Gewahrwerdung als Genugtuung erfahrbar wird. Das Wachweltleben stellt
die Überschüsse an Aufmerksamkeit und trainierbarer Urteilskraft bereit,
ohne die es keine verfeinerte Selbstsorge, keinen höheren Erfahrungsstoffwechsel
gibt - ja, solange das Arbeitsleben vor allem Handwerk war, profitierte auch dieses
vom Verfeinerungsmehrwert, der an den libidinösen Rückkoppelungen gekonnter
wacher Verrichtungen haftet. Dies läßt sich heute an zahlreichen Feldern
erweiterter Vigilanz-Investition beobachten. Alle Formen der Erinnerungskultur
- Kernstück des alteuropäischen Zivilisationskonzepts - leben von der
Verwendung überschüssiger Wachzeiten zur Besetzung innerer und äußerer
Bilder vom Vergangenen. Was man seit dem 19. Jahrhundert als Historismus
kennt, ist ein kulturweit spürbarer Nebeneffekt aus der Kanalisierung enormer
Freizeitquanten in die Ausmalung attraktiver Vergangenheiten; die Genugtuung über
die Tatsache, daß man von anderen Epochen überhaupt etwas weiß,
rundet die Subkultur der Erinnerer in sich ab. Neben den Anhängern der Kunstreligion
waren die Historisten die ersten, die sich der Aufgabe widmeten, ihre Laune in
eine allgemeine Notwendigkeit, besser, in ein geistiges Grundnahrungsmittel für
die Vielen umzuformulieren.Kulturen der Dekadenz sind möglich, weil
Wachheitsluxus sich mit Vorliebe als Morbiditätsluxus
artikuliert. Wo man die Morbidität meditiert, wird Schwäche als trainierbarer
Zustand erschlossen. Bei hohen Graden kollektiver Freisetzung für Übungen
des Aus-der-Form-Kommens lassen sich in einer hinreichend verwöhnten Population
rasch eindrucksvolle Ergebnisse beobachten: Dank zirkulärer Verstärkung
tritt neben der schnellen Erschöpfung bei den Jungen ein epidemischer vager
Überdruß an allem und jedem bei den Älteren an den Tag.Kulturen
des Negativismus sind möglich, weil in den Milieus der Erfolglosen viel freie
Zeit in die Beschreibung beliebiger Gegenstände unter dem Filter der Mißgunst
investiert werden kann. Längst läßt sich ein Großteil dessen,
was in den Feuilletons als Kritik und Kommentar auftritt, besser unter den Rubriken
Hämeluxus und Herabsetzungsluxus verzeichnen; dessen psychischer Gebrauchswert
besteht darin, daß er die Nachfrage nach Gesten leeren Darüberstehens
befriedigt (früher ein Monopol des Spiegels, heute nahezu allgemeiner
Standard).Kulturen des Ressentiments sind möglich und prosperieren
wie nie zuvor, weil durch die Begegnung von Frustration und Freizeit viel Aufmerksamkeit
sich auf das Nachtragen von Kränkungen spezialisieren kann; die immerwache
Intellektuelleneifersucht bringt ständig wechselnde Inquisitionen gegen die
Häresien des Erfolgs hervor. Ob diese Formen des Luxus der Gesamtkultur -
was immer das sei ( )
- zugute kommen, mag unentschieden bleiben. In optimistischer Sicht läßt
sich bemerken, wie das Ressentiment den Aggressionsstoffwechsel durch ballaststoffreiche
Kränkungseinbildungen fördert.Die Entscheidung, das Luxusphänomen
vom Überschuß freier Vigilanz her zu deuten, bringt den Vorteil mit
sich, bei der Darstellung der diversen Ausprägungen luxuriöser Lebensgestaltung
sich nicht mit Anekdoten und Aufzählungen aufhalten zu müssen - wie
man es noch an den bedeutendsten Leistungen älterer Geschichtsschreibung
beobachtet: In den klassischen Sittengeschichten des Luxus passieren Kleider,
Schmuck, Blumenarrangements, Gebäude, Möbel, Speisen, Maitressen und
Dienerschaften Revue, ohne daß sich ein übergeordneter Gesichtspunkt
- der des Wohlstands samt seinen launischen Überspitzungen ausgenommen -
herausbildete. Indem wir von der Freisetzung der Vigilanz ausgehen, besitzen
wir ein Kriterium, das die existentiellen Qualitäten des Überflüssigen
adäquater ausleuchtet, als jeder gegenständliche Begriff von Reichtum
und Verschwendung es vermöchte. Zugleich wird hervorgehoben, daß die
Investition von »Zeit und Geld« in eine bevorzugte Sparte des Tuns
und Genießens einen Fall von freier Laune darstellt. Der Sieg über
die Notwendigkeit läßt sich im Begriff des Luxus selbst verankern -
und das heißt ... am Schnittpunkt von Wohlstand und Vigilanz. Auf diese
Weise wird festgehalten, daß auch die Laune ein Training voraussetzt. Wo
die Laune in Übungen elaboriert wird und sich in individuierten Strähnen,
Serien und Verzweigungen ergeht, erzeugt sie eine Gravitation eigener Art. Man
könnte sagen, daß Virtuosität nichts anderes ist als eine überflüssige
Verausgabung, die von der kultivierenden Schwerkraft der Wiederholung eingefangen
wurde.Darüber
hinaus führt der Hinweis auf seine Quelle in der Vigilanz den Luxus nahe
an die »Ästhetik des Alltags« heran, von der neuerdings gezeigt
werden konnte, daß sie einem Luxus zweiter Ordnung« zugehörig
ist, exemplarisch verkörpert im Verlangen nach Ruhe, Leere, Vereinfachung
und echten Gefühlen. (Vgl. Norbert Bolz,
Das konsumistische Manifest, 2002, S. 102f. ).
Weil das Phänomen Vigilanz der Bifurkation von Aufmerksamkeit und Zerstreuung
vorgelagert ist, umspannt es die beiden Ausprägungen ästhetischer Theorien,
die sich einem der beiden Pole zuordnen. Mehr noch, da es auch dem Gegensatz von
Sorgsam-Beachten (religere) und Vernachlässigen (necligere)
vorausliegt, kann das Wachen in stabile Kulte einfließen - aber auch in
Improvisationen. Als Matrix der Religionen wie der profanen Zerstreuungen verbündet
sich das freie Wachen mit dem Regelmäßigen wie mit dem Einmaligen.Unötig
zu sagen, daß die gesamte literarische und musikalische Kultur an der Chance
hängt, frei Wachzeiten für Lesen, Hören, Üben und Vergleichen
aufzuwenden. Zu notieren ist: In der Geschichte sämtlicher Zivilisationen
(bzw. Kulturen )
wurden, entgegen aller Kulturkritik und Verfallstheorie, noch nie so viele Zeiteinheiten
in das Lesen (von ...), das Hören (von ...), das Betrachten (von ...), das
Besuchen (von ...) ... investiert wie in der Gegenwart ...
In den jüngsten Varianten der Kulturkritik wird davon gesprochen, daß
dem postmodernen Subjekt elementare Merkmale der klassischen Persönlichkeitsstruktur
wie die Orientierung an stabilen Normen, die Überzeugung von der eigenen
Unkäuflichkeit, das Selbstwertgefühl aufgrund bewährter Kompetenzen,
der Sinn für biographische Kontinuität abtrainiert werden, um den völlig
kapitalkompatiblen Menschen zu erzeugen. Von diesem heißt es, teils klagend,
teils deskriptiv, er oszilliere zwischen Job und Spaß, moralisch entkernt,
schlangenhaft wendig, hochgradig außendienstfähig, vorurteilsfrei wie
ein Waffenhändler, postnational wie ein Bordellbesitzer. Die von Marx und
Engels konstatierte analytische Macht der Geldverhältnisse: daß »alles
Ständische und Stehende verdampft«, hätte somit die letzte Zitadelle
des vormodernen Ordo-Bestands, die personale Schicht, erreicht. Durch die Erschließung
von Spaß als Wertschöpfungsquelle wäre der subjektive Faktor endgültig
in die Kapitalsphäre integriert; schließlich wäre auch das erotische
Leben für den Markt geöffnet worden, wie um den von Wilhelm Reich lancierten
Mythos der »sexuellen Revolution« zu widerlegen, nach dem die Lohnabhängigen
durch das Ausleben ihrer Sexualität zu phallischen Rebellen würden -
folglich zu Refraktären gegen jede Art von Entfremdung. In Wirklichkeit hat
die Eingliederung der Sexualität in die Spaßkultur eine breite Subjektivierung
des Bewußtseins vom Reichtum bewirkt und auf diese Weise einen ernstzunehmenden
Wahrheitseffekt provoziert. Tatsächlich kann die am Menschenwesen haftende
Unmöglichkeit, arm zu sein, an keiner anderen biologischen Mitgift - das
Vigilanzvermögen ausgenommen - so evident illustriert werden wie an der Sexualität.
Ihre Existenz verdankt die zeitgenössische Sexualkunde der Wendung
ins Explizite, die den Tatsachen des Bewußtseins in der Moderne die mystifizierende
Etikettierung »Revolution« einbringt. Die sexuelle Explikation ...
hat die Modi und Voraussetzungen des sexuierten Lebens publizistisch, wissenschaftlich,
ästhetisch, psychologisch und ökonomisch in einer historisch nicht bekannten
Weise ans Tageslicht gehoben ... ( ).
... Deswegen bildet decodierter, explizierter von emotionalen und reproduktiven
Bedeutungen leicht abgekoppelter Sex die Mitte der Spaßkultur - das heißt
des Systems der emanzipierten Launen. Nur eine verschwindende Minderheit von Intimhandlungen
hat aktuell oder potentiell noch einen Bezug auf die Zeugung von Nachkommen, sei
es als zu begrüßende oder zu verneinende Möglichkeit, während
sich die große Zahl der Liebesspiele im Horizont von Lustgewinn, Performance
oder Entspannung erschöpft. (Niemand sollte sich wundern, wenn die Konservativen
des Westens und die aktuellen Vertreter des autoritären Kapitalismus im Osten
- um von der islamistischen Reaktion ( )
zu schweigen - sich in der Verwerfung der leichten Sexualität einig sind.)
... Je expliziter die Sexualität wird, desto mehr nähert sie sich dem
Pol der Verschwendung.Die für sich gesetzte Sexualität,
wie sie inzwischen in den kinderarmen »Gesellschaften« des Westens
( )
dominiert, expliziert eine evolutionär gut etablierte Naturdimension von
Verschwendung. Sie ist bei allen Säugetieren angelegt, wird bei den Hominiden
intensiviert und in der Sapiens-Linie auf die Spitze getrieben. Der Übergang
zum Permasex zeichnet sich bei einigen Primaten ab - schon hier gewinnt die sexuelle
Aktivität luxurierende Eigenwerte, sie fließt auch gelegentlich, wie
das bekannte Beispiel der Bonobos zeigt, ins Gruppenmanagement ein.
Der ästhetische ImperativAuch
das Licht der Aufklärung macht Erfahrungen mit seinem Schatten. Es ... entdecken
die meisten Kommentatoren die Notwendigkeit einer »Abklärung der Aufklärung«
bzw. einer Kritik der lichtbringerischen Vernunft. Was landläufig Postmoderne
genannt wird, hat eines seiner überzeugendtsen Motive in dieser Nachuntersuchung
von Aufklärungsfolgen.Aus
der Synthese von Marktkapitalismus und Wohlfahrtsstaat ... der »aufgeklärten«
westlichen Industrienationen ... entspringt gleichfalls kein Zustand allgemeiner
Genugtuung, sondern eine ... Zweideutigkeit, der die großen Perspektiven
und Projektionen abhanden gekommen zu sein scheinen.Im
Rückblick auf die Geschichte des optischen Idealismus ... zeigt sich, daß
inzwischen die gesamte verwestlichte Hemisphäre der Welt zu einem »Abend«land
geworden ist.Ist
nun in Reaktion auf das Unbehagen am Zwielicht mit einer postmodernen Wiederkehr
der Lichtreligionen zu rechnen? Gewisse Indizien sprechen hierfür. Zunächst
bringen die aktuellen weltweiten Offensiven der monotheistischen Religionen starke
Züge licht-metaphysischer Restauration ins Spiel mitsamt panoptischen Sichten
aufs große Ganze und welt»anschaulichen« Gewißheiten,
die für die labilisierten Massen der drei »Welten« von nicht
zu unterschätzender Attraktivität sind. Obendrein entspringen aus den
spekulativen Nebentrieben moderner Naturwissenchaft eine Fülle von weltanschaulich
suggestiven Evolutionsmodellen, in denen lichtmetaphysische Ideen in gewandelter
Form erneut die Bühne betreten. Den Auftakt hierzu gaben in der Mitte des
20. Jahrhunderts die Ideen des heterodoxen Jesuiten Teilhard de Chardin, der lichtmetaphysische,
kosmologische und christologische Motive zu einer eschatologischen Vision von
dantescher Spannweite zusammenfaßte. Nach ihm läuft der gesamte Weltprozeß
auf eine totale Verlichtung aller Wesen hinaus. Im Zeichen moderner Hypernaturwissenschaft
kehren die Ideen der antikosmischen Gnosis gleichsam in den Kosmos heim. Dies
kennzeichnet u.a. auch das System des Natur- und Bewußtseinswissenschaftlers
Arthur Young, der (z.B. in: The Reflexive Universe, 1976) die Gegenwart
als Scheitelpunkt einer Licht-Evolutionskurve darstellt. Diese ist nach dem Abstieg
des Lichts über die Teilchenwelt, die Molekülwelt, das Pflanzenreich,
das Tierreich und das Menschenreich an den Punkt gelangt, wo ein Wiederaufstieg
mit dem Ziel der Rückkehr ins Licht in Aussicht genommen werden kann. Mit
diesem Schleifen- oder Bogenmodell der Evolution kopiert Young auf eine eher symptomatische
als originelle Weise die spätantiken Emanationslehren, nach denen der Kosmos
durch Ausströmungen aus dem Über-Einen entsteht. Asiatische und europäisch-mittelalterliche
Vorstellungen über »Erleuchtung« als letztem Ziel der Seele kehren
in szientistischen Tonarten wieder, meistens mit evolutionstheoretischem Akzent.
Die neuen Licht-Schleifen-Evolutionisten möchten es für wahrscheinlich
hinstellen, daß eine Menschheit, die ihren status quo als Zwischenergebnis
der kosmischen Entwicklung nach einer initialen Hyperlicht-Katastrophe (big
bang) begreifen muß, ebenso gut über künftige weite Spannungsbögen
in eine allgemeine Erleuchtung einmünden könne. Mit erleuchtungs-evolutionistischen
Ideen hat sich u.a. Ken Wilber einen Namen gemacht (z.B. Up From Eden,
1981; Halbzeit der Evolution - Der Mensch auf dem Weg vom animalischen zum
kosmischen Bewußtsein, 1984). Wo Spekulationen dieses Typs milieubildend
wirken, wie in gewissen kalifornischen Subkulturen, dort kann es zur Proklamation
eines neuen Licht-Zeitalters oder Light-Age kommen - mit Widerhall in gewissen
Zirkeln rnitteleuropäischer Neosophistik und Beratungsphilosophie.
Auf vielfältige Weise bleiben alte Fragen nach dem, was zuletzt zu sehen
sein wird, auch für die moderne Menschheit von Belang. Ist die letzte Sicht
nichts anderes als das ewige Blinzeln der letzten Menschen, die in die glutlose
Abendsonne schauen? Entspricht sie der Erfahrung der Sterbenden gemäß
dem Tibetanischen Totenbuch, das von einem Übergang in das weiße Licht
des Erlöschens spricht? Oder wird die letzte Sicht in einem nuklearen Lichtorkan
erblinden - gleichsam in technologischer Realisation des lichtmystischen Transitus?
Wenn zutrifft, daß nichts in der Technologie ist, was nicht zuvor in der
Metaphysik gewesen war, dann hat eine lichtmetaphysisch vorgeformte Menschheit
Aussicht darauf, zuletzt in ein selbstgemachtes großes Licht zu blicken
-»heller als tausend Sonnen«. Oder macht es das Wesen des Zivilisationsprozesse
aus, die Schlußansicht aller Dinge in immer neuen Aufschüben offenzuhalten?
Gegenstandslos wird der Unterschied zwischen letzten und vorletzten Sichten, wenn
die Welt den Augen der Künstler offensteht. »Das Auge vollbringt das
Wunder, der Seele das zu öffnen, was nicht Seele ist, die glückselige
Welt und ihren Gott, die Sonne.« ( ).
Ein in der westlichen
Welt ... verbreitetes Sprachspiel legt uns die Meinung in den Mund, wir
lebten in einer postmodernen Zeit. Darunter ist entweder eine epigonale
Position gegenüber der heroischen und avantgardistischen Modernität,
vor allem in den Künsten, zu verstehen oder eine ernüchterte Position
gegenüber exaltierten Vorstellungen von Geschichtsplanung und Naturbeherrschung.
Wenn die Moderne ein Kompositum aus Genialität und Konstruktivismus
war (ist [oder ist sie etwa doch zu Ende?];
HB), so wäre die Postmoderne eines aus Mediokrität und
Chaosmanagement. Ich möchte demgegenüber zeigen, daß diese
Entgegensetzungen unter kompetenzgeschichtlichen Gesichtspunkten sich nicht
halten lassen. Denn über die beiden Positionen hinweg, und durch sie
hindurch, zieht sich die unaufgehaltene Bewegung der Machtsteigerungsspirale;
ja man kann sogar der Meinung sein, daß die sogenannte Postmoderne
nur eine weitere Landmarke in der seit Jahrhunderten akkumulierenden Ermächtigungsdynamik
festsetzt; was sie auszeichnet, ist die Vermassung der vormaligen Avantgardequalitäten
und die Übersetzung von einst pathetischer Kreativität in alltägliche
Manipulation von Materialien und Zeichen durch die Angehörigen einer
weltumspannenden Design-Zivilisation, sprich, durch die übernationalen
neuen smarten Mittelschichten. In dieser Sicht sind Moderne und Postmoderne
durch ein überwältigendes Kontinuum verbunden. Ohne Zweifel ist
auch die sogenannte Postmoderne eine Phase in der Geschichte des europäisch-amerikanischen
Plus-Ultra. Sie hat keine Entspannung vom Zwang zur Macht mit sich
gebracht, allenfalls hat sie das Könnenmüssen dem neuesten Stand
der Technologie angepaßt und ein wenig Spiel in den zeitgenössischen
Kompetenzstil eingeführt. Es gibt keine Anzeichen für einen wirklichen
Epochenbruch im Sinne eines Abbruchs der Kompetenz-Eskalation. Solange nicht
eine höhere Gewalt die Spirale der Könnenssteigerungen sprengt,
bleibt ihre Aufschraubung als kinetisches Herzstück der Modernität
ungebremst in Fahrt. Auch was ihr widerstehen möchte, scheint zu ihrem
Auftrieb beizutragen; wer sie bekämpft, treibt sie an. Was auf die
Modernität folgen wird, kann darum nur ein weiteres höheres Modernitätsniveau
sein. Unser Zeitalter hat, solange der Weltlauf seiner Eigendynamik überlassen
bleibt, nichts vor sich außer der Fortschreibung und Steigerung seiner
selbst ins Unabsehbare und doch prinzipiell Immergleiche - bis hin zuu Grenzwerten,
von denen man gleichwohl annimmt, auch sie ließen sich überspielen
und immer weiter hinausrücken. Die Modernität ist somit die Endzeit
ihrer selbst, und sie kann wesenhaft für sich selbst nichts anderes
als ihre Zukunftsquelle sein, sofern sie die Drehung der Kompetenzspirale
bleibt.
In
der agitierten Endzeit ohne Ende wird dem Leben der Einzelnen eine neuartige wettläufige
Leistungsverfassung aufgeprägt; diese erzwingt die Entwiklung des Individuums
zu einer adaptionsbereiten Biomaschine. ... Der Einzelne im Kompetenz-Universum
muß sich selber als relativer Souverän in seiner Wirkungssphäre
verstehen. Eben dadurch gerät der moderne Einzelne in eine Falle, aus der
es kein Entrinnen - zumindest kein direktes - gibt. Die Falle klafft dadurch auf,
daß das leistungsstolze Subjekt des Kompetenzsteigerungszeitalters im Gesamtwirbel
der Komptenezspirale nur eine immer kleiner, immer weiter relativierte und spezialisierte
Position einnehmen kann. Der moderne Könner kann immer weniger immer besser.
Was einerseits gerechter Grund seines existentiellen Stolzes ist - nämlich
die aufgeweckte Mobilisierung von Wollen und Können in offenen Horizonten
-, wird zugleich auch zum Grund einer fundamentalen und unausweichlichen Demütigung,
Die Kompetenzmasse der experimentell mobilisierten Welt im Ganzen wächst
exponentiell im Verhältnis zu den Lernfortschritten der einzelnen Könnensträger.
Je mehr Kompetenz der Einzelne erwirbt, um so gewisser ist er Mitspieler in einem
Gesamtspiel, neben dem sein Kompetenzradius - so groß er sein mag - nichtig
erscheinen muß. Dieses Paradox der zugleich steigenden Individualkompetenz
bildet den Hintergrund, vor dem sich das System des neuzeitlichen Individualismus
entwickelt. Die individualistische Zivilisation steht vor der Aufgabe, die Fähigkeiten
und Ansprüche der Einzelnen so aufzuwirbeln, daß die aufgestachelten
kompetenten Einzelnen nicht in vernichtende Depressionen fallen durch die unvermeidliche
Entdeckung ihrer jetzt erst sichtbar werdenden unermeßlichen Inkompetenz
in allem Übrigen. Der Individualismus schafft das psychosoziale Reizklima,
das die Souveränität der Einzelnen zugleich provoziert und annulliert.
Genau mit der dramatischen Entfaltung dieser Verlegenheit findet das Prinzip Design
seinen Ort im System. Denn Design ist - von einem kompetenzökologischen Ansatz
her gesehen - nichts anderes als die gekonnte Abwicklung des Nichtgekonnten. Es
sichert die Kompetenzgrenzen der Einzelnen, indem es dem Subjekt Verfahren und
Gesten an die Hand gibt, im Ozean seiner Inkompetenz als Könner zu navigieren.
Insofern darf man Design als Souveränitäts-Simulation definieren: Design
ist, wenn man trotzdem kann.So
wie Martin Heidegger
in einem berühmten Diktum darauf insistierte, daß das Wesen der Technik
selbst nichts Technisches sei ( ),
so muß man ... deutlich machen, daß das Wesen des Designs selbst nichts
Designartiges ist. Ich habe soeben Design
als Können des Nichtkönnens definiert und möchte nun diese Formel
mit einigen anthropologischen Überlegungen unterbauen. Die Wurzeln des gekonnten
Nichtkönnens reichen natürlich weit vor die moderne Kompetenzwelt zurück,
ja sie durchziehen das gesamte Feld der menschlichen Urgeschichte und der Frühkulturen;
in denen driftet der Homo sapiens als Werkzeugmacher und Mythenerzähler
in Horden und Stämmen durch eine noch weithin technisch unbewältigte
und analytisch undurchdrungene Naturwirklichkeit. Für ihn ist das Nichtkönnen
- das Nichtvielmachenkönnen, Nichtvielverändernkönnen im Bezug
auf seine Umwelt - zumindest verglichen mit dem Machtradius der Spätkultur
- gleichsam seine erste Natur. Nichtsdestoweniger sind die frühen Menschen
alles andere als hilflose, angstüberschwemmte Opfer einer übermächtigen
Außenwelt. Sie sind, im Gegenteil, lebhafte, erfinderische, hochbewegliche
Akteure eines Überlebensspiels, das sie mit großem Erfolg betreiben,
auch wenn sie vom Kompetenzhorizont eines mittelmäßigen modernen Individuums
nur wie von einem Dasein in göttlichen Vollmachten hätten träumen
können. Wenn ihre Lebensformen aus heutiger Sicht als schiere Ohmachtskulturen
erscheinen, so haben wir es mit einer optischen Täuschung (!!!)
zu tun. In Wahrheit sind moderne Subjekte wegen der breiten Entfaltung ihres Kompetenzfächers
viel mehr ohnmachtgefährdet als die vorgeschichtlichen Menschen. Sie riskieren
öfter und an mehreren Fronten, ihr Scheitern durch Inkompetenz zu erfahren.
Der Frühemensch hingegen profitiert davon, daß er zumeist alle Griffe
kann, die er zu seiner persönlichen und sozialen Selbsterhaltung braucht,
während er alles, was nicht gekonnt werden kann, im Schutz von Ritualen mehr
oder weniger routiniert übersteht. Nehmen Sie an, die Sintflut fällt
unter Blitz und Donner vom Himmel auf ihr Blätterdach, dann können Sie,
wenn sich das Unwetter überhaupt überstehen läßt, es besser
überstehen, wenn Sie ein Lied für den Wettergott rezitieren. Es ist
nicht wichtig, daß sie selber Wetter machen können - auch die modernen
Kompetenzen reichen noch nicht ganz bis dorthin -, sondern daß Sie eine
Technik kennen, bei schlechtem Wetter in Form zu bleiben; es muß in Ihrer
Kompetenz liegen, auch dann etwas tun zu können, wenn man ansonsten nichts
tun kann. Nur wer weiß, was man tut, wenn nichts mehr zu machen ist, verfügt
über hinreichend effiziente weiterlaufende Lebensspiele, die ihm dabei helfen,
nicht in auflösende Panik oder seelentötende Starre zu verfallen. Gekonntes
Nichtkönnen stiftet eine Art Leerlaufverhalten oder einen Parallelprozeß,
in dem das Leben auch in Gegenwart des Ohnmächtigmachenden weitergehen kann.
Ich verwende für solche Parallelprozesse den religionswissenschaftlichen
und ethnologischen Ausdruck Ritual. Auch die Menschen der Frühzeit konnten
nicht ganz dessen gewiß sein, ob die Sonne wirklich deswegen aufgeht, weil
sie schon vor ihr wach waren und ihren Aufgang mit einem Rundtanz förderten;
aber sie waren auf diese Weise den Dämonen der Morgendämmerung gewachsen
und konnten sich so in ihren Tag hineinspielen und ihre mythische Identität
als Kinder des hellen Gestirns und der dunklen Erde bewahren. Die Lücke,
durch die Ohnmacht, Panik und Tod ins Leben eindringen, wird von archaischen Zeiten
an durch Rituale geschlossen. In diesem Sinn darf man von der Geburt des Designs
aus dem Geist des Rituals sprechen.Alle
technischen Systeme, die auf der Basis von höherer Feinmechanik, von Verbrennungstechnik,
von Nukleartechnologie, von Elektrik und Elektronik funktionieren, sind für
die durchschnittlichen Benutzer völlig undurchsichtige Größen.
Nichtsdestoweniger ist unser Leben alltäglich längst in den Umgang mit
solcher Technologie installiert. Die Basismaschinen der gegenwärtigen Welt,
die Uhren, die Automobile, die Computer, der Gerätepark der Unterhaltungselektronik,
die höheren Werkzeuge und dergleichen - sie sind allesamt für die absolute
Mehrheit der Benutzer nur glitzernde Oberflächen, deren Innenwelten unmöglich
zu betreten sind, es sei denn dilettantisch und zerstörerisch. In traditioneller
Rhetorik würde man von Büchern mit sieben Siegeln sprechen, in zeitgenössischer
Sprache heißen solche undurchdringlich komplexen Blöcke in der Umwelt
der Benutzer schwarze Kästen. ... Design kommt unweigerlich überall
dort ins Spiel, wo der schwarze Kasten dem Benutzer eine Kontaktseite zuwenden
muß, um sich ihm trotz seiner internen Hermetik nützlich zu machen.
Design schafft den dunklen Rätselkästen ein aufgeschlossenes Äußeres.
... Design schafft bei komplexen Gerät jene Fassade aus zeichen und Berührungspunkten,
an welcher der Benutzer ohne spürbare Demütigung durch eine evidente
Inkompetenz fürs Innere sein Spiel anschließen kann. Aus der Benutzerperspektive
muß Unwissen Macht werden können.Martin
Heidegger
hat in seiner ... Rede über »das Ding« die hier gestellten Fragen
am Beispiel eines Kruges erläutert. Die Funktion des Kruges ... zeigt sich
in seiner Eignung zu der Aufgabe, in seinem hohlen Innern Wasser oder Wein zu
fassen und zum Ausschenken zur Verfügung zu stellen - deswegen vereinigt
er in seinem Aussehen notwendigerweise die drei Merkmale Hohlraum, Griff und Schnabel.
Die Funktion des Dings wäre demnach einfachhin dessen Dienst oder Nutzen.
Von diesem Beispiel her gedacht sind Dinge allgemein gesprochen nützliches
zuhandenes Zeug. ( ).
Als dienendes Zeug sind sie zugleich auch diskret souveräne Geber. Gebe-Wesen
sozusagen in den Händen von Lebewesen. Dies zeigt sich am Krugbeispiel besonders
klar. Der Krug ist von Amts wegen zum Ausschenken da, so daß sich an ihm
ohne Umschweife verdeutlicht, wie dieses Ding, indem es dient, zugleich auch schenkt.
Man muß zugeben, daß Heidegger zu Recht keinen Grund sah, vor der
Aussage zurückzuschrecken, das Wesen des Kruges sei das Schenken. Von hier
aus ist es nur ein Schritt zu dem ding-ontologischen Hauptsatz, das Wesen des
Dings überhaupt sei das Ge-schenk. Wir erreichen mit diesem überraschenden
Theorem ein doppeltes Dingverständnis - eines, das den funktionalen Dienst
des Dings an den Anfang stellt und von diesem her auf den Menschen als Herrn und
Nutzer kommt, und eines, das vom Geschenkcharakter des Dings ausgeht und den Menschen
als Empfänger von Gaben der Dinge kennzeichnet. ... Alles Design entspringt
einer Anti-Andacht; es beginnt mit der Entscheidung, die Frage nach der Form und
Funktion der Dinge neu zu stellen. Souverän ist, wer in Formfragen über
den Ausnahmezustand entscheidet. Und Design ist der permanente Ausnahmezustand
in Dingform-Angelegenheiten - es erklärt ein Ende der Bescheidenheit gegenüber
überlieferten Dingverfassungen und manifestiert den Willen zur Neufassung
aller Dinge aus dem Geist eines radikalisierten Fragens nach der Funktion und
ihrem Herrn und Nutzer. Jedem Funktionalismus wohnt ein dingstürmerischer
Funke inne. Während man beim Geschenk nicht an den Preis zu denken hat, ist
das Designer-Ding von Anfang an für Preisfragen und Revisionen offen: Statt
das Ding zu nehmen, wie es sich gibt, stellt das Design die Funktion an den Anfang
und macht aus dem Ding eine variable Erfüllung der Funktion. Design ist möglich,
weil und insofern der Satz gilt, daß jedes Ding einen Preis hat. ... In
der modernisierten Warenwelt gibt es - idealtypisch gesehen - der Tendenz des
Marktverlaufs nach keine statischen Güter mehr, sondern nur noch Besserungen,
keine stabilen Qualitäten, sondern nur Überbietungs- und Steigerungswaren.
... Wenn der Designer als homo aestheticus und psychologicus ...
ein Zulieferer für Souveränitäts-Simulationen ist, so ist er als
homo oeconomicus der Ausstatter für Güter auf dem Weg zur Besserung;
er ist der Mann des unbedingten Komperativs - Entwicklungshelfer für aufstrebende
Dinge ... Und in dem Maß, wie der aktuelle Weltmarkt tatsächlich Besserung
honoriert, wird Design nicht nur zu einem Erfolgs-Faktor unter anderen, sondern
mehr noch zum Grundelement und zur Nährlösung für den modernisierten,
das heißt klüger gemachten Erfolg überhaupt.Design
als angewandte Kunst ist ... immer auch ein Regulator in der subjektiven Ökologie
der individualistischen Zivilisation; es klimatisiert nervöse Großgesellschaften
und wirkt mit an der Feineinstellung von Illusions- und Elan-Systemen. Es motiviert
und tonisiert die Spieler in den Gewinnspielen der Leistungs- und Erlebnisgesellschaft,
indem es die Prämie Souveränität samt ihren Simulationsmitteln
so breit ausschüttet wie irgend möglich. ... Angewandte Kunst - mit
neuer Illusionslosigkeit in exklusiven Spielen kombiniert - ergibt die Modernisierung
des Egoismus, und dieses Ergebnis aus dem neuen massenhaften self-designing
ist es, was einen kalten Zug ins postmoderne Illusionen-Treibhaus des Westens
vor dem Jahr 2000 bringt. Design als auf das Ego angewandte Kunst erzeugt an seinem
smarten Träger ein hochaktuelles Kompetenzbündel aus Tempo, Information,
Ironie, Geschmack und zweiter Rücksichtslosigkeit. ... Die vormalige Avantgarde-Idee,
das Leben des Einzelnen selbst zum Kunstwerk zu machen, hat nun, mit einer Verzögerung
von kaum drei Generationen, die Basis erreicht. Was man Lifestyle nennt,
ist der Durchbruch von Design auf die Ebene der Selbststilisierungen und der biographien.
Das Individuum greift jetzt nach der Kompetenz, sich selbser als Kompromiß
zwischen Kunstwerk und Maschine auszuführen - etwa nach dem Vorbild von Andy
Warhol, der längst weltweit zum Patriarch des designgestützten Neo-Individualismus
rezipiert wird. Von ihm haben nachrückende Generationen gelernt, daß
Souveränität ein Effekt aus der Investition von Energie in flache Prozesse
ist. Und insofern das Individuum im Design-Zeitalter selbst der Operator von flachen
Prozessen am eigenen Leib werden will, dürfen wir uns darauf gefaßt
machen, in eine neue psychosziale Ära hineinzusteuern, ja vielleicht sogar
auf einen anthropologischen Quantensprung zu. In der Folgezeit muß es zu
einem Gestaltwandel in der tradierten menschlichen Imago kommen, bis hin zur Neuprägung
von psychophysiologischen und neuronalen Prozessen. Es hat den Anschein, als sollte
ein Typus von homo semioticus den ... homo psychologicus ablösen;
die manifesten Träger dieser Entwicklung sind bereits volljährig, unsere
Kinder, unsere Mutanten; bei ihnen würde die klassische »tiefe«
Trias von Psyche, Erinnerung, Innenwelt ersetzt durch die neue flache von Operator,
Speicher, Bildraum. Die »Seele im technischen Zeitalter« könnte
so etwas werden wie ein lebender Cursor in turbulenten Erlebnisräumen - ein
Cursor auf der Suche nach seinem Curriculum, ein Läufer auf der Suche nach
einer Bahn, die seine »eigene« wäre.Die
Denk- und Gefühlsmuster der Mängelanthropologie sind so allgegenwärtig
wie je zuvor. Auf einen, der mehr als früher zu geben hat, kommen hundert,
die mehr als zuvor fordern. Es scheint manchmal sogar, als seien bereicherte und
entlastete Menschen die ärmsten und beschwertesten von allen - weil sie um
ihren Sinn für den Umgang mit Schwierigkeiten gebracht sind. Seit dem frühen
Existentialismus ist das ein Topos der Kritik an der Moderne geworden. Wer inmitten
von Fortschritt und Erleichterung ein Wohltäter der Menschen werden will,
sagt Kierkegaard,
muß Schwierigkeiten schaffen. Dieser Gedanke durchwandert subversiv das
19. Jahrhundert, er wird bei Nietzsche
groß und gefährlich gemacht ...; er wird von Heidegger
ins Verwegene transponiert - dann ist von der Not der Notlosigkeit die Rede; Vergleichbares
kehrt wieder in heutigen Diskursen vom Aufstand gegen die sekundäre Welt.
... Wer auch immer den Stand heutiger Dinge tiefer diagnostiziert, sieht sich
gezwungen, modernisierte Mangelwelten zu beschreiben. Gerade die reichen Gesellschaften
scheinen es zu sein, in denen die alte Armutsanthropologie mehr als irgendwo sonst
triumphiert. In diesen Paradoxen manifestiert sich etwas, was ich die Furcht der
Bereicherten vor dem Reichtum nennen möchte. Das beweist nicht weniger als
ein Zurückschrecken der Moderne vor ihrem eigenen Prinzip im Augenblick des
Erfolgs. Im aktuellen Unbehagen am reichen Leben manifestiert sich ... eine tiefe
Furcht zeitgenössischer westlicher Menschen vor der Einsicht in ihre zivilisationsgeschichtlich
beispiellose Lage. Es steckt darin etwas von Verlegenheit vor übergroßen
Erfolgen. Die Entfesselung des Reichtums übersteigt, wie es scheint, bei
weitem die Kräfte moderner Subjekte. So wollen sie den Reichtum zwar haben,
aber nicht wahrhaben; sie wollen nicht auf ihn verzichten, ihn aber auch nicht
wirklich ergreifen. Sie wollen an ihm leiden wie an einer komfortablen Krankheit.Die
moderne Welt war wesensmäßig - und ist es noch - ein Unternehmen zur
Überwindung von Armut und Armseligkeit; dieses Unternehmen hat die Struktur
einer Wette, die das Wesen des Menschen aufs Spiel setzt.Die
Moderne zwischen Entzauberung und WiederverzauberungDas
Schicksal der modernen Kunst entfaltet sich seit 200 Jahren zwischen zwei Polen
bzw. spannt sich zwischen zwei Polen auf. Die beiden Pole heißen Entzauberung
und Wiederverzauberung. Ästhetische Programme der Entzauberung und Wiederverzauberung
durchlaufen das 19. und 20. Jahrhundert (und sehr wahrscheinlich
wird dies auch im 21. Jahrhundert, wohl auch im 22. Jahrhundert, zum Teil vielleicht
sogar auch noch im 23. Jahrhundert so sein; HB), parallel und sukzessiv,
miteinander und gegeneinander, als Abfolge oder Alternativen, unipolar und bipolar.
Im Gefolge Hegels,
der die Welt schon um 1800 verwüstet sah, nannte Max Weber
die Effekte der Industrialisierung, der Aufklärung und der Wissenschaften
im 19. Jahrhundert die »Entzauberung der Welt«. Mit der Aufklärung
und der Industriellen Revolution beginnt die Epoche der Entzauberung, und es schön,
sagen zu können: die Epoche der Moderne. Dies ist leider nicht möglich,
denn schon früh setzte eine Gegenbewegung ein, welche die Aufklärung
und den Abschied vom Absoluten in Polik und Religion, die Wissenschaft und deren
Folgen, die Industrialisierung bekämpfte, Kirche und Monarchie wieder in
ihre hegemonialen Positionen einsetzen wollte. »Die ersten Rufer in der
Schlacht gegen die Aufklärung waren die Romantiker«, schreibt Ernst
Cassirer in Der Mythus des Staates (ebd., 1949, S. 236). Mit der Romantik
und ihrem Gebot »Die Welt muß romantisiert werden« (Novalis
[Friedrich von Hardenberg],
Über Poesie, 1798) begannen die Programme der Wiederverzauberung der
Welt und der Künste. Das Problem ist zu zeigen, daß sich die Moderne
aus beiden Programmen zusammensetzt, ein Geflecht aus beiden ist.Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 494-495) Mit
der französischen Revolution (1789-1804), die das Ende des Absolutismus
einläutete, und der einsetzenden Industriellen Revolution, die auf
Maschinen basierte, wurden jene Weichen gestellt, die den Konflikt zwischen den
ästheischen, philosophischen und politischen Parteien bzw. Programmen der
Modernität und Gegen-Modernität bestimmen. Auf die Revolution
folgte die Restauration. Beim Wiener Kongreß 1814/15 wurde
eine »Heilige Allianz« ... gegründet, welche die gekrönten
Häupter verpflichtete, die christliche Religion als höchste Maxime ihres
politischen Handelns einzusetzen, um so die gottgewollten Feudalstrukturen zu
wahren und die aufklärerischen Reformen abzuwehren.Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 495-496) Die
Romantiker folgten ... mit ihrem Vertrauen in die christliche Mythologie (vgl.
Novalis [Friedrich von Hardenberg],
Die Christenheit oder Europa, 1799), mit ihrer Rückkehr zu Mythos
und Religion einem Muster der Reaktion auf die Entzauberung der Welt durch die
Industrialisierung, wie wir es heute erleben: Viele Menschen suchen als Reaktion
auf die Verwüstungen der Globalisierung wieder Zuflucht in der Religion.Die
romantische Reaktion stand im radikalen Gegensatz zur Aufklärung und zum
Deutschen Idealismus, der sich auf die Macht des begrifflich-rationalen Denkens
stützte. In der Phänomenologie des Geistes, die Hegel
1806 in Jena verfaßte, heißt es: »Die wahre Gestalt, in welcher
die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein.«
Hegel »outete« sich sich als Gegner der Romantiker, denen er vorwarf:
»Das Absolute soll nicht begriffen, sondern gefühlt und angeschaut,
nicht sein Begriff, sondern sein Gefühl und Anschauung sollen das Wort führen
und ausgesprochen werden.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie
des Geistes, 1807, S. 13). Hegel kritisierte an den Romantikem schon die Methode
der Anschauung, auf die sich Edmund Husserl
in seiner Kampfschrift gegen den Rationalismus (Die Krisis der europäischen
Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: Eine Einleitung in
die phänomenologische Philosophie, 1936) berufen sollte.Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 500-501) Mit
Hegels
Vorlesungen über die Ästhetik (1835-1838) beginnt die Phase des
Endes der romantischen Kunstform: Für Hegel bezeichnet die Romantik bereits
das Ende der Kunst, wie es in seinem berühmten Diktum zum Ausdruck kommt,
wonach die Philosophie in Gestalt des Selbstbewußtseins des Geistes die
Stellung der Religion eingenommen hat und nur sie zur absoluten Wahrheit vordringen
kann. Religion und Kunst treten an die zweite Stelle. Die Kunst wird »als
das sinnliche Scheinen der Idee« definiert und erhält damit einen erkenntnistheoretischen,
konzeptuellen Charakter. Hegels Sympathie gilt der klassischen Kunst der Griechen.
Die romantische Kunstform ist für ihn ein Beweis für die Auflösung
der Kunst gemäß seiner Theorie, daß eben die Philosophie die
eigentliche Disziplin sei, in welcher der Geist als die höchste Stufe der
menschlichen Entwicklung zu sich kommt und welcher die Sinnlichkeit nachgeordnet
ist. Das sinnliche Kunstwerk hat nur Existenzberechtigung als Forum für den
Geist des Menschen, nicht als Sinliches für sich selbst. In »Das Ende
der romantischen Kunstform« schreibt er: »Deshalb verhält sich
der Künstler zu seinem Inhalt im Ganzen gleichsam als Dramatiker, der andere,
fremde Personen aufstellt und exponiert. Er legt zwar jetzt auch noch sein Genie
hinein, er webt von seinem eigen Stoffe hindurch, aber nur das Allgemeine oder
das ganz Zufallige; die nähere Individualisierung hingegen ist nicht die
seinige, sondern er gebraucht in dieser Rücksicht seinen Vorrat von Bildern,
Gestaltungsweisen, früheren Kunstformen, die ihm, für sich genommen,
gleichgültig sind und nur wichtig werden, wenn sie ihm gerade für diesen
oder jenen Stoff als die passendsten erscheinen. ... Es hilft da weiter nichts,
sich vergangene Weltanschauungen wieder, sozusagen substantiell, anzueignen, d.i.
sich in eine dieser Anschauungsweisen fest hineinmachen zu wollen, als z.B. katholisch
zu werden, wie es in neueren Zeiten der Kunst wegen viele getan, um ihr Gemüt
zu fixieren und die bestimmte Begrenzung ihrer Darstellung für sich selbst
zu etwas Anundfürsichseiendem werden zu lassen.« (Georg Wilhelm Friedrich
Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 1835-1838, S. 675). Mit
dem Verweis auf Rückgriffe auf frühere Gestaltungsweisen und Kunstformen,
auf dramatische Inszenierungen von bereits vorrätigen Bildern, auf eklektische
Aneignungsstrategien und auf Indifferenz (Gleichgültigkeit) beschreibt Hegel
- mit dem Auge der Moderne interpretiert - Romantik als »postmoderne«
Reaktion auf die Aufklärung. Wir erleben also eine Art Epochenwiederholung:
Entzauberung und Wiederverzauberung, Aufklärung versus Romantik, Moderne
versus Postmoderne.Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 501-502) Als
um 1800 mit den industriellen und politischen Revolutionen der Abschied vom politischen
Absolutismus begann, migrierte die Idee des Absoluten, um zu überleben, in
die Philosophie und Kunst. Dort überlebte sie und dort herrscht sie bis heute.
Eben weil die Moderne sich nie ihres romantischen Erbes und dessen Anfechtung
der Aufklärung entledigt hat. Das Absolute und das Spirituelle, das Religiöse
und Souveräne, das Autoritäre und Anschauliche existieren in der modernen
Kunst weiter. ... Wir können also feststellen, daß mit der Romantik
jene Ästhetik geschaffen wirde, ja Ästhetik überhaupt erst begründet
wurde, welche trotz all ihrer Widersprüchlichkeit und ihrer Rückgriffe
(auf die Antike, die Renaissance, das Mittelalter, die Religion) den Diskurs der
Moderne mitbestimmte. Die Romantik hat das Bild der modernen Kunst und des modernen
Künstlers entscheidend mitgeprägt, zum Beispiel im Wunsch, der Kunst
eine neue basis im Volk zu verschaffen, und in der Utopie, Kunst und leben zu
vereinen. Der programmatische Schlachtruf von Fluxus, Happening und Aktionskunst
im 20. Jahrhundert, »Lasset uns darum unser Leben in ein Kunstwerk verwandeln«,
ist wortwörtlich eine Forderung von Ludwig Tieck
aus den Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst (ebd.,
1799, S. 91). Alle Sphären des sozialen Lebens sollten ästhetisiert,
zu Kunst werden. Dies ist das Echo des Poetisierungsprogramms der Romantik. Alles
sei Kunst und jeder Mensch ein Künstler. Was Joseph Beuys
sagte, forderte schon Novalis (Friedrich von Hardenberg):
»Jeder Mensch sollte Künstler sein. Alles kann zur schönen Kunst
werden.« (Novalis [Friedrich von Hardenberg], Glauben und Liebe oder:
Der König und die Königin, 1798).Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 502-504) Jenseits
der Moderne?Sloterdijks
philosophische Ästhetik bietet Bausteine und Methoden eines Auszugs aus der
Moderne beziehungsweise Abschieds von der Moderne. Eine zentrale Rolle fällt
dabei einer Rekontextualisierung und Redefinition des ästhetischen Urteils,
des ästhetischen Werts, der ästhetischen Erfahrung zu, die klassischerweise
alle in allgemein verbindlichen Formen definiert wurden, die am Modell des kategorischen
Imperativs von Kant
Maß genommen haben. »Imperare« heißt so viel wie »befehlen,
anordnen«. Der Imperativ ist ein Typ der Aufforderung, ein Gebot, ein Gesetz
( ).
Der »kategorische Imperativ« ( )
von Kant ist ein allgemeingültiges Gebot des praktischen Handelns in der
Ethik und lautet: »Handle so, daß du die Menschen, sowohl in deiner
Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals
bloß als Mittel brauchst.« In Analogie zum Naturgesetz kann der kategorische
Imperativ als »praktisches Gesetz« angesehen werden: »Handle
so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz
werden sollte.« (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,
Band 7, 1785). Der kategorische Imperativ ist ein Gesetz der Vernunft, ein »Grundgesetz
der praktischen Vernunft«. Eine Philosophie der Ästhetik ist bisher
davon ausgegangen, daß die gleichen rationalen Bedingungen auch für
die ästhetische Erfahrung gelten, daß auch ästhetische Erkenntnisse
einer allgemeinen Gesetzgebung gehorchen, daß die Ästhetik nicht allein
ein subjektives Feld ist. Denn nur über Geschmack kann man streiten, während
ästhetische Urteile allgemein gültigen und verpflichtenden Regeln folgen.
Sloterdijks Schriften zeigen, daß solch ein ästhetischer Imperativ,
der gewissermaßen heimlich allen vorhandenen Ästhetiken als Voraussetzung
dient, nicht existeieren kann, und damit hebt er die Moderne aus den Angeln (d.h.:
er versucht es! HB). Ovids
Satz aus dem 8. Buch seiner Metamorphosen, Daedalus und Ikarus, »Et
ignotas animum dimittit in artes« (Er richtete seinen Geist auf unbekannte
Künste) kann paraphrasiert werden in: Er richtet seinen Geist auf unbekannte
Weise auf die Künste (um dem Schicksal der Moderne zu entgehen). Sein ästhetisches
Projekt hat eine ethische Dimension. Was in Kants berühmten Wahlspruch »Der
gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir« anklingt,
der Zusammenhang von Ästhtik und Ethik, ist die Frage nach dem, was das ästhetische
Vergnügen, das der Erfahrung und Erscheinung des Schönen eigen ist und
das im Mittelpunkt dessen steht, was wir mit Epiphanie bezeichnen, mit
dem ethischen gesetzdes kategorischen Imperativs Kants verbinden könnte.
Wie kann einer des anderen Widerhall sein? ... Wie könnte eine ästhetische
Erfahrung beschrieben werden, die uns nicht um den Genuß bringt und gleichzeitig
in Einklang zu bringen ist mit Philosophie?Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 508-509) Dort,
wo sich alle hassen und gegenseitig bedienen, ausnützen und unterjochen,
funktioniert die Logik des kategorischen Imperativs nicht. ... Das Gebot des Evangeliums
»Liebe deinen nächsten wie dich selbst« hat Kant
versucht in eine rationale Aufforderung zu verwandeln: »So sind ohne Zweifel
auch die Schriftstellen zu verstehen, darin geboten wird, seinen nächsten,
selbst unsern Feind, zu lieben. Denn Liebe als Neigung kann nicht geboten werden,
aber Wohltun aus Pflicht ... ist praktische und nicht pathologische Liebe ...,
jene allein aber kann geboten werden.« (Imanuel Kant, Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten, Band 7, 1785, S. 25f.). Dieses Gebot ist bekanntlich
der kategorische Imperativ, der auf keiner anderen Logik beruht als der rationalen
Forderung nach Widerspruchsfreiheit und jedem vernünftigen Wesen vorschreibt,
im anderen die menschliche Person zu respektieren. Das Gebot der Liebe als ethischen
Imperativ wollte Kant vom Glauben lösen und rational begründen. Dieser
praktischen Ethik entsprach auch eine praktische Ästhetik. Der Versuch der
Ästbetik als Wissenschaft im 19. Jahrhundert war genau das gleiche Verfahren:
die Erfahrung des Schönen vom Glauben, d.h. von Intuition von Anschauung,
dem Gefühl etc. zu lösen und rational zu begründen. Aus der ästbetischen
Erfahrung, aus der Ergriffenheit durch Schönheit, wurde eine rationale Aufforderung,
ein Gebot, eine gleichsam rechtliche Aufforderung. Ästhetik wurde gewissermaßen
ein Teil der Rechtsprechung, sie verfiel der Interpretation der Gebote des ästhetischen
Evangeliums. Die ästhetische Erfahrung wurde zu einem Gebot und Gesetz und
hat sich damit um ihren Sinn gebracht, denn die Ästhetik sollte geradewegs
das Feld der pathologischen Liebe sein, das Feld der bloßen Neigung.Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 511-513) Über
Geschmack läßt sich bekanntlich streiten, und darin liegt das Wesen
des Geschmacks, daß er verhandelbar ist, ein Tauschobjekt und nicht eben
Gesetz. Sobald Ästhetik gebietet, verunmöglicht sie Genießen.
Der Befehl vereitelt das ästhetische Vergnügen, denn das ästhetische
Vergnügen liegt gerade darin, ohne Befehl und Gebot und Gesetz zu handeln.
Die Überschreitung, die Transgression, ist daher einer der zentralen Momente
der künftigen Ästhetik. Sloterdijk greift den ästhetischen Befehl,
das Diktat des Schönen, an. Er weiß, daß zwischen ethischen und
ästhetischen Befehlen und Geboten das Schicksal des Fortschritts der Kultur
begraben liegt. Der Hang des Menschen zur Aggressivität ... trägt nicht
durch Widerstand zum Fortschritt der Kultur bei, wie Kant
oder Freud
glaubten. Von Freud können wir aus der Schrift Das Unbehagen in der Kultur
(1929) lernen, es ist gerade der moralische Anspruch, den die Kultur durch das
Gebot der Nächstenliebe der Aggressivität gegenüberstellt, welche
die Aggressivität verstärkt. Was sich der Aggressivität widersetzt,
bildet paradoxerweise den entscheidenden Faktor zur Stärkung dieser Aggressivität.
Ästhetische Gebote bewirken also nicht den Abbau der Barbarei. Es ist gerade
der ästhetische Imperativ, den wir der Barbarei entgegenstellen, der diese
verstärkt. Was sich der Häßlichkeit widersetzt, bildet paradoxerweise
den entscheidenden Faktor zur Stärkung der Häßlichkeit. Wer eine
Ethik des Eros entwirft, leistet paradoxerweise einen Beitrag zur Ästhetik
des Thanatos. In der Nazi-Ästhetik von Leni Riefenstahl erkennen wir, wie
die Ästhetik des Thanatos und der Aggression eine Ethik der Aggression verhüllte.
Bis zu dem Punkt, wo wir erkennen: Wenn Ethik das Feld des Eros ist, das Gebot
der Nächstenliebe, dann ist die Ästhetik das Feld des Thanatos, das
Gebot des Todestriebes.Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 513-514) Aus
dieser Klammer einer zweihundert Jahre langen Allianz von Ethik und Ästhetik,
kategorischen und ästhetischen Imperativen will uns Sloterdijk befreien.
Er greift dabei auf Gedanken von Nietzsche
zurück, bei dem Zarathustra spricht: »Man soll in seinem Freunde noch
den Feind ehren. ... In seinem Freunde soll man seinen besten Feind haben. Du
sollt ihm am nächsten mit dem Herzen sein, wenn du ihm widerstrebst.«
(Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885). Sie sehen in
diesen Zitaten die Umdrehung des Liebesgebots und die Berufung auf Pascals
Definition des Ichs als Feind jedes Ichs. Nietzsche sagt nicht, liebe deinen Nächsten
so weit, daß du deinen Feind wie einen Freund liebst, er dreht bekanntlich
die Werte um und sagt, im Freunde sollte man den besten Feind haben und im Freunde
noch den Feind ehren. Mit dieser Regel wäre ein für alle Mal ausgelöscht,
daß wir mit Feindbildern operieren können, weil uns nur Freundbilder
zur Verfügung stehen. Die Gleichung »die Hölle sind die anderen«
(J.-P. Sartre),
wie wir sie uns ausdenken, und die einzig Guten sind wir selbst, wie es beispielsweise
die US-Politik bis zum heutigen Tage beherrscht, diese höllische Gleichung
ist in der Tat die Universalität des Gebots der Liebe. Das Gebot der Nächstenliebe
erschien Freud beinahe als unmenschlich, schreibt zumindest Lacan
in seiner Ethik der Psychoanalyse (1959). Wir entkommen dieser höllischen
Gleichung nur, wenn wir paradoxerweise die Universalität des Gebots der Liebe
aufgeben, wenn wir also ethische und ästhetische Imperative aufgeben, wenn
wir zugestehen, daß diese Imperative miteinander affin sind. Wir müssen
die Universalität der ästhetischen Gebote aufgeben, um wirklich ästhetisch
handeln zu können und aus der ästhetischen Hölle der Moderne herauszufinden.
So könnten wir sagen, Sloterdijk entwirft eine Ethik der Ästhetik, in
der ästhetische Imperative nicht erscheinen. Er sieht die Ästhetik der
Moderne als inhuman und ist auf der Suche nach einer menschlichen Ästhetik.
Er folgt dabei Lacan, von dem wir lernen, daß alles, was vom Genuß
zum Gebot oder Verbot umgewendet wird, das Verbot nur umso mehr verstärkt.
Man sieht, dieses Gebot befiehlt dem Subjekt »Genieße!«
und durch dieses Gebot zeigt es ihm in grausamer Weise seine Kastration. Der Befehl
»Genieße!« kastriert das Subjekt und vereitelt das Genießen.
Ästhetisches Genießen kann also nur funktionieren, wenn es keinem Gebot
bzw. Verbot unterliegt. Deswegen wendet sich Sloterdijk gegen einen von Kant
und seinem kategorischen Imperativ abgeleiteten ästhetischen Imperativ. Man
soll dem ästhetischen Genießen keine Fesseln anlegen, weil sie Widerstand
erwecken und dieser Widerstand vereitelt den Genuß. Das Gebot der Liebe
trägt in sich die Möglichkeit des Inhumanen, auch der kategorische Imperativ
Kants trägt in sich die Möglichkeit des Inhumanen, deswegen verneint
Sloterdijk die Möglichkeit eines ästhetischen Imperativs. Er verfällt
auch nicht der Lösung von Nietzsche, die Wendung des Aggressionstriebs zu
einer Wendung des Willens zur Macht zu machen, in deren Gefolge Foucault
seine Analysen der Macht in den Systemen des Westens vorgenommen hat. Sein ästhetischer
Entwurf vertritt keine kollektive Lehre, bei ihm entsteht durch die ästhetische
Erfahrung nicht einmal eine Kulturgemeinschaft, weil er weiß, daß
auf ihr ein politisches Regime aufgebaut werden könnte. Jeder Imperativ verweist
das Subjekt auf seine Einsamkeit, den Zwang eines Über-Ich-Gebots. Sloterdijk
verlangt eine Demokratie, die es den Subjektivitäten ermöglicht, ihre
Konflikte zu verlagern, indem sie nicht eindeutig formuliert werden. Darin liegt
der Sinn seiner literarischen und philosophischen Methode der Dedefinition bzw.
Entdefinition. Er sucht die Grundlage für eine Subjektivität, die weder
Macht noch Tyrannei ist, sondern Grundlage für eine Ästhetik der demokratischen
Subjektivität. Auch hier wiederum können wir auf Hegel
verweisen und seine Grundlinien der Philosophie des Rechts, in der uns bereits
die Idee von einer paradoxen Verbindung zwischen der Rhetorik der Begierden (Ästhetik)
und der Logik des Politischen (Ethik) vorgegeben ist, weil hier Hegel ein Rechtssystem
entwickelt, das sich auf Besonderheit und Einzigartigkeit bezieht und nicht auf
die universale Verbindlichkeit. Eine Lehre der Singularität und keine Konstruktion
des Allgemeinen ist auch Sloterdijks Ästhetik.Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 514-516) |