Das konsumistische Manifest (2002)Im
Antiamerikanismus konkretisiert sich natürlich der Haß gegen die Lebensform
des westlichen Konsumismus. Ein faszinierende Zuspitzung bekommt diese Antithetik
durch die Einsicht, daß der Konsumismus zunehmend selbst Züge einer
Weltreligion angenommen hat .... (Ebd., S. 9).Und heute sehen
wir, wie die Frustation des Wohlstandes mit dem Ressentiment der Ausgeschlossenen
konvergiert: im Antiamerikanismus. (Ebd., S. 10-11)Vor dem
Hintergrund des gerade Gesagten bekommen die im Feuilleton hoch kontroversen,
aber von der Zunft meist nur belächelten, großen philosophischen Thesen
der letzten Jahre dorch einen guten Sinn:
Francis Fukuyamas End of History, denn Hegels Geschichte im Sinne eines
Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit - und nur sie war von Kojève
und Fukuyama gemeint - ist tatsächlich zu Ende (nein!
Oder? HB [**|**|**|**]).
Wie Zarathustra es geahnt hat, steht nun der Mensch im Mittelpunkt: als Haustier
des Menschen. Samuel Huntingtons
Clash of Civilizations, denn die kulturellen Differenzen werden zur Instrumentierung
des Ressentiments aller Globalisierungsopfer immer wichtiger. Deshalb trifft auch
die Einschätzung des Antiamerikanismus als ritueller Schematisierung interner
Probleme der islamischen Welt einen entscheidenden Punkt.
Benjamin Barbers Antithese Dschihad vs. McWorld, die sich mit unserem Konzept
eines Kampfs der Weltreligionen Antiamerikanismus und Konsumismus gut verträgt.
Niklas Luhmanns Supercodierung der Weltgesellschaft durch die Unterscheidung Inklusion-Exklusion,
denn es gibt keine Brücke der Diskussion oder des »Dialogs der Religionen«
(**),
die wir betreten könnten, um jene zu befrieden, über die der Prozeß
der Modernisierung hinweggegangen ist. (Ebd., S. 11).Man
kann all diese Überlegungen kontrahieren zu einem Modell, das ich das Dreikörperproblem
der Weltgesellschaft nennen möchte. Sehr große Teile der Weltgesellschaft
leben vormodern, gemeint ist natürlich die sogenannte Dritte Welt,
der wir die Dauerprobleme der Migration und des Fundamentalismus verdanken. Überall
dort, wo Nationalstaaten noch versuchen, die Gesellschaft mit Steuern zu steuern,
leben wir modern. Und überall dort, wo sich die Wissensgesellschaft
formiert, die Global Players der Wirtschaft den Ton angeben und »smart cities«
aus dem Boden schießen, zeigt sich die Welt postmodern. Es läßt
sich nicht vorausberechnen, wie diese drei Körper sich wechselseitig beeinflussen
werden - und das macht die Entwicklung der Weltgesellschaft in einem durchaus
mathematischen Sinne unberechenbar. (Ebd., S. 11-12).
Mit Relativismus hat das nichts zu tun. Ja mehr noch: Gerade an
unseren Themen kann man erfahren, daß es unmöglich ist, ein
Relativist zu sein. Jede Beobachtung ist nämlich immer auch
eine Beobachtung erster Ordnung. Denn man kann immer nur an einem Ort
sein und hat deshalb je nur eine Perspektive: »soweit ich sehe«.
Gadamer hat das die »Vorurteilsstruktur des Verstehens« genannt,
der Konstruktiivismus spricht vom »blinden Fleck jeder Beobachtung«
und der us-amerikanische Kontextualismus meint dasselbe mit seinem Begriff
»Embeddeness«. Im Blick auf unser Thema heißt das, mit
Mary Douglas, »culture is bias«. Und jenseits dieses Vorurteils
ist nirgendwo. (Ebd., S. 12).
Soziologen wie Dirk Baecker
betonen zwar immer wieder zu Recht, daß, wer Kapitalismus sagt, Gefahr läuft,
die Gesellschaft auf Wirtschaft zu reduzieren. Doch wir interessieren uns im folgenden
gerade für den spezifischen Beitrag der kapitalistischen Wirtschaft zur Logik
der Moderne. .... Im System des Kapitalismus wurden die Menschen (nicht
»die Menschen«, sondern »die abendländischen Menschen«
! HB) trockener und berechenbarer - man könnte sagen: sie
wurden auf Zivilisationstemperatur gebracht. Und genau das hat ihm der Sentimentalismus
der Entfremdungskritiker seither zum Vorwurf gebracht. .... Besonders einschlägig
sind hier natürlich die Formulierungen des »Kommunistischen Manifests«,
das Marktsystem habe »die persönliche Würde in den Tauschwert
aufgelöst ... und kein anderes band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen,
als das nackte Interesse, als die gefühlslose bare Zahlung.«
(Karl Marx, Die Frühschriften, S. 528). (Ebd., S. 13).Bei
Lichte betrachtet, entsteht die soziale Kälte aber nicht durch das Prinzip
des Kapitalismus, sondern durch die für sein Funktionieren erforderliche
formale Organisation, also die Notwendigkeit, soziale Kooperation in großem
Maßstab zu organisieren. Formale Organisation ist in der modernen Gesellschaft
genau so unvermeidlich wie unmenschlich; sie ist eins mit dem Verlust des Lebens
in kleinen Gruppen. (Ebd., S. 13-14).Keine Demokratie ohne
Marktsystem (?!?). Daraus folgt nicht die zynische
Empfehlung, die Moral durch den Marktmechanismus zu ersetzen. Vielmehr geht es
darum, Moral nicht ethisch, sondern ökonomisch zu begründen - nämlich
aus der Evolution der Kooperation. Es ist intelligent, nett zu sein. Wer dagegen
Erfolg sucht, indem er die Dummheit der anderen ausnutzt, zerstört damit
die Umwelt, in der er Erfolg haben kann. Je komplexer das Wirtschaftssystem, um
so mehr hängt der eigene Erfolg vom Erfolg des anderen ab. Wer die Dinge
so sieht, wird nicht mehr versuchen, den westlichen Universalismus der Menschenrechte
zu exportieren, sondern die 'Risikostaaten' mit dem konsumistischen Virus zu infizieren.
Deshalb ist es richtig, Wirtschaftsbeziehungen auch mit denen zu pflegen, die
unseren ethischen Standards nicht entsprechen. Der pragmatische Kosmopolitismus
ist konkret Konsumismus. Wir plädieren also für Händler und gegen
Helden - man könnte auch sagen: für Konsumbürgerlichkeit.
(Ebd., S. 14-15).Der Haß Carl Schmitts gegen den ökonomistischen
Denkstil des Liberalismus war sehr hellsichtig. Denn in der Tat läßt
sich die urpolitische Freund-Feind-Unterscheidung weder auf den Konkurrenten auf
dem Markt noch auf den Diskussionsgegner in der Arena der bürgerlichen Öffentlichkeit
anwenden. Der Kampf um Anerkennung wandelt sich unter Bedingungen des Marktsystems
zur Konkurrenz um einen Dritten, nämlich den Kunden. (Ebd., S. 15).Und
so lautet die Grundthese des konsumistischen Manifests: Das 21. Jahrhundert beginnt
mit der Kritik der liberalen Vernunft, die von religiösen Fanatikern in der
Weltsprache der Gewalt geschrieben wird. Im Terror islamischer Fundamentalisten
manifestiert sich ein Antiamerikanismus, gegen den die westliche Welt keinen erfolgreichen
Krieg führen kann, weil man - das war schon die Lektion von Vietnam - unter
Bedingungen einer feminisierten Öffentlichkeit ohnehin keinen erklärten
Krieg mehr führen kann. Doch wenn das zutrifft, bleibt dem Westen nur eine
Hoffnung: der Marktfriede. Konkret besteht diese Hoffnung darin, daß sich
der Virus - oder wie man im Anschluß an Richard Dawkins formulieren könnte:
die Meme des kapitalistischen Wirtschaftens - auch in den heute noch vom antiamerikanischen
Ressentiments besetzten Seelen reproduziert. Wirtschaftlicher Erfolg als Opium
für die Fanatiker. (Ebd., S. 15-16).Der Konsumismus
ist das Immunsystem der Weltgesellschaft gegen den Virus der fanatischen Religionen.
Die Apologie dieses Lebensstils, bis hinein in die Sphäre der Liebe, muß
nicht die Augen verschließen vor den Folgelasten der Modernisierung, den
Ausschlußmechanismen unserer westlichen Rationalität und den Schicksalen
der Globalisierungsopfer. Auch die immanenten Schwächen des konsumistischen
Lebensstils, der vom pursuit of hapiness nur den »happiness of pursuit«
übrigläßt, liegen seit langem offen zutage. Heute wäre es
aber an der Zeit, die Stärke in diesen Schwächen zu erkennen. Der
Konsumismus verspricht weder das Ziel noch das Ende der Geschichte, sondern nur
das immer wieder Neue. Und wo anders wäre, nachdem die Moderne den Himmel
ausgeräumt hat, die Wendung von der Transzendenz zur Introszendenz möglich:
die Eroberung der »dieseitigen Tiefe«. (Ebd., S. 16-17).
Richard Nixon meinte einmal, den westlichen Staaten fehle a
mission beyond peace. Das war natürlich im Blick auf die Nachweltkriegsordnung
gemeint. Aber nach dem 11.09.2001 waren viele versucht zu sagen: Hier
ist sie! Und diese Mission liegt auf exakt der Ebene, die bisher Sean
Connery, Arnold Schwarzenegger und Bruce Willis vorbehalten war - dort,
wo die große Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse tobt.
Real betroffen vom Terror sind, soweit man sieht, die US-Amerikaner und
die Israelis. (Und
Europäer! HB). Die Sympathisanten leiden am Leiden der Betroffenen
- und befriedigen damit »das seelische Komfortbedürfnis nach
Legitimität des Glückes«. Gemeint ist ganz konkret das
Glück, unbetroffen, geschützt, vom Ernstfall verschont zu sein.
Das Schuldgefühl, das man als Nation der Unbetroffenen entwickelt,
hat Deutschland in ähnlichen Situationen durch einen Ablaßhandel
bewältigt, den die Neue Ernsthaftigkeit heute als Scheckbuchdiplomatie
denunziert. (Ebd., S. 21).
Der
Fundamentalismus ist die präzise Reaktionsbildung gegen den Ausschluß
der Konsum- und Kommunikationslosen. (Ebd., S. 25).Die Politik
des liberalistischen Westens mißversteht sich als globale, das heißt,
sie verwechselt sich mit der Weltgesellschaft - und braucht deshalb einen globalen
Feind. (Ebd., S. 25). Wenn wir unser Problem nun etwas höher
abstrahieren, erreichen wir die Ebene der Grundparadoxie des Liberalismus: Wie
verhält sich eine aufgeklärte Kultur der Toleranz angesichts religiöser
Intoleranz? Wenn etwa das »Reich Gottes« gepredigt wird, dann
kann der moderne Staat das tolerieren, solange es irgendwie metaphorisch, also
spirituell und innerlich gemeint ist - nicht aber als Aufruf zur politischen Theokratie.
Der säkulare Staat kann den Gläubigen also nicht in seinem Glauben
ernst nehmen. Wie in anderen Lebensbereichen auch, wird die Forderung nach Gleichheit
vom Staat in Form von Gleichgültigkeit erfüllt. (**).
(Ebd., S. 25-26). Unter Soziologen ist seit Max Weber unstrittig,
daß sich das spezifisch Moderne unserer Gesellschaft darin zeigt, daß
die einzelnen »Wertsphären« (wie etwa Wirtschaft,
Technik, Kunst; aber eben auch Religion! HB) »ausdifferenziert«
sind, das heißt, daß sie autonom operieren und einer je eigenen Logik
folgen. Das ist nicht für jedes System ein Glück. Ausdifferenzierung
heißt nämlich für die Religion Säkularisierung. Säkularisierung
bewirkt aber kein Erlöschen der Religion, sondern ihre Vervielfältigung.
Man könnte hier von einer List der Unvernunft sprechen, die darin besteht,
daß gerade die Säkularisierung theologische Gehalte im Profanen rettet.
Deshalb müßte man, um die Religion zu neutralisieren, auch die Säkularisierung
säkularisieren. (Ebd., S. 26). Religion ist das soziale
System, das eigentlich nicht anerkennen kann, nur ein soziales System zu sein.
(Ebd., S. 27).Wir (wir!) können uns den Prozeß der Modernisierung
aber gar nicht anders denken denn als fortschreitende Ausdifferenzierung sozialer
Systeme, die autonom operieren. Und das impliziert eben die Unabhängigkeit
der Politik von der Religion. Die islamische Kultur hat das - nämlich Modernisierung
qua Säkularisierung - jedoch bis heute nicht erreicht. Anders gesagt: Atatürks
Projekt ist gescheitert. Nach wie vor ordnen die Muslime die Welt mit der Unterscheidung
der zwei Rechtskreise »Islam« und »Ungläubige«.
(Ebd., S. 27).Es ist sinnvoll, im Blick auf die gesellschaftliche
Stellung der Religion Toleranz von Respekt zu unterscheiden. Toleranz nimmt die
anderen nicht ernst. Stanley Fish spricht in diesem Zusammenhang von Boutique-Multikulturalismus;
der reicht vom Palästinenserschal über den Urlaub in Nepal bis zu fernöstlichen
Managerweisheiten. (Ebd., S. 27).Und wenn man diese eminent
moderne Haltung des Boutique-Multikulturalismus auf die eigene religiöse
Überlieferung anwendet, dann resultiert die sogenannte Zivilreligion. Das
heißt im Klartext: Man glaubt zwar nicht an einen Gott, aber man schätzt
die verhaltenssichernde Kraft der Rituale - etwa bei der Taufe, bei der Beerdigung
und an Weihnachten. Oder man beschwört »christliche Werte«,
wenn man politisch nicht mehr weiter weiß. (Ebd., S. 27).
Mit dieser Form der Toleranz kann sich eine Religion, die sich ernst nimmt,
nicht begnügen. Sie fordert Anerkennung und Respekt. Respekt kann aber gerade
auch darin bestehen, die andere Auffasung zu bekämpfen - man denke etwa an
zwangsverschleierte Frauen, abgehackte Diebeshände und Salman Rushdie. Wir
können das Andere nur anerkennen, wenn wir unserer Toleranz eine Grenze setzen.
(Ebd., S. 27).Religion, die es ernst meint, ist nicht tolerant.
Deshalb kann sie von der Religion der Toleranz, also dem Liberalismus, nicht toleriert
werden. Man sollte sich hier nicht von humanistischen Seminarerfahrung der Religionswissenschaftler
und der »Politischen Korrektheit« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
der Politiker irreführen lassen, die uns heute unisono einreden wollen, der
Islam sei eine Religion des Friedens. Eine Religion predigt Toleranz, solange
und wo sie noch nicht an der Macht ist. Und umgekehrt ist Macht immer ein Maß
dafür, wie weit man sich nicht anpassen muß. Ich bin immer dann tolerant,
wenn meine tiefsten Überzeugnungen nicht berührt werden, und ich bin
immer dann kompromißbereit, wenn ein Sieg unwahrscheinlich ist. (Ebd.,
S. 27-28).Für die Muslime ist der
Koran das Wort Gottes. Dagegen heißt Aufklärung, die heilige Schrift
als Literatur zu lesen. Der Gott der Frommen ist immer einwertig - man kann nicht
mit ihm diskutieren. Gott sprach - aber erst mit dem Teufel kommt dann Dialog
in den Logos. Damit ist aber der Dialog, dieses Lieblingskind der Liberalen, des
Teufels. So heißt es bei Adolf von Hranack sehr schön: »Man tritt
in das Schema des Gegners über, wenn man stückweise seinen Thesen andere
entgegensetzt!« (Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, 1900,
S. 130). Wenn der Dialog beginnt, hat der Liberalismus schon gewonnen. Und dafür
haben die Frommen ein untrügliches Gespür. Es ist deshalb absurd, sich
irgendeinen politischen Fortschritt vom »Dialog der Religionen«
(**)zu
versprechen. Wenn sich die Fundamentalisten auf einen »Dialog« einlassen
würden, gäbe es gar keinen Grund mehr für einen Dialog. (Ebd.,
S. 28-29).
Gebetsmühlenartig wiederholt man
bis tief in die sozialdemokratische Linke hinein die liberalen Monstranz-Begriffe
Demokratie, Toleranz und Dialog - und verstellt sich damit jeden Zugang
zum Problem. Es ist nämlich, erstens, eine liberale Illusion zu glauben,
Demokratisierung wäre gleichbedeutend mit Verwestlichung. Gerade
durch fundamentalistische Appelle gewinnt man heute Wahlen. Daß
die Herrschaft des Volkes nicht in den Kosmopolitismus, sondern in den
Provinzialismus führt, hat Samuel Huntington als das demokratische
Paradoxon bezeichnet. Es ist, zweitens, intellektuell unredlich, wechselseitige
Toleranz als Heilsformel zu propagieren, ohne vorab das liberale Urdilemma
des Umgangs mit der Intoleranz zu reflektieren. Und drittens: Auch hinter
dem liberalen Dialog steht nicht etwa die Vernunft selbst, sondern ein
Glaube: »faith in talk«. (Ebd, S. 29-30).
Wie schon für Carl
Schmitt ist für Stanley Fish das ewige Gespräch der Kern des Liberalismus.
Dessen Commitment, also die selbstverpflichtende Wertbindung, ist paradox: »the
deferring of commitment«. Die Liberalen können den Konflikt fundamentaler
Glaubensüberzeugungen nur als Meinungsstreit modellieren, denn es gibt für
sie prinzipiell keinen Konflikt, den man nicht in rationaler Deliberation auflösen
könnte. Was aber eine Religion von einer bloßen Meinung unterscheidet,
ist der Anspruch auf privilegierten Zugang zur Wahrheit. Und deshalb gibt es keine
liberale Antwort auf die heute so dringliche Frage: Wie soll man mit Leuten diskutieren,
die von der Überlegenheit ihrer Kultur überzeugt sind? Der Fundamentalismus
konfrontiert den Liberalismus mit Konflikten, die nicht auf Interessenkonflikte
reduzierbar sind. Wer fromm ist, hat kein Interesse am Marktplatz der Ideen: Er
hat die Wahrheit - und deshalb kein Interesse an einer anderen Wahrheit. Man kann
es auch so sagen: Religion, die sich ernst nimmt, ist dogmatisch. Und im Dogma
haben wir den eigentlichen Gegensatz zum liberalen Dialog. Es codifiziert die
Wahrheit des rechten Glaubens und kann deshalb in unseren westlichen Spitzenwerten
wie »Offenheit« und »othering« nur gottlose Verirrungen
sehen. Für den Frommen sind die westlichen Werte schon deshalb unattraktiv,
weil sie sich, inhaltlich völlig unbestimmt wie sie sind, bei näherem
Hinsehen ganz in Verfahrensfragen auflösen: Variabilität, Offenheit,
Andersheit, Dialogizität. Diese Neutralität unserer Spitzenwerte ist
der Preis, den wir für unsere universalistischen Ansprüche zahlen müssen.
(Ebd, S. 30-31). Die neutralen Prinzipien des Liberalismus können
nur operieren, wenn sie zuvor das geopfert haben, was die Leute wirklich interessiert.
Vor allem der liberale Spitzenwert der Diversität entwertet alle anderen
Werte. So könnte die westliche Welt im Zerrspiegel des Fundamentalismus etwas
zu sehen bekommen, was sonst im blinden Fleck ihres universalistischen Selbstverständnisses
verborgen bleibt. Die Lektion lautet: Es gibt keine Rationalität und Toleranz
ohne Grenzen, das heißt ohne Exklusion. Und Liberalismus war bisher vor
allem auch die Kunst, diese Geste unsichtbar zu machen. Die liberale Neutralität
war stets eine Geste der Exklusion, die sich als Geste der Inklusion tarnte.
(Ebd, S. 31-32).Max Webers berühmte These über den Geist
des Kapitalismus besagt im Kern, daß eine asketische Form des Protestantismus
eine alltagsbestimmende Lebensmethodik geschaffen habe, die das kapitalistische
Wirtschaften nicht nur wie ein Korsett stütze, sondern zugleich auch mit
Heilsprämien versehe. Kurz: Der Kapitalismus ist religiös bedingt.
(Ebd., S. 63).Der Konsum ist heute das Medium einer Kultur des
Selbst. Oder um es im Jargon der Medientheorie Fritz Heiders zu formulieren: Die
Waren sind die lose gekoppelten Elemente des Mediums Konsum, in das die rigide
gekoppelten Formen der Lebensstile eingeprägt werden. Hier zeigt sich, daß
das Konzept des »Inszenierungswerts« nicht nur für Produkte und
Dienstleistungen, sondern vor allem auch für die Konsumenten selbst gilt.
Im System des Konsumismus inszeniert sich das Leben selbst und erfindet seine
Identität. Der Wunsch »Verändere mich!« führt
dabei natürlich nicht zu einer wirklichen Veränderung; es geht, wie
gesagt, nur darum, das Anderssein zu schmecken. Mit anderen Worten: Man kann sich
zwar nicht ändern, aber umerzählen und ein neues »Make-up der
Identität« auflegen. Es ist deshalb die wesentliche Aufgabe des Marketing
und der Werbung, Formulierungshilfen bei der Eigenkonstruktion von Geschichten
zu geben, mit denen sich dann Individuen identifizieren können. Wünsche
zweiter Ordnung zielen vor allem auf den spirituellen Mehrwert der Waren, und
soweit es sich dabei um Luxusgüter handelt, können wir beobachten, daß
die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts einen Luxus zweiter Ordnung bietet. Um das
zu verstehen, muß man sich klarmachen, daß Luxusmarken seit jeher
totemistisch funktionieren. Was zählt, ist der prägnante Name, den man
selbst als semantischen Markenartikel definieren könnte. Klassische, jedem
vertraute Beispiele sind Rolex, Mercedes, Armani. .... Wie die Marke hat der Luxus
noch eine große Zukunft vor sich, weil - so Hans Magnus Enzensberger - »das
Streben nach der Differenz zum Mechanismus der Evolution gehört und die Lust
an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt«. Wenn wir nun im Blick
auf die Märkte des 21. Jahrhunderts von einem Luxus zweiter Ordnung sprechen,
so soll das besagen: Es geht nicht mehr um die naive Ostentation des Konsums und
der Kaufkraft, sondern um eine spirituelle Technik der Differenz. Der Luxus der
Zukunft wird ein unsichtbarer Luxus sein: Zerebralkonsum, Aufmerksamkeit, Sinn,
Ruhe, Raum. Enzensberger hat dieser Entwicklung die dialektische Pointe gegeben:
»Der Luxus der Zukunft verabschiedet sich vom Überflüssigen und
strebt nach dem Notwendigen.« Nirgendwo kann man die verblüffenden
Wendungen, die der Konsumismus in den Registern der second order desires
und des Luxus zweiter Ordnung nimmt, besser studieren als auf den Märkten
der Sorge. In der Welt von Wohlstand und Fürsorge wächst der Wunsch,
sich um jemanden oder etwas zu sorgen. (Ebd., S. 102-103).
Produktion und Reproduktion (in: F.A.Z, 22.03.2003)
Der
Arbeit der Hausfrau fehlt die vertragsmäßige Freiwilligkeit; sie ist
keine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt - und wird deshalb nicht anerkannt. Statt
dessen sieht sich die traditionelle Mutter und Hausfrau mit einer Fülle hochmoderner
Unterscheidungen umstellt, die ihr heiliges Familiengefühl antiquiert erscheinen
lassen. Vor allem ist sie ständig mit Frauen konfrontiert, die sich für
Produktion, also Karriere, und gegen Reproduktion, also Kinder, entschieden haben.
Hinzu kommt eine subtile Regierungspropaganda, die Frauen, die »nur«
Mütter und Hausfrauen sind, ein schlechtes Gewissen verpaßt.
(Ebd.).Gerade wenn man einsieht, daß der Feminismus als Kreuzzug
gegen die Familie triumphal erfolgreich war, kann man auch erkennen, daß
er heute in eine Sackgasse geraten ist, weil er sich überdehnt hat - frau
hat sich zu Tode gesiegt. Könnte das die Chance für eine Wiederkehr
des Familienlebens sein? Es ist durchaus denkbar, daß die Erfolgreichen
des 21. Jahrhunderts das Familiäre als Quelle entdecken .... (Ebd.).Kinder
sind, um in diesem spröden Jargon der Wirtschaftswissenschaftler zu bleiben,
dauerhafte Konsumgüter, die psychische Befriedigung verschaffen. Und sie
machen fähig, in die Zukunft zu blicken und sie zu gestalten. (Ebd.).Wer
keine Kinder hat, hat auch kein existentielles Interesse an der Zukunft.
(Ebd.).
Die Helden der Familie (2006)
Bolz
höchst engagiertes Plädoyer für die familie richtet sich gleich
gegen mehrere Gegner: gegen einen Fürsorgestaat, der die Familie ersetzen
will, gegen einen neuen Hedonismus unter der Marke der »Selbstverwirklichung«,
gegen eine als »Political Correctness« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
getarnte Kinderfeindlichkeit der Methusalem-Apologeten und der feministischen
Karrierefetischisten.(Ebd., Klappentext). |
| Die Götter
gaben uns Elend; // Denn zu groß war das Glück, daß wir beisammen
in Eintracht // Unserer Jugend genössen und sanft dem Alter uns nahten! (
Homer, Odyssee) |
Wir leben in einem Zeitalter
kalter Kriege. Kalter Krieg herrscht zwischen Männern und Frauen, zwischen
Alten und Jungen. Kalter Krieg herrscht zwischen Eltern und Kinderlosen, zwischen
berufstätigen Frauen und Hausfrauen. Kalter Krieg herrscht zwischen Familien
und Staat. Bekanntlich ist dies auch ein Zeitalter des radikalen, begründungsunbedürftigen,
zu nichts verpflichtenden Individualismus. Man sieht im Verhältnis von Mann
und Frau eine Unterscheidung als ob nicht. Man führt Ehen als ob nicht. Und
man hat Kinder, als hätte man sie nicht. (Ebd., S. 7).Unser
Thema eignet sich besonders schlecht für eine wissenschaftliche Behandlung.
Denn man kann nicht »objektiv« sein, wenn es um eine Frage geht, die
an die Wurzeln des eigenen Selbstverständnisses geht. Wer über das Verhältnis
der Geschlechter schreibt, ist entweder Frau oder Mann. Wer über das Verhältnis
der Generationen schreibt, ist entweder jung oder alt. Und wer über Familien
schreibt, ist entweder verheiratet oder nicht; er gehört entweder zu den
Eltern oder zu den Kinderlosen. Da es hier um Fragen der Identität, des Lebenssinns
und des Glücks geht, kann man nicht sinnvoll erwarten, daß der Autor
von seinem Geschlecht, seinem Alter und seinem Stand abstrahiert. Besser ist es
wohl, die Karten auf den Tisch zu legen. Der Autor dieser Zeilen ist Jahrgang
1953, verheiratet mit einer Frau, die auf amtliches Befragen »Hausfrau«
als Beruf angibt, und Vater von vier schulpflichtigen Kindern. (Ebd., S.
7).
Wozu Kinder?
Jedes
gut bürgerlich erzogene Kind kennt das Zauberflöten-Duett »pa-pa-pa-pa
...«, das die Liebe als Kindersegen besingt. Und jeder fleißige Abiturient
kennt die Schwarzbrotszene aus Werthers Leiden: »Ich ging durch den Hof
nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinausgestiegen
war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen,
das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei
Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe,
die ein simples weißes Kleid, mit blassroten Schleifen an Arm und Brust,
anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem
sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab's jedem mit
solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein: Danke!«
(Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther, 1774, S. 21). (**).
Das sind idyllische Bilder eines Familiengeistes, der aus der Bastelstube unserer
Lebensstile genau so unwiederbringlich verschwunden scheint wie der Geist des
Protestanismus aus dem stahlharten Gehäuse des Kapitalismus. Wie konnte es
dazu kommen? (Ebd., S. 9).
Das
Unzeitgemäße dieser Szene hat schon Oswald Spengler,
Der Untergang des Abendlandes, S. 681, deutlich gespürt: »Kinderreichtum,
dessen ehrwürdiges Bild Goethe im Werther noch zeichnen konnte, wird etwas
Provinziales. Der kinderreiche Vater ist in Großstädten eine Karikatur«
(**).
(Ebd., Anmerkungen zu S. 9). |
Es
gibt keine tiefer angelegte Analyse zu unserem Thema als die von Oswald Spengler
in seinem Hauptwerk über den Untergang des Abendlandes. Der Ton dieser Analyse,
vor allem in dem zentralen und für uns einschlägigen Kapitel über
die Seele der Stadt (**),
ist aber so überspitzt polemisch und ressentimentgeladen, daß bisher
kaum jemand Lust hatte, zu fragen, ob Spengler recht behalten hat. Dabei hat seine
Hauptthese über die »Unfruchtbarkeit des zivilisierten Menschen«
(**)
durchaus die Qualität, unsere aktuellen Erfahrungen mit der Kinderlosigkeit
von Wohlstandsbürgern zu resümieren. (Ebd., S. 9).
Oswald
Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 679. ** |
Spengler
unterstellt dem modernen Menschen, nicht mehr leben zu wollen. Genauer: Er möchte
wohl noch als Einzelner leben, und zwar möglichst lange, wie Nietzsche das
vom »letzten Menschen« (**)
vorausgesagt hat, aber er möchte nicht mehr als Typus leben. (**).
Der Gedanke an das Aussterben seiner Familie schreckt ihn nicht mehr. Auf die
Frage »Wozu Kinder?« findet er keinen Grund und hat deshalb auch keine.
(**).
(Ebd., S. 9-10).
Zum
letzten Menschen vgl. Werke von Friedrich Nietzsche (v.a.: Also
sprach Zarathustra, 1883-1885); Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes,
S. 679. ** Vgl.
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 679ff. ** |
Vor
allem die Frauen rebellieren gegen das Schicksal der Biologie. Kinder zu gebären
und die damit einhergehenden Sorgen und Einschränkungen in Kauf zu nehmen
war früher selbstverständlich. Doch in der modernen Welt haben sich
auch die Frauen daran gewöhnt, ihr Leben zu »wählen«; und
seither fordern sie Gründe, warum sie diese Belastungen auf sich nehmen sollten.
Da nun die Vorteile einer Schwangerschaft sehr fern liegen, ja zweifelhaft sind,
die Nachteile dagegen auf der Hand liegen, kann es nicht überraschen, daß
sich immer mehr Frauen gegen Kinder entscheiden. (Ebd., S. 10).Bekanntlich
hat Spengler den Untergang des Abendlandes analog zum Untergang der Antike konstruiert.
Und gerade im Blick auf die zivilisatorische Unfruchtbarkeit funktioniert dieser
Vergleich zwischen dem römischen Imperium und dem modernen Europa besonders
gut. Beide leben sie in Frieden, sind gut organisiert und hochgebildet. Trotzdem
schwindet die Bevölkerung rasch dahin. Und daran können auch die verzweifelten
staatlichen Maßnahmen nichts ändern, die Kinder besserstellen, unbemittelte
Eltern unterstützen, Adoptionen fördern und Einwanderung erleichtern.
All diese politischen Maßnahmen verpuffen, weil das Problem auf einer anderen
- wie Spengler meint: metaphysischen - Ebene liegt. »Statt der Kinder haben
sie seelische Konflikte, die Ehe ist eine kunstgewerbliche Aufgabe und es kommt
darauf an, sich gegenseitig zu verstehen. Es ist ganz gleichgültig,
ob eine amerikanische Dame für ihre Kinder keinen zureichenden Grund findet,
weil sie keine season versäumen will, eine Pariserin, weil sie fürchtet,
daß ihr Liebhaber davongeht, oder eine Ibsenheldin, weil sie sich
selbst gehört. Sie gehören alle sich selbst und sie sind alle
unfruchtbar.« (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1971,
S. 681 **).
(Ebd., S. 10).Auch wenn wir den Niedergang der bürgerlichen
Familie nicht gleich metaphysisch zum Untergang des Abendlandes steigern wollen,
müssen wir doch feststellen, daß eine Fülle spezifisch moderner
Entwicklungen das Spenglersche Szenario in den letzten fünfzig Jahren erheblich
verschärft hat. Dazu gehören die sexuelle Freizügigkeit und die
antiautoritäre Erziehung seit den 1960er Jahren, der unaufhaltsame Aufstieg
des Feminismus und die Eroberung der Kulturbühnen, aber auch der Straßen
der Metropolen durch die Homosexuellen. Dazu gehören aber auch die enorm
erweiterten wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen - und die Erfindung der Pille.
(Ebd., S. 10-11).Wir werden gleich sehen, warum und wie all das
entscheidend zur Auflösung der Familie beiträgt. (Ebd., S. 11).
Das Geheimnis des Begehrens (S. 11-14)
Es
ist das größte Ärgernis für die menschliche Gemeinschaft,
daß man die Beziehung von Männem und Frauen nicht dauerhaft auf Liebe
basieren kann. Die Welt wäre in Ordnung - d.h. ihre Ordnung wäre, im
Jargon der 1960er Jahre gesprochen, »repressionsfrei« -, wenn die
Sexualtriebe durch ihre eigene Dynamik imstande wären, stabile Beziehungen
zwischen erwachsenen Menschen zu stiften. Das funktioniert aber nicht, wie zuletzt
die 68er Generation erfahren mußte, und deshalb ist die Welt nach wie vor
aus den Fugen. Prosaischer formuliert: Die Natur hat es versäumt, die sexuellen
Rhythmen und Routinen von Männern und Frauen aufeinander abzustimmen.
(Ebd., S. 11).Eros ist der antike Name der Paradoxie, daß
wir das Wichtigste nur im Verlust finden können. (Ebd., S. 11).Eros
steht also nicht für Erfüllung der Liebe, sondern für einen Fehlschlag
und seine Folgen. Und genau in diesem Sinne erzählt Aristophanes nun den
Mythos der Liebesverblendung. Seine Kurzfassung hat der Psychoanalytiker Jacques
Lacan gegeben: Indem wir den Anderen überreden, genau das zu haben, was uns
ganz macht, stellen wir gegenseitig sicher, daß wir auch weiterhin verkennen
können, was uns fehlt. Du bist genau mein Typ! Genau das hatte Freud mit
dem Ausdruck Libidobesetzung gemeint. Ein Objekt verschränkt sich mit dem
Bild in uns, das uns jenes begehrenswert macht. Das Objekt gibt uns also das genaue
Bild des Begehrens - und darin liebt der Verliebte im Grunde das eigene Ich.
(Ebd., S. 12).Das ganze Drama der Liebe spielt auf dem Schauplatz
meines eigenen Unbewußten. Und deshalb kann die erotische Beziehung den
anderen nicht als anderen anerkennen, ja nicht einmal als anderen erkennen. So
zerschellt jeder Liebesanspruch an der endlich gewährten Befriedigung eines
Bedürfnisses. Denn die Ansprüche der Liebe fordern vom Anderen, zu geben,
was er nicht hat. Gefangen ist man also nicht vom konkreten Anderen, sondern vom
eigenen Anspruch an ihn. Eine Gestalt hält uns gefangen: »mein Typ«.
Technisch gesprochen: Sex ist mechanisch schaltbar - nämlich durch Bilder.
(Ebd., S. 12).Der Verliebte begehrt im Anderen eine Freiheit, die
sich selbst seiner zuälligen Eigenart unterwerfen soll. Liebe ist, daß
die Freiheit des anderen sich an meinen Körper fesselt. Um alles in der Welt
will die Liebe für alles, was sie an Individuellem ins Liebesspiel einbringt,
geliebt sein. Lieben ist das Begehren, geliebt zu werden. Lieben ist die Forderung,
der andere möge die Zufälligkeit meiner Existenz als Grenze seiner Freiheit
akzeptieren. Ich bin, wie ich bin; und genau darum liebst du mich. (Ebd.,
S. 12-13).Wer sich das vor Augen führt, kann nicht mehr überrascht
sein, daß die sexuelle Beziehung prinzipiell fehlzuschlagen scheint. Aber
gerade deshalb hält uns das Begehren auf Trab. Es läßt sich weder
bestimmen noch dauerhaft erfüllen. Der berühmteste Song der Rolling
Stones hat also das ganze Geheimnis des Begehrens ausgeplaudert: »I can
't get no satisfaction«. Wenn es aber keine Befriedigung des Begehrens gibt,
dann ist die delphische Weisung »Erkenne dich selbst!« eine
Überforderung. (Ebd., S. 13).Das
Begehren ist nämlich der blinde Fleck der Selbstbeobachtung und erfordert
eine wissenschaftliche Analyse - entweder philosophisch als Phänomenologie
des Geistes oder psychologisch als Konstruktion des Unbewußten. Hegel und
Freud haben gezeigt, daß alles Begehren im Kern ein Begehren nach Anerkennung
ist. Wir diskutieren dieses Thema heute zumeist unter dem Titel Würde oder
gar Menschenwürde. So schwer es ist, eine nicht-idealistische Definition
der Würde zu geben, so deutlich kann ein Beobachter der modernen Gesellschaft
doch feststellen, daß Würde sehr stark mit Kontrollchancen korreliert.
Hinter dem Anspruch auf die Achtung der eigenen Würde steht der Wunsch, etwas
erkennbar zu bewirken, eine Ursache zu sein, einen für alle sichtbaren Unterschied
zu machen. Dem entspricht genau, daß es für die meisten Menschen wichtiger
ist, wie sie behandelt werden, als was sie bekommen. Die Gerechtigkeit eines Verfahrens
ist ihnen mindestens so wichtig wie die Resultate dieses Verfahrens. Es geht hier
also um prozedurale Güter; sie sind Würde-Güter. (Ebd., S.
13).Hegel hat all das in der Dimension von Herrschaft und Arbeit
überzeugend vorgeführt. Doch etwas mehr als hundert Jahre später
kommt es bei Freud zu einem entscheidenden Komplexitätszuwachs des Problems.
Sein Thema ist die Liebe. Bei der Freudschen Libido geht es um die Köderbarkeit
der Sexualität durch Bilder, Typen, Gestalten. Wie schon gesagt, meint der
Begriff der Libidobesetzung, daß ein Objekt sich mit einem Bild vermischt
und dadurch begehrenswert wird - du bist genau mein Typ! Das ist der narzißtische
Rahmen jeder Erotik. Eros selbst kann diese Gefangenschaft im Bild nicht sprengen.(Ebd.,
S. 13).Im Geschlechtsgenuß verhalte ich mich gerade nicht
zum anderen als solchem. Sein Selbst könnte da nur störend dazwischenkommen.
Deshalb wird die Faszinationskraft einer schönen Frau durch ihre Dummheit
nicht beschädigt, sondern gesteigert. Sie ist, mit der unüberbietbaren
Formel von Oscar Wilde, die Sphinx ohne Rätsel. Das bestätigen übrigens
auch so untadelige, politisch korrekte Philosophen wie Theodor W. Adorno. So heißt
es in den Minima Moralia: »Phantasie wird entflammt von Frauen, denen
Phantasie gerade abgeht. .... Ihre Attraktion rührt her vom Mangel des Bewußtseins
ihrer selbst, ja eines Selbst überhaupt.« (Theodor Wiesengrund [Adorno],
Minima Moralia, 1951, § 108). (Ebd., S. 14).
Jenseits der Erotik (S. 14-16)
In
der Erotik von Begehren und Geschlechtsgenuß lauern also nur Seelenkatastrophen.
Doch gibt es noch eine andere Liebe? Um den narzißtischen Rahmen der Erotik
zu sprengen, muß etwas ganz anderes hinzukommen, um schließlich das
zu erreichen, was Jacques Lacan die aktive Gabe der Liebe genannt hat: das Sprechen,
das Symbolische, der Vertrag, der Name des Vaters, das Heilige. Nur dem ist es
zu verdanken, daß es die Geschlechtsgemeinschaft zwischen Männern und
Frauen, die es eigentlich nicht geben kann, doch gibt. Und erst diese Ergänzung
der sexuellen Beziehung dürfte eigentlich Liebe heißen. (Ebd.,
S. 14).Man könnte die Verschiebung, um die es hier jetzt geht,
ikonologisch so fassen: Das christliche Abendmahl hat das antike Symposion überlagert.
Eros wird christlich gesehen zum Feind, denn das Begehren wiederholt die Revolte
gegen Gott. Und dagegen mobilisiert Paulus eine neue Liebe, die im Kern eine Liebe
zu Gott ist. Liebe als Agape hebt die Welt des Begehrens aus den Angeln. Die christliche
Agape ist nämlich keine wechselseitige Beziehung, sondern Liebe als Haltung.
(Ebd., S. 14).Die große Leistung des Apostels Paulus, die
Umwertung der antiken Werte, steckt im Agape-Begriff wie in einer Nußschale.
(Ebd., S. 15).Im Reich der Agape hat die hellenistische Männlichkeit
natürlich keinen Platz mehr; sie wird durchs Ideal der Jungfräulichkeit
ersetzt. Und der Himmel, in den uns die liebevolle Sorge um den Nächsten
zu führen verspricht, ist von aller Wollust unbefleckt. (Ebd., S. 15).Durch
die christliche Leib-Seele-Unterscheidung hat der Körper an Bedeutsamkeit
verloren. (Ebd., S. 15).Das ist zweifellos der
Preis, den unsere Kultur für die Sprengung des narzißtischen Rahmens
aller Erotik gezahlt hat. (Ebd., S. 15).Die Befreiung aus
den Seelenkatastrophen des Narzißmus kann nur durch eine übernatürliche
Instanz bewerkstelligt werden: ein Dritter, ein Gott, ein Vertrag ist dazuz nötig.
(Ebd., S. 15-16).Daß die katholische Kirche aus der Ehe ein
Sakrament gemacht hat, belegt nicht nur unsere These, sondern bezeugt auch die
Schwierigkeit des Unterfangens. Diese Schwierigkeit ist unter modernen Lebensbedingungen
derart angewachsen, daß man sagen könnte: Es ist komplizierter eine
Ehe als einen Krieg zu führen. Das würde jedenfalls erklären, warum
viele ihre Ehe als Krieg führen. Immerhin wird auch hier deutlich, daß
es keine Harmonie zwischen der Sexualbeziehung und dem Pakt der Ja-Worte gibt.
(Ebd., S. 16).
Die Ehe - Rechnung und Gegenrechnung
(S. 16-20)
Freud hatte ja die Erwartung oder doch die Hoffnung,
einmal werde sich die Psychoanalyse in Biochemie aufheben. Und heute formuliert
Jens Reich unser Thema in der Tat so: »In dem Drüsen- und Nervengewitter
in uns, das wir Sexualität nennen, ist die Paradoxie zwischen subjektiver
Wahrnehmung und objektivem Sachverhalt auf die Spitze getrieben. Wir sind ganz
zweifelsfrei Marionetten unserer Hormonchemie .... Eros ist die vom Großhirn
abdestillierte Essenz, als die der auch bei uns Menschen ablaufende Chemismus
wahrgenommen wird. Es wird als einmaliges, individuelles, subjektives Erlebnis
konstruiert, was doch nur die Erfüllung des vom Hormonspiegel Vorgeschriebenen
ist.« (Jens Reich, Sexualität und Fortpflanzung als technisches
Konstrukt, 2000, S. 84). (Ebd., S. 16-17).Man weiß,
was daraus folgt: Bei Freud geht die Liebe nicht auf eine Person, sondern auf
ein Objekt, das Sexualobjekt. Dieses Sexualobjekt ist, wie Freuds Nachfolger Jacques
Lacan betont hat, immer ein Partialobjekt. Wenn die emanzipierten Frauen heute
also kein Sexualobjekt mehr sein wollen, könnte ein unbefangener Beobachter
fragen: was sonst? Wenn jemand als ganzer Mensch in eine Geschlechtergemeinschaft
eingehen möchte, dann muß er sich schon von Kant sagen lassen, daß
das nicht geht. Berühmt geworden ist seine Definition der Ehe als Vertrag
über den wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtsorgane. Im Genuß des
Geschlechtsakts »macht sich ein Mensch selbst zur Sache« und widerspricht
unweigerlich seinem Menschsein. (Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten,
1797, A 108; vgl. dazu kritisch: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, System der
Sittlichkeit, 1802-1803, S. 37). Genau das meint auch der Begriff Sexualobjekt
bei Freud. Und es gibt hier keine andere Erotik des ganzen Menschen, sondern nur
die Möglichkeit, das eigentlich Unmenschliche der Sexualbeziehung »unter
der Bedingung der Ehe«, also durch Vertrag, erträglich zu machen.
(Ebd., S. 17).Intimität ist die stabile Illusion geglückter
Selbstdarstellung: zwei Selbste versichern sich gegenseitig ihres Selbstwerts.
Es ist natürlich höchst unwahrscheinlich, daß sich ein solches
Verhältnis auf Dauer stellen läßt. Menschen werden durch die prinzipiell
übersteigerten Liebeserwartungen prinzipiell überfordert; aber es gibt
Institutionen, die damit umgehen können. Die sexuelle Beziehung muß
sich zur Institution der Ehe entfremden, wenn die Partner sich nicht fremd werden
wollen. (Vgl. Arnold Gehlen, Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung,
in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Band XI, # 3, 1953, S. 351).
Und es gehört zu den Ironien des Alltags, daß die Ehe hier stark in
ihrer Schwäche ist. Die Ehe löst das Problem übersteigerter Erwartungen
an die Liebe durch Monotonie oder wissenschaftlich formuliert: durch reduzierte
Information. Mit anderen Worten, in der Ehe verzichten die Partner auf die Optimierung
ihrer Selbstdarstellung. Und daraus folgt, daß sich eine funktionierende
Ehe fortschreitend als ein Lernprozeß gestaltet, in dem jeder Partner die
Enttäuschungen über die Eigenart des anderen verarbeitet. (Ebd.,
S. 17).Doch lohnt sich diese Anstrengung?
Ehen waren ja nicht primär produktive, sondern reproduktive Einheiten. Und
seit Kinder keine Altersversorgung mehr darstellen, sondern eher Sorgen bis ins
hohe Alter bereiten, muß man diese Frage wörtlich, nämlich ökonomisch
verstehen. Heiraten »bis daß der Tod euch scheidet«, ist die
Entscheidung mit den höchsten Opportunitätskosten. Es kann deshalb nicht
überraschen, daß immer mehr Leute immer später heiraten, und wenn
sie dann heiraten, immer häufiger auf Kinder verzichten. (Ebd., S.
18).Empirische Untersuchungen zum sogenannten Well-being
zeigen immer wieder, daß nichts für Glück und Wohlbefinden wichtiger
ist, als mit anderen in enger verbindung zu stehen. Soziale Beziehungen schränken
aber Freiheit und Autonomie ein. Daraus folgt, daß Glück nicht mit
Unabhängigkeit korreliert ist. Eher gilt umgekehrt: Was uns glücklich
macht, bindet uns. (Ebd., S. 19).Die
Gegenrechnung zu dieser Gegenrechnung orientiert sich dann an den Scheidungsstatistiken.
Monotonie, hohe Kosten und Streit in der Ehe haben eine hohe Sichtbarkeit. Das
schreckt viele davon ab, sich auf dieses moderne Abenteuer einzulassen. Und in
der Tat hat die Ehe von allen Lebensformen das größte Konfliktpotential
- aber eben auch das größte Glückspotential. All jene Untersuchungen
zeigen, daß Einkommen einen sehr geringen, die Ehe dagegen den größten
Einfluß auf die Lebenszufriedenheit hat. Trotzdem hängt die Politik
der Frauenemanzipation fast völlig an Erwerbstätigkeit, und die Folgen
des Zerfalls der Familie werden bagatellisiert (Ebd., S. 19). Trotzdem
hängt die Politik der Frauenemanzipation fast völlig an Erwerbstätigkeit,
und die Folgen des zerfalls der Familie werden bagatellisiert. (Ebd., S.
19).
Die neuen Verteilungskämpfe
Es
ist zur Selbstverständlichkeit geworden, daß die großen politischen
Themen der Zukunft demographische sein werden. (Ebd., S. 20).Die
zukünftige Entwicklung Alteuropas ... wird durch die Dynamik der Bevölkerungsentwicklung
geprägt, also durch Geburtenrückgang, steigende Lebenserwartung und
Migration. .... In den Metropolen Alteuropas wächst die Parrallelgesellschaft
von Migranten. Zum anderen ist der Generationenvertrag geplatzt, der das Wohlleben
des Alters durch die Produktivität der Jugend garantierte und so durch stabile
Rentenzahlungen den Zusammenhang der Generationen wahrte. .... Die Kluft zwischen
dem Lebensstil der Eltern und der Kinderlosen wird immer größer.(Ebd.,
S. 20-21).Hier wird auch deutlich, daß
die größten Verteilungskonflikte der Zukunft nicht mehr die Sphäre
der Produktion, sonder die Sphäre der Reproduktion betreffen. Uns erwartet
nämlich nicht nur ein erbitterter Kulturkampf zwischen Eltern und und Kinderlosen,
sondern auch ein harter ökonomischer Verteilungslampf zwischen den Generationen.
Und mehr denn je scheint auch Nietzsche mit seiner Definition der Liebe recht
zu behalten: »in ihren Mittel der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß
der Geschlechter.« (Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, Warum ich so gute
Bücher schreibe, 1889, § 5) (Ebd., S. 21).Um
die Sorge über die demographische Entwicklung Deutschlands zu beschwichtigen,
werden in der öffentlichen Diskussion zwei Placebos verabreicht. Zum einen
soll Zuwanderung die Kinderlosigkeit der Deutschen kompensieren (ein
fataler Fehler! HB [**]).
Zum anderen werden wir älter und arbeiten länger (ein
fataler Fehler! HB [**]).
Herwig Birg hat die These, Migration könne die Kinderlosigkeit ausgleichen,
in eine Perspektive gerückt, die sehr fraglich werden läßt, ob
dies, wenn möglich, überhaupt wünschbar sei. »Mehr als 90
Prozent der Migarnten sind sehr schlecht ausgebildet, verdienen unterdurchschnittlich.
Somit verringert sich rechnerisch das Pro-Kopf-Einkommen.« (Herwig Birg,
Die Dritte Welt bei uns, in: Focus, 40, 2005, S. 62). (Ebd.,
S. 23).
Vorbild Methusalem
Daß wir
sterblich sind, ist heute der peinliche Skandal schlechthin. (Ebd., S. 25).Die
Differenz der Lebenslater ist heute genauso tabu wie die Differenz der Geschlechter.
Wer zu diesem Thema Stellung nimmt und das Scherbengericht der »Polical
Correctness« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
vermeiden will, sit dsehalb gut beraten, wenn er der Maxime folgt: Über Frauen
und Alte nur Positives!(Und: Frauen und Alte zuerst! HB). (Ebd., S. 26).Die Sorge für die
Alten setzt voraus, daß die Jungen immer höhere Steuern zahlen; folglich
können sich die Jungen immer weniger Kinder leisten; und folglich schrumpfen
die künftigen Generationen noch weiter. (Ebd., S. 27).
Die Dialektik von Herr und Frau
Im
Ernst wird auch heute niemand bestreiten, daß Hausfrauen und Mütter
Arbeiten verrichten. Aber der Arbeit der Hausfrau fehlt die vertragsmäßige
Freiwilligkeit; sie ist keine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt - und deshlab
wird sie nicht anerkannt. Anerkennung und Würde sind in der modernen Gesellschaft
nämlich rigoros über Geld vermittelt. Hausfrauen, Kinder und Alte gelten
nichts, weil ihre Zeit nicht in Geld verrechnet wird. (Man
kann deshalb auch von Rassismus gegenüber Hausfrauen, Müttern, Kindern
und Alten sprechen! HB). Unbezahlte Arbeit zählt nicht als »richtige«
Arbeit. Und deshalb verwandelt sich unter Bedingungen von Geldwirtschaft die Hausfrau
in eine Frau, die »nur Hausfrau« ist. Die Tagesmutter,
die die Kinder anderer Mütter versorgt, arbeitet. Die Mutter, die ihre eigenen
Kinder versorgt, geht ihrem Privatvergnügen nach. Das führt zu einer
interessanten Paradoxie: Statt Mutter zu sein, arbeiten Frauen erwerbsmäßig,
um sich »mütterliche« Dienstleistungen kaufen zu können
- und ihre Arbeit besteht oft selbst in »mütterlichen« Dienstleistungen.
(Ebd., S. 29-30).Jede Verneinung eines Unterschieds bringt offenbar,
gleichsam auf ihrem Rücken, einen neuen Unterschied mit sich. (Unterscheidungen
verhalten sich wie eine Hydra: wird eine verneint, werden sofort danach zwei nachgewachsene
bejaht! HB). (Ebd., S. 31).Seit es die Pille
gibt, ist Sex ohne Kinder selbstverständlich. Und umgekehrt konfrontiert
uns die Gentechnik heute mit der Möglichkeit, Kinder ohne Sex zu haben. Da
kann es nicht überraschen, daß in »kulturrevolutionären«
Kreisen Schwangerschaft zunehmend als Behinderung behandelt wird. (Ebd.,
S. 31). Wenn sich im Verhältnis von Männern und Frauen
die Dialektik von Herr und Knecht wiederholt - und wieder läuft die Emanzipation
vom Herrn über Arbeit! -, dann muß man den Hebelpunkt für
diese Kräfteverschiebungen bei den Frauen suchen. Hier hatte und hat eine
Erfindung soziologisch umstürzende Effekte, die uns so selbstverständlich
geworden ist, daß wir ihre kulturgeschichtlich zäsurierende Wirkung
gar nicht mehr spüren: die Pille. Sie erzeugt ja eine chemische Schwangerschaft.
In der Geschichte des Eros ist sie das wichtigste Stück Anti-Natur. Wie das
Ende des Lebens hat damit auch sein Anfang seine Natürlichkeit verloren.
Deshalb skandalisieren auch andere Techniken eines Outsourcing der Fortpflanzung
kaum mehr - Leihmutter, künstliche Gebärmutter, Ektogenese sind hier
die einschlägigen Stichworte. Und angesichts dessen wirkt die Erinnerung
daran, daß Babynahrung das Stillen überflüssig gemacht hat, fast
schon sentimental. (Ebd., S. 31). Bei Kulturanthropologen
und Soziologen finden die gesellschaftlichen Folgen der Pille immer stärkere
Beachtung. Frauen kontrollierten schon immer die Reproduktion - erst die Pille
aber hat sie zu den wahren Türhütern der Natur gemacht. Gerade deshalb
verweigern Männer zunehmend die Verantwortung für die Folgen einer Beziehung.
Das wiederum führt zu einer drastisch sinkenden Geburtenrate. Übrigens
hatte schon Darwin vorausgesagt, daß der homo contracipiens aussterben
werde. (Ebd., S. 31-32).Die moderne Gesellschaft fördert
eine Designer-Erotik, d.h. eine maximale Entfernung vom biologischen Erbe der
Sexualität. Und nur wer, wie einige Soziobiologen, dieses Erbe für prägender
hält als alle modernen Selbstermächtigungsveranstaltungen, wird auf
die urgeschichtliche Verknüpfung von Lust und Familienleben hinweisen. Aus
dieser Perspektive erscheint dann die Mode der Selbstverwirklichung als die aktuelle
Form frigider Unnahbarkeit und der Entschluß, keine Kinder haben zu wollen,
als das soziale Äquivalent zum Zölibat. (Ebd., S. 32).
Das imperiale Selbst
Selbstverwirklichung
ist das Opium aller Iche. Man berauscht sich an sich selbst - das Ich nimmt sich
selbst als Droge. Anders gesagt: Weil die absoluten Iche der Moderne Bindung brauchen,
wird die Individualisierung zur Religion. Was Individualität heißt,
ist unter modernen Lebensbedingungen allein Sache des jeweiligen Individuums.
Es begründet sich zureichend in dem bloßen Anspruch, ein Individuum
zu sein. Damit ist aber das humanistische Definitionsmonopol des Menschen gebrochen.
Jeder kann nun nach seiner eigenen Fasson »menschlich« werden. In
einer individualistischen Kultur gibt es weder ein Maß des Humanum noch
ein Mehr an Menschlichkeit. Individualität kann man nämlich nicht steigern;
sie ist ja immer Sache des Individuums. (Ebd., S. 33).In
der modernen Gesellschaft herrscht der soziale Rollenzwang, ein Individuum zu
sein. Sei unverwechselbar! So lautet die paradoxe Anweisung des Individualisierungszwangs.
Und eben diese Paradoxie steckt auch in der Existenzprogrammformel »Selbstverwirklichung«.
Hier hilft nur der Schein weiter. Doch das Als-ob wird rasch selbst zur stabilen
Lebensform. Denn wir alle spielen Theater. (Ebd., S. 33).Wenn
man keine Aufgaben hat, die einen von sich selbst ablenken, wird man sich selbst
zum Problem - so entsteht die Sinnkrise und der Therapievorschlag der Selbstverwirklichung.
Das eigentliche Problem der Selbstverwirklichung - das hat Hermann Lübbe
genau gesehen - liegt also darin, Freiheit in Sinn zu verwandeln. Autonomie ist
heute Selbstprogrammierung, also die Aufgabe, sich selbst zu verwirklichen, indem
man sich selbst zu Aufgaben herausfordert, die man selbst bestimmt. (Ebd.,
S. 33-34).All das wäre nicht möglich, wenn es uns die
Gesellschaft nicht tatsächlich erlauben würde, die eigene Biographie
als Wahl zu konzipieren. Die Kaskade der Möglichkeiten des je eigenen Lebenslaufs
läßt sich kaum andeuten. Und das gilt auch für die Beziehung zu
anderen. Auch hier herrscht die Logik von Versuch und Irrtum. Die Ehe ist ein
Beziehungstest nach dem Prinzip der Wahlverwandtschaft; und die Scheidung versteht
sich als Selbsterlösung aus der Beziehungsfalle. Und je mehr die Menschen
den Sinn einer Ehe nicht mehr im Aufziehen von Kindern, sondern in der Verwirklichung
ihrer Selbste suchen, um so wahrscheinlicher ist es, daß sie sich scheiden
lassen. (Ebd., S. 34).Die Grundunterscheidung der Selbstverwirklichungskultur
ist die Geste, mit der das Selbst seine eigene Grenze als unantastbar markiert.
Und weil es diese Unantastbarkeit zugleich allen anderen unterstellt, entsteht
ein paradoxer Individualisierungszwang. Ganz generell wird einem zugemutet, unverwechselbar
zu sein. . .... »Individualität ist Unzufriedenheit«, heißt
es lapidar bei Luhmann. (Vgl. Niklas Luhmann, Gesellschaftstruktur und Semantik,
1989, Band III, S. 243). (Ebd., S. 34).
Arbeitende Frauen und Vater Staat
Die Therapeuten und Sozialarbeiter helfen dem Individuum, zu sagen,
wie es an der Gesellschaft leidet. .... Zum Individuum gehört deshalb
der Therapeut. Der Berater der Leiderfahrung, der Trainer der Selbsterlösung.
Er sorgt dafür, daß sich die Individualität als Dauertherapiebedarf,
als permanente Heilungsbedürftigkeit deutet. In der therapeutischen
Gemeinschaft wird jeder angeregt, über sich selbst und seine Probleme
zu sprechen - unter der Voraussetzung, daß man nicht nicht
verstanden werden kann. So werden wir alle immer sensibler. Sensibilisierung
heißt ja, daß man mehr leidet, obwohl man weniger Grund dazu
hat. (Ebd., S. 35).
Wir
sind hier in der Welt des Kindermangels, der destabilisierenden Ehen - und der
alleinerziehenden Mütter. Nun, ganz allein sind sie nicht. Wir haben es heute
nämlich mit einem neuen Dreieck zu tun: das Kind, die alleinerziehende Mutter
und Vater Staat. Wenn eine Familie in ärmeren Milieus zusammenbricht, tritt
der Wohlfahrtsstaat unmittelbar an die Stelle des Vaters. d.h. er verschiebt die
finanziellen Lasten vom fehlenden Vater auf den Steuerzahler. Die Mutter-Kind-Beziehung
braucht besonderen Schutz; die Sexualbeziehung der Eltern und die sie begleitenden
Leidenschaften sind dafür nicht stabil genug. Früher hat der Ernst der
Ehe die nötige Stabilität gewährleistet. Seit der Sinn für
den Sinn der Ehe schwindet, schützt nur noch der Wohlfahrtsstaat. In Schweden
ist der anonyme Steuerzahler schon ganz selbstverständlich an die Stelle
des Ehemanns getreten. Und wie stets bei wohlfahrtsstaatlichen
Leistungen muß man damit rechnen, daß der Versuch, den Opfern zu helfen,
das Verhalten reproduziert, das solche Opfer produziert. Wer lange
wohlfahrtsstaatliche Leistungen bezieht, läuft Gefahr, eine Wohlfahrtsstaatsmentalität
zu entwickeln; von Kindesbeinen gewöhnt man sich daran, von staatlicher Unterstützung
abzuhängen. Und je länger man von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen abhängig
ist, desto unfähiger wird man, für sich selbst zu sorgen. (Ebd.,
S. 35-36).Das Familiäre wird heute zur Angelegenheit formaler
Organisationen. Wohlfahrtsstaatliche Leistungen verringern die Kosten unehelicher
Kinder und ermutigen die Frauen, auf einen Haushalt mit dem Vater ihrer Kinder
zu verzichten. Und umgekehrt fühlen sich Väter weniger verantwortlich
für ihre Kinder. Diese Entlastung von Verantwortung geht Hand in Hand mit
der Sentimentalisierung der familiären Beziehung. Gerade weil die Verwaltung
zunehmend den Vater ersetzt, wird Vatersein zum freischwebenden Gefühlswert.
(Ebd., S. 36).Man kann die Tragödie der modernen Familie durch
einen einfachen, sich selbst verstärkenden Kreislauf beschreiben. Frauen
arbeiten - und wir können es hier dahingestellt sein lassen, warum. Dieses
Dahingestelltseinlassen mag natürlich jenen zynisch erscheinen, die zu Recht
darauf hinweisen, daß viele Frauen arbeiten, um die eigene oder die Subsistenz
ihrer Familie zu sichern. Doch für unsere Analyse der Folgen, die die Erwerbsarbeit
von Frauen für die Entwicklung der modernen Familie hat, sind die Fälle,
in denen Frauen einem Beruf nachgehen, ohne ökonomisch dazu gezwungen zu
sein, eigentlich viel interessanter. (Ebd., S. 36).Wir klammern
die Frage nach dem Warum hier ein und verfahren rein beschreibend. Im übrigen
ist diese Frage nach dem Warum seit Adam Smith vielfach gestellt qnd zumeist mit
dem Hinweis auf Identität, Status und Würde als den eigentlichen Effekten
von Erwerbsarbeit beantwortet worden. Zu deutsch: Im Sozial- und Wohlfahrtsstaat
ist man häufig nicht in erster Linie deshalb erwerbstätig, weil man
natürliche materielle Bedürfnisse befriedigen müßte; vielmehr
geht es um Anerkennung. Wir können diese Frage, wie gesagt, dahingestellt
sein lassen. (Ebd., S. 36).Frauen
arbeiten. Deshalb werden Kinder teurer, denn sie kosten nun wertvolle Arbeitsszeit.
Mit wachsenden Beschäftigungsmöglichkeiten wird es für Frauen immer
teurer, nicht zu arbeiten. Anders gesagt, es wird immer schmerzlicher, Karrierechancen
zugunsten der Familie zu opfern. Folglich werden weniger Kinder geboren - und
damit schrumpft das gemeinsame Kapital der Eheleute. Daraus folgt nun, daß
Scheidungen billiger werden, und deshalb haben wir immer mehr Scheidungen. Damit
schließt sich aber der Kreis, denn Frauen müssen nun arbeiten, weil
sie sich nicht mehr auf die Ressourcen der Männer verlassen können.
Da kann es nicht überraschen, daß Scheidungen ihr naegatives Vorzeichen
verloren haben. Die Scheidungsrate ist nämlich
ein Maß für die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen. Und
wo Frauen mehr verdienen als ihre Männer, wächst die Scheidungsrate.
Frauen, die mehr als ihr Ehemann verdienen, reichen doppelt so häufig die
Scheidung ein wie Frauen, deren Männer mehr als sie verdienen. Aber auch
hier hat der Vater Staat seine Hände im Spiel. Frauen müssen nämlich
auch deshalb arbeiten, weil die Ablösung vom Verschuldensprinzip Scheidungen
erleichtert. Scheidung meint nicht mehr Schuld, sondern - seit dem Ersten Eherechtsreformgesetz
von 1976 - Zerrüttung. .... Das läßt verheiratete Frauen erst
recht zögern, ihren Arbeitsplatz zugunsten von Kindererziehung aufzugeben,
denn sie wissen, daß sie einen guten Job brauchen, wenn ihr Partner sie
fallenläßt. Je leichter es ist, sich scheiden zu lassen, um so wahrscheinlicher
ist es, daß Ehefrauen berufstätig bleiben und den Zeitpunkt des Kinderkriegens
hinauszögern - oft, bis es zu spät ist. (Ebd., S. 37).Die
soziologischen Effekte dieses veränderten Rechtsbewußtseins kann man
gar nicht hoch genug veranschlagen. Entscheidend ist nämlich, daß auch
bei der Wahl des Partners das spezifisch moderne Bewußtsein wächst,
alles, was ist, wäre auch anders mögöich - nichts anders meint
der Begriff »Lebensabschnittspartner«. Und das heißt eben: es
wächst die Zahl der Scheidungen. Auch das führt in einen sich selbst
verstärkenden Kreislauf: Geschiedene heiraten Geschiedene, und eine hohe
Scheidungsrate macht Scheidungen attraktiver. (Ebd., S. 37-38).Je
leichter es ist, sich scheiden zu lassen, umso geringer ist für den Partner
der Anreiz, die Liebe zu nähren und zu pflegen. Wenn es einfach ist, sich
scheiden zu lassen, ist man streitsüchtiger und investiert weniger Energie
in die Anstrengung miteinander auszukommen. Man gibt sich nicht mit einem »gut
genug« zufrieden, sondern will die Partnerschaft optimieren - mit dem nächsten
! (Ebd., S. 38).Modernisierung heißt nämlich
immer auch: strenge Kalkulation der Kosten. Und Kosten sind nichts anderes als
das Maß für das Opfer der alternativen Möglichkeiten. Insofern
ist wahre Liebe immer unökonomisch. Wer clever ist, schließt aus den
Scheidungsstatistiken, daß es ein zu hohes psychologisches Risiko wäre,
alle Gefühle in eine Beziehung zu investieren. Deshalb steht am Anfang
der heutigen Ehe - und das gilt prinzipiell schon seit der französischen
Revolution - nicht der heilige, sondern der rein juristische Ehevertrag, also
die gedankliche Vorwegnahme der Scheidung. Die Ehe ist dann nur noch ein »Lebensabschnitt«,
der nicht mit dem Tod des Gatten, sondern nach Vereinabrung zweier ökonomisch
orientierter Vertragspartner endet. »Ehe ist vielfach nur der Kontrakt,
auf dessen Bruch die Unterhaltspflicht wie eine Konventionalstrafe steht.«
(Karl Jaspers, die geistige Situation der Zeit, 1930, S. 54). Und in der Tat betrachten
Juristen die Ehe immer mehr als eine Art Dauerrechtsverhältnis, das aus wichtigen
Gründen kündbar ist. (Ebd., S. 38).Als
hätte die DDR einen späten ideologischen Sieg errungen, predigen die
meisten Politiker heute ganz selbstverständlich die Verstaatlichung der Kinder.
Denn die Kinderkrippen, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen sind nicht
als Hilfestellungen für notleidende Eltern, sondern als neue familienpolitische
Norm konzipiert. Die Schule wird zum Kinderbetreuungszentrum, in dem die Kinder
nicht primär lernen sollen, sondern »intergriert« werden. . .... »Statt die öffentliche Erziehung als Erweiterung der häuslichen
aufzufassen, wird sie zur wesentlichen, und das Endziel ist sichtbar, die Kinder
den Eltern fortzunehmen, um sie zu Kindern allein des Ganzen zu machen.«
(Karl Jaspers, die geistige Situation der Zeit, 1930, S. 53). (Ebd., S.
39).Kinderkrippen, Horte Ganztagsschulen und
Tagesmütter bieten uweifellos verläßliche Betreuung. Aber man
kann von solchen Einrichtugen natürlich nicht Liebe, Behutsamkeit und Zärtlichkeit
erwarten.(Ebd., S. 39).
Die Märkte der Sorge (I)
Daß
die Schule vor allem als Sozialagentur verstanden wird, hat natürlich einen
ernstzunehmenden geschichtlichen Hintergrund - in den USA den Rassismus, in Deutschland
den Nationalsozialismus. Gerade deshalb ist die Hoffnung, die Schule möge
von Sozialzielen zu Lernzielen zurückfinden, nur schwer möglich. Wer
es sich leisten kann, schickt seine Kidner in private oder doch wenigstens in
konfessionsgebundene Schulen. Und dort findet man immer häufiger die genaue
Reaktionsbildung auf die Selektionsangst der Gesamtschulen, nämlich eine
Art säkularisierter Prädestinationslehre, die die Schüler ständig
daruafhin prüft, ob sie (nicht Zeichen des Heils, sondern) Zeichen des Talents
zeigen, das man um keinen Preis verschwenden darf. (Ebd., S. 39).Gesamtschulen
wollen ja Differenzierung ohne Selektion - das geht aber nicht. Und weil man der
Selektion scheut, ruft man nach »Beratung«. Die Schule der zukunft
ist einerseits Schmelztiegel für Immigration, andererseits Dinstleister für
eine Art Outsourcing des Familiären. Die Sorge um die Kinder und die Aufmerksamkeit
für die Aufmerksamkeit für die Kinder kann man dort gleichsam mieten.
(Ebd., S. 39-40).Auch über Kinderkrippen liegt ein »positives«
Tabu. .... Man darf nicht fragen, wie groß das Risiko einer langen Abwesenheit
der Mutter ist. man darf nicht fragen, ob ein professionelles Als-ob der Liebe
zum Kindausreicht. Hinter diesem tabu stehen massive wirtschaftliche Interessen.
Fürsorge ist zur Ware geworden - bei den Ältesten genau so wie bei den
Jüngsten. (Ebd., S. 40).Längst prosperieren nicht
nur in den USA die markets of care, die Märkte der Fürsorge.
Und wie man die Alten in Altersheime, die natürlich nicht mehr Altersheime
heißen dürfen, abschiebt, so die Kinder in die Kindertagesstätten.
Das zeigt deutlich, daß Kindererziehung heute einen ähnlichen Status
wie sogenannte niedrige Hausarbeiten hat -man überläßt sie am
liebsten jemand anderem. Dieser Sachverhalt wird im allgemeinen durch das Lob
dessen verdeckt, der die Arbeit der Sorge tut, die man selbst auf keinen Fall
leisten möchte. So enthusiastisch wie früher Männer ihre Ehefrauen
als wunderbare Mütter gelobt haben, so loben heute berufstätige Mütter
ihre Babysitter und Tagesmütter über den grünen Klee. Mit dem Lob
stellt man sicher, daß die Sorge um das Kind nicht auf einen selbst zurückfällt;
denn alles läuft ja bestens. (Ebd., S. 40).Eine Mutter,
die erwerbsmäßig arbeitet, muß natürlich die Meinung vertreten,
daß Kinder nicht durch die eigenen Eltern erzogen, betreut und geliebt werden
müssen. Die »kinderpsychologische« (= falsche)
Grundthese lautet dann: Es gibt einen funktionalen Ersatz für die Eltern.
Daß es eine große Nachfrage nach dieser Art von »wissenschaftlicher«
Beruhigung gibt, leuchtet unmittelbar ein. Denn eine Mutter, die ganztägig
berufstätig ist, kann schlecht die Meinung vertreten, damit ihren Kindern
zu schaden. Dagegen werden sich Eltern, die ihrer natürlichen Neigung folgen,
die eigenen Kinder mehr zu lieben als alles sonst, das sehr bestimmte Gefühl
nicht ausreden lassen, daß keine Serviceleistung der Sorge die emotionalen
Ressourcen bereitstellen kann, die ein Kind zu seiner Reifung braucht. In diesem
Gefühl können sie sich auf die Erkenntnisse von Anthropologen wie Lionel
Tiger stützen, der die soziale Kompetenz reifer Erwachsener für das
Produkt einer langen, behüteten, tief emotional gebundenen Kindheit hält.
(Ebd., S. 40-41).Die Frage lautet also zunächst einmal, ob
man heute überhaupt noch die Frage stellen darf, ob es gut für die Kinder
ist, wenn der Staat ihre Mütter ermuntert, erwerbstätig zu werden. jedenfalls
kann man die Debatten, die von einigen Psychologen mit der These, Kinder würden
durch die lange Abwesenheit ihrer Mutter beschädigt, angestoßen wurden,
nur »wütend« nennen. Um dieser Kontroverse mehr Struktur zu verleihen,
wäre es sinnvoll, mit Robert Reich zwischen custodial care und attentive
care zu unterscheiden. Es geht hier um den Unterschied zwischen Aufsicht und
Aufmerksamkeit. (Ebd., S. 41).Kinderkrippen, Horte, Ganztagsschulen
und Tagesmütter bieten zweifellos verläßliche Betreuung. Aber
man kann von solchen Einrichtungen natürlich nicht Liebe, Behutsamkeit und
Zärtlichkeit erwarten. Den wohlfahrtsstaatlichen Arrangements fehlt die Gefühlsbasis;
die Kinder werden hier im wesentlichen wegorganisiert. Man wird deshalb in Zukunft
immer häufiger bei Kindern auf ein doppeltes Aufmerksamkeitsdefizit stoßen.
Es fehlt ihnen an Aufmerksamkeit - das heißt dann einmal, daß sie
nicht genug Aufmerksamkeit z. B. für schulische Aufgaben aufbringen können;
zum andern heißt es, daß sie an einem Mangel an persönlicher
Zuwendung leiden. Es liegt nahe, zwischen beiden Formen des Aufmerksamkeitsdefizits
einen Zusammenhang zu vermuten. (Ebd., S. 41).Natürlich
müssen arbeitende Mütter schon aus Gründen der Selbstachtung derartige
Zusammenhänge leugnen. Hierbei bedienen sie sich einer eleganten Rationalisierungsstrategie.
Wer sein Kind einen großen Teil des Tages in Betreuungseinrichtungen wegorganisiert,
kann sagen, daß es »Unabhängigkeit« und den Kontakt mit
Kindern im gleichen Alter braucht. Man kann rhetorisch sogar noch einen Schritt
weiter gehen und das Desinteresse am kleinen Kind dadurch rationalisieren, daß
man seine große »Unabhängigkeit« lobt. Mit anderen Worten:
Die arbeitende Frau, die nicht mehr Übermutter sein kann oder will, erfindet
zur Selbstentlastung das Überkind. Und die »Polical Correctness«
(**|**|**|**|**|**|**|**|**)
springt ihr sogleich mit einer wunderbaren Sprachschöpfung bei. So gibt es
in den USA keine »Schlüsselkinder« mehr, sondern »Children
in Self-Care«, sich um sich selbst sorgende Kinder. »Was Kinder brauchen«
ist immer mehr das Bild von dem, was Kinder brauchen, das die Eltern brauchen,
um ihren Lebensstil zu rechtfertigen. (Ebd., S. 40-42).
Die Weltfamilie
Pazifismus, Feminismus,
Weltmoral und die Religion der Solidarität sind nur verschieden Formen desselben
Prozesses. Das Familiäre emanzipiert sich von der Familie. Deutschland ist
hier deshalb führend, weil das spezifisch deutsche Tabu über die Nation
zu einem Kurzschluß zwischen Familiären und »Menschheit«
führt. Man könnte von einer Feminisierung der Öffentlichkeit sprechen.
(Ebd., S. 42-43).Die Dynamik der menschenfreundlichen sozialen
Bewegungen erklärt sich daraus, daß sich der Mutterinstinkt von der
konkreten Familie amnazipiert hat und sich nun großräumig organisiert.
Vor allem Intellektuelle genießen das Rousseau-Syndrom: Man sorgt sich um
die Erziehung und das Wohlergehen der Kinder im allgemeinen und ignoriert die
konkrten eigenen. Charles Dickens hat dieser teleskopischen Menschenfreundlichkeit
mit Mrs. Jellyby ein literarisches Denkmal gesetzt. Und daß dieser Typus
heute lebendiger denn je ist, macht Caroline Links sehr gelungene Verfilmung von
Erich Kästners Pünktchen und Anton (**).
Pünktchens Mutter sorgt sich um die notleideidenden Kinder in der Ferne und
vernachlässigt das eigene. In solcher Fernethik genießen die Erben
Rousseaus heute ihr gutes universalistisches Gewissen. (Ebd., S. 43).Die
Welt der Familie - obwohl diese Ideologie heute weltweit zu faszinieren scheint,
läßt sich doch in Deutschland besonders gut beobachten. Die Familie
war ja die einzige intakte Institution nach dem 2. Weltkrieg. Hinzu kommt das
spezifisch deutsche Nachkriegs-Tabu über die nation. Das führt wie gesagt
zu einem Kurzschluß zwischen Familiärem und Menschheit. (Ebd.,
S. 43-44).Der Klan war die präfamiliare Familie; die Menschheit
soll nun die postfamiliare Familie sein. .... Die Familien sind ... segmentär.
Deshalb verlieren sie in unserer funktional differenzierenden Moderne an Orientierungs-
und Bindungskreft. Nicht aber »das Familiare«. Und eben das ist der
Grund für den heutigen Menschheitskult: Das Familiäre emanzipiert sich
von der Familie. Damit ist die Kulturbühne frei für die Pathosformeln
des Pazifismus, die Rhetorik der Weltmoral, die Gesten der Solidarität und
die Feminisierung der Öffentlichkeit. (Ebd., S. 44).
Lebensabschnittspartner
Seit
den 1960er Jahren kann man hören: Emanzipierte Frauen wollen weder Hausfrau
noch »Sexualobjekt« sein. Aber was sonst? (Ebd., S. 44).Die
Antwort auf diese Frage fällt meist tautologisch aus: Emanzipierte Faruen
wollen emanzipiert sein. Doch diese Tautologie ist gesellschaftlich höchst
folgenreich. Emanzipierte Sexualität widerspricht nämlich der dauerhaften
Paarbindung, Und daß Kinder genau daran leiden, ist eines der größten
Tabus unserer Zeit. Mit größerem Nachdruck besteht die »Polical
Correctness« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
darauf, daß die Familienstrukturen keinen wesentlichen Einfluß auf
das Wohlergehen der Kinder haben. Doch diese These verträgt sich schlecht
mit immer wieder bestätigten Befunden der empirischen Sozialforschung, die
auf eine starke Korrelation zwischen alleinerziehenden Müttern, Armut, schlechter
Schulausbildung und Drogenabhängigkeit hinweisen. Und so bemerkt Francis
Fukuyama mit feiner Ironie, auch die raffinierteste Statistik wird es schwer haben,
die Kausalitätsketten zu zerreißen, die diese Phänomene miteinender
verknüpfen. (Vgl. Francis Fukuyama, The Great Disruption, 2000, S.
116). (Ebd., S. 44-45).Wir leben länger und lieben kürzer.
(Ebd., S. 45).Und wer die Optionen Kinder oder Karriere abwägt,
lernt rasch: Kinder machen mich auf dem heiratsmarkt weniger begehrenswert; karriere
macht mich begehrenswerter. Je weniger Kinder man hat, um so leichter läßt
sich die Ehe auflösen, und um so einfacher ist es für die Geschiedenen,
neue Partner zu finden. Schon ein zweites Kind reduziert die Chance für eine
zweite Ehe dramatisch. Deshalb orientiert sich der karrierebewußte Lebensabschnittspartner
eher am Modell des puritanischen »Lebensgefährten« als an dem
der roamntsichen Liebe. (Ebd., S. 45).Der Schwur der ewigen
Liebe war und ist eine kontrafaktische, aber notwendige Behauptung. (Ebd.,
S. 46).Kulturkritiker meinen, daß wir aus Mangel
an Liebe konsumieren. Umgekehrt wieder aber auch das Liebesleben selbst als eine
Form des Konsums erkennbar - dei sexuelle Wahl ist eine Form der Marktwahl. Mit
anderen Worten: die sexuelle Orientierung wird heute betrachtet wie die freie
wahl des Konsumenten. Nach wie vor ist die romantische Liebe eine Option.
Aber da sie zeitraubend ist und deshalb leicht unökonomisch wird, muß
sie marktförmig kontrolliert werden. Deshalb hat der implizite Heiratsmarkt
eine größere Bedeutung denn je. Und dort präsentieren sich nicht
nur die Unverheirateten, sondern auch die Verheirateten gleichsam als permanent
verfügbar. Denn die moderne Ehe hindert die Partner nicht daran, sich ständig
mit Lebensalternativen zu beschäftigen. Die Eheleute bleiben ständig
offen für befriedigendere Bindungen und signalisieren das dem jeweils anderen
als Freiheit zur Scheidung. (Ebd., S. 46).
Lernen von Pipi Langstrumpf
So
transformiert sich die Ehe vom Sakrament über die Wahlverwandtschaft zum
vertraglich geschützten Arrangement von Lebensabschnittspartnern. (Ebd.,
S. 47).Jede Emanzipation hat bekanntlich
ihren Preis. Den Preis für die Emanzipation der Frauen zahlen die Kinder.
(Ebd., S. 47).Daß Kinder ohne Eltern auskommen müssen,
ist eine Grundfigur der Kinderliteratur; das weiß jeder, der Tom Sawyer,
Pipi Langstrumpf oder Harry Potter kennengelernt hat. Aber nur im Roman ist das
so abenteuerlich. (Ebd., S. 48).
Die Welt der starken Bindungen
Die
Familie ist die Welt der starken Bindungen. So formuliert noch Hegel ganz selbstverständlich:
»die Familie ist nur eine Person« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1817, § 523);
das entpricht exakt der ehegüterrechtlichen Vergemeisnchaftung: quasi
und persona. Dabei integriert das Familienleben zweierlei Liebe: die Liebe
der Ehegatten und die Liebe der Eltern zu den Kindern. Die Familie leistet also
die künstliche Einheit der natürlichen Unterschiede zwischen Mann und
Frau, Jung und Alt. (Ebd., S. 49).Die Stärke dieser
Bindungen läßt sich nach J. H. S. Bossards Gesetz der Familieninteraktion
sogar mathematisch angeben, nämlich mit der Formel x = (y² - y) : 2,
wobei x für die Interaktionsdichte und y für die Personenzahl steht.
Konkret ist die Familieninteraktion in einem Verknüpfungsfeld situiert, das
sich ergibt, wenn man Männer, Frauen und Kinder kombiniert. Die Verknüpfungen
zwischen Männern dienen klassisch der Produktion, die zwischen Männern
und Frauen der Reproduktion. Die Verknüpfung von Frauen und Kindern leistet
die Sozialisation - während Männer sich auf Kinder sei's autoritär,
sei's spielerisch beziehen. Aus der Verknüpfung von Frauen mit Frauen entsteht
die außerordentlich bedeutsame Welt des Gossip, also Klatsch und Tratsch
.... Und schließlich verbünden sich Kinder mit Kindern zur Peer-Group.
(Ebd., S. 49).Die Familie ist das System, das die gesellschaftliche
Funktion hat, die personelle Umwelt der übrigen Sozialsysteme und damit das
Humanvermögen zu reproduzieren und die Solidarität zwischen den Generationen
zu sichern., Familie macht menschlich. Ähnlich wie Kirche und Bildungsinstitutionen
fördert sie die Moral durch Wirklichkeitsentlastung. Der Soziologe René
König hat deshalb von der »zweiten Geburt« (René König,
Die Familie der Gegenwart, 1974, S.59) des Menschen in der Familie gesprochen;
nur hier bildet sich die Persönlichkeit. Wohlgemerkt, es geht hier nicht
um die Dialektik von Individuen und Gesellschaft, sondern um die Geburt der Persönlichkeit
aus dem Geist der Familie. (Ebd., S. 49-50).Familien bilden
die Welt der akzeptalen Ungleichheit (**):
es werden asymmetrische Opfer gebracht. (Ebd., S. 50-51).Ohne
Rückgriff auf biologische Gründe ist kaum zu verstehen, warum Eltern
in der Regel so geduldig und großzügig sind; warum sie geben, ohne
zu bekommen; warum sie die maßlosen Ansprüche ihrer Kinder ertragen.
Und vor allem: warum Eltern die Opfer, die sie für ihre Kinder bringen, für
niemand anderen würden. (Ebd., S. 51).Die Familie
hat ihre moderne Gestalt durch Schrumpfungsprozesse gewonnen; d.h., sie hat Modernisierung
als Funktionsverlust erfahren. Seit jeder Einzelne in der modernen Gesellschaft
Gegenstand permanenter öffentlicher Sorge geworden ist, dringt der Staat
immer tiefer in die Privatsphäre vor. (Ebd., S. 52).Was
auch die Verächter der familialen Lebensform neidvoll anerkennen müssen,
ist die Tatsache, daß Familien verläßlich Gefühle produzieren.
(Ebd., S. 53).Eltern sind die modernen Helden. (Ebd.,
S. 54).
Die Stärke schwacher Bindungen
Die
Familie als Ort der Konvergenz aller Rollen - das ist auch unter modernen Lebensbedingungen
noch möglich, ja vielleicht sogar nötig. (Ebd., S. 54).Man
kann die Stärke einer Bindung an Zeitaufwand, emotionaler Intensität
und Wechselseitigkeit ablesen. (Ebd., S. 54).Deshalb schließen
sich Intimität und Effizienz aus. (Ebd., S. 55).Die
Bindung der Eltern an die Kinder lockert sich, wenn die Eltern von ihren Kindern
keine Unterstützung im Alter mehr erwarten. (Ebd., S. 55).Der
Klan war, nach Ferdinand Tönnies genauem Wort, »die Familie vor der
Familie« (Ferdinand Tönnies, Gemeinschft und Gesellschaft, 1887,
S. 31), die Menschheit wäre die Familie nach der Familie. Früher war
jeder ein Knoten in einem Netz, dessen Verknüpfungen durch Elternschaft,
Generation und Geschlecht definiert waren. Heute dagegen übergreifen die
Familien nur noch selten den Generationenzusammenhang. .... Damit verändert
sich unser Verhältnis zur Verwandtschaft radikal. Für viele ist sie
nur noch ein Störgeräusch, das nur deshalb nicht allzu ärgerlich
wird, weil die Verwandten knapp werden. In Zukunft haben nämlich die Bürger
der westlichen Welt immer weniger kollaterale Verwandte (Brüder, Onkel u.s.w.).
(Ebd., S. 55-56).Statt der Blutsverwandtschaft die Wahlverwandtschaft.
(Ebd., S. 56).
Die Märkte der Sorge (II)
Wir
können analog zur Emanzipation des Familiären von der Familie eine Emanzipation
des Kindlichen von den Kindern beobachten. (Ebd., S. 57).Moderne
Menschen verhalten sich zu ihren Haustieren, als ob sie ihre Babys wären,
und es bricht ihnen das Herz, wenn den Kleinen etwas Schlimmes widerfährt.
... Solche Pseudo-Eltern verhalten sich nicht anders als kleine Kinder, die ihre
Kuscheltiere mit sich schleppen. (Ebd., S. 57).Cura, Sorge,
Care - diese Dienstleistungswelt wird in Zukunft immer wichtiger werden. Sie verspricht
den Menschen, sie aus einer spezifisch modernen Falle zu befreien. Denn einerseits
sehnen sich die Menschen nach der Sorge, andererseits entwerten sie fortschreitend
genau die Arbeit, die solche Sorge in der Familie ganz selbstverständlich
geboten hat, nämlich die Arbeit der Arbeit der Mutter, Hausfrau und »treusorgenden
Gattin«. .... Diese Märkte der Sorge kann man sich als eine Ellipse
vorstellen, die um zwei Brennpunkte konstruiert ist. (Ebd., S. 58).Die
Märkte der Sorge kann man sich als eine Ellipse vorstellen, die um zwei Brennpunkte
konstruiert ist. Zum einen natürlich Care als wirtschaftliche Form der Agape.
Da geht es darum, leibevoll zu Leuten zu sein, die man nicht liebt. Zum zweiten
aber geht es um den Wunsch, sich um jemenden zu sorgen - seien es nun Haustiere,
Tamagotchi oder die Natur. In der Welt von Wohlstand und Fürsorge wächst
der Wunsch, sich um jemanden oder etwas zu sorgen. Traditionell sorgte man sich
um die Kinder und die Alten; das grün gefärbte Bewußtsein sorgt
sich um »die Natur«; das schlechte soziale Gewissen sorgt sich um
»die Armen« der Welt; die Unpolitischen, denen Kinder oder Senioren
zu anstrengend und soziale oder Umweltprobleme zu komplex sind, sorgen sich um
Haustiere; die »Fit-for-Fun«-Generation sorgt sich um den eigenen
Körper; einsame Kinder sorgen sich um ihr Tamagotchi. (Ebd., S. 58).So
wächst der Markt für Symbole der Sorge. Und dieser Wunsch, sich zu sorgen,
gründet in dem Wunsch, gebraucht zu werden. Hier passen zwei fundamentale
Wünsche wie konkav und konvex zusammen: Was mir fehlt, ist, daß ich
jemandem fehle. Und: Was mir fehlt, ist persönliche Aufmerksamkeit. Bisher
durfte man die Erfüllung dieser Wünsche von der Familie erwarten. Denn
nur in der bürgerlichen Familie darf ich erwarten, daß sich die anderen
für alles interessieren, was mich betrifft. Nur hier werde ich als ganze
Person integriert. Doch immer mehr Menschen suchen diese Wunscherfüllung
heute auf den Märkten der Sorge. man weint sich nicht mehr bei der Mutter
aus, sondern beim Psychotherapeuten. (Ebd., S. 58).Wir können
in der modernen Gesellschaft eine Art Outsourcing des Familiären beobachten.
Was Outsourcing der familienfunktionen bedeutet, kann man sich an einem einfachen
beispiel klarmachen. Wir feiern Geburtstag. Mutter kaufte früher die Zutaten,
also die »sieben Sachen«, die man braucht, um einen Kuchen zu backen,
und amchte den Geburtstagskuchen selbst. Jahre später kaufte Mutter dann
den fertigen Kuchen, den wir im Wohnzimmer essen durften, während Vater die
Geburtstagsfotos schoß. Heute hat der Vater eine Party im Restaurant bestellt,
das auf Kindergeburtstage spezialisiert ist; dort wartet nicht nur der Kuchen,
sondern auch ein Clown - Geburtstagsfotos inklusive. (Ebd., S. 58-59).
Humanvermögen
Kinder machen zukunftsfähig.
In diesem Bewußtsein könnten sich klassische Familien im kalten Krieg
gegen den Zeitgeist positionieren und sagen: Wer keine Kinder hat, hat auch kein
existentielles Interesse an der Zukunft. Joseph A. Schumpeter hat das am Untergang
des klassischen Unternehmers verdeutlicht. Der Kapitalist der bürgerlichen
Gesellschaft wurde von der Behauptung seines großen Hauses und seiner Familie
angetrieben, d.h., er arbeitete und sparte für seine Frau und seine Kinder.
Dieses zentrale Familienmotiv ist für den neuen, individualistischen
und kinderlosen homo oeconomicus nicht mehr nachvollziehbar. Damit geht
er aber »der einzigen Art von Romantik und Heroismus verlustig, der in dieser
unromantischen und unheroischen Zivilisation des Kapitalismus noch übriggeblieben
ist - des Heroismus von navigare necesse est, vivere non necesse est. Und
er geht auch der kapitalistischen Ethik verlustig, welche für die Zukunft
Zu arbeiten einschärft, unabhängig davon, ob man die Ernte selbst einbringen
wird oder nicht.« (Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und
Demokratie, 1942, S. 259). (Ebd., S. 59).Die
tiefste kulturelle Kluft dieser Zukunft könnte zwischen klassischen Familien
und kinderlosen Lebensstilen aufbrechen. Man spürt schon heute, daß
diese Gruppen sich außer Frechheiten und Beleidigungen nichts zu sagen haben.
Hier steht der Zeitgeist der Selbstverwirklichung gegen den Anachronismus einer
segmentären Ordnung. Gerade die Stärke der Familie ist nämlich
auch ihre Schwäche: die modernitätsuntypische Multifunktionalität.
Das macht sie als gesellschaftliches Orientierungsschema ungeeignet - die Welt
ist zu groß, die Familie zu klein. (Ebd., S. 59-60).In
Joseph A. Schumpeters Hauptwerk über Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie
von 1942 findet sich ein Kapitel »Zersetzung«, das für unser
Thema nach wie vor von allergrößter Aktualität ist. Die bürgerliche
Familie löst sich auf, »sobald Männer und Frauen die utilitaristische
Lektion gelernt haben«, d.h. alle Handlungen und Lebensverhältnisse
nach ihrem Nutzen für die persönliche Glücksmaximierung bewerten.
»Sobald sie in ihrem Privatleben eine Art unausgesprochener Kostenrechnung
einführen, müssen ihnen unvermeidlich die schweren persönlichen
Opfer, welche Familienbindungen und namentlich Elternschaft unter modernen Bedingungen
mit sich bringen, ebenso wie die Tatsache bewußt werden, daß gleichzeitig
... die Kinder nicht mehr ein wirtschaftliches Aktivum sind.« (Joseph A.
Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1942, S. 254).
(Ebd., S. 60).Eltern opfern Geld, Bequemlichkeit und eine Fülle
von Genußmöglichkeiten - Opfer, die im Licht der »rationalen
Scheinwerfer« moderner Individualität überdeutlich sichtbar werden,
während der »Beitrag, den die Elternschaft an die physische und moralische
Gesundheit - an die Normalität, wie wir es auch ausdrücken könnten
- leistet«, in seiner Alltäglichkeit unterbelichtet bleibt. (Vgl. Joseph
A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1942, S. 254f.).
So zeigt die neuere Streß-Forschung, daß die schmerzliche Erfahrung
der Scheidung oder Trennung die Todesrate der Herzkrankheiten extrem ansteigen
läßt; diese Menschen sterben buchstäblich an gebrochenem Herzen.
Und umgekehrt ist die Ehe als biologische Kooperative, in der man mit seinen Problemen
auf Sympathie rechnen kahn, eine unverächtliche Quelle auch geistiger Gesundheit.
(Ebd., S. 60).Wir stehen heute am Ende des von Schumpeter
beschriebenen Zersetzungsprozesses und müssen nüchtern konstatieren:
Kinder passen einfach nicht in die Welt der modernen Wirtschaft. Und deshalb ist
die Gründung einer Familie das moderne Abenteuer schlechthin - die riskanteste
Entscheidung unter Bedingungen der Ungewißheit. Noch nie war die Frage »Wozu
Kinder?« so schwer zu beantworten wie heute. Kinder aufzuziehen
ist ökonomisch irrational, weil nur die Kosten für den Unterhalt der
Nicht-mehr-Erwerbstätigen kollektiviert werden, während die Kosten für
den Unterhalt der Nochnicht-Erwerbstätigen privatisiert werden. (Das
muß endlich geändert werden und ist übrigens auch ein Verstoß
gegen unsere Verfassung! HB). Im ökonomischen Gesamtkalkül
des Lebens sind Kinder die größten Fixkosten. Viele Kinder zu haben
ist deshalb ein Zeichen von Armut und Reichtum! Mit anderen Worten, Kinder sind
der moderne Luxus, den sich immer weniger glauben leisten zu können.
(Ebd., S. 60-61).Junge Frauen sehen sich heute vor der Alternative:
Reproduktion, also Kinder, oder Produktion, also Karriere. Und junge Paare sehen
sich ganz ähnlich vor der Alternative: Konsum oder Kinder? Diese zweite Alternativität
läßt sich allerdings durch einen eleganten Gedankengang der Ökonomen
auflösen. Kinder kann man nämlich als dauerhafte Konsumgüter betrachten,
die psychische Befriedigung verschaffen. Mit anderen Worten, Kinder sind eine
Zeitinvestition, mit der man auf eine gesteigerte Produktion von Lebensfreude
spekuliert. Dieses spröde ökonomische Kalkül kann sich übrigens
auf anthropologische Einsichten in die prähistorische Verknüpfung von
Lust und Familienleben stützen. (Ebd., S. 61).Das Bundesfamilienministerium
hat 1994 unterstrichen, daß Familientätigkeit und Elternschaft entscheidend
zur Bildung und Erhaltung des Humanvermögens beitragen. Man schätzt
den Beitrag der Familien zur Humanvermögensbildung auf 6 Billionen Euro.
Familien produzieren also nicht nur Familiengüter wie Lebensfreude, sondern
sie leisten auch eine unverzichtbare Familienarbeit für die Gesellschaft.
Doch nur wenige haben den Mut, das so deutlich auszusprechen wie Franz-Xaver Kaufmann:
»Menschen, die Elternverantwortung übernehmen, leisten unentgeltlich
Investitionen in das zukünftige Humankapital oder Humanvermögen, Menschen
ohne Elternverantwortung nicht.« (Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende
Gesellschaft, 2005, S. 195 [**]).
Deshalb müssen Kinderlose verpflichtet werden, durch Ersparnisse für
ihr Alter vorzusorgen. (Ja
! HB). In diesem Sinne hat der Direktor des Ifo-Instituts, Hans-Werner
Sinn, eine allgemeine Rentenkürzung bei gleichzeitiger Honorierung der Erziehungsleistungen
gefordert. (Mit Recht! HB). (Ebd., S.
61).Die Kosten der Erziehung und Ausbildung sind Investitionen
in das Humankapital. Und ein Kind großzuziehen kostet heute ca. 220000 Euro.
Paradoxerweise werden gerade in der Wohlstandsgesellschaft die Kosten der Kinder
prohibitiv hoch. Denn zur Wohlstandsgesellschaft gehört, daß man seinen
Konsum aus Reputationsgründen sichtbar macht. Und ein ganz wesentlicher Teil
des ostentativen Konsums besteht im reputable maintenance eines Kindes.
Deshalb sinkt die Geburtenrate mit steigendem Wohlstand. (Vgl. Demographisch-ökonomisches
Paradoxon). Gerade die Wohlhabenden sehen nämlich in Kindern die Quelle
unbestimmt andauernder Kostenbelastungen. Und es geht dabei nicht nur um die direkten
Kosten (**),
sondern vor allem auch um die Opportunitätskosten (**)
der Kinder: Man verzichtet auf andere Möglichkeiten, z.B. Freizeit, und es
entgehen einem Einkünfte. Die Elternrolle hat also buchstäblich einen
biographischen Preis. ([**][**][**][**]).
(Ebd., S. 62).Das Problem Familie dreht sich um die Frage, ob Kinder
Sache des Privatkonsums sind. Anders gefragt: Muß man die Haushaltsökonomie
nicht endlich wieder in die ökonomische Theorie einbeziehen? (Ja!
HB). Die klassische Ökonomie ignoriert die Haushaltsproduktion.
Das hat schon Friedrich List sehr deutlich gesehen: »Ein Vater, der seine
Ersparnisse opfert, um seinen Kindern eine ausgezeichnete Erziehung zu geben,
opfert Werte; aber er vermehrt beträchtlich die produktiven Kräfte der
nächsten Generation. Dagegen ein Vater, der seine Ersparnisse auf Zinsen
legt unter Vernachlässigung der Erziehung seiner Kinder, vermehrt um ebensoviel
seine Tauschwerte, aber auf Kosten der produktiven Kräfte der Nation.«
(Friedrich List, Das natürliche System der politischen Ökonomie,
1837, S. 193). Und noch deutlicher: »Wer Schweine erzieht, ist ein produktives,
wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft.« (Friedrich
List, Das nationale System der politischen Ökonomie, 1841, S. 231).
(Ebd., S. 62).Wer die Scheuklappen der klassischen Ökonomie
ablegt, kann aber wissen, daß über die Hälfte der Bruttowertschöpfung
in Deutschland unbezahlt erbracht wird - nämlich in Privathaushalten, in
der Welt der »Sorge«. Jeder Haushalt kann als eine kleine Fabrik betrachtet
werden, die im übrigen viel schwerer zu rationalisieren und zu technisieren
ist als ein Großbetrieb. Daß wir das aber nicht sehen wollen, hat
einen einfachen Grund: Was Frauen im Haushalt und für die Familie tun, zählt
nicht als Beitrag zum Reichtum der Nation, weil kein Geld fließt. Und deshalb
beobachten wir in der modernen GeseIlschaft eine fortschreitende Monetarisierung
und Bürokratisierung der Intimität: Ich putze Deine Wohnung, koche Dein
Essen, betreue Deine Kinder - gegen Geld. Du tust das gleiche, und so erhöhen
wir beide das Bruttosozialprodukt. Man zahlt also für Dienste, die früher
zum Familienalltag gehörten. Ob dadurch der Reichtum der Nation wächst,
darf bezweifelt werden; in jedem Fall aber gibt es mehr Steuerzahler. (Und
darüber freut sich der Parteienstaat! HB). (Ebd., S. 62-63).Auf
das ökonomische Schicksal einer Familie können weder der Staat noch
die Unternehmen nennenswerten Einfluß ausüben. Der Soziologe Niklas
Luhmann hat in diesem Zusammenhang die Unbrauchbarkeit der Kapital/Arbeit-Unterscheidung
so begründet: »Ob man verheiratet ist oder nicht und ob mit oder ohne
Kinder, ob die Frau arbeitet oder nicht und ob man gegebenenfalls noch geschiedene
Frauen zu unterhalten hat, ob man in einem ererbten Haus wohnt oder mieten muß
- all das wird viel stärker zum ökonomischen Lebensschicksal als die
tariflich garantierten Löhne oder gegebenenfalls Versicherungs- und Rentenleistungen.«
(Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1988, S. 165). Weder
für die Wirtschaft noch für den Sozialstaat ist Elternschaft ein relevanter
Faktor. Sozialstaatliche Leistungen kann man aufgrund von Erwerbsarbeit beanspruchen
- nicht aber aufgrund von Erziehungsleistungen. (Das muß
endlich geändert werden! Und das nicht zu tun, ist übrigens auch ein
Verstoß gegen unsere Verfassung! HB). (Ebd., S. 63).Erwerbsarbeit
ist der gesellschaftliche Attraktor, der alles andere strukturiert. Deshalb müssen
Mütter ohne Zeitverzug dem Arbeitsmarkt zugeführt werden; und deshalb
wird Ganztagsbetreuung zur gesellschaftspolitischen Norm im Umgang mit Kindern.
»Familienfreundlich« heißt dann diejenige Politik, die Ganztagsbetreuung
und Ganztagsschulen fördert. Daß Ganztagsbetreuung als Allheilmaßnahme
gefordert und gefeiert wird, hat zwei ganz einfache Gründe. Erstens sollen
Frauen ungestört erwerbstätig sein, um der Wirtschaft ihre Arbeitskraft
zuzuführen; und zweitens sollen eben diese Frauen auch Kinder gebären,
damit das Renten- und Gesundheitssystem nicht zusammenbricht. Day Care
ermöglicht es den Eltern, Kinder zu haben, als hätte man sie nicht.
So tanzen Wirtschaftspolitik und Frauenemanzipation
gemeinsam um das goldene Kalb »Ganztagsbetreuung« - und man darf nicht
fragen, wie sich das auf die Kinder auswirkt. (Ebd., S. 63).Frauen,
die statt dessen ihre Kinder lieber selbst erziehen möchten, »verweigern«
sich dem Arbeitsmarkt und sabotieren die Volkswirtschaft, die auf die Leistungskraft
der Frauen »nicht verzichten kann«. Deshalb ist es tabu, nach der
Verträglichkeit von Kinder- und Karrierewunsch zu fragen. Wie dem Puritanismus
ist dem Feminismus die Arbeit heilig. Und nichts trifft die Signatur der Gegenwart
genauer als Paul Lafargues Formel von der »Religion der Arbeit«. In
ihrem Kultzentrum steht heute die unverheiratete, berufstätige Frau. Sie
verkörpert die Identität von Emanzipation und Erwerbsarbeit. Und die
Politik muß heute erkennen, daß diese Identitätsformel durch
erhöhtes Kindergeld allein nicht erschüttert werden kann. (Ebd.,
S. 63-64).
Der Mythos von der Balance
Robert
B. Reich, Arbeitsminister in der ersten Clinton-Administration, hat eine spannende
Geschichte erzählt. Reich liebte seinen Job so sehr, daß er es gar
nicht erwarten konnte, morgens zur Arbeit zu kommen; und nachts verließ
er sein Büro nur zögernd. Auch in der Zeit, die er zu Hause verbrachte,
dachte er nur an seinen Job - und verlor so jede Beziehung zu seiner Familie.
Der Arbeitsminister mußte erfahren, daß es keine work-life-balance,
keine Harmonie zwischen Arbeit und Familie gibt. Je erfolgreicher man in seinem
Job ist, um so länger und härter arbeitet man und um so weniger Zeit
und Energie kann man für persönliche Beziehungen erübrigen. Deshalb
hat Robert Reich, der Arbeitsminister, seine Arbeit niedergelegt - ein Bild von
wunderbarer Symbolkraft. (Ebd., S. 64).Je
besser ein Job in der modernen Wirtschaft ist, um so deutlicher zeigt sich sein
Alles-oder-nichts-Charakter. Entweder man läßt sich von seinem Job
konsumieren, oder man arbeitet nur in der zweiten Reihe und verdient erheblich
weniger. Je wichtiger die Arbeit, desto weniger kann sie Teilzeitarbeit sein.
Deshalb kann man gerade bei den Erfolgreichen keinerlei Neigung zu langem Urlaub,
Arbeitszeitverkürzung oder Familienauszeit erkennen. Peter M. Senge hat in
diesem Zusammenhang auf einen sich selbst verstärkenden Rückkopplungskreislauf
hingewiesen: Je mehr Zeit man in die Arbeit investiert, um so größer
ist der Erfolg; je größer der Erfolg, um so mehr Möglichkeiten
eröffnen sich, die wiederum den Wunsch wecken, mehr zeit für die Arbeit
zu haben. (Ebd., S. 64-65).Daß man noch einen Berg
Akten durchzuarbeiten hat, ist eine bequeme Entschuldigung, wenn man es vermeiden
möchte, zu Hause auf einen unglücklichen Ehepartner und nervige Kinder
zu stoßen. .... Wir haben es hier also mit einer Umklehrung des traditionellen
Verhältnisses von Familienleben und Arbeitswelt zu tun. .... Es ist viel
leichter, ein erfolgreicher Geschäftsmann zu sein als ein guter Ehemann und
Vater. Wer sich das Heldentum des Famileinlebens nicht zutraut, flieht in die
Arbeit. (Ebd., S. 65).So steht das Verhältnis von Arbeit
und Familie heute auf dem Kopf: Im Büro fühlt man sich zu Hause, und
zu Hause wartet die »entfremdete« Arbeit. Die Arbeit wird gesellig,
das Familienleben wird taylorisert. Da es nun in einem von Zeitknappheit geprägten
Familienleben immer entschiedener um effizientes Management geht, könnte
man von einer Maskulinisierung des Zuhause sprechen, während wir gleichzeitig
eine fortschreitende Feminiserung des Arbeitsplatzes beobachten können ....
(Ebd., S. 65-66).
Produktiv und unfruchtbar
Früher
hat man Frauen verspottet, die keinen Mann hatten. Heute verspottet man Frauen,
die keinen Beruf haben. .... Früher war es Frauen peinlich, keinen Mann zu
haben, heute ist es ihnen peinlich, keinen Job zu haben. Früher wurden Mütter
anerkannt und alte Jungfern belächelt, heute werden erwerbstätige Frauen
anerkannt und Hausfrauen belächelt. (Ebd., S. 66).Frauen
arbeiten heute nicht mehr für die Liebe, sondern für Geld. Ihre Würde
suchen sie nicht mehr in der Verantwortung für die Familie, sondern in der
Erwerbsarbeit. Auch ihnen gilt nun die Arbeitslosigkeit im Produktionssektor als
das größte Übel. Ihre Arbeistlosigkeit im Reproduktionssektor
dagegen gilt als normal. (Ebd., S. 66-67).Simone de Beauvoir
meinte, Frauen sollten keine Kinder haben, wenn sie dadurch von Erwerbsarbeit
abgehalten werden. .... Wie Hegels Weltgeschichtsphilosophie dem arbeitenden Sklaven
die Verwandlung der Welt in ein menschliches Zuhause zugeschrieben hat, so schreibt
die sozialdemokratische »Political Correctness« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
der arbeitenden Frau die Verwandlung der modernen Gesellschaft in ein menschliches
Zuhause zu. (Ebd., S. 67).Je
erfolgreicher die Wirtschaft und je gebildeter die Frauen, desto unfruchtbarer
ist eine Nation. Frauen verdienen mehr und gebären weniger. (Ebd.,
S. 67).Die Emanzipation vollzieht sich als Entwertung der Mutterschaft
und der Männlichkeit. (Ebd., S. 67).Karrierefrauen tendieren
... zur genetischen Impotenz. (Ebd., S. 67).Die
Faustregel lautet: je produktiver, desto weniger reproduktiv. (Ebd., S.
67).Das gilt natürlich nicht nur individuell, sondern auch
gesellschaftlich. (Ebd., S. 67).Industriegesellschaften sind
sehr produktiv, aber nur schwach reproduktiv. (Ebd., S. 67).So
erleben wir im Westen seit Jahrzehnten eine reproduktive Depression. Und der Grund
dafür sit denkbar einfach. (Ebd., S. 67).Produktion
ist profitabel, Reproduktion ist kostspielig. (Ebd., S. 67).Die
Welt der Reproduktion hat es mit Menschen und Verpflichtungen zu tun; die Welt
der Produktion hat es mit Dingen und Dienstleistungen zu tun. (Ebd., S.
67).Heute macht sich niemand mehr Sorgen über eine Explosion
der Weltbevölkerung. Die demographische Entwicklung nähert sich vielmehr
einem weltweiten Gleichgewichtszustand, hinter dem sich aber eine gefährliche
Dynamik der Abweichungsverstärkung verbirgt. (Ebd., S. 67).Die
unproduktiven Länder haben viele Kinder, die produktiven Länder haben
zu wenige. (Ebd., S. 67).Produktivität und Reproduktivität
entwickeln sich offenbar umgekehrt proportional: je produktiver, desto unfruchtbarer;
je unproduktiver, desto fruchtbarer. (Ebd., S. 67-68).Und
in den westlichen Wohlstandsgebieten gewinnt man den Eindruck, daß die Welt
der Arbeit, in der es um den Reichtum der Nationen und die Anerkennung der Erwerbstätigen
geht, die Welt des Sex, in der es um die Reproduktion der Gattung und die Lust
des Lebens geht, in die Irrelevanz abdrängt. (Ebd., S. 68).Je
produktiver eine Nation ... ist, um so teurer wird die Zeit, die man den eigenen
Kindern zuwendet. (Ebd., S. 68).
Elterliche Sorge ist
kostspielig. Und nur Elternliebe kann es letztendlich verhindern, daß
die Kosten-Nutzen-Kalkulationen zu ihrem logischen Ende geführt werden.
Liebe ist unökonomisch - man braucht viel Zeit. Das gilt für
die unendliche Geduld, die man mit Kindern gegenüber aufbringen muß,
genauso wie für die Erkundung der Welt des geliebten Ehepartners.
Desmond Morris hatte den fabelhaften Mut, zu sagen, daß die Definition
der Ehe als Partnerschaft eigentlich eine Beleidigung der Ehe und ein
Mißverständnis der Liebe sei. Das Handeln und Verhandeln, das
Geben und Nehmen, das für Partnerschaften so charakteristisch ist,
spielt für die Liebe keine Rolle. (Ebd., S. 68).
Vom Umgang mit Kinderlosen
Zukunftsverweigerung
ist ein schwierig zu beschreibender Sachverhalt. Wer Deutschland als Avantgarde
der Unfruchtbarkeit kenntlich machen will, muß schon ein paar Zahlen bemühen.
Gerontokratie und Migration sind sichtbar, Kinderlosigkeit ist fast unsichtbar.
Doch die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. 100 Frauen bekommen 67 Töchter,
44 Enkelinnen und 29 Urenkelinnen. Franz-Xaver Kaufmann nennt das »Bevölkerungsimplosion«
(Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft, 2005, S. 52 [**]).
Die Fruchtbarkeitsrate von 1,3 bei deutschen Frauen ist vor allem des hohen Anteils
von Kinderlosen geschuldet. Jede dritte nach 1965 geborene Frau wird wohl kinderlos
bleiben. Die meisten Kinderlosen gibt es bei Akademikerpaaren mit einem monatlichen
Einkommen von über 4000 Euro. Im Jahr 2000 waren in Westdeutschland über
40% der 35-bis-39-Jährigen kinderlos. Und so entpuppt sich Kinderlosigkeit
allmählich als neues Leitbild: die Karrierefrau. (Ebd., S. 70).In
Deutschland gibt es eine zunehmende Polarisierung zwischen klassischen Familien
und alternativen, zumeist kinderlosen Lebensformen. Und hier gilt: je alternativer,
desto kinderloser. Das geht bis zur räumlichen Segregation: Die Alternativen
wohnen in der City, die Familien im Grünen. Und in den kinderlosen Milieus
der Großstädte merkt man bald gar nicht mehr, daß etwas fehlt
- nämlich Kinder. Franz-Xaver Kaufmann bemerkt: »Kinderlose finden
hier also Bestätigung unter ihresgleichen. Sie haben sich den Umgang mit
Kindern buchstäblich abgewöhnt.« (Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende
Gesellschaft, 2005, S. 143 [**]).
Der Anteil der Bevölkerung, der überhaupt keinen Kontakt mit Kindern
mehr hat. wächst ständig. Und was Kinderlose an Kindern wahrnehmen,
sind die Ärgernisse. Das Befriedigende der Elternschaft bleibt für sie
weitgehend unsichtbar. (Ebd., S. 70).Früher durfte man
auf die unsichtbare Hand der Liebe vertrauen: Die einzelnen suchen das Glück
-und reproduzieren dabei die Menschheit. Das funktioniert bekanntlich nicht mehr,
und deshalb fehlen uns heute die Kinder, die morgen den Sozialstaat finanzieren
sollen. Damit werden die Kinder als öffentliches Gut erkennbar. Genauer gesagt:
Wie erkennen heute die Kinderlosigkeit als neue tragedy of the commons
(**),
als Tragödie des öffentlichen Gutes »Kind«. An der Reproduktion,
d.h. an der Produktion von Kindern, haben alle ein Interesse, aber kein Einzelner
hat einen ausreichenden Anreiz, sich an dieser Produktion zu beteiligen. Kinderlose
sind die Freerider, die Trittbrettfahrer in der Tragödie des öffentlichen
Guts »Kinder«. (Ebd., S. 71). Früher
war Kinderlosigkeit ein persönliches Unglück; heute ist sie ein kollektives
Unglück. (Ebd., S. 71).Das
kann aber vernünftigerweise nur eine politische Konsequenz haben: Nicht die
Reichen, sondern die Kinderlosen müssen stärker besteuert werden. Es
ist ein fataler Webfehler unseres sozialen Netzes, daß Kinderlose die gleichen
Versorgungsansprüche erwerben wie Eltern, obwohl sie nichts zur Erziehung
der künftigen Beitragszahler beitragen. Die Politik fördert halbherzig
die Familien, wagt es aber nicht, mehr von den Kinderlosen zu fordern. Joachim
Nawrocki hat ... klar formuliert: »Ehepaare mit Kindern leisten ja erheblich
mehr für die Gesellschaft und die soziale Sicherung der folgenden Generation
als kinderlose Eheleute oder Unverheiratete. Zumindest müßte garantiert
sein, daß kinderreiche Familien ihren sozialen Status halten können.«
(Joachim Nawrocki, Die Angst der Eltern vor dem Säugling, in: Die
Zeit, 12.01.1979, S. 10). (Ebd., S. 71).Für
den Kinderlosen geht mit dem eigenen Tod die Welt unter. Seine Sorge gilt deshalb
auch nur der eigenen Lebensfrist. Mit anderen Worten, die Geschäfte des Kinderlosen
sind auf den Zeithorizont der eigenen Lebenserwartung beschränkt - warum
sollte er noch investieren, warum sparen? Viel näher liegt die Potlatch-Attitüde:
Zum Teufel mit der Zukunft - was zählt ist mein Prestige hier und heute.
Schumpeter hat das »Anti-Spar-Gesinnung« genannt. (Joseph A. Schumpeter,
Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1942, S. 260). Doch wie gesagt:
Man sollte Kinderlose nicht stigmatisieren, sondern besteuern. (Ebd.,
S. 71).Mit dieser Forderung tut man auch denen nicht unrecht, die
ungewollt kinderlos bleiben. Natürlich gibt es neben der Kinderlosigkeit
als neuer tragedy of the commons (**)
auch nach wie vor und mehr denn je das persönliche Unglück der Unfruchtbarkeit.
So berichtet der Spiegel: »Die Zahl ungewollt Kinderloser wird immer größer.
Derzeit haben schon über zehn Prozent aller Paare in Deutschland Probleme,
Kinder in die Welt zu setzen. Das liegt vor allem daran, daß die Gebärwilligen
immer älter werden und damit immer häufiger unfruchtbar sind.«
(Marion Kraske & Udo Ludwig, Die Babygrenze, in: Der Spiegel, 14.11.2005,
S. 118). Auch in diser Frage ist die deutsche Politik immer noch in ihrem nachträglichen
Antifaschismus befangen und umstellt die Fortpflanzungsmedizin mit Tabus, die
jene unglücklichen Paare zu einem entwürdigenden Fruchtbarkeitstourismus
zwingen. Skandalös ist diese Doppelmoral, nicht jene Steuer. (Ebd.,
S. 71-72).
Die Enteignung der Lebenssorge
Die
Familie ist der natürliche Feind der Propaganda des heutigen Zeitgeistes.
Dessen Rhetorik präsentiert sich nicht offen familienfeindlich, sondern operiert
»wortpolitisch«. Natürlich können auch hartgesottene Sozialdemokraten
schlecht öffentlich leugnen, daß dort, wo Kinder sind, Familie sein
sollte. Doch die sozialdemokratische Rhetorik wendet das Deontische ins Apodiktische:
Wo Kinder sind, »ist« Familie. Damit wird der Familienbegriff durchaus
geschickt für eine Politik der totalen staatlichen Fürsorge gerettet
und zugleich der Sprengsatz entschärft, der für die Politik der »sozialen
Gerechtigkeit« (**)
in der bürgerlichen Form der Familie liegt. Denn die Familie erlaubt ja gerade
ein extremes Ungleichgewicht der Leistungen und eine extreme Ungleichheit der
Kompetenzen. (**).
Genau das aber ermöglichte einmal jene konkreten persönlichen Generationenverpflichtungen,
die der Wohlfahrtsstaat heute durch das Phanton der »Solidarität«,
also »ein abstraktes Verhältnis der kollektiven Haftung aller für
alle ersetzen« will. Der Soziologe Helmut Schelsky hat hierin den wichtigsten
Grund für den kalten Krieg zwischen Staat und Familien gesehen: »Daseinsvorsorge
und Daseinsfürsorge sind - schon von der Bibel her - die wesentlichen immanenten
Sinngebeungen des menschlichen Daseins; indem man sie kollektiviert,
d.h. dem Einzelnen und der einzelnen Familie als ihre Uraufgabe wegnimmt zugunsten
von großorganisatorischer Betreuung, entmündigt man den Menschen und
drängt seine Lebenspflichten und -erwartungen in den Konsum des bloß
Gegenwärtigen ab.« (Vgl. Helmut Schlesky, Kritik der austeilenden
Gerechtigkeit, 1981, S. 310f.). (Ebd., S. 72-73).Der
Begriff der Subsidiarität besagt, daß Entscheidungen auf dem unterst
möglichen Niveau getroffen werden sollten - der Staat sollte also keine Verantwortung
übernehmen, wo Familien eigentlich zuständig sind. Doch der Staat neigt
dazu, den Leuten die Entscheidungen zu stehlen. Hildegard Schooß hat sehr
schön gezeigt, wie seit den 1970er Jahren die »Professionalisierung
der Sozialarbeit den zertifizierten Ausbildungsformen und Tätigkeiten einen
absoluten Vorrang vor den im Umgang mit Menschen und in der Familie erworbenen
Kompetenzen einräumte.« (Hildegard Schooß, Mütterzentren
als Antwort auf Überprofessionalisierung im sozialen Bereich, 1977, S.
232). (Ebd., S. 73).Es gibt heute keine allgemein anerkannten
gesellschaftlichen Normen mehr, die die Mutter verpflichten würden, als Dauerpflegeperson
für das eigene Kind zu sorgen; und deshalb hat Mutterschaft kein Prestige
mehr. Erschwerend kommt hinzu, daß der Staat, der den Frauen »Mutterschaftshilfe«
(die natürlich gerade das nicht ist; Anm HB) zukommen lassen möchte,
die Mutterschaft eigentlich als Behinderung (!!! Anm HB)
definieren muß - denn sonst würde die Hilfe andere Frauen und Männer
diskriminieren (??? Anm HB). (Ebd., S. 73).
Vergiftete Brüderlichkeit
Daß
es keinen Frieden zwischen Staat und Familie geben kann, hat der große deutsche
Philosoph Hegel auf die Formel gebracht, der Bürger gehöre nicht zur
Familie. Schon Sophokles hatte ja in seiner Tragödie Antigone die
Geschichte des Widerstreits von Staat und Familie erzählt - eine Geschichte,
die Hegel dann mit einer brillanten Interpretation in seine Genealogie der modernen
Welt eingepaßt hat. Die Antithetik von Staat und Familie zeigt sich unmittelbar
- man möchte sagen: natürlich - am Gegensatz von Weiblichkeit und Männlichkeit.
Männlich ist das Regierungshandeln, weiblich das Familienleben. Männlich
ist das Denken des Allgemeinen, weiblich das Pathos der Individualität. Tragisch
wird das Verhältnis nun dadurch, daß die Familie zugleich Element und
Bedrohung des Staates ist. Die dialektische Lösung, die Hegel an dieser Stelle
bietet, scheint die Politiker bis zum heutigen Tag zu überzeugen: »Die
Zerstörung des Gemeinwesens« läßt sich nur durch die »Störung
der Familienglückseligkeit« verhindern. (Vgl. Georg Wilhelm Friedrich
Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1807, S. 340f.). Doch die Folgelasten
dieses Fortschritts zum Allgemeinen sind erheblich. Denn indem der Staat den Geist
der Familie unterdrückt, reproduziert er »gerade durch die unterdrückende
Haltung« die Weiblichkeit als »seinen innern Feind« (ebd.).
(Ebd., S. 74). **Wie
also schon Antigone zeigt, gibt es keine Versöhnung zwischen öffentlichen
Werten und Familienwerten. Aus der Perspektive des Staates, der Kirche und anderer
Hierarchien ist die Familie die subversive Organisation schlechthin. Es ist weniger
das Sexualleben der Gatten, das der Kirche Sorgen bereitet, als vielmehr die Gefühlswelt
der Elternschaft. Kirche und Staat können es beide nicht dulden, daß
eine andere Macht in den Herzen der Menschen regiert. Der Staat kämpft gegen
die Familie, weil es der selbstverständliche Wunsch der Eltern ist, das akkumulierte
Kapital den eigenen Kindern zu vererben. Das unterläuft aber das Interesse
des Staates an Gleichheit. (**).
Wer Gleichheit, ja Gleichstellung will, muß das Öffentliche über
das Private stellen. Wer die klassenlose Gesellschaft will, muß die Familie
kritisieren. (Ebd., S. 74). **Alle
großen religiösen und politischen Bewegungen kämpfen gegen die
Familie. Gott und der Staat sind eifersüchtig auf die starken Verwandtschaftsgefühle.
So sagt Jesus: »Ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater
und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter.
Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder
Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.« (Matthäus,
10, 35-37). Und doch sollen ja die Kindlein zu ihm kommen. Und doch braucht der
Staat ja die Kinder, an die er die Schulden, die er heute macht, morgen adressieren
kann. Also braucht man Frauen, die Kinder gebären. Doch könnte man das
Kinderkriegen nicht von der Aufzulcht der Kinder trennen? Könnte man nicht
das bearing den Frauen, das caring aber dem Staat überlassen?
Das ist bekanntlich die Idee des Kibbuz, in der sich der Kampf gegen die Kernfamilie
modellhaft zugespitzt hat. Bis zur Geschlechtsreife werden Kinder der gleichen
Altersgruppe gemeinsam von Lehrern und Kinderfrauen erzogen. Diese Idee geht auf
Platon zurück, der als Urvater einer Staatsphilosophie gelten kann, die in
der Familie das Haupthindernis »sozialer Gerechtigkeit« (**)
sieht. Im fünften Buch über den Staat fordert er, »daß diese
Weiber alle allen diesen Männern gemein seien, keine aber irgendeinem eigentümlich
beiwohne und so auch die Kinder gemein, so daß weder ein Vater sein Kind
kenne, noch auch ein Kind seinen Vater.« (Platon, Polieia, V, 457,
cd). Seither hat jede kommunistische Zwangsbeglückung dafür Sorge getragen,
daß die Frauen von Haushalt und Kinderbetreuung befreit werden. Solange
die Menschen noch »meine Eltern« oder »meine Kinder« sagen,
ist das Reich der Freiheit noch nicht erreicht. (Ebd., S. 74-75). **Ferdinand
Mount hat die Frage gestellt, warum die Intellektuellen die Familie so sehr hassen.
In jedem Fall ist deutlich zu sehen, daß Künstler und Intellektuelle
im 20. Jahrhundert die vakant gewordene Stelle der Familienkritik von den Kirchenfürsten
des Christentums und des Kommunismus übernommen haben. .... In der Tat scheinen
sich große Kulturleistungen nicht mit einem glüklichen Familienleben
zu vertragen; die großen Dichter und Denker waren und sind oft Junggesellen
oder Homosexuelle. Uns schon Nietzsche konnte sich einen verheirateten Philosophen
nur noch in einer Komödie vorstellen. (Ebd., S. 75-76).Man
kann aber, und zwar schon seit Platon, die Feinde der Familienwerte sehr leicht
an ihrem Freundschaftskult erkennen. Er hatte stets die Pointe, daß die
jeden Egoismus transzendierende Freundschaft gerade nicht auf die Mitglieder der
eigenen Familie bezogen werden könne. So war auch Christus der wahre Freund,
dem zu folgen gerade bedeutete, die eigene Familie im Stich zu lassen. Erst die
Puritaner hatten den fabelhaften Mut, die christliche Nächstenliebe zu Hause
zu lassen und die Ehe als eine Art Gottesdienst zu glorifizieren. Benjamin Nelson
hat das als entscheidende Weichenstellung für den Erfolg der protestantischen
Ethik in der kapitalistischen Welt erkannt: »Die Puritaner erfaßten
ganz richtig, daß solange Freundschaft und Freundeskreise in höchstem
Ansehehen standen, keine Möglichkeit bestand, eine Heiligung der besonderen
Liebe in der Familie zu erreichen.« (Benjamin, Nelson, Der Ursprung der
Moderne, 1977, S. 155). (Ebd., S. 76).Die moderne Gesellschaft
hat den Menschen nicht nur Freiheit und Gleichheit, sondern auch Brüderlichkeit
versprochen. (**).
Daß alle Menschen Brüder werden, gilt auch heute noch als gute Utopie.
(Vgl. den auch damit zusammenhängenden immer
noch anhaltenden Erfolg der »Neunten« von Ludwig van Beethoven mit
dem »Lied der Freude« von Friedrich Schiller; HB). Doch
wenn man nach dem Schicksal der Familie in der modernen Gesellschaft fragt, wird
rasch deutlich, daß diese Brüderlichkeit ein antifamilialer Kampfbegriff
ist - der pathetische Inbegriff aller antifamiliären Bande. Nichts ist der
Intimität der Familie feindlicher als die Brüderlichkeit der Kameraden,
Kommunen, Kirchen und Staaten. (Ebd., S. 76).In intimen Beziehungen
geht es um Ansprüche an eine Person, die von dieser Person anerkannt werden
und von keiner anderen erfüllt werden können. Intimität heißt
nämlich unersetzbar sein. In leidenschaftlicher Liebe gibt es für die
Geliebte keinen Ersatz. Diese starken Bindungen werden in der Universalität
der Brüderlichkeit systematisch geschwächt. Brüderlichkeit meint
Brüder als Andere, gleichsam die Familie ohne Vater und Mutter. Aus konkreten
Brüdern und Schwestern wird Brüderlichkeit als universal otherhood
und menschheitsliebende Solidarität. (Ebd., S. 77).Das
läßt sich historisch präzisieren. Seit Benjamin Nelsons großartigem
Essay The Idea of Usury (1949) kann man Modernität nämlich als
raffinierte Antwort auf die biblische Frage verstehen, ob ich von meinem Bruder
Zins nehmen darf. Calvin bricht mit der scholastischen Auffassung, Geld sei steril.
Geld vermittelt nun nicht nur die Kommunikation mit den Fremden, sondern auch
mit den brüderlichen Anderen. Alle Menschen werden Brüder, weil auch
die Brüder, von denen ich Zins nehme, Andere geworden sind. Damit wandelt
sich Brüderlichkeit - von Calvin bis zur französischen Revolution
- zum Universale, und ihr Klartext lautet: Wettbewerb auf dem Markt. Das ist der
präzise Sinn des Untertitels von Nelsons Essay: From Tribal Brotherhood
to Universal Otherhood. (Ebd., S. 77).Die moderne Welt
entfaltet die Paradoxie der Stärke schwacher Bindungen und der Schwäche
starker Bindungen. Intimität und Familiengeist vertragen sich weder mit den
Kontrakten und Netzwerken der modernen Märkte noch mit dem Individualismus
und Universalismus moderner Demokratien. (**).
Wer unter diesen Bedingungen eine Familie gründet, tut es »trotzdem«.
In einem ganz unspektakulären Sinn sind Eltern heute Helden. (Ebd.,
S. 77).
Schöne neue Frauenwelt
Bleibt
uns also nur die tragische Wahl zwischen einem anachronistischen »Zurück
zur Familie« und der sozialistischen Verstaatlichung der Kinder? Oder gibt
es Anzeichen für einen dritten Weg? Gegen die tradionelle Trennung von Firma
und Familie hoffen viele Frauen heute auf eine neue Einheit von Beruf und Privatleben.
Sie verstehen das Familiäre als Ressource, nicht als Hemmnis. Und diese Kraftquelle
könnte immer wichtiger werden, seit der an der Metapher der Karriereleiter
orientierte Lebensentwurf typisch scheitert. (Ebd., S. 77-78).Die
moderne Welt ist vielleicht nicht männerfeindlich, aber männlichkeitsfeindlich.
Es geht nicht mehr ums Zupacken, sondern ums Symbolmanagement. Der Jäger
ist zum Langzeitarbeitslosen geworden. (Ebd., S. 80).Es geht
nicht nur um Informationsverarbeitung, sondern auch um das zutiefst menschliche
Geschwätz. (Ebd., S. 80).Unter den neuen Medienbedingungen
zählt Performanz mehr als Kompetenz; das kommt den Frauen entgegen (und
natürlich dem Untergang! HB). Wer mit Frauen kommuniziert, ist
gleich in Geschichten verstrickt, hat es also mit weiblicher Konversation statt
mit männlicher Informationsverarbeitung zu tun. (Ebd., S. 81).
Wer ist attraktiv?
»Political
Correctness« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
nennt man den vor allem von Intellektuellen geführten Kampf gegen die biologische
Realität, also gegen unser Schicksal. (Ebd., S. 81).Obwohl
sie wissen könnten, daß jede Entdifferenzierung der Gewalt den Boden
bereitet, arbeiten die Intellektuellen hartnäckig am Abbau von Leistunsgunterscheidungen
wie alt/jung oder männlich/weiblich. Dabei wechseln die Schauplätze
der »Political Correctness« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
in rascher Folge. Die »Politisch Korrekten« kämpfen erst gegen
den Rassismus - noch recht us-amerikaspezifisch. Mit der Ausweitung der Kampfzone
auf den Sexismus konnte man dann auch europäische Frauen und Schwule faszinieren.
Heuet polemisiert die »Political Correctness« gegen Altersdiskriminierung
- und wird damit zur Massenideologie. Doch der Sensibilität für Benachteiligungen
sind keine Grenzen gesetzt. Wer einen Behinderten nicht als »anders befähigt«
anerkennt, macht sich des »ableism« schuldig. Und wer wie Goethe in
der Schönheit ein Verdienst sieht, leidet an »lookism«.
(Ebd., S. 81-82).Diese neueste Form der »Political Correctness«
(**|**|**|**|**|**|**|**|**)
, der Kampf gegen die Privilegien der natürlichen Schönheit, ist für
unser Thema von besonderem Interesse. Der »Skandal«, um den es hier
geht, ist leicht zu erklären: Schönheit ist die Ungerechtigkeit der
Natur. Mit anderen Worten: Schönheit ist undemokratisch verteilt - und man
kann sie nicht umverteilen. (Ebd., S. 82).Der evolutionäre
Sinn des sexuellen Begehrens liegt in der Fortpflanzung der Gattung. (Ebd.,
S. 83).Schönheit ist ein Signal für reproduktive Fitneß
- daran orientieren wir uns, obwohl Sex in den meisten Fällen gar nicht mehr
prokreativ sein soll. Und hier gibt es eine strikte Asymmetrie zwischen den Geschlechtern.
Frauen sieht man die Fruchtbarkeit an, Männern nicht. (Ebd., S. 83).Was
Frauen attraktiv macht, nimmt mit der Zeit ab: Schönheit, Jugend, Sex-Appeal.
Was Männer attraktiv macht, kann mit der Zeit wachsen: Macht, Einkommen,
Prestige. (Ebd., S. 83).Die Folgelasten dieser Asymmetrie
tragen allein die Frauen. Ihr Fruchtbarkeits- und Reproduktionswert fällt
mit fortschreitendem Alter sehr stark ab. Deshalb arbeiten Frauen am eigenen Selbst
nicht mehr nur mit den Mitteln der Psychoanalyse und kosmetischer Psychopharmaka
wie Prozac, sondern zunehmend mit Schönheitsoperationen. (Ebd., S.
83).Man sollte sich ... nicht beirren lasen, wenn Frauen nicht
zugeben, daß sie dominante Männer begehren. Denn man kann leicht beobachten,
daß Frauen Männer verachten, die sich von anderen Männern dominieren
lassen und es nicht schaffen, sich in ihrer Lebenswelt Respekt zu verschaffen.
Sie mögen Männer, die karriereorientiert, fleißig und ehrgeizig
sind. Denn evolutionstypisch tauschen Frauen Sex gegen Ressourcen, während
Männer Ressourcen gegen Sex tauschen. (Ebd., S. 84).Das
funktioniert aber nur unter Bedingungen strikter Geschlechterasymmetrie - modern
also: nicht. Es gibt heute keine Herren mehr - aber Prozac. Die Verknüpfung
zwischen Serotonin, dem Gefühl der Dominanz und dem Medikament Prozac ist
so eng und eindeutig, daß der Anthropologe Lionel Tiger mit schöner
Ironie von der optimalen demokratischen Medizin sprechen konnte: Alle fühlen
sich überdurchschnittlich gut! (Ebd., S. 84).Mit Ritalin
und Prozac erzeugt man »Political Correctness« (**|**|**|**|**|**|**|**|**),
nämlich Feministen und Softies. . Natürlich sind hier die USA führend.
Prozac wird dort vor allem depressiven Frauen verschrieben, denen es an Selbstwertgefühl
mangelt - eine Droge, die Frauen Alpha-Tier-Gefühle verschafft. Ritalin dagegen
wird vor allem hyperaktiven Jungs verschrieben, die nicht still auf ihren Schulbänken
sitzen können. Schon 1969 hat Patricia C. Sexton den feminisierten Mann identifiziert.
Er ist das Produkt eines Schulsystems, das zunehmend von Frauen bestimmt wird
und deutlich weibliches Verhalten belohnt (»sozialez Lernen«, »Kommunikationstraining«).
(Ebd., S. 84).So werden die Jungen sozialverträglicher, die
Mädchen selbstbehauptender, und alle tendieren zur androgynen Mitte, für
die Figuren wie David Beckham oder Ulrike Folkerts in den Medien werben. Charles
Horton Cooley hat schon vor hundert Jahren beobachtet, daß die demokratische
Nivellierung der Geschlechterdifferenz in Organisationen und Wertbewerbssituationen
tatsächlich zu einer Maskulinisierung der Frauen und einer Feminisierung
der Männer geführt hat. Und wer das als Verlust kultureller Errungenschaften
erfährt, muß lernen, daß eine künftige Differenzierung der
Geschlechterrollen sich weder auf Natur noch auf Autorität berufen kann;
sie könnte allenfalls das Resultat eines freien experimentellen Spiels sein.
(Ebd., S. 84).
Das notwendige Unglück
Es
gibt zwei moderne Notwendigkeiten, die unglücklich machen: den Individualismus
und die Frauenemanzipation. In aller wünschenswerten Deutlichkeit hat Shulamith
Firestone die Emanzipation der Frau mit der Befreiung von der Bürde der Fortpflanzung
verknüpft. Seither steht, wer sich Kinder wünscht, unter Rechtfertigungszwang.
Seither steht, wer sich Kinder wünscht, unter Rechtfertigungszwang.
(Ebd., S. 85).Wenn, wie Freud erkannte, die Biologie das Schicksal
ist, dann versteht sich der fanatische Feminismus als Sabotage dieses Schicksals.
Und hierbei spielt die Rechtfertigungsbedürftigkeit der Fortpflanzung eine
Schlüsselrolle. Sobald nämlich Kinder kommen, wird die Geschlechterdifferenz
unabweisbar. Die Schwangerschaft macht jedem deutlich, daß die Größe
des biologischen Beitrags, den Mann und Frau zur Fortpflanzung der Gattung erbringen,
höchst unterschiedlich ist. Und aus dieser Differenz der Investitionen folgt
typisch die Differenz der Geschlechter: Männer sind kämpferisch, Frauen
sind wählerisch. (Ebd., S. 85).Das Wissen um die sexuelle
Designdifferenz zwischen Mann und Frau geht in der westlichen Welt allmählich
verloren. Feminismus besagt ja, daß der Unterscheid zwischen Mann und Frau
keinen Unterschied macht. Da die Differenz der Geschlechter aber ständig
in die Augen springt, muß der Feminismus vor allem Wortpolitik betreiben
und versuchen, Sex durch »Gender« zu verdrängen. Wenn also allerorten
Gender Studies aufblühen, darf man vermuten, daß es dabei vor
allem um eine Kampfansage gegen die Evolutionsbiologie geht. (Ebd., S. 85).Die
feministische Sabotage des Schicksals der Biologie kämpft aber nicht nur
gegen das Reproduktionsdesign der Frau, sondern auch gegen das archaische Begehren
des Mannes. .... Deshalb sind die Folgen der feministischen Lustfeindlichkeit
für Männer mindestens so schwerwiegend wie für Frauen. (Ebd.,
S. 85-86).Das verzögerte Erwachsenwerden, wie es früher
nur für Studenten typisch war, ist zur Lebensnormalform geworden. (Ebd.,
S. 86).Im Blick auf die Zukunft heißt das konkret: Man probiert
mehr Partner aus; deshalb wachsen die Ansprüche an den Partner. Und damit
wird es immer unwahrscheinlicher, daß sich passende Paare finden; folglich
gibt es immer mehr Scheidungen und immer mehr Singles. (Ebd., S. 86).Ein
Mädchen, das sich entscheidet, bis zur Hochzeit unberührt zu bleiben,
erscheint uns heute komisch. Warum eigentlich? Nach dem bisher Gesagten muß
die Antwort wohl lauten: weil es die Einheit von Sexualität, Liebe und Ehe
repräsentiert. Genau diese Einheit nämlich hat die moderne Intimität
zersetzt. Nicht nur Sexualität und Fortpflanzung sind entkoppelt worden,
sondern auch Liebe und Ehe. Die Sexualität hat sich von der Ehe emanzipiert
und die Ehe von der Familie. Nicht nur Ehe und Elternschaft sind entkoppelt worden,
sondern auch biologische und soziale Elternschaft. (Ebd., S. 87).Die
Medizin ermöglicht heute Kinder ohne Sex. Das kommt - Ironie der Urgeschichte
! - dem archaischen Erbe des Menschen durchaus entgegen. Früher hatten die
Primitiven ja Schwierigkeiten, den Zusammenhang zwischen Sex und Reproduktion
zu sehen; deshalb dürfte es eigentlich keine Schwierigkeiten bereiten, daß
Sex und Reproduktion nun tatsächlich getrennt werden. (Ebd., S. 87).
Naturschutzparks der Männlichkeit
Mädchen
werden Frauen. Jungs werden zu Männern gemacht; ihre Entwicklung ist also
sehr viel störanfälliger. War Männlichkeit immer schon Reaktionsbildung
und Angstabwehr, so mmuß sie heute auf die Delegitimation der Männlichkeit
selbst reagieren. Männlichkeit ist ständig gefährdet und muß
deshalb ständig demonstriert werden. Zu den klassischen Ungewißheiten
des Mannes (z.B.: Bin ich der Vater? Oder gehörnt worden? Ist sie befriedigt?
Oder simuliert sie?) kommt heute modernitätspezifisch hinzu, daß Männlichkeit
gesellschaftlich marginalisiert wird. Mehr denn je müßte also Männlichkeit
eigens gelernt werden. Deshalb werden auch in Zukunft die Helden meistens Männer
sein - weil eben Frauen nicht erst lernen müssen, Frauen zu sein. (Ebd.,
S. 88).Ein Sozialphilosoph könnte definieren: Männlichkeit
ist die soziale Negation der antisozialen Negation. Ein Mann verweigert also die
Auswege des Eskapismus und des Infantilismus. »Face it!« Diese
Ultrakurzformel aller Männlichkeit markiert genau den Gegenpol zur Bergpredigt.
»Widerstehe nicht dem Übel«, die Max Weber zu Recht als »Ethik
der Würdelosigkeit« bezeichnet hat. Seine Antithese konnte vor neunzig
Jahre noch »Manneswürde« heißen. (Vgl. Max Weber, Wissenschaft
als Beruf, 1917, S. 28). (Ebd., S. 88).Der Siegeszug
der Homosexuellen in den modernen Metropolen zeigt, daß es unserer Gesellschaft
heute einleuchtet, Sexualität als vollkommen formbar zu begreifen. Man entscheidet
sich für seine Sexualität und akzeptiert Heterosexualität längst
nicht mehr als natürlichen Standard. (Denn man will
ja untergehen! HB). Der Ökonom Edward Miller hat vermutet, daß
die Feminisierung der Öffentlichkeit die Entwicklung der Homosexualität
fördert; er deutet Homosexualität nämlich als Nebenprodukt, das
bei der Produktion femininer Züge in unserer Gesellschaft anfällt: Mitgefühl,
Sensibilität, Sanftheit, Freundlichkeit. Bei einigen Männern gelingt
diese Temperierung ihrer Männlichkeit - die anderen werden schwul.
(Ebd., S. 88).Was verdrängt wird, kehrt wieder - aber in entstellter
Form. (Ebd., S. 91).
Die ewigen Jagdgründe
Männer
sind Jäger, die man nicht mehr braucht. Und deshalb brauchen sie den Sport.
Sport als Asyl der Männlichkeit ist eine genaue Reaktionsbildung darauf,
daß die Zivilisation als Zähmung der Männer durch die Frauen voranschreitet.
(Ebd., S. 92).Vormodern war die Aufgabe, ein »richtiger«
Mann zu sein, vor allem eine Frage der performanz; man mußte gut darin sein,
ein Mann zu sein. Heite gilt das nur noch im Sport. Er bietet den Männern
einen Ersatzschauplatz für das, was Anthropolgen male bonding nennen:
die Kooperation der Jäger. Nur im Sport können Männer heute noch
des Wachtraum erfolgreicher gemeinschaftlicher Aggression genießen, also
die Gelegenheit, körperlich aufgzutrumpfen. (Ebd., S. 92).Du
triffst den Ball - oder nicht. Da hilft kein Moralisieren, Psychologisieren oder
der Hinweis auf eine traurige Kindheit. (Ebd., S. 92).Nur
im Sport kann der Beifall der anderen nicht die Erreichung eines Ziels ersetzen.
(Ebd., S. 92).Nur im Sport gibt es deutlich sichtbare Grenzen des
Schönredens. (Ebd., S. 92).Alles ist zugleich leidenschaftlich
und streng geregelt. Und die Regeln gelten für alle. Auch das bestätigt
die funktionale Äquivalenz von Sport und Jagd. Wer beim Sport zuschaut, wirft
einen Blick in eine untergegangene Welt. Er genießt heroische Männlichkeit
aus zweiter Hand. (Ebd., S. 92-93).Im Sport geht es einzig
und allein um Kampf und Rivalität, Rekord und Risiko - er hat ekienen über
sich selbst hinausweisenden Zweck. (Ebd., S. 93).Und weil
es im Sport um Sieg, Überlegenheit und Rangordnung geht, hat unsere »Politische
Korrektheit« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
sprachliche Betäubungsmittel erfunden, um das Bewußtsein gegen diese
Archaismen abzuschirmen: »Dabeisein ist alles«. Das ist natürlich
Unsinn, und jeder weiß auch, daß sich niemand für den Vizemeister,
den Zweitplazieren, den Olympiniken mit dem »hervorragenden vierten Platz«
interessiert. »Go for gold«, nur der Sieg zählt - in Atlanta
(1996) war das sogar auf den Plakaten zu lesen.
(Ebd., S. 93).Als sprachliches Betäubungsmittel war wohl auch
die Definition des Fußballspiels als »schönste Nebensache der
Welt« gemeint. Doch in dieser Formel steckt auch ein Stück Wahrheit.
Der Kampf um Anerkennung heftet sich an Kleinigkeiten. Die thymotische Selbstbehauptung,
die Francis Fukuyama wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat, gelingt
vor allem im Nebensächlichen. Gerade die »Sinnlosigkeit« des
Sports macht deutlich, daß es um reine Anerkennung geht. Wenn Schalke gegen
Hertha antritt, geht es also um »alles« und um »nichts«
- um das Nichts von drei Punkten und um das Alles der Anerkennung. (Ebd.,
S. 93-94).Im Sport ist deshalb so viel von Freundschaft und Kameradschaft
die Rede, weil es genau um das Gegenteil geht, nämlich um Rivalität.
Der unangenehmen Wahrheit, daß das Zwischenmenschliche im Kern destruktiv
ist, wird im Sport Rechnung getragen - und der Etikettenschwindel sorgt dafür,
daß das nicht als Skandal empfunden wird. Ein nüchterner Beobachter
müßte sagen: Sport ist objektlose Rivalität - es geht um den Sieg,
die triumphierende Gewalt. Sport ist insofern realistischer als jeder Humanismus.
Man kann den anderen nicht »frei« anerkennen, sondern nur im Kampf.
Entscheidend ist nun - und das macht das Ganze zum »kulturellen« Sachverhalt
-, daß der Thymos, der agonale Ehrgeiz, in die Schranken der Spielregeln
verwiesen wird. Daraus wird die Moral des Sports geboren: das Ideal der Fairneß.
Im Gegensatz zu anderen, univeralistischen Prinzipien der Ethik ist das Fairneß-Ideal
für alle Beteilgten evident. Auch der andere muß siegen können.
(Ebd., S. 94).Die Moral des Wettkampfs ist viel plausibler und
prägender als der kategorische Imperativ. (Ebd., S. 94).So
naiv es klingen mag: Im Sport muß es mit rechten Dingen zugehen. Sport ist
die heile Welt der Leistung. die im Wettkampf Ehrlichkeit, Echtheit und Unmittelbarkeit
verspricht. Ohne Umschweife kommt der Sportler zur Sache: das Wesentliche - sonst
nichts. Und das Wesentliche ist eben, den anderen zu besiegen, um dann als der
Bessere anerkannt zu werden. So bietet gerade der Spitzensport - allen Millionentransfers
zum Trotz - eine Popkultur der Authentizität. (Ebd., S. 94).Wenn
man den Sport als eine Ellipse beschreibt, dann bildet der gerade dikutierte Agon,
also der Wettbewerb um des Wettbewerbs willen, den einen Brennpunkt. Den anderen
Brennpunkt bildet der Körperkult. Wie der Sex ist der Sport ein Schauplatz
der aktiven Körper und der verklärten Jugendlichkeit. (Ebd., S.
94-95).Sport kompensiert die Sinnunsicherheit des Alltags, indem
er den geordneten Rückzug auf ein sozial als sinnvoll definiertes Körperverhalten
ermöglicht. Die Person ist hier ganz und gar durch ihre Handlung definiert.
Je virtueller unsere Lebenswelt wird, desto wichtiger ist diese Funktion des Sports.
(Ebd., S. 95).Man könnte den Sport als Inversion der Askese
definieren .... (Ebd., S. 95).»Sport präsentiert
den nirgends sonst mehr so recht in Anspruch genommenen Körper. Er legitimiert
das Verhalten zum eigenen Körper durch den sinn des Körpers selbst.«
(Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 337). (Ebd., S. 95).Im
Sport gibt es keine »Sorge«, sondern nur geistesgegenwärtige
Körper. (Ebd., S. 96).Aus allen nicht-sportlichen Perspektiven
ist der Sport »sinnlos« - produziert dann aber seine eigene Sinnsphäre.
(Ebd., S. 96).Vor allem die Fußball-Bundsliga ist ein sich
selbst regulierender Markt des Sinns. Jeden Samstag ins Stadion zu gehen oder
doch zumindest um 18 Uhr die Sportschau zu sehen, ist gewiß ein Ritual.
(Ebd., S. 96).Sport ist Religion - die Neubegründer der Olympischen
Spiele (Ende des 19. Jahrhunderts; Anm HB) haben
das ausdrücklich so formuliert. Und diese Heilsversprechen kann jeder verstehen.
(Ebd., S. 97).
Die maskuline Ästhetik
Das
Männliche ist die Welt der erfolgreichen Aggression, der körperlichen
Selbstbehauptung. Beim Boxen ist das evident, bei der Formel 1 kommt noch die
kybernetisch Spitzenleistung technisch perfekter Maschinen dazu. Hier nimmt der
Kampf ums Dasein Spielcharakter an. (Ebd., S. 97).Ich riskiere,
also bin ich. Männlich ist der Wille zum Risiko. (Ebd., S. 98).Diese
knappe Beschreibung genügt, um deutlich zu machen, daß Sport und Jagd
funktional äqivalent sind. So bleibt dem Jäger, den die moderne Gesellschaft
nicht mehr braucht, immerhin noch der Sport. (Ebd., S. 98). |