Diskurs über die Ungleichheit. Ein Anti-Rousseau (2009)
Die
Linke hat wieder Konjunktur. Sie spricht nicht mehr von Klassengesellschaft, sondern
von der Neuen Ungleichheit und verweist auf die Pornographie des exzessiven Reichtums
... einerseits, die stillen Leiden der Kinderarbeit und der Hartz-IV-Existenz
andererseits. Mehr Gleichheit durch Umverteilung scheint deshalb die selbstverständlichste
politische Forderung zu sein. Und in der Tat hat sich die moderne Gesellschaft
durch die Mächte der guten Gleichheit entfaltet: Wissenschaft und Technik,
gleiches Recht und Bildung für alle, städtisches Leben und staatliche
Organisation.Nüchtern
betrachtet, kann Gleichheit unter modernen Lebensbedingungen aber nur heißen:
Inklusion, die Möglichkeit der Teilnahme an den sozialen Systemen. Und wer
alle integrieren will, muß auf die Gleichheit aller verzichten. Egalitarismus
ist eine Anleitung zum Unglücklichsein. Wir können das gute Leben, das
uns die moderne Gesellschaft ermöglicht, nicht leben, solange wir noch an
Rousseau glauben. Die größte Gefahr für die moderne Welt geht
nicht von denen aus, die asozial sind, sondern von denen, die zu sozial sind.
Es gibt keine gerechte Gesellschaft (**).(Ebd.,
Klappentext). |
Die These
Das liberale Erfolgsgeheimnis des Kapitalismus besteht bis zum
heutigen Tag darin, die Frage nach dem Glück nicht mit Umverteilung,
sondern mit der Steigerung der Produktion zu beantworten. Produktion und
Kreativität sind Resultate des Wettbewerbs, der natürliche Ungleichheiten
nutzt und materielle Ungleichheiten schafft. Talent, Lebensenergie und
Glück produzieren in einer freien Marktwirtschaft notwendigerweise
Ungleichheit. Spezifisch liberal ist dabei der Trick, durch die Frage
nach der Wirtschaftlichkeit von der Frage nach der Gerechtigkeit abzulenken.
(Ebd., S. 7).
Wirtschaftlicher Erfolg
ist ein Identitätsangebot, das den Erfolgreichen rasch in eine gewisse Distanz
zur Gesellschaft bringt. Denn der wirtschaftlich Erfolgreiche bemißt die
Gerechtigkeit der Gesellschaft an der Sicherheit des Eigentums. Der Eigentümer
ist deshalb der natürliche Feind jeder politisch hergestellten Gleichheit.
Der Respekt für das Individuum drückt sich - radikal marktliberal betrachtet
- in der Differenz von mehr oder weniger Geld, letztlich: von Arm und Reich aus.
Jeder hat andere Talente. Aber einige Talente sind weit verbreitet, andere sind
selten. Und man muß sich damit abfinden, daß nicht die Anstrengung
oder das Talent an sich belohnt wird, sondern das Resultat auf dem Markt. Weder
Geschäftserfolg noch Prestige lassen sich aus Verdiensten ableiten. Nicht
das, was man gut macht, sondern das, was andere gut finden, zählt.
(Ebd., S. 7).Die Wirtschaft der modernen Gesellschaft ist also
sehr komplex und abstrakt; es fehlt ihr die Gefühlsstütze, und deshalb
kann man sie nicht lieben. Friedrich von Hayeks berühmte These, der freie
Markt sei die größte Entdeckung in der Geschichte der Menschheit, läßt
eigentlich jeden kalt. Hier gibt es also einen akuten Gefühlsbedarf, die
Notwendigkeit einer emotionalen Gestaltung der modernen Gesellschaft. Das leisten
die Massenmedien, indem sie ständig soziale Ungleichheiten zeigen. So bedienen
sie die rousseauistische Nostalgie nach einer von archaischen Gefühlen geleiteten
Gesellschaft, in der ein autoritärer Staat sichtbar »soziale Gerechtigkeit«
(**)
schafft. (Ebd., S. 7).Der Begriff der »sozialen Gerechtigkeit«
(**)
markiert den Abschied von der liberalen Gesellschaft. Und es gibt heute kaum noch
Politiker, die nicht im Namen der »soziale Gerechtigkeit« agieren.
Niemand kann den Begriff definieren, aber gerade deshalb funktioniert er so gut
als Flagge des »Gutmenschen«, als Chiffre für die richtigen moralischen
Gefühle. In dieser Frage erlaubt sich unsere restlos aufgeklärte Gesellschaft
eine letzte große Mystifikation, den Appell an ein unkommunizierbares Gefühl.
»Soziale Gerechtigkeit« ersetzt das Heilige. Fast jeder erkennt ja
Ungerechtigkeit, wenn er sie sieht oder erlebt, aber fast niemand kann sagen,
was Gerechtigkeit ist. Die Theorie der Gerechtigkeit ist die negative Theologie
des Rechts; auch die Jurisprudenz hat also ihren verborgenen Gott. Jede Gesellschaft
sakralisiert ihre Gerechtigkeitsprinzipien - und wehrt sich deshalb gegen ihre
Analyse. (Ebd., S. 8).Seit der großen Bankenkrise 2008
(**) ruft
alle Welt nach dem starken Staat und nach Regulierung der Finanzmärkte. Der
Sozialismus ist wieder salonfähig geworden. .... In der Zeitung kann man
lesen, daß das Durchschnittseinkommen der reichsten Länder 50mal so
groß ist wie das der ärmsten. Topmanager verdienen bis zu 400mal so
viel wie der druchschnittliche Angestellte. (Ebd., S. 8).Mehr
Gleichheit durch Umverteilung scheint deshalb die selbstverständlichste politische
Forderung zu sein, und tagtäglich findet sie in den Massenmedien Resonanz.
Sie reduzieren uns Zuschauer, Hörer und Leser auf das bloße Erleben:
Wir müssen zusehen, wie andere entscheiden, genießen und leiden. Und
wenn andere entscheiden, werden wir zu Betroffenen. Wenn andere genießen,
halten wir uns für benachteiligt. Wenn andere leiden, ist uns das unerträglich.
(Ebd., S. 8).Die Massenmedien zeigen täglich nicht nur den
Armen den Reichtum des Westens, sondern auch uns Wohlstandsbürgern den Reichtum
der Superreichen. Rasch zeigt sich da unsere Toleranz gegenüber dem Reichtum
anderer überfordert. Bei der Wahrnehmung der Ungleichheit ist ja der Filter
der Stände und Kasten weggefallen - jeder ist ein Mensch wie du und ich.
Und das macht jede Ungleichheit tendenziell zum Skandal. Der soziale Vergleich
erzeugt Neid und läßt die Erwartungen explodieren. (Ebd., S.
8).Das wunderbare Ansteigen des Lebensstandards in der westlichen
Welt hat die Menschen wohlhabender, gesünder und freier werden lassen - aber
nicht glücklicher. Weil sie sich vergleichen, ist die Ungleichheit ihr Unglück.
Man kann das eigene schöne Haus nicht mehr genießen, weil das der Nachbarn
noch schöner ist. Und meist sind es nur die Menschen, denen noch die Schrecken
und Entbehrungen eines Krieges ins Gedächtnis gebrannt sind, die dankbar
bemerken, wie herrlich weit sie es gebracht haben. Doch nicht nur Haus, Auto und
Ehefrau des Nachbarn verführen zum Vergleich, sondern mehr noch die Massenmedien,
die uns ständig mit dem Glitzerleben der Reichen und Mächtigen konfrontieren.
Sie führen uns einen Lebensstil vor, den wir nie erreichen werden.
(Ebd., S. 8-9).Um so wichtiger ist des deshalb für uns, in
den Medien zu sehen, daß Gerechtigkeit geschieht; das ruft eine Art Soziallust
hervor. Und nicht nur im Unterhaltungsprogramm bietet das Fernsehen die soziale
Lust der Moralität. In der fiktiven Realität des Krimis wird der Verbrecher
seiner gerechten Strafe zugeführt. In der realen Realität der Öffentlichkeit
wird der korrupte Politiker oder Wirtschaftsführer an den Medienpranger gestellt.
Die Medien inszenieren den Skandal als demokratischen Schauprozeß, den die
Zuschauer lustvoll konsumieren. Der dort zumeist erhobene Ton ist nicht der Ton
der Kritik, sondern der modischen Wut. Das erspart die Überzeugungsarbeit.
Entrüstung gilt als Echtheitsbeweis. Wer früher kritisch war, ist heute
wutschnaubend. Das funktioniert natürlich nur, weil es von der Mediendemokratie
prämiert wird. Wut ist so demokratisch wie Angst - jeder kann sie ausdrücken.
(Ebd., S. 9).Die meisten Menschen können nicht sagen, was
Gerechtigkeit ist, aber sie haben ein sehr genaues Empfinden für Ungerechtigkeiten.
Offenbar genügt uns aber der Kampf gegen evidente Ungerechtigkeiten nicht.
Ein Grund dafür liegt sicher auch im medialen Trommelfeuer der Gerechtigkeitsrhetorik.
»Soziale Gerechtigkeit« (**)
durch »mehr Gleichheit« ist heute ein Wert, dem man nicht nicht zustimmen
kann - der Konsensbegriff Nr .1. Hier gibt es keinen Diskussionsbedarf mehr. Wie
konnte es dazu kommen? (Ebd., S. 9).Es gibt eine berechtigte
Leidenschaft für die Gleichheit, die die Menschen anspornt, sich um die Anerkennung
und Achtung von ihresgleichen zu bemühen - man könnte sagen: eine Leidenschaft
für die Gleichheit aus Stärke. Aber es gibt auch eine Leidenschaft für
die Gleichheit aus Schwäche, wo die Schwachen versuchen, die Starken auf
ihr Niveau herabzuziehen. Und in dieser Gleichheitssucht steckt die größte
Gefahr der modernen Demokratie, nämlich die Verlockung, einer Ungleichheit
in Freiheit die Gleichheit in der Knechtschaft vorzuziehen. (Ebd., S. 9).Beide,
Freiheit wie Gleichheit, kosten etwas. Der Preis der Freiheit ist sofort spürbar,
der Preis der Gleichheit macht sich erst allmählich bemerkbar. Der Preis
der Freiheit ist sofort spürbar, der Preis der Gleichheit macht sich erst
allmählich bemerkbar. Und umgekehrt gilt: Die Wohltaten der Freiheit zeigen
sich erst allmählich, aber die Wohltaten der Gleichheit spürt man sofort.
Es kann deshalb nicht überraschen, daß die Leidenschaft für die
Gleichheit sehr groß, die Liebe zur Freiheit aber nur sehr mäßig
temperiert ist; und daß man im Zweifel die Freiheit der Gleichheit opfert.
Historisch betrachtet kämpfen Freiheit und Gleichheit zunächst gemeinsam,
aber sie trennen sich nach dem Sieg. D.h. nur solange die Gleichheit die Freiheit
politisch benutzen kann, verbünden sich Gleichheit und Freiheit. Nur im Kampf
gegen autokratische Machthaber stehen Freiheit und Gleichheit auf derselben Seite
der Barrikade. Der Kult der siegreichen Gleichheit forden dann aber rasch das
Opfer der Freiheit. (Ebd., S. 9-10).Es ist eine traurige
Ironie der Weltgeschichte, daß das Ideal der Gleichheit den Haß verewigt,
den die Realität der Ungleichheit erzeugt hat. Massendemokratisch leben heißt
nämlich, im vergleichenden Blick auf die anderen leben. Und je gleicher die
Lebensverhältnisse sind, um so hannäckiger fixiert sich der neidische
Blick auf das Überragende, die Exzellenz, den Besseren. Der Haß auf
die Ungleichheit ist die demokratische Leidenschaft par excellence. Und
je weniger Ungleichheiten es gibt, desto größer wird der Haß
auf sie. Das Prinzip Gleichheit wirkt also paradox: Je mehr Gleichheit praktisch
durchgesetzt wird, desto unenräglicher wird jede noch vorhandene Ungleichheit.
Je größer die Gleichheit, desto unerbittlicher das Verlangen nach noch
mehr Gleichheit. Die statistisch erwiesene Ungleichheit wird als Ungerechtigkeit
interpretiert und dann als zentrales Beweismittel im ideologiekritischen Prozeß
gegen die bürgerliche Freiheit eingesetzt. (Ebd., S. 10).Die
Gleichheit des Menschen ist aber eine Abstraktion. Sobald man betrachtet, wie
sie in Geschichten und Kausalitäten verstrickt sind, drängen sich die
Ungleichheiten auf; so wie Bauern im Schachspiel abstrakt betrachtet gleich stark
sind, im Spielverlauf aber höchst unterschiedliche Wichtigkeit bekommen.
Menschen respektvoll zu behandeln, heißt deshalb nicht, sie gleich zu behandeln.
Der Wunsch nach mehr Gleichheit führt gerade nicht zur Erfahrung der Anerkennung.
(Ebd., S. 10).Die Behandlung des Ungleichen als Gleiches wird heute
als Wert konzipiert - die Farbigen und die Weißen, die Kinder und die Erwachsenen,
die Frauen und Männer, die Armen und Reichen, die Kleinen und die Großen,
die Dummen und die Klugen. Der Geist der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
läßt sich deshalb auf eine ganz einfache Formel bringen: Wahrheit ist
relativ. Er kämpft nicht gegen die Unwahrheit, sondern gegen die Intoleranz.
Nichts und niemand soll verachtenswert sein. Der gesunde Menschenverstand sagt
einem aber: Man kann nicht das Gute finden und bewundern, ohne das Schlechte mit
zu entdecken - und zu verachten. (Ebd., S. 10-11).Es gibt
Dinge, die besser sind als andere. Es gibt Kulturen, die fortschrittlicher und
humaner sind als andere. Und es gibt Menschen, die anderen überlegen sind
- die Aristoi, die Elite, die Seltenen, die Besten, die Stars, die Reichen, die
Mächtigen, die Berühmten. Dieses Besser- und Überlegensein artikuliert
sich traditionell als Vornehmheit, Größe, Stil und Wille zur Distinktion.
Für die Massendemokratie ist das ein Skandal, auf den sie mit einem scharfen
Ressentiment zunächst gegen Meisterschaft und Autorität, dann gegen
Kanon und Elite und schließlich gegen Erfolg und Leistung reagiert. Die
ersten Opfer dieser Rhetorik der Gleichheit sind die Schönheit, die Wahrheit,
die Tugend und die Größe. (Ebd., S. 11).Man kann
sich Kultur aber nur als ein System der Unterschiede und Humanität nur als
Differenziertheit denken. Das zeigt gerade unsere eigene Erfolgsgeschichte: Europa
war und ist das Leben der Differenz. Und jeder, der Lebenserfahrung hat, weiß,
daß es kein Glück gibt ohne die Erfahrung des Unterschieds. Wir sind
erwachsen, wenn wir gelernt haben, mit der Ungleichheit zu leben. Wir verwechseln
dann nicht mehr Ungerechtigkeit mit Ungleichheit. Ungerecht ist nämlich nicht
die Ungleichheit, sondern das, was motivierte Menschen am Aufstieg hindert. Um
das einzusehen, braucht man keine Theorie der Gesellschaft, sondern nur gesunden
Menschenverstand. (Ebd., S. 11).Alle revolutionären
Kämpfe im Namen der Freiheit zielten auf Gleichheit vor dem Gesetz. Die Leute
sollen rechtlich gleich behandelt werden, obwohl sie tatsächlich unterschiedlich
sind. Daß alle Menschen gleich geboren sind, ist also keine Tatsachenaussage.
Die Übertragung dieser rechtlichen Gleichheit auf die moralischen und sozialen
Beziehungen der Menschen untereinander macht den Geist der Demokratie aus. Dazu
gehört aber auch, daß man materielle Ungleichheiten hinnimmt und ohne
Murren erträgt. (Ebd., S. 11).Der Prozeß der Zivilisation
hängt daran, daß jeder Einzelne aus allem, was ihm widerfährt,
den größten Nutzen schlagen darf. Jeder soll die besonderen Gelegenheiten
nutzen, die der Zufall von Herkunft und Umwelt gerade ihm auf den Lebensweg geworfen
hat. Daß wir in einer Gesellschaft von Individuen leben, heißt eben,
daß wir nicht in einer Gesellschaft von Gleichen leben. Diese Individuen
werden vom Staat und vor dem Gesetz gleich behandelt. Aber man darf von der Gleichbehandlung
- und dem berechtigten Anspruch darauf - nicht auf Gleichheit schließen.
Die Gleichheit vor dem Gesetz schließt nicht Ungleichheit aus, sondern Willkür.
(Ebd., S. 11-12).Weil die Menschen unterschiedlich sind, folgt
gerade aus ihrer Gleichbehandlung die materielle Ungleichheit ihrer Lebenslagen.
Erfolg ist in hohem Maße eine Sache des Zufalls. Jeder hat Eltern und deshalb
gibt es eine unvermeidliche Chancenungleichheit. Wer eine glückliche Kindheit
hatte und von liebevollen Eltern gut erzogen wurde, hat Möglichkeiten der
Lebensfreude und des Kulturgenusses, die durch keine Umverteilungspolitik kompensiert
werden können. (Ebd., S. 12).Armut und Unglück
sind in der Regel keine Ungerechtigkeiten sondern Übel. Materielle Ungleichheiten
sind aber nur dann ungerecht, wenn sie das Resultat bewußter Verteilung
sind. Und daraus folgt: Nicht der Zufall des Marktes,
sondern die Politik der Umverteilung produziert Ungerechtigkeiten (**).
Jeder staatliche Eingriff zur Reduzierung von Ungleichheit schafft unzählige
neue. Es gibt nämlich immer Leute, die durch Chancengleichheit begünstigt
werden, Kriegsgewinnler der Gleichstellung. Und es ist kein Heraktes in Sicht,
der die sich selbst reproduzierenden Ungleichheiten ausbrennen würde. So
erzeugt der Egalitarismus selbst beständig Frustration. (Ebd., S. 12).Weder
Natur noch Kultur sprechen für Gerechtigkeit. Die Natur nicht, denn nicht
alle Frauen sind gleich schön; nicht alle Männer sind gleich kompetent.
Aber auch die Kultur nicht, denn sie hat sich immer nur unter Bedingungen ungerechter
Besitzverteilung entfaltet. All das klingt deprimierend, und die moderne Gesellschaft
neigt dazu, weiteres Nachfragen zu verbieten. Gene, Intelligenz und Rasse sind
die Tabus unserer Zeit - wie Sex im Viktorianischen England. Mit anderen Worten,
archaisches Erbe, genetische Determination, angeborenes Verhalten und Geschlechtsrolle
sind die Skandale der egalitären Gesellschaft. Geist, Schönheit, Stärke,
Geschicklichkeit, Talent, Fleiß - all das ist ungleich verteilt und läßt
sich nicht umverteilen. (Ebd., S. 12).Menschen sind unterschiedlich.
Und wenn man sie zwingt, gleich zu sein, bleibt ihnen nur noch eine Möglichkeit,
anders zu sein als die anderen - nämlich die anderen zu überwältigen.
Ohne Rangordnung kann man diese Aggressivität nicht neutralisieren. Sie ist
heute zur sozialen Gereiztheit atomisiert und auf Dauer gestellt. Hinzu kommt,
daß die Abfuhr von Aggressivität immer schwieriger wird, je moderner,
d.h. bequemer und von körperlicher Arbeit entlasteter das Leben ist. Unter
massendemokratischen Bedingungen richtet sich dann die angestaute Aggressivität
gegen alle Formen von Rangordnung. (Ebd., S. 12).Wenn man
die Menschen dagegen unterschiedlich sein läßt, ja ihre heterogene
Individualität sogar fördert, entsteht ein Klima kreativer Interaktivität.
Wir können also resümieren: Gleichheit erzeugt Konflikt, Ungleichheit
ermöglicht Kooperation. Bürgerliche Gleichheit besagt deshalb, daß
jeder die gleiche Chance hat, ungleiche Beträge zu akkumulieren. In der Aristokratie
gab es ungleiche Chancen, ungleich zu werden. In einer Demokratie gibt es gleiche
Chancen, ungleich zu werden. Und jeder soll die gleichen Chancen haben, ungleich
zu werden. (Ebd., S. 13).In der modernen Welt symbolisiert
der zur Schau gestellte Reichtum nicht mehr besondere Fähigkeiten und Leistungen.
Man kann vom Lebensstil nicht mehr auf die Person schließen. Der Konsumstil
hat die Lebensführung ersetzt, und das gute Leben ist zum Rechtsanspruch
geworden. Deshalb hat der Lebensstandard heute Suchtcharakter angenommen; er befriedigt
zwar nicht, aber jede Minderung erscheint unerträglich. Daß Menschen
unzufriedener werden, obwohl sich ihre objektiven Lebensumstände verbessert
haben, liegt daran, daß ihre Vergleichsstandards noch schneller wachsen
als ihr Lebensstandard. (Ebd., S. 13).Für fast alle
wird fast alles besser. Aber das zählt nicht. Denn zwar geht es allen besser,
aber zugleich verstärkt sich die Polarisierung. Den Armen geht es besser,
aber relativ zu den Reichen werden sie ärmer. Der Vergleich macht unglücklich.
Und wenn es nicht zynisch klingen würde, könnte man sogar sagen: Der
Vergleich macht arm. Aber wir können gar nicht anders. Jeder lebt unter dem
Zwang, sich mit anderen zu vergleichen. Und Demokratie heißt in diesem Zusammenhang
eben: Jeder darf sich mit jedem vergleichen, auch wenn er sich nicht mit jedem
vergleichen kann. (Ebd., S. 13). Weil aus der Wahrnehmung
von Differenzen Neid entsteht, muß der Egalitarismus eine Schaufensterpolitik
betreiben, also sichtbar machen, daß Gerechtigkeit geschieht. Weil nicht
die sozialen Unterschiede, sondern die Wahrnehmung dieser Unterschiede
den Zusammenhalt der Gesellschaft bedrohen, inszeniert die Politik egalitaristische
Maßnahmen. Dabei geht es also nicht darum, daß wirklich Gerechtigkeit
geschieht, sondern darum, daß die Leute sehen, daß Gerechtigkeit geschieht.
Das kann man dadurch erreichen, daß man Bedürftigen etwas gibt, aber
genau so gut auch dadurch, daß man Erfolgreichen etwas nimmt. (Ebd.,
S. 13).Es geht mir besser als früher, aber nicht so viel besser
als den anderen - und deshalb geht es mir schlechter. Schon eine Verlangsamung
des wirtschaftlichen Wachstums erzeugt typisch Unzufriedenheit. Und Wachstum selbst
ist keineswegs der Weg zur allgemeinen Zufriedenheit, denn wenn es allen gleichmäßig
besser geht, geht es niemanden besser. Die Verschiedenheiten vermindern sich,
aber die Gleichheitserwartungen wachsen. Das liegt ganz einfach daran, daß
Menschen sich vergleichen. Aber mit wem vergleicht man sich? Mit den relevanten
Anderen. Und in diesem Vergleich können auch kleinste Differenzen als schreiend
ungerecht empfunden werden. Je geringer die Unterschiede, desto größer
die Gleichheitserwartungen und desto größer das Ressentiment. Der neiderfüllte
Vergleich steigert sich in einer Spirale positiver Rückkopplungen. Und je
größer die Erwartungen, desto größer der Neid. (Ebd.,
S. 13-14).So wird die moderne Kultur von einem Jammern auf hohem
Niveau begleitet; die Klagelieder erklingen aus dem Herzen des Wohlstands. Hier
zeigt unsere Kultur deutlich tragische Züge, denn gerade in einer ihrer wichtigsten
Errungenschaften, dem fundamentalen demokratischen Prinzip der Rechtsgleichheit,
steckt ein Potential für Fanatismus: die neidische Gleichstellung auch derer,
die durch Bildung, Erziehung und Einsicht besser, erfolgreicher sind. (Ebd.,
S. 14).Ressentiment ist der Haß auf den Erfolg. Was der Neidische
am Erfolg haßt, ist nicht nur der Reichtum der Anderen, sondern die Anforderungen
von Disziplin und harter Arbeit, die Erfolg überhaupt erst möglich machen.
Dieses Ressentiment ist in der Kultur der Boheme schöpferisch geworden
- als Wille zum Unglück. Die subkulturelle Verklärung der Erfolglosigkeit
hat fast zwei Jahrhunderte intellektueller Antibürgerlichkeit getragen, deren
Rhetorik vom »Philister« Hölderlins bis zum »Establishment«
der 68er reicht. (Ebd., S. 14).Sobald der Neid keine soziale
Ausdrucksform mehr findet, schlägt er um in Wut und schafft sich Luft in
der Attacke auf Symbole des sozialen Unterschieds. Die wachsende ökonomische
Entbehrlichkeit vieler Menschen macht diesen Umschlag heute immer wahrscheinlicher.
Die Überflüssigen werden ausgeschlossen, und die intellektuellen Fanatiker
nehmen sich nun dieser Menschen an, die die Weltgesellschaft aus sich ausgeschlossen
hat. Wer in der Gesellschaft keine Anerkennung findet, sucht sie gegen sie. Aus
Neid wird Fanatismus. (Ebd., S. 14).Im Neid droht die Leidenschaft
der Gleichheit die Freiheit zu zerstören. Nun ist die Demokratie ja der Idee
der Gleichheit verpflichtet; sie garantiert gleiche Rechte und formale soziale
Chancengleichheit. Aber gerade dadurch werden die faktischen Ungleichheiten in
Macht, Reichtum und Prestige um so auffälliger. Demokratie impliziert normative
Gleichheit, und daraus folgt, daß alle ständig mit der Vermessung von
Diskrepanzen beschäftigt sind. So entsteht Ressentiment. Die Verschiedenheiten
vermindern sich, aber die Gleichheitserwartungen wachsen. (Ebd., S. 14-15).Das
Paradoxon, daß gerade im wachsenden wirtschaftlichen Wohlstand die kulturelle
Frustration wächst, stößt uns auf das Problem der sozialen Knappheit
(**). Wir können uns immer
mehr leisten, aber es befriedigt immer weniger. Warum? Es geht hier nicht um die
natürlichen Grenzen, sondern um die sozialen Grenzen des wirtschaftlichen
Wachstums. Soziale Knappheit bedeutet, daß sich eine Kluft auftut zwischen
den Möglichkeiten jedes Einzelnen und dem, was gesellschaftlich möglich
ist. (Ebd., S. 15).Hier muß man sich noch einmal an
die Grundidee der Konservativen und Liberalen erinnern, die ja darin besteht,
die Frage der Umverteilung des Reichtums durch das Angebot der Teilhabe am Wachstum
der Wirtschaft zu verdecken. Durch robustes wirtschaftliches Wachstum wird die
Lage jedes Einzelnen positiver verändert, als das durch Umverteilung in Stagnation
möglich wäre. Und dieses wirtschaftliche Wachstum wird gerade durch
die Beobachtung von Konsummöglichkeiten angetrieben, die zunächst einmal
nur den Erfolgreichen an der Spitze offenstehen. Die so entstehenden neuen Wünsche
werden erfüllt - im Lauf der Zeit. D.h. der Luxus dieser Generation wird
zum Standard der nächsten und zur selbstverständlichen Grundausstattung
der übernächsten. Die Erfolgreichen bilden die Avantgarde des Konsums,
und es ist gerade die Ungleichheit, die die anderen antreibt, es ihnen gleichzutun.
So breiten sich die guten Dinge des Lebens allmählich von oben nach unten
aus. (Ebd., S. 15).Diese erzliberale Strategie scheitert
aber am Wettbewerb um die besten Plätze. Hier gilt: Wenn es einigen besser
gegen soll, muß es anderen schlechter gehen. Software kann man ohne Mehrkosten
millionenfach verteilen. Mein Haus dagegen, das auch mein Nachbar kaufen wollte,
gibt es nur einmal. Kommunikation ist nicht knapp, wohl aber das Recht, die Umwelt
zu verschmutzen. Fernsehunterhaltung ist nicht knapp, wohl aber die Chance, ungestört
und angenehm zu reisen. Information ist nicht knapp, wohl aber Mobilität.
Die Nachfrage nach Gesundheit und Bildung wird in Zukunft das Angebot weit übersteigen.
Das liegt daran, daß es sich im Kern um persönliche Dienstleistungen
handelt, deren Produktivität kaum erhöht werden kann. Auch hier ist
wachsende Ungleichheit programmiert. Genau so dramatisch ist die Situation im
Erziehungssystem. Im Wettkampf um die guten Plätze spielt die Bildung eine
Schlüsselrolle. (Ebd., S. 15).Der Wettbewerb um die
besten Plätze ist ein Nullsummenspiel. Jeder kann heute CEO werde, denn die
soziale Herkunft spielt formal keine Rolle mehr, aber nicht jeder kann es sein,
denn die Spitzenpositionen sind knapp. Das ist ein gutes Beispiel dafür,
wie Gleichheit Ungleichheit erzeugt. Es läßt sich nie im voraus sagen,
wer was zu sagen haben wird. Die Herkunft ist unwichtig, die Zukunft unklar -
das ist die moderne Gleichheit, die ständig systemspezifische Ungleichheiten
erzeugt. (Ebd., S. 15-16).Wer ein absolut knappes Gut besitzt,
genießt nicht nur das Gut sondern auch seine Knappheit. Es ist immer auch
ein Statussymbol, mit dem ich markieren kann, daß ich im Rennen um die besten
Plätze ganz vorne liege. Wer etwas Seltenes besitzt, genießt den Neid
der anderen. Daß der Nachbar entbehrt, was ich besirze, macht den eigentlichen
Reiz der Sache aus. Es geht hier also um Produkte, deren Qualität sich dadurch
vermindert, daß immer mehr Menschen sie wollen. Der Tourismus ist hierfür
ein gutes Beispiel. Venedig wäre eine Zauberwelt - wenn die anderen nicht
wären. Der Tourist sucht das Unvergleichliche und zerstört es, indem
er es findet. (Ebd., S. 16).Das meiste
von dem schönen Leben, das uns die bunten Zeitschriften und Boulevard-Magazine
zeigen, ist für die meisten von uns unerreichbar. Und das, was die vielen
dann doch erreichen können, verliert genau deshalb an Wert. Soziale Knappheit
(**) heißt also: Was der
Einzelne sich wünscht und als Einzelner auch bekommen kann, kann die Gesellschaft
niemals erreichen. (Ebd., S. 16).Nicht Armut sondern soziale
Knappheit (**) und erlernte
Hilflosigkeit sind die zentralen Probleme der westlichen Welt. Deshalb erwarten
die Bürger ihre Lösung auch nicht von der Wirtschaft, sondern vom Staat.
In der Demokratie sind alle Bürger unabhängig und schwach. Zunehmend
mischt sich der Staat auch in die geringfügigsten Angelegenheiten der Bürger
ein. Er sorgt für die Gesundheit, die Arbeit, die Erziehung und Bildung seiner
Bürger. Aber er sorgt auch für unsere geistige Gesundheit und flößt
uns die korrekten Gefühle und Ideen ein. In den modernen Massendemokratien
sind die Regierenden keine Tyrannen mehr, sondern Vormünder. Und die Regierten
bewegen sich im Hamsterrad der kleinen Lüste und Vergnügungen gleich,
einförmig und rastlos. (Ebd., S. 16).Wohlfahrtsstaatspolitik
erzeugt Unmündigkeit, also jenen Geisteszustand, gegen den jede Aufklärung
kämpft. Und so wie es des Mutes bedarf, um sich des eigenen Verstandes zu
bedienen, so bedarf es des Stolzes, um das eigene Leben selbständig zu leben.
Wie für das Mittelalter ist deshalb auch für den Wohlfahrtsstaat der
persönliche Stolz die größte Sünde. Vater Staat will nämlich
nicht, daß seine Kinder erwachsen werden. Der Paternalismus des vorsorgenden
Sozialstaates wird den Menschen aber nicht nur aufgezwungen - sie begehren ihn,
denn er entlastet sie von der Bürde der Freiheit. Die verwaltete Welt ist
für viele eine Wunscherfüllung. (Ebd., S. 16-17).Die
umfassend Betreuten brauchen gar keinen freien Willen mehr und empfinden die totale
Vorsorge als Wohltat. Der demokratische Despotismus entlastet - vom Ärger
des Nachdenkens genauso wie von der Mühe des Lebens. Ein Netz präziser,
kleiner Vorschriften liegt über der Existenz eines jeden und macht ihn auch
in den einfachsten Angelegenheiten des Lebens abhängig vom vorsorgenden Sozialstaat.
Die Betreuer verstehen sich als die guten Hirten einer fleißigen Herde.
Und die wenigen Widerstrebenden werden nicht gezwungen, sondern entmutigt; sie
werden nicht tyrannisiert, sondern zermürbt. (Ebd., S. 17).Der
vorsorgende Sozialstaat operiert mit drei Kurzfehlschlüssen: er schließt
von Ungleichheit auf Benachteiligung, von Benachteiligung auf soziale Ursachen
und von sozialen Ursachen auf paternalistische Maßnahmen. Damit übernimmt
er die Gesamtverantwortung für die moderne Gesellschaft. Auch als er noch
nicht so hieß, hat der vorsorgende Sozialstaat die neuen Untertanen gezüchtet
- die betreuten Menschen. Sicherheit verdanken die meisten heute nicht mehr dem
Gesetz, sondern der staatlichen Fürsorge. Im vorsorgenden Sozialstaat wird
diese Daseinsfürsorge präventiv: Es wird geholfen, obwohl es noch gar
keinen Bedarf gibt. Konkret funktioniert das so, daß die Betreuer den Fürsorgebedarf
durch die Erfindung von Defiziten erzeugen. Der Wohlfahrtsstaat fördert also
nicht die Bedürftigen, sondern die Sozialarbeiter. (Ebd., S. 17).»Soziale
Gerechtigkeit« (**)
als Umverteilung sorgt für die politische Stabilisierung der Unmündigkeit;
sie bringt den Menschen bei, sich hilflos zu fühlen. Bei wohlfahrtsstaatlichen
Leistungen muß man nämlich damit rechnen, daß der Versuch, den
Opfern zu helfen, das Verhalten reproduziert, das solche Opfer produziert. Wer
lange wohlfahrtsstaatliche Leistungen bezieht, läuft Gefahr, eine Wohlfahrtsstaatsmentalität
zu entwickeln; von Kindesbeinen an gewöhnt man sich daran, von staatlicher
Unterstützung abzuhängen. Und je länger man von wohlfahrtsstaatlichen
Leistungen abhängig ist, desto unfähiger wird man, für sich selbst
zu sorgen. (Ebd., S. 17).Umverteilungspolitik reduziert also
nicht die Armut, sondern die Kosten der Armut. Jede Transferleistung reduziert
nämlich den Anreiz, die Armut durch eigene Produktivität zu überwinden.
Mit anderen Worten: Die meisten politischen Hilfsprogramme ermutigen eine Lebensführung,
die zur Armut führt. Die Massenmedien besorgen dann den Rest: Man lernt,
sich hilflos zu fühlen, wenn man andere beobachtet, die unkontrollierbaren
Ereignissen ausgesetzt sind. Und so sehnt man sich nach dem schützenden Vater,
der in der vaterlosen Gesellschaft natürlich nur noch der Staat sein kann.
(Ebd., S. 17-18).Die totale Daseinsvorsorge nimmt den Selbständigen
das Geld und den Betreuten die Würde. Was die Würde des Menschen also
wirklich antastet, ist gerade die Wohltat des Staates, die ihn abhängig macht.
So produziert die Politik des Wohlfahrtsstaates, also typisch Umverteilung und
Reichensteuer, paradoxe Effekte. Die Wohlfahrtsempfänger verlieren ihre Würde,
weil sie sich das, was sie bekommen, nicht verdienen können. Die Produktiven
folgen der Logik des ökonomischen Darwinismus und werden noch produktiver,
um tatsächlich die »starken Schultern« zu entwickeln, auf denen
die Lasten der »sozialen Gerechtigkeit« (**)
ruhen. (Ebd., S. 18).Alle Sozialleistungen, an die wir uns
gewöhnt haben, nehmen die Form von Rechtsansprüchen an. Dadurch verwandeln
sich alle Unfälle in Sozialfälle. Eine Politik, die davon lebt, kann
dauerhaft natürlich nur betrieben werden, wenn die Gesellschaft ständig
Ungleichheit produziert bzw. die Empfindlichkeit für Unterschiede steigert.
Diese wachsende Abweichungsempfindlichkeit hat ihren Preis. An die Stelle von
Freiheit und Verantwortung treten Gleichheit und Fürsorge. (Ebd., S.
18).Vor allem in Fragen des Geschlechterverhältnisses, der
Gesundheit und der Bildung erwartet die moderne Gesellschaft ganz selbstverständlich
gleiche Behandlung für alle, die durch immer neue »Rechte« gewährleistet
werden soll. Da diese Erwartung aber so unrealistisch wie selbstverständlich
ist, erzeugt sie bei den Begünstigten eine permanente Unzufriedenheit. Um
diese Unzufriedenheit von sich abzulenken, verspricht die Regierung dann regelmäßig
»mehr Gleichheit«. So können die Bürger Begünstigungen
von Anrechten kaum mehr unterscheiden. (Ebd., S. 18).Nach
dem Grundgesetz leben wir in einem sozialen Rechtsstaat, doch Rechtsstaat und
Sozialstaat stehen nicht in prästabilierter Harmonie. Der Rechtsstaat gewährleistet,
der Sozialstaat gewährt. Gegen die Abhängigkeit vom leistenden, gewährenden
Staat bietet die Rechtsstaatlichkeit heute keinen rechten Schutz mehr. Deshalb
droht uns ständig, durch Betreuung beherrscht zu werden - erst betreut, dann
abhängig, dann gebeugt. (Ebd., S. 18).Doch Betreuung
ist in der modernen Gesellschaft nicht mehr das einfache Gegenteil der Selbständigkeit.
Modernes Leben steht nämlich unter dem Motto: je freier, desto abhängiger.
Um selber mehr leisten zu können, macht man sich von fremden Leistungen abhängig.
Man verzichtet auf Herrschaft, um besser steuern zu können. Abhängigkeit
von staatlichen Leistungen und Spielräume der Existenz wachsen miteinander.
Deshalb kann die Lösung des Problems nicht darin bestehen, einfach »weniger
Staat« zu wagen. Vielmehr geht es um das rechte Verständnis des sozialen
Rechtsstaats. (Ebd., S. 18-19).Wir müßten
begreifen, daß das Wort »sozial« selbst keinen juristischen
Sinn hat, sondern ein rein politischer Zielbegriff ist, der vor allem auf die
Güterverteilung bezogen ist. Der Kern des Rechtsstaats ist die Verfassung,
die gewährleistet, der Kern des Sozialstaats ist die Verwaltung, die gewährt.
Diese Spannung kann man nicht abbauen, sondern nur institutionalisieren. Und aus
all dem folgt für unser Thema: Man sollte die Entzweiung von Rechtsstaat
und Sozialstaat positivieren, statt sie durch den Tabubegriff der »sozialen
Gerechtigkeit« (**)
zu verdecken. An der Gerechtigkeit muß man arbeiten wie an einem Mythos.
Und hier ist der Bürger der Held. (Ebd., S. 19).Soziologisch
betrachtet, gilt: Es gibt keine gerechte Gesellschaft
(**).
Aber politisch betrachtet, scheint es unerträglich, daß Gerechtigkeit
zu einem formalen Sonderwert des modernen Rechtssystems kondensiert werden soll.
Um die Grenzen der möglichen Gerechtigkeit zu erkennen, braucht man die Tapferkeit
der Bürgerlichkeit. Sie besteht darin, auf ein Konzept von Glück als
Wunscherfüllung zu verzichten. Die Tapferkeit des Bürgers bewährt
sich darin, daß er seine Identität in der rituellen Aufrechterhaltung
der sozialen Situation sucht, seine Würde im Konsumiertwerden durch die Institutionen
findet und in der Funktionsfähigkeit der sozialen Systeme das moderne Äquivalent
für Gerechtigkeit anerkennt. Modernisierung erscheint hier als ein Prozeß,
der die Menschen zwingt, vom alten Perfektionsideal der Gerechtigkeit Abschied
zu nehmen und sich zunächst mit der Rechtssicherheit, schließlich aber
nur noch mit der Funktionsfähigkeit der sozialen Systeme zu begnügen.
Modern setzen wir also nicht auf eine gerechte Gesellschaft, sondern auf eine
funktionsfähige. (Ebd., S. 19).Wir sollten zufrieden
sein mit dem, was gut genug ist, statt mit absurdem Aufwand nach der optimalen
Lösung zu suchen. Also genug statt gleich viel. Das hat nichts mit Bescheidenheit,
sondern lediglich mit der Einsicht in den sinkenden Grenznutzen aller Gleichstellungsbemühungen
zu tun. Nüchtern betrachtet, kann Gleichheit unter modernen Lebensbedingungen
nur heißen: Inklusion, die Möglichkeit der Teilnahme aller an den sozialen
Systemen. Und wer alle integrieren will, muß auf die Gleichheit aller verzichten.
(Ebd., S. 19).Die sozialen Unterschiede sind der Preis, den wir
für die Freiheit in der modernen Gesellschaft bezahlen müssen. Sie sind
erträglich, solange jedem die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs offen
steht; solange die Konflikte zwischen den sozialen Klassen nicht in Feindschaft
sondern in »Partnerschaft« ausgetragen werden; und solange der Staat
die Rahmenbedingungen des Daseins garantiert. Egalitarismus dagegen ist eine Anleitung
zum Unglücklichsein. (Ebd., S. 19-20).Die Schwierigkeit
einer möglichen Gerechtigkeit liegt allerdings darin, daß sich »gleich
viel« vielleichter berechnen läßt als »genug«. Und
genug heißt heute: genug für ein gutes Leben. Wir müssen unterscheiden
lernen zwischen der vernünftigen Forderung, daß jeder genug haben soll,
und der utopischen Forderung, daß jeder gleich viel haben soll. Daß
es einem schlechter geht als anderen, kann immer noch heißen, daß
es einem gut genug geht. Wer dagegen auf Gleichheit fixiert ist, bemißt
seine Lebenszufriedenheit nicht an dem, was ihm selbst zur Verfügung steht,
sondern an dem, was anderen zur Verfügung steht. Die Sorge um die Gleichheit
lenkt ihn ab von der Sorge um sich, also von der Frage, was wirklich wichtig ist.
(Ebd., S. 20).
Tocquevilles unheimliche Aktualität
Das
Thema dieses Buches ist das alte Thema des Aristokraten Alexis de Tocqueville:
die Gefährdung der Freiheit durch die Gleichheit. Ich halte dieses Thema
für aktueller denn je. Man ist hier natürlich sehr leicht versucht,
Partei zu ergreifen: Partei für die Gleichheit gegen die Freiheit, Partei
für die Freiheit gegen die Gleichheit. Von Tocqueville können wir aber
lernen, wie man es besser macht. Er hat das Problem gleichsam »stereoskopisch«
betrachtet, vom Blickpunkt Gottes aus, wie er selbst gesagt hat. Tocqueville beläßt
es nicht bei einer Kulturkritik der Massendemokratie, ihrer Glanzlosigkeit, Einförmigkeit,
Mittelmäßigkeit und bequemen Friedlichkeit. Er sieht auch die neue
Größe der Gerechtigkeit, die die demokratische Leidenschaft für
die Gleichheit gebracht hat; er will das neue Gute retten. Darin ist er bis heute
unübertroffen. (Ebd., S. 21).Es gibt keinen Text des
19. Jahrhunderts, der für unser Thema eine größere Bedeutung und
Aktualität hat als Alexis de Toquevilles Betrachtungen über die Demokratie
in Amerika (**).
Seine entscheidende Ausgangsbeobachtung ist die, daß moderne demokratische
Gesellschaften zwar die Freiheit lieben, daß Freiheit aber nicht das wesentliche
Ziel ihrer Wünsche ist. Die ewige Liebe der Demokraten gilt der Gleichheit.
Und hier trifft Toqueville nun eine bedeutsame Unterscheidung. Es gibt eine berechtigte
Leidenschaft für die Gleichheit, die die Menschen anspornt, sich um die Anerkennung
und Achtung von ihresgleichen zu bemühen - man könnte sagen: eine Leidenschaft
für die Gleichheit aus Stärke. Aber es gibt auch eine entartete Gleichheitssucht,
wo die Schwachen versuchen, die Starken auf ihr Niveau herabzuziehen - also eine
Leidenschaft für die Gleichheit aus Schwäche. Und in dieser Gleichheitssucht
steckt die größte Gefahr der modernen Demokratie, nämlich die
Verlockung, einer Ungleichheit in der Freiheit die Gleichheit in der Knechtschaft
vorzuziehen. (Ebd., S. 21).Freiheit und Gleichheit erweisen
sich im Zeitalter der Demokratie als ungleiche Dinge. Der Preis der Freiheit ist
sofort spürbar; der Preis der Gleichheit macht sich erst allmählich
bemerkbar. Und umgekehrt: Die Wohltaten der Freiheit zeigen sich erst allmählich,
aber die Wohltaten der Gleichheit spürt man sofort. Es kann deshalb nicht
überraschen, daß die Leidenschaft für die Gleichheit sehr groß,
die Liebe zur Freiheit aber nur sehr mäßig temperiert ist. Und daß
man im Zweifel die Freiheit der Gleichheit opfert - lieber Barbarei als Aristokratie.
(Ebd., S. 21-22).Zu den großen, aktuellen Themen Tocquevilles
gehört die Versklavung des demokratischen Lebens durch die Tyrannei der öffentlichen
Meinung. Und auch heute gilt ja noch: Nichts fürchtet die Regierung mehr
als einen selbständig denkenden Menschen. Nietzsche hat einmal gesagt, der
große Mensch sei »ohne Furcht vor der Meinung« (Friedrich
Nietzsche, Werke, Band III, S. 846). Und das heißt eben auch umgekehrt,
daß massendemokratische Gesellschaften, die große Menschen ja nicht
mehr kennen, durch die Furcht vor der Meinung der anderen zusammengehalten werden.
Je weniger sich die Meinungen der Einzelnen in der massendemokratischen Öffentlichkeit
zur Geltung bringen können, desto stärker wird der Druck der öffentlichen
Meinung auf den Enzelnen und sein Meinen. Man könnte auch sagen: Die öffentliche
Meinung zähmt das Meinen. (Ebd., S. 22).Die in der modernen
Welt unabweisbare Forderung der Gleichheit führt zu einem Autoritätsverlust,
den jeder Einzelne als Orientierungslosigkeit erfährt; und deshalb ergibt
sich der Massendemokrat widerstandslos der Tyrannei der öffentlichen Meinung.
Ich verstehe nicht, was los ist, nehme aber an, daß alle anderen verstehen,
was los ist. Es gibt aber die Möglichkeit, daß sich die meisten Menschen
in ihrem Urteil über die Meinung der meisten Menschen irren. Dieser Irrtum
potenziert sich dann in der öffentlichen Meinung über die öffentliche
Meinung. Wenn sich aber die Mehrheit über die Mehrheit täuscht, muß
dem eine Angstdynamik zugrunde liegen, die so alt ist wie die Demokratie: die
Angst, von der Mehrheit geächtet zu werden. Man glaubt, was andere glauben,
weil sie es glauben. Und wer zu einem Thema bisher eine andere Meinung hatte,
kann sie ohne Gesichtsverlust ändern, wenn und solange er anonym bleibt,
also schweigt. Aus Angst vor Isolation beobachtet man ständig die öffentliche
Meinung. Und öffentlich heißt eben genau die Meinung, die man ohne
Isolationsangst aussprechen kann: Was man so sagt. (Ebd., S. 22).Doch
was man sagt, ist in Demokratien zumeist die Meinung gut artikulierter Minderheiten.
In der Mediendemokratie der Gegenwart werden die Menschen durch eine Sprache versklavt,
die als die unwiderrufliche der Mehrheit auftritt. Deshalb kann man vermuten,
daß die öffentliche Meinung nicht der Majorität, sondern der Orthodoxie,
die heute Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**)
heißt, zum Ausdruck verhilft. Und da es auf Dauer zu anstrengend ist, anders
zu denken als man redet, denken die meisten auch schon politisch korrekt. Heute
dürfen die meisten Menschen sagen und schreiben, was sie wollen, weil sie
ohnehin dasselbe denken. (Ebd., S. 22-23).All das hat Tocqeville
schon genau gesehen. Doch auch hier bestechen die Beobachtungen des Aristokraten
durch ihre besonnenen Unterscheidungen. Zunächst einmal hält Tocqueville
fest, daß keine Gesellschaft ohne dogmatische Überzeug leben kann,
die der Einzelne ungeprüft, auf Treu' und Glauben übernimmt. Die Kürze
des Lebens und die Grenzen des Verstandes machen es unmöglich, alle Lebensumstände
selbst zu erforschen. Auch demokratische Gesellschaften brauchen geistige Autorität,
und es gibt keine vernünftige Alternative dazu, sich bestimmte Meinungen
im Vertrauen auf andere zu eigen zu machen. Sehr schön spricht Tocqueville
hier von einer »heilsamen Unterwerfung« (Alexis de Tocqueville, Über
die Demokratie in Amerika, 1831-1832, S. 584), denn sie macht überhaupt
erst einen sinnvollen Gebrauch von Freiheit möglich. (Ebd., S. 23).Doch
die strikte demokratische Orientierung am Ideal der Gleichheit verwandelt diese
heilsame Unterwerfung in eine neue Form von Tyrannei. Denn je größer
die Gleichheit zwischen den Bürgern ist, desto geringer wird die Bereitschaft
des Enzelnen, einem bestimmten anderen zu glauben oder gar zu gehorchen. Gerade
weil die Menschen sich als gleichartig verstehen, glauben sie nicht aneinander.
Gleichzeitig aber wächst die Bereitschaft, an die größte Zahl,
an die Masse zu glauben. Man mißtraut dem Nächsten und hat gleichzeitig
ein unbegrenztes Vertrauen in die öffentliche Meinung. Ich glaube nicht dir,
sondern der Statistik. (Ebd., S. 23).Tocqueville sieht also
schon sehr klar, daß es in modernen Demokratien nicht um Argumente und Überzeugung
geht, sondern daß die öffentliche Meinung einen geistigen Druck ausübt,
dem sich niemand entziehen kann. Das ist aber nicht mehr jene heilsame Knechtschaft
einer freiwilligen Unterwerfung unter die geistige Autorität der Gesellschaft,
sondern ein neues Gesicht der Knechtschaft. Dieses Gesicht hat 170 Jahre nach
Tocqueville noch deutlichere Konturen bekommen. Wir beschreiben es gleich unter
dem Titel »Politische Korrektheit« (**|**|**|**|**|**|**|**|**).
(Ebd., S. 23).In der Demokratie sind alle Bürger unabhängig
und schwach. Sie erwarten deshalb nichts vom Nächsten, aber alles vom Staat.
Tocqueville hat dieses Grundproblem der Demokratie in aller Schärfe gesehen
und war deshalb in der Lage, unseren heutigen »vorsorgenden Sozialstaat«
vorauszusehen. Zunehmend mischt sich der Staat auch in die geringfügigsten
Angelegenheiten der Bürger ein. Er sorgt für die Gesundheit, die Arbeit,
die Erziehung und Bildung seiner Bürger und präsentiert sich so als
Helfer in allen Nöten. Aber er sorgt auch für unsere geistige Gesundheit
und flößt uns die korrekten Gefühle und Ideen ein. (Ebd.,
S. 23-24).Diese Beobachtungen Tocquevilles münden in ein grandioses
Kapitel über demokratischen Despotismus, in dem er eine welthistorisch neue
Form von Unterdrückung beschreibt. Tocqueville bemerkt sofort, daß
traditionelle Begriffe wie Tyrannei und Despotie eigentlich nicht mehr zur Beschreibung
taugen, ohne daß er doch einen neuen Begriff anbieten könnte. Was ist
also mit demokratischem Despotismus gemeint? In den modernen Massendemokratien
sind die Regierenden keine Tyrannen mehr, sondern Vormünder. Und die Regierten
bewegen sich im Hamsterrad der kleinen Lüste und Vergnügungen - gleich,
einförmig und rastlos. Es ist faszinierend zu sehen, wie genau sich Tocquevilles
Beschreibung des massendemokratischen Alltags mit der Figur des »letzten
Menschen« trifft, der wenige Jahre später in »Also sprach Zarathustra«
die Bühne betreten wird. (Ebd., S. 23-24).Der demokratische
Despotismus ist die Herrschaft der Betreuer, eine gewaltige, bevormundende Macht,
die das Leben der Vielen überwacht, sichert und vergnüglich gestaltet.
Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich
und mild. Sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese
das Ziel verfolgte, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten; statt dessen
aber suchen sie bloß, sie unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten.
(Ebd., S. 24).Die umfassend Betreuten brauchen gar keinen freien
Willen mehr und empfinden die totale Vorsorge als Wohltat. Der demokratische Despotismus
entlastet - vom Ärger des Nachdenkens genauso wie von der Mühe des Lebens.
Ein Netz präziser, kleiner Vorschriften liegt über der Existenz eines
jeden und macht ihn auch in den einfachsten Angelegenheiten des Lebens abhängig
vom vorsorgenden Sozialstaat. Die Betreuer verstehen sich als die guten Hirten
einer fleißigen Herde. Die Widerstrebenden werden nicht gezwungen, sondern
entmutigt; sie werden nicht tyrannisiert, sondern zermürbt. So entsteht eine
Art von geregelter, milder und friedsamer Knechtschaft. Und niemand scheint sich
an der Bevormundung, der Herrschaft der Betreuer zu stören, weil man sich
ja einreden kann, die Vormünder selbst gewählt zu haben. (Ebd.,
S. 24).Der Staatsrechtler Carl Schmitt hat immer wieder betont,
daß nur Gott aus nichts etwas schaffen kann. Aber die Aufklärung über
den Vorrang der Nahme verändert nichts an dem Bedürfnissen der Menschen,
den Götzen Sozialstaat und sein Ritual der Umvert, hat Dostojewskiis Großinquisitor
unüberbietbar formuliert: »Wenn sie aus unseren Händen die Brote
empfangen, werden sie natürlich sehen, daß wir diese Brote, das Werk
ihrer eigenen Hände, ihnen nehmen, um sie unter ihnen zu verteilen, daß
von einem Wunder nicht die Rede sein kann; sie werden sehen, daß wir mitnichten
Steine in Brot verwandeln, aber sie werden wahr und wahrhaftig, mehr noch als
über das Brot, sich darüber freuen, daß sie es aus unseren Händen
erhalten!« (Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Die Brüder
Karasamov, 1879-1880, S. 417). (Ebd., S. 24-25).»Tragisch«
ist ein Adjektiv, das man sparsam verwenden sollte. Aber es drängt sich doch
unwiderstehlich auf, wenn man das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit
in der modernrn Gesellschaft charakterisieren soll. Gerhard Leibholz, Jurist und
Richter am Bundesverfassungsgericht, hat das schon vor einem halben Jahrhundert
formuliert. Das Grundprinzip der Demokratie, Gleichheit, »widerstreitet
in ihrer grundsätzlichen Tendenz ebenso der Freiheit, wie diese der Gleichheit
entgegengesetzt ist. Die Gleichheit bedarf der Freiheit nur insofern, als und
soweit sie mit ihrer Hilfe ein höheres Maß von Gleichheit sichern kann.«
(Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1958, S. 66).
Schon die Jakobiner haben die Freiheit auf dem Altar der Gleichheit geopfert.
Und man kann die berühmte Parole der französischen Revolution
- Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (**)
- eben so verstehen, daß man das Phantom der Brüderlichkeit braucht,
um den Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit zu verdecken. (Ebd.,
S. 25).Seit der französischen Revolution ist die Gleichheit
aller Menschen eine institutionalisierte Vorstellung, oder um es mit dem Sozialanthropologen
Arnold Gehlen zu sagen: eine »obligatorisch gewordene Fiktion« (Arnold
Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 1956, S. 210), die die Wahrnehmung
der sozialen Wirklichkeit prägt. Und schon damals trat die Freiheit hinter
die Politik der Verminderung des Elends zurück. Seither ist Mitleid die zentrale
politische Tugend. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit miteinander zu
verknüpfen war der große semantische Coup der französischen
Revolution (**).
Die Betreuer dieser Werte stehen heute aber in feindlichen Lagern: Liberale (**),
Sozialisten (**) und Humanitaristen
(**). (Ebd., S. 25).
**Da
ist, erstens, der Liberalismus, der den Spitzenwert der Freiheit betreut. Wer
fragt »Freiheit wozu?« ist für den echten Liberalen ein
Knecht. Und allein das macht schon deutlich, daß wir es hier mit einer Minderheitenposition
zu tun haben. Die erhabene Lust, frei zu sein, ist dem Geist der Massendemokratie
fremd. Zwar wollen auch die Menschen in modernen Massendemokratien auf: dem Bedürfnis,
geführt zu werden. Auch das ist eine Freiheit. Aber das Freiheitsverlangen
tritt immer gemeinsam mit einer ihm feindlichen Leidenschaft Einsicht Tocquevilles.
(Ebd., S. 26).Was der Liberale in der Frage nach dem Wozu der Freiheit
spürt, ist die Angst vor der Freiheit, der es eben an einer Autorität
mangelt, der man sich unterwerfen könnte. Und tatsächlich hat Freiheit
ihren Preis. Mehr Optionen verbessern nämlich nicht unbedingt die Situation.
Manchmal wäre man froh, weniger Wahlmöglichkeiten zu haben. Hinzu kommt
die höhere Riskanz des freien Lebens. Das war ja schon die Lektion der alten
Griechen: Auf der Spitze der Freiheit beginnen die Menschen zu spielen, und zwar
Nullsummenspiele, in denen der eine gewinnt, was der andere verliert - in genauem
Gegensatz zum Tausch auf dem Markt. Es geht um Rivalität und Wettbewerb;
und deshalb hatten vormoderne Kulturen ein positives Verhältnis zum Krieg.
(Ebd., S. 26).All das macht verständlich, warum es für
die meisten Menschen Wichtigeres gibt als die Freiheit. Sie ist eine unwahrscheinliche
evolutionäre Errungenschaft der westlichen Welt, die weder in anderen Kulturen
noch in der Natur des Menschen verankert ist. Für den Liberalen ist Freiheit
der einzig gangbare Weg zur Gleichheit. Für den Sozialisten ist Gleichheit
die Bedingung konkreter Freiheit. Insofern war der viel
kritisierte Wahlkampfslogan »Freiheit oder Sozialismus« (**)
- wir werden allerdings später noch einen wichtigen Vorbehalt anbringen!
- sachlicher als alles, was uns seither von den Parteizentralen angeboten
worden ist. (Ebd., S. 26).Und damit
sind wir, zweitens, beim Sozialismus, der einen Kult der Gleichheit zelebriert.
In liberaler Betrachtung ist der Sachverhalt klar: Mit der aggressiven Forderung
der Gleichheit bedroht die Gesellschaft die Freiheit des Einzelnen. Die Gemeinnützigkeit
frißt das Privatrecht auf; der Kampf gegen die Privilegien schlägt
in einen Haß gegen Verschiedenheit überhaupt um. Was als Freiheitsliebe
erschien, war nur die Wut auf den Herrn. Auch das zeigt die Geschichte der französischen
Revolution. Freiheit und Gleichheit kämpfen zunächst gemeinsam,
aber sie trennen sich nach dem Sieg. Nur solange die Gleichheit die Freiheit politisch
benutzen kann, stehen Gleichheit und Freiheit im Bündnis. Nur im Kampf gegen
autokratische Machthaber sind Freiheit und Gleichheit Verbündete. Der Kult
der siegreichen Gleichheit fordert dann aber rasch das Opfer der Freiheit. Er
wird so fanatisch, daß er die Knechtschaft in Kauf nimmt. (Ebd., S.
26).Die zweihundert Jahre von der Französischen bis
zur feministischen Revolution bieten uns eine Fülle von Beispielen
dafür, daß bei jeder Emanzipation Freiheit nur die Maske der Gleichmacherei
ist. Und wenn man bedenkt, daß Emanzipation wörtlich heißt: aus
der Hand des Herrn entlassen, dann macht jede Verheißung der Emanzipation
aus den Angesprochenen Sklaven. So vollendet sich heute - trotz anhaltenden Widerstands
einiger »unvernünftiger« Völker - in Brüssel die europäische
Demokratie in einer neuen, sublimen Sklaverei. Luther predigte spirituelle Freiheit
in (zum Teil) politischer Knechtschaft; wir haben
heute spirituelle Knechtschaft in (zum Teil) politischer
Freiheit. (Ebd., S. 26-27).Sozialismus ist der Fetischismus
der Gleichheit. Man tut so, als wäre Gleichheit ein Wert an sich - und daraus
folgt dann zwingend, daß Ungleichheit an sich ein ethisches Problem ist.
Daß es sich hier um reine Wortpolitik handelt, ist für jeden Beobachter
der modernen Gesellschaft evident. Aber die sozialistische Rhetorik verfängt
gerade, weil sie »kontrafaktisch« ist. Wie der Soziologe Niklas Luhmann
im Rückblick auf die Heldenzeit des Republikanismus formuliert: »Die
Gesellschaft konnte Freiheit und Gleichheit für alle proklamieren, da ihre
Funktionssysteme den umgekehrten Zustand generierten.« (Niklas Luhmann,
Aufsätze und Reden, S. 289). Realistischerweise kann Gleichheit heute
aber nur heißen: Inklusion, die freigestellte Teilnahme aller an allen sozialen
Systemen. Und aus der Perspektive eines funktionierenden Staates gibt es Gleichheit
nur als Gleichgültigkeit. (Ebd., S. 27).Bleibt
schließlich, drittens, die Übersetzung der Brüderlichkeit in die
Ideologie des Humanitarismus. Auch diese Sehnsucht nach Einheit richtet sich gegen
die Freiheit. Freigesetzt wird man nämlich durch Trennungen. Und nur das
völlig Unterschiedene kann man dann auch lieben. Leben ist Stückwerk,
nicht die große Kette der Wesen - so zumindest müßte ein Christ
es sehen. Doch der Humanitarismus der christlichen Kirchen dreht sich heute um
den Gottesdienst der Gleichstellung. (Ebd., S. 27).Wir werden
von der Sprache leicht dazu verführt, Humanitarismus mit Humanität zu
assoziieren. Das ist aber irrig. Man könnte eher sagen: Humanitarismus ist
der Kampf gegen die Humanität, sofern es darum geht, alle Unterschiede zwischen
den Menschen und dem anderen Lebendigen zu nivellieren. Die Emanzipation hört
bei Sklaven, Frauen und Kindern nicht auf. Jetzt fordert man Rechte und Gerechtigkeit
für Menschenaffen. Da kann auch die »biosphärische Gleichheit«
der radikalen Ökologie nicht mehr überraschen, die Menschen auf die
gleiche Stufe mit allem anderen Leben stellt. (Ebd., S. 27).Die
Umweltaktivisten sind Schüler des Monisten Ernst Haeckel. Er hat nicht nur
den Begriff Ökologie geprägt, sondern auch erstmals Rechte für
Tiere gefordert und vorgeschlagen, den christlichen Gottesdienst durch die Verehrung
der Großen Mutter Natur zu ersetzen. Dem entspricht heute ein biozentrischer
Gleichheitsbegriff, der allen Organismen der Erde den gleichen inneren Wert zuschreibt.
Tiere haben aber keine Rechte. Wir verbieten uns nur, sie zu quälen. Und
wir gebieten uns, sie zu schützen. Es ist einfach ein logischer Fehlschluß,
aus Gesetzen gegen Tierquälerei ein Recht der Tiere abzuleiten. Menschen
und Tiere sind nicht gleich. (Ebd., S. 27-28).Aber am Ende
wird man wohl auch das Lebensrecht der Pflanzen auf die humanitaristische Agenda
setzen. Und bereits heute gibt es Leute, die nur Früchte essen, die schon
vom Baum gefallen sind. Hier wird die Evolutionstheorie zur kosmischen Religion
umfunktioniert: Die Natur ist unsere Mutter! Jeder Christ sollte aber wissen,
daß das falsch ist. G. K. Chesterton sagte einmal, daß jeder, der
die Natur als seine Mutter verehrt, herausfinden wird, daß sie nur seine
Stiefmutter ist. (Ebd., S. 28).Kein
Phänomen unserer Zeit bestätigt die unheimliche Aktualität Tocquevilles
eindringlicher als die Sprachpolitik der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**).
Sie sabotiert die Meinungsfreiheit. Das hat der Wirtschaftswissenschaftler Carl
Christian von Weizsäcker sehr gut erkannt: »Wenn zwar formal Meinungsfreiheit
besteht, jedoch in Wirklichkeit die Äußerung abweichender Meinungen
von denen bestraft wird, die die Macht haben, dann herrscht keine eigentliche
Meinungsfreiheit. Der freie Diskurs ist gestört. Man hört nur politisch
korrekte Äußerungen. Von einer eigentlichen Demokratie kann nicht
gesprochen werden.« (Carl Christian von Weizsäcker, Der Grundgedanke
heißt Freiheit, in: Merkur, # 653/654, 2003, S. 809). (Ebd., S.
28).Heute wird die abweichende Meinung schärfer kontrolliert
als die abweichende Handlung. Auf die abweichende Meinung reagiert man nicht mit
Widerspruch, sondern mit Empörung. Es gibt eine Art progressiver Steuer auf
Meinungen, die von der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
abweichen. Und so kann sich die Orthodoxie der öffentlichen Meinung am Ende
sogar gegen die Majorität durchsetzen, die dadurch erst wirklich zur »schweigenden
Mehrheit« wird - ein Phänomen, das die von Tocqueville inspirierte
Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann die Schweigespirale genannt hat. Diese Sprachpolitik
hat aber erst dann ihr Ziel erreicht, wenn die Menschen unfähig sind, einen
politisch unkorrekten Gedanken zu denken. (Ebd., S. 28).Die
Sprachpolitik der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
kann unmittelbar anknüpfen an Rousseaus positiven Begriff der Zensur als
Sprachregelung. Der Wille des Volkes will immer das Richtige, kann es aber nicht
sagen und braucht deshalb einen Dolmetscher. Die öffentliche Meinung und
kollektive Entscheidungsprozesse« waschen und reinigen« die Präferenzen
des Einzelnen; er kann nur einen kleinen Ausschnitt seiner Vorlieben und Überzeugungen
als Anspruch in die politische Öffentlichkeit tragen. (Ebd., S. 28).Zu
den wichtigsten Aufgaben der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**)
gehört es, die Diagnose eines Zusammenpralls der Zivilisationen, eines Kampfs
der Kulturen als Diskriminierung und gefährliche Stimmungsmache zu diskreditieren.
Damit verschleiert die Politische Korrektheit ihre eigene Strategie. Es gibt heute
nämlich nicht nur einen Kulturkampf sondern zwei (das
sagte schon Spengler! HB). Zum einen, und das ist bekannt, steht der
Westen gegen den Rest der Welt (»Farbige Weltrevolution«,
so Spengler! HB). Zum zweiten, und das wird von jener Sprachpolitik
geschickt verdeckt, gibt es einen Kampf gegen den Westen innerhalb des Westens
selbst (»Weiße Weltrevolution«, so Spengler!
HB). Gemeint ist der antibürgerliche Affekt, der von den Linksintellektuellen
kultiviert wird. (Ebd., S. 29).Es gibt eine sehr einfache,
aber robuste Erklärung dafür, warum fast alle Intellektuellen der westlichen
Welt politisch links stehen (wohlgemerkt: nicht alle!
HB): Sie gelten sehr viel, aber sie verdienen recht wenig. Und ständig
sind sie mit den Erfolgstypen der bürgerlichen Welt konfrontiert, die sehr
viel verdienen, obwohl sie den Intellektuellen geistig weit unterlegen zu sein
scheinen (wohlgemerkt: scheinen! HB).
Soziologen drücken das so aus: Das typisch antibürgerliche Ressentiment
der Intellektuellen entsteht durch das Ungleichgewicht von Status und Einkommen.
(Ebd., S. 29).Die Geburt des Linksintellektuellen aus dem Haß
auf den erfolgreichen Bürger -wir konnten das in den 60er Jahren des 20.
Jahrhunderts noch einmal miterleben. Seine Gefühlswelt ist geprägt von
der Denunziation der Leistung, des Erfolgs, der Exzellenz und der Dämonisierung
des Wettbewerbs und des Profitmotivs. Jede Wirtschaftskrise wird hier dankbar
aufgenommen, um den Untergang des Kapitalismus anzusagen und im Namen der Menschheit
Gerechtigkeit als Gleichheit zu fordern. Doch hinter der Gleichheitspredigt steckt
die Rachsucht - wir werden das in einem Kapitel über den Neid (**)
noch ausführlich begründen. (Ebd., S. 29).Wer Gleichheit
fordert, will Privilegien. Das gilt vor allem für Intellektuelle. Sie sind
es, die betrügen wollen, indem sie »Menschheit« sagen. (»Wer
Menschheit sagt, will betrügen« [Carl Schmitt, Der Begriff
des Politischen, 1927, S. 55]). Dieser ja eigentlich sehr farblose
Begriff bekommt seine spezifisch antibürgerliche Färbung dadurch, daß
die Menschen als Opfer eines Systems umworben werden. Und schon seit Jahrzehnten
ist dieser Stellenrahmen konstant geblieben, während die Besetzungen dem
Zeitgeist angepaßt wurden. Als Opfer-Klasse bot sich zunächst der ausgebeutete
Arbeiter an. Seine Rolle übernahm dann die unterdrückte Frau; und heute
ist es die verschmutzte, ausgebeutete, geschändete Natur. (Ebd., S.
29). **
Ein
Scherzwort der us-amerikanischen Konservativen macht diesen Substitutionszusammenhang
sehr schön deutlich. Sie nennen die Umweltaktivisten »Wassermelonen«:
außen grün, innen rot. (Ebd.). |
Dieser
Diskurs kann nur aufblühen, wenn er fest in einer Institution verankert ist.
Diese Institution ist die moderne Universität des Ressentiments. Sie hat
eine einfache Strategie entwickelt, um sich unangreifbar zu machen. Wenn
man versucht, innerhalb der Universität Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**)
zu thematisieren, wird man typisch folgendes erleben: Entweder leugnen die Akademiker,
daß es eine derartige Sprachpolitik überhaupt gibt, oder sie halten
sie für eine Erfindung der Rechten. US-amerikanische Geisteswissenschaftler
werden dann sogar »dialektisch » und behaupten, es sei heute politisch
korrekt, die Politische Korrektheit zu kritisieren. Kurzum: Nur die politisch
korrekte Interpretation dessen, was politische Korrektheit ist, wird akademisch
zugelassen. (Ebd., S. 29-30).Wenn die Versklavung durch die
öffendiche Meinung am größten ist, schlägt die Stunde der
Philosophie. Aber der Staat hat zu Recht Angst vor der Philosophie - und deshalb
züchtet er Philosophiebeamte. Sie denken nicht, sondern sie denken den Brüsseler
Kommissionen, UN-Resolutionen und Kyoto-Protokollen nach. Ihre Verführbarkeit
durch die Politik, die Bestechlichkeit durch Lob und die Unfähigkeit, der
öffendichen Meinung zu widerstehen, sind die Hauptlaster der Intellektuellen
in modernen Massendemokratien. (Ebd., S. 30).Politische Korrektheit
(**|**|**|**|**|**|**|**|**)
ersetzt heute paßgenau die religiöse Richtigkeit. Sie ist der Religionsersatz
der Akademiker. Das neue theokratische Zeitalter, das der Geschichtsphilosoph
Giambattista Vico schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts angekündigt hat (**),
spricht diese Sprache und tritt politisch als Egalitarismus auf. So kann man wortpolitisch
Ordnung im Chaos stiften, Orientierungsmarken in der Neuen Unübersichdichkeit
setzen. Die moralische Gewißheit der Politischen Korrektheit kompensiert
die kognitive Ungewißheit des modernen Lebens. Und Stabilität gewinnt
dieser Akademikerglaube gerade durch seine Distanz zum gesunden Menschenverstand.
»Stammtisch« ist schon immer ein Fetisch der Linksintellektuellen
gewesen, mit dem sie den gesunden Menschenverstand bekämpfen. (Ebd.,
S. 30).Die Behandlung des Ungleichen als Gleiches wird heute als
Wert konzipiert - die Farbigen und die Weißen, die Kinder und die Erwachsenen,
die Frauen und Männer, die Armen und Reichen, die Kleinen und die Großen,
die Dummen und die Klugen. Der Geist der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
läßt sich deshalb auf eine ganz einfache Formel bringen: Wahrheit ist
relativ. Er kämpft nicht gegen die Unwahrheit sondern gegen die Intoleranz.
Nichts und niemand soll verachtenswert sein. Der gesunde Menschenverstand sagt
einem aber: Man kann nicht das Gute finden und bewundern, ohne das Schlechte mit
zu entdecken - und zu verachten. (Ebd., S. 30).Die Politische
Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
treibt dem Menschen das Unterscheiden aus und erschwert ihm damit die Identitätsbildung.
Obwohl gerade die Intellektuellen wissen müßten, daß jede Entdifferenzierung
der Gewalt den Boden bereitet, arbeiten sie hartnäckig am Abbau von Leitunterscheidungen
wie alt/jung oder männlich/weiblich. Wenn man etwa daran erinnert, daß
sich das Politische traditionell in zwei orthogonal zueinander stehenden Unterscheidungen,
nämlich Freund / Feind und Herr / Knecht, bildet, so
ist es natürlich nicht überraschend, daß die Politische Korrektheit
von beiden Unterscheidungen nichts wissen will. Sie ist das Unpolitische als Politik.
(Ebd., S. 31).»Wo Unterschiede fehlen, droht Gewalt.«
Dieser Satz des Kulturanthropologen René Girard müßte über
dem Eingangstor zur modernen Massendemokratie stehen. Kultur ist immer Differenzierung,
und Entdifferenzierung provoziert Gewalt. Denn nicht die Unterschiede, sondern
ihre Auflösung erzeugen Rivalität. Der Rivale ist mein Modell; sein
Wunsch zeigt mir das Objekt meines Begehrens. Früher haben Religion und Stratifikation
diese Imitationskonflikte in Schach gehalten. Und es ist eine bittere Ironie der
Weltgeschichte, daß der moderne Demokratisierungsprozeß die Macht
der Rivalität nicht geschwächt, sondern gesteigert hat. Gerade der moderne
Gleichheitsgrundsatz erzeugt Gewalt. Der Verlust der Unterschiede ruft allererst
die Rivalität ins Leben, für die dann die Unterschiede verantwortlich
gemacht werden. Das ist die Sprengladung des Begriffs »soziale Gerechtigkeit«
(**).
Wir kommen gleich in einem eigenen Kapitel darauf zurück. (Ebd., S.
31). **
Rivalität
eskaliert sehr leicht, wenn sie keine anerkannten Ausdrucksformen findet. Deshalb
sind Gewalt und Ausschluß stark korreliert. Auf der einen Seite der Grenze
entfaltet sich die Erfolgsgeschichte der Systeme - auf der anderen Seite explodiert
der Haß auf alles, was funktioniert. Ich zerstöre, also bin ich. Zerstörung
ist eine fundamentale Art, sich zum Herrn zu machen. Man kennt das von Jugendlichen,
deren martialisches Outfit das Modebild der großen Städte prägt.
Sie wollen uns Angst einjagen,. weil sie es nicht schaffen, respektiert zu werden.
Wie alle Ausgeschlossenen benutzen sie Gewalt, um die eigene Identität zu
kommunizieren. Soziologen kennen das Geheimnis dieser unheilvollen Dynamik. Das
Netzwerk der Wertschöpfung wirkt abweichungsverstärkend: die Wertvollen
werden immer wertvoller - und es gibt immer mehr Überflüssige. Die Überflüssigen
werden ausgeschlossen. Ihr Neid findet keine soziale Ausdrucksform mehr und schlägt
um in Wut. Das ist symptomatisch für eine Gesellschaft, die nicht mehr primär
durch die Unterscheidung oben/unten, sondern durch die Unterscheidung innen/außen
geprägt ist. Anschluß oder Ausschluß - das ist hier die Frage.
(Ebd.). |
Man kann
sich Kultur nur als ein System der Unterschiede und Humanität nur als Differenziertheit
denken. Das zeigt gerade unsere eigene Erfolgsgeschichte: Europa war und ist das
Leben der Differenz. Und jeder, der Lebenserfahrung hat, weiß, daß
es kein Glück gibt ohne die Erfahrung des Unterschieds. Wir sind erwachsen,
wenn wir gelernt haben, mit der Ungleichheit zu leben. Wir verwechseln dann nicht
mehr Ungerechtigkeit mit Ungleichheit. Ungerecht ist nicht die Ungleichheit, sondern
das, was motivierte Menschen am Aufstieg hindert. Um das einzusehen, braucht man
keine Theorie der Gesellschaft, sondern nur gesunden Menschenverstand. (Ebd.,
S. 31).Und doch läßt sich diese Selbstverständlichkeit
heute kaum mehr kommunizieren. Warum? Unter Bedingungen der Chancengleichheit
setzen sich die Fleißigeren und Verdienstvolleren durch. Das führt
zu einer neuen sozialen Schichtung, die eine Neudefinition von Gleichheit provoziert,
nämlich Ergebnisgleichheit. Das große Ärgernis besteht für
die Egalitaristen nämlich darin, daß die Ungleichheit allen Nivellierungsmaßnahmen
zum Trotz immer wieder neu entsteht zwischen Brüdern, zwischen Menschen gleicher
Ausbildung, zwischen Menschen mit gleichem Intelligenzquotienten. Wer warum erfolgreicher
ist, läßt sich nicht schlüssig erklären. (Ebd., S.
31-32).Aber eben das will die egalitaristische Politik nicht einsehen.
Um die Ungleichheit der Lebensbedingungen zu reduzieren, muß der Staat die
Menschen immer rigoroser uniformieren. Deshalb sollten freiheitsliebende Menschen
wachsam sein, wenn das Lob der Ameise, der Biene, der Kollektivs, der Teamarbeit
gesungen wird - auch und gerade wenn es heute die Zauberworte »Netzwerk«
und »Schwarmintelligenz« intoniert. Jakobinismus, Leninismus und Maoismus
sind Geschichte, aber die kleinen egalitären Tyranneien der politisch korrekten
Universitäten sind traurige Gegenwart. (Ebd., S. 32).Und
auch im Alltagsleben haben wir uns längst an die Zensur der Politischen Korrektheit
(**|**|**|**|**|**|**|**)
gewöhnt. .... Im Vietnamkrieg starben 57000 us-amerikanische Männer
und 8 us-amerikanische Frauen. Ihrer wird gedacht mit Monumenten auf der Mall
von Washington. Es sind die Figuren von 3 Männern und 3 Frauen. Das ist Politische
Korrektheit. Geschichtsfälschung ist das eine. (Ebd., S. 32).Politische
Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
nennt man aber auch den Kampf gegen die biologische Realität, also gegen
unser Schicksal. Dabei wechseln die Schauplätze der Politischen Korrektheit
in rascher Folge. Man kämpfte erst gegen den Rassismus - noch recht us-amerikaspezifisch.
Mit der Ausweitung der Kampfzone auf den Sexismus konnte man dann auch europäische
Frauen und Schwule faszinieren. Heute polemisiert die Politische Korrektheit gegen
Altersdiskriminierung - und wird damit zur modischen Massenideologie. Doch der
Sensibilität für Benachteiligungen sind keine Grenzen gesetzt. Wer einen
Behinderten nicht als »anders befähigt« anerkennt, macht sich
des »ableism« schuldig. Und wer wie Goethe in der Schönheit ein
Verdienst sieht, leidet an »Iookism«. (Ebd., S. 32).Diese
beliebig vermehrbaren Beispiele zeigen sehr schön, wie die Menschen in der
Mediendemokratie durch die Sprache versklavt werden. René Girard hat in
diesem Zusammenhang von Verbalexorzismen gesprochen, und in der Tat geht es um
eine neue Form von Inquisition, um eine politische Säuberung der Sprache.
Früher nannte man das Linientreue. Ein noch harmloses Beispiel geben regelmäßig
die Deutschen, die sich von einer Sprachgesellschaft das »Unwort
des Jahres« wählen lassen. Und kaum jemand kommt auf den Gedanken,
daß jedes Jahr das eigentliche Unwort des Jahres Unwort lauten müßte.
(Ebd., S. 32-33).Solche Verbalexorzismen sind hochpolitisch, weil
Sprache die Menschen macht, die sie sprechen. Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
ist die Rhetorik eines besetzten Landes. Und wieder nennen sich die Besatzer Befreier.
Wie konnte es dazu kommen? Wir können hier wieder an Tocqueville anschließen.
Die Emanzipation der Vernunft von der Tradition hat ein Orientierungsvakuum geschaffen,
das die Gewalt der öffentlichen Meinung unwiderstehlich macht. Alle reden
von Individualität, Diversität und Selbstverwirklichung - und alle denken
dasselbe. So entsteht der Konformismus des Andersseins. (Ebd., S. 33).Gerade
die herrschende öffentliche Meinung kultiviert bestimmte Formen des Nonkonformismus;
man denke etwa an die unaufhörliche Propaganda des öffentlich-rechtlichen
Fernsehens für homosexuelle Gemeinschaften und Patchworkfamilien. Frauen
erscheinen als knallhart und aggressiv, Männer als empfindlich und verletztlich.
Man sehe sich nur die Moderatoren von Tagesthemen, Heute-Journal und CNN daraufhin
an. Film und Fernsehen zeigen uns vor allem auch in ihrem Unterhaltungsprogramm
seit Jahren nur noch starke Frauen und lächerliche Männer; Kinder, die
klüger sind als ihre Eltern und sehr gut ohne sie auskommen; nette Immigranten,
die von »rechten« Einheimischen geprügelt werden; Homosexuelle,
die ein kultiviertes, politisch korrektes Leben führen. Sie alle sind Schauspieler
des Nonkonformismus auf der Bühne des Konformismus. (Ebd., S. 33).Man
wird lernen müssen, diese Phänomene als Symptome eines kulturellen Bürgerkriegs
zu verstehen. Mit anderen Worten, der italienische Kommunist Antonio Gramsci hat
gesiegt. Der lange Marsch durch die Institutionen der Massenmedien, der Bildungsanstalten
und des Kunstbetriebs war erfolgreich. Und der Marxismus, der als Programm für
eine sozialistische Gesellschaft schon gescheitert war, hat sich nachträglich
als Kulturtevolution durchgesetzt. Pop-Kultur und Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
sind heute die beiden Seiten des Kulturmarxismus. Auch wenn es in der eigenen
jugendbewegten Seele schmerzt: Die Popkultur ist heute nicht mehr Gegenkultur
sondern Inquisition. (Ebd., S. 33).Die entscheidenden Glaubensartikel
dieser Kulturtevolution lassen sich sehr genau definieren: | Alle
Lebensstile sind gleichrangig. | | Einen
alternativen Lebensstil zu diskriminieren, ist ein Verbrechen. Wer gegen die Gleichstellungspolitik
ist, ist ein Rassist, Fremdenfeind und Sexist. | | Nicht
die Homosexuellen sind krank, sondern diejenigen, die Homosexualität verurteilen. | | Keine
Religion und keine Kultur ist einer anderen überlegen. | Daran
glaubt natürlich kein vernünftiger Mensch, aber man darf es nicht sagen.
So erzählt die Politische Korrektheit
(**|**|**|**|**|**|**|**)
ungehindert phantastische Wohlfühlgeschichten und verwandelt Geschichte in
eine Therapie für Minderheiten. »Diversität«, also die gleichmäßige
Repräsentation aller Religionen, Kulturen und Ethnien in einer Gesellschaft,
ist ein klassischer Fall von Orwellschem Neusprech. Denn Diversität bedeutet
im Klartext Konformismus. Wir haben es hier mit einer schlichten Inversion des
Kulturchauvinismus zu tun. Der Westen gilt nichts, Asien und Afrika sind Vorbilder.
Diversität heißt also: alle minus eins. Und dieses Eine ist die westliche
Kultur der weißen Männer (**).
(Ebd., S. 34).Die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
suggeriert, alle Ideen und Meinungen seien gleich wertvoll. Aber das ist narürlich
Unsinn, denn aus dem gleichen Recht auf Meinungsäußerung folgt nicht
die Gleichwertigkeit aller Meinungen. Nur unsere aufgeklärte Toleranz gegen
»das Andere« und die Angst vor den Großinquisitoren der Politischen
Korrektheit hindern uns daran, die Lächerlichkeit dieser Propaganda nicht-westlicher
Werte bloßzustellen. (Ebd., S. 34).Hier steht, so pathetisch
das auch klingen mag, die Existenz unserer Demokratie auf dem Spiel. Sie setzt
nämlich spezifisch bürgerliche Tugenden voraus: harte Arbeit, Mut, Ehrlichkeit,
Verantwortungsbewußtsein, Besonnenheit, Höflichkeit. Aber sie können
nur kultiviert werden, wenn die Gesellschaft bereit ist, das Gegenteil zu sanktionieren
- kein Wert ohne Stigma! Doch die moderne westliche Gesellschaft stigmatisiert
die Abweichungen heute nicht mehr, sondern toleriert sie - und benennt sie um.
Das traditionell Abnorme wird normalisiert. Geschiedene Ehen, unverheiratete Mütter
und uneheliche Kinder stehen nicht mehr für den Zusammenbruch der Familie,
sondern für alternative Lebensstile. (Ebd., S. 34).Aber
unsere Kulturrevolutionäre belassen es nicht bei der Normalisierung des Abnormalen;
sie definieren auch das bisher ganz selbstverständlich als normal Geltende
ins Abnorme um. Die klassische Familie mit allein verdienendem Vater und der Mutter
als Hausfrau gilt als reaktionär, frauenfeindlich, ja pathologisch. Ein eindrucksvolles
Beispiel für die Propaganda der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
und die kollektive Gehirnwäsche durch die Massenmedien findet sich in Roland
Huntfords Buch über die Schweden: die Substitution des traditionellen Begriffs
für Hausfrau, »husmor«, durch den Neologismus »hernmafru«,
mit dem man die Frau verspottet, die zu Hause bleibt, statt zu arbeiten - in de
USA heißt sie »stay-at-home-mom«. So wird überall in der
westlichen Kultur das Abweichende normalisien und belohnt, das bürgerlich
Respektable dagegen stigmatisien und bestraft. Wettbewerbsgeist und persönlicher
Ehrgeiz des Bourgeois werden bestraft, Coolneß und antibürgerlicher
Affekt des Bohemien werden belohnt (Ebd., S. 34-35).Bei
Lichte betrachtet ist die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
also nur die Inversion des Vorurteils. Es handelt sich um eine Überkompensation,
die diejenigen, die früher zu schlecht behandelt wurden, nun zu gut behandelt.
Kein einziges Individuum wird hierbei ernst genommen; jeder Benachteiligte wird
als Gruppenmitglied positiv diskriminiert. (**).
Dabei schließen sich die Zeithorizonte wie bei Nietzsches Tieren, die an
den Pflock des Augenblicks angekettet sind. Alles, was der Kultur der Politischen
Korrektheit historisch vorausging, gilt als reaktionär. Die Geschichte der
Vernunft beginnt mit Simone de Beauvoir. (Ebd., S. 35).
Der Skandal der natürlichen Ungleichheit
Alle
revolutionären Kämpfe im Namen der Freiheit zielten auf Gleichheit vor
dem Gesetz. Die Leute sollen rechtlich gleich behandelt werden, obwohl sie tatsächlich
unterschiedlich sind. Daß alle Menschen gleich geboren sind, ist also keine
Tatsachenaussage. Die Übertragung dieser rechtlichen Gleichheit auf die moralischen
und sozialen Beziehungen der Menschen untereinander macht den Geist der Demokratie
aus. Dazu gehört aber auch, daß man materielle Ungleichheiten hinnimmt
und ohne Murren erträgt. Der Prozeß der Zivilisation hängt daran,
daß jeder Enzelne aus allem, was ihm widerfährt, den größten
Nutzen schlagen darf. Jeder soll die besonderen Gelegenheiten nutzen, die der
Zufall von Herkunft und Umwelt gerade ihm auf den Lebensweg geworfen hat.
(Ebd., S. 36).Der skeptische Philosoph Odo Marquard hat einmal
gesagt, Menschen müßten lernen, mit dem Zufall zu leben, d.h. den Zufall
leiden zu können. Das ist in instruktiver Weise doppeldeutig: Man muß
das Leiden am Zufall ertragen lernen und man muß den Zufall mögen.
Statt die Kontingenz des Lebens als Ärgernis zu behandeln, wird sie zum Stimulans.
Dieser vernünftige Fatalismus des Anknüpfens ans Vorgegebene ist der
philosophische Feind des Egalitarismus, für den die unverfügbaren Vorgaben
der Existenz gerade der ewige Skandal der Gesellschaft sind. (Ebd., S. 36).An
den »unfairen Vorteilen« der natürlichen Ausstattung, der Geschicklichkeiten
und Talente der Leute kann man aber nichts ändern, ohne die Freiheit der
Gesellschaft zu gefährden. Weil die Menschen unterschiedlich sind, folgt
gerade aus ihrer Gleichbehandlung die materielle Ungleichheit ihrer Lebenslagen.
Erfolg ist in hohem Maße eine Sache des Zufalls. Jeder hat Eltern - und
deshalb gibt es eine unvermeidliche Chancenungleichheit. Wer eine glückliche
Kindheit hatte und von liebevollen Eltern gut erzogen wurde, hat Möglichkeiten
der Lebensfreude und des Kulturgenusses, die durch keine Umverteilungspolitik
kompensiert werden können. Armut und Unglück sind in der Regel keine
Ungerechtigkeiten, sondern Übel. Materielle Ungleichheiten sind aber nur
dann ungerecht, wenn sie das Resultat bewußter Verteilung sind. Und daraus
folgt: Nicht der Zufall des Marktes, sondern die Politik
der Umverteilung produziert Ungerechtigkeiten (**).
(Ebd., S. 36-37).Jeder Mensch soll Eigentum haben. Aber was und
wie viel er besitzt, ist rechtlich betrachtet zufällig. Hegel hat deshalb
den konkreten Besitz als »Boden der Ungleichheit« bezeichnet. (Vgl.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts,
1821, § 49, S. 113). Genau wie bei natürlichen Geistesgaben stellt sich
hier die Frage der Gerechtigkeit nicht, »denn die Natur ist nicht frei und
darum weder gerecht noch ungerecht«. Gleich sind die Menschen nicht in ihrer
natürlichen Besonderheit, sondern nur als Personen. Und die Herstellung von
Gleichheit auf diesem »Boden der Ungleichheit« wäre deshalb Unrecht.
Aber sie wäre auch sinnlos, denn die erzwungene Gleichheit würde rasch
wieder zerstört werden, da das »Vermögen vom Fleiß abhängt«.
Die Forderung der Gleichheit ist also sinnlos, wenn sie sich gegen die Ungleichheit
des konkreten Vermögens und der individuellen Fähigkeiten richtet.
(Ebd., S. 37).Hegel wollte den Menschen statt der unmöglichen
Gleichheit eine konkrete Ganzheit anbieten, »die in der allseitigen Verschlingung
der Abhängigkeit aller liegt«. Doch dieses »Ganze von Unterschieden«
konnte er sich nur als System der Stände vorstellen. (Vgl. Georg Wilhelm
Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts,1821, § 199,
S. 353 und § 200, S. 354). Und natürlich mußte sich auch Kant
noch in diesem politischen Horizont bewegen. Entscheidend für unsere Diskussion
ist aber, daß für Kant jedes Mitglied eines Standes durch Talent, Fleiß
und Glück zu jeder Stufe dieses Standes gelangen kann. Niemand darf ihn in
diesem Bestreben hindern, also durch Privilegien niederhalten. (Ebd., S.
37).Darüber hinaus aber gilt für alle die »Gleichheit
als Untertan«, also die Gleichheit vor dem Gesetz. (Vgl. Immanuel Kant,
Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber
nicht für die Praxis, 1793, A 238-243). Entscheidend in Kants Argumentation
ist nun, daß sich diese rechtliche Gleichheit »ganz wohl mit der größten
Ungleichheit« verträgt, nämlich der Ungleichheit des Eigentums,
der Geistesgaben und des Glücks. Der eine befiehlt, der andere gehorcht.
Der eine dient, der andere entlohnt. Doch auch in der größten Ungleichheit
darf es keine angeborenen Vorrechte geben. Niemand ist durch Geburt zum Herrn
qualifiziert. Und so kann man Status auch nicht vererben - wohl aber Eigentum.
(Ebd., S. 37).Kant sieht sehr klar, daß das Vererben von
Eigentum in der Geschlechterfolge rasch zu kumulativen Effekten führt, sich
also »eine beträchtliche Ungleichheit in Vermögensumständen«
einstellen kann. Doch das kann man hinnehmen, solange die Möglichkeit des
eigenen Aufstiegs durch Talent, Fleiß und Glück nicht verstellt wird.
Wenn jemand es nicht schafft, auf die gleiche Stufe wie die Erfolgreichen hinaufzusteigen,
so kann man ihn dennoch »für glücklich annehmen«, wenn er
weiß, daß seine Lage seinen Fähigkeiten und seiner Motivation
entspricht und niemand anders Schuld an seinen Umständen hat. (Ebd.,
S. 37-38).Eine der bekanntesten Anekdoten
über berühmte Philosophen ist die von Kant, der seine Gewohnheit, täglich
um 7 Uhr abends durch Königsberg zu spazieren, in 25 Jahren nur einmal durchbrochen
haben soll - ergriffen von der Lektüre des »Emile«. Und in der
Tat ist Rousseau der Schlüssel zum Verständnis unseres Denkens über
den Menschen, das Verhältnis von Kultur und Natur und die Gründe der
Ungleichheit. Hier ist es besonders lehrreich, sich an eine weitere Trivialität
zu erinnern, daß nämlich die berühmteste Formel Rousseaus, Zurück
zur Natur!, gar nicht von Rousseau stammt. Kant hat dazu den entscheidenden
Satz gesagt: »Rousseau will nicht, daß man in den Naturzustand zurückgehen,
sondern dahin zurücksehen soll.« (Immanuel Kant, Werke, Band
XV, S. 890). (Ebd., S. 38).Unter entgegengesetzten
Vorzeichen hat dann Nietzsche Kants Hochachtung für Rousseau bestätigt
und ihn als Verkörperung des Geists der Moderne bekämpft. Rousseau war
der erste moderne Mensch und seine Lehre von der Gleichheit die moderne Idee par
excellence - darin sind sich Kant und Nietzsche einig. Der politische Philosoph
Leo Strauss ist dann noch einen Schritt weiter gegangen und hat Rousseau als Denker
der ersten Krise der Moderne gefeiert. Sein Zurück zur Natur und zur
Antike war aber nicht reaktionär, sondern selbst modern. Hier vollzieht sich
der Fortschritt der Moderne gerade als Rückkehr zur Antike. (Ebd.,
S. 38).In seinem Werk über Naturrecht und Geschichte schreibt
Leo Strauss: »Der von Rousseau vorausgeahnte Menschentypus, der die bürgerliche
Gesellschaft rechtfertigt, indem er über sie hinausschreitet, ist nicht mehr
der Philosoph, sondern das, was man später den Künstler
nannte. Sein Anspruch auf bevorzugte Behandlung gründet sich eher auf seine
Empfindsamkeit als auf seine Weisheit, eher auf seine Güte oder sein Mitleid
als auf seine Tugend. Er gibt den unsicheren Charakter seines Anspruchs zu: er
ist ein Bürger mit einem schlechten Gewissen. Da jedoch sein Gewissen nicht
nur ihn selbst, sondern zu gleicher Zeit auch die Gesellschaft anklagt, der er
angehört, neigt er dazu, sich als das Gewissen der Gesellschaft zu betrachten.
Aber da er das schlechte Gewissen der Gesellschaft ist, muß er notwendig
ein schlechtes Gewissen haben.« (Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte,
1977, S. 306) (Ebd., S. 31).Was Rousseau für unser Thema
so faszinierend macht, ist seine Überzeugung, daß der Mensch von Natur
aus zwar frei, aber nicht menschlich ist. Deshalb oszilliert seine Gesellschaftstheorie
ständig zwischen der Freiheit des natürlichen Menschen und der Gleichheit
in der Gemeinschaft durch die Auslöschung des Selbst. Sehen wir näher
zu. Mit Rousseau wird die Natur- und Gottgegebenheit der Ungleichheit plötzlich
zu einem Problem, das für die Griechen genauso wenig bestand wie für
die Christen. Rousseau war der erste, der der aristotelischen Rechtfertigung der
Sklaverei durch die angeborene Ungleichheit der Menschen widersprochen hat. Der
Sozialgeschichtler Otto Brunner bemerkt dazu: »Auch ftr die Christen waren
die Menschen zwar gleich vor Gott, aber nicht vor ihren Mitmenschen.« (Otto
Brunner, Neue Wege der Sozialgeschichte, 1956, S. 43). Solange es gesellschaftliche
Schichten, Stände und Rangordnungen gab, fragte man nach der Gleichheit der
Ungleichen - und konnte auf die Gleichheit vor Gott verweisen. In der modernen
Gesellschaft dagegen fragt man - und eben erstmals Rousseau - nach der Ungleichheit
der Gleichen. (Ebd., S. 38-39).Schon Rousseau unterscheidet
zwei Arten der Ungleichheit. Die natütliche Ungleichheit betrifft Intelligenz,
Charakter, Gesundheit und Körperkraft. Nach ihrer Quelle zu suchen, verbietet
sich für Rousseau, denn die Frage ist tautologisch: Die Quelle der natürlichen
Ungleichheit ist die Natur. Anders die politische Ungleichheit. Sie ist nicht
natürlich, sondern konventionell und betrifft Reichtum, Macht und Prestige.
Vom Ursprung dieser Ungleichheit handelt Rousseaus berühmter Zweiter Diskurs.
Aber auch hier formuliert er ein Frageverbot. Man darf nicht fragen, ob es eine
wesentliche Verbindung zwischen natürlicher und politischer Ungleichheit
gibt. Der Klügere darf nicht selbstverständlich auch der Befehlende,
der Stärkere nicht selbstverständlich auch der Reichere sein.
(Ebd., S. 39).Rousseaus Urszene ist einfach und bestechend. Die
Entfremdungsgeschichte des Menschen beginnt mit dem ersten Privateigentum. Daß
etwas Mein und nicht Dein ist, macht den Urunterschied, der dann weitere Unterschiede
macht: zwischen Herren und Sklaven, zwischen Reich und Arm - Unterschiede, die
Betrug und Neid hervorrufen. Alles gesellschaftliche Übel geht also zurück
auf »die scheußlichen Worte Mein und Dein« (zitiert in: Robert
Spaemann, Rousseau - Mensch oder Bürger, 2008, S. 79). (Ebd.,
S. 39).Mein und Dein - das ist die Urunterscheidung, die den Unterschied
von Unterschied und Unterschiedslosigkeit macht. Jeder, der einen Zaun auftichtet
oder einen Claim absteckt, wiederholt diese Urunterscheidung und schafft eine
fundamentale Asymmetrie. Der StaatsrechtIer Carl Schmitt hat daran seine Theorie
des »Nomos« geknüpft und diese ursprüngliche, griechische
Ordnungskategorie auf das Nehmen zurückgeführt. Daß man nicht
teilen kann, ohne vorher zu nehmen, ist seither das Grundformular jeder Kritik
des Sozialismus. Und dieser kann umgekehrt darauf verweisen, daß man nicht
»weiden«, also produzieren kann, ohne vorher genommen zu haben. Rousseau
formuliert es so: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte
und dreist sagte: Das ist mein und so einfaltige Leute fand, die das
glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.«
(Jean-Jacques Rousseau, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen,
1754, S. 191). (Ebd., S. 39-40).Mit wenigen starken Strichen
skizziert Rousseau nun die Urgeschichte der gesellschaftlichen Ungleichheit. Das
Zusammenleben der Menschen organisiert sich ausgehend von der Familie, in der
sich die ersten zarten Gefühle bilden und die sexuelle Arbeitsteilung etabliert.
Die Frau sorgt sich um Haus und Kinder, der Mann um die Nahrung. Die Familienkultur
der zarten Gefühle ist für Rousseau aber auch schon die erste Quelle
der Übel. Die Menschen verschaffen sich Bequemlichkeiten, gewöhnen sich
an sie und lassen sie zu echten Bedürfnissen degenerieren. Was man später
dann die Tretmühle der Lust oder die Frustrationsmaschine nennen wird, zeigt
sich hier in seiner frühesten Form. Bequemlichkeiten, die man hat, machen
nicht glücklich, aber sie zu entbehren macht unglücklich. (Ebd.,
S. 40).Doch es gibt neben diesem technischen auch noch einen spezifisch
sozialen Grund für das gesellschaftliche Unglück. Menschen, die zusammenleben,
beginnen, ihre Eigenschaften und ihre Dinge zu vergleichen. So entstehen allmählich
die Ideen von Verdienst und Schönheit, aber auch die Gefühle der Bevorzugung
- und folglich der Eitelkeit einerseits, der Eifersucht und des Neids andererseits.
»Jeder achtete die anderen und wollte seinerseits geachtet werden. Die öffentliche
Achtung bekam Wert. Wer am besten sang und tanzte, der Schönste, der Stärkste,
der Gewandteste, der Beredsamste wurden am meisten geschätzt. Das aber war
der erste Schritt zur Ungleichheit.« (Jean-Jacques Rousseau, Über
den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, 1754, S. 205). (Ebd.,
S. 40).In Gesellschaft sein heißt, sich miteinander vergleichen
zu müssen. Und wer sich vergleicht, will sich auszeichnen - durch Macht,
Rang, Verdienst oder Reichtum. Das ist das Bild, das Rousseau zum Idol jeder Kulturkritik
gemacht hat: Die Menschen sind Rivalen auf einer Rennbahn, auf der sie nach Ansehen,
Ehre und Auszeichnung jagen, getrieben von einem Furor des Sich-unterscheidens,
der sie von ihrem wahren Selbst ablenkt. Als Kontrastbild entsteht hier die Figur
des edlen Wilden, der in sich selbst lebt. Das ist aber nur eine Hintergrundfiktion,
vor der sich die Gestalt des zivilisierten Menschen abhebt, der sich selbst fremd
ist und seine Identität nur in der Meinung der anderen findet. (Ebd.,
S. 40).Mit jedem Fortschritt in der sozialen Differenzierung entfaltet
sich die natütliche Ungleichheit der Menschen. Hier die Erfolgreichen, also
die Reichen und Mächtigen, dort die aus Schwäche oder Unmotiviertheit
Überflüssigen. Diese sozialistische Optik ist uns so in Fleisch und
Blut übergegangen, daß wir die Behauptung, Unterschiede zwischen Menschen
seien rechtfertigungsbedürftig, für ein Argument halten. »Es lebe
die Ungleichheit!« klingt in modernen Ohren nach Diskriminierung.
Aber warum sollte man jede Ungleichheit kompensieren? Daß niemand es heute
wagt, die Rechtfertigungsunbedürftigkeit der Ungleichheit unter den
Menschen zu behaupten, zeigt, daß Rousseau gesiegt hat. (Ebd., S.
40-41).
Was bekommt man aber zu sehen, wenn man sich nicht an das Rousseausche
Frageverbot hält und die gesellschaftlichen Effekte der natürlichen
Ungleichheit beleuchtet? Unzweifelhaft gibt es natürliche
Unterschiede: männlich und weiblich (wir werden gleich sehen, wie
der fanatische Feminismus an einer »Dekonstruktion« arbeitet
**),
jung und alt (auch wenn immer mehr Alte das nicht wahrhaben wollen und
behaupten »forever young« zu sein), schön und häßlich
(was ja gerade vom politisch korrekten Kampf gegen »lookism«
bestätigt wird), klug und dumm (Skandalthema »Bell Curve«;
wir kommen gleich darauf zurück **).
Selbst Führer und Horde scheinen einen natürlichen Unterschied
zu machen; man kann die Wirklichkeit von Alpha-Males und Hackordnungen
schlecht leugnen. Und der Verhaltensforscher Konrad Lorenz meint gar:
»Es ist eines der größten Verbrechen der pseudodemokratischen
Doktrin, das Bestehen einer natürlichen Rangordnung zwischen zwei
Menschen als frustrierendes Hindernis für alle wärmeren Gefiihle
zu erklären: Ohne sie gibt es nicht einmal die natürlichste
Form der Menschenliebe, die normalerweise die Mitglieder einer Familie
miteinander verbindet.« (Konrad Lorenz, Die acht Todsünden
der zivilisierten Menschheit, 1973, S. 78). (Ebd., S. 41).
Weder Natur noch
Kultur sprechen für Gerechtigkeit. Die Natur nicht, denn nicht alle Frauen
sind gleich schön; nicht alle Männer sind gleich kompetent. Aber auch
die Kultur nicht, denn sie hat sich immer nur unter Bedingungen ungleicher Besitzverteilung
entfaltet. Nietzsche meinte gar: unter Bedingungen der Sklaverei! All das klingt
deprimierend, und die moderne Gesellschaft neigt dazu, weiteres Nachfragen zu
verbieten. Gene, Intelligenz und Rasse sind die Tabus unserer Zeit - wie Sex im
Viktorianischen England. Mit anderen Worten, archaisches Erbe, genetische Determination,
angeborenes Verhalten und Geschlechtsrolle sind die Skandale der egalitären
Gesellschaft. (Ebd., S. 41).Geist, Schönheit, Stärke,
Geschicklichkeit, Talent, Fleiß - all das ist ungleich verteilt und läßt
sich nicht umverteilen. Vor allem die Schönheit erscheint als die sichtbarste
»Ungerechtigkeit« der Natur. Und deshalb sind die Schönen Skandal
und Ärgernis der politisch korrekten Kultur. Schönheit ist undemokratisch
verteilt, und man kann sie nicht umverteilen. Nun sorgen aber die Massenmedien
dafür, daß uns dieses Ärgernis täglich quält; die Schönen
in den Medien machen uns unzufrieden. Hinzu kommt, daß die sexuelle Revolution
der 1960er Jahre eine sehr scharfe Diskriminierung gebracht hat, nämlich
zwischen den attraktiven Jungen und den Alten, vor allem aber zwischen den Schönen
und den Häßlichen. Wenn die Hüllen fallen, lassen sich die natürlichen
Unterschiede der Attraktivität nicht mehr leugnen. Das kann man im Sommer
bei jedem Strandspaziergang überprüfen. (Ebd., S. 41-42).Schönheit
gehört also zu den großen Ungerechtigkeiten der Welt. Was wir schön
finden - und vor allem: was Männer an Frauen schön finden, ist nicht
erlernt. Gegen das Vorurteil der Attraktivität ist kein Kraut gewachsen;
keine Aufklärung der Welt kann uns vor dem »lookism« bewahren.
Und es ist eine der naivsten Illusionen des »Gutmenschentums«, daß
das Aussehen nichts zählt. Das Bild der phantastischen Frau ist in Männerhirnen
fest verdrahtet. Und die Massenmedien optimieren dieses Ideal so sehr, daß
wir von den empirischen Körpern, die uns im Alltag begegnen, eigentlich nur
enträuscht sein können. (Ebd., S. 42).Verschärft
wird das Problem noch durch eine egalitaristische Rhetorik, die den Frauen einredet,
jede könne schön sein. In dieser Überforderung trifft sich die
Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
mit der Werbung der Kosmetikindustrie. Der Designer-Body ist deshalb das Statussymbol
der Gegenwart. Der Körper selbst wird hier zum Modestar, zum Schauplatz der
für alle sichtbaren Konsumkraft, denn es ist sehr teuer, einen Designer-Body
zu pflegen - Schönheitschirurgie inklusive. (Ebd., S. 42).Die
Predigt gegen die Idole von Schönheit und Jugend hat die gesamte Evolution
des menschlichen Begehrens gegen sich. Schönheit ist ein Signal für
reproduktive Fitneß; und daran orientieren wir uns, obwohl Sex in den meisten
Fällen gar nicht mehr der Fortpflanzung dienen soll. Der intellektuelle Spott
über den Designer-Body als Status-Symbol ist also zu billig. Denn für
uns alle bleibt der Dreiklang schön - jung - reich betörend. Und keine
Politische Kotrektheit kann etwas daran ändern, daß wir nur die Jungen
schön und sexy finden. Wer das nicht wahrhaben will, muß dann schon
zu Plattheiten wie der Grundschulforderung greifen, daß man Menschen nicht
nach ihrem Äußeren beurteilen soll. (Ebd., S. 42).Ist
es unfair, wenn die von allen begehrte Frau nicht mich, sondern meinen gut aussehenden
und intelligenten Rivalen heiratet? Muß man für die schlechteren Startbedingungen
auf dem Heiratsmarkt kompensien werden? Das sind natürlich rhetorische Fragen,
aber sie sollen drastisch zeigen, daß man lernen muß, die Gleichheit
aller Menschen als Subjekte der Menschenrechte nicht mit empirischen Eigenschaften
zu verwechseln. Empirisch herrscht Ungleichheit. So sind z.B. statistisch erfaßbare
Kriminalität und meßbare Intelligenz ungleich verteilt. (Ebd.,
S. 42-43).
Richard Herrnstein hat im September 1971 mit dem Artikel »IQ«
in der Zeitschrift Atlantic Monthly einen der größten Wissenschaftsskandale
aller Zeiten ausgelöst. Die entscheidende These lautet, daß
der soziale Status eines Menschen ganz wesentlich von vererbten Unterschieden
abhängt. Denn sozialer Status hängt stark vom wirtschaftlichen
Erfolg ab, wirtschaftlicher Erfolg ist sehr stark mit dem Intelligenzquotienten
korreliert, und der IQ ist vererblich. Doch diese Zusammenhänge sind
rein statistischer Art und besagen recht wenig über ein konkretes
Individuum. (Ebd., S. 43).
Herrnsteins These gewinnt ihre Brisanz aber nicht im Blick
auf den Einzelnen, sondern im Blick auf die moderne Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Auch in Zukunft bleibt die Gesellschaft in soziale Klassen gespalten, aber die
entscheidenden Faktoren sind nicht mehr Geld und Macht, sondern kognitive Fähigkeiten.
Die Dynamik der modernen Gesellschaft selektiert die Klügsten unter den Jugendlichen
und führt sie auf einen Karriereweg, der in der Formation einer kognitiven
Elite endet. (Ebd., S. 43).So hat gerade die Demokratisierung
der höheren Bildung die paradoxe Konsequenz, daß die Klügsten
schärfer vom Rest der Bevölkerung isoliert werden als je zuvor - und
zwar durch Prozesse der Selbstselektion. Jeder hat Zugang zum Schauplatz der höheren
Bildung, auf dem sich die Menschen nicht mehr nach Rasse, Klasse oder Religion,
sondern nach ihren kognitiven Fähigkeiten sortieren und trennen. Und dieser
Prozeß endet nicht in Schule und Universität, denn Bildung hat Folgen
für das Einkommen, die Berufswahl und den Geschmack der Leute. Ständig
wächst der Marktwert der Intelligenz. (Ebd., S. 43).Die
Isolation der kognitiven Elite vom Rest der Bevölkerung zeigt sich auch ganz
handfest darin, daß sie sich an Lebens- und Arbeitswelten orientiert, in
denen sie vor allem auf ihresgleichen trifft. Die elektronische Kommunikation
durch das Internet spielt hier natürlich eine Schlüsselrolle. Die kognitive
Elite bleibt unter sich, nicht nur in dem, was sie interessiert, sondern auch
in dem, was sie verachtet - z.B. das Fernsehen, die Bild-Zeitung und den gesunden
Menschenverstand. Robert Reich hat in diesem Zusammenhang von der Sezession der
Erfolgreichen gesprochen. Sie findet ihren drastischsten Ausdruck in den »Gated
Communities«, den Hochsicherheits-Lebenswelten der Reichen. (Ebd.,
S. 43).Wer gehört zur kognitiven Elite?
Diese Frage führt rasch zum Skandal der egalitären Gesellschaft, der
immer noch mit dem Titel eines Buches von Herrnstein und Murray verknüpft
ist: The Bell Curve. Gerade der Egalitarismus moderner Sozialpolitik fördert
eine extreme Elitebildung. Denn je besser es gelingt, jedem Jugendlichen die Chance
zu geben, seine kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln, desto geringer wird
der Einfluß der sozialen Umweltbedingungen - vor allem natürlich: des
Elternhauses - auf seinen Intelligenzquotienten. Das bedeutet aber, daß
die verbleibenden Unterschiede in der Intelligenz der Menschen zunehmend auf genetische
Differenzen zurückgeführt werden müssen. Je größer die
soziale Gleichheit, desto folgenreicher die genetischen Unterschiede. Mit der
Gleichheit der Lebensbedingungen wächst die Vererblichkeit von Fähigkeiten.
(Ebd., S. 44).Und nichts trennt die Menschen schärfer voneinander
als das geistige Milieu. Man wird den Mitgliedern des eigenen Milieus immer ähnlicher
und denen der anderen Milieus immer fremder. Wenn sich nun noch gleich zu gleich
gesellt, wie man das vor allen Dingen vom Heiratsmarkt kennt, zeigt die Gesellschaft
immer deutlicher Züge einer Schichtung nach Intelligenzgraden. Menschen von
hoher Intelligenz neigen dazu, Menschen von hoher Intelligenz zu heiraten. Und
da sie in der Regel gut verdienen, sind sie dann auch in der Lage, ihre Kinder
vor den Gesamtschulen zu bewahren und sie in Privatschulen zu schicken.
(Ebd., S. 44).Die meisten, die sich über das Buch »
The Bell Curve« öffentlich geäußert haben, sind darüber
zu Furien des »Gutmenschentums« geworden. Dafür gibt es zwei
Gründe. Zum einen wirkt es wie eine Kränkung der Menschheit, ein schändliches
Antasten der Menschenwürde, wenn man die Leute nach ihren kognitiven Fähigkeiten
in die fünf Rubriken sehr klug, klug, normal, dumm und sehr dumm einordnet.
Zum andern skandalisiert die These von der Vererblichkeit der Intelligenz, zumal
Herrnstein und Murray ja gerade für die egalitaristische Zukunft des vorsorgenden
Sozialstaates zu prognostizieren scheinen, daß der IQ zum Schicksal wird.
Es ist deshalb sehr wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, daß Statistiken
zur Vererblichkeit nichts über konkrete, einzelne Menschen aussagen, sondern
immer nur über eine ganze Population. (Ebd., S. 44).Intelligenz
hat aber einen noch viel unmittelbareren Einfluß auf das Schicksal der Menschen.
Das wird deutlich, wenn man betrachtet, wie die Leute mit ihrer Lebenszeit umgehen.
Der eine hat mehr Freundinnen, der andere bessere Noten. Der eine studiert mit
äußerster Konzentration und lebt dabei asketisch in einer Neuköllner
Einzimmerwohnung. Der andere studiert zwar auch, jobbt aber nebenher, weil er
einen gewissen Lebensstandard nicht aufgeben will. Der eine sitzt täglich
in der Bibliothek, der andere genießt das »Studentenleben«.
Der eine nimmt sich nach dem Studium erst einmal eine Auszeit und reist ein Jahr
in der Welt herum. Der andere beginnt sofort mit harter Arbeit und legt damit
die Grundlagen für seine Karriere. Darf man nicht vermuten, daß diese
unterschiedlichen Formen des Umgangs mit Lebenszeit und Lebenschancen von Intelligenz
abhängig sind? Offenbar sind kluge Leute weitsichtiger als dumme. Wohlgemerkt:
weitsichtiger, nicht unbedingt glücklicher. (Ebd., S. 44-45).Die
kognitive Klassenbildung und die Segregation geistiger Milieus führt »oben«
wie »unten« dazu, daß die Menschen sich selbst überbewerten,
weil ihre Werte ständig von der eigenen Clique bestätigt werden - das
Internet hat diesen Effekt durch die virtuellen Gemeinschaften noch verschärft.
Doch während die Selbstüberschätzung »oben« recht glücklich
als Großstadtneurose gelebt werden kann, wird das unbegründete Selbstwertgefühl
»unten« unmittelbar zum sozialen Problem. Die unbegründet hohe
Selbstwertschätzung schlägt nämlich leicht in Aggression um, weil
sie dem Realitätstest nicht Stand hält. Deshalb gibt es heute eine Politik
des Selbstwertgefühls, die die Leistungsschwachen vor einer realistischen
Selbstwahrnehmung schützen soll. Weil das Selbstwertgefühl
der Leistungsschwachen nicht bedroht werden soll, darf der IQ nicht mehr getestet
werden und wird Wettbewerb zum Unwort (**|**).
Stattdessen fordert man »Teamarbeit« - ein in aller Welt beliebtes
Wort, mit dem man Ehrgeiz und harte Arbeit tabuisiert. (Ebd., S. 45).Die
»Ungerechtigkeiten« der Natur lassen sich offenbar nicht kompensieren.
Jeder politische Versuch, sozial gleiche Umweltbedingungen für alle herzustellen,
verschärft nur die sozioökonomischen Differenzen, die durch die unterschiedliche
genetische Ausstattung der Menschen verursacht sind. Man kann - zum Beispiel mit
Hilfe intelligenter Computerprogramme - den Durchschnitt der kognitiven
Fähigkeiten von Schülern anheben, aber man kann die Differenzen
ihrer kognitiven Fähigkeiten nicht aufheben. (Ebd., S. 45).Aus
schierer Verzweiflung darüber haben sich die Bildungspolitiker entschlossen,
die Schwachen zu begünstigen und die Talentierten zu benachteiligen. Das
läßt sich am einfachsten bewerkstelligen, indem man das Niveau absenkt
und die begabten Schüler unterfordert. Aber auch das nutzt nichts. Denn Chancengleichheit
bietet eben nur gleiche Chancen. Doch diese Chancen werden höchst ungleich
genutzt. Und durch die ungleiche Nutzung der gleichen Chancen driften die Kompetenzen
immer weiter auseinander. Das hat das paradoxe Resultat, daß gerade die
Demokratisierung der Bildung die Elitebildung fördert. (Ebd., S. 45-46).Und
ähnliches gilt auch für den Konsum. Der Vergleich des Einkommens sagt
nämlich nicht viel über die jeweilige Lebensqualität, denn die
natürlichen Unterschiede der Menschen haben zur Folge, daß sie mit
ein und demselben Warenkorb höchst unterschiedliche Dinge anstellen können.
Einkommen muß immer erst noch in gutes Leben umgerechnet werden. Und nicht
nur das Einkommen ist ungleich verteilt, sondern auch die Fähigkeit, aus
dem Einkommen Lebenschancen zu entwickeln. (Ebd., S. 46).
Das unstilisierte Geschlechterverhältnis
Das
mächtigste Tabu der modernen Gesellschaft liegt über dem Geschlechtsunterschied.
Wer daran festhält, daß es wesentliche unterschiede zwischen Männern
und Frauen gibt, sich deshalb kritisch zu militanten Formen des Feminismus äußert
und den Wissenschaftsstatus der so genannten »Gender Studies« in Frage
stellt, gerät rasch in die Zone akademischer Kopfschüsse. Hier muß
man entschlossen, aber auch sehr besonnen vorgehen - und das heißt eben:
unterscheiden. (Ebd., S. 47).Wir wollen
im folgenden zwischen dem aufgeklärten und dem fanatischen Feminismus unterscheiden
und lassen uns dabei von der Überzeugung leiten, daß jeder, der dem
fanatischen Feminismus Konzessionen macht, dem aufgeklärten Feminismus schadet.
Der aufgeklärte Feminismus gehört in die stolze Geschichte des europäischen
Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit. Der fanatische Feminismus ist eine
psychische Epidemie, eine Geisteskrankheit, die aufgrund ihrer massenweisen Verbreitung
in gewissen Medien und Bildungsanstalten als neue Form von Intelligenz gefeiert
wird. (Ebd., S. 47).Der Geist der Demokratie verführt
dazu, Gleichberechtigung mit Gleichartigkeit zu verwechseln. Daß es nicht
mehr Herr und Knecht geben soll, wird dann so überinterpretiert, daß
es auch keinen Unterschied zwischen Vater und Sohn oder zwischen Mann und Frau
mehr geben soll. Gerade hier, im Verhältnis der Geschlechter, hat Alexis
de Tocqueville den Punkt des größten demokratischen Mißverständnisses
markiert. Indem man die Gleichheit der Geschlechter erzwingt, degradiert man beide.
Hier konnte Tocqueville die us-amerikanische Demokratie noch loben: Während
Europa zur forcierten Gleichstellung der Geschlechter neige, habe US-Amerika das
ökonomische Grundprinzip der Arbeitsteilung auf das Geschlechterverhältnis
angewandt. Es ist genau diese sexuelle Arbeitsteilung, deren überlegene Produktivität
für Tocqueville noch außer Frage stand, gegen die sich der Kampf des
Feminismus richtet. (Ebd., S. 47).Der fanatische Feminismus
mißversteht Gleichberechtigung als Gleichheit. Der aufgeklärte Feminismus
versteht sie als ein Als-ob. Wir behandeln Männer und Frauen politisch so,
als ob es keinen Unterschied zwischen ihnen gäbe. Aber das, was hier ignoriert
wird, ist eben nicht nichts. Und wenn es verdrängt wird, kehrt es in entstellter
Form wieder: in der Pornographie oder als »sexuelle Belästigung«.
(Ebd., S. 48).Alle Absurditäten des fanatischen Feminismus
rühren also daher, daß einige intelligente Frauen nicht in der Lage
sind, zwischen Gleichberechtigung und Gleichheit zu unterscheiden. Mann und Frau
sind politisch gleich. Das gilt für die wahlentscheidenden Stimmen genauso
wie für die Führungspositionen der westlichen Welt - man denke an Frau
Thatcher, Frau Rice oder Frau Merkel. Mann und Frau sind aber biologisch ungleich.
Der Geschlechtsunterschied ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Hier
kann es nur liebende Komplementarität geben - oder den Krieg der Geschlechter.
Jede Politik, die hier auf Identität statt auf Differenz setzt, ist monströs
und lächerlich: Frauen im Kampfeinsatz an der Front; Männer, die Kinder
gebären. Niemand hat das wahre Verhältnis emanzipierter Frauen und Männer
besser definiert als der Dichter Alfred Lord Tennyson: Gleichsein im Unterschiedensein.
(Ebd., S. 48).Mitte des 19. Jahrhunderts gab es noch einen aufgeklärten
Feminismus, der Männer und Frauen gleichen Wert gab und der Emanzipation
der Frau in Moral, Politik und Wissenschaft nur eine Grenze zog: nur das nicht
zu tun, was die Weiblichkeit beschädigt. Die Frau ist nicht minderwertig,
sondern anders. Deshalb darf Gleichberechtigung nicht heißen, Frauen wie
Männer zu behandeln. Daß Frauen alles auch können, was Männer
können, ist ein Wahn, der in der Umkehrung noch deutlicher wird: wenn Männer
versuchen, was nur Frauen können, z.B. Kinder bekommen. Die Gleichheit von
Mann und Frau kann nicht durch Gleichstellung, sondern nur durch die Form ihrer
Verbindung verwirklicht werden. Und dafür hat Tennyson eine unüberbietbare
Formel gefunden, die so prägnant ist, daß sie keine Übersetzung
braucht: »Not like to like, hut like in difference«. (Alfred Lord
Tennyson,a.a.O,., S. 202). (Ebd., S. 48).Der fanatische Feminismus
zielt heute weder auf Freiheit noch auf Chancengleichheit, sondern auf Ergebnisgleichheit.
Alle starren auf die Zahlen bei der Besetzung von Führungspositionen. Wie
hoch ist der Anteil weiblicher Professoren an deutschen Universitäten? Wie
viele Dax-Unternehmen werden von Frauen geführt? Nie geht es um konkrete
Frauen und die Anerkennung ihrer Leistung, sondern immer nur um die Gruppe und
ihre »Quote«. Die fanatischen Feministen heute wollen Gleichheit statt
Freiheit - und zwar Ergebnisgleichheit start Chancengleichheit - und zwar Ergebnisgleichheit
nicht für die einzelnen Frauen, sondern für die »Gruppe«
der Frauen als ganze, statistisch meßbar an der Zahl von Frauen in bestimmten
hoch bezahlten Berufen und Spitzenpositionen. Ja eigentlich geht es ihnen auch
nicht um Gleichheit, sondern um Macht. (Ebd., S. 48-49).Hier
zwei unbeliebige historische Beispiele. Alle Klischees des Antifeminismus werden
durch das Leben Simone de Beauvoirs glänzend bedient: Der Vater nennt sie
häßlich; die katholische Mutter beharrt auf der traditionellen Mutterrolle
der Frau und weckt in der kleinen Simone schon früh einen Haß gegen
Haushalt und Kindererziehung. Die Penetration erlebt sie als Trauma und deshalb
erscheint ihr der Geschlechtsakt prinzipiell als Erniedrigung der Frau, aus der
es nur den Ausweg in die Homosexualität gibt. Schwangerschaft erlebt die
Frau als ein Leiden, das sie überdies als häßlichen, in jedem
Fall aber unattraktiven Körper zurückläßt. Und der Rest des
Lebens steht im Zeichen der Angst vor dem Altern, in dessen Verlauf jede Frau
erfahren muß, daß sie nicht nur ein unbestimmtes Etwas zwischen Mann
und Kastrat ist, sondern als alte Frau zum «dritten Geschlecht« herabsinkt.
(Ebd., S. 49).Gegen all diese Ängste hat Simone de Beauvoir
ihren Protofeminismus mobilisiert. Man kann leicht zeigen, wie dieser Feminismus
aus dem Existentialismus Sartres entsteht und schließlich in die Soziologie
der Postmoderne mündet. Die Parole lautet: Alles ist Wahl, nichts ist Natur.
Mutterliebe ist nicht natürlich; der Unterschied von Mann und Frau ist rein
kulturell. Das natürliche Geschlecht darf keine Rolle spielen. Doch damit
die Lesben die Welt erobern können, müssen sie auch das männliche
Wissen einer Revision unterziehen. So heißt es bei Simone de Beauvoir: »Ich
bin der Meinung, daß man unbekümmert Mathematik oder Chemie studieren
kann; die Biologie ist da schon suspekter, und erst recht gilt das für die
Psychologie und die Psychoanalyse. Ich halte es für notwendig, daß
wir das Wissen von unserem Gesichtspunkt her revidieren.« (Simone de Beauvoir,
a.a.O., S. 465). (Ebd., S. 49).Die Umwertung der männlichen
Werte mündet dann in die Anbetung der dreifaltigen Gottheit von Emanzipation,
Selbstverwirklichung und Authentizität. Diese Fetischbegriffe verdecken zuweilen
die einfachsten Zusammenhänge. Muß man z.B. nicht ohne eigene Wahl
und durch eine Mutter zur Welt gekommen sein, um sich selbst vetwirklichen zu
können? Logik mag ja männlich sein, aber etwas mehr Logik hätte
dem existentialistischen Feminismus nicht geschadet. Am Ende war Simone de Beauvoir
nicht existentialistisch genug. Theoretisch wußte sie, daß es gerade
für Frauen darauf ankommt, ihr »Geworfensein« anzunehmen. Sie
selbst hat es aber nicht angenommen, sondern in einem lebenslangen Sabotageakt
gegen das biologische Schicksal bekämpft. Gerade das hat Simone de Beauvoir
zur Ikone des Feminismus gemacht. (Ebd., S. 49-50).Simone
de Beauvoir meinte, Frauen sollten keine Kinder haben, wenn sie dadurch von Erwerbsarbeit
abgehalten werden. Ihre Enkelinnen nehmen sie heute beim Wort. Und dabei können
sie auch weiterhin des Zuspruchs der Intellektuellen gewiß sein. Wie Hegels
Weltgeschichtsphilosophie dem arbeitenden Sklaven die Verwandlung der Welt in
ein menschliches Zuhause zugeschrieben hat, so schreibt die Politische Korrektheit
(**|**|**|**|**|**|**|**|**)
der arbeitenden Frau die Verwandlung der modernen Gesellschaft in ein menschliches
Zuhause zu. (Ebd., S. 50).Die us-amerikanische Intellektuelle
Susan Sontag war ein Geisteskind Simone de Beauvoirs. Auch hier beginnt alles
mit einer prototypischen traurigen Kindheitsgeschichte. Susan Sontag ist das Kind
einer alkoholkranken, alleinerziehenden Mutter, die sie nach der Geburt sofort
einer Nanny überläßt. Sie darf ihre Mutter in der Öffentlichkeit
nicht »Mutter« nennen und bleibt Zeit ihres Lebens von dem Leben ihrer
Eltern ausgeschlossen. All das verdichtet sich zu dem Grundgefühl, nicht
geliebt zu werden. Im Glücksspiel einer akademischen Laufbahn scheitert Susan
Sontag - und nun sucht sie ihr Heil im Angriff, seit 1951 entscheidend beeinflußt
von Simone de Beauvoir. (Ebd., S. 50).Das hat zwei gravierende
Folgen: Zum einen flüchtet Susan Sontag genau wie Simone de Beauvoir in die
Homosexualität und ist deshalb bis zum heutigen Tag ein Rollenmodell der
Lesben geblieben. Zum anderen stellt sie fortan alle Lebensenergien in den Dienst
der Selbstinszenierung. Ständig arbeitet sie an der Kontrolle ihres Images
und an der Organisation der Publicity. Und so wird Susan Sontag zur Ikone des
»radical chic«. In der Strategie ihrer Selbstvermarktung ist Wut das
wichtigste Marketing-Tool. Und genau damit ist sie für den Feminismus unschätzbar
wichtig geworden: Susan Sontag hat den männlichen Zorn und die habituelle
Entrüstung als Medium der Frauenemanzipation entdeckt. (Ebd., S. 50).Zwei
Wissenschaftler, deren Namen heute eigentlich nur noch Wissenschaftler kennen,
haben das Verhältnis der Geschlechter revolutioniert: Gregory Goodwin Pincus
und John William Money. Pincus erfand 1960 die Antibabypille, Money nahm 1967
eine spektakuläre Geschlechtsumwandlung an dem zweijährigen Bruce Reimer
vor. (Ebd., S. 50).Seit es die Pille gibt, ist Sex ohne Kinder
selbstverständlich. Und umgekehrt konfrontiert uns die Gentechnik heute mit
der Möglichkeit, Kinder ohne Sex zu haben. Die Pille erzeugt eine chemische
Schwangerschaft. In der Geschichte der Liebe ist sie das wichtigste Stück
Anti-Natur. Wie das Ende des Lebens hat damit auch sein Anfang seine Natürlichkeit
verloren. Deshalb skandalisieren auch andere Techniken der Fortpflanzung kaum
mehr - Leihmutter, künstliche Gebärmutter, Ektogenese sind hier die
einschlägigen Stichworte. Bei Kulturanthropologen und Soziologen finden die
gesellschaftlichen Folgen der Pille immer stärkere Beachtung. Frauen kontrollierten
ja schon immer die Reproduktion - erst die Pille aber hat sie zu den wahren Türhütern
der Natur gemacht. Und die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
behandelt Frauen heute wie Männer, die sich gelegentlich eine kleine Auszeit
nehmen, um Kinder zu bekommen. (Ebd., S. 51).An die Pille
und ihre Folgen haben wir uns gewöhnt. Heute geht es darum, mit Bruce / Brenda
Reimer und den Folgen fertig zu werden. John Money hatte ursprünglich ein
rein psychiatrisches Interesse an Transsexuellen und Hermaphroditen und entwickelte
in diesem Zusammenhang eine Theorie der psychosexuellen Neutralität und »Gender«-Identität.
Zu Deutsch: Das soziale Geschlecht - also »Gender« - wird dem Menschen
zugewiesen und kann nicht aus dem biologischen Geschlecht - also Sex - abgeleitet
werden. Wenn »Gender« aber zugewiesen wird, dann kann man das soziale
Geschlecht eines Menschen auch neu zuweisen. Genau das sollte durch eine Geschlechtsumwandlung
an dem an den Genitalien verstümmelten Bruce Reimer bewiesen werden. Wie
Volker Zastrow treffend bemerkt: »Das Skalpell diente als psychiatrisches
Instrument.« (Volker Zastrow, Der kleine Unterschied, in: F.A.Z.,
07.09.2006, S. 8 **).
(Ebd., S. 51).Diese Geschlechtsumwandlung wurde massenmedienwirksam
als Triumph der Aufklärung verkauft - und erwies sich im Nachhinein als unvorstellbares
Debakel. Doch die lebensgeschichtliche Katastrophe des Versuchskaninchens Bruce
/ Brenda Reimer konnte dem Ruhm des John Money nichts anhaben. Denn er hat vielen
ein Theorieangebot gemacht, das unwiderstehlich wirkte: Kultur ist wichtiger als
Natur; Homosexuelle sind normal, Heterosexualität dagegen ist ein ideologisches
Zwangssystem. Und vor allem die Feministinnen hatten jetzt eine Theorie, die Simone
de Beauvoirs Credo stützte, daß man nicht als Frau auf die Welt kommt,
sondern dazu gemacht wird. (Ebd., S. 51). Das Spektrum der
feministischen Money-Schülerinnen reicht von Kate Millet bis zu Alice Schwarzer.
Manche Frauen gebären Kinder alle anderen Unterschiede sind artifiziell und
beliebig umformbar. Und wenn man einem Jungen sagt, daß er ein Mädchen
sei, und ihn entsprechend behandelt, wird er sich auch weiblich verhalten. Bruce
Reimer hat das alles mit Blut, Schweiß und Tränen widerlegt, aber seine
Leiden sind vergessen. Denn John Money hatte rechtzeitig eine Immunisierungsstrategie
entwickelt, die dem Feminismus auch heute noch unschätzbare Dienste leistet:
Wer behauptet, Männer seinen männlich und Frauen seien weiblich, will
die Frauen wieder in Bett und Küche - oder wie man auch gerne sagt: zu Kindern,
Küche und Kirche zurückzwingen. (Ebd., S. 51-52).Im
Bereich des Geschlechterverhältnisses trägt die Politische Korrektheit
(**|**|**|**|**|**|**|**|**)
den Namen »Gender Mainstreaming«. Das ist die regierungsoffizielle
Politik der fortschrittlichen westlichen Länder, die das biologische Geschlecht
von der sozialen Geschlechtsrolle abkoppeln möchte. »Gender«
hat demnach nichts mit Sex zu tun und kann im Grunde frei gewählt oder neu
zugewiesen werden. Auf diese Idee ist erstmals eben jener John Money gekommen
- und zwar bereits in den 1970er Jahren. 1995 hat sie die Weltfrauenkonferenz
in Peking dann zum Standard des politisch korrekten Umgangs mit Fragen des Geschlechterverhältnisses
erhoben. Seither muß man denken (oder zumindest sagen), daß die Gesellschaft
das Geschlecht konstruiert. In den Universitäten wird diese politische Philosophie
durch »Gender« Studies verbreitet. Für sie scheint charakteristisch,
daß das Engagement in der Frauenbewegung zum entscheidenden Qualifikationskriterium
für die Frauenforschung erhoben wird. (Ebd., S. 52). **
** **Im
Nachrichtenmagazin Focus konnte man lesen: »Das Europaparlament hat beschlossen,
daß in Fernsehwerbung, Schulbüchern und Internet Hausfrauen in der
Küche nicht mehr gezeigt werden sollen, daß Körperbild
und Geschlechterrollen positiv auf die Gesellschaft einwirken sollen.«
(Focus, # 37, 2008). Der Satz stammt immerhin aus der Feder des Chefredakteurs
Helmut Markwort. Auch nach längerem Nachdenken wird man sich nicht entscheiden
können, ob es sich um einen guten Aprilscherz oder um die traurige Wirklichkeit
des »Gender Mainstreaming« handelt. (Ebd., S. 52).Der
fanatische Feminismus verwechselt soziale Rollen mit Geschlechterrollen. Ein Mann
oder eine Frau zu sein, ist kein soziales Konstrukt. Soziale Rollen kann man wechseln,
aber man kann als Mann nicht einfach Frau spielen - es sei denn im Film: Tootsie.
Und man kann als Frau nicht einfach Mann spielen - es sei denn in der Oper. »Der
Geschlechtsunterschied bleibt die Stelle, an der Natur und Kultur sich verbinden«,
sagt Dietrich Schwanitz zu Recht (vgl. Dietrich Schwanitz, Männer,
2003, S. 28). (Ebd., S. 52).Das Wissen um die sexuelle Designdifferenz
zwischen Mann und Frau geht in der westlichen Welt allmählich verloren. Feminismus
besagt ja, daß der Unterschied zwischen Mann und Frau keinen Unterschied
macht. Da die Differenz der Geschlechter aber ständig in die Augen springt,
muß der fanatische Feminismus vor allem Wortpolitik betreiben und versuchen,
Sex durch »Gender« zu verdrängen. Wenn also allerorten »Gender
Studies« aufblühen, darf man vermuten, daß es dabei vor allem
um eine Kampfansage gegen die Evolutionsbiologie geht. (Ebd., S. 52-53).Heute
gibt es aber nicht nur Institute, sondern auch Medikamente für das richtige
Denken. Mit Ritalin und Prozac erzeugt man Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**),
nämlich Feministen und Softies. Natürlich sind hier die USA führend.
Prozac wird dort vor allem depressiven Frauen verschrieben, denen es an Selbstwertgefühl
mangelt - eine Droge, die Frauen Alpha-Tier-Gefühle verschafft. Ritalin dagegen
wird vor allem hyperaktiven Jungs verschrieben, die nicht still auf ihren Schulbänken
sitzen können. Schon 1969 hat Patricia C. Sexton den feminisierten Mann identifiziert.
Er ist das Produkt eines Schulsystems, das zunehmend von Frauen bestimmt wird
und deutlich weibliches Verhalten belohnt - man spricht dann gerne von »sozialem
Lernen«, »Sensibilisierungskursen« und »Kommunikationstraining«.
(Ebd., S. 53).So werden die Jungen sozialverträglicher, die
Mädchen selbstbehauptender, und alle tendieren zur androgynen Mitte. Charles
Horton Cooley hat schon vor hundert Jahren beobachtet, daß die demokratische
Nivellierung der Geschlechterdifferenz in Organisationen und Wertbewerbssituationen
tatsächlich zu einer Maskulinisierung der Frauen und einer Feminisierung
der Männer geführt hat. Und wer das als Verlust kultureller Errungenschaften
erfährt, muß lernen, daß eine künftige Differenzierung der
Geschlechterrollen sich weder auf Natur noch auf Autorität berufen kann.
Sie könnte allenfalls das Resultat eines freien experimentellen Spiels sein
- und genau daran arbeitet der aufgeklärte Feminismus. (Ebd., S. 53).Wohl
noch niemals in der Geschichte der Menschheit war das Verhältnis der Geschlechter
so vergiftet wie heute. Weil uns der Geist der Demokratie dazu verführt,
Gleichberechtigung als Gleichartigkeit und Gerechtigkeit als Gleichheit zu verstehen,
erwachsen Legitimationsprobleme der Geschlechterdifferenz, weil sie asymmetrische
Lebensformen aus sich entläßt. Gerne würde man das Problem ignorieren,
denn so wie die Liebe die Logik stört, so stört der Geschlechtsunterschied
die moderne Gesellschaft. Deshalb verzichtet unsere Kultur heute auf jede Stilisierung
des Geschlechterverhältnisses. (Ebd., S. 53).Früher
lebten Männer und Frauen zusammen - aber nach unterschiedlichen Regeln. Heute
gelten für Männer und Frauen dieselben Regeln - aber sie leben nebeneinander
her wie Parallelen, die sich eben nicht kreuzen. Das ist eine Folgelast der Modernisierungsprozesse,
die die Kluft zwischen evolutionärem Erbe und Standards der Lebensführung
immer weiter aufreißen. Ende des 19. Jahrhunderts war es für den Soziologen
Emile Durkheim noch selbstverständlich, daß Mann und Frau sich suchen,
weil sie sich unterscheiden; die Energie der Beziehung verdanke sich gerade der
Unähnlichkeit der Naturen, die sie vereint. Heute dagegen schreibt unsere
moderne Kultur den Männern und Frauen vor, Partner oder Kumpel zu sein -
ein mächtiges Tabu liegt über dem magischen Unterschied. Statt Liebesaffären
hat man Beziehungen. Modern ist es weder denkbar, daß die Gattenwahl fremdbestimmt
erfolgt, noch daß man bewußt in eine Geschlechterrolle einrastet.
(Ebd., S. 54).Frauen, die dem Zeitgeist huldigen, kopieren die
Männer. Sie wollen das, was Männer tun, zum Beispiel regieren und Fußball
spielen. Das Beispiel ist trivial, aber man kann daran den Unterschied zwischen
aufgeklärtem und fanatischem Feminismus sehr schön klar machen. Daß
auch Frauen gut regieren können, zeigt uns die jüngere Geschichte von
Frau Thatcher bis Frau Merkel. Aber daraus folgt nicht, daß Frauen auch
gut Fußball spielen können. Das moderne Gebot »Ignoriere den
Geschlechtsunterschied!« fordert aber: Mann soll so tun, als ob Frauenfußball
interessant wäre. (Ebd., S. 54).Viele
Frauen wollen aber nicht nur das tun, was Männer tun, sondern sie wollen
auch das nicht tun, was Männer nicht tun wollen, zum Beispiel putzen und
Windeln wechseln. Gerade den Sinn der sexuellen Arbeitsteilung kann man in der
modernen Gesellschaft kaum mehr plausibel machen. Hinzu kommen die unbezweifelbaren
Fortschritte in der Ausbildung von Frauen, die sie für die Wirtschaft attraktiv
machen. Je erfolgreicher aber die Wirtschaft und je gebildeter die Frauen, desto
unfruchtbarer ist eine Nation. Frauen verdienen mehr und gebären weniger.
Die Emanzipation der Frau vollzieht sich demnach als Entwertung der Mutterschaft
und der Männlichkeit. Männer und Frauen leben das gleiche Leben.
(Ebd., S. 54).Doch das gleiche Leben von Mann und Frau versöhnt
nicht, sondern verbittert. Mehr denn je scheint Nietzsche mit seiner Definition
der Liebe recht zu behalten: »in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde
der Todhaß der Geschlechter« (Friedrich Nietzsche, Warum ich so
gute Bücher schreibe, in: Ecce homo, 1889, § 5). Diesern
latenten Kriegszustand zwischen den Geschlechtern versuchen sich immer mehr Menschen
dadurch zu entziehen, daß sie die Identifikation mit ihrer Geschlechterrolle
verweigern. Frauen wollen nicht mehr Frauen und Männer nicht mehr Männer
sein. Man könnte das Geschlechtsflucht nennen. Sie erspart das Risiko, das
darin liegt, daß sich Mann und Frau, um es mit der prägnanten Formel
des Psychiaters Hans Bürger-Prinz zu sagen, auf »das Überraschungsfeld
des anderen Leibes« begeben müssen. (Vgl. Hans Bürger-Prinz, Psychopathologie
der Sexualität, 1955, S. 542). Durch Geschlechtsflucht passen sich die
Menschen einer Gesellschaft an, in der die Spannung zwischen den Geschlechterrollen
immer weiter abgespannt wird. (Ebd., S. 54-55). **
Unsere
Überlegungen zur aktuellen Kulturbedeutsamkeit der Homosexualität bleiben
übrigens unberührt von der Frage; »nature« oder »nurture«?
Zur Zeit neigt man unter Wissenschaftlern offenbar zu der Auffassung, die homosexuelle
Objektwahl sei angeboren - sie als »fait social« zu betrachten, sei
also nur eine Form der Diskriminierung. Natürlich ist diese Diskussion von
allergrößter Bedeutung, aber sie führt nicht ins Zentrum unserer
Frage. Wir fragen: Welche Prämien gibt es in der modernen Gesellschaft für
bestimmte Lebensführungsformen? Es geht also nicht um die Frage, ob eine
heterosexuelle Orientierung besser ist als eine homosexuelle; ob die klassische
Familie besser ist als die Patchwork-Familie. Es geht vielmehr um die Frage, welche
Lebensformen besser zur modernen Welt passen; für welche es soziale Prämien
gibt. Und hier spricht einiges dafür, daß Schwule, Frauen und Singles
besser an die neuen kooperativen, postindustriellen Strukturen angepaßt
sind, als traditionell orientierte Männer und klassische Familien. Man kann
das anerkennen, ohne doch deshalb das moderne Leben schon mit dem guten Leben
zu identifizieren - und auch nicht mit einer »vernünftigen Gesellschaft«.
Denn wir stellen auch die Anschlußfrage; Wie hoch ist der Preis? Was kostet
es, derart modern zu sein? Das ist die Frage nach den sozialen Präferenzen,
und wir gehen davon aus, daß sie sich in Vorurteilen niederschlagen (preference
= prejudice). Jenseits der Vorurteile ist nirgendwo, also die Utopie. Das zeigt
sich gerade in der Diskussion über Homosexualität. Gerade die intellektuellen
Schwulen schreiben alles der Zuschreibung zu - nur nicht die eigene Homosexualität.
Alles ist Diskurs, nur ich nicht! Man kann aber nicht beides haben: natürliche
Homosexualität und Genderdiskurs. Wir maßen uns hier kein Urteil an,
sondern fragen nach Präferenzen und plädieren für das Normale.
Alle Welt hat das Normale dekonstruiert - uns kommt es darauf an, es zu verschonen.
(Ebd.). |
Die Homosexuellen
stellen hier nur einen Extremwert dar. Sie ersparen sich das Risiko des anderen
Geschlechts und befriedigen ihr Begehren nach Frauen an Männern - und züchten
damit eine Kultur der effeminierten Männer. Das ist durchaus realitätsgerecht.
Denn der Kult der Männlichkeit verträgt sich nicht mit modernen Erfolgsbedingungen.
Und deshalb kann man immer häufiger beobachten, daß gerade die Erfolgreichen
in die Homosexualität flüchten. Homosexuelle entlasten sich nämlich
vom Status-Sex-Wettbewerb und sie ersparen ihrem Begehren den Kompromiß
mit den Erwartungen der Frauen. Die moderne Gesellschaft hat das längst normalisiert.
(Ebd., S. 55).Der Siegeszug der Homosexuellen in den modernen Metropolen
zeigt, daß es unserer Gesellschaft heute einleuchtet, Sexualität als
vollkommen formbar zu begreifen. Man entscheidet sich für ein »Gender«
und akzeptiert Heterosexualität längst nicht mehr als natürlichen
Standard. (Denn man will ja untergehen! HB).
Der Ökonom Edward Miller hat in diesem Zusammenhang vermutet, daß die
Feminisierung der Öffentlichkeit die Entwicklung der Homosexualität
fördert. Er deutet Homosexualität nämlich als Nebenprodukt, das
bei der Produktion femininer Züge in unserer Gesellschaft anfällt: Mitgefühl,
Sensibilität, Sanftheit, Freundlichkeit. Bei einigen Männern gelingt
diese Temperierung ihrer Männlichkeit - die anderen werden schwul.
(Ebd., S. 55).Die Unduldsamkeit, mit der aktuelle Diskurse alleine
schon auf das Wort Männlichkeit reagieren, deutet auf ein mächtiges
Tabu. Harvey C. Mansfield, der ein interessantes Buch über Männlichkeit
geschrieben hat, weist zu Recht darauf hin, daß es für jeden Autor
ein großes Risiko darstellt, über ein Thema zu schreiben, zu dem jeder
eine Meinung hat (- und das gilt natürlich auch für das Thema dieses
Buches!). Aber, so sagt sich Mansfield in glänzender Selbstreferenz,
es ist männlich, Risiken einzugehen. Oder ist es verrückt - und ist
Männlichkeit verrückt? Ist der männliche Mann heute ein Don Quijote?
(Ebd., S. 55).Mädchen werden offenbar auf sehr viel
natürlichere Weise Frauen, als Jungen zu Männern werden. Und deshalb
können Frauen auch Männlichkeit imitieren, ohne in eine Identitätskrise
zu geraten. Männer sind künstlicher. Männlichkeit hat immer den
Charakter einer Performance: Mann kann man nicht einfach nur »sein«.
So ist Sex für Männer immer auch ein Identitätstest. Männlichkeit
definiert sich sehr viel stärker über eine Negation des Weiblichen als
umgekehrt. Deshalb sind Identitätskrisen bei Männern vorprogrammiert,
wenn diese Negation erschwert wird. (Ebd., S. 55-56).Ohnehin
steckt der Mann in einer Falle, die Psychiater »Double Bind« nennen.
Man heißt ihn: Sei ein Mann! Aber ein Mann zu sein, heißt ja gerade,
keine derartigen Befehle entgegenzunehmen. Männlich ist die Selbstbehauptung,
nicht die Diskussion: Basta! Männliche Männer sind gerade nicht anpassungsfähig,
flexibel und kontextsensitiv. Mit einem Wort: Sie sind durch und durch unmodern.
War Männlichkeit immer schon Reaktionsbildung und Angstabwehr, so muß
sie heute auf die Delegitimation der Männlichkeit selbst reagieren. Männlichkeit
ist ständig gefährdet und muß deshalb ständig demonstriert
werden. Ein Mann verweigert die Auswege des Eskapismus und Infantilismus. »Face
it!« wie man in den USA sagt. Heute erinnert daran nur noch die Karikatur
des Machismo. (Ebd., S. 56).Der größte Feind des
fanatischen Feminismus ist die Ritterlichkeit. Von Don Quijote war ja schon die
Rede. Aber auch der Macho ist in all seiner Lächerlichkeit noch ein Repräsentant
des Geistes der Männlichkeit. Vielleicht könnte man ihn den letzte Erben
des Thymos nennen. Dieses unübersetzbare griechische Wort spricht von Herz,
Mut, Stolz und Ehre. Thymos ist der Geist männlicher Dominanz. Natürlich
trifft man ihn heute nur noch in verzertter und entstellter Gestalt an. So ist
der moderne Macho oft intelligent genug, sich mit dem rhetorischen Gewand der
Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
zu maskieren. Wenn aber ein moderner Macho derart feministische Ideale im Fernsehen
propagiert, dann doch offenbar nach dem Handicap-Prinzip: Meiner Männlichkeit
kann das nichts anhaben! Ich kann mir das leisten. (Ebd., S. 56).Singe
den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus. Die Dichter von Homer bis Ernst
Jünger haben das Lob der Männlichkeit im Krieg gesungen. Krieg war immer
der Ernstfall der Männlichkeit, die Möglichkeit ihrer vollständigen
Entfaltung. Und noch heute ... zeigt fast jeder Film die Waffe als Totem der Männlichkeit.
Wo gekämpft wird, sind keine Frauen. Und wo Frauen erscheinen, wird nicht
mehr gekämpft. Aber es wird um Frauen gekämpft. Und Männer hören
auf zu kämpfen, wenn Frauen aufhören, sie dafür zu bewundern.
(Ebd., S. 56).Frauen können erfolgreich Regierungen führen,
auch im Krieg (Golda Meir, Indira Gandhi, Margaret Thatcher), aber nicht kämpfen.
Deshalb bedeuten Gleichstellung und Unisex im Militär, daß die körperlichen
Standards deutlich abgesenkt werden müssen, weil die meisten Frauen mit den
meisten Männern hier nicht mithalten können. Frauen gibt es zwar in
der Revolte, aber nicht im Krieg. Terroristinnen sind möglich, aber nicht
Soldatinnen. (Auch wenn es sie de facto natürlich längst gibt!).
Und die männlichen Revolutionäre können Frauen an ihrer Seite ohne
Selbstachtungsverlust nur deshalb akzeptieren, weil sie sich in einem asymmetrischen
Kampf mit dem »System » befinden. (Ebd., S. 56-57).Im
Krieg ist die Welt der Männer noch in Ordnung. In Friedenszeiten suchen sie
nach einem Ventil für ihre heroische Energie. Allerdings blieb William James'
Suche nach einem moralischen Äquivalent des Krieges erfolglos. Zum letzten
Mal stellte ein bedeutender Denker die Frage: Wie kann man Männlichkeit in
einer pazifistischen Welt bewahren und bewähren? Über dieser Frage liegen
nun hundert Jahre Vergessenheit. Die Moderne kultiviert seither die Menschheit
ohne Männlichkeit, die geschlechtsneutrale Gesellschaft. (Ebd., S.
57).Wenn man Männer nicht männlich sein läßt,
werden sie gewalttätig oder schwul. Wer gewalttätig ist, will sich zum
Herrn machen und unsere Gesellschaft ächtet das zu Recht. Aber es gibt eben
auch noch einen anderen psychodynamischen Weg. Ein Mann, der kein Mann sein darf,
sucht einen Mann: Homosexualität - und unsere Gesellschaft hat das normalisiert.
Längst hat sich ein riesiger Markt der effeminierten Männer gebildet,
männliche Jugendliche, die wie Frauen aussehen. Und nicht nur in Trend-Lettern,
sondern auch in regierungsoffiziellen Verlautbarungen erscheinen sie als Rollenvorbild.
An die Stelle der »neuen Gesellschaft« ist heute der »neue Mann«
als Projekt der Linken getreten. Man könnte von einer Re-education Teil II
sprechen. Nach der Entnazifizierung kommt jetzt die Entmachoisierung, die Verwandlung
des Mannes in ein sorgendes Haustier. Letztlich geht es hier um die Ausrottung
von Stolz und Ehrgeiz. Für den Wunsch, die Nummer eins zu sein, müssen
dann Ersatzschauplätze gefunden werden - Sportveranstaltungen zum Beispiel.
(Ebd., S. 57).Unisex, das Prokrustes-Bett der Emanzipation, hat
sich von einer Modeströmung zur Regierungspolitik gemausert. Männer
sollen »fürsorglich« werden und im Haushalt mitarbeiten; Frauen
sollen das Sexualverhalten der Männer imitieren und ihren Mutterinstinkt
verdrängen. Männer sollen für die Kinder sorgen, die die emanzipierten
Frauen kaum mehr gebären. Männer werden von der Politischen Korrektheit
(**|**|**|**|**|**|**|**|**)
auf weich und sensibel, Frauen auf kalt und berechnend programmiert. (Ebd.,
S. 57).Doch all diese Projekte haben ihre Sollbruchstelle an der
Naturschranke. Bei den Olympischen Spielen in Peking konnte man wieder sehr schön
beobachten, daß männliche Athleten erfolgreich ihre Männlichkeit
gesteigert haben, während weibliche Athleten erfolgreich ihre Weiblichkeit
unterdrückt haben. Viele Sportlerinnen sehen wie Parodien des klassischen
Männlichkeitsideals aus. (Ebd., S. 58).Der
Lieblingsbegriff des Fußballstars Günther Netzer, mit dem er jahrelang
die Leistungen der deutschen Nationalmannschaft bemessen hat, ist der Inbegriff
der Männlichkeit: Dominanz. Bis vor kurzem hat kein ernst zu nehmender Mensch
daran gezweifelt, daß Männer im Durchschnitt aggressiver, dominanter,
stärker, risikofreudiger, abstrakter und wettbewerbsorientierter sind als
Frauen. Und niemand hat daran gezweifelt, daß Frauen im Durchschnitt
fürsorglicher, friedlicherstabiler und kommunikativer sind als Männer.
Das sind Stereotype, zugegeben. Aber stereotyp heißt nicht unwahr. Und damit
hier kein Mißverständnis entsteht: Wir betonen »im Durchschnitt«.
Denn natürlich gibt es manche Frauen, die männlicher sind als die meisten
Männer, und manche Männer, die weiblicher sind als die meisten Frauen.
(Ebd., S. 58).Männlichkeit schließt Frauen aus - das
ist klar. Aber viel wichtiger ist, daß sie unmännliche Männer
verachtet. Machismo ist die Verachtung für das Sanfte. Aber gerade das schafft
dem Macho im Kampf um die Frauen einen Wettbewerbsvorteil vor dem Softie. Es gehört
nämlich zu den Ärgernissen, für die es keine Abhilfe gibt, daß
oft gerade diejenigen Männer, die ein extrem selbstbehauptendes und auftrumpfendes
Verhalten an den Tag legen, Glück in der Liebe haben. Männer konkurrieren
miteinander, weil Frauen Männer wollen, die von anderen Männern respektiert
werden. Es geht hier um die Amalgamierung von Sexualität und Aggressivität.
Übrigens ist nicht nur von Feministinnen, sondern neuerdings auch von Evolutionstheoretikern
und Biologen zu hören, daß alle Männer potentielle Vergewaltiger
sind. (Ebd., S. 58).Wenn Männer in jeder Kultur dominieren,
dann könnte das ein Ausdruck männlicher Überlegenheit sein. So
die Macho-Interpretation. Es könnte aber auch der Ausdruck des fundamentalen
Sachverhalts sein, daß Frauen dominante Männer begehren. Daraus kann
sich ein höchst produktives und lustvolles Zusammenspiel der wohl unterschiedenen
Geschlechter ergeben. Männer dominieren, Frauen domestizieren. (Ebd.,
S. 58).Frauen domestizieren die männliche Natur - und das
ist die Ultrakurzgeschichte der »Zivilisation«. Aus dem Jäger
ist mit der Zeit der Versorger geworden: der Arbeiter und Familienvater. Und deshalb
markiert die Rolle des Mannes als Versorger die empfindlichste Stelle der modernen
Gesellschaft. Die Karrierefrau zerstört diese Rolle nicht nur zu Hause, sondern
auch am Arbeitsplatz. Jede gleichberechtigte Frau am Arbeitsplatz erzeugt bei
den Männern nämlich eine kognitive Dissonanz: Kollege oder Sexualobjekt?
Das wird deutlich im Vergleich mit den klassisch asymmetrischen Arbeitsbeziehungen
wie Arzt / Krankenschwester, Regisseur / Schauspielerin, Chef / Sekretärin.
Hier wird die Geschlechterdifferenz durch eine Statusdifferenz vereindeutigt.
Heute aber ist das Gefühlschaos am Arbeitsplatz genau so groß wie zu
Hause. (Ebd., S. 58-59).Nun besetzen Männer nach wie
vor die Spitzenpositionen - das sollte man nicht abstreiten. Aber Männer
besetzen eben auch die untersten Positionen der sozialen Skala: Kriminelle, Obdachlose
.... Workaholics sind zumeist Männer - aber eben auch die Penner. Daß
es mehr Krankenschwestern als Krankenbrüder, mehr Sekretärinnen als
Sekretäre gibt, ist unproblematisch. Aber daß es mehr Professoren als
Professorinnen, mehr Präsidenten als Präsidentinnen gibt, ist ein Skandal.
(Ebd., S. 59).Wenn man sich fragt, warum es viel mehr Männer
als Frauen an der Spitze des Wissenschaftssystems gibt - also Nobelpreisträger,
berühmte Autoren und C4-Professoren -, ist nur eine Antwort politisch korrekt:
Das Patriarchat hält die Frauen konspirativ unten. Jede andere Antwort ist
so skandalös, daß sie den Kopf kosten kann. Das mußte der Präsident
von Harvard, Larry Summers, erfahren. Er hatte öffentlich gesagt, daß
es auf der obersten Leistungsebene mehr Männer gibt. (Ebd., S. 59).Wer
sich jetzt nicht erregt, sondern einfach nur rechnet, bemerkt sofort, daß
sich das durchaus mit dem statistischen Befund verträgt, daß Männer
und Frauen gleich intelligent und gleich befähigt sind. Denn Männer
sind nicht nur klüger, sondern auch dümmer als Frauen. Die Genies findet
man fast ausschließlich bei den Männern - aber eben auch die Idioten.
Im Jargon der Statistik gesprochen: Die Glockenkurve ihrer Intelligenzverteilung
ist flacher als die der Frauen; die Mitte ist weiblich, die Extreme sind männlich.
(Ebd., S. 59).Männer sind klüger als Frauen - und dümmer.
Männer sind gewalttätiger als Frauen - und sensibler. Daß Mädchen
bei Tests heute besser abschneiden als Jungs, hängt mit der Inflation der
guten Noten zusammen. Wenn man für gute Leistungen sehr gute Noten bekommt
(und das ist typisch in den deutschen Schulen und Universitäten der Fall),
dann können überragend gute Leistungen den Durchschnitt nicht nach oben
ziehen. Sehr wohl aber können die faulen und dummen Jungs den Durchschnitt
nach unten ziehen. (Ebd., S. 59-60).Genau umgekehrt ist es
im Berufsleben, wo Männer ja besser verdienen als Frauen. Das hängt
damit zusammen, daß es zwar Mindestlöhne gibt (de facto, und
alle arbeiten ja daran, daß es sie bald auch in Deutschland de jure
gibt), aber dem Einkommen nach oben keine Grenzen gesetzt sind (vgl. die Diskussion
über Managergehälter). Die erfolgreichen Männer können das
Durchschnittsgehalt deshalb sehr hoch ziehen, während die ungelernten Arbeiter
den Durchschnitt des männlichen Einkommens nicht in gleichem Maße nach
unten ziehen können. (Ebd., S. 60).Die Forderung nach
gleichem Lohn für gleiche Arbeit leuchtet natürlich unmittelbar ein.
Aber Männer sind eher bereit, ein hohes Risiko einzugehen - und dafür
werden sie auch besser bezahlt. Über 90% der Leute, die im Beruf getötet
werden, sind Männer. Als der 3000. Soldat im Irak-Krieg getötet wurde,
waren 2938 davon Männer und nur 62 waren Frauen. Das erstaunt niemanden,
und wir finden es auch normal, daß das Fernsehen, wenn es die Grausamkeiten
eines Krieges zeigen will, Bilder von leidenden, weinenden Frauen und Kindern
zeigt. Und selbst heute würde noch der armseligste Mann das Titanic-Ethos
verstehen (wenn vielleicht auch nicht befolgen): Frauen und Kinder zuerst!
(Ebd., S. 60).Eine Ungleichheit, die in der Diskussion über
das Geschlechterverhältnis selten beachtet wird, besteht darin, daß
die meisten Leute Frauen lieber mögen als Männer .... Die einzige Möglichkeit,
unter Bedingungen der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
an der Asymmetrie der Geschlechter festzuhalten, besteht deshalb im Lob der Frauen.
Bekanntlich sind sie friedlicher, fleißiger, gesünder und kommunikativer
als Männer; daß sie schöner sind, sollte man freilich nicht erwähnen,
denn das weckt leicht den Verdacht, man sehe in den Frauen Sexualobjekte.
(Ebd., S. 60).Aber die Schönheit der Frauen stellt auch in
anderer, nämlich biologischer Hinsicht ein unlösbares Problem dar. Es
gibt nämlich eine strikte Asymmetrie zwischen den Geschlechtern. Frauen sieht
man die Fruchtbarkeit an, Männern nicht. Was Frauen attraktiv macht, nimmt
mit der Zeit ab: Schönheit, Jugend, Sex-Appeal. Was Männer attraktiv
macht, kann mit der Zeit wachsen: Macht, Einkommen, Prestige. Die Folgelasten
dieser Asymmetrie tragen allein die Frauen. Ihr Fruchtbarkeits- und Reproduktionswert
fällt mit fortschreitendem Alter sehr stark ab. Deshalb arbeiten Frauen am
eigenen Selbst nicht mehr nur mit den Mitteln der Psychoanalyse und kosmetischer
Psychopharmaka wie Prozac, sondern zunehmend mit Schönheitsoperationen.
(Ebd., S. 60-61).Das ist ein biologisches Schicksal, das der Feminismus
sabotieren möchte. Die Intention ist ehrenwert, aber die kulturellen und
psychischen Folgelasten der sie erfüllenden Politik sind gewaltig. Im fanatischen
Feminismus droht unserer Gesellschaft die Herrschaft der unweiblichen, nämlich
der unattraktiven und unfruchtbaren Frauen. Weil schöne Frauen unter »Sexualobjekt«
rubriziert werden und Schwangerschaft als Behinderung verstanden wird, dominieren
die Unfruchtbaren und die Häßlichen. Die zufriedenen und schönen
Frauen schreiben nicht gegen das biologische Schicksal an. (Ebd., S. 61).In
aller wünschenswerten Deutlichkeit hat Shulamith Firestone die Emanzipation
der Frau mit der Befreiung von der Bürde der Fortpflanzung verknüpft.
Seither steht, wer sich Kinder wünscht, unter Rechtfertigungszwang.
(Ebd., S. 61).Wenn, wie Freud erkannte, die Biologie das Schicksal
ist, dann versteht sich der fanatische Feminismus als Sabotage dieses Schicksals.
Und hierbei spielt die Rechtfertigungsbedürftigkeit der Fortpflanzung eine
Schlüsselrolle. Sobald nämlich Kinder kommen, wird die Geschlechterdifferenz
unabweisbar. Deshalb ist die Abtreibung ein Sakrament des fanatischen Feminismus.
(Ebd., S. 61).Die Schwangerschaft macht jedem deutlich, daß
die Größe des biologischen Beitrags, den Mann und Frau zur Fortpflanzung
der Gattung erbringen, höchst unterschiedlich ist. Und aus dieser Differenz
der Investitionen folgt typisch die Differenz der Geschlechter: Männer sind
kämpferisch, Frauen sind wählerisch. Wenn man das sabotieren will, muß
man Schwangerschaft in eine Art Behinderung umdefinieren. Der Soziologe Niklas
Luhmann bemerkt dazu trocken: »Die (bis auf weiteres) unvermeidbare Differenz,
daß nur Frauen Kinder austragen und gebären können, wird als eine
Art entschädigungsbedürftiges Sonderopfer dargestellt, das durch Gegenleistungen
im Arbeits- und Rentenrecht honoriert werden sollte.« (Niklas Luhmann, Protest,
1996, S. 145). (Ebd., S. 61).Zunächst ging es dem Feminismus
um die Beseitigung der Asymmetrie in der Unterscheidung von Mann und Frau - die
Frau ist genau so viel wert wie der Mann, es fehlt ihr nichts, sie ist nicht organisch
oder intellektuell minderwertig. Aber man sieht dann rasch zweierlei. Der Feminismus
muß, erstens, den Geschlechtsunterschied als eine Unterscheidung betrachten,
die nicht unterscheidet. Und zweitens erfordert die Gleichstellung von Mann und
Frau eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen - die große Korrektur
der historischen Ungerechtigkeiten durch eine Bevorzugung der Benachteiligten.
(Ebd., S. 61-62).Der fanatische Feminismus akzeptiert die Unterscheidung
von Mann und Frau eigentlich nur noch, um statistisch erfaßbare Benachteiligungen
zu markieren. Ansonsten setzt man auf Ununterscheidbarkeit. So verschärft
sich die feministische Ideologie durch fortschreitende Gedankenlosigkeit. Erst
war man gegen die Asymmetrie in der Unterscheidung von Mann und Frau; dann wollte
man, daß die Unterscheidung nicht unterscheidet; und schließlich unterstellt
man Ununterscheidbarkeit - das androgyne Ideal, Transsexualität, Männer,
die Kinder gebären. Für die Tugendwächterinnen des Geschlechtsegalitarismus
wird jede normale - ja: normale! - menschliche Regung zum skandalösen Störfall.
(Ebd., S. 62).Der Soziologe Harrison C. White hat gezeigt, daß
die Leugnung des Geschlechtsunterschieds als Unterschied die Überlegenheit
des männlichen Geschlechts gerade steigert. Man ist versucht, das unter »List
der Vernunft« zu verbuchen. In jedem Fall aber handelt es sich um eine Ironie
der Geschichte. Seit die Gleichheit der Geschlechter mit Nachdruck betont wird,
wird die Sexualität nach dem Mann modelliert. Sexualität wird zur Leistung,
die optimiert werden kann. Und den Orgasmus kann man an Männern einfach besser
studieren als an Frauen. Nichts ist prägnanter als der Phallus. Männliche
Sexualität paßt auch besser in den modernen Lebensalltag; sie ist,
wie Soziologen so gerne sagen, »ausdifferenziert« - neben Beruf, Freizeit
und Sport. In Niklas Luhmanns schönem Buch über Liebe als Passion heißt
es dazu: »Wenn eine Frau liebt, sagt man, liebt sie immer. Ein Mann hat
zwischendurch zu tun.« (Niklas Luhmann, Liebe als Passion, 1982,
S. 294). Wenn nicht alles täuscht, lieben Karrierefrauen heute wie Männer.
(Ebd., S. 62).Die fanatischen Feministinnen sind die wahren »Phallozentriker«;
sie können nur wertschätzen, was Männer tun, und verachten alles
spezifisch Weibliche wie die Hausarbeit und die Sorge um die Kinder. Mütter
und Hausfrauen werden von den meisten Männern respektiert, von vielen Frauen
nicht. Ein Männlichkeitskomplex bringt Frauen dazu, Männer nachzumachen.
Karrierefrauen mieten andere Frauen, nämlich Putzfrauen und Tagesmütter,
die die Arbeit machen, die sie verachten. So verringert sich der Unterschied zu
den Männern, indem sich der Unterschied zu den statusniedrigeren Frauen vergrößert.
Und ein Soziologe könnte nüchtern anmerken, daß sich die Karrierefrauen
damit die Möglichkeiten verknappen, »nach oben« zu heiraten.
(Ebd., S. 62-63).Der moderne Feminismus ist ein Ableger des Marxismus.
Seine Gründungsurkunde ist die berühmte Schrift von Friedrich Engels
über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Dort
heißt es in aller wünschenswerten Klarheit: »Die erste Vorbedingung
der Befreiung der Frau ist die Wiedereinführung des ganzen weiblichen Geschlechts
in die öffentliche Industrie« (Friedrich Engels, Der Usrprung der
Familie, 1884, S. 158) und damit die Abschaffung der klassischen Familie.
Die radikalen Feministinnen haben das nachgebetet: Nur die Zerstörung von
Ehe und Familie kann die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen aufheben.
Die Familie ist nichts als die Fessel, die Frauen von der Erwerbstätigkeit
abhält, und die Ehe ist nichts anderes als Prostitution und Vergewaltigung.
Früher haben die Linken den Arbeitern eingeredet, daß sie unterdrückt
sind - heute reden sie es den Hausfrauen ein. Buchstäblich geht es um eine
Enthauptung der Familie, sofern nämlich der Vater traditionell als Oberhaupt
der Familie verstanden wurde, und um die Durchsetzung des androgynen Ideals -
die Geschlechterrollen sind austauschbar. (Ebd., S. 63).Der
Kampf für Gleichheit ist immer auch ein Kampf gegen die Familie. Denn Familien
produzieren asymmetrische Verhältnisse nach innen und nach außen. Betrachten
wir zunächst das Außenverhältnis. Die ökonomische Ungleichheit
wächst kumulativ. Wer produktiver ist, kann mehr sparen und investieren -
und steigert damit seine Produktivität. Im Medium der Familie setzte sich
dieser Prozeß der Abweichungsverstärkung über Generationen hinweg
fort. Deshalb haben alle radikalen Sozialisten die Abschaffung der Familie als
Institution gefordert. (Ebd., S. 63).Die gleiche Asymmetrie
zeigt sich im Innenverhältnis. Die klassische Familie ist die Welt der selbstverständlichen,
akzeptierten Ungleichheit und der selbstverständlichen Unterscheidung von
Mann und Frau. In Familien werden asymmetrische Opfer gebracht. Hier gibt es kein
»do ut des«. Familienleben ist kein gleichmäßiges Geben
und Nehmen; es nimmt extreme Ungleichheiten in Kauf. Die größten Vorteile
starker Familienbindungen kommen zumeist nicht denen zugute, die die größten
Verpflichtungen auf sich nehmen. (Ebd., S. 63).Elterliche
Sorge ist kostspielig. Kinder aufuziehen und eine Ehe zu führen »bis
daß der Tod euch scheide«, erfordert aus der Perspektive einer Kosten-Nutzen-Kalkulation
irrationale Opfer. Und nur Elternliebe kann es letztlich verhindern, daß
die Kosten-Nutzen-Kalkulationen zu ihrem logischen Ende geführt werden. Liebe
ist unökonomisch - man braucht viel Zeit. Das gilt für die unendliche
Geduld, die man Kindern gegenüber aufbringen muß, genauso wie für
die Erkundung der Welt des geliebten Ehepartners. Desmond Morris hatte den fabelhaften
Mut, zu sagen, daß die Definition der Ehe als Partnerschaft eigentlich eine
Beleidigung der Ehe und ein Mißverständnis der Liebe sei. Das Handeln
und Verhandeln, das Geben und Nehmen, das für moderne Partnerschaften so
charakteristisch ist, spielt für die Liebe keine Rolle. Eine glückliche
Ehe entsteht durch ein doppeltes Opfer: Der Mann opfert sein Jägerleben,
die Frau opfert Karrierechancen. (Ebd., S. 63-64).Bei allem,
was die Familie betrifft, ist der Hinweis auf Biologisches skandalträchtig.
Das gilt für das Verhältnis von Mann und Frau genauso wie für das
Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern. Wer das erotische Fühlen aus
der biologischen Sexualdifferenz erklärt, beleidigt die emanzipierten Frauen.
Wer Elternliebe biologisch erklärt, kränkt all diejenigen, die Kinder
adoptiert haben oder Stiefeltern sind. Ohne Rückgriff auf biologische Gründe
ist aber kaum zu verstehen, warum Eltern in der Regel so geduldig und großzügig
sind; warum sie geben, ohne zu bekommen; warum sie die maßlosen Ansprüche
ihrer Kinder ertragen. Und vor allem: warum Eltern die Opfer, die sie für
ihre Kinder bringen, für niemand anderen bringen würden. (Ebd.,
S. 64).Ein klassischer Fall der Abweichungsverstärkung, also
des positiven Feedback, ist die sexuelle Arbeitsteilung. Mögen die biologischen
Unterschiede zwischen Mann und Frau im Blick auf die Aufzucht von Kindern auch
noch so klein sein, so führen sie doch dazu, daß die Unterscheidung
von Haushalt und Markt systematisch auf die Geschlechterdifferenz abgebildet wird.
Wenn die Frau auch nur ein wenig geschickter im Umgang mit Kindern ist und der
Mann auch nur ein wenig aggressiver im ökonomischen Wettbewerb ist, lohnt
es sich, wenn beide ihre Geschicklichkeiten kultivieren, um dann die jeweiligen
Spezialisierungsgewinne in die Ehe einzubringen. Und das läuft eben auf eine
scharfe sexuelle Arbeitsteilung voraus. Rollentausch ist natürlich möglich
- aber nach derselben Logik. Es lohnt sich dann eben auch, wenn die Karrierefrau
ohne jede Einschränkung als Moderatorin beim Fernsehen arbeitet, während
der Mann zu Hause die Kinder hütet. Auch das ist ein klarer Fall sexueller
Arbeitsteilung. (Ebd., S. 64).In der klassischen Rollenverteilung
zwischen Mann und Frau sorgt die sexuelle Arbeitsteilung dafür, daß
der Handel für beide profitabel ist. Die Solidarität der Eheleute, dieses
stärkste aller altruistischen Gefühle, entsteht demnach aus der sexuellen
Arbeitsteilung. Die Frau übernimmt dabei die emotionale Führung, der
Mann die instrumentale. Frauen sympathisieren, Männer systematisieren. Der
eine sorgt sich um die externe, die andere um die interne Grenzerhaltung des Systems
Familie. Um hier das durchaus brauchbare Stereotyp der feministischen Kritik zu
bemühen: Während die Frau sich um Haus und Kinder sorgt, geht der Mann
auf die Jagd. (Ebd., S. 64-65).Es liegt nahe, gegen die biologische
Ableitung der sexuellen Arbeitsteilung eine kulturelle Interpretation auszuspielen;
doch das führt nicht sehr weit. Denn gerade die strenge Arbeitsteilung zwischen
Mann und Frau bringt beiden Vorteile, weil sich jeder Partner auf bestimmte Typen
des Humankapitals spezialisieren kann. Wenn aber die Spezialisierung in einer
arbeitsteiligen Ehe beiden große Vorteile bringt, weil in beiden Bereichen
die Produktivität wächst, dann genügen auch kleine biologische
Differenzen im Blick auf Kindererziehung, um die traditionelle Arbeitsteilung
zwischen Haushalt und Markt zu begründen: die Frau zu Hause, der Mann auf
der Jagd nach dem Profit. Kleinste Differenzen schaukeln sich durch Abweichungsverstärkung
zur Opposition der Geschlechterrollen auf. (Ebd., S. 65).Doch
was geschieht, wenn die Frau nun zum Jäger wird? Die Antwort, die Emile Durkheim
schon Ende des 19. Jahrhunderts auf diese Frage gab, ist heute von größter
Aktualität: Schraubt man die sexuelle Arbeitsteilung unter einen bestimmten
Punkt herab, so verflüchtigt sich die Ehe und läßt nur mehr äußerst
kurzlebige sexuelle Beziehungen zurück. Je weniger die sexuelle Arbeitsteilung
in der modernen Gesellschaft einleuchtet, desto schwächer wird die ökonomische
Reziprozität zwischen Mann und Frau - und desto schwächer werden die
Gefühle, die sie aneinander binden. (Ebd., S. 65).Früher
gab es den Wettbewerb der Männer um Frauen; jetzt gibt es den Wettbewerb
mit Frauen. Und mit jedem Teilsieg in diesem Kampf gegen die sexuelle Arbeitsteilung
schwächt sich die Ordnungsleistung der sexuellen Asymmetrie weiter ab. Das
macht die Geschlechterrollen von Mann und Frau mehrdeutig. Zumal Männer stehen
vor der unlösbaren Aufgabe, dominant aufzutreten und zugleich mit Frauen
im Wettbewerb zu stehen. Rollenambiguität aber macht unglücklich - oder
doch zumindest unsicher. (Ebd., S. 65).Damit hat uns die
sexuelle Emanzipation in die unerträglichste Ungleichheit gestürzt.
Was man heute Partnerschaft nennt, ist ein Schauplatz des gnadenlosen sexuellen
Wettbewerbs. Nie war es für die Mächtigsten und Reichsten leichter,
die Schönsten und Attraktivsten zu bekommen. Und nie war es für die
Schwächeren schwerer, ihre Partner zu »halten«. Der sexuelle
Wettbewerb hat bösartige Züge angenommen, seit er nicht mehr effektiv
durch das Gebot der Monogamie begrenzt wird. Monogamie verhinderte ja die Zerstörung
der Familie durch mächtige Frauen und Männer. Und die größte
Macht liegt eben bei den jungen schönen Frauen und den alten erfolgreichen
Männern. (Ebd., S. 65-66).Da wir alle Männer oder
Frauen, heterosexuell oder homosexuell, schön oder häßlich sind,
gibt es in diesen Fragen keinen unbeteiligten Beobachter. Schon deshalb wird diese
knappe Darstellung dem Feminismus nicht gerecht. Sie ist traditionalistisch und
nimmt zuweilen die Position des unmodernen Außenseiters in Kauf. Aber vielleicht
gibt es in den Fragen des Geschlechterverhältnisses ja keine prästabilierte
Harmonie zwischen Modernität und gesundem Menschenverstand. Der Geschlechtsunterschied
ist die wichtigste Tatsache unseres Lebens. Seit Darwin wissen wir, daß
die Evolution Differenzen bewahrt, wenn sie nützlich sind. Das ermöglicht
Männern und Frauen ein Verhältnis des Gleichseins im Anderssein. In
dieser Einsicht ttifft sich der gesunde Menschenverstand mit dem aufgeklärten
Feminismus. (Ebd., S. 66).
Der Egalitarismus der Medien
Die moderne Gesellschaft
ist komplex und abstrakt; es fehlt ihr die Gefühlsstütze, und deshalb
kann man sie nicht lieben. Friedrich von Hayeks berühmte These, der freie
Markt sei die größte Entdeckung in der Geschichte der Menschheit, läßt
eigentlich jeden kalt. Hier gibt es also einen akuten Gefühlsbedarf, die
Notwendigkeit einer emotionalen Gestaltung der modernen Gesellschaft. Das leisten
die Massenmedien, indem sie ständig soziale Ungleichheiten zeigen. So bedienen
sie die rousseauistische Nostalgie nach einer von archaischen Gefühlen geleiteten
Gesellschaft, in der ein autoritärer Staat sichtbar »soziale Gerechtigkeit«
(**)
schafft. (Ebd., S. 67).Der Sozialismus hat heute wieder Konjunktur.
Er spricht nicht mehr von Klassengesellschaft, sondern von der Neuen Ungleichheit
und verweist auf die Pornographie des exzessiven Reichtums ... einerseits, die
stillen Leiden der Kinderarbeit und der Hartz-IV-Existenz andererseits. In der
Zeitung kann man lesen, daß das Durchschnittseinkommen der reichsten Länder
50mal so groß ist wie das der ärmsten. Topmanager verdienen bis zu
400mal so viel wie durchschnittliche Angestellte. Die Fassade der »sozialen
Gerechtigkeit« (**)
zeigt besonders dramatische Risse, wenn im Fernsehen gezeigt wird, wie mobil das
große Kapital geworden ist. Der Ehrliche ist bekanntlich der Dumme - und
nur der Dumme wird besteuert. Mehr Gleichheit durch Umverteilung scheint deshalb
die selbstverständlichste politische Forderung zu sein, und tagtäglich
findet sie in den Massenmedien Resonanz. Nur selten hört man allerdings die
Komplementärinformation, daß z.B. in Deutschland 20% derer, die Einkommen
beziehen, 70% aller Einkommensteuern zahlen. (Ebd., S. 67).In
der Immanenz der Welt gibt es offenbar nur soziale Ungleichheit - die Gleichheit
muß deshalb von außen kommen. Vor Gott waren ja alle Menschen gleich
als Sünder. Aber was ist, wenn Gott tot ist? Schon seit dem 19. Jahrhundert
konnte man beobachten, daß Gott zwar tot, aber das Schuldbewußtsein
geblieben ist. Es suchte sich einen neuen Gegenstand und entdeckte die Armut des
Industrierproletariats, die soziale Frage. So entstand eine ökumenische Liebesreligion
des Mitleids und der Toleranz. Der Reiche ist seither der Sündenbock. Und
tatsächlich kann wohl nur ein ungeheures Schuldbewußtsein den Erfolg
der Ökos, Multikultis und Antikapitalisten in der westlichen Welt erklären.
»Das Soziale« ist der Gottesersatz unserer Zeit. Wer nach einern zeitgemäßen
Glaubenssystem sucht, findet es hier. Es kultiviert den Krisenstolz als neuen
Sündenstolz. (Ebd., S. 67-68).Früher hätte
man gesagt, daß es Ungleichheit gibt, weil es Schicksal gibt: Glück
ohne Verdienst, Verhängnis ohne Schuld. Das kann man nur meistern, indern
man es anerkennt. Und das ist eine Frage der Theodizee, nicht der Sozialpolitik.
Doch die modernen Massenmedien pflegen das primitive Denken, das allem Geschehen
eine Ursache und jeder Ursache einen Schuldigen zuschreibt. Nicht die »Programmverantwortlichen«
sind dafür verantwortlich, sondern die Struktur der Massenmedien selbst.
Sie reduzieren uns Zuschauer, Hörer und Leser auf das bloße Erleben:
Wir müssen zusehen, wie andere entscheiden, genießen und leiden. Und
wenn andere entscheiden, werden wir zu Betroffenen. Wenn andere genießen,
halten wir uns für benachteiligt. Wenn andere leiden, ist uns das unerträglich.
Die Massenmedien erzwingen weltweit eine Wahrnehmung der Ungleichheit, an die
dann Politiker und Intellektuelle ihre Programme anschließen können.
Die Intellektuellen positionieren sich in moralischer Überlegenheit als Kritiker
des Kapitalismus, des Systems oder der Gesellschaft, die an jenen Ungleichheiten
schuld sind. Denn die Zumutungen der Fernethik kann man offenbar am besten ertragen,
wenn man sich in die Position des Protestierenden bringt. Und die Politiker präsentieren
sich paternalistisch als Betreuer der Benachteiligten. (Ebd., S. 68).Wie
die Intellektuellen sind auch die Politiker Parasiten der Macht der Schwachen.
Denn in der »Massenmediendemokratie« haben gerade die Schwachen Macht,
sofern sie uns zum Mitleid zwingen; sie haben die Macht, wehzutun. Unzählige
Formate des Fernsehens ermöglichen ihnen, was Nietzsche das Zur-Schau-Tragen
des Unglücks genannt hat. Und das Entrüstungsvergnügen, das die
sozialkritischen Sendungen anbieten, stellt sich nicht nur auf der Seite der Zuschauer,
sondern auch auf der Seite der ins Bild gesetzten Benachteiligten ein; sie genießen
das Sich-Beklagen als Lebensreiz der Schlechtweggekommenen. (Ebd., S. 68).In
den Medien zu sehen, daß Gerechtigkeit geschieht, ruft eine Art Soziallust
hervor. Und nicht nur im Unterhaltungsprogramm bietet das Fernsehen die soziale
Lust der Moralität. In der fiktiven Realität des Krimis wird der Verbrecher
seiner gerechten Strafe zugeführt. In der realen Realität der Öffentlichkeit
wird der korrupte Politiker oder Wirtschaftsführer an den Medienpranger gestellt.
Die Medien inszenieren den Skandal als demokratischen Schauprozeß, den die
Zuschauer lustvoll konsumieren. Der Skandal ist der Sündenbockmechanismus
der Massenmedien. Und dabei ist es völlig gleichgültig, ob der Altruismus
oder die Niedertracht Regie führen. Die Bestrafung des Übeltäters
ist ein öffentliches Gut - egal, ob sie aus Gemeinsinn oder aus Bösartigkeit
erwächst. Was zählt, ist der Effekt der sozialen Kontrolle. (Ebd.,
S. 68-69).Diese ethische Plakatwelt der Massenmedien illustriert
sehr schön die Dialektik der Heuchelei, die Hegel schon vor zweihundert Jahren
entwickelt hat. Sein Diderot würde heute fragen: Was ist gut an den »Gutmenschen«?
Ihre moralistische Aggression ist ein unverzichtbarer sozialer Mechanismus zum
Schutz der Altruisten. Denn je dynamischer die Gesellschafr, um so wahrscheinlicher
das Trittbrettfahren und Betrügen - und desto notwendiger der Moralismus,
der schon immer eine soziale Technik der Kontrolle von Betrügern war. Man
kann heute von Evolutionsbiologen lernen, daß es eine genetische Selektion
für moralistische Aggressivität gegen Betrüger und Trittbrettfahrer
gibt. Sie findet in den Massenmedien, die den Markt für Achtung und Aufmerksamkeit
regulieren, ein ideales Instrument. Der dort zumeist erhobene Ton ist nicht der
Ton der Kritik, sondern der modischen Wut. Das erspart die Überzeugungsarbeit.
Entrüstung gilt als Echtheitsbeweis. Wer früher kritisch war, ist heute
wutschnaubend. Das funktioniert natürlich nur, weil es von der »Mediendemokratie«
prämiert wird. Wut ist so demokratisch wie Angst - jeder kann sie ausdrücken.
(Ebd., S. 69).Die Tugendbehüter, von denen Vilfredo Pareto
einmal gesprochen hat, gibt es heute aber nicht nur in den Redaktionsstuben der
Zeitungen und Fernsehanstalten, sondern auch in den virtuellen Gemeinschaften
und sozialen Netzwerken des Internet. Wie eh' und je wird geklatscht und getratscht,
nur daß die Gerüchte heute in Lichtgeschwindigkeit die Runde machen.
Der Klatsch heißt jetzt zwar Chat, aber nach wie vor hat er die Funktion
sozialer Kontrolle und dient dem Management der Reputation. Mit der schönen
Formel von Klaus Thiele-Dohrmann: »Blöße mindert Größe«
(Klaus Thiele-Dohrmann, Der Charme des Indiskreten, 1995, S. 191).
(Ebd., S. 69).Die Entwicklung der Medientechnologien hat uns in
ein Zeitalter geführt, von dem der Jesuitenpater und Medienwissenschaftler
Walter J. Ong sagen konnte, es sei so ausdrücklich und programmatisch sozial
wie nie ein Zeitalter zuvor. Elektronische Medien haben nämlich eine Weltkommunikation
in Echtzeit ermöglicht, die uns die Empfindung der Allgegenwart vermittelt.
Alles, was auf der Welt geschieht, geht uns nun etwas an, und wir alle entwickeln
durch Radio, Fernsehen und Internet einen sozialen Sinn für die globale Einheit
(Ebd., S. 69-70).Deshalb werden Formen direkter Demokratie wieder
attraktiv. Das ist natürlich nur mit den Medien und in den Medien möglich.
Man denke nur an die wachsende Bedeutung der Meinungsumfragen, die mittlerweile
den Rahmen für alle politischen Entscheidungen abgeben. Natürlich hat
dieses Mehr an Unmittelbarkeit seinen Preis. Besonnenheit und Geschmack haben
in unserer Kultur kaum mehr eine Chance. Doch ist das ein Grund für Kulturkritik?
Auch wenn es weh tut: Wir müssen lernen, mit Geschmacklosigkeiten zu leben.
Denn Geschmack diskriminiert - und das ist in »Massendemokratien«
unerträglich. Deshalb haben »demokratische« Kulturen den Geschmack
durch die öffentliche Meinung ersetzt, die von den Medien inszeniert wird.
(Ebd., S. 70).Diese von den Massenmedien inszenierte öffentliche
Meinung findet ihre stabilste Einheit im Protest. Niklas Luhmann hat gezeigt,
daß es zwei Techniken gibt, mit denen man heute besonders leicht Protestpotential
aktivieren kann. Man kann, erstens, »die Sonde der internen Gleichheit in
die Gesellschaft« (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft,
1997, S. 857) einführen, um Ungleichheiten sichtbar zu machen. Das ist unser
Thema im engeren Sinn - das Thema Verteilung. Man kann aber auch, zweitens, »die
Sonde des externen Gleichgewichts« (Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos,
1991, S. 147) in die Welt einführen, um zu zeigen, daß wir im ökologischen
Ungleichgewicht mit der Natur leben. So entstehen die Gefahrenthemen. (Ebd.,
S. 70).Die Massenmedien stimulieren uns derart, gegen die Existenzbedingungen
der modernen Gesellschaft zu protestieren, nämlich eben gegen Ungleichheit
- dagegen richtet sich der »rote« Protest - und Ungleichgewicht -
dagegen richtet sich der »grüne« Protest. So entstehen Neidthemen
und Angstthemen. Die Angstthemen zeigen uns die Welt im Licht einer neuen Gleichheit
der Unsicherheit: Katastrophen nivellieren. Die Katastrophe ist die vollkommene
Entlastung: ich muß mir die Hilflosigkeit nicht selbst zurechnen. Heute
wird vor allem der Klimawandel zum Instrument für Egalitarismus und weltstaatlichen
Zentralismus. In seiner reinsten Gestalt zeigt sich der Egalitarismus der Massenmedien
aber bei den Neidthemen, die die gesellschaftliche Ungleichheit sondieren.
(Ebd., S. 70).Die Sonde der Gleichheit, die die Massenmedien in
die Gesellschaft einführen, wirkt wie ein permanenter »Demokratietest«.
Die Massenmedien zeigen täglich den pornographischen Reichtum - und zwar
nicht nur den Armen den des Westens, sondern auch uns Wohlstandsbürgern den
der Superreichen. Rasch zeigt sich da unsere Toleranz gegenüber dem Reichtum
anderer überfordert. Bei der Wahrnehmung der Ungleichheit ist ja der Filter
der Stände und Kasten weggefallen - jeder ist ein Mensch wie du und ich.
Und das macht jede Ungleichheit tendenziell zum Skandal. Der sozialeVergleich
erzeugt Neid und läßt die Erwartungen explodieren. Heinz Bude hat in
diesem Zusammenhang auf die wachsende Bedeutung der lebensstilistischen Unterschiede
für die Alltagsorientierung in einer Gesellschaft, in der meritokratische
Maßstäbe nicht mehr gelten, hingewiesen: »Der soziale Blick ist
darauf fixiert, wer wo einkauft, wer sich wo vergnügt, wer was sagen darf,
wer was anzieht, wer einen wie anguckt. Man setzt in gewissen Momenten schier
sein Leben daran, die eigene Wahrheit am anderen zu finden, weil es sonst nichts
gibt, woran man sich halten könnte.« (Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen,
2008, S. 65). (Ebd., S. 70-71).Daß die Armen der Dritten
Welt unglücklich über ihr Los sind, versteht jeder. Die Massenmedien
zeigen ihnen heute die Welt so, wie sie früher nur die Reichen gesehen haben.
Die Welt wie die Reichen zu betrachten, ohne reich zu sein, ist aber eine Quelle
ständiger Frustration. Die Bilder der Medien treiben deshalb die neue Völkerwanderung
an. Die Armen machen Ernst mit dem Egalitarismus der Medien. Da muß das
Fernsehen nur Bilder des Westens zeigen - und die Erwartungen explodieren.
(Ebd., S. 71).Aber warum sind wir, die Wohllebenden, die jenen
Armen als Traumbild vorschweben, nicht glücklich? Das wunderbare Ansteigen
des Lebensstandards in der westlichen Welt hat die Menschen wohlhabender, gesünder
und freier werden lassen - aber nicht glücklicher. Weil sie sich vergleichen,
ist die Ungleichheit ihr Unglück. Man kann das eigene schöne Haus nicht
mehr genießen, weil das der Nachbarn noch schöner ist. Und meist sind
es nur die Menschen, denen noch die Schrecken und Entbehrungen eines Krieges ins
Gedächtnis gebrannt sind, die dankbar bemerken, wie herrlich weit sie es
gebracht haben. Doch nicht nur Haus, Auto und Ehefrau des Nachbarn verführen
zum Vergleich, sondern mehr noch die Massenmedien, die uns ständig mit dem
Glitzerleben der Reichen und Mächtigen konfrontieren. Sie führen uns
einen Lebensstil vor, den wir nie erreichen werden. (Ebd., S. 71).Menschen
können sich mit sozialer Ungleichheit arrangieren, so lange man ihre Wahrnehmung
der Unterschiede steuern kann. Das war in Stände- und Kastengesellschaften
der Fall. Im Zeitalter der »Massendemokratie« und der Massenmedien
ist die Wahrnehmung der Unterschiede völlig umgesteuert worden. Denn Zeitung,
Radio, Kino und Fernsehen sind egalitäre Medien - vom Internet ganz zu schweigen.
Alles, was Massenmedien senden, hat dieselbe Botschaft: Alle Menschen sind gleich.
Und jede offenbare Ungleichheit wird zum Skandal. Jeder vergleicht sich nun mit
jedem auf der Welt, und diese kollektive Praxis des sozialen Vergleichens läßt
sich nicht mehr steuern. Deshalb ist das Zeitalter der Massenmedien auch das Zeitalter
der permanenten Revolution ständig wachsender Erwartungen und Ansprüche.
Jede öffentlich zugängliche Information über die Verteilung von
Macht und Geld stärkt den Egalitarismus. (Ebd., S. 71-72).Die
Leute vergleichen sich nicht nur mit ihresgleichen, sondern sie vergleichen auch
ihren heutigen mit dem früheren Konsum. Deshalb sind die Neureichen glücklich,
und diejenigen, denen es heute etwas schlechter geht als früher, z.B. weil
die Globalisierung ihre Privilegien zerstört hat, sehr unglücklich.
Und viele sind schon unglücklich, wenn die Wachstumsrate, an die man sich
gewöhnt hat, nicht etwa fällt, sondern sich lediglich abschwächt.
Nur 2,1% Wachstum, hört man im Fernsehen - bisher waren es doch 3,5%. Das
ist die statistische Depression: »mehr ist weniger«. (Ebd.,
S. 72).Der Soziologe Niklas Luhmann hat in einem wunderbar ironischen
Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (20.03.1996) dieses Phänomen
der statistischen Depression erläutert. Wie kommt es zu pessimistischen Zukunftserwartungen?
Die Antwort ist so einfach wie verblüffend. Massenmedien sind von Zahlen
und Tabellen fasziniert, weil Zahlen so bestimmt und scheinbar eindeutig sind.
Noch spannender als die Zahlen, z.B. die genaue Zahl der Verkehrstoten in diesem
Jahr, ist der Zahlenvergleich, z.B. 2,1% Winschaftswachstum in diesem Jahr im
Vergleich zu 3,5% im vergangenen Jahr. Nur 2,1% Wachstum! »Wir haben zwar
mehr, aber auch weniger«. (Ebd., S. 72).Aber auch wenn
sich die Dinge eindeutig verbessern, verschlechtert sich etwas, nämlich der
Wert der bisher erreichten Position. Eine Rückkehr in die Düsseldorfer
Eigentumswohnung, die noch vor wenigen Jahren die Erfüllung meiner Lebensträume
war, erschiene mir heute als Zumutung. Mit dem wachsenden Einkommen wachsen auch
die Erwartungen, und damit ist die Unzufriedenheit gleichsam ins Wachstum eingebaut.
Das Problem entsteht durch den Zwang zum Vergleich. So produziert das Mehr das
Weniger, der Reichtum die Armut und das Wachstum die Depression. (Ebd.,
S. 72).Hannah Arendt hat einmal gesagt, das Schlimme am Behaviorismus
sei, daß er die Wirklichkeit der »Massendemokratie« zutreffend
beschreibe. Ihr ideales Darstellungsmedium ist die Statistik, in der das Hervorragende
nur als »Ausreißer« vorkommt. Der Behaviorismus ist die Sozialpsychologie
der verwalteten Welt. Der vorsorgende Sozialstaat will nicht, daß die Menschen
handeln, sondern daß sie sich verhalten. Hervorragende Leistungen können
diesem Prozeß der Normalisierung nur störend dazwischen kommen. Dieser
Triumph der Gleichheit in der Öffentlichkeit drängt den Wunsch nach
Distinktion ins Privatleben zurück. (Ebd., S. 72-73).Eine
Gesellschaft, die sich selbst mit Statistiken beschreiben kann, hat ihre Bürger
erfolgreich normalisiert. In der Wirklichkeit gibt es ja eigentlich nur Einzelfälle.
Die Statistik dagegen erzeugt eine fiktive Parallelwirklichkeit der Aggregate,
an die wir uns immer mehr gewöhnen. Auch wenn es uns schwerfällt, zu
glauben, daß, nachdem beim Roulette fünfmal hintereinander Rot kam,
die Wahrscheinlichkeit, daß beim nächsten Spiel wieder Rot kommt, genau
so groß ist wie für Schwarz. Statt der Vernunft haben wir die Massenmedien.
Sie trainieren uns in der Beobachtung von Beobachtern und kultivieren jenen quasi-statistischen
Sinn, den die Demoskopin Elisabeth NoelleNeumann als Orientierungsinstrument des
modernen Massenmenschen bestimmt hat. (Ebd., S. 73).Den entscheidenden
Zusammenhang zwischen der politischen Forderung der Gleichheit, der Wirklichkeit
der Massen, den Medien der technischen Reproduzierbarkeit und der Wissenschaft
von der Statistik hat der Kulturkritiker Walter Benjamin schon in den 1930er Jahren
durchschaut. In seiner noch immer maßgeblichen Studie über das Kunstwerk
im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zitiert er in diesem Zusammenhang
ein prägnantes Wort des dänischen Dichters Johannes V. Jensen: »Sinn
für alles Gleichartige in der Welt« (Walter Benjamin, a.a.O., S. 414).
Das ist der quasi-statistische Sinn für das Gleiche im Ungleichen, für
die Wirklichkeit der Masse. (Ebd., S. 73).Die Massenmedien
wissen: Mit Sex-Themen kann man heute niemanden mehr erregen, wohl aber mit Statistiken
über die Einkommensverteilung. Jede Boulevard-Zeitung ergreift dankbar die
Möglichkeit, die Höhe der Managergehälter zu skandalisieren. Es
ist aber unmöglich, zu sagen, was die angemessene Bezahlung für die
Erledigung hochkomplexer Aufgaben ist. So bleibt nur der Marktpreis. Spitzenmanager
sind so knapp wie überragende Fußballspieler und Popstars. Deshalb
können sie mehr Geld verlangen, als viele für nachvollziehbar halten.
Und die Medien berichten darüber. (Ebd., S. 73).Der
Star verdient heute unendlich viel mehr als der Zweitrangige. Das gilt für
das Management (Josef Ackermann), das Entertainment (Günther Jauch) und den
Sport (Michael Ballack) gleichermaßen. Diese Leute verdienen wahnsinnig
viel - und arbeiten wahnsinnig viel. Dabei nutzen sie die Massenmedien zur Omnipräsenz.
Am anderen Ende des Spektrums entfaltet sich Deutschland als der »Freizeitpark«,
den schon Helmut Kohl prophezeite. Was beide verknüpft, ist das millionenfach
reproduzierte Trikot von Ballack, das die Kinder nicht nur am Strand, sondern
auch in der Schule tragen. (Ebd., S. 73-74).Hier haben wir
es mit einem sehr bedeutsamen - soll man sagen: dialektischen? - Sachverhalt zu
tun: Die Rückseite des Egalitarismus der Massenmedien ist ihr Starkult. Eigentlich
stellt sich ja bei jeder Darstellung einer konkreten Person in Massendemokratien
das Problem, daß Individuen nicht interessant sind, weil es zu viele von
ihnen gibt. Warum sollte man gerade dieses eine betrachten? Mit ihrem Sinn fitr
alles Gleichartige in der Welt verneint ja jede »Massendemokratie«
die Welt von Kanon und Klassiker, Elite, Größe und Stars. Doch zeigt
die Erfahrung, daß die Menschen überall dort, wo Hierarchien fehlen,
durch Hackordnungen fasziniert werden - jedes Kind lernt das auf dem Spielplatz
und jeder US-Amerikaner im Büro. Man ruft sich Jack und Bob, aber nur einer
ist der Boss. Massenmedien haben sich auf die Beobachtung der Hackordnungen spezialisiert,
und dabei müssen sie eine schwierige Balance zwischen Egalitarismus und Elitismus,
Demokratie und Exzellenz finden. (Ebd., S. 74).Deshalb gibt
es neben dem Kult der Gleichheit eine Idolatrie der Bestenlisten. Täglich
opfern die Massenmedien dem Gott der Hitparaden. So wird Berühmtheit geschaffen,
zugeteilt und ausgelöscht. Wenn wir von Prominenz sprechen, meinen wir asymmetrisch
verteilte Aufmerksamkeit, also klassisch Statusdifferenz und Rangordnung. Man
kann Prominenz aber auch viel einfacher und doch genauer fassen, nämlich
als den Quotienten aus den Personen, die mich kennen, und den Personen, die ich
kenne. Hier spielen Massenmedien natürlich eine Schlüsselrolle: »Ich
kenne Sie aus dem Fernsehen.« Neben dem Geld, das man verdient, gibt es
also auch ein psychisches Einkommen: Berühmtheit, Respekt, Bewunderung -
und gerade das schafft heute Statusdifferenzen. (Ebd., S. 74).Die
Balance zwischen Egalitarismus und Elitismus gelingt den Massenmedien am besten
aber in der Kultivierung einer ganz neuen Spezies. Wir haben keine echten Helden
mehr - oder müßte man sagen: wollen keine mehr haben? -, aber immer
noch das Bedürfnis nach Heldenverehrung. Während die charismatische
Eminenz des Helden eigentlich immer ein Ärgernis für die Demokratie
ist, bieten uns die Celebrities Präparate des Durchschnitts. Ihre Geschicklichkeit
besteht in der Unterscheidung von ihresgleichen. Celebrities beweisen die Perfektibilität
des Durchschnitts. Sie sind »oben«, ohne daß wir deshalb »unten«
wären, und deshalb ermöglichen sie die »demokratische« Bewunderung.
Man ist nicht neidisch auf sie, weil man in ihnen sich selber feiert. Zur Celebrity
könnte nämlich jeder werden. Das ist das Grundprinzip der Casting-Shows.
Und fast täglich kann man vor dem Bildschirm sitzend miterleben, wie die
Massenmedien den Sprung über die spezifisch moderne Kluft der Abweichungsverstärkung
schaffen: Deutschland sucht den Superstar. (Ebd., S. 74-75).Der
intellektuelle Spott über derartige Sendungen ist billig. Sieht man aber
genauer hin, so kann man bemerken, daß sie wie Psychopharmaka wirken. Sie
schützen den Zuschauer gegen die Drohung, ein Niemand zu sein. Je glänzender
nämlich die echte Prominenz auf den Bildschirmen, desto unerträglicher
das Gefühl der eigenen Nichtigkeit. Die Hölle ist: nicht beachtet werden.
Deshalb läßt man sich gerne von den Medien einreden, jeder könne
die Seiten wechseln und selbst auf den Bildschirm gelangen. Sobald nun deutlich
wird, daß sich der Status eines Stars nicht der Leistung, sondern allein
dem Design verdankt, begreift jeder Zuschauer die Warhol-Lektion über den
fünfzehnminütigen Weltruhm. Ihre durchaus realistische und nur durch
die Wahrscheinlichkeitsrechnung getrübte Botschaft lautet: Jeder könnte
der Star sein. (Ebd., S. 75).In der Paradoxie der Berühmtheit
für alle übergreift der Egalitarismus heute seinen Gegensatz. Die Massenmedien
»demokratisieren« den Ruhm; und das ist möglich, weil sich der
Ruhm von der Leistung emanzipiert hat. Dazu gibt es eine sehr wichtige Entsprechung
im Alltagsleben der modernen Gesellschaft: Die Selbstwertschätzung eines
Menschen hat sich von seiner Leistung abgekoppelt. Früher verstand man seine
Selbstverwirklichung noch als Bewährung, gemessen an einem für alle
verbindlichen Standard. Heute ist an dessen Stelle die Eigenrichtigkeit des leistungsunabhängigen
Selbstwertgefühls getreten: Ich bin es mir wert. (Ebd., S. 75).Einem
Realitätstest hält dieses freischwebende Selbstwertgefühl natürlich
nicht stand. Deshalb sind die Medien als Traumfabriken so wichtig. Simulation
ist das »massendemokratische« Erlebnis. Man kann den berechtigten
Anspruch aller Menschen auf authentische Erfüllung nämlich nicht in
der Realität befriedigen. Die Teilhabe aller würde zerstören, woran
alle teilhaben wollen. Das ist eine spezifisch moderne Einsicht, die aber eben
auch so alt wie die Moderne ist und deshalb schon für den Roman gilt. Der
Roman ist die Heimat des wahren Egalitarismus: Jeder kann zur Figur in einer Geschichte
werden - auch K. oder die wunschlos unglückliche Mutter. John Updike hat
über diese »Demokratie« des Fiktionalen, die seltsame egalitäre
Welt des Romans einmal gesagt: Was zählt sind nicht Reichtum und Ruhm, sondern
die authentischen Gefühle. Nur der Roman und der Film sind wahrhaft egalitär
- dort geht es allein um echte Gefühle; nur die Liebe zählt.
(Ebd., S. 75-76).Wenn wir nun von analog auf digital, von Massenmedien
auf interaktive Medien, von Büchern auf Computer und von Zeitungen auf »Blogs«
umschalten, ändert sich zwar unendlich viel, aber die Dialektik von Egalitarismus
und Elitismus bewährt sich erneut. Das Internet ist eine Quelle egalitaristischer
Utopien. Die Weisheit der Vielen tritt in erfolgreiche Konkurrenz zum Expertenwissen,
weil alle mehr wissen als jeder. »Wiki« wird zum Erkennungszeichen
einer weltweiten Selbstorganisation des Laienwissens. »Blogs« versprechen,
daß jeder Leser zum Autor und Journalisten werden kann. Und auf den Märkten
des Internet-Kapitalismus herrscht die »Konsumentendemokratie«. Diese
Formeln wirken wie Fahnen, die das neue Soziale abstecken. (Ebd., S. 76).Versuchen
wir zunächst einmal, die utopischen Züge der Internet-Kultur zu skizzieren.
In offenen Netzen treffen sich frei assoziierte Individuen - und sie bilden Gesellschaft
als Hypertext, in dem sich jedes Individuum immer wieder neu »schreiben«
kann. Das ist keine einheitliche Kultur, sondern ein Netzwerk von speziellen Interessen
und Wissensgruppen. (Ebd., S. 76).Auch die vertrauten Formen
sozialer Hierarchie werden heute immer entschiedener durch eine heterarchische
Netzwerk-Kultur verabschiedet. Das Internet ist heute die Schlüssel-Metapher
für spontane soziale Ordnung. Das offene Netz ist längst zur Projektionsfläche
von Aufklärungsutopien geworden; man spricht von elektronischen Rathäusern
und virtuellen Parlamenten. Viel attraktiver aber ist vor allem für die Jugendlichen
die Möglichkeit, in den offenen Strukturen des Internet ein Netzwerk der
Minderheiten zu etablieren. (Ebd., S. 76).So weit die konkrete
Utopie. Doch längst gibt es auch skeptische Stimmen aus dem innersten Kreis
des Cyberspace, die Zweifel an der Idee des Internet als eines Mediums radikaldemokratischer
Kollaboration hegen. Das Netz zeigt immer deutlicher aristokratische Strukturen.
So zeichnen einige wenige »Tagebuch«-Schreiber für den Löwenanteil
des Datenverkehrs in der Weblog-Welt verantwortlich. Der Grund ist denkbar einfach:
Nur wenige Blogs sind wirklich attraktiv - und ziehen dann alle Aufmerksamkeit
auf sich. (Ebd., S. 76).Hier bestätigt
sich das Pareto-Gesetz der unbalancierten Reichtumsverteilung: 20% der Bevölkerung
verfügen über 80% des Reichtums. Das ist ein Effekt, der sich überall
dort einstellt, wo Menschen aus einer Fülle von Möglichkeiten frei wählen
können. Clay Shirky hat das auf die Formel gebracht: Vielfalt + Wahlfreiheit
= Ungleichheit. 20% aller Knoten ziehen 80% aller Links auf sich. Deshalb hat
es keinen Sinn, in derartigen Netzwerken nach repräsentativen, d.h. durchschnittlichen
Teilnehmern zu suchen. Der Mathematiker Albert-Lázló Barabási
nennt sie deshalb skalenfrei. Statistische Mittelwerte sind hier nicht aussagekräftig.
(Ebd., S. 76-77).Wo sich Vielfalt, Ungleichheit und Abweichungsverstärkung
verkoppeln, stellt sich die schon 1897 von Vilfredo Pareto entdeckte Verteilung
ein, die man in einfachster Mathematik durch die Formel y = l/x darstellen kann.
In der Sprache der Wirtschaft heißt das: Weniges verkauft sich viel und
vieles verkauft sich wenig. Diese Power-Law-Verteilung der Pareto-Regel ergibt
sich also immer, wenn viele Menschen eine Fülle von Möglichkeiten haben,
ihre Vorlieben auszudrücken. Das führt zu einer Wirtschaft der Stars
- und entsprechend dazu, daß die meisten anderen unterhalb des Durchschnitts
rangieren. Hier herrscht die Logik der Abweichungsverstärkung. Popularität
wächst durch positives Feedback. Es ist also gerade die Wahlfreiheit der
Kunden auf den Märkten, die Stars produziert; denn die Leute wählen,
was die Leute wählen. (Ebd., S. 77).Diese Logik der
Abweichungsverstärkung führt in der Welt der Weblogs einerseits dazu,
daß einige Schreiber immer mehr Leser und Feedback bekommen. Diese Stars
der Weblog-Szene können natürlich nicht mehr auf die Unzahl der Kommentare
reagieren und kehren damit ironischerweise wieder in die Welt des Massenmedien
zurück; denn sie verteilen ja Material an die Vielen, ohne doch noch an der
Kommunikation darüber angemessen teilnehmen zu können. Andererseits
gibt es immer mehr Weblogs, die nur wenige Leser finden und folglich ein anderes
Erfolgskriterium als Popularität brauchen. Der größte Teil der
elektronischen Tagebücher wird deshalb ein schriftliches Gespräch unter
Freunden sein. (Ebd., S. 77).Popularität heißt
heute also: viele Links zeigen auf mich. Und weil Popularität attraktiv ist,
wird dem, der hat, noch mehr gegeben. Auch Wissenschaftler, die einen neuen Text
schreiben, zitieren höchstwahrscheinlich Texte, die schon vielfach zitiert
worden sind - und steigern so deren Popularität. Der Soziologe Robert K.
Merton hat das den Matthäus-Effekt genannt: Wer hat, dem wird gegeben. Berühmte
Wissenschaftler bekommen eine unverhältnismäßig große Anerkennung
für ihre Beiträge, während unbekannte Wissenschaftler eine unverhältnismäßig
geringe Anerkennung für durchaus vergleichbare Beiträge bekommen. Dahinter
steckt ein Aufmerksamkeitsproblem. Niemand kann ja mit der Flut der wissenschaftlichen
Veröffentlichungen Schritt halten; deshalb orientiert sich der Leser an berühmten
Namen. Die Vertrautheit mit der Quelle einer Information stimuliert dazu, sie
zu nutzen. So werden aber nicht nur die Star-Wissenschaftler immer berühmter,
sondern auch - zumindest relativ betrachtet - die unbekannten Wissenschaftler
immer unbekannter. (Ebd., S. 77-78).Dieser Matthäus-Effekt
prägt auch das Internet. Alle können sich heute im Netz artikulieren,
aber nur von wenigen wird Notiz genommen, nur wenige werden sichtbar. Hier gilt
tatsächlich der Satz von Bischof Berkeley: Sein heißt Wahrgenommenwerden.
Wenn niemand auf meine Webpage verweist, existiere ich praktisch nicht im Netz.
Wahrgenommenwerden ist alles. Sichtbarkeit im Internet ist eine direkte Funktion
der auf das eigene Informationsangebot verweisenden Links. Wer den Status des
Stars aber nicht erreicht, findet sich im langen Schwanz jener Verteilungskurve
wieder, die Pareto entdeckt hat und heute zumeist unter dem Titel Power Law diskutiert
wird. Daß das Internet Ungleichheit produziert und eine Wirtschaft der Stars
begünstigt, stellt für alle »radikaldemokratischen« Utopisten
der neuen Medienwelt natürlich eine tiefe narzißtische Kränkung
dar. (Ebd., S. 78).Wer von der Logik der Netzwerke keine
Ahnung hat, läßt sich gerne die »Geschichte vom Internet als dem
ultimativen Medium der Demokratie« erzählen. Und zunächst sieht
es ja auch tatsächlich so aus, als ob hier jede Stimme gleich zählen
würde. Zensur im Internet ist schwierig, fast unmöglich. Jeder kann
seine Meinung veröffentlichen. Und was einmal ins Netz gestellt ist, steht
theoretisch Hunderten von Millionen Menschen zur Verfügung. Doch das World
Wide Web ist kein Netzwerk, in dem die Links, also die Verknüpfungen der
Webpages, gleich verteilt wären. Das Gegenteil ist der Fall. Albert-Lászloó
Barabási spricht sogar von einer vollständigen Abwesenheit von Demokratie,
Fairneß und egalitären Werten im Internet. Die Begründung dieser
These ist denkbar einfach. Von den Milliarden Dokumenten, die das Netz für
jeden von uns bereithält, sehen wir ja nur einige wenige. Die Frage lautet
deshalb für jeden, der Informationen oder Meinungen ins Netz stellt: Wird
es überhaupt irgend jemandem auffallen? (Ebd., S. 78).Es
geht hier um das Problem der Sichtbarkeit. Und das Internet mißt meine Sichtbarkeit
ganz einfach durch die Zahl der Links, die auf meine Webpage verweisen. Nun sind
einige wenige Knoten im Netz sehr stark, also mit zahllosen anderen verknüpft,
z.B. Amazon oder Google, fast alle aber nur sehr schwach. Verglichen mit den »Zentralflughäfen«
des Internet existieren die meisten anderen Knoten praktisch gar nicht. Webpages
werden also durch die Links, die auf sie zeigen, überhaupt erst sichtbar.
Und je mehr Links sie auf sich ziehen, umso leichter sind sie zu finden - und
umso vertrauter werden wir mit ihnen. So bildet sich ein unbewußtes Vorurteil
zugunsten erfolgreicher Websites. Popularität ist attraktiv. Wer hat, dem
wird gegeben. Wer googlet nicht? (Ebd., S. 78-79).Das ist
ein gutes Beispiel für den Netzwerkeffekt der Abweichungsverstärkung,
den man auch positives Feedback nennt. Mit der Pareto-Verteilung sind wir am Gegenpol
des Egalitarismus angekommen. In den meisten Netzwerken herrscht die Pareto-Verteilung
vor, die auch als 80/20-Regel bekannt ist. 20% derer, die Einkommen haben, zahlen
80% der Einkommensteuer; 20% der Mitarbeiter eines Unternehmens sind für
80% des Profits verantwortlich; 20% der Produkte eines Supermarktes machen 80%
des Umsatzes aus; 20% der Wissenschaftler bekommen 80% der Zitate ab, 20% der
Wissenschaftler schreiben 80% der wissenschaftlichen Texte. Und eben: 80% der
Links im Internet zeigen auf 20% der Webpages. (Ebd., S. 79).In
all den genannten Bereichen kann man natütlich bei empirischer Überprüfung
auf leicht veränderte Prozentzahlen kommen - es geht uns hier nur um die
Illustration einer Regel. In der Pareto-Verteilung gibt es einige gut sichtbare
Großereignisse und unzählig viele, kaum sichtbare Kleinereignisse.
Wer auf der zweiten Position ist, ist nur noch halb so viel wert wie der Erste.
Wer auf der fünften Position ist, ist nur noch ein fünftel so viel wert
wie der Erste. Und das Entscheidende ist: Es hat keinen Sinn, hier nach einem
Durchschnittswert zu suchen. Wenn sich dieses Power Law auch in der Einkommensverteilung
westlicher Länder zeigt, wenn also 20% der Bevölkerung 80% des Geldes
verdienen, dann bedeutet das, daß statistische Angaben über das Durchschnittseinkommen
genau so sinnlos sind wie die daran orientierten Berechnungen der Armutsgrenze.
(Ebd., S. 79).Egalitarismus ist offenbar nur in sehr kleinen Gesellschaften
möglich. Sobald eine gewisse kritische Masse überschritten ist, stellt
sich ein Ungleichgewicht des Ruhms ein. Das zeigt sich jetzt auch in der Blogger-Szene.
Je erfolgreicher ein Blog, desto unmöglicher wird Interaktivität. Interaktivität
unter Gleichen war ja gerade das Heilsversprechen der Internetgemeinde. Heute
wird aber deutlich, daß Erfolg immer heißt: Ungleichheit. Die Erfolgreichen,
denen unsere Aufmerksamkeit gilt, können keine Aufmerksamkeit zurückgeben,
denn wir sind zu viele. So leben sie in einer anderen Welt als wir. (Ebd.,
S. 79).Was für die Erfolgreichen gilt, gilt auch für
die Aktivisten im Netz. Es gibt hier keine durchschnittliche Beteiligung, z.B.
an Wikipedia. Die meisten tragen unterdurchschnittlich viel bei, einige wenige
dagegen fast alles. Statistisch ausgedrückt könnte man sagen, daß
sich der Durchschnitt immer mehr vom Median entfernt. So kann man bei sozialen
Netzwerken wie Meetup, MySpace oder Facebook für die Zahl der »Freunde«
einen Durchschnitt von 50, aber einen Median von nur 5 errechnen, weil eben einige
wenige Nutzer tausendfach stärker »verlinkt« sind als die meisten.
Auch für Wikipedia gilt: 20% der Schreiber liefern 80% der Beiträge.
Es gibt also keinen repräsentativen Nutzer des Internet. (Ebd., S.
80).Das Nachrichtenmagazin Time hat im Jahre 2006 den Wikipedia-Erfinder
Jimmy Wales als Champion des Internet-Egalitarismus gefeiert, denn Wikipedia verfolgt
das Ideal der gleichen Stimme: Es ist egal, ob du Schüler, Student, Professor,
Hobby-Wissenschaftler oder Professional bist. Titel, Qualifikation und akademische
Reputation spielen keine Rolle; nur der Beitrag zählt. Dieser Egalitarismus
der Internetkultur scheint die klassischen Intellektuellen und Experten zu entthronen.
Doch die radikale »Demokratisierung« der Information weckt ein Orientierungs-
und Führungsproblem. Braucht man nicht doch einige Leute, die es besser wissen
als andere? Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein sprechen hier von libertärem
Paternalismus, Larry Sanger, der die Uridee zu Wikipedia hatte, fordert heute
eine sanfte Leitung durch Experten. (Ebd., S. 80).Nicht jeder
kann, was er könnte. Mit den Möglichkeiten der Partizipation wachsen
auch die Anforderungen an Partizipation. Je gleicher die Partizipationschancen,
desto ungleicher die Partizipationsniveaus - deshalb wächst mit der Gleichheit
die Unzufriedenheit. Und das ist ein sehr wichtiges Zwischenergebnis unserer Untersuchung:
Es gibt keine Gleichheit in der Nutzung der Chancengleichheit. In einer modernen
Gesellschaft können Kommunikationschancen nicht gleich verteilt sein. Die
alte Formel »Wissen ist Macht« gewinnt deshalb in der Welt der neuen
Medien eine ganz neue Konkretheit. Verteilung und Zugang zum Wissen sind die großen
Machtfragen des 21. Jahrhunderts. Eine Politik, die das reflektiert, kreist dann
um Probleme des Datenschutzes, der Privatsphäre, des Geheimnisses und des
freien öffentlichen Zugangs zu Daten. (Ebd., S. 80).Neben
die sozialen Standards, die man Gesetze nennt, treten im Internet-Zeitalter zunehmend
technische Standards, nämlich die Programm-Codes, die sich in der Hardware
festsetzen und sich dann mit jedem verkauften Chip in der Welt verbreiten. Lawrence
Lessig meint gar, daß das Gesetz unwichtig wird und sich der eigentliche
Ort der Regulierung in den Computer-Code verlagert. Wer das verstehen will, muß
sich nur an Fragen wie diese erinnern: Hat man oberste Kommunikationspriorität
oder hängt man meist in der Warteschleife? Wer bekommt welche Informationen?
Wer hat Zugang zu den Datenbanken und wer darf dort neue Daten einschreiben? Und
man könnte weiter fragen: Wem gehören die Daten? Wer designt die Software?
So beginnen heute einige, die alte Hobbes'sche Frage nach dem Kern des Politischen,
Wer entscheidet?, neu zu stellen - und zwar in der von Carl Schmitt präzisierten
Fassung: »Das ist die Frage, wer die Frage stellt und den in sich entscheidungsfremden
Apparat programmiert.« (Carl Schmitt, Die vollendete Reformation,
in: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 1938, S. 174).
(Ebd., S. 80-81).Die globalisierte Welt wird heute nämlich
nicht nur durch den Gegensatz »arm vs. reich« sondern auch durch den
Gegensatz »vernetzt vs. nicht vernetzt« strukturiert. Diese Gegensätze
gehen quer durch alle Gesellschafren hindurch. Und die Zukunft wird vielleicht
zeigen, daß der Gegensatz »vernetzt vs. nicht vernetzt« noch
mächtiger ist als der zwischen arm und reich. Das digitale Netzwerk der Wertschöpfung
wirkt nämlich abweichungsverstärkend: Die Wertvollen werden immer wertvoller
- und es gibt immer mehr Überflüssige. Gerade in der globalisierten
Welt gibt es keine gemeinsamen Medien mehr. Unterschiedliche Wertsysteme werden
von unterschiedlichen Medien bedient. Demographische, politische und kulturelle
Verwerfungslinien trennen verschiedene Informationswelten voneinander. Vor allem
die neuen computergestützten und vernetzten Medien fördern eine kognitive
Stratifikation, eine geistige Klassenschichtung. Auf der Sonnenseite der Weltkommunikation
können wir eine weltweite Kooperation der Geistesarbeiter beobachten. Und
gleichzeitig bieten die Massenmedien für die Armen und Dummen das, was Raymond
Carrell Phantasiekompensation genannt hat - etwa die Telenovela, die in den Favelas
von São Paulo empfangen wird. (Ebd., S. 81).
Die Sakralisierung der Gerechtigkeit
Nach dem
Irak-Krieg 2003 hat Jürgen Habermas (angeblich gemeinsam mit Jacques Derrida)
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Manifest über die Wiedergeburt
Europas veröffentlicht. Darin heißt es: »In Europa sind die lange
nachwirkenden Klassenunterschiede von den Betroffenen als ein Schicksal erfahren
worden, das nur durch kollektives Handeln abgewendet werden konnte. So hat sich
im Kontext von Arbeiterbewegungen und christlich-sozialen Überlieferungen
ein solidaristisches, auf gleichmäßige Versorgung abzielendes Ethos
des Kampfis für »mehr soziale Gerechtigkeit« (**)
gegen ein individualistisches Ethos der Leistungsgerechtigkeit durchgesetzt, das
krasse soziale Ungleichheiten in Kauf nimmt.« (Jürgen Habermas &
Jacques Derrida, in: FAZ, 31.03.2003). (Ebd., S. 82).
Die Intelligenz von Habermas steckt in dem Komparativ »mehr«.
Er markiert die Differenz zur sozialistischen Ideologie, die Ungleichheit
schlechthin mit Ungerechtigkeit identifiziert. Das ist ein Unterschied
ums Ganze. Denn ob man »soziale Gerechtigkeit« (**)
oder »mehr« »soziale Gerechtigkeit« fordert;
ob man gegen soziale Ungleichheiten oder eben nur gegen »krasse«
soziale Ungleichheiten kämpft, entscheidet über die Möglichkeit
der Freiheit. Freiheit ist immer Ungleichheit und sie impliziert immer
unverdiente Erfolge und unverschuldete Mißerfolge. Und wohlgemerkt:
»unverdient« ist nicht »ungerecht«. (Ebd.,
S. 82).
Bertrand de
Jouvenel hat einmal sehr schön gesagt, mit nichts könne man die moderne
Gesellschaft heftiger skandalisieren als mit der These, daß eine gerechte
soziale Ordnung unmöglich ist. Es gibt aber schon deshalb keine gerechte
Gesellschaft, weil die Gesellschaft keine Organisation ist. Hinter den folgenden
Überlegungen steckt die Befürchtung, daß die Rede von der »gerechten
Gesellschaft« genau so gefährlich ist wie die Rede vom »gerechten
Krieg«. In jedem Fall aber ist die politische Idee einer gerechten Gesellschaft
eine Anleitung zum Unglücklichsein; sie produziert ständig Unzufriedenheit
mit dem jeweils erreichten Stand der Gerechtigkeit. (Ebd., S. 82).Die
meisten Menschen können nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, aber sie haben
ein sehr genaues Empfinden für Ungerechtigkeiten. Offenbar genügt uns
aber der Kampf gegen evidente Ungerechtigkeiten nicht. Ein Grund dafür liegt
sicher auch im medialen Trommelfeuer der Gerechtigkeitsrhetorik. Gerechtigkeit
ist heute ein Wert, dem man nicht nicht zustimmen kann - der Konsensbegriff Nr.
l. Hier gibt es keinen Diskussionsbedarf mehr. (Ebd., S. 82-83).Gerechtigkeit
ist ein sich selbst rechtfertigendes Ideal, das sich rhetorisch gegen Tradition
und Erfahrung abgeschirmt hat. Wer etwa darauf hinweist, daß es real keine
Gleichheit der Menschen gibt, wird ermahnt, daß sie ein Menschenrecht sei.
Und wer mit Aristoteles darauf hinweist, daß Gerechtigkeit gebietet, Gleiches
gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, wird mit den Maximen der Gleichstellungspolitik
konfrontiert. Aristoteles muß irren, denn wenn man Gleiches gleich und Ungleiches
ungleich behandeln müßte, dann wäre Gleichstellung ja der Inbegriff
der Ungerechtigkeit. Das darf die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
auf keinen Fall zugeben. (Ebd., S. 83).Doch wir waren schon
einmal klüger. Als die Moderne noch um ihre Funktionsbedingungen wußte,
verzichtete die Gesellschaft auf substantielle Gleichheit zugunsten formaler Gleichheit
und ersetzte die Poesie vom gerechten Staat durch die Prosa des Rechtsstaats.
Wo früher Status entschied, galten nun Verträge. Sir Henry Maine hat
diesen Prozeß der gesellschaftlichen Modernisierung auf die Formel »from
status to contract« gebracht. Heute, in Zeiten der Politischen Korrektheit
(**|**|**|**|**|**|**|**|**),
befinden wir uns auf dem Rückweg vom Rechtsstaat zum Status. (Ebd.,
S. 83).Der Staat privilegiert wieder bestimmte Gruppen und begründet
das als Wiedergutmachung historischer Diskriminierungen. Statt Gleichheit zu gewähren,
erzwingt man Gleichstellung. Das politische Ziel der Ergebnisgleichheit - z.B.
genau so viele Professorinnen wie Professoren an Universitäten - zerstört
die formale Gleichheit vor dem Gesetz. So behält Carl Schmitt recht: Der
gerechte Staat ist der Feind des liberalen Rechtsstaats. Denn man muß unterschiedliche
Menschen unterschiedlich behandeln, um bei ihnen das gleiche Resultat zu erzielen.
(Ebd., S. 83).Und entsprechend gilt eben umgekehrt auch, daß
unterschiedlichen Menschen dieselben objektiven Gelegenheiten zu eröffnen
nicht heißt, ihnen dieselben subjektiven Chancen zu geben. Gesunder Menschenverstand
genügt, um das einzusehen. Doch daraus folgt, daß wir empfindlich auf
jede Rhetorik reagieren sollten, die Gerechtigkeit mit edlen Adjektiven schmückt.
Denn überall da, wo Protest gegen eine »bloß formale« Gerechtigkeit
laut wird, lauert der Totalitarismus. Um es in einem Vergleich zu sagen: Die Wissenschaft
kann nur funktionieren, wenn sie auf substantielle Wahrheit verzichtet; und die
Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn sie auf substantielle Gerechtigkeit
verzichtet. (Ebd., S. 83-84).Was Menschen unterscheidet,
gilt heute als unwesentlich. Für die klassischen Liberalen des 18. Jahrhunderts
hingegen bedeutete Gleichheit zwar Freiheit für alle, aber eben nicht Einförmigkeit
im Sinne gleichen Einkommens oder gleichen Status. All das änderte sich mit
der französischen Revolution, von der Lord Acton sagte, die Leidenschaft
für die Gleichheit habe die Hoffnung auf Freiheit zerstört. Die Liebe
zur Freiheit hängt nämlich an den Ungleichheiten der Menschen. Der Staatsrechtslehrer
Gerhard Leibholz resümiert: »Freiheit erzeugt zwangsläufig Ungleichheit
und Gleichheit notwendig Unfreiheit. Je freier die Menschen sind; um so ungleicher
werden sie. Je mehr die Menschen dagegen im radikal demokratischen Sinne egalisiert
werden, um so unfreier gestaltet sich ihr Leben.« (Gerhard Leibholz, Strukturprobleme
der modernen Demokratie, 1974, S. 88f.). (Ebd., S. 84).Der
Begriff Gleichheit hat in den letzten zweihundert Jahren einen entscheidenden
Bedeutungswandel durchgemacht. An die Stelle der differenzierenden aristotelischen,
proportionalen Gleichheit - suum cuique, jedem das Seine, d.h. jeder soll nach
dem ihm zukommenden Maß gemessen werden - ist zunehmend die mathematische
Gleichheit des radikalen Egalitarismus getreten. Gleichheit und Angemessenheit,
Verdienst und Wohlfahrt, »jedem das Seine« und »jedem nach seinen
Bedürfnissen« - das sind Widersprüche. Wie sie aufzulösen
wären, ist heute rätselhafter denn je. Die Durchhalteparolen des Wohlfahrtsstaates
überzeugen jedenfalls genau so wenig wie ein »Zurück zu Aristoteles!«.
(Ebd., S. 84).Es ist eine traurige Ironie der Weltgeschichte, daß
das Ideal der Gleichheit den Haß verewigt, den die Realität der Ungleichheit
erzeugt hat. »Massendemokratisch« leben heißt, im vergleichenden
Blick auf die anderen leben. Und je gleicher die Lebensverhältnisse sind,
um so hartnäckiger fixiert sich der neidische Blick auf das überragende,
die Exzellenz, den Besseren. So entsteht der Ärger im sozialistischen Paradies,
oder wie Alexis de Tocqueville es formulierte: die Unruhe mitten im Wohlstand.
»Ist die Ungleichheit das allgemeine Gesetz einer Gesellschaft, so fallen
die stärksten Ungleichheiten nicht auf; ist alles ziemlich eingeebnet, so
wirken die geringsten Unterschiede kränkend. Deshalb wird der Wunsch nach
Gleichheit um so unersättlicher, je größer die Gleichheit ist.«
(Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1831-1832,
S. 627). (Ebd., S. 84).Der Haß auf die Ungleichheit
ist die »demokratische« Leidenschaft par excellence. Und je
weniger Ungleichheiten es gibt, desto größer wird der Haß auf
sie. Das Prinzip Gleichheit wirkt also paradox: Je mehr Gleichheit praktisch durchgesetzt
wird, desto unerträglicher wird jede noch vorhandene Ungleichheit. Je größer
die Gleichheit, desto unerbittlicher das Verlangen nach noch mehr Gleichheit.
Die statistisch erwiesene Ungleichheit wird als Ungerechtigkeit interpretiert
und dann als zentrales Beweismittel im ideologiekritischen Prozeß gegen
die bürgerliche Freiheit eingesetzt. Gefälligkeitswissenschaftler arbeiten
schon an der passenden Rhetorik. Weil niemand mehr an »Klassengesellschaft«
glaubt, setzt die kritische Soziologie jetzt auf »neue Ungleichheit«.
(Ebd., S. 84-85).In der Öffentlichkeit macht man diese neue
Ungleichheit gerne an Managergehältern fest - genauer gesagt: am Verhältnis
der Einkommen eines Managers und einer Krankenschwester, die heute als Idealtypus
anständiger Arbeit figuriert. Eine egalitaristische Gesellschaft beurteilt
die Leistungen aller Bürger ja als gleichwertig und muß deshalb die
extrem unterschiedlichen Einkommen als ungerecht empfinden. Daß niemand
es wagt, zu fragen, warum diese Ungleichheit begründet werden muß,
oder ob sie begründet werden kann, zeigt, daß es gelungen ist, Gleichheit
als begründungsunbedürftig darzustellen. (Ebd., S. 85).Keiner
soll haben, keiner soll befehlen, keiner soll meinen. Alle egalitären Sozialisten
bekämpfen das Eigentum (mit Umverteilung), mißtrauen der Freiheit (mit
Umerziehung) und verachten das Individuum (mit Kollektivismus). In der Forderung
nach Umverteilung präsentiert sich der Egalitarismus als Feind des Privateigentums,
denn jedes Privateigentum impliziert Diskriminierung und das Recht auf Exklusion.
In den Projekten der Umerziehung präsentiert sich der Egalitarismus als eine
behavioristische Fortschrittsphilosophie: Man kann die Leute ändern, indem
man ihre Umwelt ändert. (Ebd., S. 85).Die eigentliche
Attraktivität des Egalitarismus steckt aber im Kollektivismus, d.h. in dem
Angebot an die Individuen, sie von ihrer Individualität zu entlasten. Die
Propaganda für »Teamarbeit«, Partnerschaft und Gemeinschaft verstärkt
das kindliche Vorurteil für Verteilungsgleichheit. Teamwork ist ein Euphemismus
dafür, daß die anderen die Arbeit tun. Hannah Arendt hatte den fabelhaften
Mut, diese Wahrheit ganz unzweideutig auszusprechen: Es gibt nichts, was der Arbeitsqualität
fremder und schädlicher wäre als Gruppenarbeit. (Ebd., S. 85).John
Rawls' Schleier der Ignoranz - wir kommen gleich noch ausfühtlich darauf
zurück - läßt sich heute konkretisieren als der Schleier der Gruppe.
Nicht zur Gruppe zu gehören, ist die Sünde wider den Heiligen Geist
des Sozialismus. Wer hervorragen will, gilt als asozial. Prämiert werden
Anpassungsfähigkeit und »Teamgeist«. Persönlicher Stolz
ist die größte Sünde im egalitären Sozialismus, Selbstauslöschung
dagegen eine Tugend. Wer nicht mitmacht in den »communities« und Kommissionen
gilt als Verworfener. Die Gruppe ist heute die Kirche, außerhalb derer kein
Heil ist. Ihr Kult und die genau komplementäre Fernethik des Humanitarismus
zerstören das Selbstsein und die Liebe zum Nächsten. (Ebd., S.
85-86). **
Jede
sozialdemokratische Schwärmerei für das »schwedische Modell«
wird durch dieses Buch ausgenüchtert. Nur die europäische Tradition
schützt uns heute noch vor dem schwedischen Wohlfahrtstotalitarismus. Die
Beobachtungen Huntfords stammen allerdings aus den frühen 1970er Jahren,
und man kann natürlich argumentieren, daß Schweden mittlerweile seine
Sozialsysteme so rigoros umgebaut hat, daß es nicht mehr als Muster des
Versorgungsstaats taugt, Das können wir hier dahingestellt sein lassen, denn
es geht uns nur um die Mentalität und die spezifisch sozialdemokratische
Idee »Schweden«. Zur schwedischen Sklaverei im Namen des öffentlichen
Wohls vergleiche auch Ian Angell, Das neue barbarische Manifest, 2000,
S. 101. Das Konzept hat offenbar deutsche Ursprünge. Schon Oswald Spenglers
preußischer Sozialismus hatte ja die Gleichheit resolut von der Freiheit
befreit. (Ebd.). |
Jede Gruppenzugehörigkeit
macht abhängig, und jede Abhängigkeit reduziert die Freiheit. Zuerst
büßt man die Freiheit des Entscheidens ein und dann die Freiheit des
Denkens. Am Ende steht, wie der Rechtswissenschaftler Walter Erbe mit bitterer
Ironie bemerkte, auch »eine Freiheit: die Freiheit von der eigenen Meinung.«
(Walter Erbe, Die Freiheit im sozialen Rechtsstaat, in: Rechtsstaatlichkeit
und Sozialstaatlichkeit, Hrsg.: Ernst Forsthoff, 1968, S. 317). Der Gemeinschaftsgeist
ist der große Gegenspieler der Leidenschaft für den Unterschied. Demokratie
ist das Zeitalter der Diffusion und der Verachtung für die Distinktion; sie
honoriert Selbstvergessenheit mit einem Tugendstatus. Jeder Unterschied wird als
Ungleichheit interpretiert und jede Ungleichheit als Ungerechtigkeit. Aber überall,
wo menschliche Kräfte sich frei entfalten dürfen, entstehen Ungleichheiten.
Gerade sie bilden den Nährboden für die bürgerliche Gleichheit,
in der die Gruppenideologie zu Recht ihren natürlichen Feind erkennt. Odo
Marquard hat für dieses bürgerliche Grundmotiv freier Gleichheit die
schöne Formel gefunden: »Gleichheit ist angstloses Andersseindürfen
für alle.« (Odo Marquard, Philosophie des Stattdessen, 2000,
S. 43). (Ebd., S. 86).Die Gruppe dagegen ist die Gehirnwäsche,
und es ist völlig gleichgültig, ob es sich dabei um Gruppentherapie,
Teamtraining oder soziales Lernen handelt - stets geht es um die Austreibung von
Individualität und Wettbewerb. Ein Geschichtsphilosoph müßte sagen:
Von Gruppen her und auf Gruppen hin zu denken, ist anti-westlich. Denn Gruppe
heißt immer: nicht Individuum. Und ein Soziologe müßte sagen:
Der Kult der Gruppe lenkt von den Strukturnotwendigkeiten der modernen Gesellschaft
ab. Egalitarismus funktioniert nämlich nur in kleinen Gruppen. Nur hier gibt
es Reziprozität, jeder sorgt sich um jeden, die Ressourcen werden gleichmäßig
verteilt. Doch je größer die Gruppe wird, desto wichtiger wird Differenzierung:
Man muß etwas Besonderes zu bieten haben, und je größer der Beitrag,
desto größer die Belohnung. Gleichheit aber schließt Rollendifferenzierung
aus. Und wo Gleichheit egalitaristisch verordnet wird, bleibt dem Individuum nur
noch die Flucht in die Institutionen. (Ebd., S. 86).Die sozialistische
Politik ist ein Kampf gegen die tausendköpfige Hydra der Ungleichheit. Jeder
staatliche Eingriff zur Reduzierung von Ungleichheit schafft unzählige neue.
Es gibt nämlich immer Leute, die durch Chancengleichheit begünstigt
werden, Kriegsgewinnler der Gleichstellung. Und es ist kein Herakles in Sicht,
der die sich selbst reproduzierenden Ungleichheiten ausbrennen würde. So
erzeugt der Egalitarismus selbst beständig Frustration. (Ebd., S. 86-87).Weil
aus der Wahrnehmung von Differenzen Neid entsteht, muß der Egalitarismus
eine Schaufensterpolitik betreiben, also sichtbar machen, daß Gerechtigkeit
geschieht. Weil nicht die sozialen Unterschiede, sondern die Wahrnehmung dieser
Unterschiede den Zusammenhalt der Gesellschaft bedrohen, inszeniert die Politik
egalitaristische Maßnahmen. Dabei geht es nicht darum, daß Gerechtigkeit
geschieht, sondern darum, daß die Leute sehen, daß Gerechtigkeit geschieht.
Das kann man dadurch erreichen, daß man Bedürftigen etwas gibt, aber
genau so gut auch dadurch, daß man Erfolgreichen etwas nimmt («Reichensteuer«).
(Ebd., S. 87).Solche egalitären Maßnahmen begünstigen
unproduktive Menschen. Und sozialistische Politik lebt heute fast nur noch von
»sozialen Problemen«, die von unproduktiven Menschen hervorgerufen
werden. Das hat eine wahrhaft tragische Konsequenz: Sozialistische Politik muß
ein Interesse daran haben, daß es viele unproduktive Menschen gibt, die
von staatlichen Transferleistungen leben. Daß sich die Partei, die genau
diese Politik verfolgt, »Die Linke« nennen darf, ist bitter für
die sozialdemokratische Linke. (Ebd., S. 87).Das gegenwärtige
Unbehagen in der Kultur hat aber noch einen anderen Grund. In der modernen Welt
symbolisiert der Reichtum nicht mehr besondere Fähigkeiten und Leistungen.
Man kann vom Lebensstil nicht mehr auf die Person schließen. Der Konsumstil
hat die Lebensführung ersetzt, und das gute Leben ist zum Rechtsanspruch
geworden. Deshalb hat der Lebensstandard heute Suchtcharakter angenommen; er befriedigt
zwar nicht, aber jede Minderung erscheint unerträglich. (Ebd., S. 87).Politisch
betrachtet ist das Glück der Gesellschaft eine Sisyphos-Arbeit, denn je angenehmer
die Lebensumstände der Menschen werden, um so höher werden die subjektiven
Standards für glückliches Erleben. Man muß ständig neue Ebenen
der Stimulation ansteuern, um das alte Ausmaß an lustvollem Empfinden zu
sichern - wie Drogenabhängige ständig die Dosis erhöhen müssen,
um den gleichen Kick zu bekommen. Philip Brickman und Donald T. Campbell haben
das als die Tretmühle der Lust bezeichnet, und Fred Hirsch spricht von einer
Frustrationsmaschine. (Ebd., S. 87).Dieses paradoxe Unbehagen
am wachsenden Wohlstand haben Sozialpsychologen durch den schon erwähnten
deprimierenden Effekt von Zahlenverhältnissen erklärt. Das jeweils erreichte
Bessere macht das Bisherige schlechter: »mehr ist weniger«! Jedes
Wachstum ist deshalb immer auch eines der Depression. Verständlich wird das
vor dem Hintergrund der triviale Lebenstragik, daß die Enttäuschung
darüber, das Gewünschte nicht bekommen zu haben, noch überboten
wird durch die Enttäuschung, die sich einstellt, sobald man das Gewünschte
bekommen hat. Die primäre Erfahrung ist die Enttäuschung. Wenn Wünsche
aber unerfüllbar sind, dann wächst die Enttäuschung mit dem Wohlstand.
Das ist die ökonomische Seite des Unbehagens in der Kultur. (Ebd.,
S. 87-88).Daß Menschen unzufriedener werden, obwohl sich
ihre objektiven Lebensumstände verbessert haben, liegt daran, daß ihre
Vergleichsstandards noch schneller wachsen als ihr Lebensstandard. Das gilt z.B.
für viele Menschen im heutigen Ostdeutschland, berufstätige Frauen,
oder Kranke und Pflegebedürftige. Die heutigen Ostdeutschen vergleichen ihre
Lage nicht mehr mit dem Leben in der DDR sondern mit dem Einkommensniveau der
Westdeutschen. Die berufstätigen Frauen vergleichen ihre Lage nicht mehr
mit dem Leben ihrer Mütter, sondern mit den Machtbefugnissen und dem Einkommensniveau
ihrer männlichen Kollegen. Und die Kranken jammern über vorenthaltene
ärztliche Leistungen, ohne noch ermessen zu wollen, wie phantastisch die
ganz selbstverständlich jedem bereitgestellte ärztliche Versorgung (zumindest
in Deutschland) ist - denn andere werden noch besser versorgt: Zweiklassenmedizin!
(Ebd., S. 88).Für fast alle wird fast alles besser. Aber das
zählt nicht. Denn zwar geht es allen besser, aber zugleich verstärkt
sich die Polarisierung. Den Armen geht es besser, aber relativ zu den Reichen
werden sie ärmer. Der Vergleich macht unglücklich. Und wenn es nicht
zynisch klingen würde, könnte man sogar sagen: Der Vergleich macht arm.
Aber wir können gar nicht anders. Jeder lebt unter dem Zwang, sich mit anderen
zu vergleichen. Und »Demokratie« heißt in diesem Zusammenhang
eben: Jeder darf sich mit jedem vergleichen, auch wenn er sich nicht mit jedem
vergleichen kann. Und zwar vergleicht man sich mit dem vergangenen Selbst, mit
dem Idol, mit dem Nachbarn und mit dem Durchschnitt. (Ebd., S. 88).Daß
sich das Wohlergehen des Menschen vom materiellen Wohlstand abgekoppelt hat, begründet
Jörg Lau durch eben diesen »Vergleichsstreß«, der uns mit
dem jeweils Erreichten nicht zufrieden sein läßt. Daß es mir
heute besser geht als gestern, besagt wenig, wenn es dem Kollegen oder Nachbarn
heute besser geht als mir. Doch Jörg Lau gibt diesem Befund eine faszinierende
Wendung: schlechte Laune als Produktivkraft. Weil wir Pessimisten sind, haben
wir viele gute Ingenieure. Es gibt also eine Ziele schaffende Unzufriedenheit.
Und im Kampf um knappe Ressourcen setzen sich nicht die Saturierten durch. Lau
nennt das evolutionäre Selektion zugunsten des Negativismus und resümiert:
»Die Genügsamen und Selbstzufriedenen bringen es meist nicht weit.
Das Glück ist mit den Unzufriedenen, die allerdings mit Gereiztheit und Gestreßtheit
für ihre Erfolge bezahlen müssen.« (Jörg Lau, Risikoreligion
und Zukunftsneid, in: Neugier, Merkur # 712/713; 2008, S. 775).
(Ebd., S. 88-89).Nicht nur Rechtsstaat, sondern sozialer Rechtsstaat;
nicht nur Gerechtigkeit, sondern »soziale Gerechtigkeit« (**);
nicht nur Politik, sondern Sozialpolitik; nicht nur Demokratie, sondern Sozialdemokratie;
nicht nur Marktwirtschaft, sondern soziale Marktwirtschaft - und die Welt hebt
an zu singen, sprichst du nur das Zauberwort »sozial«. In dem Wort
»Gesellschaft« fasziniert das Versprechen der Gleichheit; in dem Wort
»sozial« fasziniert das Versprechen der Gleichverteilung des Glücks.
(Ebd., S. 89).Das Soziale ersetzt heute die Brüderlichkeit
der französischen Revolution. Und nicht anders als die Brüderlichkeit
ist auch das Soziale genauso verheißungsvoll wie schwer definierbar. Der
Verfassungsrechtler Ernst Forsthoff warnte zurecht: »Kein Wort ist vieldeutiger
und dem Mißbrauch leichter zugänglich wie das Wort sozial. Kein Staat
ist mehr in Gefahr, im Dienst der jeweils Mächtigen instrumentalisiert zu
werden als der Sozialstaat.« (Ernst Forsthoff, Verfassungsprobleme des
Sozialstaates, 1954, a.a.O., S. 163). Streng genommen ist »sozial«
ein unjuristischer Begriff, der im Grundgesetz das Grundgesetz transzendiert.
Er eignet sich gerade deshalb besonders gut als Kampfbegriff. (Ebd., S.
89). **Die
Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes öffnet einer sozialistischen Interpretation
des Sozialen Tür und Tor. Der Verfassungsrechtler Hans Gerber hat das einmal
die »Wendung vom Sozialen zum Sozialistischen« genannt. Wie leicht
sie zu vollziehen ist, hat dann der Marxist und Rechtsprofessor Wolfgang Abendroth
deutlich gemacht, als er aus dem Begriff des sozialen Rechtsstaats »die
objektive Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit ständigen gestaltenden staatlichen
Eingriffs in das soziale Gefüge« ableitete. (Vgl. a.a.O.). Dem entspricht
dann ein Demokratiebegriff, der sich nicht mehr nur auf die politische und rechtliche
Stellung des Staatsbürgers sondern auf »seine gesamten Lebensverhältnisse«
erstreckt. In der sozialen Planung des Wohlfahrtsstaats fallen dann Individual-
und Gesamtinteresse zusammen. (Ebd., S. 89).Gegen die Leistungen
und Glückszwangsangebote des Sozialstaates und das auf ihn verschobene Sicherheitsbedürfnis
des Einzelnen bietet die Verfassung des Rechtsstaats keinen Schutz, und deshalb
mußte Ernst Forsthoff geradezu beschwörend die Macht vom Sozialen getrennt
halten. Denn wenn die Sozialfunktion des modernen Staates in Herrschaft umgesetzt
würde, hätten wir die perfekte Tyrannei. Mit anderen Worten: Sobald
das Soziale mit Macht kontaminiert ist, haben wir es mit totaler Herrschaft zu
tun - durch Betreuung beherrschen. Diese Gefahr droht immer dann, wenn das Wort
»sozial« einen polemischen Sinn bekommt. Dann ist nämlich eine
Politik am Werk, die die Gewährleistungsfunktion des Rechtsstaates, also
die Wahrung der Rechte des Einzelnen, nur noch im Rahmen dessen ausübt, was
von der Regierung als sozial verstanden wird. (Ebd., S. 89-90).Längst
hat die Arroganz der Benachteiligten die der Linksintellektuellen als Ferment
unserer kulturellen Selbstverständigung abgelöst. Statt »kritisch«
sagt man heute »sozial«. Das ist der semantische Markenartikel des
Wohlfahrtsstaates. Man kann es auch so sagen: »Sozial« ist der Ausdruck
für das Unbehagen in der Moderne. Und gerade dieses Unbehagen stabilisiert
die moderne Gesellschaft dynamisch - gerade die Dynamik stabilisiert! -, d.h.
es hält sie in einer Art Fließgleichgewicht. (Ebd., S. 90).Man
kann das heute am besten an der Forderung nach »sozialer Gerechtigkeit«
(**)
studieren. Im Klartext geht es natürlich um wohlfahrtsstaatliche Kompensationen.
Für unseren Zusammenhang ist es aber viel wichtiger, zu sehen, wie weit sich
dieser »soziale« Gerechtigkeitsbegriff vom traditionellen entfernt
hat. Bei Aristoteles etwa ist Gerechtigkeit kein Wert, sondern die gleiche Distanz
zu allen Werten - oder wie man auch, mit Gotthard Günther, sagen könnte:
ein Rejektionswert. Heute dagegen ist Gerechtigkeit nur noch ein Kampfbegriff.
(Ebd., S. 90).Die Deutschen konnten die Pioniere des Sozialen werden
.... Nirgendwo läßt sich das historische Apriori der modernen Gesellschaft
besser studieren als in Deutschland: die »autonome Sozialtendenz«
(Arnold Gehlen, Einbilke, 1975, S. 228), die auf eine Ergänzung des
Rechtsstaats durch eine Gefühlsdemokratie drängt. Im Innersten ihres
Herzens sind die meisten Deutschen Sozialdemokraten. Die Gleichverteilung des
Lebensglücks hat sich erst von der Utopie zur ethischen Forderung und dann
zum Rechtsanspruch gewandelt. An die Stelle von Leistung und Verpflichtung sind
Forderung und Etwartung getreten. Die autonome Sozialtendenz ist also die genaue
Antithese zum Unternehmerethos. (Ebd., S. 90).Genau so wie
sich die Heuchelei des 19. Jahrhunderts um das Sexuelle drehte, dreht sich die
Heuchelei seit dem 20. Jahrhundert um das Soziale. Es ist das Gott-Wort unserer
Epoche. Den ersten entscheidenden Schritt zur Vergötzung des Sozialen verdanken
wir dem Marxismus und seiner Religion der Arbeit. Man muß sich immer wieder
vor Augen halten, daß die moderne Verklärung der Arbeit alles andere
als eine kulturelle Selbstverständlichkeit ist. Nicht nur für die Antike
war gerade umgekehrt die Verachtung der Arbeit selbstverständlich.
(Ebd., S. 90-91).Seit 1848 aber gibt es den heiligen Arbeiter -
zunächst war es der Kumpel aus dem Ruhrpott, später dann die Krankenschwester.
Der Schritt von der Religion der Arbeit zur Vergötzung des Sozialen ist dann
ganz klein. Es genügt als zusätzliches Element der Kult des Kollektivs,
den wir schon analysiert haben. Wer heute einen Job sucht, muß vor allem
den Eindruck erwecken, »teamfähig« zu sein. Und Schülern
bringt man im so genannten »sozialen Lernen« bei, daß Gruppenarbeit
die einzige Lebensform des guten Menschen sei. (Ebd., S. 91).In
der Kultur der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
hat der heilige Arbeiter schließlich seine moralische Schlüsselstellung
an den Benachteiligten abtreten müssen. Wir haben es hier mit einem Schulbeispiel
der Dialektik der Aufklärung zu tun. Wer eigene Vorurteile bekämpfen
will, erzeugt neue Vorurteile durch Überkompensation: Man ist zu freundlich
und zu hilfsbereit gegenüber den Benachteiligten. Der Gutmensch begünstigt
die Benachteiligten, diskriminiert zugunsten der Marginalen - und konsumiert dabei
das Hochgefühl der Nichtdiskriminierung. Politisch schlägt sich das
darin nieder, daß Minderheiten und Benachteiligte immer mehr Rechtsansprüche
auf staatliche Leistungen bekommen. (Ebd., S. 91).Heute vollendet
sich die Herrschaft der Minderheiten. Wer am Rand steht, auffallend anders ist
oder nicht mitkommt, bekommt immer mehr Rechtsansprüche auf staatliche Leistungen.
Der Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« (**)
bezieht sich eben primär auf die Schwachen und Unterlegenen unserer Gesellschaft.
Er fordert Gleichheit durch Ungleichheit; seine Allegorie ist das Handicap. Der
Verwaltungsrechtler Otto Bachoff hat die »soziale Gerechtigkeit« (**)
deshalb als »eine die abstrakte Gleichheit zugunsten der Schaffung konkreter
Gleichheit durchbrechende Gerechtigkeit« definiert. (Vgl. Otto Bachoff,
Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, 2008, in: Rechtsstaatlichkeit
und Sozialstaatlichkeit, Hrsg.: Ernst Forsthoff, 1968, S. 206). Der Wohlfahrtsstaat
prämiert den Mangel. Wer ein Handicap vorweisen kann, sichert sich sozialstaatlichen
Beistand. Der Soziologe Heinz Bude meint sogar: »Es erweist sich als eine
fürs Überleben dienliche Cleverneß, sich einen wie auch immer
gearteten Behindertenstatus zuzulegen.« « (Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen,
2008, S. 112). So entwickelt sich ein regelrechter Wettbewerb um den Status des
Benachteiligtseins. Und den Menschen mit Handicap stehen immer mehr Berater zur
Seite, die einen immer größeren Fürsorgebedarf durch die Erfindung
von Defiziten erzeugen. Prinzipiell kann man sagen: Je mehr Berater und Therapeuten
es gibt, desto mehr wird die Welt vom einem Gefühl der Benachteiligung gerahmt.
(Ebd., S. 91).Alle Sozialleistungen, an die wir uns gewöhnt
haben, nehmen die Form von Rechtsansprüchen an. Dadurch verwandeln sich alle
Unfälle in Sozialfälle. Eine Politik, die davon lebt, kann dauerhaft
natürlich nur betrieben werden, wenn die Gesellschaft ständig Ungleichheit
produziert bzw. die Empfindlichkeit für Unterschiede steigert. Diese wachsende
Abweichungsempfindlichkeit hat ihren Preis. An die Stelle von Freiheit und Verantwortung
treten Gleichheit und Fürsorge. Der Soziologe Niklas Luhmann formuliert das
so: »Die Rechtsentwicklung zeigt deutlich eine Doppelbewegung: eine zunehmende
Betonung der Sozialpflichtigkeit subjektiver Rechte und eine zunehmende Abmilderung
strenger Haftungen.« (Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik,
Band II, 1989, S. 88). (Ebd., S. 92).Der Wohlfahrtsstaat
ersetzt die Caritas durch politische Rechte auf bestimmte Lebensstandards. Die
Regierung verschenkt also Ansprüche und Rechte, die wiederum nur durch Regierungshandeln
eingelöst werden können. So sind wir unterwegs vom Rechtsstaat zum Berechtigungsstaat.
Die neue sozialistische Strategie besteht darin, neue »Rechte« zu
erfinden, die es dem Staat ermöglichen, sich ins Privatleben einzumischen.
Mit jedem neuen »Recht« verschafft sich die Regierung nämlich
Zutritt zu unserem Privatleben. Ein unbeliebiges Beispiel: »Rechte für
Kinder«. Das ist wohl nicht einmal gut gemeint, aber es klingt sehr gut.
Doch wer sich von dem Sirenengesang der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
nicht betören läßt, erkennt rasch, daß »Rechte für
Kinder« nur heißt: Verstaatlichung der Kinder. Kinderrechte entfremden
die Kinder ihren Eltern und unterwerfen sie dem Staat. (Ebd., S. 92).Vor
allem in Fragen des Geschlechterverhältnisses, der Gesundheit und der Bildung
erwartet die moderne Gesellschaft ganz selbstverständlich gleiche Behandlung
für alle, die durch immer neue »Rechte« gewährleistet werden
soll. Da diese Erwartung aber so unrealistisch wie selbstverständlich ist,
erzeugt sie bei den Begünstigten eine permanente Unzufriedenheit. Um diese
Unzuftiedenheit von sich abzulenken, verspricht die Regierung dann regelmäßig
«mehr Gleichheit«. So können die Bürger Begünstigungen
von Anrechten kaum mehr unterscheiden. (Ebd., S. 92).Jedes
wohlfahrtsstaatliche Programm begünstigt einige und benachteiligt fast alle.
Es ist eine unverächtliche Trivialität, daß der Staat den einen
nur geben kann, was er den anderen genommen hat; ja nicht einmal das, denn der
Transfer selbst verursacht hohe Kosten. So präsentiert sich der vorsorgende
Sozialstaat heute als legalisierter Robin Hood, der das »Recht« der
Schwachen und Unglücklichen auf einen »angemessenen » Lebensstandard
durchsetzt. (Ebd., S. 92).Hier erweist sich die »soziale
Gerechtigkeit« (**)
unmittelbar als eine Ideologie, die Entrechtlichung rechtfertigt. Und das entspricht
genau dem gerade beschriebenen Sachverhalt, daß es in der modernen Gesellschaft
Anrechte gibt, die zu nichts mehr verpflichten. Niklas Luhmann hat sie »das
ungerechte Recht« genannt. (Vgl. Niklas Luhmann, Die Ausdifferenzierung
des Rechts, 1981, S. 365). Offenbar ist es die Arbeit des Begriffs der »sozialen
Gerechtigkeit«, die diesen Weg vom Rechtsstaat zum Berechtigungsstaat gebahnt
hat. Wir müssen ihn deshalb etwas näher betrachten. (Ebd., S.
93).Der Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« (**)
markiert den Abschied von der liberalen Gesellschaft. Und es gibt heute kaum mehr
Politiker, die nicht im Namen der »sozialen Gerechtigkeit« agieren.
Niemand kann den Begriff definieren, aber gerade deshalb funktioniert er so gut
als Flagge des »Gutmenschen«, als Chiffre für die richtigen moralischen
Gefühle. Niemand muß konkret sagen können, wer denn ungerecht
gewesen ist. »Soziale Gerechtigkeit« ist ein Gebet an die vergöttlichte
Gesellschaft, das nur von einem totalitären System erhört werden kann.
(Ebd., S. 93).Unsere Ehrfurchtssperre vor dem Begriff der »sozialen
Gerechtigkeit« (**)
ist heute so mächtig, daß man schon zu theologischen Begriffen greifen
muß, um sie zu analysieren. Die Religion der »sozialen Gerechtigkeit«
herrscht uneingeschränkt über die Seelen der Massendemokraten, die längst
den Weg vom Seelenheil zum Sozialheil zurückgelegt haben. Und »Reaktionär«
heißt nun jeder, der nicht zur Glaubensgemeinschaft der Sozialreligion gehört.
(Ebd., S. 93).Die großen Ökonomen Friedrich von Hayek
und Frank H. Knight waren sich in einem Punkt einig: Der Begriff der »sozialen
Gerechtigkeit« (**)
ist hoffnungslos undefinierbar und bedeutungslos. Alles, was eine vernünftige
Politik tun kann, ist, konkrete Ungerechtigkeiten zu lokalisieren und Prozeduren
zu entwickeln, die sie lindern helfen. Doch daß der Begriff der »sozialen
Gerechtigkeit« bedeutungslos ist, heißt nicht, daß er funktionslos
ist. Im Gegenteil. Die moderne Gesellschaft hat ihre Gerechtigkeitsprinzipien
sakralisiert. (Ebd., S. 93).Je weniger die Menschen an Gott
glauben, um so mehr müssen sie an die »soziale Gerechtigkeit«
(**)
glauben. Deshalb können wir es nur schwer ertragen, wenn analytische Denker
wie David Hume und Nietzsche auf die Künstlichkeit und Konstruiertheit ihrer
Prinzipien und Vorschriften verweisen. In dieser Frage erlaubt sich unsere restlos
aufgeklärte Gesellschaft eine letzte große Mystifikation, den Appell
an ein unkommunizierbares Gefühl. »Soziale Gerechtigkeit« ersetzt
das Heilige. (Ebd., S. 93).Die Sakralisierung
der Gerechtigkeit zerstört die Freiheit individueller Entscheidungen. Friedrich
von Hayek hat den Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« (**)
deshalb als das Trojanische Pferd des Totalitarismus bezeichnet. Und auch
wer diese Formulierung für überzogen hält, kann aus dem Bild des
Trojanischen Pferdes einen Erkenntnisgewinn ziehen. Denn auch die bürgerlichen
Parteien präsentieren ihren Wählern mitderweile »soziale Gerechtigkeit«
als ein Geschenk - ohne zu ahnen, daß in seinem hohlen Innern die Agenten
des Sozialismus stecken. (Ebd., S. 93-94).Aldous
Huxleys These, daß Wohlfahrt Tyrannei ist, bewährt sich heute an der
politischen Rhetorik sozialer Probleme, die uns versklavt. Gerecht zu scheinen,
ohne es zu sein, ist jene höchste Ungerechtigkeit, die man »soziale
Gerechtigkeit« (**)
nennt. (**). Sie ist nicht
nur unsozial und ungerecht, sondern auch unökonomisch, denn Verteilungsgerechtigkeit
verwandelt das Wirtschaften in ein Nullsummenspiel. Hier ist es sehr lehrreich,
einmal auf die verschiedenen Namen zu achten, die das Geld bezeichnen, das man
für seine Arbeit bekommt: Lohn, Einkommen, Gehalt, Bezüge - aber eben
auch Verdienst. Ob jemand das, was er verdient, auch tatsächlich verdient,
könnte man an seiner Leistung und ihrem Wert für den Markt messen. Aber
genau dagegen richtet sich das Konzept der »sozialen Gerechtigkeit«.
Es treibt die Meritokratie durch Mediokrität aus. (Ebd., S. 94).Im
Wohlfahrtsstaat verschiebt sich das Zentrum der Identitätsbildung von der
eigenen Leistung auf die Ansprüche, die man geltend machen kann. Und gerade
auch politisch zählt nur der, der Ansprüche anmeldet. Man stellt einfach
einen Anspruch, wobei man sich an den Ansprüchen anderer orientiert - und
wartet, was passiert. Die Ansprüche finden Resonanz und ermöglichen
neue Programme der Fürsorge. So kommt es zu einer positiven Rückkopplung
von Ansprüchen und öffendichen Leistungen, die, wie Arnold Gehlen schon
früh gesehen hat, den Leviathan in eine Milchkuh verwandelt. (Ebd.,
S. 94).»Soziale Gerechtigkeit« (**)
heißt im Klartext: Umverteilung von oben nach unten. Entsprechend kann der
Finanzminister das Loch in der Staatskasse als größte soziale Ungerechtigkeit,
nämlich als Umverteilung von unten nach oben, verkaufen. Konkreter sollte
man nicht werden. Der erfahrene Politiker hantiert mit Werten wie mit Fahnen.
Man tut so, als ob klar sei, was gerecht ist, und unterstellt jedem, der darüber
diskutieren will, er sei dagegen. (Ebd., S. 94).Doch selbst
der Begriff der Chancengleichheit, ohne den ja keine Demokratie denkbar ist, bleibt
meist unterbestimmt. Denn was sind gleiche Startbedingungen? Selbst wenn man ererbten
Reichtum wegsteuern und Statusdifferenzen nivellieren würde, bleiben doch
so gravierende Faktoren wie die Intelligenz der Eltern und eine behütete
Kindheit, Gesundheit, physische Stärke, Disziplin. Deshalb haben die klassischen
Liberalen das Konzept der Chancengleichheit bewußt unterboten: Es gibt keine
gleichen Startbedingungen, aber jeder hat die gleiche Chance zu starten. Der Zugang
zu den Bildungsanstalten und Berufen darf nicht eingeschränkt werden. Bei
Lichte betrachtet, geht es also nicht um Chancengleichheit, sondern um Gleichheit
des Zugangs. Daß daraus höchst unterschiedliche Karrieren erwachsen,
muß man hinnehmen. (Ebd., S. 94-95).Es gibt keinen
vernünftigen Maßstab für die Verteilung des wirtschaftlichen Ertrags.
Die Ergebnisse des freien Marktes sind rechtfertigungsunbedürftig. Das ist
die theoretisch elegante Lösung von Friedrich von Hayek und Milton Friedman.
Doch wie wenig sie politisch zu überzeugen vermag, kann man an den Wahlergebnissen
der FDP ablesen. Sehr viel überzeugender klang in den Ohren der 68er die
Diagnose einer »Legitimationskrise des Spätkapitalismus« und
klingt in heutigen Ohren die Zauberformel für ihre Überwindung: »soziale
Gerechtigkeit« (**).
Das ethische Bedürfnis nach Rechtfertigung ist heute stärker als jedes
materielle. (Ebd., S. 95).Die Besessenheit vom Gedanken einer
»fairen« Verteilung des Wohlstandes macht blind gegenüber der
Antinomie der »sozialen Gerechtigkeit« (**).
Einerseits soll niemand aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, andererseits
soll jeder bekommen, was er verdient. Doch wie steht es dann mit den Kranken,
Dummen und Unfähigen? Und wie steht es mit den Unwilligen? Wenn jeder bekommt,
was er verdient, bekommen einige gar nichts. Und wenn alle etwas bekommen, bekommen
einige nicht das, was sie verdienen. Im Streit über den fairen Anteil kann
dann leicht das, was verteilt werden soll, zerstört werden - kleine Kinder
führen uns das immer wieder vor Augen. Und was durch diesen Streit in modernen
Gesellschaften regelmäßig zerstört wird, ist genau das Wachstum,
das die Verteilungsprobleme lösen könnte. (Ebd., S. 95). **
Der
»Rest der Welt« könnte durch diese Dilemma der westlichen Wohlstandszone
den Eindruck gewinnen: Gerechtigkeit ist etwas, was sich nur die Reichen leisten
können. Und für die Armen kann es »soziale Gerechtigkeit«
nur in dem Maße geben, in dem sie selbst reich werden. Gleichheit und Gerechtigkeit
sind offenbar Luxusartikel reicher Gesellschaften. (Ebd.). |
Wer
»soziale Gerechtigkeit« (**)
will, ist offenbar nicht zufrieden mit Gerechtigkeit und übersieht dabei,
daß Gerechtigkeit eigentlich kein Wert, sondern das »Maß der
Besinnung gegenüber den exzessiven Ansprüchen aller Werte laquo; ist.
(Vgl. Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 181). Diese
großartige Formulierung Luhmanns knüpft an das aristotelische Verständnis
der Gerechtigkeit als gleichmäßigem Abstand zu allen Werten an. Dagegen
meint »soziale Gerechtigkeit« Verteilungsgerechtigkeit über Steuern
und Abgaben, deren System absichtlich undurchschaubar gehalten wird. Wer Herrschaft
durch die Erfindung neuer sozialer Bedürfnisse anstrebt, kann nämlich
kein Interesse an einem einfachen Steuersystem haben. Das Programm der »sozialen
Gerechtigkeit« sorgt so für die politische Stabilisierung der Unmündigkeit,
die sich selbst als »gesellschaftskritisch« empfinden darf.
(Ebd., S. 95-96).Mit beißender Ironie hat Rüdiger Altmann
den Kernbestand jeder Theologie des Sozialen als das Recht auf Abhängigkeit
definiert. Die Tyrannei der Wohltaten erzeugt jene Sklavenmentalität, die
Sozialpsychologen als erlernte Hilflosigkeit charakterisiert haben. Und wenn wir
diesen Sachverhalt in politischer Perspektive beschreiben, kommen wir zu dem schmerzlichen
Resultat: Der Paternalismus des »vorsorgenden Sozialstaates« ist Despotismus.
(Ebd., S. 96).Gerade aufgeklärte Geister, die sich in der
Tradition Kants verstehen, müßten es so sehen, denn in seinem Aufsatz
Ȇber den Gemeinspruch, das mag in der Theorie richtig sein, taugt
aber nicht für die Praxis« (1793) heißt es: »Eine Regierung,
die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine
Kinder errichtet wäre, d.i. eine väterliche Regierung (imperium paternale),
wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können,
was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv
zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß
von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß
von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus.«
(Ebd., A 236, auch in: Werke, Band XI, S. 145f.). (Ebd., S. 96).Wohlfahrtsstaatspolitik
erzeugt Unmündigkeit, also jenen Geisteszustand, gegen den jede Aufklärung
kämpft. Und so wie es des Mutes bedarf, um sich des eigenen Verstandes zu
bedienen, so bedarf es des Stolzes, um das eigene Leben selbständig zu leben.
Wie für das Mittelalter ist deshalb auch für den Wohlfahrtsstaat der
persönliche Stolz die größte Sünde. Denn das Projekt der
Moderne war genau in dem Maße erfolgreich als es das Hobbes-Projekt war,
den Stolz durch die Angst zu ersetzen. Und Vater Staat will nicht, daß seine
Kinder erwachsen werden. (Ebd., S. 96).Der Begriff der Subsidiarität
besagt, daß Entscheidungen auf dem unterst möglichen Niveau getroffen
werden sollten - der Staat sollte also keine Verantwortung übernehmen, wo
Familien eigentlich zuständig sind. Doch der Staat neigt dazu, den Leuten
die Entscheidungen zu stehlen. Hildegard Schooß hat sehr schön gezeigt,
wie seit den 1970er Jahren die »Professionalisierung der Sozialarbeit den
zertifizierten Ausbildungsformen und Tätigkeiten einen absoluten Vorrang
vor den im Umgang mit Menschen und in der Familie erworbenen Kompetenzen einräumte.«
(Hildegard Schooß, Mütterzentren als Antwort auf Überprofessionalisierung
im sozialen Bereich, 1977, S. 232). (Ebd., S. 96).Die
Familie erlaubt ja gerade ein extremes Ungleichgewicht der Leistungen und eine
extreme Ungleichheit der Kompetenzen. Genau das aber ermöglichte einmal jene
konkreten persönlichen Generationenverpflichtungen, die der Wohlfahrtsstaat
heute durch das Phantom der Solidarität, also ein abstraktes Verhältnis
der kollektiven Haftung aller für alle ersetzen will. Der Soziologe Helmut
Schelsky hat hierin den wichtigsten Grund für den kalten Krieg zwischen Staat
und Familien gesehen: »Daseimvorsorge und Daseinsfürsorge sind - schon
von der Bibel her - die wesentlichsten immanenten Sinngebungen des menschlichen
Daseins; indem man sie kollektiviert, d.h. dem Einzeinen und der einzelnen
Familie als ihre Uraufgabe wegnimmt zugunsten von großorganisatorischer
Betreuung, entmündigt man den Menschen und drängt seine Lebenspflichten
und -erwartungen in den Komum des bloß Gegenwärtigen ab.« (Helmut
W. F. Schelsky, Kritik der austeilenden Gerechtigkeit, 1981, S. 310f.).
(Ebd., S. 96-97).1930 hatte Karl Jaspers in seiner Schrift über
»die geistige Situation der Zeit« (1930) von »universaler Daseinsfürsorge«
gesprochen, ein prägnanter Begriff, der in leichter Abwandlung zur »Daseinsvorsorge«
durch Ernst Forsthoff dann in die Diskussion über den modernen Sozialstaat
einging. Seine philosophische Fundierung erhält dieser Begriff schon drei
Jahre früher, nämlich in Martin Heideggers Hauptwerk »Sein und
Zeit« (1927). Die Sorge um die Freiheit des Einzelnen, die gerade an dem
hängt, »was ihm niemand abnehmen kann« (Karl Jaspers, ebd., S.
54), und in der alles auf dem Spiel steht, »worum zu leben es sich lohnt«,
wird durch die wohlfahrtsstaatlichen Praktiken geweckt, die dem Menschen die Sorge
abnehmen, indem sie ihm besorgen, was er zum Leben braucht. »Diese einspringende,
die Sorge abnehmende Fürsorge« (Martin Heidegger, ebd.,
S. 122) ist charakteristisch für das Soziale der modernen Welt. (Ebd.,
S. 97).Heidegger entwickelt diesen Befund »existenzialontologisch«
in einer Analyse des alltäglichen Selbstseins, die um den berühmt gewordenen
Neologismus »das Man« zentriert ist. Das Man ist die Diktatur der
Anderen, zu der jeder selbst beiträgt und die uns das Sein, d.h. die Verantwortlichkeit
abnimmt. Man genießt, man urteilt, man läßt gelten, man empört
sich. Die universale Daseinsfürsorge bietet uns Seinsentlastung. Dieser Entlastungseffekt
folgt unmittelbar aus der Nivellierung des Alltags, aus der Einebnung aller Seinsmöglichkeiten.
Jede Entscheidung ist vorgegeben, jedes Lebensrisiko vorgezeichnet. Die Diktatur
des Man ignoriert jeden Niveau-Unterschied, überwacht jede Ausnahme und hält
jeden Vorrang nieder. (Ebd., S. 97).Die Seinsentlastung der
universalen Daseinsfürsorge, die uns die Verantwortung abnimmt, wird also
von einer »Sorge der Durchschnittlichkeit« angetrieben. Doch Heidegger
zeigt nun eindrucksvoll, wie diese Sorge der Durchschnittlichkeit ihrerseits -
man ist versucht zu sagen: dialektisch - aus der Sorge um einen Unterschied entspringt.
Gemeint ist der Unterschied gegen die Anderen, den wir egalitär ausgleichen
wollen; aber auch der Unterschied gegen die Anderen, die wir ehrgeizig einholen
oder elitär niederhalten wollen. Dem Dasein geht es also nicht nur um sein
Sein, sondern gerade auch um sein Anderssein. Das Geheimnis der universalen Daseinsfürsorge,
die heute vorsorgender Sozialstaat heißt, ist die »Sorge um einen
Unterschied gegen die Anderen« (Martin Heidegger, ebd., S. 126). (Ebd.,
S. 97-98).Ernst Forsthoff unterscheidet den beherrschten vom effektiven
Lebensraum. Im Prozeß der Moderne schrumpft der beherrschte Lebensraum,
in dem das Individuum eine gewisse Autarkie hat, also als Herr auftreten kann,
während sich der effektive Lebensraum durch Technik und Medien enorm erweitert.
Je moderner man lebt, um so größer wird die Abhängigkeit von staatlichen
»Versorgungsapparaturen«, von Leistungen der Daseinsvorsorge. Im effektiven
Lebensraum gewährleistet der Staat die Existenz. »Wer vom Staat betreut
wird; fiihlt sich auch von ihm abhängig und ist geneigt, sich ihm zu beugen.«
(Ernst Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaates, 1954, a.a.O.,
S. 153). (Ebd., S. 98).Wie Egalitarismus und Despotismus
im vorsorgenden Sozialstaat zusammenstimmen, kann man sich mit der Unterscheidung
verdeutlichen, die Georg Simmel zwischen Autorität und Prestige getroffen
hat. Prestige reißt mit und bezaubert, während Autorität eine
gewisse Freiheit des Unterworfenen voraussetzt. Beiden Formen ist aber gemeinsam,
daß die Untergeordneten selbst an der Bildung der Rangordnung mitwirken.
Die Vielen suchen einen Führer, der ihnen die Selbstverantwortlichkeit abnimmt
- und zugleich opponieren sie dieser Führung. Diese eigentümliche Einheit
von Opposition und Gehorsam macht das »Lebenssystem der Gehorchenden«
aus. (Vgl. Georg Simmel, Soziologie, 1908, S. 109). Despotismus und Egalitarismus
vertragen sich also sehr gut: Wir sind alle gleich, sofern wir alle gleichermaßen
dem Führer unterworfen sind. (Ebd., S. 98).Dieser Führer
ist heute Vater Staat. Wir beobachten die Wiederkehr des paternalistischen Obrigkeitsstaats
unter dem Namen des vorsorgenden Sozialstaats. Der vorsorgende Sozialstaat operiert
mit drei Kurzfehlschlüssen: er schließt von Ungleichheit auf Benachteiligung,
von Benachteiligung auf soziale Ursachen und von sozialen Ursachen auf paternalistische
Maßnahmen. Damit übernimmt er die Gesamtverantwortung für die
moderne Gesellschaft und besetzt souverän die Spitzenposition. Deshalb darf
man sich nicht wundern, wenn Politiker zum Größenwahn neigen.
(Ebd., S. 98).Paternalismus ist die Rückseite der Emanzipation.
Der Staat schützt den Einzelnen vor sich selbst, d.h. er behandelt ihn als
unmündig, weil der unemanzipierte Mensch noch nicht weiß, was gut für
ihn ist. Und kaum jemand in den Massenmedien, die doch so gerne warnen und mahnen,
warnt vor den Risiken und Nebenfolgen der paternalistischen Emanzipation. Wenn
ständig Ungerechtigkeiten wieder gutgemacht werden, treten Folgeschäden
der Kompensationspolitik auf, die ihrerseits nach Kompensation verlangen - das
alte Thema des Philosophen Odo Marquard. (Ebd., S. 98-99).Der
paternalistische Staat bildet also den Hintergrund aller modernen Emanzipationen.
Wir haben es hier mit einer handfesten Paradoxie zu tun: In den Befreiungen bekundet
sich die Liebe zur Sklaverei. Auch als er noch nicht so hieß, hat der vorsorgende
Sozialstaat die neuen Untertanen gezüchtet - die betreuten Menschen. Man
bekommt diese bittere Wirklichkeit gut in den Blick, wenn man mit Helmut Schelskys
einfacher Unterscheidung zwischen »selbständig« und »betreut«
operiert. Ihr grelles Licht entstellt den Paternalismus der Sozialingenieure zur
Kenntlichkeit. (Ebd., S. 99).Natürlich weigern sich
die Betreuten genauso wie die Betreuer, ihre Wirklichkeit mit dieser Unterscheidung
zu beobachten; aber nur mit ihr kann man jene Paradoxie der Befreiung aus Liebe
zur Sklaverei entfalten. Die Gleichheit der Unfreien gewährt Sicherheit.
Doch Sicherheit verdanken die meisten heute nicht mehr dem Gesetz, sondern der
staatlichen Fürsorge. Im vorsorgenden Sozialstaat schließlich wird
die Daseinsfürsorge präventiv: Es wird geholfen, obwohl es noch gar
keinen Bedarf gibt. Konkret funktioniert das so, daß die Betreuer den Fürsorgebedarf
durch die Erfindung von Defiziten erzeugen. Der Wohlfahrtsstaat fördert also
nicht die Bedürftigen sondern die Sozialarbeiter. (Ebd., S. 99).Die
sympathischsten Vertreter des vorsorgenden Sozialstaates, Richard H. Thaler und
Cass. R. Sunstein propagieren einen »libertären Paternalismus«.
Das Adjektiv libertär soll das Erschrecken über einen selbstbewußt
auftrumpfenden Paternalismus mildern; es soll immer gewährleistet bleiben,
daß die Menschen ihren eigenen Weg gehen können - auch gegen den Rat
der vorsorgenden und fürsorglichen Väter. Doch die Ausgangsüberlegung
des aufgeklärten, libertären Paternalismus ist eben jene Überzeugung,
daß die meisten Menschen nicht wissen, was gut für sie ist. (Ebd.,
S. 99).Sehen wir näher zu, wie Thaler und Sunstein diesen
libertären Paternalismus begründen. Wenn es um Gesundheit, Bildung und
Altersvorsorge geht, hilft es den Menschen nicht, wenn man ihnen eine Fülle
von Wahlmöglichkeiten anbietet. Je komplexer die Lage, desto wichtiger ein
benutzerfreundliches Design, das die Bürger und Kunden in die richtige Richtung
schubst. Die Leute, die nicht wissen, was gut für sie ist, brauchen »Wahl-Helfer«
im wortwördichen Sinne, kompetente Menschen, die ihre Entscheidungen wohltätig
beeinflussen; Thaler und Sunstein nennen sie Wahl-Architekten. Genau so verstehen
sich heute aufrechte Sozialdemokraten. Der alles sehende und alles besorgende
Staat entfaltet eine Tyrannei des Wohlmeinens. Wohlfahrt impliziert heute nämlich
eine Überwachung des Verhaltens der Bürger. Der Staat greift auf den
ganzen Menschen zu, auf Leib und Seele. So wird der Wohlfahrtsstaat präventiv:
aus Sorge wird Vorsorge. Geholfen wird also auch denen, die nicht hilfsbedürftig
sind. Seither heißt Wohlfahrt »Service«. (Ebd., S. 99-100).Auch
Anthony Giddens plädiert für eine Erweiterung der staatlichen Daseinsvorsorge
zur Politik der positiven Wohlfahrt, die Glück als universalisierbaren Wert
und deshalb sich selbst als Entwicklungshilfe eines »autotelischen Selbst«
begreift. Das ist Politik als Glückszwangsangebot, dessen Adressaten bei
Giddens übrigens nicht nur die Benachteiligten, sondern auch die Erfolgreichen
sein sollen. Denn so wie die Armen an der Ungleichheit, so leiden die Reichen
am »Produktivismus«. Giddens träumt von einem Lebensstilpakt
zwischen Arm und Reich, einem wechselseitigen Lernen, aus dem dann das »autotelische
Selbst« erwächst. Die Reichen lernen von den Armen, die Autonomie der
Arbeit in Frage zu stellen, und die Armen lernen von den Reichen, die positiven
Effekte der sozialen Unterschiede anzuerkennen. (Ebd., S. 100).Eine
philosophische Grundlegung dieses libertären Paternalismus bietet John Rawls
in seiner Theorie der Gerechtigkeit. Der Paternalismus ist gerechtfertigt, weil
die Menschen vor der eigenen Willensschwäche geschützt werden müssen.
Bestimmte Menschen sind dann autorisiert, in unserem Namen zu handeln und zu tun,
was wir selbst tun würden, wenn wir rational denken und entscheiden könnten.
Der paternalistische Staat, der ja nichts von uns als Personen wissen kann, versorgt
uns dann mit den Dingen, die wir »vermutlich« wünschen - ganz
unabhängig davon, was wir faktisch wünschen! (Ebd., S. 100).Das
eigentliche Problem einer Politik der »sozialen Gerechtigkeit« (**)
liegt also nicht darin, daß man - um die Lieblingsmetapher der Sozialreligion
zu zitieren - »die starken Schultern« immer stärker belastet.
Vielmehr sind die Begünstigten der wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen
deren eigentliche Opfer. Denn »soziale Gerechtigkeit« als Umverteilung
sorgt für die politische Stabilisierung der Unmündigkeit; sie bringt
den Menschen bei, sich hilflos zu fühlen. Bei wohlfahrtsstaatlichen Leistungen
muß man nämlich damit rechnen, daß der Versuch, den Opfern zu
helfen, das Verhalten reproduziert, das solche Opfer produziert. Wer lange wohlfahrtsstaatliche
Leistungen bezieht, läuft Gefahr, eine Wohlfahrtsstaatsmentalität zu
entwickeln; von Kindesbeinen an gewöhnt man sich daran, von staatlicher Unterstützung
abzuhängen. Und je länger man von wohlfahrtstaatlichen Leistungen abhängig
ist, desto unfähiger wird man, für sich selbst zu sorgen. (Ebd.,
S. 100-101).Die Massenmedien besorgen dann den Rest: Man lernt,
sich hilflos zu fühlen, wenn man andere beobachtet, die unkontrollierbaren
Ereignissen ausgesetzt sind - z.B. Naturkatastrophen. Und so sehnt man sich nach
dem schützenden Vater, der in der vaterlosen Gesellschaft natürlich
nur noch der Staat sein kann. Überall in der westlichen Welt steht die politische
Linke heute für den Sozialstaatskonservativismus. Und überall wo der
Sozialismus real existiert, programmiert er die Gleichheit der Unfreien. Als Wohlfahrtsstaat
besteuert er den Erfolg und subventioniert das Ressentiment. (Ebd., S. 101).Der
Wohlfahrtsstaat ist eine gute, humane Idee mit fatalen Folgelasten. Sie fordert
eine Politik der vollständigen Inklusion - keiner soll draußen bleiben.
Und durch kompensatorische Maßnahmen sollen Ungleichheiten beseitigt werden.
Doch jedes wohlfahrtsstaatliche Programm produziert selbst Ungleichheit. Da ausnahmslos
alle am gesellschaftlichen Leben teilnehmen sollen, müssen einige begünstigt
werden. Benachteiligt werden - wie Luhmann wunderbar ironisch sagt - »nur
alle« (Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 230).
Als Steuerzahler hält ein jeder die Umverteilungsmaschine in Gang. Und wir
haben uns so sehr daran gewöhnt, daß staatliche Interventionen schon
allein deshalb als legitim erscheinen, weil sie für Umverteilung sorgen.
Alles Unglück ist unverdient und begründet einen Anspruch auf Hilfe.
Deshalb ist Umverteilung per se gerecht. Das ist der Gefühlssozialismus,
auf dem der moderne Wohlfahrtsstaat ruht. (Ebd., S. 101).Der
Preis für den Zugang zu Leistungen ist die Abhängigkeit von ihnen. Der
vorsorgende Sozialstaat macht uns zu Gefangenen unserer Ansprüche. Schon
1927 brachte Martin Heidegger mit den wenigen Zeilen über »Fürsorge«
die sozialdemokratische Herrschaft der Betreuer auf den philosophischen Begriff.
Im Anschluß daran hat dann Ernst Forsthoff den durchschlagenden Namen für
den Inbegriff all dieser öffentlich-rechtlichen Leistungen geprägt:
»Daseinsvorsorge«. Heute überspannt sie die gesamte westliche
Welt mit einer globalen Sozialarbeit, die uns zwar das Leben sichert, aber das
Dasein abnimmt. (Ebd., S. 101).Wer nicht für seine Subsistenz
sorgen, also sich durch eigene Arbeit behaupten kann, läuft Gefahr, zum Pöbel
zu rechnen. Diesen Begriff hatte jedenfalls Hegel für die unselige Kombination
von Armut und Ressentiment gegen die Reichen angeboten. Durch eigene Arbeit ein
angemessenes Leben führen zu können, ist demnach die Grundlage für
das Gefühl der Ehre, und diese rechnet Hegel neben der Scham zu den »subjektiven
Basen der Gesellschaft« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der
Philosophie des Rechts, 1821, § 244, § 245). Der Pöbel hat
diese Ehre der Subsistenz nicht; stattdessen reklamiert er ein Recht darauf. Und
das ist das spezifisch moderne an der sozialen Frage nach der Armut: In der bürgerlichen
Gesellschaft »gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts«.
(Ebd., S. 101-102).Die totale Daseinsvorsorge nimmt den Selbständigen
das Geld und den Betreuten die Würde. Was die Würde des Menschen also
wirklich antastet, ist gerade die Wohltat des Staates, die ihn abhängig macht.
So produziert die Politik des Wohlfahrtsstaates, also typisch Umverteilung und
Reichensteuer, paradoxe Effekte. Die Wohlfahrtsempfänger verlieren ihre Würde,
weil sie sich das, was sie bekommen, nicht verdienen können. Die Produktiven
folgen der Logik des ökonomischen Darwinismus und werden noch produktiver,
um tatsächlich die »starken Schultern« zu enrwickeln, auf denen
die Lasten der »sozialen Gerechtigkeit« (**)
ruhen. (Ebd., S. 102). **
Hier
ein aktuelles Beispiel dafür, wie die Ungleichheit in der modernen Welt durch
Abweichungsverstärkung entsteht: Wenn man die Jungen zwingt, immer mehr Alte
zu finanzieren, wächst die Produktivität von wenigen und die Abhängigkeit
von vielen. (Ebd.). |
Umverteilungspolitik
reduziert also nicht die Armut, sondern die Kosten der Armut. Jede Transferleistung
reduziert nämlich den Anreiz, die Armut durch eigene Produktivität zu
überwinden. Mit anderen Worten: Die meisten politischen Hilfsprogramme ermutigen
eine Lebensführung, die zur Armut führt. Die schöne Formel »Hilfe
zur Selbsthilfe« verdeckt diese Paradoxie. Die ältere Redensart »Hilf
dir selbst, dann hilft dir Gott« scheint realistischer zu sein. (Ebd.,
S. 102).Jeder Versuch, den Armen zu helfen, subvertiert sich gerade
durch seinen Erfolg selbst. Es wächst nämlich die Abhängigkeit
von wohlfahrtsstaatlichen Programmen. Die Klasse der Abhängigen und Betreuten
wächst. Das macht zwar die Sozialhilfeempfänger nicht lebenstüchtiger,
hält aber den Sozialstaat in Gang. Denn der stabilisiert sich, indem er immer
mehr Empfänger öffentlicher Leistungen produziert. Die sozialistische
Politik der globalen Sozialfürsorge muß dafür Sorge tragen, daß
die Armut nicht knapp wird. Die Bürokraten des Wohlfahrtsstaats haben ein
Interesse daran, daß sich die Lage der Abhängigen nicht ändert
- sie leben ja davon, daß die anderen nicht für sich selbst sorgen
können. Die Linke liebt die Misere. (Ebd., S. 102).Wohlfahrt
ist heute eine Droge, von der immer mehr Menschen abhängig werden. Aus der
guten, humanen Idee wurde eine Art Opium fürs Volk. Denn die sozialistische
Politik, die diese Idee implementieren wollte, hat lediglich die Menschen von
der Regierung abhängig gemacht. Schon Alexis de Tocqueville kannte die Sklaven
des Wohlstandes und sah sehr klar, daß subventionierter Wohlstand unpolitisch
und hilflos macht. Und er hat den demokratischen Despotismus des vorsorgenden
Sozialstaats vorausgesehen, der Gleichheit ohne Freiheit bietet. (Ebd.,
S. 102-103). **
Auf
den Schultern von Tocqueville stehend sehen wir heute, wie die Demokratie ausgehöhlt
wird (schon längst größtenteils ausgehöhlt
ist; HB), weil die Herrschaft der sozialistischen Parteien dazu tendiert,
die Mehrzahl des Wahlvolkes in Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen
zu bringen. Wohlfahrtsstaatspolitik nennt man ja den Transfer von den Habenden
zu den Nichthabenden. Die gesellschaftlichen Effekte liegen auf der Hand: Der
Wert der Familie als kooperatives und helfendes System schrumpft. Die Ehe wird
wertlos, Investitionen in die Erziehung und Bildung der Kinder zahlen sich nicht
mehr aus. Kinder haben kein Respekt mehr vor den Erwachsenen. (Ebd.). |
Wer
erfolglos ist, kann diesen Mißerfolg entweder sich selbst oder den Umständen
zurechnen. Die anderen sind schuld - und daraus leite ich politische Ansprüche
auf Entschädigung ab. Ich selbst habe einen Fehler gemacht - und daraus lerne
ich. Der Markt interpretiert einen Fehler als Stimulans zur Entdeckung von Neuem.
Die Politik interpretiert einen Fehler als Ausdruck von Unfairneß und legt
ein Hilfsprogramm auf. Populistische Sozialpolitik neigt dazu, Fehler oder Unglück
der Marktteilnehmer als Ausdruck der Unfairneß des Marktes zu interpretieren
- z.B. Arbeitslosigkeit. Dann werden rasch politische Programme aufgelegt, um
den »Opfern« des Marktes zu helfen. Mitleidsgefühle können
dann natürlich sehr leicht von Interessengruppen und gut organisierten Minderheiten
ausgebeutet werden. Das funktioniert deshalb so gut, weil die politischen Hilfsprogramme
hochkonzentriert sichtbare Wohltaten verteilen, deren Kosten über Steuern
auf die Gesamtgesellschaft verteilt werden, also unsichtbar bleiben. (Ebd.,
S. 103).Hier zu helfen, zu betreuen und zu beraten, ist längst
Sache eines großformatigen Betriebs geworden, der von den Medien und dem
Mitleid am Leben gehalten wird. Betroffenheit durch die Hilfsbedürftigkeit
der Opfer eines unfairen Marktes - das ist die heute vorherrschende »demokratische«
Empfindung, die uns alle zu roten, grünen oder schwarzen Sozialisten macht.
Und da die eigene Stimme nicht wahlentscheidend ist, kostet es fast nichts, die
Partei des Mitleids zu wählen und sich gut dabei zu fühlen. Mitleid
ist leicht, Mitfteude ist schwer. (Ebd., S. 103).Mitleid,
seit Rousseau das demokratische Urgefühl, ist die raffinierteste Maske des
Überlegenheitsgefühls. Im Mitleid gibt sich Ungleichheit als Gleichheit;
es ist die Eitelkeit des Egalitarismus. Allan Bloom hat das in seiner Analyse
der 1960er Jahre sehr schön auf den Punkt gebracht: Die bewegten Studenten
der 68er-Generation haben den zur Schau getragenen Konsum ihrer Eltern durch zur
Schau getragenes Mitleid ersetzt. Aus der Liebe zur Gleichheit einen Distinktionsgewinn
zu schlagen, war ihr dialektisches Meisterstück. Die Hebelwirkung des Mitleids
für eine radikale Gesellschaftskritik ist auch heute noch beträchtlich.
So hat Paul Farmer in seinem ebenso engagierten wie enragierten Buch über
die Pathologien der Macht sehr schön deutlich gemacht, daß weder der
Gedanke der Caritas noch der Gedanke der Entwicklungshilfe, sondern allein das
Konzept der »sozialen Gerechtigkeit« (**)
Entscheider und Wissenschaftler dazu ermutigt, zu den Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten
der Welt moralisch Stellung zu nehmen. Diese moralische Stellungnahme zum Leiden
der Welt fordert das Opfer der wissenschaftlichen Objektivität zugunsten
von Mitleid, Solidarität und Zeugenschaft. Nancy Scheper-Hughes versteht
diese Anthropologie des Leidens sogar als neue Form der Theodizee. Und in der
Tat trifft man heute immer häufiger auf Wissenschaftler, die die Welt nicht
mehr analysieren, sondern retten wollen - mit »Nachhaltigkeit« die
Natur und mit »sozialer Gerechtigkeit« die Gesellschaft. (Ebd.,
S. 103-104).
Der böse und der gute Neid
Mitleid und
Neid sind Vorder- und Rückseite derselben sozialen Natur des Menschen. Sie
entstehen beide aus dem Vergleich mit anderen. Als sei der Neid der Dämon
des Menschen, tritt er uns in den Imitationskonflikten genau so machtvoll und
unbesiegbar entgegen wie im Begehren nach Anerkennung. Gefühle, meinte der
Psychoanalytiker Jacques Lacan, seien immer reziprok. Aber Neid ist kein reziprokes
Gefühl; es korreliert mit Selbstmitleid. Doch der Neid ist - paradoxerweise
gerade als nicht reziprokes Gefühl - das eigentliche Sozialgefühl.
(Ebd., S. 105).Die meisten der Zehn Gebote beziehen sich auf diese
Imitationskonflikte und das Begehren nach Anerkennung: Du sollst nicht begehren
deines Nächsten XY. Es geht um das Begehren nach dem Eigentum des Anderen,
das sich in der Eroberung imperialistisch, im Verbrechen kriminell, und in der
Umverteilung sozialistisch manifestiert. Wer hier zu kurz kommt, entwickelt den
Neid als Feindseligkeit gegen das Begehrte. Faszinierenderweise wächst dabei
die Empfindlichkeit umgekehrt proportional zur Ungleichheit. Freud hat das den
Narzißmus der kleinsten Differenz genannt: Unerreichbarer Reichtum reizt
den Neid weniger als der kleine Einkommensunterschied. (Ebd., S. 105).Wer
einmal den Neid eines Kleinkindes auf seinen Milchbruder erlebt hat, wird vielleicht
den Menschen schlechthin für das neidische Tier halten. Wir wollen das Thema
aber nicht anthropologisch analysieren, sondern nach dem Neidapriori der modernen
Gesellschaft fragen. Es gibt nämlich ein gesellschafrliches Gesetz der Erhaltung
des Neids. Wenn er durch egalitäre Maßnahmen aus einer Lebensdimension,
z.B. dem Einkommen, schwindet, wandert er in andere Lebensdimensionen, z.B. Macht
oder Schönheit, aus. Und je weniger Möglichkeiten eine Gesellschaft
der Entfaltung des Neids bietet, um so schärfer und aggressiver zeigt er
sich. (Ebd., S. 105).Der Neid hat offensichtlich etwas mit
dem Blick des Anderen und dem Blick auf den Anderen zu tun. Wenn ich jemandem
Achtung erweise, sehe ich ihn auf Augenhöhe. Verachtung dagegen bedeutet
immer, auf jemanden herabzublicken. Und genau komplementär dazu steckt im
Neid die Nötigung, hinaufzuschauen. Schon bei Aischylos heißt es dazu
im »Agamemnon«: »Nur seltnen Menschen ist es angeborne Art,
// Den hochbeglückten Freund zu ehren sonder Neid.« (Aischylos, Agamemnon,
Vs. 832f.). Und das ist auch Kants Motiv in der »Metaphysik der Sitten«:
Das Wohl der anderen schmerzt uns. Daß es den anderen gut geht, wirft einen
Schatten auf das eigene Wohlleben. (Ebd., S. 105-106).Ursprünglich
hat das Christentum einmal den Neid als satanisch verurteilt und damit eine »Zivilisation
der einander Ungleichen« (Helmut Schoeck, Der Neid und die Geselschaft,
1971, S. 114) ermöglicht. Doch daran mag es sich heute nicht mehr erinnern
lassen. Stattdessen verkauft man Jesus als Robin Hood und interpretiert das Gebot
der Nächstenliebe als Aufforderung zur Umverteilung. Im Kalvinismus war der
modernen Gesellschaft noch einmal ein genialer Kompromiß zwischen Ressentiment
und Erfolgsorientierung gelungen, der den Kapitalismus florieren ließ. Doch
dann erschien Lenin als der neue Paulus. Das Ressentiment wurde erneut schöpferisch:
im Bild vom kapitalistischen Herrn als dem Bösen, gegen den ein Rachefeldzug
der »sozialen Gerechtigkeit« (**)
geführt werden mußte. (Ebd., S. 105-106).Vormoderne
Gesellschaften hatten weniger Probleme mit dem Ressentiment, denn die soziale
Stratifikation durch ständische Ordnung oder Kasten unterbrach den Vergleich
von Lebenslagen und Ansprüchen - und beugte damit dem Ressentiment vor. Dagegen
brauchen moderne Gesellschaften ausdrücklich eine Sozialpolitik zur Pazifizierung
des Ressentiments. (Ebd., S. 106).War
die aristokratische Sünde der Stolz, so ist die demokratische Sünde
der Neid. (**).
Einem evangelischen Theologen des 19. Jahrhunderts, der davor noch nicht die Augen
verschlossen hat, verdanken wir die wunderbare Formulierung: »Bewunderung
ist glückliche Selbstverlorenheit, Neid unglückliche Selbstbehauptung.«
(Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 1849, S. 84f,). Schon
für Kierkegaard war der Neid die spezifisch moderne Macht der Nivellierung,
der Haß auf das Hervorragende und damit der Krebs der Seele. Heute sucht
man den Christen, der den Neid als satanisch verurteilt, genauso vergebens wie
den Gentleman, der keinen Neid kennt. Man kann nur noch abstrakt sagen: Herr sein
über den Neid heißt erwachsen sein. (Ebd., S. 106).Hegel
hat in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte einmal gesagt:
»Der freie Mensch ist nicht neidisch, sondern anerkennt das gern, was groß
und erhaben ist, und freut sich, daß es« ist. (Vgl. Georg Wilhelm
Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, S. 47).
Daß die großen Menschen nicht glücklich waren, ist der »schauderhafte
Trost« der Mittelmäßigen. Der Neid ist begierig nach Nachrichten
über das Unglück der Großen, weil er ihre Exzellenz nur unter
dieser Bedingung ertragen kann. Wissenschaftliche Unterstützung bekommen
die Neidischen heute vor allem von den Psychologen, die es verstehen, die großen
Taten der großen Männer auf Süchte und Leidenschaften zu reduzieren.
Diese Kammerdienerperspektive psychologischer Geschichtsschreibung, die das Ressentiment
der Mittelmäßigen bedient, hat sich unlängst ja auch an Bismarck
erprobt. (Ebd., S. 106-107).Wenn man es nicht bei einer Kritik
der »Neidgesellschaft« belassen und zur Dialektik des Neidbegriffs
vorstoßen will, muß man so weit in die Geistesgeschichte zurückschauen,
wie es Nietzsche getan hat. Was die Welt der alten Griechen von unserer modernen
am meisten unterscheidet, ist die Anerkennung des Kampfes und der »Lust
des Sieges«, die unmittelbare Folgen für das Verständnis des Neides
hat. (Vgl. Friedrich Nietzsche, Homer's Wettkampf, 1872, in: Werke,
Band III, S. 293). Bei den alten Griechen gab es nämlich noch den guten Neid,
die wohltätige Eris. Und wir werden im folgenden immer wieder den guten Neid,
der sich in Wettbewerb, sozialer Kontrolle und den modernen Formen des Ostrazismus
zeigt, vom bösen Neid unterscheiden, den man seit Nietzsche Ressentiment
nennt. (Ebd., S. 107).»Public envy« lautet die
dialektische Parole seit Francis Bacon: Neid zugunsten des öffentlichen Wohls.
Das war einmal antik der Ostrazismus; modern ist davon meist nur noch eine staatstragende
Heuchelei übrig geblieben, für die sich der Leviathan revanchiert, indem
er den Stolz der Einzelnen niederhält. Aber auch dieser Begriff des Ostrazismus
hatte bei den alten Griechen noch einen ursprünglichen guten Sinn, auf den
Nietzsche hingewiesen hat. Das griechische Grundgefühl von der Notwendigkeit
des Wettkampfes läßt es nicht zu, daß jemand dauerhaft der Beste
ist, denn das würde den Wettkampf ja zum versiegen bringen. Bayern München
darf nicht jedes Jahr Meister werden. Ostrazismus heißt deshalb: »man
beseitigt den überragenden Einzelnen, damit nun wieder das Wettspiel der
Kräfte erwache.« (Friedrich Nietzsche, Homer's Wettkampf, 1872,
in: Werke, Band III, S. 297). Griechisch ist die Kultur der vielen Genies,
die sich gegenseitig zur Tat reizen und Grenzen setzen - die Welt des kreativen
Neids. (Ebd., S. 107).Der Wettkampf ist aber nicht nur das
pädagogische Medium, in dem sich alle Begabungen entfalten, sondern auch
der wohltätige Schleier über dem »Abgrund ... der Vernichtungslust«.
Wer Wettkampf und Wettbewerb diskreditiert, entfesselt die Aggressivität
des Homo natura. Die Griechen waren neidisch - und stolz darauf. Der Neid
ist eine Göttin, die zur Tat reizt. Und alles hängt nun daran, ob der
gute Neid zu einer »Tat des Wettkampfes«, oder der böse Neid
zu einer »Tat des Vernichtungskampfes« reizt. (Vgl. Friedrich Nietzsche,
Homer's Wettkampf, 1872, in: Werke, Band III, S. 294). Wettbewerb
oder Vernichtung - das ist die Frage, die der Neid an die Gesellschaft stellt.
(Ebd., S. 107).Die Unterscheidung des guten und des bösen
Neids ist ein Urmotiv Nietzsches. In der Vorrede zu einem ungeschriebenen Buch
über »Homer's Wettkampf« berichtet er von jener faszinierenden
griechischen Idee, daß es zwei Eris-Göttinnen gibt, also zwei Formen
des Neides. Den bösen Neid kennen wir alle, und auch das Christentum verurteilt
ihn als Kardinalsünde. Aber die alten Griechen kannten auch einen guten Neid.
Der Arme schaut auf den Reichen und will es ihm gleichtun. Die gute Eris ist die
wohltätige Gottheit, die den Menschen durch Neid zur Tat reizt - eine Tat,
die den, der es besser hat, nicht vernichten, sondern übertreffen will. So
werden auch die Unbeholfenen und Lässigen zum Werk geweckt. Bei Hesiod heißt
es: »Denn wer dürftig an Werk auf den anderen Mann blickt, den reichen,
wie er sich eilt mit dem Pflügen und müht mit dem Pflanzen, und anstrengt
gut sein Haus zu bestellen, der eifert als Nachbar dem Nachbarn nach auf dem Weg
zum Erfolg; das ist guter Streit für die Menschen.« (Hesiod, Tage
und Taten, Vs. 20f.). (Ebd., S. 108).Der Töpfer
grollt dem Töpfer, der Schmied dem Schmied, der Bettler beneidet den Bettler
und der Sänger den Sänger. Was wir heute Wettbewerb nennen, ist dieser
gute Streit, den die andere Eris, die wohltätige Schwester der Kriegs-Eris
anzettelt. Und der gute Neid stachelt nicht nur zum Wettkampf an, sondern er sorgt
auch dafür, daß es immer eine Vielzahl von Besten gibt, eine Aristokratie
der Genies, die sich gegenseitig zu Höchstleistungen reizen und gleichzeitig
»in der Grenze des Maßes halten« (Friedrich Nietzsche, Homer's
Wettkampf, 1872, in: Werke, Band III, S. 296). (Ebd., S. 108).Der
böse Neid ist verantwortlich für die Kultur des Ressentiments, deren
christliche Variante Nietzsche in seiner Genealogie der Moral so unerbittlich
freigelegt hat. Der gute Neid dagegen ist der Ansporn zu Wettkampf, zum Agon der
alten Griechen, der verantwortlich ist für die Entstehung des Großen
in der Geschichte. Deshalb hat Nietzsche einen positiven Begriff von Ruhmsucht.
Der böse Neid erzeugt die politische Unzufriedenheit, die immer auf die Revolte
des Kollektivs drängt. Der gute Neid dagegen weckt die persönliche Unzufriedenheit
des Ehrgeizes. Und sie ist der Muskel, der Adam Smiths »unsichtbare Hand«
bewegt. Den Streit der Ehrgeizigen können wir als das Marktmodell jenes Wettkampfs
begreifen, in dem die Griechen das Walten der Gerechtigkeit erkannten. (Ebd.,
S. 108).Doch mit Hesiods doppelter Eris ist die Dialektik des Neides
noch nicht erschöpft. Nietzsche hat den Mythos in einem faszinierenden Aphorismus
weitergedichtet. Nach der erstaunlichen Selbstkorrektur des Hesiod, der seine
Darstellung der Gottheit Eris in der »Theogonie« widerruft und nun
in »Werke und Tage« von dem Schwesternpaar einer guten und bösen
Eris erzählt, erfindet Nietzsche einen edleren Bruder des Neides. Die Geschichte
setzt voraus, daß sich die Menschen schon in zivilisatorischer Distanz zu
einem Naturzustand befinden, der durch nackte und bedenkenlose Ungleichheit geprägt
ist. Der Naturzustand ist für Nietzsche nämlich der Absolutismus der
Ungleichheit. Neid kann aber nur entstehen, wo Gleichheit die Norm ist. »Der
Neidische fühlt jedes Hervorragen des Anderen über das gemeinsame Maß
und will ihn bis dahin herabdrücken - oder sich bis dorthin erheben.«
(Friedrich Nietzsche, Werke, Band III, S. 891). Genau das macht den Unterschied
zwischen gutem und bösen Neid aus: Ehrgeiz und Wettstreit oder Ressentiment
und Nivellierung. (Ebd., S. 108-109).Über diese Einsicht
Hesiods geht Nietzsche nun einen dialektischen Schritt hinaus. Es gibt nämlich
eine zivilisatorische Variante des Neids, seinen edleren Bruder: die Indignation.
Sie ist das Gefühl der verletzten Würde, die Entrüstung über
einen Angriff auf die soziale Norm. Und zwar funktioniert die Indignation in beiden
Richtungen, also nicht nur als die Empörung darüber, daß es jemandem
unter seiner Gleichheit schlecht ergeht, sondern auch als die Empörung darüber,
daß es jemandem über seiner Gleichheit gut ergeht. Dieser edlere Bruder
des Neides ist es, den wir meinen, wenn wir von sozialer Kontrolle sprechen.
(Ebd., S. 109).Schon Kierkegaard war weitsichtig genug, gerade
im Neid das negativ-einigende Prinzip der Gesellschaft zu erkennen. Und wer sich
nicht mit einer Kulturkritik der »Neidgesellschaft« begnügt,
kann genau hier einhaken, um das dialektische Potential des Neids zu entfalten.
Er hat nämlich eine unverzichtbare gesellschaftliche Funktion: Der Neid testet
soziale Systeme. Man könnte ihn als einen evolutionären Mechanismus
zur Kontrolle der Trittbrettfahrer und Betrüger definieren. Diese gesellschaftliche
Unverzichtbarkeit des Neides hat sein erster Monograph, der Soziologe Helmut Schoeck,
auf die Formel gebracht: »Die Neidfdhigkeit ist eine notwendige soziale
Warngeste.« (Helmut Schoeck, Der Neid und die Gesellschaft, 1971,
S. 23). Das setzt aber voraus, daß die gute Eris den Neid vor dem Ressentiment
bewahrt. Mandevilles Verheißung, daß das private Laster zur öffentlichen
Tugend werden kann, würde dann tatsächlich erfüllt. Helmuth Berking
hat das so ausgedrückt: »Neid zivilisiert in dem Maße, wie er
selbst zivilisiert zum Ausdruck gebracht wird.« (Helmuth Nerking, in: Neid,
Ästhetik und Kommunikation, 1991, # 77, S. 11). (Ebd., S. 109).Die
gesellschaftliche Arbeit am Neid zeigt sich überall dort, wo der Ehrgeiz
die Menschen in den Wertbewerb treibt. Und wo sie verweigert wird, bricht sich
die Wut der Verlierer Bahn - oft auch sublimiert als Ressentimentkritik. Freuds
Psychoanalyse hat gezeigt, daß ein Blick auf das Erleben kleiner Kinder
hier sehr viel über die Dynamik der Gesellschaft verraten kann. Die zivilisierende
Verwandlung von Neid in Gemeingeist und Gleichheitsforderung, die Umwandlung von
Eifersucht in Egalitarismus folgt nämlich dem Gedanken: Wenn ich nicht selbst
bevorzugt werde, soll wenigstens auch kein anderer bevorzugt werden. (Ebd.,
S. 109-110).Eifersucht und Neid des Kindes auf das andere erzeugen
als Reaktionsbildung die Forderung nach Gleichbehandlung für alle. So entsteht
das Sozialgefühl aus dem Neid. »Keiner soll sich hervortun wollen,
jeder das gleiche sein und haben. Soziale Gerechtigkeit (**)
will bedeuten, daß man sich selbst vieles versagt, damit auch die anderen
darauf verzichten müssen, oder was dasselbe ist, es nicht fordern können.
Diese Gleichheitsforderung ist die Wurzel des sozialen Gewissens und des Pflichtgefühls.«
(Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, 1921, in: Gesammelte
Werke, Band XIII, S. 134 **). Schon
das Kind formuliert also in der Gleichheitsforderung die Bedingung, unter der
es bereit wäre, auf den bösen Neid zu verzichten. Die Leidenschaft für
die Gleichheit ist eine Idealisierung des Neids. Und es ist immer wieder faszinierend,
zu sehen, wie es der modernen Gesellschaft gelingt, die unglückliche Selbstbehauptung
des Neiderfüllten in das eigentliche Sozialgefühl zu transformieren.
(Ebd., S. 110).
Vgl.
dazu auch die »politisch unkorrekte« Bemerkung Freuds: »Daß
man dem Weib wenig Sinn für Gerechtigkeit zuerkennen muß, hängt
wohl mit dem Überwiegen des Neids in ihrem Seelenleben zusammen, denn die
Gerechtigkeitsforderung ist eine Verarbeitung des Neids, gibt die Bedingung an,
unter der man ihn fahren lassen kann« (Sigmund Freud, Neue Folge der
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke,
Band XV, S. 144). (Ebd.). |
In
der Tat hat sich die moderne Gesellschaft durch die Mächte der guten Eris
entfaltet: Wissenschaft und Technik, gleiches Recht und Bildung für alle,
städtisches Leben und staatliche Organisation. Der Philosoph Joachim Ritter
resümiert: »In dieser Umwälzung wird die Gesellschaft, die ungeheure
humane Macht, die überall die Gleichheit des Menschen, realisiert.«
(Joachim Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 351). Doch durch die
Ressentiments und antibürgerlichen Affekte der linksintellektuellen Boheme
ist diese gute Gleichheit der Moderne rasch zu einem Fetischismus der Gleichheit
pervertiert worden. Seither sammeln sich hinter der Fahne der »sozialen
Gerechtigkeit« (**)
alle Feinde der Leistung, des Wettbewerbs, des Erfolgs und der Exzellenz. Ihr
semantischer Coup besteht darin, Ungleichheit mit Ungerechtigkeit zu identifizieren.
(Ebd., S. 110).Neid entsteht zum einen, wenn man sieht, daß
der andere etwas hat, was man selbst gerne hätte, ohne daß er es mehr
verdient hätte als man selbst. Insoweit ist Neid noch mit Gerechtigkeit verknüpft.
Das trifft aber nicht mehr auf den Neid zu, der damit zufrieden ist, daß
der andere sein Gut verliert. Es geht um die befriedigende Vorstellung von der
gewaltsamen Zerstörung dessen, was man selbst niemals bekommen kann. Hier
freut sich der Neid am Schaden des anderen. Der Philosoph Leibniz hat das sehr
genau gesehen: »Denn manche Güter sind wie Freskogemälde, welche
man wohl zerstören, aber nicht wegnehmen kann.« (Gottfried Wilhelm
Leibniz, Neue Versuche über den menschlichen Verstand, 1704, S. 160).
(Ebd., S. 110).Dieser böse Neid ist verschleierter Haß.
Es tut dem Neidischen weh, sehen zu müssen, daß es dem anderen gut
geht, obwohl das gute Leben des anderen keinerlei Auswirkungen auf das eigene
Leben des Neidischen hat. Das gute Leben des anderen wirft einen Schatten auf
das eigene. Endlich kann man sich das kleine Häuschen in Mallorca leisten,
auf das man sich sein ganzes Leben lang gefreut hat. Da wird man in die prachtvolle
Villa des Freundes nebenan eingeladen und der Schatten des Neides verdüstert
das eigene Glück. Kant spricht deshalb von »dem scheußlichen
Laster einer grämischen, sich selbst folternden und auf Zerstörung des
Glückes anderer gerichteten Leidenschaft« (Immanuel kant, Die Metaphysik
der Sitten, 1797, S. 596). Man kann das eigene Häuschen nicht mehr in
seinem eigenen Wert schätzen, weil man es am Maßstab der prunkvollen
Villa mißt. (Ebd., S. 111).Der Begriff des sozialen
Einkommens berücksichtigt, daß der Wert des eigenen Einkommens von
der gesellschaftlichen Umwelt abhängig ist, sich also relativ zum Einkommen
der anderen bemißt. Das war schon die zentrale These von Thorstein Veblen.
Demnach kann das Begehren nach Reichtum nicht dadurch befriedigt werden, daß
es allen Mitgliedern einer Gesellschaft besser geht - und zwar ganz unabhängig
davon, wie gleich oder »fair« die Verteilung der Güter erfolgen
mag. Es geht nämlich nicht um die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern
um ein Wettrennen der Reputation auf der Basis neiderfüllter Vergleiche.
Hinter dem Wunsch nach Reichtum und der Akkumulation von Gütern steckt das
Begehren eines jeden, die anderen zu übertrumpfen. (Ebd., S. 111).Der
neiderfüllte Vergleich mit dem anderen zielt auf dessen Wertschätzung,
die ich nur durch sichtbaren Erfolg erlangen kann. Und in der Flüchtigkeit
des Lebens von »Massendemokratien« braucht man leicht erkennbare Signale
für die eigene Zahlungsfähigkeit. Der neidische Vergleich mit den anderen
wird im System des Konsumismus (**)
habituell, und der im Konsum sichtbare Erfolg wird so zur Evaluationsbasis des
modernen Menschen. Die Frage nach seinem Willen oder seinen Bedürfnissen
- konkret: »Was will der Kunde?« - führt deshalb meist
in eine Sackgasse. (Ebd., S. 111).Begehren dagegen ist ein
Verhältnisbegriff, der aus dieser Sackgasse des Willens herausführt.
Das Begehren ist nämlich immer auf den anderen bezogen. Man wählt nicht
das Objekt, sondern den Wunsch des anderen, das Wünschenswerte. So funktioniert
heute die Frage Was ist »in«? wie ein Kompaß auf den sozialen
Märkten des Ansehens und Status. Die Moden wechseln nicht, weil sich der
Geschmack der Eliten ändert, sondern weil sich die Lebensstildifferenzen
zwischen Geschmacksführer und Masse immer wieder schließen. Der Markt
der Eliten existiert also immer nur für kurze Zeit. Und diese Verkürzung
der Zeit des »in«-Seins wirkt wie ein Vergrößerungsglas
für die feinen Unterschiede der Marken. (Ebd., S. 111-112).Wie
die Marke hat der Luxus noch eine große Zukunft vor sich, weil - so Hans
Magnus Enzensberger im Anschluß an Thorstein Veblen - »das Streben
nach der Differenz zum Mechanismus der Evolution gehört und die Lust an der
Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt.« (Hans Magnus Enzensberger,
Zickzack, 1997, S. 156). Wenn wir nun im Blick auf die Märkte des
21. Jahrhunderts von einem Luxus zweiter Ordnung sprechen, so soll das besagen:
Es geht nicht mehr um die naive Zurschaustellung des Konsums und der Kaufkraft,
sondern um eine spirituelle Technik der Differenz. Bei Markenartikeln geht es
also nicht um die Qualität des Produkts, sondern um die Identität des
Kunden. Man zahlt für das Prestige und den sozialen Distinktionsgewinn. Die
Befriedigung, die der teure Markenartikel gewährt, liegt in der Wertschätzung
und dem Neid der anderen. Hochpreisige Produkte garantieren Exklusivität,
ein konsumistisches Pathos der Distanz. Es geht hier also um die Ungleichheit
des Status: Was mich befriedigt, ist die Anerkennung durch die anderen.
(Ebd., S. 112).Der Mensch bewertet sich selbst, indem er sich mit
anderen vergleicht, und schwankt dabei zwischen den Extremen des Neids und der
Dummdreistigkeit. Dummdreistigkeit besteht nach Kant in der »Gleichgültigkeit
gegen das Urteil anderer«, Neid dagegen entsteht, »wenn der Mensch
seinen Wert nach andern schätzt und dabei versucht, den Wert des andern zu
verringern.« (Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: Theorie
- Werkausgabe, Band XII, S. 752f.). Im überhitzten Klima des neiderfüllten
Vergleichs wächst das Ressentiment; d.h. die Toleranz gegenüber der
Ungleichheit, die Niklas Luhmann Reichtumstoleranz genannt hat, nimmt ab. Es geht
mir besser als früher, aber nicht so viel besser als den anderen - und deshalb
geht es mir schlechter. Schon eine Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums
erzeugt typisch Unzufriedenheit. Und Wachstum selbst ist keineswegs der Weg zur
allgemeinen Zufriedenheit, denn wenn es allen gleichmäßig besser geht,
geht es niemandem besser.. (Ebd., S. 112).Die Verschiedenheiten
vermindern sich, aber die Gleichheitserwartungen wachsen. Das liegt ganz einfach
daran, daß Menschen sich vergleichen. Aber mit wem vergleicht man sich?
Mit den relevanten Anderen. Und in diesem Vergleich können auch kleinste
Differenzen als schreiend ungerecht empfunden werden. Je geringer die Unterschiede,
desto größer die Gleichheitserwartungen und desto größer
das Ressentiment. Der neiderfüllte Vergleich steigert sich in einer Spirale
positiver Rückkopplungen. (Ebd., S. 112).Schon Alexis
de Toqueville hatte ja gesehen, daß gerade die Verringerung des Abstandes
zwischen Arm und Reich zum Anlaß wird, sich mit neidischen Blicken zu messen.
Es ist also nicht die Armut selbst, die das Ressentiment erzeugt. Soziologen sprechen
deshalb vom Tocqueville-Effekt, um das Phänomen zu benennen, daß die
Gleichheitserwartungen um so schneller steigen, je geringer die Ungleichheiten
zwischen den Menschen sind; man leidet weniger, hat aber eine sehr viel höhere
Sensibilität. Und je größer die Erwartungen, desto größer
der Neid. So wird die moderne Kultur von einem Jammern auf hohem Niveau begleitet;
die Klagelieder erklingen aus dem Herzen des Wohlstands. (Ebd., S. 113).Hier
zeigt unsere Kultur deutlich tragische Züge, denn gerade in einer ihrer wichtigsten
Errungenschaften, dem fundamentalen demokratischen Prinzip der Rechtsgleichheit,
steckt ein Potential für Fanatismus: die neidische Gleichstellung auch derer,
die durch Bildung, Erziehung und Einsicht besser, erfolgreicher sind. Talent,
Lebensenergie und Glück produzieren in einer freien Marktwirtschaft notwendigerweise
Ungleichheit. Für den Ökonomen Vilfredo Pareto war das kein Problem,
solange der Gewinn des einen nicht mit dem Verlust des anderen erkauft wird. Doch
er hat seine Rechnung ohne das Ressentiment gemacht, das gerade auch dann entsteht,
wenn der Lebensstandard zwar für alle steigt, aber für einige schneller
als für andere. (Ebd., S. 113).Ressentiment ist der
Haß auf den Erfolg. Was man am Erfolg haßt, ist nicht nur der Reichtum
der anderen, sondern die Anforderung von Disziplin und harter Arbeit, die Erfolg
überhaupt erst möglich machen. Dieses Ressentiment ist in der Kultur
der Boheme schöpferisch geworden - als Wille zum Unglück. Die subkulturelle
Verklärung der Erfolglosigkeit hat fast zwei Jahrhunderte intellektueller
Antibürgerlichkeit getragen, deren Rhetorik vom »Philister« Hölderlins
bis zum »Establishment« der 68er reicht. Seit der Romantik ist der
Künstler per definitionem antibürgerlich. Er will die Bourgeoisie
schockieren. (Ebd., S. 113).Doch es bleibt nicht bei Theaterskandalen
und ästhetischen Provokationen. Antibürgerlichkeit ist ein Politikum
ersten Ranges, eine tiefgreifende, aber maskierte Unterscheidung von Freund und
Feind. Der Haß auf den Feind wird nämlich durch den Neid auf den Erfolgreichen
ersetzt, der sich gerade heute wieder weltweit als das negativ einigende Prinzip
der Linken erweist. Neid und Ressentiment bilden das Gefühlsmedium der Globalisierung.
Pascal Bruckner bemerkt: »Es gibt keine Zeitgleichheit zwischen den verschiedenen
Menschheiten, die sich den Planeten teilen, ohne alle in derselben Epoche zu leben.
Aber alle sind, dank der Technik und der Kommunikation, Zeitgenossen im Haß
und im Neid.« (Pascal Bruckner, Ich kaufe, also bin ich, 2004, S.
224). Eine der aktuellen Masken der Feindschaft ist der Begriff »Fairneß«,
den der Haß auf den Erfolg erfolgreich okkupiert hat. Dieser neu verpackte
Sozialismus deutet Erfolg als ein Zeichen für Ungerechtigkeit. (Ebd.,
S. 114).Die Erfolgreichen sind die Sündenböcke der Moderne
- man kann sie, wie jüngst in einem Hamburger Theater geschehen, an den Pranger
stellen, indem man ihre Namen, Adressen und Kapitalsummen verlesen läßt.
Gerade weil unsere Gesellschaft ökonomisch erfolgreich ist, setzt die Linke
auf Klassenneid. Und verläßlich wird sie von den Intellektuellen und
Künstlern in dieser Gefühlsarbeit des Ressentiments gegen die Reichen
unterstützt. Doch der Neid auf die Reichen trifft eine wichtige Unterscheidung.
Madonna, Ronaldo und Brad Pitt dürfen Abermillionen verdienen, nicht aber
die Manager, Politiker und Spekulanten. (**).
Warum eigentlich? Was Fußballspieler, Popsänger und Schauspieler tun,
verstehen die Leute; sie schätzen es und können es einschätzen.
Doch was CEOs, Hedge-Fonds-Manager und Staatssekretäre tun, können die
meisten Menschen nicht verstehen und vermuten sogar, daß es von Übel
ist. Seit der großen Bankenkrise des Jahres 2008 (**)
ist der Manager der globale Sündenbock. (Ebd., S. 114).
Für
das Starsystem der Wirtschaft hier ein paar ältere Beispiele: Der Tennisspieler
Andre Agassi hat für die bloße Teilnahme am ATP-Turnier in San Francisco
1993 200000 $ erhalten. Der Fc Barcelona bot dem Fußballspieler Ronaldo
180 Millionen $ für acht Jahre an. Nike sponosrte den Golfer Tiger
Woods mit 90 Millionen $. Und der Schaupieler Leonardo DiCaprio verlangt
für jeden Film 33 Millionen $. (Vgl. Ian Angell, a.a.O., S. 85).
Weltklassespieler wie Michael Ballack verdienen sehr viel mehr als die zweitbesten
und unendlich viel mehr als die Weltklassespieler vor 40 Jahren, etwa Uwe Seeler
(auch genannt: »Uns Uwe«). Dasselbe gilt für Topmodels und Filmschauspieler.
(Ebd.). |
Wie könnte
es anders sein? Offenbar ist nichts schwieriger, als der Umgang mit dem Erfolg
- mit dem eigenen ebenso wie mit dem der anderen. Auch hier herrscht das Gesetz
der Abweichungsverstärkung: Erfolg macht erfolgreich. Wer hat, dem wird gegeben.
Und Erfolg macht süchtig, Wer dagegen deutlich weniger Erfolg hat, deutet
das als Mißerfolg. Und Mißerfolg macht hilflos. Hinzu kommt dann noch
der unabweisbare Eindruck, daß die meisten, die Erfolg haben, es auch verdient
haben. Das Ressentiment hat hier leichtes Spiel. Neid und Erfolg sind in vielfacher
Weise und sehr stark korreliert. Man beneidet den anderen um seinen Erfolg. Der
Neid auf den anderen treibt einem selbst zum Erfolg. Man interpretiert den Neid
des anderen als Zeichen des eigenen Erfolgs. (Ebd., S. 114). **
In
der Netzwerk-Gesellschaft unserer tage liegt ein Geheimnis des Erfolgs darin,
den anderen nicht um seinen Erfolg zu beneiden. In einer Nullsummenspielwelt muß
man nicht besser sein als der andere, um erfolgreich zu sein. (Ebd.). |
Doch
nicht nur der Umgang mit dem Erfolg der anderen ist schwierig, sondern auch der
mit dem eigenen. Gerade eine egalitäre Gesellschaft läßt ja die
natürlichen Unterschiede der Menschen bis zur Unerträglichkeit hervortreten.
Und so wächst unten der Neid und oben das Schuldgefühl. Der Neid der
anderen bewirkt, daß die von natürlichen Gaben und Talenten reich Beschenkten
entweder ein Schuldgefühl entwickeln oder die Welt verachten. Deshalb mußte
Nietzsche Verachtung so durch und durch positiv deuten. Doch Verachtung ist als
soziale Geste selten geworden, und schon Nietzsche bemerkte, daß den meisten
die Kraft dazu fehlt. Bei den Erfolgreichen manifestiert sich die Ungleichheit
deshalb in der Regel als Schuldbewußtsein: Ich erzeuge den Neid des anderen
- das ist meine Schuld. Der kulturelle Erfolg des Ressentiments besteht also darin,
daß die Erfolgreichen ein schlechtes Gewissen haben. (Ebd., S. 114-115).Vom
schlechten Gewissen der Erfolgreichen entlasten die Steuern. Aber beruhigen sie
auch das Ressentiment der Erfolglosen? Die Utopie des Sozialstaats besteht genau
darin, durch die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, den Neid, den der Erfolgreiche
weckt, in Anerkennung zu verwandeln; denn immerhin läßt der Erfolgreiche
die anderen an seinem Erfolg teilhaben - eben in Form von Steuern. Eine prägnante
Formulierung findet diese Utopie in einem Aufsatz des ehemaligen Richters des
Bundesverfassungsgerichts Paul Kirchhof, der Eigentum als geprägte Freiheit
definiert. »Freiheit heißt, sich auch im Erfolg seines Handelns von
anderen unterscheiden zu dürfen. Wer also erwerbswirtschaftlich besonders
erfolgreich war, wer sein Eigentum klug verwaltet, gemehrt und genutzt hat, findet
in einer freiheitlichen Ordnung freiheitsverständige Anerkennung. Wer diese
freiheitlich hergestellte Verschiedenheit nicht ertragen kann, verweigert sich
letztlich dem Freiheitsgedanken.« (Paul Kirchhof, Geprägte Freiheit,
in: F.A.Z., 09.09.2003, S. 10). (Ebd., S. 115).Man ist versucht
zu sagen: zu schön um wahr zu sein. Wir können diese utopische Fassung
des Eigentums als geprägter Freiheit aber durch eine soziologische ergänzen,
die dem Neidapriori der modernen Gesellschaft Rechnung trägt. Helmut Schoeck
hat darauf hingewiesen, daß Privateigentum den Neid vom Menschen selbst
ablenkt. »Die Güter schieben sich als gesellschaftlich notwendiges
Neidschild zwischen die Menschen und schützen die physische Person vor Angriffen.«
(Helmut Schoeck, Der Neid und die Geselschaft, 1971, S. 235). (**).
Der andere ist sportlich, gesund, sieht besser aus und führt ein glückliches
Familienleben. Aber mein Neid wird auf sein Haus, sein höheres Einkommen
und sein neues Auto abgelenkt. (Ebd., S. 115).
Die
Ökonomen haben hier natürlich längst viel komplexere Modelle entwickelt,
in denen berücksichtigt wird, daß aus bestimmten Waren und Konsumchancen
kein unmittelbarer Schluß auf das Wohlleben der Menschen gezogen werden
kann. Hier zwei verblüffende Beispiele: Zwei Personen haben die Well-Being-Funktionen
W1 und W2 und die Warenkörbe x1 und x2. Wenn gilt: W1(x2) > W1(x1)
> W2(x2) > W2(x1), dann beneidet W1 den anderen, obwohl es W1 besser
als W2 geht. Im Fall von: W1(x1) > W1(x2) > W2(x2) > W2(x1) gibt
es keinen Neid, obwohl es W1 besser als W2 geht. (Ebd.). |
Schöne
Frauen und intelligente Männer erzeugen oft aber auch einen Neid, für
den es keinen Trost und keine Ablenkung gibt, sondern nur die Möglichkeit,
in Haß umzuschlagen und Rache zu nehmen. Dieser Haß muß sich
allerdings maskieren, entweder als ethische Forderung nach »sozialer Gerechtigkeit«
(**)
oder als begeistertes Lob des Mittelmäßigen. Schopenhauer hat geradezu
von einem »Unterdrückungssystem der Neidischen gesprochen, die alles
daran setzen, das Vortreffliche zu ersticken. Der Neid nämlich ist die Seele
des überall florierenden, stillschweigend und ohne Verabredung zusammenkommenden
Bundes aller Mittelmäßigen gegen den einzelnen Ausgezeichneten.«
(Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, 1851, in: Werke,
Band V, S. 407). (Ebd., S. 115).Die Verschwörung der
Mittelmäßigkeit gegen die Exzellenz ist nicht nur in dem anthropologischen
Grundfaktum, daß alle Menschen neidisch sind, begründet, sondern vor
allem auch darin, daß Ruhm ein Nullsummenspiel ist. Man kann niemanden erheben,
ohne andere herabzusetzen. Der Ruhm steht also immer im Kampf mit dem Neid. Der
beste Schüler macht die Kameraden zu schlechteren. Die Eliteuniversität
macht die anderen zu Hochschulen zweiter Klasse. (Ebd., S. 116).Sobald
der Neid keine soziale Ausdrucksform mehr findet, schlägt er um in Wut und
schafft sich Luft in der Attacke auf Symbole des sozialen Unterschieds. Die wachsende
ökonomische Entbehrlichkeit vieler Menschen macht diesen Umschlag heute immer
wahrscheinlicher. Die Überflüssigen werden ausgeschlossen, und die Fanatiker
nehmen sich nun der Menschen an, die die Weltgesellschaft aus sich ausgeschlossen
hat. Wer in der Gesellschaft keine Anerkennung findet, sucht sie gegen sie. Aus
Neid wird Fanatismus. Mir gelingt etwas nicht - und deshalb soll die Welt untergehen.
Willkürliche Gewalt und Wandalismus sind die »Leistungen« des
Ressentiments, das die Lebensenergien des Menschen durch Orgien von Neid und Haß
aufzehrt. (Ebd., S. 116).Der Haß des Ressentiments
entsteht, wenn man sich gleich fühlt, aber nicht gleich ist; wenn man angeregt
wird, sich mit Leuten zu vergleichen, mit denen man sich nicht vergleichen kann
- mit den Worten Max Schelers: wenn »öffentlich anerkannte, formale
soziale Gleichberechtigung mit sehr großen Differenzen der faktischen Macht,
des faktischen Besitzes und der faktischen Bildung Hand in Hand gehen.«
(Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, S. 9). Moderne Kultur
ist ja eine Kultur des Vergleichs und sie ist selbst der Vergleich mit anderen
Kulturen. Sinnvoll und begehrenswert ist das, wonach andere streben. Diese vor
allem von den Massenmedien vermittelte Erfahrung kann den persönlichen Ehrgeiz
entfesseln, aber eben auch Neidverbrechen provozieren. (Ebd., S. 116).Gerade
wenn man, wie der Autor dieser Zeilen, die Demokratie für alternativlos hält,
muß man sich über ihre Todsünde klar werden. (**).
Im Neid droht die Leidenschaft der Gleichheit die Freiheit zu zerstören.
Demokratie ist der Idee der Gleichheit verpflichtet; sie garantiert gleiche Rechte
und formale soziale Gleichheit. Aber gerade dadurch werden die faktischen Ungleichheiten
in Macht, Reichtum und Prestige um so auffälliger. Demokratie impliziert
normative Gleichheit, und daraus folgt, daß alle ständig mit der Vermessung
von Diskrepanzen beschäftigt sind. So entsteht Ressentiment. Die Verschiedenheiten
vermindern sich, aber die Gleichheitserwartungen wachsen. (Ebd., S. 116).Wir
müssen also resümieren: Demokratie fördert den Neid. Ständig
stellt sie Gleichheit in Aussicht, um sie doch ständig wieder zu versagen.
Und die Frustrierten können dann in jedem, der sie überragt, nur ein
Hindernis ihres Glücks sehen. Der große Reaktionär Nicolas Gómez
Davila faßt es in einem seiner bissigen Aphorismen so: »In den Demokratien,
in denen der Egalitarismus verhindert, daß die Bewunderung die Wunde heilt,
die die fremde Überlegenheit in unseren Seelen aufreißt, wuchert der
Neid.« (Nicolas Gómez Davila, Scholien, 2006). (Ebd.,
S. 117).Wie wir schon gesehen haben, richtet sich das Ressentiment
gegen Selektion und Leistung, Erfolg und Konkurrenz. Dietrich Schwanitz hat den
Egalitarismus vor diesem Hintergrund als »Kombination von Inkompetenz und
Neid« definiert. (Vgl. Dietrich Schwanitz, Männer, 2003, S.
158). Daraus können wir eine Erklärung für das Unbehagen in der
modernen Kultur ableiten. Es rührt her von der Notwendigkeit zum Kompromiß
zwischen Leistungsorientierung und Ressentiment. Und während die Leistungsorientierung
immer noch in der Wirtschaft dominiert, bemächtigt sich das Ressentiment
zunehmend der Wissenschaft - zumindest ihres »sanften« Teils.
(Ebd., S. 117).In linksintellektuellen Diskursen ist das Thema
Neid tabu, aber inkognito ist der Neid längst salonfähig geworden. Niemand
schämt sich mehr seines Neides; er wird zum Beweis »sozialer Ungerechtigkeit«
(**).
Man ist neidisch, nennt das Gefühl aber »Gerechtigkeitssinn«.
In Max Schelers immer noch maßgebender Schrift über das Ressentiment
im Aufbau der Moralen findet sich der interessante Begriff der Ressentimentkritik.
Schelers große Einsicht liegt nun darin, zu erkennen, daß die Ressentimentkritik
eine Form des Genießens ist; sehr schön spricht er vom dem »Lustgefühl,
das im puren Schelten und der Negation liegt.« (Max Scheler, Das Ressentiment
im Aufbau der Moralen, S. 10). (Ebd., S. 117).Der Neid
darf heute nicht beim Namen genannt werden, weil er eine der mächtigsten
psychischen Antriebskräfte der westlichen Kultur ist. Um so besser lassen
sich dann aber Geschäfte mit dem Neid machen, in der Werbung nicht anders
als in der Politik. Man spürt die Schärfe dieses Tabus, wenn man sich
und anderen vor Augen führt, daß auch der scheinbar so selbstverständliche
Anspruch »sozialer Gerechtigkeit« (**),
dem also bloße Gerechtigkeit nicht genügt, einer Politik des Neids
entspringt. Das ist kein Plädoyer gegen Sozialpolitik, sondern nur ein Hinweis
darauf, daß ihre Implementierung nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat.
(Ebd., S. 117).Wer »soziale Gerechtigkeit« (**)
will - und das tun wohlgemerkt alle politischen Parteien in Deutschland -, ist
nicht zufrieden mit Gerechtigkeit. Wir haben es hier offenbar mit einem Deckbegriff
für Neid zu tun. Signalisiert wird er von Wörtern wie »untragbar«,
etwa im Blick auf eine bestimmte Einkommensverteilung. Bescheidenheit und moralische
Indigniertheit sind die entsprechenden Fassaden, hinter denen sich der Neid am
besten verstecken kann. Progressive Einkommensteuer und Erbschaftssteuer institutionalisieren
dann den Neid. Und man reibt sich die Hände. (Ebd., S. 117-118).»Starke
Schultern« war einmal eine Metonymie der Männlichkeit; aber heute bedeutet
der Ausdruck: Neidsteuer. Je größer das Ressentiment in einer Gesellschaft,
desto höher die Steuern. Diese Neidsteuern leisten dann zweierlei. Mit ihnen
subventioniert die populistische Politik das Ressentiment - Stichwort: Umverteilung
- und finanziert gleichzeitig den Schutz gegen das Ressentiment - Stichwort: Kriminalität.
Da die Zahl derer, die von den Sozialversicherungen Leistungen empfangen, größer
ist als die Zahl derer, die Beiträge zahlen, sieht sich jede bürgerliche
Partei in die Defensive gedrängt. Der ehemalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
Friedrich Merz, bemerkt dazu trocken: »Rein rechnerisch betrachtet kann
man Wahlen heute mit den Arbeitnehmern und den Unternehmern allein nicht mehr
gewinnen, aber gegen die Rentner, Pensionäre und Bezieher von Arbeitslosengeld
und Sozialleistungen sehr wohl verlieren.« (Friedrich Merz, Mehr Kapitalismus
wagen, 2008, S. 143). (Ebd., S. 118).Die Politik des
Neids ist die Achillesferse der Demokratie: Die Verlierer des großen Spiels
ums Geld können die Regierung wählen und sich dann aus der öffentlichen
Schatzkammer bedienen. Auf das Ressentiment der Vielen kann die populistische
Politik immer dann rechnen, wenn das Geld primär als das »Geld der
Anderen« erlebt wird. (Vgl. Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft,
1988, S. 61). Es ist für die Menschen dann kein Trost mehr, daß diejenigen,
die auf knappe Güter zugreifen, dafür zahlen müssen. »Turbokapitalismus«
oder »Raubtierkapitalismus« - das sind dämonisierende Namen für
das freie Flottieren des Geldes der Anderen. (Ebd., S. 118).Der
egalitaristische Populismus will nivellieren. Er ist nicht für Fairneß,
sondern gegen Elite. Es geht ihm nicht um Gerechtigkeit, sondern um den Ausdruck
des Ressentiments. Die, denen die Autorität der Kompetenz fehlt, wollen die
Macht. Ihre intellektuellen Zuträger findet man vor allem unter jenen gut
Gebildeten, die nicht viel Geld verdienen und deshalb den Eindruck haben, daß
die Gesellschaft ihnen die Anerkennung verweigert. Je größer ihre Statusinkonsistenz
- für ihre »Verdienste« gibt es keinen Markt -, desto weiter
rücken die Intellektuellen nach links. Statusinkongruenz liegt immer dann
vor, wenn das Einkommen nicht dem Prestige des Berufs entspricht. Und das ist
bei Intellektuellen regelmäßig der Fall. (Ebd., S. 118).In
Schulen, Universitäten und Redaktionen sorgen sie dafür, daß sich
unsere Alltagskultur zunehmend in eine Art Schule des Neids verwandelt. Man lernt
hier systematisch, sich als Unterprivilegierter zu verstehen: als Frau, als Farbiger,
als Senior, als Homosexueller, als Buddhist, als dickleibig oder häßlich.
Ich bin benachteiligt, also bin ich. Was geschieht hier eigentlich? Der Neider
beobachtet das Glück der anderen - genauer gesagt: den Glamour, der als Symbol
des Glücks erfahren wird - und begreift es nicht als Erfolg von Tüchtigkeit,
sondern als Beweis der eigenen Benachteiligung, die nach gesellschaftlicher Kompensation
verlangt. (Ebd., S. 119).Die Egalitaristen aller Länder
vereinigen sich heute unter der Flagge der Philosophie von John Rawls. Wir müssen
sie deshalb etwas genauer betrachten - und werden dabei feststellen, daß
die Position von Rawls viel differenzierter ist, als es sich das linksintellektuelle
Ressentiment träumen läßt. Auch Rawls unterscheidet zwischen gutem
und bösem Neid. Und er fügt noch eine weitere bedeutsame Unterscheidung
hinzu, nämlich die zwischen Neid und Ressentiment. Das idealtypisch rationale
Individuum kennt keinen Neid, solange die sozialen Unterschiede nicht als Resultate
von Ungerechtigkeit erfahren werden. Das impliziert aber: Der durch Ungerechtigkeit
provozierte Neid ist gerechtfertigt. Wir werden gleich sehen, daß er deshalb
einen anderen Namen bekommt. (Ebd., S. 119).John Rawls differenziert
zunächst einmal zwischen verschiedenen Formen des Neides. So gibt es einen
allgemeinen Neid, der sich nicht auf bestimmte Güter, sondern auf die Reichen
und die Schönen überhaupt bezieht. Wir haben es hier mit einer Feindseligkeit
gegenüber den Glücklicheren zu tun, die ganz unabhängig von der
eigenen Lage ist. Dagegen ist der besondere Neid das Resultat von Rivalität
und Wettbewerb - man beneidet den erfolgreichen Anderen um konkrete Güter:
diese Frau und diesen Job. Jede Gesellschaft kennt diesen besonderen Neid; er
ist dem menscWichen Leben selbst wesentlich. (Ebd., S. 119).Rawls
sieht also durchaus, daß es bösartige Neider gibt, die sogar bereit
sind, die eigene Situation zu verschlechtern, wenn dies zu einer Verringerung
der Differenz zu den Erfolgreichen führt. Mangelndes Selbstwertgefühl
und Hoffnungslosigkeit sind die sozialpsychologischen Quellen dieses bösen
Neids. Dem entspricht spiegelgenau der Groll des boshaften Überlegenen, der
bereit ist, die eigene Situation zu verschlechtern, wenn damit die Differenz zu
den weniger Erfolgreichen befestigt werden kann. Schon Aristoteles hat ja diese
Bösartigkeit als Freude am Unglück des Anderen definiert. Um jeden Preis
die sozialen Differenzen nivellieren oder eben fixieren zu wollen, sind also komplementäre
Formen des Asozialen. (Ebd., S. 119-120).Doch es gibt auch
einen guten Neid, der den Wert von Dingen bestätigt, die der Andere hat.
Wir preisen den Anderen dann, wenn wir bekennen, daß wir ihn beneiden. Und
Rawls kennt auch jenen guten Neid des Wettbewerbs, der uns antreibt, den Erfolgreichen
nachzuahmen. Man kann ja auf sehr unterschiedliche Weise unzufrieden sein. Es
gibt eine ziellose und eine zielorientierte Unzufriedenheit; die eine erzeugt
Unglück, die andere erzeugt Neid. Aber es gibt auch eine Ziele schaffende
Unzufriedenheit, die den Menschen vorantreibt. Deshalb kann Magoroh Maruyama behaupten,
Unzufriedenheit sei ein authentisches Gefühl. Im Blick auf unser Thema besagt
das: Ungleichheit, die eine Ziele schaffende Unzufriedenheit erzeugt, ist die
gesellschaftliche Bedingung von Freiheit. (Ebd., S. 120).In
all diesen Fällen haben wir es aber nicht mit moralischen Gefühlen zu
tun; eher mit einem Signal der Aufmerksamkeit für die bessere Situation des
Anderen. Hier schlägt Rawls nun die Unterscheidung zwischen Neid und Ressentiment
vor. Ressentiment ist der durch Ungerechtigkeit provozierte, berechtigte Neid,
der deshalb als moralisches Gefühl gewertet werden muß. Das bedeutet
aber auch, daß der vom Ressentiment Getriebene jederzeit bereit sein muß
aufzuzeigen, inwieweit eine ungerechte Behandlung vorliegt. (Ebd., S. 120).Der
faszinierendste Gedanke, den Rawls in diesem Zusammenhang entwickelt, betrifft
den Zusammenhang von Neid, Ressentiment und Selbstwertgefühl. Die sozialen
Umstände, die Neid hervorrufen, können so zwingend sein, daß man
normalen Menschen ihre Verbitterung nicht verübeln kann. Das Ressentiment
ist die Reaktion dessen, der neidisch gemacht worden ist - und es ist vor
allem ein Ressentiment darüber, neidisch gemacht worden zu sein. Der Schmerz
des verlorenen Selbstwertgefühls rechtfertigt hier die Verbitterung; der
Neid ist entschuldbar. (Ebd., S. 120).Nichts ist wichtiger
für die Gesellschaft als die Sicherung des Selbstwertgefühls ihrer Mitglieder
(nur für die bundesrepublikanische Gesellschaft scheinbar
nicht, denn für sie scheint der Selbsthaß wichtiger zu sein
! HB). Rawls trennt nun dieses Selbstwertgefühl nicht völlig
von Erfolg und Leistung, aber in jedem Falle erklärt er das absolute Niveau
des individuell Erreichten für irrelevant. Entscheidend für das Selbstwertgefühl
eines Menschen ist es demnach nur, daß er mindestens einer Interessengemeinschaft
angehört, die seine Anstrengungen würdigt. Die absolute Qualität
seiner Leistung spielt also gar keine Rolle. Das ist die Demokratie der Wertschätzung
in einer wohlgeordneten Gesellschaft. Wir kommen gleich noch einmal ausführlicher
darauf zurück. (Ebd., S. 120).John Rawls ist durch eine
Metapher berühmt geworden: den »veil of ignorance«, den Schleier
des Nichtwissens. Hinter ihm verschwindet alles, was Psychologen analysieren könnten.
Es geht um das Gedankenexperiment einer Ursituation, in der rationale Individuen,
die nichts über ihren Platz in der Gesellschaft, ihren sozialen Status und
ihre natürliche Ausstattung, also Stärke, Intelligenz und Schönheit,
wissen, ein Prinzip der Gerechtigkeit wählen. Indem man den Menschen all
diese Informationen vorenthält, schützt man sie davor, von Vorurteilen
geleitet zu werden. Der Zufall der Natur und der sozialen Umstände soll keine
Rolle spielen. Die Beziehung eines jeden zu jedem anderen ist vollkommen symmetrisch.
Alle Kontingenzen müssen ausgeschaltet werden. Man könnte deshalb auch
sagen: Rawls benutzt die Ignoranz als Technik der Kontingenzbewältigung.
(Ebd., S. 121).Diese ursprüngliche Situation hinter dem Schleier
der Ignoranz entspricht exakt dem Naturzustand der traditionellen Vertragstheorie,
und das Nichtwissen um den eigenen Platz in der Gesellschaft entspricht Kants
kategorischem Imperativ, der uns ja heißt, die Maxime des eigenen Handelns
zu betrachten, als ob sie ein allgemeines Gesetz sei. In der Ursituation treffen
wir auf rationale Individuen, die Neid nicht kennen und die die anderen nicht
besiegen wollen, sondern lediglich nach einer Verbesserung der eigenen Lage streben.
(Ebd., S. 121).Alle egalitären Forderungen treffen bei konservativen
Kritikern auf den Verdacht, von Neid getrieben zu sein. Rawls
hat den Sozialisten eine elegante Ausrede formuliert: Es geht nicht um das private
Laster des Neids, sondern um das sozial berechtigte Ressentiment gegen die Ungerechtigkeit.
(**). Niemand
habe seine natürlichen Talente und seine gesellschaftlichen Startbedingungen
»verdient«. (**).
Und hier zeigt sich erst, wie brillant die absolute Metapher vom Schleier der
Unwissenheit erdacht ist: Die Ursituation hinter dem Schleier des Nichtwissens
verkörpert selbst den Neid - und macht ihn dadurch unsichtbar. (Ebd.,
S. 121).
Das
ist reine Rhetorik bzw., um Bolz zu zitieren, eine Ausrede (**)
! Kein Mensch kann die Frage, ob das Ressentiment sozial berechtigt
(**) sei oder nicht, eindeutig
beantworten!Ebenso kann kein Mensch die Frage, ob jemand seine natürlichen
Talente und seine gesellschaftlichen Startbedingungen »verdient«
(**) habe oder nicht,
eindeutig beantworten.!Auch Rawls nicht. Wenn überhaupt, dann nur Gott. Jedenfalls
kein Mensch! (HB). |
Rawls
fragt sich aber nie, ob die Menschen in der Ursituation hinter dem Vorhang des
Unwissens überhaupt das Recht haben, zu entscheiden, wie alles verteilt werden
soll. Sie behandeln, wie Robert Nozick sehr schön bemerkt hat, die gesamte
Verteilungsmasse wie Manna vom Himmel. Was der Schleier des Nichtwissens verdeckt,
ist die Nahme - als ob man verteilen könnte, ohne vorher zu nehmen.
(Ebd., S. 121).Aber nicht nur über die Nahme legt Rawls den
Schleier des Nichtwissens. Der ungeheure Erfolg seiner Gerechtigkeitstheorie liegt
nämlich darin begründet, daß er das System der natürlichen
Freiheit attakkiert, in dem sich jeder Liberale zu Hause fühlt. Das System
der natürlichen Freiheit besteht aus Marktwirtschaft, gleicher Freiheit -
das »free and equal« der us-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung
-, formaler Chancengleichheit und Karrierechancen für jedes Talent. Der Fehler
dieses liberalen Systems liegt für Rawls nun darin, daß es die kumulativen
Effekte der Ungleichheit natürlicher Talente (IQ, Kraft, Schönheit)
und sozialer Kontingenzen (glückliche Familienverhältnisse, gute Schule)
nicht berücksichtigt. Und mit dieser Überlegung bereitet Rawls den Umschlag
seiner Gerechtigkeitstheorie in eine Ethik des Sozialismus vor. Für Sozialisten
ist es nämlich typisch, daß sie die natürliche Ausstattung des
Menschen und die sozialen Umstände seiner Existenz als Produkte von Faktoren
betrachten, die prinzipiell außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Was der Mensch
mit seinen Fähigkeiten macht; wie er mit seiner sozialen Situation umgeht,
seine autonomen Wahlakte und Handlungen spielen bei Rawls keine Rolle. (Ebd.,
S. 121-122).Das stärkste Argument für die Ergebnisgleichheit
ist die Fiktivität der Chancengleichheit. Das hat Rawls sehr scharf gesehen.
Der Einfluß der »natürlichen Lotterie« ist zu mächtig,
um für Menschen gleiche Erfolgschancen zu schaffen. Es kann keine echte Chancengleichheit
geben, solange es noch Familien gibt. Selbst der Wille, sich Mühe zu geben,
sich anzustrengen, etwas zu versuchen, hängt von glücklichen sozialen
und familiären Umständen ab. (Ebd., S. 122).Niemand,
so Rawls, verdient seine größeren natürlichen Fähigkeiten.
Deshalb gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Demokratie und Fairneß.
Jedem nach seinem Verdienst - das ist zwar demokratisch, aber nicht fair. Fairneß
verlangt die Kompensation der Ungleichheit in der natürlichen Ausstattung
der Menschen. Rawls betrachtet deshalb die Verteilung natürlicher Talente
als Gemeinschaftseigentum, als ein kollektives Gut. Niemand hat seine natürliche
Begabung und seine soziale Stellung »verdient« (**),
und deshalb darf sie der Begünstigte nur nutzen, wenn dadurch auch das relative
Unglück der anderen kompensiert wird. (Ebd., S. 122).
Das
ist reine Rhetorik bzw., um Bolz zu zitieren, eine Ausrede (**)
! Kein Mensch kann die Frage, ob jemand seine natürlichen Talente und
seine gesellschaftlichen Startbedingungen »verdient« (**)
habe oder nicht, eindeutig beantworten!Ebenso kann kein Mensch die Frage, ob das
Ressentiment sozial berechtigt (**)
sei oder nicht, eindeutig beantworten.!Auch Rawls nicht. Wenn überhaupt,
dann nur Gott. Jedenfalls kein Mensch! (HB). |
John
Rawls' Vorstellung eines gesellschaftlichen Pooling der Intelligenz und Geschicklichkeit
der Individuen als kollektivem Gut entspricht exakt der von Max Weber dem Kommunisten
Babeuf und seiner »Verschwörung der Gleichen« zugeschriebenen
Forderung, daß man »die Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung
der geistigen Gaben auszugleichen habe durch strenge Vorsorge dafür, daß
das Talent, dessen bloßer Besitz ja schon ein beglückendes Prestigegefühl
geben könne, nicht auch noch seine besseren Chancen in der Welt für
sich ausnützen könne.« (Max Weber, Soziologie, S. 269).
(Ebd., S. 122).Doch wohlgemerkt: Es geht John Rawls um Kompensation
und nicht um Elimination der sozialen Unterschiede. Das hat die entscheidende
Konsequenz, daß Rawls in den Exzellenzen der Menschen kein Hindernis der
Gerechtigkeit, sondern ein Medium des Fortschritts sehen kann. Individuelle Exzellenzen
sind Güter, an denen sich, wenn sie nur richtig in Szene gesetzt werden,
alle erfreuen können. So wird jeder die Meisterschaft im Musizieren für
ein Gut halten, auch wenn er nicht selbst über sie verfügt. (Ebd.,
S. 122-123).Das ist der Kern jeder sozialistischen Ethik: »equality
as equity«, Gleichheit als Fairneß. Diese Umdefinition fasziniert
deshalb, weil sie alle Fragen nach Fleiß, Mühe, Arbeit und Verdienst
ausblendet - als ob Erfolg nur Sache des Glücks oder der sozialen Umstände
wäre. Ganz resolut weist Rawls die traditionelle Vorstellung zurück,
der Anteil des Einzelnen am Wohlleben sei mit seinen Verdiensten und Tugenden
korreliert. Das Individuum hat Ansprüche und legitime Erwartungen, die völlig
unabhängig von seinem inneren, moralischen Wert sind. In Rawls wohlgeordneter
Gesellschaft heißt Gerechtigkeit gerade nicht, daß die Tugend belohnt
würde. Ja nicht einmal die Mühe und die Anstrengungen, die der Einzelne
auf sich nimmt, sollen Auswirkungen auf die Verteilung der Güter haben, weil
eben auch der Ehrgeiz und die Zielstrebigkeit eines Menschen von seinen natürlichen
Begabungen und seiner sozialen Lage beeinflußt werden. Legitime Erwartungen
hat nur der, der tut, was die wohlgeordnete Gesellschaft von ihm erwartet.
(Ebd., S. 123).Meritokratie dagegen ist die Herrschaft der Kompetenten,
die sich ihren Status erarbeitet haben und darin von ihresgleichen anerkannt werden.
Ausdrücklich weist Rawls jede meritokratische Interpretation der Gerechtigkeit
zurück. Daß dem Talent alle Wege offen stehen sollen und Chancengleichheit
die produktiven Energien der Menschen freisetzt, entspricht gerade nicht dem Geist
der »sozialen Gerechtigkeit« (**).
Denn Chancengleichheit bedeutet faktisch ja die gleiche Chance, die weniger vom
Glück Begünstigten auf dem Weg zum Erfolg hinter sich zu lassen.
(Ebd., S. 123).Von Meritokratie und Erfolg zu Egalitarismus und
der Kompensation von Benachteiligungen - das ist die Kulturrevolution, für
die John Rawls steht. Verdienst soll nicht belohnt werden. Das Leistungsprinzip
wird durch das Ideal der Fairneß verdrängt - ein Begriff, der leer
bleibt, solange er nicht in einem verbindlichen Wertesystem verankert ist. Heute
verdrängt dieses leere Ideal der Fairneß die Rechtsstaatlichkeit. Fairneß
im Rawls'schen Sinn ist nicht universalisierbar. Es geht ja um die Kompensation
von Ungleichheiten, also um positive Diskriminierung, und das heißt um staatliche
Eingriffe, die Lasten ungleich verteilen, nämlich vor allem auf die »starken
Schultern« der Weißen, der Reichen und der Männer. Antiuniversalistisch
ist aber auch die Wiedergutmachung von Diskriminierungen durch die Repräsentation
von Minderheiten. (Ebd., S. 123-124).Wie gesagt: John Rawls'
Gerechtigkeitstheorie ist viel differenzierter, als sie in ihrer vorherrschenden
egalitaristischen Lesart erscheint. Zwar sind Ungleichheiten in Fragen des Reichtums
und der Macht nur dann gerecht, wenn sie Wohltaten für jedermann zur Folge
haben. Doch daß einige wenige mehr haben, ist so lange nicht ungerecht,
solange die Situation der weniger Glücklichen dadurch verbessert wird. Vilfredo
Pareto war hier noch bescheidener und verlangte nur, daß ihre Situation
sich nicht verschlechtert. Entscheidend ist aber: Rawls meint, daß sich
die weniger Erfolgreichen nicht beklagen dürften, wenn sie in einem System
der Ungleichheit mehr bekommen als in einem egalitären. Insofern widersprechen
auch große Einkommensunterschiede nicht dem Gerechtigkeitsprinzip - solange
sie nicht »exzessiv« sind. Und das ist natürlich eine rein praktische
Frage, die die deutsche Politik gerade mit der Einkommensgrenze von 500000 Euro
pro Jahr für Manager beantwortet hat. (Ebd., S. 124).Wenn
man John Rawls' Schleier des Nichtwissens auf Wirtschaftssysteme anwenden würde,
dürfte man vermuten, daß die meisten Menschen die Marktwirtschaft wählen
würden. Und tatsächlich gibt es ja eine ganz handfeste Analogie zum
Gedankenexperiment des Ignoranzschleiers, nämlich die internationalen Migrationsströme.
Fast alle Migranten strömen in Länder, die marktwirtschaftlich organisiert
sind. Im Vorwort zur revidierten Auflage hat Rawls denn auch darauf hingewiesen,
daß seine Gerechtigkeitstheorie nicht als Rechtfertigung des Wohlfahrtsstaats
gedacht war, sondern sich am besten mit einer sozialdemokratisch regierten Marktwirtschaft
verträgt. Sehr viel mehr als Schweden wäre Deutschland der ideale Schauplatz.
(Ebd., S. 124).John Rawls ist also besonnen genug, um Verteilungsgerechtigkeit
nicht mit Einkommensgleichheit zu verwechseln. Doch gerade das führt unmittelbar
zur größten Schwäche seiner Theorie. Wir haben ja ausführlich
gezeigt, wie Neid aus dem Zwang entsteht, sich mit anderen vergleichen zu müssen,
und wie die Massenmedien dieses Sichvergleichen habitualisieren. Rawls löst
dieses Problem mit einem naiven Handstreich. Der Schleier des Nichtwissens legt
sich nicht nur über die hypothetische Urszene der Gerechtigkeitsidee, sondern
auch über den konkreten Alltag der Bürger. (Ebd., S. 124).Rawls'
Konzept der wohlgeordneten Gesellschaft imaginiert eine soziale Einheit aus sozialen
Einheiten, also einer Pluralität von Assoziationen und Interessengemeinschaften,
die alle ein stabiles, sicheres Innenleben haben. Weil nun alle Menschen ihre
Lebenswelt in solchen Gemeinschaften finden, sind sie gegen die schmerzliche Sichtbarkeit
der sozialen Unterschiede geschützt. Wir vergleichen uns eigentlich nur mit
Mitgliedern der eigenen Bezugsgruppe oder mit Leuten, die im Horizont unseres
eigenen Lebensentwurfs auftauchen. So differenziert sich die wohlgeordnete Gesellschaft
in »noncomparing groups«, in Gruppen, die sich nicht miteinander vergleichen
und es jedem Mitglied ermöglichen, die Unterschiede des Einkommens und des
Lebensstils zu ignorieren. Dieser wohltätigen Ignoranz entspricht auf Seiten
der Privilegierten und Erfolgreicheren, daß sie auf jede Zurschaustellung
ihres höheren Lebensstandards verzichten. (Ebd., S. 124-125).Rawls
streitet einfach ab, daß der für seine wohlgeordnete Gesellschaft charakteristische
Trend zu »mehr Gleichheit« das Interesse der Individuen an ihrer relativen
Position steigert, also zu neiderfüllten Vergleichen verlockt. Weil sich
alle auf das bunte Leben der je eigenen Interessengemeinschaft beziehen, spielen
Eifersucht und Neid gesellschaftlich kaum eine Rolle. Und das Selbstwertgefühl
des Einzelnen hat mit seinem Einkommen nichts zu tun, sondern wird durch öffentliche,
institutionelle Anerkennung gesichert. Alle haben den Status gleicher, freier
Bürger. (Ebd., S. 125).Wenn man sich mit Hegel fragt,
welche Philosophie heute dem Anspruch entspricht, ihre Zeit in Gedanken zu fassen,
so müßte man im Blick auf unser Thema sagen: John Rawls' Theorie der
Gerechtigkeit. Ohne jede Spur von Selbstironie präsentiert sie den philosophischen
Mythos von der Ursituation der Gerechtigkeit hinter dem Schleier des Nichtwissens
als Perspektive der Ewigkeit, die jeder rationale Mensch jederzeit einnehmen könne.
Also tatsächlich noch einmal Philosophie sub specie aeternitatis.
Sie endet mit einer Definition des reinen Herzens: diese Perspektive nicht nur
einnehmen zu können, sondern aus ihr mit Anmut und Selbstbeherrschung zu
handeln. (Ebd., S. 125).
Rangordnung und Diskriminierung
Im Zeitalter
der Demokratie sind der Herr und sein Knecht Geschichte, aber nach wie vor und
vielleicht mehr denn je gibt es Rangordnungen, Hierarchien und Hackordnungen.
Das folgt oft aus organisatorischen Notwendigkeiten, aber fast immer haben wir
es auch mit der Freude am Unterschied und der entsprechenden Empfindlichkeit,
nämlich dem Narzißmus der kleinsten Differenz zu tun. Ob im Sandkasten,
am Stammtisch, beim Sport oder in der Politik - stets präsentiert sich ganz
selbstverständlich das Alpha-Tier, der Führer. Und ganz gleich, ob es
sich hier um Väter, Fürsten oder charismatische Leader handelt, geht
es um eine seltene und unverwechselbare Leistung, die Oswald Spengler einmal »Führerarbeit«
genannt hat. (Vgl. Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik, 1931, S.
57 [**]
und S. 76 [**]).
(Ebd., S. 126).Daß dies dem Egalitarismus der Moderne nicht
widerspricht, sondern genau entspricht, hat Freud in seinem berühmten öffentlichen
Brief an Albert Einstein unter dem Titel »Warum Krieg?« mit
der Autoritätsbedürftigkeit der Mehrheit begründet: »Es ist
ein Stück der angeborenen und nicht zu beseitigenden Ungleichheit der Menschen,
daß sie in Führer und in Abhängige zeifallen.« (Sigmund
Freud, Warum Krieg?, in: Gesammelte Werke, Band XVI, S. 24). Man
läßt sich die Abhängigkeit gerne gefallen, weil es die eines jeden
ist. Wir sind alle gleich unter einem Führer. Das Autoritätsbedürfnis
ist auch heute noch ungebrochen. (Ebd., S. 126).Doch in der
modernen Gesellschaft hat kaum jemand mehr das Talent zum Herrn. Der Ökonom
Joseph Schumpeter hat den Führer deshalb nicht mehr in der Politik sondern
in der Wirtschaft gesucht; es ist der Unternehmer mit seinem fabelhaften Mut zum
Neuen. »Mancher kann sicher gehen, wo noch keiner ging, ein andrer nachfolgen,
wo erst einer ging, ein dritter nur im Haufen, aber in diesem unter den ersten.«
(Joseph Alois Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1911,
S. 121). Und in seinen Reflexionen über diese Führungsarbeit des »plus
ultra« hat Schumpeter ganz deutlich ausgesprochen, was den typischen Unternehmer
motiviert. Es ist die Stellung des Herrn, der Wille zum Sieg und die »Freude
am Gestalten« (Ebd., 1911, S. 121 und 138). (Ebd., S. 126).Reaktionäre
Autoren wie Pareto, Mosca und Robert Michels konnten diese Welt der Rangordnungen
noch ganz positiv beschreiben. Jede Gesellschaft zerfällt in Herrscher und
Beherrschte, bzw. in Elite und Nicht-Elite. Dagegen bleibt der Citoyen ein Traum
der linksintellektuellen Boheme, ein Phantom, das nur notdürftig den fundamentalen
Sachverhalt verdeckt, daß es immer Eliten gibt; daß die Gesellschaft
immer in Führer und Geführte zerfällt; daß jede Massenorganisation
von einer Oligarchie beherrscht wird, die sich jeder demokratischen Kontrolle
entzieht. (Ebd., S. 126-127).Vom Kult des Citoyen ist heute
nur noch die Verweigerung der Bürgerlichkeit übrig geblieben. Alle Lebenswünsche
der Nicht-Elite beziehen sich auf die Lebensformen von Eliten. Und auch heute
steuert eine Elite die Welt: die kognitive Elite. Sie herrscht ganz sanft als
weltweite Kollaboration der Geistesarbeiter, und die große kognitive Stratifikation
des 21. Jahrhunderts wird durch jedes neue Kommunikationsmedium erleichtert. Wie
die Ärmsten der Armen haben auch die Mitglieder der kognitiven Elite einen
»Migrationshintergrund«. Aber es ist eine unsichtbare Migration, die
sich als die Sezession der Erfolgreichen vollzieht. (Ebd., S. 127).Seit
es keine Herren mehr gibt, braucht die Gesellschaft die großen Persönlichkeiten,
die verantwortlich sind für das Ganze und damit den Leuten wie du und ich
die Angst nehmen. Damit bestätigt die »Massenmediendemokratie«
einen archaischen Mechanismus: Der Gruppenzusammenhalt wird durch die gemeinsame
Beobachtung der dominanten Persönlichkeiten gesichert. Wer dominiert, kann
den Eindruck erwecken, kraftvoll zu handeln. Wer den Eindruck erweckt, kraftvoll
zu handeln, fasziniert die Aufmerksamkeit. Und wer die Aufmerksamkeit fasziniert,
sichert damit seine Dominanz. (Ebd., S. 127).Das spielt gerade
auch im Verhältnis der Geschlechter eine entscheidende Rolle. Man sollte
durchaus kritisch nachfragen, wenn Frauen abstreiten, daß sie dominante
Männer begehren. Denn man kann leicht beobachten, daß Frauen Männer
verachten, die sich von anderen Männern dominieren lassen und es nicht schaffen,
sich in ihrer Lebenswelt Respekt zu verschaffen. Immer mehr Frauen wählen
heute den Ausweg, das Gefühl der Dominanz selbst zu kaufen. (Ebd.,
S. 127).Es gibt heute zwar keine Herren mehr - aber Prozac. Die
Verknüpfung zwischen Serotonin, dem Gefühl der Dominanz und dem Medikament
Prozac ist so eng und eindeutig, daß der Anthropologe Lionel Tiger mit schöner
Ironie von der optimalen demokratischen Medizin sprechen konnte: Alle fühlen
sich überdurchschnittlich gut! (Ebd., S. 127).Offenbar
sind wir hier in einer Sackgasse, und da empfiehlt es sich, umzukehren und einen
Blick zurück in die Geschichte zu werfen. Um einen kontraststarken Hintergrund
zu gewinnen, genügt schon eine ganz grobe Skizze der antiken Verhältnisse.
Die Polis war der Schauplatz der Gleichheit, das Haus war die Welt der Ungleichheit.
Und auf dem Marktplatz, der Agora, traten die Gleichen in Wettkämpfe ein,
um sich zu unterscheiden und auszuzeichnen. Der agonale Geist will sich von anderen
unterscheiden, zeigen, daß er der beste ist und sich durch einzigartige
Taten über die anderen erheben. Was die Griechen »arete« nannten
und die Römer mit »virtus« übersetzten, heißt im Management-Jargon
unserer Zeit »Pursuit of Excellence«: Tugend als Streben nach Exzellenz.
Es ist aus der Politik in die Wirtschaft gewechselt (**).
(Ebd., S. 127-128).
Und
dort unter Bedingungen der »Massendemokratie« auch besser aufgehoben,
weil der Pluralismus der Wirtschaftsschauplätze mehr Chancen für das
»Hervorragen« bietet als die Politik. ... Weil aber modernes Sein
Ersetzbarsein ist, gibt es für jede Stelle und jeden Status immer mehr Kandidaten,
die alle das gleiche Anrecht haben. Das ist die Tragödie der Demokratie.
»Aus einer Menge von Gleichen kann man nicht jeden in die verdiente Stellung
bringen.« (Georg Simmel, Soziologie, 1908, S. 185). (Ebd.).
|
Die aristotelische
Definition des Menschen als zoon politikon, d.h. als politisches Tier,
verweist einmal auf Politik, also auf Gleichheit, Kooperation und Umverteilung;
zum andern aber auch auf das Tier im Menschen, d.h. auf die Lust an der Ungleichheit
(Hackordnung), das Streben nach Dominanz und die Kampfbereitschaft. Wer dominiert,
lebt einfach besser. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf ihn. Das politische
Streben nach Gleichheit wird also durch den Wettkampf um Status beschränkt:
Wir markieren den eigenen Rang, stecken Claims ab und hissen Flaggen. (Ebd.,
S. 128).Aristoi nannten die Griechen die Besten, die sich
ständig selbst beweisen und nach unsterblichen Taten trachten. Unverlöschlicher
Ruhm - das ist auch heute noch gemeint, wenn man vom Ehrgeiz einiger Politiker
spricht, sich in die Geschichtsbücher einzutragen, etwa als der Kanzler der
Deutschen Einheit. Der Egalitarismus kann das nicht dulden und verführt die
demokratische Gesinnung zu jener Perversion, die jede Größe verleugnet
und das Heroische verachtet. Es soll keine großen Männer, keine großen
Taten und keine großen Gedanken mehr geben. Deshalb dürfen Niemande
Biographien ... schreiben. (Ebd., S. 128).Es gibt in unserer
Kultur vielleicht nur noch einen Schauplatz des gesellschaftlich anerkannten Wettbewerbs:
den Sport als symbolischen Konflikt. Auf diesem Schauplatz sind Dinge möglich,
die überall sonst tabu sind. Sport operiert ja mit der Unterscheidung Siegen
/ Verlieren. Während in der Politik - vor allem nach Wahlen - alle als Sieger
auftreten dürfen, und die Wirtschaft sorgsam vertuscht, daß ihr Triumphzug
über namenlose Verlierer hinwegzieht, produziert der Sport in aller Deutlichkeit
Sieger und Verlierer. Nur im Sport winkt uns noch die Anerkennung als »überlegen«
und »besser«. Nur im Sport darf man noch siegen. Während ein
Sieg, diese antike Gestalt des Glücks, in unserer Kultur der Gleichheit überall
sonst eine Peinlichkeit und ein Skandal wäre. (Ebd., S. 128).Und
weil es im Sport um Sieg, Überlegenheit und Rangordnung geht, hat unsere
Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
sprachliche Betäubungsmittel erfunden, um das Bewußtsein gegen diese
Archaismen abzuschirmen: »Dabei sein ist alles«. Das ist natürlich
Unsinn, und im Grunde weiß auch jeder, daß sich niemand für den
Viezemeister, den Zweitplazierten, den Olympioniken mit dem »hervorragenden
vierten Platz« interessiert. »Go for gold«, nur der Sieg zählt
- in Atlanta war das sogar auf Plakaten zu lesen. (Ebd., S. 129).Was
die Griechen nicht denken konnten, war die Dialektik der Anerkennung, die ihrer
großartigen agonalen Kultur den Garaus gemacht hat. Der Kampf macht die
einen zu Sklaven und die anderen zu Freien. Doch der Edle, Freie geht nur aus
dem Kampf hervor, um sich in eine Dialektik zu verstricken, die ihm das Todesurteil
spricht. Der Kampf, der Herr und Knecht aus sich entläßt, wandelte
sich in der bürgerlichen Welt zur Konkurrenz - um einen Dritten, den Konsumenten.
Heraklits Freier und Hegels Herr werden deshalb bei Marx konkret zum Fabrikherrn.
Politisch entspricht dem die Demokratie als Aufhebung der Unterscheidung von Herr
und Knecht. Der Begriff Demokratie verdeckt also von Anfang an die Paradoxie,
daß der Souverän, nämlich das Volk, nicht herrscht; nicht erst
seit Schumpeter weiß man, daß es die Politiker sind, die in einer
Demokratie herrschen. So resultiert die Aufhebung der Unterscheidung von Herr
und Knecht im Regime der Selbstbeherrschung freiwilliger Knechte. (Ebd.,
S. 129).Das macht aber logischerweise nicht nur den Herrn zur unmöglichen
Figur, sondern eben auch seine Komplementärfigur, den Diener. Wir ertragen
es nicht mehr, daß sich jemand hinkniet, um uns die Schuhe zu putzen. Keine
Gesellschaft ist deshalb dem Dienen ferner als die Diensdeistungsgesellschaft,
und nur wenn alle allen dienen, kann sie sich selbst ertragen. Einem Menschen
oder einer Idee zu dienen, ist nämlich kein Service. Kein Soziologe hat das
genauer gesehen als der Dichter Stefan George: »Die weder dienen noch herrschen
können, sind Bürger.« (Stefan George, in: Der George-Kreis,
a.a.O., S. 78). (Ebd., S. 129).Den Herrn
ersetzt also zunächst der »Bürger«, dann der »Arbeiter«
und schließlich der »Mensch«. (**|**|**).
Der Bürger ist das Subjekt des Liberalismus (**):
keiner soll befehlen. So verwirklicht man Freiheit (**).
Der Arbeiter ist der asketische Held des Sozialismus (**):
keiner soll haben. So verwirklicht man Gleichheit (**).
Und der Mensch ist der Durchschnittswert des Humanismus (**):
keiner soll meinen. So verwirklicht man Brüderlichkeit (**).
Dieses anspruchsvollste Projekt besorgt die Zähmung des Meinens durch die
öffentliche Meinung. Und hier läßt sich nun mit Alexis de Tocqueville
die Paradoxie der Demokratie sehr klar entfalten: Je freier die Menschen, desto
versklavter durch die öffentliche Meinung. (Ebd., S. 129-130).Alle
Welt predigt heute Netzwerke, Teamgeist und Heterarchie, als würde man sich
in diesen Organisationsformen aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit
befreien. Ein Herr könnte hier den blinden Fleck der demokratischen Gleichheitspolitik
erkennen. Diese ist nämlich konstitutionell unfähig, die humanen Entlastungsfunktionen
der Hierarchie zu würdigen. Die Hierarchie zähmt die Hackordnung. Nirgendwo
ist der Psychoterror nämlich größer als unter Radikaldemokraten.
Die Hierarchie entlastet, weil sie klärt, worauf man reagieren muß.
Auch wenn der Aktienkurs des Unternehmens ins Bodenlose fällt, entsteht für
den Abteilungsleiter kein Handlungsbedarf. Und schließlich: Rangdifferenzen
entlasten von der Leistungskonkurrenz mit dem Überlegenen. Das ist der humane
Kern jeder Hierarchie; sie schützt den Menschen vor dem Zwang zum Vergleich
mit dem Besseren. Wenn alle sich für gleich halten, müssen sich die
faktisch Unterlegenen ja auch noch als Versager fühlen. Nur die Hierarchie
hat Platz für die Schwachen (**).
(Ebd., S. 130).
Damit
hier kein Mißverständnis entsteht: Auch Hierarchien haben Stärken.
Heterarchien akzeptieren zu viele schlechte Ideen, Hierarchien rejizieren zu viele
gute Ideen. In Hierarchien gibt es mehr gute als schlechte Ideen - aber um den
Preis vieler guter Ideen. Heterarchien mischen Kompetenz und Inkompetenz. Hierarchien
katalysieren Kompetenz und Inkompetenz. (Ebd.). |
Und
jeder, der in einer Organisation oder einem größeren Unternehmen arbeitet,
weiß natürlich, daß Zusammenarbeit nicht nur mit Wettbewerb sondern
auch mit Unterordnung vereinbar ist. Denn die Hierarchie ist aus Gegenseitigkeiten
aufgebaut. Vorgesetzter und Untergebener beobachten sich gegenseitig. Um es mit
einem intelligenten Witz des Soziologen Niklas Luhmann zu formulieren: Der eine
überwacht, der andere »unterwacht« (Niklas Luhmann, Politische
Planung, 1972, S. 69). Erfolgreich in Hierarchien agieren heißt dann:
Erfreue den Vorgesetzten, inspiriere den Untergebenen, überzeuge den Gleichrangigen.
(Ebd., S. 130).Es gibt Dinge, die besser sind als andere. Es gibt
Kulturen, die fortschrittlicher und humaner sind als andere. Und es gibt Menschen,
die anderen überlegen sind - die Aristoi, die Elite, die Seltenen,
die Besten, die Stars, die Reichen, die Mächtigen, die Berühmten. Dieses
Besser- und Überlegensein artikuliert sich traditionell als Vornehmheit,
Größe, Stil und Wille zur Distinktion. Nietzsche hat vom Pathos der
Distanz gesprochen. Für die Massendemokratie ist das ein Skandal, auf den
sie mit einem scharfen Ressentiment zunächst gegen Meisterschaft und Autorität,
dann gegen Kanon und Elite und schließlich gegen Erfolg und Leistung reagiert.
Die ersten Opfer dieser Rhetorik der Gleichheit sind die Schönheit, die Wahrheit,
die Tugend und die Größe (**).
(Ebd., S. 130).
Und
man muß kein Genie sein, um die Dialektik zu erkennen, die hinter der egalitaristischen
Rhetorik waltet: Gerade diejenigen, die Größe gelten lassen können,
sind nicht autoritätshörig. Die Neidischen dagegen beten den Führer
an. (Ebd.). |
»Free
and equal« heißt es in der us-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.
Das bedeutet aber, daß man gleich nur in der Freiheit ist, aber in allen
anderen Hinsichten ungleich, bunt, divers. Thomas Jefferson und John Adams hatten
eine Gleichheit im Sinn, die die Exzellenz einer natürlichen Aristokratie
in allen möglichen Lebensbereichen einschließt, ja ermöglicht:
Olympiasieger, Nobelpreisträger, Schönheitsköniginnen. Thomas Jefferson
verstand demokratische Wahlen als eine reine Selektion der allein regierungsfähigen
»natural aristoi«. Diese natürliche Aristokratie der demokratischen
Führer hat man später Meritokratie genannt. (Ebd., S. 131).Auch
natürlicher Adel verpflichtet. Es geht hier um die »nobilitas naturalis«
jener Asketen der Zivilisation, die sich durch ihre überragende Leistung
qualifizieren. Die Aristokratie wäre als Herrschaft der Besten in einer Gesellschaft
qualitativ ungleicher Menschen zwar die beste Regierungsform; aber sie läßt
sich heute nicht mehr verwirklichen, weil es kein Verfahren der Selektion der
Besten gibt. Das war zu Zeiten der us-amerikanischen Gründungsväter
noch anders. Damals hatte man noch keine Schwierigkeiten, an die puritanische
Gleichheit der Erwählten und die Auswahl der Fähigsten zu glauben. Heute
kann man nur noch konstatieren: Einige führen, viele folgen. (Ebd.,
S. 131).Universale Arbeitsteilung und natürliche Aristokratie
sind die beiden Mechanismen, die die Ungleichheit der Menschen gesellschaftlich
nutzen und reproduzieren. Robert Michels hat hier vom eisernen Gesetz der Oligarchie
gesprochen: Wo Menschen gemeinsam handeln, bilden sich Führer heraus - und
die anderen folgen. Daran scheitern auch heute alle radikaldemokratischen Versuche,
Führung durch Partizipation zu ersetzen. Das Scheitern kann man an der Langeweile
und Ineffizienz von Kommissionssitzungen ablesen. Jeder Teilnehmer muß ja
gleichermaßen an allen Entscheidungsprozessen teilnehmen, die deshalb endlos
viel Zeit in Anspruch nehmen. So zehrt die Organisation allmählich das Leben
ihrer Mitglieder auf; man eilt von Kommissionssitzung zu Kommissionssitzung.
(Ebd., S. 131).Schon Montesquieu hatte erkannt, daß das Prinzip
der Demokratie verfällt, wenn der Gleichheitsgedanke überspannt wird.
Es geht nicht ohne Befehl und Gehorsam, gerade auch in einer funktional ausdifferenzierten
Gesellschaft. »So weit der Himmel von der Erde, so weit ist der wahre Gleichheitsgedanke
von dem überspannten entfernt. Jener besteht nicht darin, daß jeder
befehlen darf oder daß keinem befohlen wird, sondern darin, seinesgleichen
zu gehorchen oder zu befehlen. Er strebt nicht danach, überhaupt keinen Herrn,
sondern nur seinesgleichen als Herrn über sich zu haben.« (Charles-Louis
de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1748, S. 157). (Ebd., S. 131).Die
prägnanteste Formel, auf die wir unser Thema bringen können, lautet:
»Das Problem der Gleichheit, während wir Alle nach Auszeichnung dürsten.«
(Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Band 12, S. 287). Nietzsche
hat als erster verstanden, wie die beiden scheinbar entgegengesetzten Züge
des Europäers, nämlich Individualismus und Gleichheitsstreben, zusammen
passen. Das Individuum ist eine äußerst verwundbare Eitelkeit, die
fordert, daß jeder andere nur als gleichgestellt gelte. Hier entfaltet sich
dann das, was Freud den Narzißmus der kleinsten Differenzen genannt hat.
Die ganz großen Menschen werden vom Individualismus abgelehnt, aber dafür
werden die kleinen Verdienste herausgestrichen. Größe wird nur noch
als Massenerfolg akzeptiert. Und gegen alle, die ihren Stolz in die Einsamkeit
setzen, gegen die Vornehmen, die das Lob der vielen verachten, entfesselt der
egalitäre Individualismus eine »Wut ohne Grenzen« « (Friedrich
Nietzsche, Werke, Band III, S. 474). Was am Sozialismus bis heute fasziniert,
ist dieser Entrüstungspessimismus. (Ebd., S. 131-132).Nietzsche
beginnt die Vorrede zu seinem ungeschriebenen Buch »Der griechische Staat«
mit dem Satz: »Wir Neueren haben vor den Griechen zwei Begriffe voraus,
die gleichsam als Trostmittel einer durchaus sklavisch sich gebarenden und dabei
das Wort Sklave ängstlich scheuenden Welt gegeben sind; wir reden
von der Würde des Menschen und von der Würde der Arbeit.«
(Friedrich Nietzsche, Der griechische Staat, 1872, in: Werke, Band
III, S. 275). Den Unterschied macht die christliche Menschenliebe, die keinen
Unterschied mehr macht - im Blick auf Gott. Daß es keine Rangordnung mehr
gibt, wird schon hier durch Geringschätzung des konkreten Menschen erkauft.
(Ebd., S. 132).Jesus hat die Armen, Ausgestoßenen und Ungeliebten
ins Zentrum gerückt. Und der große Paradoxien-Künstler Paulus
hat daraus die höchst wirkungsmächtige Konzeption einer Macht aus Schwäche
entwickelt. Die Macht der Schwachen besteht nämlich darin, daß sie
uns zum Mitleid zwingen; sie haben die Macht, wehzutun. Jeder Bettler kennt ja
das Mittel, das Schwäche in Macht umschlagen läßt: »das
Zur-Schau-Tragen des Unglücks« (Friedrich Nietzsche, Menschliches,
Allzumenschliches, 1. Teil, 1878, in: Werke, Band I, S. 486). Diese
Darstellung ist für die bürgerlichen Zuschauer unwiderstehlich, nicht
nur weil sie durch schlechtes Gewissen fesselt, sondern auch weil sie den Blick
auf die Größe erspart. Bewunderung ist der Blick nach oben, Mitleid
ist der Blick nach unten. Wir zeigen Mitleid, um nicht bewundern zu müssen.
(Ebd., S. 132).Deshalb ist »Größe« das große
Thema der antimodernen Philosophie Nietzsches. Er hat zu seinem eigenen Denken
gefunden, als er erkannte, daß nicht Sokrates, sondern Paulus und dessen
Lehre von der Macht der Schwäche die großen Widersacher einer Philosophie
der Größe sind. Es geht um eine andere Perspektive auf das Leben. Der
viel belächelte Über-Mensch ist ja nicht Superman, sondern er steht
über dem Menschen auf einem Bergesgipfel und schaut hinab. Das Privileg des
Über-Menschen, aus großer Höhe auf die Menschen herabzusehen,
ist nicht der Ausdruck »sozialer Ungerechtigkeit« (**),
sondern Resultat größter Selbstgefährdung. Nietzsche nennt es
deshalb »das gefährliche Vorrecht« (Friedrich Nietzsche, Menschliches,
Allzumenschliches, 1. Teil, § 4, 1878, in: Werke, Band I, S. 441).
(Ebd., S. 132-133).Eine andere Perspektive auf das Leben ist aber
niemals die »wahre« Perspektive auf das Leben. Jeder Blick erfolgt
aus einer bestimmten Höhe, und das zwingt erkenntnistheoretisch zu einem
Perspektivismus, der genau der Ungerechtigkeit des Lebens entspricht. Diese Ungerechtigkeit
ist notwendig, weil sie die Bedingung allen Wertschätzens ist. Jedes Schätzen
und Werten impliziert Selektion; jede Selektion produziert Rangordnung und Ungleichheit,
indem sie Andere und Anderes niederhält und fernhält. Rhetorisch fragt
Nietzsche einmal in Jenseits von Gut und Böse: »Ist Leben nicht
Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-sein-wollen?«
(Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, § 9, 1886, in:
Werke, Band II, S. 573). (Ebd., S. 133).Es sind immer
wieder dieselben Begriffe, auf die man im Umkreis von Nietzsches Grundformel »Pathos
der Distanz« stößt: Rangordnung, Wert-Verschiedenheit, eingefleischte
Unterschiede, »Übung im Gehorchen und Befehlen« (Friedrich Nietzsche,
Jenseits von Gut und Böse, § 257, 1878, in: Werke, Band
II, S. 727). Aus dem Pathos der Distanz nehmen sich die Herren das Recht, Werte
zu schaffen und Namen zu geben. Das »Herrenrecht, Namen zu geben«
(Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke,
Band II, S. 773) steht polemisch gegen Hegels »Arbeit des Begriffs«.
Diese Arbeit besteht nämlich im wesentlichen darin, Unterschiede nicht Unterschiede
sein zu lassen, sondern sie zum Gegensatz und Widerspruch zuzuspitzen. (Ebd.,
S. 133).»Mein Einwand gegen die ganze Soziologie« (Friedrich
Nietzsche, Götzendämmerung, 1889, in: Werke, Band II,
S. 1014): daß sie die Antithese gegen das Pathos der Distanz zur Norm des
modernen Weltlaufs erhebt. Statt Distanz und Rangordnung kennt der Soziologe nur
funktionale Differenzierung und Integration. »Klüfte aufreißen«
- das macht soziologisch keinen Sinn. Genau darum aber, um das Pathos der Distanz,
geht es dem Herrn. Und zwar, erstens und vor allem, um das Pathos der Distanz
zu sich selbst. »Selbstentfernung« nennt das Ernst Jünger einmal
sehr schön. (Vgl. Ernst Jünger, Eumeswil, 1977, S. 128). Die
Vornehmheit des Herrn verzichtet auf Glück und Behagen und gönnt es
den Knechten. (Ebd., S. 133).Wie man gute Manieren nicht
kaufen kann, so kann man Vornehmheit nicht schauspielern. »Vornehm«
ist ein Wert, der die Wertalternativen der modernen Gesellschaft zurückweist.
Um das zu markieren, hat Nietzsche das härteste, schmerzlichste Antonym bemüht:
verächtlich. Mit Dünkel hat das gar nichts zu tun, sehr viel aber mit
dem Gebrauch von Unterscheidungen. Genaues Beobachten nämlich ist die höchste
Form der Verachtung. Das ist die Lektion aller guten Moralisten. Vornehm heißt
ausgesucht. Den Seltenen selten, heißt es einmal bei Stefan George: Selektion,
Auswahl, Eleganz. Und weil man das nur erreicht, indem man Einen, Eine oder Eines
aus einer Menge herausnimmt, statt alle und alles gleich zu setzen oder zu stellen,
liegt in der modernen Gesellschaft über dem Vornehmen ein Tabu, das offenbar
mit dem schon erwähnten Tabu des Nehmens exakt korreliert ist. (Ebd.,
S. 133-134).Die moderne Soziologie ficht das nicht an, eben weil
sie sich als Theorie der modernen, d.h. funktional ausdifferenzierten Gesellschaft
versteht. Die vornehmen Werte sind aber sehr eng mit einer stratifikatorischen
Gesellschaftsstruktur korreliert. Max Scheler hat das früh erkannt: »Vom
König bis zur Hure und zum Henker trägt jeder jene formale Vornehmheit
der Haltung, an seiner Stelle unersetzlich zu sein. Im Konkurrenzsystem
hingegen entfalten sich die Ideen der sachlichen Aufgaben und ihre Werte prinzipiell
erst auf Grund der Haltung des Mehrsein- und Mehrgeltenwollens aller mit allen.
Jede Stelle wird nun zu einem bloß transitorischen Punkt in
dieser allgemeinen Jagd.« (Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der
Moralen, S. 14). (Ebd., S. 134).Doch
auch in der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft hat das Soziale
zwei orthogonal zueinander stehende Dimensionen, nämlich Rangordnung und
Gleichheit. (**).
Nur findet die Hierarchie keine Fürsprecher mehr. Persönliche Autorität,
wie etwa bei der Anweisung an die Putzftau, ist heute verpönt. Nun beobachten
wir eine Wiederkehr der verdrängten Rangordnung in der Hackordnung, als funktionale
Autorität der Verwalter, Lenker und Entscheider, aber auch als Prominenz
und öffentliches Ansehen der Politiker, Sportler und Entertainer. Doch sind
wir weit davon entfernt, anzuerkennen, daß die Möglichkeiten der Gleichheit
gerade durch die Wirklichkeit der Rangordnungen geschützt werden. (Ebd.,
S. 134).Sinn gibt es eben nur in Rangordnungen, und Kultur ist
eine Ordnung von Unterschieden. Rangdifferenzen erleichtern das Lernen, denn um
erfolgreich zu werden, muß man sich immer wieder Überlegenen, z.B.
Vätern, Lehrern und Meistern, unterordnen. Umgekehrt erzeugt der Verlust
der Unterschiede erst die Rivalität, für die dann in der Öffentlichkeit
der Massenmedien die Unterschiede verantwortlich gemacht werden. Deshalb muß
man sagen: Gerade der moderne Gleichheitsgrundsatz und verschärft noch die
Gleichstellungspolitik erzeugen Gewaltpotentiale. (Ebd., S. 134).Menschen
sind unterschiedlich. Und wenn man sie zwingt, gleich zu sein, bleibt ihnen nur
noch eine Möglichkeit, anders zu sein als die anderen - nämlich die
anderen zu überwältigen. Ohne Rangordnung kann man diese Aggressivität
nicht neutralisieren. Sie ist heute zur sozialen Gereiztheit atomisiert und auf
Dauer gestellt. Hinzu kommt, daß die Abfuhr von Aggressivität immer
schwieriger wird, je moderner, d.h. bequemer und von körperlicher Arbeit
entlasteter das Leben ist. Unter »massendemokratischen« Bedingungen
richtet sich dann die angestaute Aggressivität gegen alle Formen von Rangordnung.
Folglich, so der Soziologe Arnold Gehlen, »ergibt sich eine sozusagen molekulare
Gehässigkeit, eine Annäherung an den Kampf aller gegen alle« (Arnold
Gehlen, Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, in: Gesamtausgabe,
Band 4, S. 229). (Ebd., S. 134-135).Wenn
man die Menschen dagegen unterschiedlich sein läßt, ja ihre heterogene
Individualität sogar fördert, entsteht ein Klima kreativer Interaktivität.
Wir können also resümieren: Gleichheit erzeugt Konflikt, Ungleichheit
ermöglicht Kooperation. Vor diesem Hintergrund läßt sich das gerade
vorgeschlagene zweidimensionale Modell des Sozialen noch weiter differenzieren.
(**). Das hat Alan
Page Fiske in seinem Werk über die vier elementaren Formen der menschlichen
Beziehungen in eindrucksvoller Weise getan. (Ebd., S. 135).Betrachten
wir zunächst die egalitaristischen Strukturen des sozialen Lebens. Fiske
beschreibt zunächst die Welt des kommunalen Teilens, also der Solidarität,
Gemeinschaft und Liebe, wie wir sie aus der Stammesgemeinschaft, der Gruppe und
der Familie kennen. Hier sichert die Äquivalenz der Mitgliedschaft ein stabiles
Wir-Gefühl, das sich in den öffentlichen Gütern objektiviert. Das
ist die Welt des Helfens und Sorgens, in der man ganz selbstverständlich
mit den Bedürftigen teilt - »jedem nach seinen Bedürfnissen«.
(Ebd., S. 135).Die zweite Sozialstruktur, die die Sehnsucht nach
Gleichheit bedient, wird aus Paßformen der Egalität gebildet. Die Menschen
sind hier voneinander getrennt, aber gleich. Ihre Verhältnisse zueinander
sind streng reziprok. Was man bekommt, entspricht genau dem, was man gibt, und
was verteilt wird, wird in genau gleiche Teile geteilt. Überall herrscht
die Balance des 1: 1, die lateinisch Quid pro quo und englisch »turn-taking«
heißt - »jetzt bist du dran«. Das ist die Welt der Kameraden,
der Kollegen, der Peers, in der jede Person prinzipiell austauschbar ist.
(Ebd., S. 135).Orthogonal zu diesen Strukturen der Gemeinschaft
und Gleichheit stehen aber die Strukturen des Marktes und der Rangordnung. Die
Marktverhältnisse bringen gegenüber den egalitaristischen Strukturen
einen entscheidenden Komplexitätszuwachs. Fiske drückt das einmal so
aus, daß die Kameraden nur addieren und subtrahieren können, während
man auf dem Markt lernt, zu multiplizieren und zu dividieren. Auf den von Preisen
geordneten Märkten enrfaltet sich die Rivalität in der produktiven Form
der Konkurrenz und wird die Leistung prämiert. Auch auf dem Markt herrscht
die Äquivalenz, aber vermittelt über das neutrale Medium Geld, in dem
alles ausgedrückt werden kann. »Alles hat seinen Preis«, und
alle, die kompetent und ehrlich sind, dürfen am Marktgeschehen teilnehmen.
(Ebd., S. 135-136).Bleibt schließlich die Rangordnung der
Autorität als strikt asymmetrische Sozialstruktur. Es handelt sich hier um
eine anerkannte Beziehung der Ungleichheit, in der Differenzen von Status und
Prestige, Prominenz und sozialer Bedeutsamkeit zum Ausdruck kommen. Im Gegensatz
zum Zwang der Macht ist die Rangordnung der Autorität in der Verehrung durch
die Untergeordneten fundiert. Wie in Max Webers Begriff des Charisma angedeutet,
wird der hohe Rang gleichsam als Extension des Selbst erlebt. Entsprechend asymmetrisch
ist die Aufmerksamkeitsverteilung - der Ranghöhere ist prominent. Und heute
geht es in Fragen der Rangordnung auch gar nicht mehr um Befehl und Gehorsam.
Denn je mehr die materiellen Lebensbedingungen sich angleichen, desto deutlicher
treten die Motivationskräfte Status, Prestige, Anerkennung und Ehre hervor.
Genauso wie bei der Liebe und dem Neid geht es hier um nicht-ökonomische
Motive, die der metaphysische Individualismus der klassischen Wirtschaftswissenschaften
unterschätzt. (Ebd., S. 136).1961 hat Ralf Dahrendorf
seine Antrittsvorlesung an der Universität Tübingen über den Ursprung
der Ungleichheit unter den Menschen gehalten. Dort findet sich die großartige
Formulierung: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, aber sie sind es
nicht mehr nach dem Gesetz.« (Ralf Dahrendorf, Über den Ursprung
der Ungleichheit der Menschen, 1961, S. 27). Sobald die Menschen nämlich
mit dem Gesetz in Berührung gekommen sind, leben sie in einer Welt der Normenzumutungen
und Rollenerwartungen. Und in den Prozessen von Konformismus und Abweichung bilden
sich nun durch Sanktionen des jeweiligen Verhaltens Rangordnungen des sozialen
Status. In den Unterschieden des Rangs steckt eine Wertung, die aus den Sanktionen
des sozialen Verhaltens folgt; in der Regel honoriert die Gesellschaft konformistisches
Verhalten. Und diese Wertung drückt sich modern in den Unterschieden von
Einkommen und Prestige aus. (Ebd., S. 136).Diese Konzeption
Dahrendorfs ist in ihrer dialektischen Stringenz auch heute noch bewunderungswürdig.
Doch für die meisten, die heute über Ungleichheit und »soziale
Ungerechtigkeit« (**)
klagen, ist sie offenbar intellektuell und moralisch zu anspruchsvoll. Gesellschaftliche
Modernisierung war einmal der Weg vom Status zum Kontrakt. Heute treten die »Politisch
Korrekten« wieder den Rückweg an. Im Namen von Fairneß und Gleichstellung
propagieren sie die Privilegierung der Unterprivilegierten. (Ebd., S. 136).Was
in den USA »affirmative action« heißt, kämpft gegen Diskriminierung
mit der Wunderwaffe der Repräsentation, also mit Hilfe der Quote. Nicht die
individuelle Leistung zählt, sondern die Gruppenzugehörigkeit. Damit
aber wird die berechtigte Kritik von Diskriminierung ad absurdum geführt.
Früher gab es Menschen, deren individuelle Leistung aufgrund einer bestimmten
Gruppenzugehörigkeit nicht anerkannt wurde. Heute werden Menschen aufgrund
einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit gefördert, unabhängig von
ihrer individuellen Leistung. Also hat sich nur das Vorzeichen der Diskriminierung
gewandelt. Früher hat man Schwarze und Frauen diskriminiert - so gut ihre
Leistungen auch waren. Heute werden Schwarze und Frauen gefördert - so schlecht
ihre Leistungen auch sind. Jede Gleichstellungspolitik diskriminiert diejenigen,
die es aus eigener Kraft geschafft haben, z.B. Frauen auf C4-Professuren.
(Ebd., S. 136-137).Was sind eigentlich »Quoten«? Es
gibt nicht unbegrenzt viele CEO-Posten in DAX-notierten Unternehmen; es gibt nur
eine klar begrenzte Anzahl an Parlamentssitzen im Deutschen Bundestag; und auch
die Zahl von Professorenstellen an Universitäten läßt sich nicht
beliebig vermehren. Hier haben wir es mit absoluten Knappheiten zu tun. Die Forderung
nach Quoten - bei uns ja zumeist: für Frauen - zielt auf eine Vorabzuschreibung
wertvoller Stellen an Gruppenmitglieder. Auch wenn sie politisch nicht erfüllt
wird, kann man die Quotenforderung als Warnung verstehen, daß die »Politisch
Korrekten« nicht bereit sind, das Ergebnis eines individuellen Wettstreits
um begrenzte Chancen hinzunehmen. Denn jeder Wettbewerb um knappe Positionen ist
ein Kampf um Vorrang, d.h. es entsteht immer eine Nachfrage nach Ungleichheit.
Man muß Männer benachteiligen, wenn man Frauen »nach vorne«
bringen will. Man muß begabte Kinder benachteiligen, wenn man lernschwache
Kinder zu denselben Lernergebnissen führen will. Nur im Witz können
alle Schüler überdurchschnittlich gut sein. (Ebd., S. 137).Die
»Politik der Ungleichheitskompensationsungleichheit«, so spottete
Niklas Luhmann einmal, endet erst am »Jüngsten Tag der Herstellung
vollständiger Gleichheit«. (Vgl. Niklas Luhmann, Protest, 1996,
S. 126 und S. 130). Und seit der vorsorgende Sozialstaat nicht mehr zwischen Wohltaten
und Anrechten unterscheidet, können wir eine neue Segmentierung der Gesellschaft
durch die Ansprüche von Gruppen beobachten, die es gelernt haben, sich als
Opfer dieser Gesellschaft zu präsentieren. Die Politik der Antidiskriminierung
vollzieht sich als Viktimisierung. Früher war die Leistung Grundlage der
Wertschätzung, heute ist es die Benachteiligung. Im Kampf um Status ist der
ausschlaggebende Faktor der, daß man Wundmale der Diskriminierung vorzeigen
kann. Horst Dreier hat das »Kränkungsfetischismus« genannt. (Vgl.
Horst Dreier, Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen, in: F.A.Z., 04.07.2007,
S. 10). Und der funktioniert auch im welthistorischen Maßstab. Immer mehr
Historiker und Soziologen arbeiten Diskriminierungen der Vergangenheit auf, um
heutige, »progressive« Diskriminierungen zu rechtfertigen - als Wiedergutmachung.
(Ebd., S. 137-138).Der »Gutmenschen«-Krieg
gegen Diskriminierungen ist längst ein Krieg gegen den gesunden Menschenverstand
geworden. Arbeitgeber dürfen nicht mehr anstellen, wen sie wollen. Vermieter
dürfen nicht mehr vermieten, an wen sie wollen. Man macht es den Eltern schwer,
ihre Kinder auf gute Schulen zu schicken. Lehrer können schlechte und bösartige
Schüler nicht mehr loswerden. Das sind die bekanntesten Praktiken der erzwungenen
Integration. Sie schließt die Augen vor realen Leistungsdifferenzen und
Qualitätsunterschieden. Und vor dem Bösen. (Ebd., S. 138).Die
lebenswerte Alternative zur erzwungenen Integration liegt nicht in der Ungerechtigkeit
der Privilegierten, sondern in der Getrenntheit der Gleichen. Jeder, der ein Grundstück
besitzt, weiß, daß der gute Zaun die gute Nachbarschaft macht. Friedliche
Kooperation setzt die Freiheit zur räumlichen Trennung und Diskriminierung
voraus. Denn privates Eigentum ist Diskriminierung: Das gehört mir, nicht
dir. Einen Zaun um das Grundstück ziehen, einen Claim abstecken das sind
die Gesten des Privateigentums, die Exklusivität, Differenz und Ungleichheit
markieren. Eigentum schließt das Recht auf Ausschluß ein. Du darfst
mein Grundstück nicht betreten, wenn ich es nicht will. (Ebd., S. 138).Die
Politik der »sozialen Gerechtigkeit« (**)
hat dieses Recht auf Diskriminierung ausgehöhlt, ja tendenziell sogar kriminalisiert.
Es gibt aber gute und schlechte Diskriminierung. Discrimino ist lateinisch
und heißt: Ich unterscheide. Wenn wir das Wort Diskriminierung in politischen
Zusammenhängen benutzen, bekommt dieses U nterscheiden eine entscheidende
Zuspitzung. Wer diskriminiert, behandelt jemanden oder eine Gruppe unterschiedlich,
nämlich herabsetzend. Diskriminierung ist also das exakte Gegenteil von Nepotismus,
d.h. Vetternwirtschaft, der unterschiedlichen Behandlung von Günstlingen.
Diskriminierung entspricht einem negativen Vorurteil, Nepotismus entspricht einem
positiven Vorurteil. Und diese Vorurteile lassen sich nur sehr schwer von Vorlieben
unterscheiden. Hier stößt jede Aufklärung an Grenzen, denn wer
einen Wunsch nach Diskriminierung hat, läßt sich nicht von Fakten bekehren;
er will gar nicht »objektiv« sein. (Ebd., S. 138).Deshalb
unterscheiden Ökonomen heute zwischen Marktsegregation - hier geht es um
Unterschiede des Geschmacks - und Marktdiskriminierung - hier geht es um den Geschmack
für Unterschiede. Geschmack selbst diskriminiert, und deshalb ist es nicht
erstaunlich, daß »Massendemokratien« den Geschmack, der sich
historisch ja immer in Oberschichten entwickelt hat, durch öffentliche Meinung
ersetzen wollen. Doch solange überhaupt noch von Geschmack die Rede ist,
geht das Gespenst der Diskriminierung um. Wer sich etwa »geschmackvoll«
einrichten möchte, wird darauf achten, daß seine Möbel nicht von
IKEA stammen. (Ebd., S. 138-139).Doch der Geschmack für
Unterschiede geht natürlich weit über die Unterschiede des Geschmacks
hinaus. Viele Menschen finden Geschmack an der Diskriminierung anderer, sie haben,
wie der Nobelpreisträger Gary S. Becker formuliert, einen Wunsch nach Diskriminierung.
Ökonomisch betrachtet kann man also sagen, daß es einen Konsum der
Diskriminierung gibt. Folglich hat sie ihren Preis. Jeder, der Geschmack an der
Diskriminierung bestimmter Leute hat, muß handeln, als ob er bereit wäre,
dafür zu zahlen oder auf einen möglichen Gewinn zu verzichten. Von Schwarzen
will ich nicht bedient werden. Mein Kind soll nicht an eine Schule, die Türkinnen
das Tragen von Kopftüchern erlaubt. Ich will nicht in der Nähe von Rußlanddeutschen
wohnen. Das ist Diskriminierung im politisch inkriminierten Sinn. (Ebd.,
S. 139).Doch daß der Unternehmer eine Frau nicht einstellt,
die ihm voraussichtlich weniger Nutzen als Kosten bringt, hat nichts mit »politischer«
Diskriminierung zu tun. Und daß in Zehlendorf weniger Türken wohnen
als in Kreuzberg, hat auch nichts mit Diskriminierung zu tun; hier gibt das unterschiedliche
Einkommen den Ausschlag. Einen Geschmack für Diskriminierung aber entwickelt
der erfolgreiche türkische Familienvater, der von Kreuzberg nach Zehlendorf
zieht, damit seine eigenen Kinder nicht in Schulen mit hohem Ausländeranteil
gehen müssen. Zur Segregation von Wohngebieten in einer großen Stadt
genügt es übrigens schon, daß Türken lieber in der Nähe
von Türken leben als von Deutschen und daß Deutsche lieber in der Nähe
von Deutschen leben als von Türken. Auch das hat mit der politisch zurecht
inkriminierten Diskriminierung nichts zu tun. (Ebd., S. 139).Es
ist also sehr wichtig, daß wir den Begriff der Diskriminierung differenzieren.
Man stelle sich etwa einen Geschäftsmann vor, der diskriminiert - oder nicht
-, weil er Vorurteile hat - oder nicht. Hier gibt es vier Verhaltensmöglichkeiten.
Wenn er Vorurteile gegenüber bestimmten Menschen hat und sie deshalb diskriminiert,
können wir von einem Konsum der Diskriminierung sprechen; er bezahlt dafür
einen Preis, sofern er auf diese Menschen, sei's als Arbeitskräfte, sei's
als Kunden, verzichtet. Der Geschäftsmann kann aber auch Vorurteile gegenüber
bestimmten Menschen haben, ohne sie zu diskriminieren - weil es gut für's
Geschäft ist. Und auch der umgekehrte Fall ist möglich: Der Geschäftsmann
hat gar keine Vorurteile und diskriminiert dennoch bestimmte Menschen, weil es
gut für's Geschäft ist - wenn er z.B. den Eindruck hat, daß seine
Kunden nicht von einer schwarzen Verkäuferin bedient werden möchten.
Schließlich und zumeist werden wir es aber mit Geschäftsleuten zu tun
haben, die weder Vorurteile haben noch diskriminieren. Dieser scheinbar so harmlose
Fall hat aber seine eigene Dialektik. Denn im »Gutmenschentum« schlägt
die nicht diskriminierende Vorurteilslosigkeit in einen Konsum der Nichtdiskriminierung
um - auch wenn es schlecht für's Geschäft ist. Wir haben es dann mit
einer Diskriminierung zugunsten der Marginalen, einem Nepotismus der Benachteiligten
zu tun (**). (Ebd., S. 139-140).
Das
wirkt natürlich als positives Feedback für die typische sozialpsychologische
Reaktion auf die Diskriminierung einer Gruppe: die Selbstverklärung dieser
Gruppe. (Ebd.). |
Doch
der eigentliche Schauplatz des Konsums der Nichtdiskriminierung ist natürlich
nicht das Geschäftsleben, denn das muß profitabel sein, sondern die
Bildung, denn die wird vom Staat finanziert. Dort zeigt sich das Problem der Diskriminierung
als Problem der Selektion. Sie ist die Erbsünde der Pädagogik. Der Lehrer
muß ja loben und tadeln, wenn er überhaupt an gewissen Kriterien für
Lernerfolg festhalten will. Und eine Lehre ohne Kriterien wäre keine Lehre.
Der Lehrer erzieht, indem er diskriminiert. Das macht seine Stellung in unserer
Kultur der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
so schwierig, »denn Selektion bedeutet: Inanspruchnahme und Verstärkung
von Ungleichheit. Wenn Selektion ohnehin unwillkommen ist, bietet Gleichheit Schutz
vor Selektion und zugleich Schutz vor Verantwortung für Selektion.«
So das Resümee des Soziologen Niklas Luhmann und des Pädagogen Karl
Eberhard Schorr (Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, 1988, S. 263).
(Ebd., S. 140). **
Gesamtschulen
wollen ja Differenzierung ohne Selektion - das geht aber nicht. Und weil man die
Selektion scheut, ruft man nach »Beratung«. (Ebd.). |
Es
gibt heute keinen schwierigeren Beruf als den des Lehrers. In der Konfrontation
mit den Schülern und ihren Eltern müßte er vor allem vermitteln,
daß zwar jeder Respekt verdient, aber nur wenige Lob verdienen. Man kann
alle Menschen respektieren, aber man kann nicht alle loben. Loben heißt
nämlich zugleich zurücksetzen. Gute Schüler gibt es nur, wenn es
schlechte Schüler gibt. (Ebd., S. 140).Es gibt eben
kein Lob ohne Tadel. Man kann das Einzigartige und Hervorragende nicht bewundern,
wenn man keinen positiven Begriff von Ungleichheit hat. Doch in einer egalitären
Gesellschaft stehen die Leistungsschwachen im Zentrum. Und weil es keine Versager
geben darf, sind Standards, Wettbewerb und Leistung bedrohlich. So schafft man
Schritt für Schritt die Standards ab, damit es keine Versager mehr gibt.
Und so zieht man eine falsche Konsequenz aus der richtigen Einsicht, daß
nicht der Reichtum über den Bildungserfolg entscheiden soll. Nicht die Begüterten,
sondern die Begabten sollten das Bildungssystem prägen. Doch statt die Basis
für die Selektion der Begabten zu verbreitern, bekämpft man die Selektion
(**). (Ebd., S. 140-141).
Diese
egalitaristische Dummheit gibt dann umgekehrt den Wohlhabenden die Chance, Bildung
im klassischen Sinn wie ein Pfauenrad funktionieren zu lassen, nämlich als
soziales Handicap - ich kann mir das leisten! Zum Beispiel Altgriechisch.
(Ebd.). |
Max
Weber hat einmal gesagt: »Bildungs- und Geschmackskultur-Schranken sind
die innerlichsten und unübersteigbarsten aller ständischen Unterschiede.«
(Max Weber, Soziologie, S. 477). Das ist für die moderne demokratische
Gesellschaft natürlich ein permanenter Skandal, gegen den sie mit einer Flut
reformpädagogischer Programme verzweifelt ankämpft. Doch Erfolg ist
eine Funktion von Begabung, Fleiß und Bildung. Zwar kann man den Zugang
zu den Bildungsanstalten für alle garantieren, also formal Chancengleichheit
sichern, aber wie soll man Leistungsmotivation und Übung steuern? Und vollends
machtlos ist der Staat ja gegenüber IQ und genetischer Mitgift. Auch die
Herstellung gleicher Startchancen kann deshalb nichts daran ändern, daß
Chancen unterschiedlich wahrgenommen werden. Wenn der Schüler sich nicht
meldet, kann der Lehrer nichts machen. Manche sind stark genug, sich als »Streber«
gegen das Mobbing der Verwöhnten und Faulen zu behaupten. Die meisten aber
suchen ihr Heil in der Anpassung an eine Coolneß, die darin besteht, sich
nicht für den Unterricht zu interessieren. Familien haben darauf einen gewissen,
staatlich nicht steuerbaren Einfluß, die Lehrer dagegen sind ohnmächtig.
(Ebd., S. 141).Die Bildungsanstalten verschieben die Selektionsaufgabe,
also den Zwang zur unterschiedlichen Bewertung von Lernleistungen, auf die Wirtschaft.
Wir haben es längst mit einer Inflation der guten Noten und einer Entwertung
von Diplomen zu tun. Wenn aber alle das Abitur machen und dann ihr Master-Studium
mit »sehr gut« abschließen, entscheidet eben der erste Chef
über Gewinner und Verlierer. Denn in der Wirtschaft haben die bürgerlichen
Ideen der Konkurrenz und Exzellenz überlebt. Mehr Gleichheit bedeutet ökonomisch
fast immer: weniger Effizienz. (Ebd., S. 141).Tatsächlich
nur in der Wirtschaft? Vielleicht werden die Europäer einmal dem Pisa-Schock
dafür dankbar sein, daß wieder eine Rhetorik der Exzellenz möglich
wurde, die man früher allenfalls einer gewissen Partei der Besserverdienenden
zugetraut hätte. Die Forderung nach Elite-Universitäten entspricht präzise
dem Geist einer Zeit, in der Deutschland den Superstar sucht und das Volk per
Handy kundtut, wen es zu »Unseren Besten« rechnet. Dieses neu erwachte
Interesse an Spitzenleistungen zeigt sich seit einiger Zeit auch in der Konjunktur
des Ranking: Zeitschriften veröffentlichen Listen der besten Mediziner, Rechtsanwälte
oder Universitäten. Benchmarking, das Sich-messen an den Besten, kannte man
bisher nur in der Wirtschaft. Jetzt greift diese Orientierungs- und Motivationstechnik
auch auf andere Lebensbereiche über. Überall gibt es Leuchtturm-Projekte,
Entwürfe zu einem Kanon des wahrhaft Wissenswerten - und vielleicht wird
man uns bald auch wieder Vorbilder, ja Leitbilder präsentieren. (Ebd.,
S. 141-142).
Absolut knappe Güter
Jedes Buch hebt sich
vor einem Hintergrund des Ungeschriebenen ab. Dieser Diskurs über die
Ungleichheit spricht nicht über reale, schmerzliche Armut, Menschen ohne
politische Rechte, ohne medizinische Versorgung und Bildungsmöglichkeiten.
Es gibt diese Menschen - millionenfach. Sie nicht zum Thema zu machen, heißt
nicht, sie zu verschweigen. Viele Autoren haben sich in den letzten Jahren dieser
Ausgeschlossenen angenommen, niemand eindrucksvoller und leidenschaftlicher als
der Arzt und Anthropologe Paul Farmer. Wenn man sein Buch über die Pathologien
der Macht und den Krieg gegen die Armen liest, merkt man rasch, daß Ausschluß
(Paul Farmers und neuerdings Heinz Budes Thema) und Ungleichheit (mein Thema)
nicht dasselbe sind. Nicht die Ungleichheit ist der wahre Skandal unserer Zeit,
sondern der Ausschluß der Nobodies, von denen Eduardo Galeano so präzise
wie poetisch sagt: Sie sprechen keine Sprachen, sondern Dialekte; sie haben keine
Religionen, sondern Aberglauben; sie haben keine Kultur, sondern Folklore; sie
sind keine Menschen, sondern Humanressourcen. (Ebd., S. 143).Karl
Marx hat das Lumpenproletariat verachtet. Die liberale Wirtschaftstheorie hat
die Ausgeschlossenen, die wirklich Armen ignoriert, weil sie eben gar nicht zum
System der Wirtschaft gehören: die Obdachlosen, die Drogenabhängigen,
die illegalen Einwanderer. Wenn man in Talkshows von »neuer Armut«
spricht, meint man etwas ganz anderes. Armut wird bei uns in der westlichen Welt
immer an gewissen (ziemlich hohen) Lebensstandards gemessen, und als arm gilt
dann etwa der, der weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdient.
Davon können die wirklich Armen nur träumen. Sie haben tagtäglich
nur eine Aufgabe: zu überleben. (Ebd., S. 143).Der politisch
korrekteste aller Ökonomen, der Nobelpreisträger Amartya Sen, hat einen
Kriterienkatalog für Unfreiheit erstellt, der sehr nützlich ist, um
unser Thema Ungleichheit vom Thema Exklusion zu unterscheiden. Als Quellen der
Unfreiheit nennt Sen: Armut, Tyrannei, geringe wirtschaftliche Möglichkeiten
(keine Jobs), miserable Infrastruktur. Kein ernst zu nehmender Mensch wird behaupten,
daß auch nur eines dieser Kriterien für unsere westliche Wohlstandswelt
zutrifft. Das Problem der Ersten Welt ist nicht das Problem der Dritten Welt.
(Ebd., S. 143-144).Rousseau ist das Idol des Egalitarismus. An
ihm müssen wir uns theoretisch orientieren und haben das ja auch schon getan.
Historisch sind die 68er der ideale Ausgangspunkt für unsere Überlegungen.
Am Ende der 1960er Jahre, also gerade in einer Zeit stürmischen wirtschaftlichen
Wachstums, hat die Jugend des Westens wieder mit »revolutionärer Ungeduld«
die große Frage formuliert: Wer bekommt was? Wir fragen nach dieser Frage.
Wie konnte es dazu kommen? »Denen geht es zu gut«, war eine Antwort,
die zwar richtig ist, aber intellektuell nicht überzeugen kann. Das Paradoxon,
daß gerade im wachsenden wirtschaftlichen Wohlstand die kulturelle Frustration
wächst, führt uns zum Thema der sozialen Knappheit (**).
Wir können uns immer mehr leisten, aber es befriedigt immer weniger. Warum?
Es geht hier nicht, wie der Club of Rome damals meinte und wie man heute wieder
irn Zeichen von Bio, Öko und Grün suggeriert, um die natürlichen
Grenzen, sondern um die sozialen Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums.
(Ebd., S. 144).Soziale Knappheit (**)
bedeutet, daß sich eine Kluft auftut zwischen den Möglichkeiten jedes
Einzelnen und dem, was gesellschaftlich möglich ist. (**).
Die Güter, an denen sich soziale Knappheit am deutlichsten erfahren läßt,
hat Fred Hirsch in seinem großartigen Buch über die gesellschaftlichen
Grenzen des Wachstums »positional goods« genannt. (Das Buch stammt
aus dem Jahre 1976 und erinnerte die damaligen Leser natürlich an den Bericht
des Club of Rome über die natürlichen Grenzen des Wachstums!).
Wir lassen diesen prägnanten Begriff im folgenden unübersetzt.
(Ebd., S. 143).Positional Goods sind der Wirtschaftsbereich, der
den Konservativen am meisten Kopfzerbrechen bereitet. Denn hier funktioniert ihre
Zauberformel nicht, das Problem der Ungleichheit durch Wachstum für alle
zu lösen, also nicht gleich, sondern reich zu werden. Mit anderen Worten:
Positional Goods markieren die Sandbank, an der der Wirtschaftsliberalismus Schiffbruch
erleidet. Die Grundidee der Konservativen und Liberalen besteht ja darin, die
Frage der Umverteilung des Reichtums durch das Angebot der Teilhabe am Wachstum
der Wirtschaft zu verdecken. Durch robustes wirtschaftliches Wachstum wird die
Lage jedes Einzelnen positiver verändert, als das durch Umverteilung in Stagnation
möglich wäre. Und dieses wirtschaftliche Wachstum wird gerade durch
die Beobachtung von Konsummöglichkeiten angetrieben, die zunächst einmal
nur den Erfolgreichen an der Spitze offen stehen. Die so entstehenden neuen Wünsche
werden erfüllt - im Lauf der Zeit. D.h. der Luxus dieser Generation wird
zum Standard der nächsten und zur selbstverständlichen Grundausstattung
der übernächsten. Jeder hat heute ein Auto und einen Fernseher. Jeder
macht heute im Ausland Urlaub. Einmal war das Handy ein Statussymbol von Geschäftsleuten,
heute ist es ein trivialer Gebrauchsgegenstand aller Bürger der westlichen
Welt, und morgen wird es wie Nahrung, Bildung und Gesundheitsvorsorge zu den garantierten
Existenzbedingungen auch der Ärmsten gehören. (Ebd., S. 144-145).Die
Erfolgreichen bilden die Avantgarde des Konsums, und es ist gerade die Ungleichheit,
die die anderen antreibt, es ihnen gleichzutun. So breiten sich die guten Dinge
des Lebens allmählich von oben nach unten aus. Fred Hirsch hat das als dynamischen
Egalitarismus bezeichnet. Wirtschaftliches Wachstum kann als ein egalitärer
Agent verstanden werden, der seine Wirkung mit der Zeit entfaltet. Eine aktive
egalitäre Politik ist also gar nicht nötig, ja sie könnte dem dynamischen
Egalitarismus des wirtschaftlichen Wachstums nur störend dazwischenkommen.
Und so lange der Kapitalismus als Wachstumsmaschine erfahren wird - und das war
die Erfahrung der Deutschen in der Zeit des Wirtschaftswunders -, gibt es gar
keinen Bedarf für eine ethische Rechtfertigung der Einkommensverteilung.
Allen geht es ständig besser. (Ebd., S. 145).Diese erzliberale
Strategie scheitert aber an der Frage nach den Positional Goods. Bei Nullsummenspielen
wie dem Wettbewerb um den besten Platz gibt es Veränderung nur durch Umverteilung.
Es gibt hier keine Pareto-Optimalität. Wenn es einigen besser gehen soll,
muß es anderen schlechter gehen. Jede Befriedigung durch ein Positional
Good frustriert andere. Endlich kann ich es mir leisten, Urlaub in Hawaii zu machen.
Aber daß ich es mir leisten kann, ist eben das untrüglichste Anzeichen
der Tatsache, daß ein Hawaii-Urlaub auch nicht mehr das ist, was er einmal
war. (Ebd., S. 145).Gute Wohngebiete sind Positional Goods;
der ruhige, fast unberührte Traumstrand; Bilder von Klee; die Note »summa
cum laude«. Positional Goods sind absolut knappe Güter - die herrschaftlichen
Anwesen am Kleinen Wannsee zum Beispiel, oder Bilder von Gerhard Richter. Positional
Goods sind also das Gegenteil von Software. Software kann man ohne Mehrkosten
millionenfach verteilen. Mein Haus dagegen, das auch mein Nachbar kaufen wollte,
gibt es nur einmal. Kommunikation ist nicht knapp, wohl aber das Recht, die Umwelt
zu verschmutzen. Fernsehunterhaltung ist nicht knapp, wohl aber die Chance, ungestört
und angenehm zu reisen. Information ist nicht knapp, wohl aber Mobilität.
(Ebd., S. 145-146). **
Ein
Mann kann auch seine Frau als Positional Good betrachten. Dem entspricht die Frau,
indem sie auf ihren Status achtet, und das bedeutet: Sie darf sich nicht auf den
Markt der verfügbaren Frauen begeben. Nur geringwertige Frauen sind auf dem
Markt verfügbar, im Extrem die Prostituierte - eben zu Marktpreisen.
(Ebd.). |
Die Logik
der Positional Goods greift heute auch auf schulische Bildung und medizinische
Versorgung über. Die Nachfrage nach Gesundheit und Bildung wird in Zukunft
das Angebot weit übersteigen. Das liegt daran, daß es sich im Kern
um persönliche Dienstleistungen handelt, deren Produktivität kaum erhöht
werden kann. Auch hier ist wachsende Ungleichheit programmiert. Genau so dramatisch
ist die Situation im Erziehungssystem. Im Wettkampf um die guten Plätze spielt
die Bildung eine Schlüsselrolle. Wenn sie in Zukunft überhaupt noch
funktionieren sollen, müssen die Bildungsanstalten wieder Talente sortieren
und Fähigkeiten testen - und dann funktionieren sie als Kontrollstellen sozialer
Knappheit (**). (Ebd.,
S. 146).Man kann das Problem der Positional Goods auf eine ganz
einfache Formel bringen: Der Wettbewerb um die besten Plätze ist ein Nullsummenspiel.
Jeder kann heute CEO werden, denn die soziale Herkunft spielt formal keine Rolle
mehr, aber nicht jeder kann es sein, denn die Spitzenpositionen sind knapp. Das
ist ein gutes Beispiel dafür, wie Gleichheit Ungleichheit ermöglicht.
Es läßt sich nie im voraus sagen, wer was zu sagen haben wird. Die
Herkunft ist unwichtig, die Zukunft unklar - das ist die moderne Gleichheit, die
ständig systemspezifische Ungleichheiten erzeugt. (Ebd., S. 146).Wer
ein absolut knappes Gut besitzt, genießt nicht nur das Gut, sondern auch
seine Knappheit. Es ist immer auch ein Statussymbol, mit dem ich markieren kann,
daß ich im Rennen um die besten Plätze ganz vorne liege. Wer etwas
Seltenes besitzt, genießt den Neid der anderen. Daß der Nachbar entbehrt,
was ich besitze, macht den eigentlichen Reiz der Sache aus. Deshalb ist der Egalitarismus
eine Sisyphosarbeit. Oder wie es Georg Simmel in seinem soziologischen Märchen
»Rosen« formuliert hat: »Das eben war der welthistorische Irrtum,
daß man in das Haben oder Nichthaben von Gegenständen den Grund der
Freuden oder Leiden verlegte. Nein, nicht ob ich es habe oder nicht habe, entscheidet
meine Gefühle, sondern ob andere es nicht haben oder haben.« (Georg
Simmel, Schriften, S. 172). (Ebd., S. 146).Wenn der
Lebensstandard steigt, nimmt der Konsum soziale Züge an; d.h. die Befriedigung,
die mir eine Ware oder Dienstleistung verschafft, hängt vom Konsum der anderen
ab. Denn die Bedingungen des Gebrauchs verschlechtern sich, je mehr Leute von
einer bestimmten Sache Gebrauch machen. Je mehr Leute Auto fahren, um so weniger
macht Auto fahren Spaß. Das hat nichts mit der Qualität des Produkts
an sich zu tun, sondern mit den Umweltbedingungen seiner Nutzung. An und für
sich ist die Idee, am nächsten Wochenende einen Kurzurlaub in Venedig zu
machen, großartig; aber Zehntausende haben dieselbe Idee. Fred Hirsch hat
genau das als soziale Knappheit (**)
bezeichnet. Nicht alle können erreichen, was jeder erreichen kann. Jeder
kann heute Abend den besten Platz im Restaurant bekommen, aber nicht alle, die
heute dort essen gehen. Jeder kann so hart arbeiten und so lange sparen, daß
er sich einmal ein freistehendes Häuschen am Waldrand leisten kann, aber
nicht alle. (Ebd., S. 146-147).Denn wenn alle es wollten,
gäbe es keine freistehenden Häuschen am Waldrand mehr. Jeder kann CEO
oder Spielführer der Fußballmannschaft werden, aber nicht alle. Die
meisten haben die Dinge nicht, die es wert sind, daß man sie hat. Deshalb
wird es immer den Wunsch nach Umverteilung geben. Das intelligenteste Argument
für Umverteilung hat Adair Turner in einer Fußnote seines Buches »Just
Capital« versteckt - intelligent, weil Turner hier nicht sozial-moralisch,
sondern rein ökonomisch argumentiert. Wenn die wirtschaftliche Ungleichheit
nicht durch eine Politik der Umverteilung - klassisch: Kapital -, Erbschafts-
und progressive Einkommensteuer - korrigiert wird, ist sie kumulativ. Reiche Leute
können mehr sparen und rascher Kapital anhäufen. Und diese Abweichungsverstärkung
wird durch die wachsende Bedeutung von Positional Goods entscheidend zugespitzt.
Wenn man nämlich Positional Goods uneingeschränkt vererben kann, steigen
ihre Preise, und damit wächst das Kapital derer, denen es ohnehin schon sehr
gut geht. Die derart vererbte Ungleichheit verschärft sich ständig und
bedroht damit die Dynamik des Kapitalismus. (Ebd., S. 147).Umverteilung
im Dienste des Kapitalismus - eleganter kann man sozialdemokratische Politik nicht
verkaufen. Doch gerade wenn es konkret wird, wird es auch philosophisch. Die entscheidende
Frage nämlich, wie hoch die Steuern denn sein sollen, läßt sich
nicht wirtschaftswissenschaftlich beantworten. Hier geht es um den Geist der Demokratie,
also um das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit - unser Thema! (Ebd.,
S. 147).Das Unbehagen in der Wohlstandswelt rührt daher, daß
die Befriedigung materieller Bedürfnisse nicht die Wünsche der Menschen
erfüllen kann. Daß ich mir im KaDeWe jeden Artikel leisten kann, hilft
mir nicht weiter im Wettkampf um die besten Plätze. Die durch ihre absolute
Knappheit so wertvollen Positional Goods werden zwar einer Mehrheit angeboten
- oft mit dem paradoxen Versprechen: »exklusiv« -, sie können
aber nur von einer Minderheit konsumiert werden. Und das frustriert. (Ebd.,
S. 147).Es gibt also Konsummöglichkeiten, die prinzipiell
nur wenigen Menschen Befriedigung verschaffen können und die gerade deshalb
befriedigen, weil sie die Wenigen über ihre Mitbürger erheben. Sir Roy
Harrod hat deshalb von einer unüberbrückbaren Kluft zwischen oligarchischem
und demokratischem Reichtum gesprochen. Den demokratischen Reichtum kann man als
ungeheure Warensammlung im KaDeWe betrachten, zu der prinzipiell alle, die überhaupt
am Wirtschaftsleben teilhaben, Zugang haben. Oligarchischer Reichtum dagegen ist
prinzipiell nur für die Wenigen möglich. Und je mehr der demokratische
Reichtum wächst, desto mehr wächst auch das Begehren nach dem oligarchischen
Reichtum. Die Massen wollen das Exklusive, die Vielen das Seltene. Es geht hier
also um Produkte, deren Qualität sich dadurch vermindert, daß immer
mehr Menschen sie wollen. Der Tourismus ist hierfür ein gutes Beispiel. Venedig
wäre eine Zauberwelt, wenn die anderen nicht wären. Der Tourist sucht
das Unvergleichliche und zerstört es, indem er es findet. (Ebd., S.
148).Das meiste von dem schönen Leben, das uns die bunten
Zeitschriften und Boulevard-Magazine zeigen, ist für die meisten von uns
unerreichbar. Und das, was die Vielen dann doch erreichen können, verliert
genau deshalb an Wert. Soziale Knappheit (**)
heißt also: Was der Einzelne sich wünscht und als Einzelner auch bekommen
kann, kann die Gesellschaft niemals erreichen. (**).
Und die Politik hat nun die undankbare Aufgabe, die Menschen mit diesem unaufhebbaren
Unterschied zu versöhnen. Das gilt gerade auch für den grünen Blick
auf die Umwelt. Denn wenn bestimmte Ressourcen knapp sind, so daß nicht
alle Leute genug davon bekommen können, kann eine egalitäre Verteilung
zur Katastrophe führen. (Ebd., S. 148).Daß die
Menschen die Vielfalt einer ungeheuren Warensammlung wünschen, ist eine triviale
konsumistische Wirklichkeit. Aber die großen Ökonomen haben immer schon
gesehen, daß es viel wichtigere Motive des Konsumierens gibt, die alle etwas
mit den Fähigkeiten und Handlungen der Menschen zu tun haben. So spricht
Alfted Marshall in seinen Grundlagen der Ökonomie vom Begehren nach Unterscheidung.
Sehr teure Nahrungsmittel wie z.B. Kaviar oder frische Austern schmecken nicht
nur gut, sondern sie befriedigen auch den Wunsch nach sozialer Unterscheidung.
(Ebd., S. 148).Noch wichtiger aber ist das Begehren nach Spitzenleistungen
um ihrer selbst willen. Die Leute lieben es, ihre eigenen Fähigkeiten zu
stimulieren und zu trainieren. Distinktion und Exzellenz sind die wichtigsten
Quellen der Befriedigung. Da sich mein Selbstwertgefühl in der Vorstellung
bildet, wie andere mich beurteilen, ist das wichtigste Motiv meines Handelns,
etwas zu tun, worauf die anderen angemessen reagieren. »I want to make a
difference«, sagen die US-Amerikaner. Ich will einen Unterschied machen,
der für andere zählt. (Ebd., S. 148-149).Schon
Aristoteles unterscheidet in diesem Sinne zwischen Bedürfnis und Wunsch.
Der Wunsch zielt aufs Überlegensein. Und die Mode befriedigt dieses Begehren
nach sozialer Distinktion, die immer knapp ist. Was man Stil nennt, ist die Rivalität
um das knappe Gut der Distinktion: immer zu den ersten zu gehören, die wissen,
was angesagt ist. Hier handelt es sich eindeutig um ein Nullsummenspiel, denn
ich kann nur Trendsetter sein, indem ich eben dadurch die anderen zu Leuten von
gestern mache. (Ebd., S. 149).Je mehr sich der Kapitalismus
als der große Gleichmacher der materiellen Lebensbedingungen bewährt,
um so mehr drängen sich die nichtmateriellen Aspekte des guten Lebens in
den Vordergrund der Aufmerksamkeit: Prestige und Privileg. Das hat unmittelbare
Auswirkungen auf das Verhältnis von Einkommen und Status. Zunächst einmal
leuchtet unmittelbar ein, daß der Konsum von Positional Goods abhängig
vom relativen Einkommen ist; deshalb muß ich mich für die Differenz
dessen, was andere mehr verdienen als ich, durchaus interessieren. Vilfredo Pareto
hat nun gesehen, daß überall da, wo die Einkommensunterschiede reduziert
werden, die Menschen nach Ungleichheit in Macht und Status streben. Es geht dann
primär um den Wunsch, anders zu sein und die Ungleichheit zu genießen,
also um die Aneignung differenzierender Merkmale, auf die das eigene Selbstwertgefühl
gestützt werden kann. (Ebd., S. 149).Dieses soziologische
Motiv der Statusdifferenzierung können Ökonomen, die nur auf Güter-
und Geld-Knappheit fixiert sind, nicht verstehen. Doch der Status hat heute einen
eigenen, handfesten Marktwert. Je höher nämlich der Status, desto höher
der Grenznutzen des Einkommens, denn man hat durch den hohen Status Zugang zu
Konsumgütern, die absolut knapp sind: Backstage-Karten für das Rolling-Stones-Konzert
zum Beispiel oder Haupttribünenplätze für das Fußballweltmeisterschaftsendspiel.
Man bemüht sich vergeblich um die Karten und muß dann immer wieder
die gleichen Prominenten im Fernsehen darum beneiden, daß sie »live
dabei sein« dürfen. Hier wird das Grundprinzip der freien Marktwirtschaft
außer Kraft gesetzt: daß man etwas bekommt, weil man zahlt.
(Ebd., S. 149).Für die Ungerechtigkeiten der Welt der Positional
Goods, über die uns Fred Hirschs Theorie der sozialen Knappheit (**)
aufgeklärt hat, gibt es eine Art Kompensation durch die so genannten Procedural
Goods. Diesen Begriff hat Robert E. Lane geprägt, und er läßt
sich kaum elegant ins Deutsche übersetzen - wir schlagen »prozedurale
Güter« vor. Auf diesen Begriff wollen wir die Erfahrung bringen, daß
es nicht nur einen Wunsch nach Verteilungsgerechtigkeit, sondern auch einen Wunsch
nach Verfahrensgerechtigkeit gibt. (Ebd., S. 149-150).Die
Menschen sind bei Gerichtsverfahren, Verwaltungsmaßnahmen und politischen
Entscheidungen nicht nur am Ergebnis interessiert, sondern mindestens genauso
an der prozeduralen Gerechtigkeit des Verfahrens. Das gilt auch in wirtschaftlichen
Zusammenhängen. Oft ist es den Leuten wichtiger, wie sie behandelt werden,
als was sie bekommen. Natürlich ist es entscheidend wichtig, wie hoch mein
gegenwärtiges Einkommen ist; aber genauso wichtig sind Fragen wie: Hatte
jeder eine faire Chance? Wurde jemand diskriminiert? (Ebd., S. 150).Die
Verteilung der Güter kann durch den Markt oder durch die Regierung bestimmt
werden. Der Entscheidungsprozeß, der der jeweiligen Verteilung zugrunde
liegt, ist aber selbst das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses. Und für
die meisten Menschen ist es am wichtigsten, daß sie diesem Entscheidungsprozeß
über das Verteilungsverfahren zustimmen können. Der Entscheidungsprozeß
hat also einen Wert in sich selbst. Hauptsache, daß niemand in die freien
Kräfte des Marktes eingreift, sagen die einen. Hauptsache, daß die
Regierung für Gerechtigkeit sorgt, sagen die meisten. So würden viele
ein schwaches, aber durch demokratisches Verfahren erreichtes Ergebnis einem starken,
aber durch souveräne Entscheidung erreichten Ergebnis vorziehen. (Ebd.,
S. 150).Hegel und Freud haben gezeigt, daß alles Begehren
im Kern ein Begehren nach Anerkennung ist. Wir diskutieren dieses Thema heute
zumeist unter dem Titel Würde, oder gar Menschenwürde. So schwer es
ist, eine nicht-idealistische Definition der Würde zu geben, so deutlich
kann ein Beobachter der modernen Gesellschaft doch feststellen, daß Würde
sehr stark mit Kontrollchancen korreliert. Hinter dem Anspruch auf die Achtung
der eigenen Würde steht der Wunsch, etwas erkennbar zu bewirken, eine Ursache
zu sein, einen für alle sichtbaren Unterschied zu machen. Und dem entspricht
eben genau, daß es für die meisten Menschen wichtiger ist, wie sie
behandelt werden, als was sie bekommen. Die Gerechtigkeit eines Verfahrens ist
ihnen mindestens so wichtig wie die Resultate dieses Verfahrens. Es geht hier
also um prozedurale Güter; sie sind Würde-Güter. (Ebd., S.
150).Aus der Logik der prozeduralen Güter folgt auch, daß
man den Mangel an Selbstwertgefühl, den die Arbeitslosigkeit verursacht,
nicht durch staatliche Transferleistungen kompensieren kann. Der Arbeitslose kann
nicht ohne Scham in der Öffentlichkeit erscheinen und kann deshalb auch nicht
am Gemeinschaftsleben teilnehmen. Er fühlt sich in seiner Würde gekränkt
und deshalb kann er Freiheit nicht als Spitzenwert empfinden. Nicht die Freiheit
schützt die Würde, sondern die Kontrolle über die Art und Weise,
wie man behandelt wird. (Ebd., S. 150-151).Wir messen die
Legitimität dessen, was uns widerfährt, an der Gerechtigkeit des Verfahrens.
Das faktische Ergebnis politischer Entscheidungen über die Verteilung von
Geldern und Gütern - also die Frage, was der Einzelne bekommt -, ist für
die Betroffenen weniger wichtig als die Frage, wie diese Entscheidungen getroffen
worden sind. Die Menschen sind genau in dem Maße, in dem sie an der Entscheidung
über die Verteilung von Ressourcen beteiligt sind, mit dem Ergebnis zufrieden.
Und gerade für die Arbeitslosen gilt deshalb, daß prozedurale Güter
Würde-Güter sind. Denen, die an dem Spiel um »mehr Geld«
nicht teilnehmen können, bietet man »mehr Gleichheit«.
(Ebd., S. 151).
Vom nehmenden zum sorgenden Kapitalismus
Das
liberale Erfolgsgeheimnis des Kapitalismus besteht bis zum heutigen Tag darin,
die Frage nach dem Glück nicht mit Umverteilung, sondern mit der Steigerung
der Produktion beantwortet zu haben. Produktivität und Kreativität sind
Resultate des Wettbewerbs, der natürliche Ungleichheiten nutzt und materielle
Ungleichheiten schafft. Spezifisch liberal ist dabei der Trick, durch die Frage
nach der Wirtschaftlichkeit von der Frage nach der Gerechtigkeit abzulenken. Wenn
man Gerechtigkeit nicht erreichen kann, kann man sie überbieten? Durch wirtschaftlichen
Erfolg? Das ist das eigentliche Wirtschaftswunder. (Ebd., S. 152).Wirtschaftlicher
Erfolg ist ein Identitätsangebot, das den Erfolgreichen rasch in eine gewisse
Distanz zur Gesellschaft bringt. Denn der wirtschaftlich Erfolgreiche bemißt
die Gerechtigkeit der Gesellschaft an der Sicherheit des Eigentums. Und, wie der
Soziologe Niklas Luhmann einmal sehr schön bemerkt hat, auf dieser Insel
Eigentum ist nicht für alle Platz. Der Eigentümer ist deshalb der natürliche
Feind jeder politisch hergestellten Gleichheit. Der Respekt für das Individuum
drückt sich - radikal marktliberal betrachtet - in der Differenz von mehr
oder weniger Geld, letztlich: von Arm und Reich aus. (Ebd., S. 152).Gleichheit
würde Marktwirtschaft unmöglich machen. Nicht jeder darf die gleichen
Bedürfnisse haben, denn die Waren müssen für die Menschen unterschiedlich
attraktiv sein. Daß der Nachbar 30000 Euro für ein Auto ausgibt, ist
mir unbegreiflich. Und auch das Geld muß ungleich verteilt sein. Die Urlaubsreise,
die ich mir gerade noch leisten kann, muß für den anderen unerschwinglich
sein. Das ist natürlich davon abhängig, welchen Beruf ich habe; und
dabei geht es nicht nur um Einkommensunterschiede, sondern auch um einen der größten
Faktoren von Ungleichheit: Arbeit, die Spaß macht. Meistens wird sie auch
noch gut bezahlt und verleiht hohen Status. (Ebd., S. 152). **
Die
Globalisierung der Wirtschaft hat für den Arbeitsmarkt reicher Länder
vor allem den Effekt, daß einfache, unqualifizierte Arbeiten schlecht bezahlt
werden. Dadurch wächst die Ungleichheit des Einkommens - oder die Arbeitslosigkeit
(für den Fall nämlich, daß die Regierung in den Arbeitsmarkt eingreift
und z.B. Mindestlöhne festsetzt). (Ebd.). |
Jeder
hat andere Talente. Aber einige Talente sind weit verbreitet, andere sind selten.
Und man muß sich damit abfinden, daß nicht die Anstrengung oder das
Talent an sich belohnt wird, sondern das Resultat auf dem Markt. So weh es auch
tut: Man muß lernen, Verdienst und Marktwert zu unterscheiden. Weder Geschäftserfolg
noch Prestige lassen sich aus Verdiensten ableiten. Nicht das, was man gut macht,
sondern das, was andere gut finden, zählt. Die von der Konkurrenz freigesetzten
Chancen und Risiken bilden den Gegenpol zum Gleichheitsprinzip: Ich kann viel
mehr bekommen als den gleichen Anteil, wenn ich auf meine riskante Chance setze.
So idealtypisch das liberale Credo. (Ebd., S. 152-153).Das
liberale Laisser-faire endete aber eigentlich schon 1873 mit dem Wiener Börsenkrach.
Seither beginnen die Regierungen zu regulieren; sie entwickeln Schutz- und Sicherheitspläne,
am prominentesten Bismarck mit seiner Erfindung der Sozialversicherungen. Hundert
Jahre lang, auch durch die schreckliche Zeit der Weltkriege und des Schwarzen
Freitag hindurch, darf sich Regierungshandeln als Aufklärung des Kapitalismus
begreifen. Erst in den 1970er Jahren erlischt diese »progressive«
Stimmung: »Öl-Schock«, das freie Floaten der Leitwährung
Dollar seit Nixon und die Stürme der Studentenbewegung signalisieren, daß
wir in eine Welt des beweglichen Ungleichgewichts eingetreten sind, in der nur
die Ungewißheit gewiß ist. (Ebd., S. 153).Verzweifelt
und unter ungeheuren Kosten hält der Staat seither die Fassade des Wohlfahrtsstaats
aufrecht. Die Nationalökonomen werden zunehmend ratlos, denn nicht die Nationalökonomie
zählt, sondern die Dynamik der großen Wirtschaftsregionen. Wichtiger
als die traditionellen Produktionsfaktoren, als Güter und Dienstleistungen
sind die autonomen Geldflüsse von Kredit und Investment, die weltweiten Transaktionen
zwischen Banken. »Realwirtschaft« wird zum heimeligen Sehnsuchtswort.
Und daß heute die Manager als Sündenböcke der Bankenktise herhalten
müssen, zeigt sehr genau an, daß Management zum entscheidenden Produktionsfaktor
geworden ist. (Ebd., S. 153).Aber gleichzeitig beobachten
wir, daß der Kapitalismus auf der Spitze der Modernität »gut«
wird. Daß das für einige so schwer zu erkennen ist, hängt mit
der Abstraktheit einer vollständig durchmonetarisierten Wirtschaft zusammen.
Alles spielt sich im Medium Geld ab - und dieses Medium verliert immer mehr an
handfester Greifbarkeit. Nichts ist abstrakter als elektronische Finanztransaktionen.
Seit es die elektronische Datenverarbeitung gibt, werden sich Geld und Information
immer ähnlicher. Das bedeutet aber, daß die Finanzmärkte der wichtigste
Schauplatz für die Kommunikationstechnologien des 21. Jahrhunderts sind:
Geldfluß und Datenfluß werden ununterscheidbar. (Ebd., S. 153).Man
spricht heute in diesem Zusammenhang von »Softnomics« und meint damit
die neue Computerwirklichkeit des Welt-Geldes. Das gilt schon für die neuen
Standards wie Electronic Cash, Electronic Banking, Home Banking. Und wir beobachten
heute eine Ablösung des Banking von den Banken. Elektronisches Geld hat keinen
eigenen Wert, ja kaum mehr ein Spur physischer Existenz. (Ebd., S. 154).Mit
unseren Kreditkarten schalten wir uns ins Nervensystem der Weltwirtschaft ein.
Und diese Plastik-Karten werden immer smarter, d.h. sie verschränken den
Geldfluß mit dem Informationsfluß. Mit Recht hat der Trendforscher
Alvin Toffler deshalb das Geld der »postmodernen« Welt als supersymbolisch
bezeichnet. Auf der Ebene von Zentral- und Weltbanken ist schließlich auch
dieses supersymbolische Geld noch zu konkret. Man spricht dann von Verrechnungseinheiten
und Sonderziehungsrechten. Das Geld ist hier von jedem Erdenrest entlastet, das
heißt, es löst sich in Errechnungen von Errechnungen auf. (Ebd.,
S. 154).Man könnte deshalb sagen: Auf der obersten Wirtschaftsebene
gibt es Geld nur noch im Aggregatzustand von weltumspannenden Datenflüssen
- also in den Computern der Finanzmetropolen. Täglich werden mehr als 1000
Milliarden Dollar umgeschlagen. 90% der Finanztransaktionen an den Weltbörsen
haben aber mit dem wirklichen Warenfluß nichts mehr zu tun. Seither hat
der Begriff »Realwirtschaft« geradezu romantische Züge angenommen.
Die Weltbörsen bilden also einen Cyberspace des Kapitals, in dem virtuose
Datenspieler ihre Einsätze machen. Das ist das Geheimnis der Globalisierung,
die den Kapitalismus im Innersten verändert hat. (Ebd., S. 154).Ist
die moderne Gesellschaft vor einem ihrer Teilsysteme, nämlich der Wirtschaft,
in die Knie gegangen? Regiert das Geld die Welt? Gerade Leute, die nicht genug
Geld haben, also die Armen, und Leute, die meinen, nicht genug Geld zu bekommen,
also die Intellektuellen, neigen zu dem Glauben, die Wirtschaft beherrsche die
ganze Welt. Und genau das hat der Sentimentalismus der Entfremdungskritiker dem
Kapitalismus seither zum Vorwurf gemacht. Geld fließt dorthin, wo es sich
vermehren kann, nicht dorthin, wo es gebraucht wird. Selbst der nüchterne
Max Weber hat die vollkommen durchmonetarisierte Wirtschaft deshalb als den eigentlichen
Träger der Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit bezeichnet. Besonders
einschlägig sind hier natürlich die Formulierungen des »Kommunistischen
Manifests« von Karl Marx, das Marktsystem habe »die persönliche
Würde in den Tauschwert aufgelöst ... und kein anderes Band zwischen
Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose
bare Zahlung« (Karl Marx, Manifest der Kommunistischen Partei,
1848, S. 528). (Ebd., S. 154).Das trifft aber nicht zu. Geld
ist universal, aber eben auch nur spezifisch verwendbar - nämlich in der
Wirtschaft. Es ist weder total noch absolut. Deshalb kann man nicht sagen, Geld
sei, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und das ist natürlich,
zumindest für Romantiker, eine gute Nachricht. Man kann Messen lesen lassen,
aber nicht das Seelenheil kaufen; man kann Forschung subventionieren, aber nicht
Wahrheit kaufen; man kann Bafög zahlen, aber keine Lernbereitschaft kaufen;
man kann Politiker korrumpieren, aber nicht Macht kaufen. Und man kann Frauen
kaufen, aber nicht Liebe. (Ebd., S. 155).Doch nicht nur,
daß Geld vieles nicht kann, ist die gute Nachricht. Darüber hinaus
bringt uns das Geld auch eines der seltenen Lebensstücke realer Gleichheit:
die Gleichheit der ausreichenden Kaufkraft. Der amerikanische Soziologe Talcott
Parsons hat dafür die ironische Formel gefunden, alle Dollars seien frei
und gleich geschaffen. Denn Geld ist auch reale Freiheit. Es funktioniert nämlich
unabhängig von seiner Herkunft, und es ermöglicht jedem, der es besitzt,
sich von seiner Herkunft befreien zu können. (Ebd., S. 155).Colin
Crouch spricht im Blick auf die westlichen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts
von »Postdemokratie« (**).
Damit signalisiert er in aller wünschenswerten Deutlichkeit, daß die
Nationalstaaten nicht mehr das Heft des Handelns in der Hand haben, daß
aber auch die alte Idee eines Weltstaates einer globalisierten Welt völlig
unangemessen ist. Globalisierung heißt zunächst einmal politisch: Überforderung
der Nationalstaaten. Die Verantwortung für den Stand der Weltdinge geht nun
aber nicht in die Hände einer Weltregierung über, sondern in die der
Corporate Citizens: der großen Unternehmen. (Ebd., S. 155).Wenn
man heute von Global Governance spricht, meint man also gerade nicht die Regierung
eines Weltstaates, sondern das sozial verantwortliche Handeln großer Unternehmen
und Organisationen. Neben die Profitmaximierung tritt gleichberechtigt die Aufgabe
der Sorge für den blauen Planeten. Sie stützen sich nicht auf die planende
Vernunft der Eliten, sondern auf das Wissen der Vielen, das dezentral in der Weltgesellschaft
verteilt ist. Friedrich von Hayeks Einsicht, daß alle klüger sind als
jeder und daß der Marktmechanismus diese Klugheit technisch implementiert,
wird durch die Meinungsmärkte im Internet zur machtvollen Wirklichkeit.
(Ebd., S. 155).Während die Nationalstaaten also zunehmend
an Einfluß verlieren, formiert sich heute ein »neues Mittelalter«
der Netzwerke und multiplen Autoritäten. Ein neues Mittelalter der Netzwerke
wohlgemerkt, nicht der Märkte. Von der »Anarchie« des Marktes
unterscheidet sich das Netzwerk durch gemeinsame Werte, und von der formalen Hierarchie
unterscheidet sich das Netzwerk durch seinen informellen Charakter. Netzwerke
lösen Probleme, die der Einzelne noch nicht einmal formulieren kann. In Netzwerken
zeigen Menschen Eigenschaften, die sie nicht mit Wölfen sondern mit Insekten
vergleichbar machen; hier zeigen sich die Überrebensvorteile extremer gegenseitiger
Abhängigkeit. Wenn uns also die biologische Evolution den Vergleich des Menschen
mit einem Wolf nahelegt, so modelliert uns die soziale Evolution den Menschen
als Insekt. Damit solche Netzwerke funktionieren, muß ausreichend großes
soziales Kapital vorhanden sein. Das ethische Zauberwort des modernen Managements,
Commitment, meint genau diese überbrückende Kraft sozialen Kapitals.
(Ebd., S. 155-156).Das sind technische, genauer: medientechnische
Möglichkeitsbedingungen eines »guten« Kapitalismus. Doch worin
besteht seine Affektstütze? (**).
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns auf die Entstehungsbedingungen
des ursprünglichen kapitalistischen Geistes rückbesinnen. Wenn man nach
den religiösen Grundlagen des Kapitalismus fragt, stößt man rasch
auf zwei sich widersprechende christliche Botschaften: die perfektionistische
Botschaft des Neuen Testaments und die pragmatische Botschaft des Puritanismus.
Die perfektionistische Forderung lautet: Verkaufe alles, was du hast, und gib
es den Armen. Die pragmatische Forderung lautet: Sei aufrichtig und werde reich.
Wer wirklich leben will wie Jesus, muß die große Tugend der Caritas
praktizieren. Aber diese Forderung überfordert die meisten Menschen.
(Ebd., S. 156).
Der
Leser wird bemerken, daß wir keine Antwort bieten, sondern ein Problem exponieren.
Es gibt heute keine Affektstütze für den Kapitalismus, und man darf
nicht von denen, die wenig haben, erwarten, daß sie die zivilisatorische
Leistung des Kapitalismus angemessen zu würdigen wissen. Um den Kapitalismus
angemessen zu würdigen, müßten der Arbeitslose sein aktuelles
Schicksal, der Politiker seine Wahlchancen und die Massenmedien ihre Sendeprinzipein
vergessen. (Ebd.). |
Und
hier hat der Puritanismus einen genialen Ausweg gefunden, nämlich die unpraktizierbare
große Tugend durch viele kleine Tugenden zu ersetzen - nämlich harte
Arbeit, Mäßigung, Sparsamkeit, Nüchternheit, Pünktlichkeit,
Ehrlichkeit, Verläßlichkeit, Familiensinn. All diese kleinen Tugenden
steigern die Produktivität und damit den Lebensstandard. Das Christentum
der kleinen Tugenden ist also die beste Versicherung gegen Armut. Und umgekehrt
kann man Armut nun als Sünde verstehen, verursacht durch die kleinen Laster
wie Ungezügeltheit, Faulheit und Unehrlichkeit. Hilf dir selbst, dann hilft
dir Gott - so lautete die frohe Botschaft der protestantischen Mittelklasse. Der
Wirtschaftswissenschaftler Kenneth E. Boulding hat sie »Our Lost Economic
Gospel« genannt. (Vgl. Kenneth E. Boulding, Beyond Economics, 1970,
S. 203-206). Verloren haben wir diese frohe Botschaft der Mittelklasse durch den
Aufstieg der »social gospel«, der Sozialoffenbarung, die wieder an
den anti-ökonomischen Affekt des Neuen Testaments anknüpft. (Ebd.,
S. 156).Die Frage nach den religiösen Grundlagen des Kapitalismus
zielt nicht auf theologische Dogmen, sondern auf die vom Glauben bestimmte Lebensführung.
In diesem Sinne hat Max Weber in seinen Kapitalismusstudien Religion als System
der Lebensregulierung interpretiert. Denn so wie der Rechtsstaat auf Voraussetzungen
beruht, die er nicht selbst garantieren kann - das ist das große Thema der
Verfassungsrechtler Böckenförde und Forsthoff -, so beruht auch der
liberale Kapitalismus auf Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann.
Das ist heute die zentrale Einsicht der Kommunitaristen, die schon Vilfredo Paretos
Begriff der »Residuen«, Ferdinand Tönnies' Soziologie der »Gemeinschaft«
und dem Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre zu Grunde liegt.
Wirtschaftsethik ist die verzweifelte Suche nach dem verlorenen Geist des Kapitalismus.
Was kann an die Stelle der innerweltlichen Askese treten? (Ebd., S. 157).Eine
poetische Antwort gibt Diotimas Traum in Musils »Mann ohne Eigenschaften«:
die »Vereinigung von Wirtschaft und Seele« (Robert Musil, Der Mann
ohne Eigenschaften, 1930-'42, S. 108). Die Prosa der Ökonomen kennt diese
Sehnsucht als das Adam-Smith-Problem. Wie kann man die Tatsache erklären,
daß der Autor des Grundbuchs der Nationalökonomie, »The Wealth
of Nations« (1776), auch der Autor einer » Theory of Moral Sentiments«
(1759) ist? Was haben moralische Gefühle mit Wettbewerb und Gewinnstreben
zu tun? Welche Beziehung gibt es zwischen den Leidenschaften und den Interessen,
zwischen der Seele und der Wirtschaft? (Ebd., S. 157).Albert
Hirschman hat sehr schön gezeigt, wie der Kapitalismus die großartige
Kulturleistung erbrachte, die Leidenschaften und ihre Ungewißheiten in den
Griff zu bekommen. Im System des kapitalistischen Wirtschaftens
wurden die Menschen leidenschaftsloser, trockener und berechenbarer - man könnte
sagen: sie wurden auf Zivilisationstemperatur gebracht. Das Profitmotiv ersetzte
den Thymos, zu Deutsch: Herz, Mut und Gesinnung. »Mehr Geld« statt
Ehre. Der Geist des Kapitalismus entstand also durch rationale Temperierung im
Gegensatz zur Gier des kapitalistischen Abenteurers. Man kann diese großartige
Kulturleistung des Kapitalismus in der Definition resümieren, die Max Weber
für den Begriff Verantwortung gefunden hat. Verantwortung verankert Leidenschaft
in deren scheinbarem Gegenbegriff: Sachlichkeit. (Ebd., S. 157).Im
Profitmotiv »mehr Geld« liegt der Akzent nicht auf »Geld«,
sondern auf »mehr«. Natürlich wollen wir bekommen, was wir uns
wünschen, aber mehr noch wollen wir herausfinden, was wir wirklich wollen.
So können wir das Leben heute als Erforschung eines Wertefeldes betrachten.
Mit dem Sieg des Kapitalismus wurde nämlich der Blick wieder frei auf die
nicht-ökonomischen Kräfte - also die sozialen und moralischen Werte,
das Begehren nach Anerkennung - und auf die andere Seite der Vernunft -, also
Gefühle, Geschichten. (Ebd., S. 157-158).Wenn man den
Begriff der Kultur auf seinen nüchternen Kern reduziert, dann bezeichnet
er ein Vorurteil für Werte, eine undiskutierbare Präferenzstruktur.
Doch das ist heute wichtiger denn je. Denn wir erleben den Prozeß der Globalisierung
als ein Trauma, ein Aus-der-Höhle-treten-müssen. Die Kompensation, die
uns darüber hinweg tröstet, ist ein ethisches »Cocooning«,
die Geborgenheit in Werten. Werte sind Anweisungen zum Umgang mit Ungewißheit;
sie beruhigen uns, wenn wir darüber erschrecken, daß das, was ist,
auch anders sein könnte und wahrscheinlich bald anders sein wird. (Ebd.,
S. 158).Man muß moralische von sozialen und wirtschaftlichen
Werten unterscheiden. Und die Werte des Marktes sind offenbar keine moralischen
Werte. Busineß hat zunächst einmal nichts mit Caritas zu tun. Doch
wir sehen heute, daß sich ein sorgender Kapitalismus anschickt, diese fein
säuberlichen Trennungen zu unterlaufen. Auch ein sorgender Kapitalismus bleibt
natürlich Kapitalismus, aber doch als ein durch öffentliche Verantwortung
temperiertes System des Profits. Und das bringt uns zu der interessanten dreigliedrigen
Unterscheidung: Egoismus - Wirtschaftsethik - universalistische Moral. (Ebd.,
S. 158).Die gemeinsamen Werte, die die globalisierte Welt organisieren
werden, bilden sich nicht in der Politik, sondern im Busineß. Das setzt
aber voraus, daß die Unternehmen von traditionellen Institutionen (Kirche)
und erfolgreichen Organisationen (Greenpeace) lernen müssen, wie man soziale
Werte glaubwürdig verkörpert. Es geht heute vor allem um Werte wie Authentizität,
Vertrauenswürdigkeit, Reputation, Transparenz, soziale Verantwortlichkeit,
Nachhaltigkeit, Teamgeist, Fairneß, Respekt, Sorge, Bürgerlichkeit.
Ob die organisatorische Verkörperung dieser Werte gelingt, oder nur die Werbe-Rhetorik
einer ethischen Plakatwelt geboten wird, entscheiden die Kunden als Bürger,
die gerade auch im Akt des Konsums zu Werte-Wählern geworden sind.
(Ebd., S. 158).Die Welt des Luxus ist die Phantasiewelt der absoluten
Werte. Und auch wenn sich in Zeiten der Wirtschaftskrise die Aufmerksamkeit wieder
von Gucci zu Aldi verschiebt, bleibt doch die Frage nach dem Luxus die lehrreichste.
Jahrelang ging das Gespenst des Discount um und hat alle Marktbeobachter blind
gemacht für eine tief greifende Veränderung unseres Wirtschaftslebens.
Doch sobald die Zeichen wieder auf Aufschwung stehen, verblaßt die Faszination
durch die kleinen Preise, und es wird deutlich, daß sich Kunden und Unternehmen
des 21. Jahrhunderts mehr als je zuvor an den großen Werten orientieren.
Dem geilen Geiz und dem Kult des Saubilligen zum Trotz entscheiden in der globalisierten
Welt nicht die Preise, sondern die Werte. Und dabei zählen neben den wirtschaftlichen
eben auch soziale und moralische Werte, die sich weltweit Geltung verschaffen.
(Ebd., S. 158-159).Ein erfolgreiches Produkt ist nicht nur technisch-sachlich
von hervorragender Qualität, sondern vermittelt auch einen spirituellen Mehrwert.
Der moderne Kunde will nicht nur befriedigt und verführt, sondern auch verändert
werden. Abraham Maslows Bedürfnishierarchie hat ja eine sechste Stufe: »idealization«,
Selbsttranszendenz. Heißt das nicht wieder: sich von einer Aufgabe konsumieren
lassen? Und das Unternehmen der Zukunft macht nicht nur Profit, sondern übernimmt
auch soziale Verantwortung. (Ebd., S. 159).Je reicher, desto
ethischer! Das ist die erstaunliche Lektion, die uns der sorgende Kapitalismus
in den letzten Jahren erteilt hat. Auf der Ebene des Konsums sind wir es ja schon
gewohnt, daß Kunden »Ethik-Marken« konsumieren und mit gutem
Gewissen genießen wollen. Heute sehen wir, daß auch die Unternehmen
und großen Organisationen Profitorientierung und moralisches Handeln nicht
mehr als Gegensatz sondern als wechselseitiges Steigerungsverhältnis verstehen.
Diese Metapräferenzen des sorgenden Kapitalisten heißen im Management-Jargon
»Vision« und »Mission«. (Ebd., S. 159).Der
puritanische Kapitalismus war produktionsfixiert und hatte keinen Sinn für
Konsum. Er hat immer nur die Geschicklichkeiten der Produktion kultiviert; darüber
sind die Geschicklichkeiten des Konsums verkümmert. Erst Thorstein Veblen
hat darauf aufmerksam gemacht, daß man nicht nur konsumiert, sondern den
Konsum zugleich auch ausstellt und darstellt. Der Marktplatz ist immer auch ein
Schauplatz der Prahlerei. Wir alle spielen Theater - gerade auch, wenn wir konsumieren.
Und verkaufen läßt sich deshalb heute nur noch, was einen Inszenierungswert
hat. (Ebd., S. 159).Auch zu sich selbst entwickeln die Menschen
ein theatralisches Verhältnis. Das Leben wird zum Stoff eines Kunstwerks;
es ist ein permanenter Selbstversuch, der den Konsum als hohe Kunst betrachtet.
Diese Kosmetik der Existenz wird um so wichtiger, je unverbindlicher die religiösen
Grundlagen der Kultur werden und je mehr der Unwille wächst, das Privatleben
allgemeinen Gesetzen zu unterwerfen. Was Not tut, wenn der Glaube schwindet, ist
Stil, d.h. der Entwurf einer Ethik als Ästhetik der Existenz. Den fundamentalen
Umschaltmechanismus hatte David Riesman schon in den 1950er Jahren erkannt: Die
verlorenen Lebensformen werden durch ein Training des Konsumentengeschmacks ersetzt.
(Ebd., S. 159-160).Im System des Konsumismus (**)
werden die Wünsche der Kunden nicht erfüllt, sondern geködert.
Und das kann auch gar nicht anders sein, denn was man sich eigentlich wünscht,
ist nicht zu kaufen. Aber man kann dem Wunsch Anerkennung verschaffen - in einem
Produkt. Doch dieses Produkt muß geistig angereichert sein, also einen spirituellen
Mehrwert haben. Hier zeigt sich eine Funktionsäquivalenz von Konsumismus
und Religion. Die Götter, die aus dem Himmel der Religionen verdrängt
wurden, kehren als Idole des Marktes wieder. Werbung und Marketing besetzen die
vakant gewordenen Stellen des Ideenhimmels. Düfte heißen Ewigkeit und
Himmel, Zigaretten versprechen Freiheit und Abenteuer, Autos sichern Glück
und Selbstfindung. Mit einem Wort: Marken besetzen Ideen, um sie schließlich
zu ersetzen. Die Marke wird zum Schauplatz Lebenssinn stiftender Kommunikation.
(Ebd., S. 160).Markentreue ist Selbstfestlegung unter Ablehnung
anderer Optionen, also ein religiöses Bekenntnis. Wenn der Kunde anders wählt,
bekommt er Schuldgefühle. Hier erweist sich der Konsum als eine rituelle
Handlung, die aus allgemeinen Waren das individuelle Wahre schafft. Um das zu
verstehen, darf man die Güter nicht als Objekte betrachten. Vielmehr bilden
sie ein Medium. Das Geheimnis der Ware hat also nichts mit ihrem Gebrauchswert
zu tun. Die Waren sind nicht einfach Dinge für den Konsum. Sie befriedigen
nicht nur ein konkretes Bedürfnis, sondern sie verkörpern Soziales -
analog zum Totem. Das Geheimnis der Ware und das Geheimnis der Religion sind dasselbe.
(Ebd., S. 160).Nicht die Kirchen, sondern die Konsumtempel sind
der Ort moderner Religiosität. So vergleicht der Theologieprofessor Harvey
Cox die Schaufenster der Warenhäuser mit der Krippenszenerie; das Etikett
mit dem Markenzeichen deutet er als säkularisierte Hostie. Das Ideal des
Marketing ist die religiöse Ikonenverehrung. Heute kehren die Warenhäuser
wieder an ihren Ursprung zurück. Die Pariser Passagen waren die ersten Kathedralen
des Konsums. Und die Einkaufszentren der Gegenwart verwandeln sich in Schauplätze
einer Wiederverzauberung der Welt, nach der wir uns gerade deshalb sehnen, weil
jede Spur von Magie, Aura, Charisma und Zauber aus unserem aufgeklärten Alltag
getilgt ist. (Ebd., S. 160).Der sorgende Kapitalismus und
die konsumistische Religion - man muß kein Linksintellektueller sein, um
spätestens jetzt den Impuls zu verspüren, aufzuklären, zu entlarven,
nein zu sagen. Doch das ist gar nicht so einfach. Die Kulturkritiker werden arbeitslos,
weil der Konsum sein schlechtes Gewissen verliert. Kulturkritik war nämlich
immer nur die Bußpredigt des Kapitalismus, hinter der letztlich die puritanische
Vorstellung stand, Produktion sei die Sache der Erwählten, Konsum aber die
Sache der Verdammten. Doch das große Nein negiert nichts mehr, sondern wird
unmittelbar vermarktet. Der Außenseiter wird zum Pop-Idol. Und Begriffe
wie »Guerillakonsument« machen deutlich, daß Protest heute nur
noch als bunter Tupfer auf der Konsumpalette auftaucht. Die Schwierigkeit, nein
zu sagen, ist also deshalb so groß, weil das Nein unmittelbar von einem
Konformismus des Andersseins vermarktet wird und das Ja längst selbstironisch
geworden ist. (Ebd., S. 160-161).Das System des Konsumismus
(**)
übergreift also auch die Negation des Konsums durch die Zielgruppen, die
sich dadurch definieren, daß sie keine Zielgruppen sein wollen. Offenbar
gibt es keine Kritik, aus der die Werbung nicht eine Kampagne machen könnte.
Werbung ist nicht mehr nur eine Sphäre der modernen Lebenswelt, sondern ihr
Schematismus. Deshalb hat die Werbung es leicht, ihre zentrale Funktion für
das System des Konsumismus zu erfüllen, nämlich dem Konsum das schlechte
Gewissen zu nehmen. (Ebd., S. 161).Das ist gerade in unserer
Überflußgesellschaft ein entscheidendes Problem. Was unser Gewissen
quält, ist ja nicht nur das Wissen vom Elend der Welt, sondern auch das Gefühl,
daß unser Wohlstand eine Funktion jenes Elends sei. Die Bußpredigt
der Kulturkritik lebt seit Rousseau vom schlechten Gewissen des Konsums. Sie suggeriert
uns, Konsum sei Schuld. Angesichts dessen hat die Werbung eine viel wichtigere
Aufgabe, als naive Gemüter mit Luxusgütern zu blenden. Werbung verführt
nicht nur zum Genuß, sondern erspart ihm auch die Reue. Sie hält die
Gegen-Predigt zur Kulturkritik - einen unendlichen Diskurs über den Sinn
des Konsums und den Konsum des Sinns. (Ebd., S. 161).Diese
Diskursivierung des Konsums hat bei Markenartikeln dazu geführt, daß
jedes Produkt eine Geschichte erzählt. Bekanntlich kann man heute Limonade
für eine bessere Welt trinken und den Regenwald retten, indem man Bier trinkt.
Das sind triviale Beispiele für den Konsumismus im Zeichen der ökologischen
Korrektheit (vgl. dazu: Politische Korrektheit [**|**|**|**|**|**|**|**|**];
HB), der uns die Möglichkeit verspricht, eine bessere Welt zu
kaufen. Das macht vielleicht nicht die Welt besser, aber in jedem Fall die moderne
Gesellschaft robuster. Denn so wie die rote Kritik der 68er hat unsere Gesellschaft
jetzt auch die grüne Kritik der Ökos in sich hineinkopiert und damit
ihre Immunität gestärkt. (Ebd., S. 161).Die grünen
Produkte von Body Shop über den Toyota Prius bis zur Bionade bestücken
einen riesigen Markt der Weltverbesserer, der von einer neuen, »grünen«
Art der Markentreue getragen wird, die an die Einheit von Genuß, Ethik und
Luxus glaubt. Das gute Produkt hat eine hohe sachlich-technische Qualität,
es bereitet Freude, es verschafft ein gutes Gewissen und es verschafft Anerkennung.
Wir müssen deshalb heute das Shopping als soziales Handeln und als Medium
einer Sakralisierung des Alltags begreifen. Das us-amerikanische Akronym LOHAS,
das für einen Lebensstil der Gesundheit und Nachhaltigkeit steht, signalisiert
die Wiederkehr der sektenhaft organisierten methodischen Lebensführung. Und
das ist für unsere Leitfrage nach dem Geist des Kapitalismus von größter
Bedeutung: Konsumethik ersetzt die Arbeitsethik. (Ebd., S. 162).Peter
Koslowski und Birger P. Priddat resümieren zum Thema Konsumethik: »Konsum
ist schon lange nicht mehr nur das Konsumieren von Waren. Menschen definieren
sich zunehmend über das, was sie konsumieren. Nicht mehr allein, was man
produziert und welcher Arbeit man nachgeht, sondern auch das, was man konsumiert
und welchen »lifestyle« man verfolgt, bestimmen die Identität
des zeitgenössischen Wirtschaftsbürgers. Konsumentenstile werden zu
Lebensstilen. Güter zu Definitionsknoten des Selbstentwurfs.« (Peter
Koslowski / Birger P. Priddat, Ethik des Konsums, 2006, S. 7). Reine Konsumgüter
genügen diesen ethischen Erwartungen nicht mehr; man muß den Kunden,
die sich heute eben nicht mehr als bloße Konsumenten, sondern viel mehr
als Bürger verstehen, Partizipationsgüter anbieten. Das Unternehmen
und der Kunde kreieren das Produkt gemeinsam. Man ist versucht, auf dieses Verhältnis
ein schönes Wort des Romantikers Novalis anzuwenden: »Sympraxis«.
(Ebd., S. 162).Ob wir tatsächlich von einer Wiederkehr des
Geistes im Kapitalismus sprechen können, hängt letztlich von der Konsistenz
der Lebensführung seiner dominierenden Schichten ab. Und hier stoßen
wir auf eine interessante Paradoxie: Die neue Elite hat egalitäre Ideale.
Sie propagiert die Gesamtschule, steckt ihre eigenen Kinder aber in Privatschulen.
Das kann man Heuchelei nennen, aber dahinter steckt eben eine charakteristisch
veränderte Werteorientierung. Status gewinnt man heute nur im Kampf gegen
die Statussymbole. (Ebd., S. 162).Wie gibt man viel Geld
aus, ohne zu protzen? Man investiert es in den eigenen Körper, in Küche
und Bad, in kleine Dinge; man trinkt Wasser , das so teuer ist wie ein Wochenendeinkauf
bei Aldi; man trägt Kleider, die lässig und nach Freizeit aussehen,
aber aus unglaublich kostbarem Stoff gemacht sind; man macht Öko-Urlaub in
garantiert touristenfreien Naturschutzgebieten. Statusinversion hat David Brooks
das genannt. Die Erfolgreichen geben für die einfachsten Dinge des Lebens
wie Kaffee, Nudeln und Seife ungeheuer viel Geld aus. Über dem Leben der
Reichen liegt heute eine Patina der Einfachheit. (Ebd., S. 162-163).Den
höchsten Status haben diejenigen, die auf dem Markt gegen den Markt erfolgreich
sind; Freigeisterei wird hier zum Busineßmodell. Der postmaterialistische
Status hängt also an der Negation der bisherigen Statussymbole, an der sozial
anerkannten Abweichung. Sich tätowieren zu lassen, ist ein schönes Beispiel
dafür, wie man sich heute durch ein Anti-Status-Symbol soziale Anerkennung
verschaffen kann. So triumphiert die Boheme im Herzen der neuen Bürgerlichkeit,
und fast alle nehmen teil am Kult des Anti-Erfolgs. Die Verlierer zelebrieren
ihn, die Gewinner machen daraus ein Geschäftsmodell. Dabei wird das Schuldbewußtsein
der Privilegierten durch einen Kult der Unterprivilegierten betäubt. Man
erzählt die Legende vom »reichen« Leben der armen Leute, von
denen wir so viel »lernen« können. (Ebd., S. 163).Gesellschaftskritiker
sind dankbar für große Wirtschaftskrisen wie das Platzen der us-amerikanischen
Immobilienblase im Jahre 2008 (**).
Denn dann kann man den Kapitalismus noch einmal als Feind erkennbar machen - als
Raubtier oder Monster. Der neoliberale Turbokapitalismus ist aber ein Phantomgegner,
an dem lediglich der politische Kampfbegriff der »sozialen Gerechtigkeit«
(**)
Profil gewinnen soll. In Wahrheit hat sich das Gesicht des Kapitalismus aber längst
zur Unkenntlichkeit gewandelt. Wir haben es nicht nur mit einem Massenkapitalismus
der Kleininvestoren und, wie man angesichts der wachsenden Bedeutung der Pensionsfonds
zu Recht gesagt hat, einem Kapitalismus ohne Kapitalisten zu tun, sondern auch
mit einem prinzipiellen Wechsel vom nehmenden zum gebenden Kapitalismus.
(Ebd., S. 163).Als der Philosoph Alexandre Kojève 1957 den
Begriff »gebender Kapitalismus« in einem Vortrag präsentierte,
wurde ihm entgegengehalten, niemand könne geben, ohne zuvor zu nehmen. Der
Einwand bleibt natürlich richtig, und auch in Zukunft wird es Altruismus
auf wirtschaftlicher Ebene nur geben, wenn er die Fitrneß eines Unternehmens
steigert. Und dennoch hat Kojève etwas Entscheidendes gesehen. Ein neueres
us-amerikanisches Kunstwort ... lautet Philanthrepreneurship, d.h. Unternehmertum
als Menschenfreundlichkeit. (Ebd., S. 163).Es geht hier um
das Ende des eindimensionalen Kapitalismus, der jedes Geschäft mit der Frage
nach der Organisation und dem Profit begonnen hat. Ganz anders der gebende - oder
wie wir sagen: der sorgende Kapitalismus. Er hat von den Non-Profit- und den Non-Governmental-Organizations
gelernt, daß man mit einer Mission, einer Vision, der Umwelt, der Gemeinschaft
und dem Kunden beginnen muß. Die dialektische Pointe des sorgenden Kapitalismus
besteht also darin, daß Profit und Non-Profit keinen Gegensatz mehr darstellen,
sondern Non-Profit als Portal zum neuen Profit verstanden wird. Längst ist
der Non-Profit-Sektor der größte us-amerikanische Arbeitgeber.
(Ebd., S. 163-164).Während sich gerade die Intellektuellen
in den vergangenen zwei Jahrhunderten daran gewöhnt hatten, das westliche
Wirtschaftssystem mit Entfremdung, Gier und Kälte zu assoziieren - die Bankenkrise
2008 (**)
gab dazu wieder ausreichend Gelegenheit -, melden sich in jüngster Zeit immer
häufiger die Stimmen eines sich um die Welt sorgenden Kapitalismus. Die Unternehmen
arbeiten heute an einem Kapitalismus mit gutem Gewissen. Idealismus verkauft sich
nämlich gut. Waschmittel sollen ethischen Standards entsprechen; an die Stelle
von Ausbeutung soll der Fair Trade mit Entwicklungsländern treten. Grüner
Punkt und das Siegel »umweltfreundlich« genügen nicht mehr -
es entstehen »Ethik-Marken«. Schon vor Jahren trat Body Shop auf,
als sei es kein Unternehmen, das Waren verkaufen will, sondern eine Philosophenschule,
die uns das wahre Leben lehrt. (Ebd., S. 164).Die Warenproduktion
zeigt heute immer deutlicher eine publizistische Dimension; Idealgüter drängen
auf den Markt. Mit anderen Worten: Der Produzent inszeniert sich als Publizist,
der Unternehmer als Politiker - Berlusconi und Benetton waren bisher die bekanntesten
Beispiele. Das Politisch-Soziale wird zum Schauplatz des Marketing. Unternehmen
adressieren ihre Brands an den »mündigen Bürger« und begreifen
sich zunehmend als quasi-politische Institutionen, als Treuhänder der Bildung,
ja als Bürgerinitiative. Sponsoring wird zur bevorzugten Form der Selbstdarstellung,
und d.h.: Unternehmen kommunizieren nicht nur ihre Produkte, sondern auch ihre
Haltungen und Identitäten. Sehen wir genauer zu. (Ebd., S. 164).Der
sorgende Kapitalismus kümmert sich um die Umwelt. Neben die Profitmaximierung
tritt scheinbar gleichberechtigt die Aufgabe des globalen Hüters und Hirten
auf dem blauen Planeten. Peter Huber hat dieses Programm gegen die fundamentalistischen
Umweltneurotiker der Grünen Parteien auf den Begriff Hard Green gebracht.
Gemeint ist die mit der Ökologie versöhnte Ökonomie - die Überzeugung,
daß wirtschaftliche Entwicklung der beste Umweltschutz ist. Nur dieses Denken
ist wohl in der Lage, das Gespenst zu verscheuchen, das heute in Europa umgeht,
nämlich den öko-feministischen Radikalismus. Der grünen Erlösungsreligion
der Sektierer stellt der sorgende Kapitalismus sein hartes Grün gegenüber.
(Ebd., S. 164-165).Der sorgende Kapitalismus kümmert sich
um die Notleidenden. Damit stellt er sich der modernitätsspezifischen Tatsache,
daß es keine Integration ohne Exklusion, keinen Fortschritt ohne Abweichungsverstärkung,
keine Globalisierung ohne Opfer gibt. Der sorgende Kapitalismus begnügt sich
aber nicht mehr mit Almosen. Seine Hilfsbereitschaft steht unter dem Motto »Change,
not Charity!«. Solche verwandelnde Hilfe macht aus der Menschenfreundlichkeit
ein Geschäftsmodell. Während die Gelder der politischen Entwicklungshilfe
nach wie vor im Sumpf der Korruption versickern, eröffnet der sorgende Kapitalismus
den Markt der Armen - etwa durch die nobelpreisgeehrte Mikro-Kredit-Bewegung,
oder durch die Finanzierung von Start-ups in der Dritten Welt. Auch das sind Fälle
von Moralität aus wohlverstandenem Eigeninteresse, die stets viel stabiler
ist als die gute Gesinnung. Jede Sorge um die Armen und Benachteiligten bleibt
nämlich so lange maßlos und labil, solange man sich nicht klar macht,
daß sie nicht nur aus dem weichen Motiv des Mitleids entspringt, sondern
auch aus einem ganz harten Motiv: der Selbstverteidigung der Gesellschaft.
(Ebd., S. 165).Der sorgende Kapitalismus kümmert sich um die
öffentlichen Güter. Je größer eine Gruppe ist, desto geringer
sind die Realisationschancen für gemeinsame Interessen, weil der Beitrag
des Einzelnen kaum wahrnehmbar ist. Und öffentliche Ressourcen werden rasch
von allen ausgebeutet, weil jeder der Mäßigung des anderen mißtraut.
Das ist die Tragödie der öffentlichen Güter, die gerade die moderne
Gesellschaft kennzeichnet. Dagegen kämpft der sorgende Kapitalismus mit einer
privaten Produktion öffentlicher Güter an - das ist die einzig denkbare
Lösung der Tragödie der öffentlichen Güter. Hinzu kommt, daß
die Globalisierung den Nationalstaat systematisch überfordert; und hier springen
eben die Global Players ein. Der erfolgreiche Unternehmer besetzt heute die vakante
Stelle des Großen Mannes und stellt durch private Initiative öffentliche
Güter zur Verfügung, die man bekanntlich nicht nicht konsumieren kann.
Mit der Milliardenspende Warren Buffets an die Stiftung seines milliardenschweren
Freundes Bill Gates hat sich der sorgende Kapitalismus ein eindrucksvolles Denkmal
gesetzt. (Ebd., S. 165).Der sorgende Kapitalismus kümmert
sich um die Mitarbeiter der Unternehmen und ihre Kunden. Ganz selbstverständlich
erwartet man heute einen familienfreundlichen Arbeitgeber, der den Mitarbeitern
eine »Balance« zwischen Arbeit und Leben ermöglicht. Und im Blick
auf die Umwelt des Unternehmens zielt das Marketing nicht mehr nur auf die Kommunikation
mit den Kunden, sondern auf ein verantwortungsbewußtes Verhalten gegenüber
den Bürgern. Das erfolgreiche Produkt des 21. Jahrhunderts definiert sich
nicht mehr nur sachlich über seinen Gebrauchswert, sondern vor allem auch
sozial über seinen Verknüpfungswert. Der soziale Mehrwert der Ware steht
deshalb im Zentrum aller Strategien des neuen Marketing. (Ebd., S. 165-166).Und
schließlich kümmert sich der sorgende Kapitalismus um die Bürger
der Zivilgesellschaft. Im gemeinnützigen Engagement der Unternehmen tritt
jede Firma als Großer Bürger auf. Der sorgende Kapitalismus bietet
Dienstleistungen für die Gemeinschaft an und schöpft dabei die wichtigste
Ressource des 21. Jahrhunderts aus: Commitment. Man könnte diesen zentralen
Begriff ganz spröde mit »freiwillige Wertbindung« übersetzen.
Aber gemeint ist einfach: Ich bringe mich ein; oder prägnanter, aber unübersetzbar
us-amerikanisch: »I want to make a difference«. Hier geht es um die
Rettung der Bürgerlichkeit vor dem Fürsorgestaat in einer Kultur der
Freiwilligen und Ehrenamtlichen. In den USA ist das eine Selbstverständlichkeit.
Aber auch in Europa wollen immer mehr Menschen »einen Unterschied machen«.
Es geht um die Freude, eine Ursache zu sein. (Ebd., S. 166).So
tritt in der modernen Gesellschaft neben den Wunsch, umsorgt zu werden, der Wunsch,
sich zu sorgen. Noch deutlicher: In der Welt von Wohlstand und Fürsorge wächst
der Wunsch, sich um jemanden oder etwas zu sorgen. Traditionell sorgte man sich
um die Kinder und die Alten; das grün gefärbte Bewußtsein sorgt
sich um »die Natur«; das schlechte soziale Gewissen sorgt sich um
»die Armen« der Welt; die Unpolitischen, denen Kinder oder Senioren
zu anstrengend und soziale oder Umweltprobleme zu komplex sind, sorgen sich um
Haustiere; die »Fit-for-Fun«-Generation sorgt sich um den eigenen
Körper; einsame Kinder sorgen sich um ihren Roboterhund. Und dieser Wunsch,
sich zu sorgen, gründet in dem Wunsch, gebraucht zu werden. Mit den genauen
Worten von Milton Mayeroff: Was mir fehlt ist, daß ich jemandem fehle.
(Ebd., S. 166). **
Andras
Angyal hat schon in den 1950er Jjahren betont, daß wir gebraucht sein wollen;
das Gebrauchtwerdenwollen ist eines der stärksten Motive unserer Lebensgestaltung.
Oder in der erhellend paradoxen, ökonomisch kalten Formel: »demand
for giving« (Gary S. Becker, The Economic Approach to Human Behavior,
1976, S. 275). (Ebd.). |
Zug
um Zug hat die moderne Gesellschaft die Forderungen der französischen
Revolution verwirklicht (**|**|**):
Die Forderung nach Freiheit wurde im Liberalismus des 19. Jahrhunderts erfüllt;
die Forderung nach Gleichheit erfüllte der Sozialstaat des 20. Jahrhunderts
(in Deutschland bereits seit 1871; HB); und
die Idee der Brüderlichkeit wird der sorgende Kapitalismus des 21. Jahrhunderts
verwirklichen. (**).
Dieser Begriff bezeichnet eine tief greifende Spiritualisierung der Wirtschaft.
Die gemeinsamen Werte, die die globalisierte Welt organisieren, bilden sich heute
nicht mehr in der Politik, sondern im Busineß. Gerade deshalb sind wir so
empört über Enron, Siemens, Zumwinkel, Lehman Brothers und die Sachsen
LB. (Ebd., S. 166-167).Wir haben in diesem Zusammenhang von
freiwilliger Wertbindung, prägnanter: Commitment, gesprochen. Worte genügen
aber nicht, um ein Commitment zu kommunizieren - man muß handeln und sich
dann dem Urteil der Welt stellen. Deshalb wird es immer wichtiger, welches Bild
ein Unternehmen in der Öffentlichkeit hinterläßt. Gezeichnet wird
es von der unsichtbaren Hand der Reputation. »Karma« nennt die Internet-Welt
diesen Inbegriff von Empfehlungen und Ansehen. Er macht heute den eigentlichen
Eigenwert eines Unternehmens aus. (Ebd., S. 167).Und wehe
dem, der sich diesem neuen Zeitgeist entziehen will. Er wird abgestraft von Kunden,
die als mündige Bürger konsumieren. Auch dafür hat man schon einen
schönen neuen Begriff gefunden: Ethical Shopping. Statt wählen zu gehen,
drücken die Bürger ihre politische Meinung durch ihr Kaufverhalten aus.
Kunden bestrafen unmoralische Unternehmen. Und das ist möglich, seit sich
die öffentliche Weltmeinung online bildet - Globalisierung prägt nun
auch die Dynamik sozialer Bewegungen. Der Bürger, der sich heute politisch
engagieren, also einen Unterschied machen will, geht nicht mehr in die Politik,
die viel zu komplex geworden ist, sondern er geht auf den Markt der Sorge, der
so kleinteilig und einfach ist, daß man mit jedem Konsumakt und jeder Spende
die Welt verbessern kann. (Ebd., S. 167).Den Gegenpol zum
Bionade-Trinken bilden die so genannten »Divestment«-Bewegungen auf
dem Aktienmarkt. Hier ein Beispiel. Dafur in Sudan assoziiert heute jeder mit
Völkermord. Große us-amerikanische Investoren wie Pensionsfonds reagieren
mit ökonomischem Druck auf internationale Konzerne, die im Sudan Geschäfte
machen, d.h. sie stoßen deren Aktien ab. In solchen »Divestment«-Bewegungen
gewinnen also Menschenrechte Einfluß auf Aktienkurse. So wie der soziale
Unternehmer nicht einfach nur ein guter Mensch ist, sondern erkannt hat, daß
in jedem sozialen Problem ein Geschäftsmodell steckt, so gilt heute auch
umgekehrt: Soziale Bewegungen entpuppen sich als Unternehmer, die neue Probleme
auf dem Markt der Aufmerksamkeit verkaufen. (Ebd., S. 167).Auch
aus sozialen Bewegungen kann man nämlich ein Geschäft machen: die Monetarisierung
des Protests. Das ist die Serviceleistung von Banken, die wütenden, protestbereiten
Kunden ein Management ihres individuellen Protest-Portfolios anbietet. Das klingt
komplizierter als es ist. Das Geschäftsmodell solcher Karma-Banken sieht
folgendermaßen aus: Hedge-Fonds stecken ihr Geld dorthin, wo es Boykott
gibt - d.h. sie wetten gegen den Erfolg sozial unverantwortlicher Unternehmen.
Und sie nutzen dabei die Ressource des globalen Konsumentenprotests. Formelhaft
gesagt: die Hedge-Fonds steuern das Geld bei, die Protestbewegungen den Boykott.
Sie nutzen die Ressource des globalen Widerstands. Man
könnte also von der Geburt des sorgenden Kapitalismus aus dem Geist des Protests
sprechen (**).
(Ebd., S. 167-168).Skeptiker werden einwenden, das alles sei nur
Fassade. Und wenn bisher von der Ethik des Kapitalismus die Rede war, hatten Zyniker
stets die Formel von Groucho Marx zur Hand: Der Schlüssel zum geschäftlichen
Erfolg sind Ehrlichkeit und fairer Handel. Wenn Du das vortäuschen kannst,
hast Du's geschafft. Doch ist Moral in der Wirtschaft tatsächlich bloßer
Schein? Der sorgende Kapitalismus kann sich auf zwei objektive Faktoren stützen:
erstens die Moral der Kooperation und zweitens die Logik der Netzwerke.
(Ebd., S. 168).Die Evolutionstheorie hat uns gelehrt, daß
es Altruismus nur geben kann, wenn er die Fitneß steigert. Und genau das
verbirgt sich hinter der modernen Tugend der Lernbereitschaft. Es handelt sich
dabei um den schwachen Altruismus des aufgeklärten Selbstinteresses, der
für den sorgenden Kapitalismus so charakteristisch ist. Die Kraft, die dessen
Moral wachsen läßt, steckt in den dauerhaften, weltweit vernetzten
Geschäftsbeziehungen. Kooperation erzeugt Moral. Daß Menschen miteinander
kooperieren, weil sie Vertrauen ineinander haben, ist für unser Thema mithin
völlig uninteressant. Uns interessiert umgekehrt, wie Kooperationsangebote
Vertrauen schaffen, und Vertrauen dann die Transaktionskosten reduziert.
(Ebd., S. 168).Raubtierkapitalismus dagegen ruiniert sich selbst.
Wer Erfolg hat, indem er die Dummheit und Schwäche der anderen ausnutzt,
zerstört damit die Umwelt, in der er Erfolg haben kann. Räuberische
Strategien zerstören also ihre eigenen Erfolgsbedingungen. Und genau umgekehrt
ist das Programm des sorgenden Kapitalismus eines, das gewinnt, ohne andere zu
besiegen. Es begreift den Erfolg des anderen als Bedingung des eigenen. Erfolg
habe ich demnach nicht durch Schwächung des anderen, sondern durch Stärkung
der gegenseitigen Interessen. Erfolg hat, wer mit Erfolgreichen kooperiert.
(Ebd., S. 168).Es geht also darum, Moral nicht ethisch, sondern
ökonomisch zu begründen - nämlich aus der Evolution der Kooperation.
Es ist intelligent, nett zu sein. Wer dagegen Erfolg sucht, indem er die Dummheit
der anderen ausnutzt, zerstört damit die Umwelt, in der er Erfolg haben kann.
Je komplexer das Wirtschaftssystem, um so mehr hängt der eigene Erfolg vom
Erfolg des anderen ab. Zusammenarbeit und Wettbewerb sind kein Gegensatz, sondern
die zwei Seiten derselben Medaille. Das verträgt sich sehr gut mit der Logik
des Marktes, der ja soziale Koordination durch wechselseitige Anpassung erreicht.
Der moderne Markt ist nämlich ein Netz von Transaktionen - und damit dem
Internet ähnlich. Genauer gesagt: Jeder Marktteilnehmer ist mit Millionen
anderer Marktteilnehmer kooperativ verknüpft, steht aber nur mit relativ
wenigen in unmittelbarem Wettbewerb. (Ebd., S. 168-169).Deshalb
reden heute alle von strategischer Allianz, symbiotischer Konkurrenz, aber auch
Ko-Evolution von Unternehmen und Kunden. In diesen Begriffen verbirgt sich die
Unternehmensphilosophie des sorgenden Kapitalismus, daß Erfolg gerade nicht
in der Vernichtung des Konkurrenten besteht. Open Source ist dafür ein gutes
Beispiel: Jeder nutzt es, keinem gehört es, jeder kann es verbessern. Die
Gelegenheiten, die Netzwerke bieten, erzeugen die nötige Motivation. Deshalb
kann man auch von der Geburt des sorgenden Kapitalismus aus dem Geist der Netzwerke
sprechen (**).
(Ebd., S. 169).
Eine mögliche Gerechtigkeit
Die Gleichheit
der Menschen ist eine Abstraktion. Sobald man betrachtet, wie sie in Geschichten
und Kausalitäten verstrickt sind, drängen sich die Ungleichheiten auf;
so wie Bauern im Schachspiel abstrakt betrachtet gleich stark sind, im Spielverlauf
aber höchst unterschiedliche Wichtigkeit bekommen. (Ebd., S. 170).Menschen
respektvoll zu behandeln heißt deshalb nicht, sie gleich zu behandeln. Und
wie wir gesehen haben, führt der Wunsch nach Gleichheit gerade nicht zur
Erfahrung der Anerkennung. (Ebd., S. 170).In seiner Schrift
über den mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte nennt Kant die
Ungleichheit unter Menschen die »reiche Quelle so vieles Bösen, aber
auch alles Guten.« (Immanuel Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte,
1786, A 20f., in: Werke, Band XI, S. 97). Vor allem die Geschichte der Wirtschaftssysteme
zeigt, daß Produktivität und Kreativität Resultate des Wettbewerbs
sind, der natürliche Ungleichheiten nutzt und materielle Ungleichheiten schafft.
Formen von Gleichheit können deshalb immer nur die ultimativen Luxusartikel
einer freien Wohlstandsgesellschaft sein. Arme Gesellschaften können sich
Gleichheit gar nicht leisten. (Ebd., S. 170).Der Neuerer
und der Erfolgreiche machen sich ungleich. Zurecht berufen sie sich auf die us-amerikanische
Verheißung, daß jeder nach seinem Glück streben darf. Frei und
gleich sollten ja alle US-Amerikaner, alle Menschen sein. Doch Glück kann
es nur geben, wenn es ungleich verteilt ist. Deshalb gehört zum Leben in
Freiheit die Fähigkeit, den Neid auf den Erfolgreicheren zu zügeln.
Niklas Luhmann hat sie »Reichtumstoleranz« genannt. (vgl. Niklas Luhmann,
Aufsätze und Reden, S. 49). Nicht die Ungleichheit soll man bekämpfen,
sondern die Privilegien - das war schon immer die liberale Position des Kapitalismus
und seiner Idee einer demokratischen Gleichheit, die Differenzierung nicht ausschließt;
aber diese Unterschiede müssen kontingent sein, also auch anders möglich.
Bürgerliche Gleichheit heißt: Jeder hat die gleiche Chance, ungleiche
Beträge zu akkumulieren. In der Aristokratie gab es ungleiche Chancen, ungleich
zu werden. In einer Demokratie gibt es gleiche Chancen, ungleich zu werden. Jeder
muß die gleichen Chancen haben, ungleich zu werden. (Ebd., S. 170).Die
sozialistische Kritik des Kapitalismus ist genau dann wahr, wenn sie nicht auf
Gleichstellung aller pocht - denn Ergebnisgleichheit zerstört gerade die
Chancengleichheit -, sondern wenn sie darauf hinweist, daß es für viele
Menschen gar keine Chancen gibt - z.B. einen Arbeitsplatz zu finden. Wer keine
Arbeit findet, oder wer bereit ist, jede Arbeit zu übernehmen, gehört
eigentlich nicht mehr zum System der Wirtschaft. Er toleriert es nur aus Ohnmacht.
Die wirklich Armen sind, wie der Dichter Peter Handke es einmal formulierte, »wunschlos
unglücklich«. Es fehlt ihnen der Mut, viel zu begehren. (Ebd.,
S. 171).Die Politik antwortet auf Ungleichheit mit Umverteilung.
Sie tut das auf drei Ebenen. Zum einen bietet sie öffentliche Güter
und Dienstleistungen an, also Dinge, die der einzelne Kunde nicht auf dem Markt
kaufen kann: militärische Verteidigung, polizeiliche Ordnung, Infrastruktur,
öffentliche Verkehrsmittel, Umweltschutz, Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz.
Zum zweiten sorgt die Politik für die Chancengleichheit der Bürger in
den Bereichen Recht, Gesundheit und Bildung. Das ist die eigentliche Ebene der
sozialen Inklusion, d.h. der Anerkennung eines jeden als Bürger. Und schließlich
gibt es, drittens, Transferleistungen für die Alten, die Armen und die Arbeitslosen.
(Ebd., S. 171).Nüchtern betrachtet, kann Gleichheit unter
modernen Lebensbedingungen nur heißen: Inklusion, die Möglichkeit der
Teilnahme aller an den sozialen Systemen. Und wer alle integrieren will, muß
auf die Gleichheit aller verzichten. Egalitarismus ist eine Anleitung zum Unglücklichsein.
Wir können das gute Leben, das uns die moderne Gesellschaft ermöglicht,
nicht leben, solange wir noch an Rousseau glauben. Und wir haben in den vergangenen
Kapiteln deutlich gesehen: Die größte Gefahr für die moderne Gesellschaft
geht nicht von denen aus, die asozial sind, sondern von denen, die zu sozial sind.
(Ebd., S. 171).Gleichheit ist in unserer Kultur zunächst einmal
ein schöpfungstheologischer Begriff. Wir sind gleich vor Gott, d.h. in unserer
Kreatürlichkeit. (**). Der christliche
Tod markiert die unerschütterliche Gleichheit von arm und reich, klug und
dumm, mächtig und abhängig; er dreht uns aus der Horizontalen der Weltlichkeit
in die Vertikale des Gottesbezugs. Gleich vor Gott sind wir als Sünder. Und
ein Theologe müßte sagen: Nur vor Gott sind alle Menschen gleich -
alles andere sind Säkularisationen und Dummheiten. (Ebd., S. 171).
Obwohl
die Gleichheit vor Gott aus dem Neuen Testament kaum ableitbar ist; offenbar ist
diese Egalitätsidee jüdischen Ursprungs. (Ebd.). |
Daß
Gott die Menschen frei und gleich geschaffen hat, heißt gerade nicht, daß
sie als soziale Wesen gleich wären. Gleich sind die Menschen nur im Blick
auf etwas, was außerhalb, oberhalb oder unterhalb des gesellschaftlichen
Lebens ist. Gleich sind die Menschen zum Beispiel, wenn man sie mit dem Tier vergleicht
- oder auf Gott bezieht. Säkularisiert und modern: im Blick auf die
Gesellschaft. Die ursprünglich christliche Gleichheit der Menschen war eine
Gleichheit der Schöpfung und der gläubigen Gottesnähe - »eines
in Christo Jesu«, wie Paulus sagt (vgl. Paulus, Gal., 3,28) -, die soziale
Ungleichheit hinnimmt! Sobald aber die Gleichheit nicht mehr religiös begründet
wird, muß das rein biologische Gattungsleben der Menschen verabsolutiert
werden. (Ebd., S. 171-172).Der Gleichheit vor Gott folgt
die Gleichheit vor dem Gesetz. Gleichheit heißt hier, daß das Recht
blind ist für die Ungleichheit. Das legt den Fehlschluß von den gleichen
Rechten auf die wesensmäßige Gleichheit aller Menschen nahe. Doch daß
wir in einer Gesellschaft von Individuen leben heißt eben, daß wir
nicht in einer Gesellschaft von Gleichen leben. Diese Individuen werden vom Staat
und vor dem Gesetz gleich behandelt. Aber man darf von der Gleichbehandlung -
und dem berechtigten Anspruch darauf - nicht auf Gleichheit schließen. Die
Gleichheit vor dem Gesetz schließt nicht Ungleichheit aus, sondern Willkür.
(Ebd., S. 172).Im sozialen Leben gibt es immer nur Gleichheit als
ob, denn Menschen sind nur als Personen gleich. Wir müssen also zwischen
»gleich sein« und »gleich behandelt werden« unterscheiden.
Die Geselligkeit einer »massendemokratischen« Kultur hat deshalb immer
etwas Künstliches. Sie entwickelt sich nicht aus einer natürlichen Gleichheit
der Menschen heraus, sondern umgekehrt entsteht Gleichheit nur im Ausdruck von
Geselligkeit. Man kann es auch so sagen: Geselligkeit ist ein Spiel, in dem man
so tut, als ob alle gleich wären und als ob alle gleichermaßen
wertgeschätzt würden. In jedem Spiel lernt man ja Gleichheit, sofern
sich jeder gleichermaßen Regeln unterwirft, über die sich alle Beteiligten
einig sind. Das ist eine sehr tiefe Einsicht der Soziologen Georg Simmel und -
auf dessen Spuren - Hugh D. Duncan: Nicht nur das Befehlen und das Gehorchen müssen
Menschen lernen, sondern sie müssen auch lernen, gleich zu sein. Und hier
haben wir gar keine Wahl. Wir müssen gleich sein können, wenn wir Freunde
und Kollegen haben wollen. (Ebd., S. 172).Auch im Blick auf
Gleichheit muß gelten, was Herbert Simon »satisficing« genannt
hat. Wir sollten zufrieden sein mit dem, was gut genug ist, statt mit absurdem
Aufwand nach der optimalen Lösung zu suchen. Soziales Satisficing würde
dann besagen: genug statt gleich viel. Das hat nichts mit Bescheidenheit sondern
lediglich mit der Einsicht in den sinkenden Grenznutzen aller Gleichstellungsbemühungen
zu tun. Die Schwierigkeit liegt allerdings darin, daß sich »gleich
viel« vielleichter berechnen läßt als »genug«. Und
genug heißt heute: genug für ein gutes Leben. (Ebd., S. 172-173).Man
sollte unterscheiden zwischen der vernünftigen Forderung, daß jeder
genug haben soll, und der utopischen Forderung, daß jeder gleich viel haben
soll. Daß es einem schlechter geht als anderen, kann immer noch heißen,
daß es einem gut genug geht. Wenn man viel von etwas hat, dann ist es moralisch
unerheblich, daß andere noch mehr davon haben. Man kann weniger haben, ohne
wenig zu haben. Wenn man einen schönen Garten hat, dann sollte es gleichgültig
sein, daß der Nachbar einen Park hat. Wer ein gutes Leben führt, will
es nicht maximieren. Ein beftiedigendes Maß an Befriedigung genügt.
Es kann mir schlechter als anderen gehen, ohne daß es mir schlecht geht.
(Ebd., S. 173).Wer dagegen auf Gleichheit fixiert ist, bemißt
seine Lebenszuftiedenheit nicht an dem, was ihm selbst zur Verfügung steht,
sondern an dem, was anderen zur Verfügung steht. Die Sorge um die Gleichheit
lenkt ihn ab von der Sorge um sich, also von der Frage, was wirklich wichtig ist.
Das soziale Satisficing berührt also die zentralen Fragen moderner Lebenskunst.
Und daß es sich hier tatsächlich um eine Kunst handelt, beweisen die
vielen Leute, die unfähig sind, sich an den Dingen des Lebens zu freuen,
obwohl es ihnen »gut genug« geht. Offenbar funktioniert ihr Gerechtigkeitsbegriff
wie eine Anleitung zum Unbehagen. (Ebd., S. 173).Seit der
Antike ist die westliche Kultur von einem Gerechtigkeitsbegriff geprägt,
der die blinde Justitia buchstäblich nimmt. Gerechtigkeit ist leidenschafts-
und vorurteilslos und schützt die universalen Rechte des Individuums ohne
Ansehen der Person und der Umstände. Diese Gerechtigkeit ist im Kern eine
auf Rechten basierte Unparteilichkeit. Bekanntlich verkaufen sich heute, außer
der »Linken«, alle politischen (= politisch
korrekten; HB) Parteien als Partei der Mitte (in
Wirklichkeit sind sie eine Partei der Linken, der linken Mitte und der Mitte
**). Der Begriff würde einen guten
Sinn haben, wenn er nicht am Parteienspektrum, sondern an Aristoteles orientiert
wäre. So heißt es in der »Nikomachischen Ethik«: »Die
Gerechtigkeit ist also eine Mitte, freilich nicht auf dieselbe Art wie die übrigen
Tugenden, sondern weil sie die Mitte schafft. Die Ungerechtigkeit dagegen schafft
die Extreme.« (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1133b32f, und 1137b12).
Großartig ergänzt wird diese Konzeption durch Aristoteles' Definition
der Billigkeit »als Korrektur des gesetzlich Gerechten«; gemeint ist
die Nachgiebigkeit dessen, der im Recht ist. (Ebd., S. 173).Ganz
anders steht es aber um die alttestamentarische Gerechtigkeitsvorstellung des
jüdischen Gesetzes. Die prophetische Ermahnung, gerecht zu handeln, hat sehr
viel mit Umständen und Leidenschaften zu tun. Gerechtigkeit zielt hier auf
sozialen Zusammenhalt und Frieden; sie ist orientiert an den Bedürfnissen
der Armen, Kranken und Fremden. Und indem der Gerechte die Unterdrückten
befreit, die Hungernden speist und den Heimatlosen ein Obdach gibt, fördert
er sein Selbstgefühl persönlicher Ganzheit. Das klingt verblüffend
aktuell. (Ebd., S. 173-174).Die paulinische Umwertung der
Werte liegt nun darin, daß Gott die menschliche Gerechtigkeit nicht anerkennt.
Das Gesetz der Juden verhüllt die Gerechtigkeit Gottes, die sich nur zeigt
aus Glauben zum Glauben. Daraus folgt aber, daß der menschliche Kampf gegen
die Ungerechtigkeit nicht selbst der Weg zur Gerechtigkeit Gottes ist. Deshalb
sagt Paulus den Korinthern: »Zieht nicht am fremden Joch mit den Ungläubigen.
Denn was hat die Gerechtigkeit zu schaffen mit der Ungerechtigkeit?« (Paulus,
2 Kor., 6,14). Richtiger heißt es in der Einheitsübersetzung:
»Was haben denn Gerechtigkeit und Gesetzwidrigkeit (anomia) miteinander
zu tun?« Die Kritik der Gesetzwidrigkeit führt nicht zur Gerechtigkeit.
Aber Paulus geht noch einen Schritt weiter in dem ungeheuerlichen Verdacht, daß
die menschlichen Werke der Gerechtigkeit des Teufels sein könnten. Denn wie
sich Satan als Engel des Lichts tarnt, so verstellen sich seine Handlanger als
Diener der Gerechtigkeit. (Vgl. Paulus, 2. Kor., 11,15) (Ebd., S.
174).Fast jeder erkennt Ungerechtigkeit, wenn er sie sieht oder
erlebt, aber fast niemand kann sagen, was Gerechtigkeit ist. Die Theorie der Gerechtigkeit
ist die negative Theologie des Rechts; auch die Jurisprudenz hat also ihren verborgenen
Gott. Natürlich ist die göttliche Gerechtigkeit des paulinischen Christentums
ein extremer Fall der Sakralisierung. Doch bei Lichte betrachtet,
sakralisiert jede Gesellschaft ihre Gerechtigkeitsprinzipien - und wehrt sich
deshalb gegen ihre Analyse. Daß es sich dabei um Notwehr handelt, kann man
sich an einer Analyse des Staatsrechtlers Carl Schmitt vergegenwärtigen,
die eine Dreifachübersetzung des griechischen Urworts Nomos als Nehmen, Teilen
und Weiden anbietet. (Ebd., S. 174).Dieser Übersetzungsvorschlag
sieht zunächst nach reiner Philologie aus, gewinnt aber rasch eine ungeheure
Brisanz. Die einfache Pointe liegt darin, daß man nur teilen kann, was man
vorher genommen hat. Das wird vergessen, wenn rechts- und staatsphilosophisch
von der ursprünglichen Teilung die Rede ist, in der die Gerechtigkeit sich
zeigt, indem jeder das Seine erhält und so das Recht an Eigentum knüpft.
Weiden schließlich meint Wirtschaften, also Produktion und Konsum. »Das
Teilen bleibt stärker im Gedächtnis als das Nehmen.« (Carl Schmitt,
Nehmen, Teilen, Weiden, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus
den Jahren 1924-1954, 1958, S. 101). Doch wenn man radikal denkt, also
die Sache an der Wurzel packt, stößt man immer wieder auf den Vorrang
des Nehmens: Landnahme, Eroberung, Kolonisierung, Imperialismus, Migration.
(Ebd., S. 174-175).Die drei Bedeutungen des Wortes Nomos treten
sehr deutlich auseinander, wenn man die drei großen Antworten auf die »soziale
Frage« miteinander vergleicht. Der Liberalismus löst die soziale Frage
durch das Weiden, also durch die Steigerung von Produktion und Konsum. Der Sozialismus
löst die soziale Frage durch das Teilen, nämlich durch radikale Umverteilung
der Güter. Hier knüpft der moderne Staat an, dessen Funktion im wesentlichen
darin besteht, das Bruttosozialprodukt umzuverteilen. Der Imperialismus löst
die soziale Frage durch das Nehmen, also durch koloniale Expansion. Und Carl Schmintt
sagt sehr schön: »Das Odium des Kolonialismus, das heute die europäischen
Völker trifft, ist das Odium des Nehmens.« (Carl Schmitt, Nehmen,
Teilen, Weiden, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren
1924-1954, 1958, S. 111). (Ebd., S. 175).Auch in
der Geschichte des Sozialismus kann man mit Hilfe der dreifachen Bedeutung des
Wortes Nomos eine interessante Differenzierung anbringen: Charles Fourier setzt
utopisch auf das Weiden, Proudhon setzt moralisch auf das Teilen, und Karl Marx
setzt geschichtsphilosophisch auf das Nehmen. Das sind unvermeidliche Theorie-Entscheidungen.
Um handeln zu können, brauchen wir nämlich ein Modell von der Wirklichkeit.
Und in jedem Modell steckt ein Vorurteil, das Folgen für die Art hat, wie
wir handeln. Deshalb unterscheiden sich Wirklichkeitsmodelle nicht nur in ihrer
Korrektheit sondern auch in ihrer Attraktivität. Und nicht immer sind die
wünschenswertesten Handlungen das Resultat wirklichkeitsnaher Modelle. Der
Organisationssoziologe James March spricht deshalb von gerechten Modellen, wenn
sie Handlungen hervorrufen, die die Menschen und die Welt besser machen. Insofern
kann man den Wahrheitswert eines Wirklichkeitsmodells von seinem Gerechtigkeitswert
unterscheiden. Sollte man deshalb im Zweifelsfall auf etwas Wahrheit verzichten,
um etwas mehr Gerechtigkeit zu erreichen? So jedenfalls könnte sich ein Politiker
von der Wissenschaft emanzipieren. (Ebd., S. 175).Von allen
Gerechtigkeitsvorstellungen hat die an der Wechselseitigkeit des Tauschs orientierte
auf den ersten Blick die größte Evidenz. So ist das Prinzip des Handels,
Wert um Wert, für Ayn Rand das Prinzip der Gerechtigkeit. Diese Theorie mag
us-amerikanisch naiv sein - in ihrer Kritik des kollektivistischen Altruismus
und der Selbstlosigkeit als Goldstandard des Guten ist sie gerade heute eine der
wichtigsten Stimmen einer Freiheit, die differenziert. Die sozialen Unterschiede
sind der Preis, den wir für die Freiheit in der modernen Gesellschaft bezahlen
müssen. Sie sind erträglich, so lange jedem die Möglichkeit des
sozialen Aufstiegs offen steht; so lange die Konflikte zwischen den sozialen Klassen
nicht in Feindschaft sondern in »Partnerschaft« ausgetragen werden;
und so lange der Staat die Rahmenbedingungen des Daseins garantiert. (Ebd.,
S. 175-176).Ayn Rand kämpfte gegen das Bild vom Menschen als
opferndem Tier, das sich heute sehr deutlich in den Ritualen der Umweltbewegung
zeigt. Hinter den grünen Lebensformen steckt nämlich das religiöse
Bedürfnis, zu opfern und andere zum Opfer zu zwingen. Umweltschutz als Opferritual
ist ein Seelenrettungszwangsangebot. Bedenkenswert ist vor allem Rands Mahnung,
den damit einhergehenden Altruismus nicht mit Freundlichkeit und dem Respekt vor
den Rechten anderer zu verwechseln. Doch so sehr diese Theorie auch heute noch
dynamische junge Unternehmerseelen in den USA beschwingt - der Komplexität
der modernen Gesellschaft wird sie nicht gerecht. Seit die Gesellschaft nicht
mehr reziprok, also tauschförmig funktioniert, gibt es überhaupt keinen
plausiblen Begriff von Gerechtigkeit mehr. Jedem das Seine - was sollte das sein?
(Ebd., S. 176).Gerechtigkeit kann man rein theoretisch durch Reziprozität
sehr gut veranschaulichen. Aber in der modernen Gesellschaft sind die Funktionsbeziehungen
so weit auseinander gezogen, daß ein Ausgleich nur noch auf Umwegen möglich
ist - etwa der Ausgleich dafür, daß die Besserverdienenden »progressiv«
besteuert werden. Es gibt hier keine direkte Reziprozität der Leistungen
mehr, keine Balance zwischen Geben und Nehmen, zwischen Berechtigung und Verpflichtung.
Niklas Luhmann hat das polemisch in dem Satz zugespitzt: »Das subjektive
Recht ist das ungerechte Recht.« (Niklas Luhmann, Die Ausdiffernzierung
des Rechts, 1981, S. 365). (Ebd., S. 176).Unser Zwischenfazit
lautet deshalb: Gerechtigkeit als Perfektionsformel paßt nicht mehr in die
moderne Welt. Was man stattdessen allenfalls noch erwarten kann, ist Rechtssicherheit.
Wenn wir zwischen Recht und Unrecht unterscheiden, ist damit noch nichts über
Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gesagt. Stattdessen verschiebt sich der Akzent
auf die Rechtssicherheit. Je komplexer das Recht, desto wertvoller die Rechtssicherheit.
Vor diesem Hintergrund kann dann Gerechtigkeit nur noch (nur noch!) als Konsistenz
des Entscheidens und damit als Redundanz des Rechts erscheinen. Eine mögliche
Gerechtigkeit wäre also nicht ein Wert, sondern die Reflexivität des
Wertens, die Wertung der Wertung. Das bedeutet aber auch, daß das, was im
Innern des Systems als kanonisch gilt, von außen betrachtet als kontingent
erscheint. (Ebd., S. 176).Wer nun dennoch an einem emphatischen
Gerechtigkeitsideal festhalten will, muß es nicht mehr im Recht sondern
in der Moral und der Politik verorten. Soziologisch betrachtet, gilt: Es
gibt keine gerechte Gesellschaft (**).
Aber politisch betrachtet, scheint es unerträglich, daß Gerechtigkeit
zu einem formalen Sonderwert des modernen Rechtssystems kondensiert werden soll.
Mit anderen Worten, die Frage: »Wieviel Gerechtigkeit kann eine Gesellschaft
sich leisten?« (Niklas Luhmann, Die Ausdiffernzierung des Rechts,
1981, S. 417) darf nicht gestellt werden. An diesem Tabu scheiden sich die Geister
in Utopisten und Funktionalisten, in Egalitaristen und Bürgerliche.
(Ebd., S. 176-177).Um die Grenzen der möglichen Gerechtigkeit
zu erkennen, braucht man die Tapferkeit der Bürgerlichkeit. Sie besteht darin,
auf ein Konzept von Glück als Wunscherfüllung zu verzichten. Niemand
war hier konsequenter als Kant, der in seiner Ethik das Glück/Unglück-Problem
systematisch ausschaltete - im Namen der Pflicht. Max Weber hat dieses Thema dann
großartig orchestriert, indem er die Tapferkeit der Bürgerlichkeit
als Quintessenz der Lebensweisheit von Platon bis Goethe herauspräpariert
hat. Sein Vortrag über den Beruf zur Wissenschaft endet bekanntlich mit der
Ermahnung, wir alle sollten nicht auf das Heil warten, sondern »an unsere
Arbeit gehen und der Forderung des Tages gerecht werden - menschlich
sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon
findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.« (Max Weber,
Soziologie, S. 339). (Ebd., S. 177).Diese Ermutigung
zur Bürgerlichkeit stützt sich auf den Mythos von der Spindel der Norwendigkeit,
den Platon auf den letzten Seiten seines Buches über den Staat etzählt.
Jeder wählt sich seinen Dämon und verharrt dann in der gewählten
Lebensbahn. Jeder wählt sein Los, nimmt das ihm Zufallende auf und ist alleine
schuld an der Wahl. Gerade weil es keine Taxis der Psychen, keine Rangordnung
der Seelen gibt, kommt alles darauf an, gute und schlechte Lebensweisen unterscheiden
zu können. Denn die besseren Lebensweisen machen eine gerechte Seele. Max
Weber übersetzt nun diese Wahl des eigenen Dämons durch bürgerliche
Pflichterfüllung, so wie Goethe sie in seiner berühmten Betrachtung
über die Grenzen der Betrachtung definiert hat: »Wie kann man sich
selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche,
deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. Was aber ist
deine Pflicht? Die Forderung des Tages.«, (Johann Wolfgang von Goethe, Maximen
und Reflexionen, Nr. 442f.). (Ebd., S. 177).Statt des
Glücks sucht der Bürger die Würde. Sie ist eine Sache von Symbolen,
Gesten und Institutionen. »Sich von den Institutionen konsumieren zu lassen
gibt einen Weg zur Würde für jedermann frei, und wer seine Pflicht tut,
hat ein Motiv, das von jedem anderen her unbestreitbar ist.« (Arnold Gehlen,
Moral und Hypermoral, 1969, S. 75). Das ist die moderne, säkularisierte
Form der Bewährung. Mit wunderbarer Ironie akzeptiert Arnold Gehlen hier
den Vorwurf, dieser Dienst an den Institutionen sei Entfremdung, denn Entfremdung
ist genau das, was die Menschen brauchen, um Distanz zu sich selbst zu bekommen
- Selbstverwirklichung durch Selbstentfernung. Das ist Gehlens große Einsicht:
die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung. Vom Egalitarismus bedroht, sucht
diese Freiheit Schutz in den Ritualen, Institutionen und Systemen. (Ebd.,
S. 177-178).Die Tapferkeit des Bürgers bewährt sich darin,
daß er seine Identität in der rituellen Aufrechterhaltung der sozialen
Situation sucht, seine Würde im Konsumiertwerden durch die Institutionen
findet und in der Funktionsfähigkeit der sozialen Systeme das moderne Äquivalent
für Gerechtigkeit anerkennt. In der modernen Gesellschaft kann sich die Ethik
nicht mehr am richtigen, guten Handeln des Individuums orientieren, weil wir in
ihr nur als Träger von Rollen agieren, die so, aber auch anders verteilt
sein können. Wie man je und je handeln muß, kann man also nicht mehr
an Ideen und Prinzipien ablesen. Deshalb hat Arnold Gehlen gefordert, daß
die Menschen mit Haut und Haaren in ihre Institutionen hineingehen und sich von
ihnen konsumieren lassen. Und genau so denkt es auch Niklas Luhmann - nur daß
er nicht mehr von Institutionen, sondern von Systemen spricht. »Unsere Existenz
hängt von funktional differenzierten Großsystemen der Informationsverarbeitung
ab. Deren Erhaltung im Transzendieren aller ontischen Faktizität ist das,
was wir als Menschen leisten. In ihnen und durch sie müssen wir uns auf die
Welt beziehen.« (Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965,
S. 180). (Ebd., S. 178).Modernisierung erscheint hier als
ein Prozeß, der die Menschen zwingt, vom alten Perfektionsideal der Gerechtigkeit
Abschied zu nehmen und sich zunächst mit der Rechtssicherheit, schließlich
aber nur noch mit der Funktionsfähigkeit der sozialen Systeme zu begnügen.
Die Ordnung des Rechts, das diese moderne Gesellschaft sichert, nennt Luhmann
»das Gerechte«. Mit der Säkularisierung der Gerechtigkeit zur
gesicherten Funktionsfähigkeit der Gesellschaft wehrt der Soziologe jeden
Wertbegriff der Gerechtigkeit ab. Und gerade damit hält er der antiken Gerechtigkeitsidee
die Treue. Der Blick zurück auf die Griechen befreit von den Wertphantomen,
die den Blick auf die moderne Gesellschaft verstellen. »Gerechtigkeit war
nie und nimmer ein Wert. Sie war vielmehr gedacht als Maß der
Besinnung gegenüber den exzessiven Ansprüchen aller Werte. Falls es
unserer Zeit vergönnt sein wird, das Gerechte in ursprünglicher Weise
selbst zu denken, wird dieses Denken sich nicht auf das Maß des Gleichen
richten, sondern auf die Technik der Systeme.« (Niklas Luhmann, Grundrechte
als Institution, 1965, S. 181). (Ebd., S. 178).Wie der
Philosoph das Sein muß der Jurist die Gerechtigkeit im Horizont der Zeit
denken. Wer einen Wert verwirklicht, verwirkt einen anderen - der dann später
verwirklicht werden kann. Ein Wert imponiert immer nur auf Kosten eines anderen,
und die Präferenzen wechseln immer rascher. Schon deshalb kann Gerechtigkeit
kein Wert sein, sondern nur das Maß des Opportunismus im Umgang mit den
Werten.« (Vgl. Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965,
S. 215). Mit anderen Worten: Daß die Systeme funktionieren, ersetzt das
Perfektionsideal der Gerechtigkeit. Modern setzen wir also nicht auf eine gerechte
Gesellschaft, sondern auf eine funktionsfähige. (Ebd., S. 179).Für
unsere Überlegungen zu einer möglichen Gerechtigkeit gibt es wohl keinen
besseren Anknüpfungspunkt als die große, mit Leidenschaft und Augenmaß
geführte Diskussion der frühen 1950er Jahre über das Bonner Grundgesetz
und seinen Begriff des sozialen Rechtsstaats. Es geht seit 1950 um die Einheit
des Gegensatzes von Rechts- und Sozialstaat. Wir sind nämlich gleich als
Staatsbürger, aber ungleich im Sozialen. Der Sozialstaat, der austeilt, indem
er umverteilt, richtet seine polemische Spitze gegen die Liberalen. Der Rechtsstaat
richtet sich ausdrücklich gegen den links- und rechts-sozialistischen Unrechtsstaat.
Und der Begriff »sozialer Rechtsstaat« ist der Versuch, der Brüderlichkeit
der französischen Revolution Verfassungsrang zu geben. (Ebd.,
S. 179).Geistesgeschichrlich geht der Rechtsstaat auf Kant, der
Sozialstaat auf Lorenz von Stein zurück. Der Rechtsstaat betont die Verfassung,
ihre Gewährleistungen und privilegiert den Sratus quo. Der Sozialstaat zielt
auf die Verwaltung, ihre Gewährungen und fördert die Reformen. Der Rechtsstaat
garantiert Freiheit und die Möglichkeit zur Entfaltung der Persönlichkeit;
der Sozialstaat verspricht Sicherheit und Teilhabe. Der Sozialstaat entsteht bei
Lorenz von Stein aus der Dialektik von Gleichheit (vor dem Gesetz) und Ungleichheit
(im gesellschaftlichen Leben). Und wo er von der »Verwaltung des gesellschaftlichen
Fortschritts« spricht, hat er eigentlich schon die Daseinsvorsorge als eigentliche
politische Gestaltungsdimension bestimmt. (Vgl. Lorenz von Stein, Handbuch
der Verwaltungslehre, 1870, S. 440). (Ebd., S. 179).In
der Diskussion des 20. Jahrhunderts ist der Begriff »sozialer Rechtsstaat«
zunächst von Hermann Heller und später dann von Carlo Schmid eingesetzt
worden - eingesetzt, nicht entwickelt. Christian-Friedrich Menger hat über
den Begriff »sozialer Rechtsstaat« gesagt: habent sua fata leges!
Gerade weil nicht klar ist, was es besagt, hat dieses Gesetzeswort sein eigenes
Schicksal. Nach dem Grundgesetz leben wir in einem sozialen Rechtsstaat, doch
Rechtsstaat und Sozialstaat stehen nicht in prästabilierter Harmonie. Der
Rechtsstaat gewährleistet, der Sozialstaat gewährt. (Ebd., S.
179).Die dialektische Argumentation von Christian-Friedrich Menger
geht dahin, daß gerade derjenige, der den totalitären Wohlfahrtsstaat
verhindern will, den vorsorgenden Sozialstaat fordern muß, weil nur die
staatliche Daseinsvorsorge das Entstehen jener sozialen Fragen verhindert, auf
die der Wohlfahrtsstaat die einzig mögliche Antwort zu sein scheint. Freiheit
kann demnach nur der Leistungen gewährende Sozialstaat gewährleisten,
weil wirtschaftliche Sicherheit die Bedingung realer Freiheit ist. Nach diesem
dialektischen Takt schlägt noch heute das Herz der Sozialdemokratie.
(Ebd., S. 180).Für einen Liberalen ist eine solche Freiheit
vor dem Hintergrund gleicher Lebenssicherheit natürlich gar keine echte Freiheit.
Der Kern der echten Freiheit steckt in der »Möglichkeit des Lebens
auf eigenes Wagnis« - so die prägnante Formel von Ernst Rudolf Huber.
(Vgl. Ernst Rudolf Huber, Rechtsstaat und Sozialstaat, in: Ernst Forsthoff
[Hrsg.], Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 181). Doch
das Bedürfnis nach Sicherheit wiegt schwerer als dieser Wunsch nach Freiheit.
Deshalb haben liberale Parteien immer einen schweren Stand; und deshalb setzt
sich das sozialdemokratische Denken auch in Parteien durch, die ganz andere Namen
tragen. Alle verbürgten Sozialleistungen gehen auf Kosten der Freiheit.
(Ebd., S. 180).Um den Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates
zurückzuweisen, müßte eigentlich schon die Erinnerung an die einfachen,
plausiblen Überlegungen genügen, die John Stuart Mill in seiner Schrift
über Freiheit angestellt hat. Der Staat darf gegen einen Bürger nur
Macht ausüben, um ihn an der Schädigung anderer zu hindern. Über
den eigenen Körper und Geist ist das Individuum souverän. Das eigene
körperliche und moralische Wohl des Bürgers ist also kein Grund zur
staatlichen Intervention. »Er kann nicht rechtmäßig gezwungen
werden, etwas zu tun oder zu unterlassen, weil es für ihn besser wäre,
so zu handeln, weil es ihn glücklicher machen würde, weil so zu handeln
nach der Meinung anderer klug oder sogar richtig wäre.« (John Stuart
Mill, Über Freiheit, 1859, S. 16) (Ebd., S. 180).Doch
Mill hatte eben noch keine Vorstellung von dem, was Arnold Köttgen dann die
Anlehnungsbedürftigkeit der Menschen an den Staat genannt hat. Der Paternalismus
des vorsorgenden Sozialstaates wird ihnen nicht nur aufgezwungen - sie begehren
ihn, denn er entlastet sie von der Bürde der Freiheit. Die verwaltete Welt
ist für viele eine Wunscherfüllung. Walter Erbe hat deshalb dem modernen
Menschen prinzipiell die Disposition zur Freiheit abgesprochen; deshalb füge
er sich so widerstandslos der Vorsorge des Sozialstaates. »Leider entspricht
der Krankheit des Verwaltens eine kaum minder verbreitete Krankheit des Verwaltet-werden-Wollens.«
(Walter Erbe, Die Freiheit im sozialen Rechtsstaat, in: Ernst Forsthoff
[Hrsg.], Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 313).
(Ebd., S. 180).Schon Dostojewskijs Großinquisitor wußte,
daß man die Freiheit besiegen muß, um die Menschen glücklich
zu machen. Nur allzu schnell lernen die Rebellen den Gehorsam und suchen den,
dem sie folgen dürfen. Aber sie alle ertragen das Glück der Schwachen,
die Befreiung vom Grauen der Freiheit durch Unterwerfung nur, wenn alle dasselbe
anbeten. Der Großinquisitor spricht hier sehr schön vom »Bedürfnis
nach einer Allgemeingültigkeit der Anbetung« (Fjodor Dostojewski, Die
Brüder Karasamov, 1879-'80, S. 409 und S. 417), das die Geschichte in
eine Geschichte verschiedener Formen des Götzendienstes verwandelt, in dem
die Menschen sich von der Last der Freiheit befreien. Heute tanzen sie um das
Goldene Kalb des Sozialen. (Ebd., S. 181).Wir
haben aber schon gesehen, daß man der verwalteten Welt, dem Paternalismus
des vorsorgenden Sozialstaates und der erlernten Hilflosigkeit der Anlehnungsbedürftigen
nicht mehr einfach mit der Parole »Freiheit oder Sozialismus« (**)
entgegentreten kann. Betreuung ist nicht mehr das einfache Gegenteil der Selbständigkeit.
Modernes Leben steht nämlich unter dem Motto: je freier, desto abhängiger.
Um selber mehr leisten zu können, macht man sich von fremden Leistungen abhängig.
Man verzichtet auf Herrschaft, um besser steuern zu können. Mit Ernst Forsthoffs
prägnanter Formulierung: »Dieser Schrumpfung des beherrschten Lebensraums
steht die außerordentliche, durch die technischen Mittel ermöglichte
Ausweitung des effektiven Lebemraums gegenüber.« (Ernst Forsthoff,
Verfassungsprobleme des Sozialstaats, in: Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit,
1968, S. 146). Abhängigkeit von staatlichen Leistungen und Spielräume
der Existenz wachsen miteinander. Das verkennt Helmut Schelskys berühmte
Gegenüberstellung des betreuten und des selbständigen Menschen. Aber
sie macht eine wichtige Gegenrechnung auf. Gegen die Abhängigkeit vom leistenden,
gewährenden Staat bietet die Rechtsstaatlichkeit keinen rechten Schutz mehr.
Deshalb droht uns ständig, durch Betreuung beherrscht zu werden - erst betreut,
dann abhängig, dann gebeugt. (Ebd., S. 181).Wenn wir
uns vor diesem Hintergrund den gewährenden und umverteilenden Steuerstaat
anschauen, der sich seit über einem halben Jahrhundert als das tertium
comparationis von Rechtsstaat und Sozialstaat objektiviert hat, so zeigt sich
zwar keine ernst zu nehmende Alternative, aber doch die Möglichkeit einer
veränderten Stellung des Gedankens zu dieser Objektivität. Man könnte
begreifen, daß das Wort »sozial« selbst keinen juristischen
Sinn hat, sondern ein rein politischer Zielbegriff ist, der vor allem auf die
Güterverteilung bezogen ist. Der Kern des Rechtsstaats ist die Verfassung,
die gewährleistet, der Kern des Sozialstaats ist die Verwaltung, die gewährt.
Diese Spannung kann man nicht abbauen, sondern nur institutionalisieren. Und aus
all dem folgt für unser Thema: Man sollte die Entzweiung von Rechtsstaat
und Sozialstaat positivieren, statt sie durch den Tabubegriff der »sozialen
Gerechtigkeit« (**)
zu verdecken. An der Gerechtigkeit muß man arbeiten wie an einem Mythos.
Und - um im mythischen Bild zu bleiben - es ist das große politische Abenteuer
unserer Zeit, zwischen der Szylla des Laisser-faire und der Charybdis des Egalitarismus
hindurchzusteuern. (Ebd., S. 181-182).
Die politische Rechte steht für Bürgerlichkeit (in: Der Tagesspiegel,
13.08.2010)Im
politischen Spektrum Deutschlands gibt es seit den Tagen des schwarzen Riesen
Helmut Kohl ein Vakuum auf der Rechten. Angela Merkel hat aus der CDU endgültig
eine sozialdemokratische Partei gemacht. Das bezeugt nicht nur seit Jahren die
Krise der SPD, sondern neuerdings auch der spektakuläre Rückzug Konservativer
CDU-Fürsten aus der politischen Verantwortung. Die vernünftige Anpassung
der SPD an die moderne, globalisierte Welt hat zur Abspaltung der »Linken«
geführt, die dem Ressentiment der Zukurzgekommenen und DDR-Bonzen den Sozialismus
von vorgestern als Patentrezept anbietet. Könnte die Anpassung der CDU an
den sozialdemokratischen Zeitgeist heute nicht auch zur Abspaltung einer »Rechten«
führen, die den Erfolgreichen, denen man bisher erfolglos den Namen »Leistungsträger«
angedient hat, eine neue geistige, nämlich konservative Heimat anbietet?
(Ebd.).Das größte Potenzial für eine rechte Partei
steckt natürlich in den frustrierten Unionswählern. Die Werte, um die
es hier geht, lassen sich genau benennen. Die Rechte ist gegen den Paternalismus
des vorsorgenden Sozialstaates, für mehr Selbstverantwortung und den unzweideutigen
Schutz des Eigentums. Die Rechte ist für einen fröhlichen Patriotismus
und eine christliche Leitkultur. Die Rechte hält am Vorrang der traditionellen
Familie und an einem mehrgliedrigen Bildungssystem fest. Mit einem Wort: Die
politische Rechte steht für Bürgerlichkeit. Wenn es ihr gelingen sollte,
sich als Partei zu formieren, wäre unsere Gesellschaft endlich auch parlamentarisch
balanciert. Die neue politische Struktur würde dann so aussehen: Linke-SPD-Grüne-FDP-CDU-Rechte
(aber leider sind alle »etablierten Parteien«
nach links verrückt [**|**|**|**|**]!
HB). (Ebd.).Die erste Aufgabe einer anspruchsvollen
politischen Rechten wäre, zu sagen, was die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
der Medienlinken zu sagen verbietet. Mehr noch als Ideen braucht man dazu Mut,
denn in unserer Öffentlichkeit herrscht keine Waffengleichheit. Die Medienlinke
hofiert die Linken und denunziert die Rechten. Auf der Kommunistischen Plattform
darf man fröhlich tanzen. Aber wehe, wenn man der »Jungen Freiheit«
ein Interview gibt. Gerechtfertigt wird das mit der alten deutschen Selbstverständlichkeit,
das Herz schlage links und der Geist wehe links. (Ebd.).Viele
Akademiker, Journalisten und Intellektuelle sind aber gar nicht links, sondern
maskieren sich nur so, um in ihren Institutionen überleben zu können.
Wer einen »rechten« Satz sagt oder schreibt, bekommt viel Zustimmung
hinter vorgehaltener Hand. Das ist das Sarrazin-Syndrom: Du hast ja recht,
aber das kann man doch nicht sagen .... Hier zeigt sich besonders deutlich, daß
sich der nachträgliche Kampf gegen die Nazis in den letzten fünfzig
Jahren zu unserer größten Denkblockade entwickelt hat. Sie besteht
in der grotesken Gleichung: konservativ=reaktionär=faschistisch. Diese Keule
schwebt über jedem, der versucht, sich seines eigenen Verstandes ohne Anleitung
der »Gutmenschen« zu bedienen. (Ebd.).Eine rechte
Partei des selbstbewussten Konservativismus kann natürlich keine Kopfgeburt
sein, sondern müßte aus dem »Volk« hervorgehen. Dennoch
haben die Intellektuellen hier eine Schlüsselstellung. Denn das mächtige
Tabu über einer politischen Rechten könnte nur durch ein Coming-out
der Starintellektuellen gebrochen werden: »Ich bin gar nicht rot-grün.
Ich bin konservativ und das ist gut so! (Ebd.).Und
gerade auch die Linksintellektuellen müßten ein großes Interesse
am Erstarken einer geistigen Rechten haben, um wieder das eigene Profil schärfen
zu können. Es gibt ja heute keinen einzigen deutschen Linksintellektuellen
von Format und das liegt eben daran, daß die öffentlichen Gegenstimmen
fehlen. (Ebd.).
Die neuen Jakobiner (in: Focus, 13.09.2010)Für
einen guten Europäer gibt es nichts Wertvolleres als die Meinungsfreiheit.
Das Recht auf Meinungsfreiheit und Redefreiheit stellt aber gerade die abweichende
Meinung, den Dissens, ins Zentrum der Freiheitsidee. Von dieser Einsicht ist die
Elite der Berliner Republik unendlich weit entfernt. Abweichende Meinungen werden
heute schärfer sanktioniert als abweichendes Verhalten. Diese Sanktionen
laufen zumeist nicht über Diskussionen, sondern über Ausschluß.
(Ebd., S. 64).Nun könnte man denken, daß ja immerhin
noch die Gedanken frei sind. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, daß derjenige,
dem man das Sprechen und Schreiben beschneidet, noch frei denken könne. Es
gibt keine Freiheit des Denkens ohne die Möglichkeit einer öffentlichen
Mitteilung des Gedachten. Und das gilt nicht nur für die wenigen Schreiber,
sondern gerade auch für die vielen Leser. Gedankenfreiheit bedeutet für
die meisten Menschen nämlich nur die Möglichkeit, zwischen einigen wenigen
Ansichten zu wählen, die von einer kleinen Minderheit öffentlich Redender
und Schreibender verbreitet worden sind. Deshalb zerstört das Zum-Schweigen-Bringen
abweichender Meinungen die Gedankenfreiheit selbst. (Ebd., S. 64).In
der massendemokratischen Öffentlichkeit können sich die Meinungen der
Einzelnen kaum zur Geltung bringen. Um so stärker ist der Druck der öffentlichen
Meinung auf den Einzelnen und sein Meinen. Aus Angst vor Isolation beobachtet
man ständig die öffentliche Meinung. Und öffentlich heißt
eben: die Meinung, die man ohne Isolationsangst aussprechen kann. Wir fürchten
also nicht, eine falsche Meinung zu haben, sondern mit ihr allein zu stehen. Die
Isolationsangst regiert die Welt. (Ebd., S. 64).Wer den Zorn
der anderen fürchtet, schließt sich leicht der Meinung der scheinbaren
Mehrheit an, auch wenn er es eigentlich besser weiß. Er bringt sich selbst
zum Schweigen, um seinen guten Ruf nicht aufs Spiel zu setzen. Das ist der Ansatzpunkt
für eine Dynamik, die Elisabeth Noelle-Neumann »Schweigespirale«
genannt hat. Sie wird heute von der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
genutzt. Sie ist zum einen durch die Verschmelzung von Thema und Meinung gekennzeichnet
- man darf zu bestimmten Themen nur eine Meinung haben. (Ebd., S. 64).Zum
anderen haben wir es mit einer Moralisierung am Medienpranger zu tun - dem »Politisch-Unkorrekten«
wird der Schauprozeß gemacht (siehe z.B. die Hexenverfolgungen
und Schauprozesse im medialen »Volksgerichtshof« gegen Eva Herman
und Thilo Sarrazin; HB [**|**|**|**|**|**]).
Hier dominiert vor allem bei den »engagierten« Journalisten eine blasierte
moralistische Selbstgerechtigkeit. Vergeblich würde man sie daran erinnern,
daß Journalisten nicht belehren, sondern berichten sollen. (Ebd.,
S. 64).All das schüchtert ein. Aus Angst davor, sich mit der
eigenen Meinung zu isolieren, beobachtet man ständig die öffentliche
- was man so sagt und meint. Doch was man so sagt, ist zumeist die Meinung gut
artikulierter Minderheiten. Mit anderen Worten: In der Mediendemokratie werden
die Menschen durch eine Sprache versklavt, die als die unwiderrufliche der Mehrheit
auftritt, in Wahrheit aber von gut organisierten Minderheiten geprägt wird.
Die öffentliche Meinung verhilft also immer häufiger nicht der Majorität,
sondern der Orthodoxie zum Ausdruck. Diese Orthodoxie heißt heute Politische
Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**).
(Ebd., S. 64).Wohlgemerkt: Die Mehrheit kann
durchaus abweichender Meinung sein, aber sie täuscht sich oft über die
Mehrheit, denn niemand kann wissen, ob eine Meinungsäußerung der Ausdruck
eines unabhängigen Urteils, einer Informationskaskade oder der Selbstzensur
ist. Es fällt uns ja schwer zu akzeptieren, daß wir unfähig sind,
eine eigene Meinung zu Afghanistan oder zur Pflegeversicherung zu haben. Und deshalb
sind wir anfällig für Propaganda - die Meinung von der stange. Es wäre
naiv, von den Politikern mehr Zurückhaltung zu erwarten. Aber genau hier
liegt eben die Verantwortung des echten Journalisten. (Ebd., S. 64-65).Wenn
die öffentliche Meinung in unserer Gesellschaft gesprochen hat, bringt kaum
mehr jemand den Mut zum Widerspruch auf. Ihr Druck ist so groß, daß
gesetzlicher Zwang vielfach überflüssig wird. Und so breitet sich ein
ewiger Friede des Intellekts aus. Niemand wagt es, einem unabhängigen Gedankenzug
zu folgen. Deshalb gibt es auch keine großen Denker mehr. (Ebd., S.
65).Abweichende Meinungen, die sich doch noch aus der Deckung wagen,
werden sozial bestraft. Die soziale Intoleranz fügt heute zwar niemandem
mehr körperlichen Schaden zu, aber wer anders denkt, muß seine Meinung
maskieren oder auf Publizität verzichten. (Ebd., S. 65).Längst
haben die Funktionäre der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
die Stellen der sozialen Kontrolle dessen besetzt, was als diskutabel gilt. Damit
koppeln sie die Moral vom gesunden Menschenverstand ab. Der Politischen Korrektheit
geht es nicht darum, eine abweichende Meinung als falsch zu erweisen, sondern
den abweichend Meinenden als unmoralisch zu verurteilen. Man kritisiert abweichende
Meinungen nicht mehr, sondern haßt sie einfach. Wer widerspricht, wird nicht
widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht. (Ebd., S. 65).Die
beste Definition der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
findet sich übrigens schon in Thomas Manns 1918 erschienenem Großessay
»Betrachtungen eines Unpolitischen« dort schreibt er von der »Auferstehung
der Tugend politischer Gestalt, das Wieder-möglich-Werden eines Moralbonzentums
sentimental-terroristisch-republikanischer Prägung, mit einem Worte: die
Renaissance des Jakobiners«. (Ebd., S. 65).Unsere Gesellschaft,
die sich weder an Religion noch an bürgerlicher Tradition und gesundem Menschenverstand
orientieren kann, wird zum willenlosen Opfer eines Tugendterrors, der in Universitäten,
Redaktionen und An tidiskrimini erungsäm tern ausgebrütet wird. Luther
predigte noch spirituelle Freiheit in politischer Knechtschaft; wir haben heute
spirituelle Knechtschaft in politischer Freiheit. (Ebd., S. 65).Die
neuen Jakobiner berufen sich darauf, daß viele Meinungsäußerungen
Ehre, Scham und Anstand verletzen. Mit dem Vorwurf der Volksverhetzung (**|**|**)
ist man in Deutschland sehr rasch bei der Hand. Doch auch die Immoralität
einer Meinung ist kein Grund dafür, ihr Bekenntnis und ihre Diskussion zu
beschneiden. Auch wenn nur ein Einziger eine abweichende Meinung hat, gibt das
der überwältigenden Mehrheit nicht das Recht, ihn zum Schweigen zu bringen.
(Ebd., S. 65).Wer eine Diskussion zum Schweigen bringt, beansprucht
für sich selbst Unfehlbarkeit. Im Anspruch auf Unfehlbarkeit steckt aber
die Unfähigkeit, einen Irrtum zu korrigieren -und irren ist menschlich. Zur
Korrektur eines Irrtums reicht Erfahrung nicht aus; man muß die Erfahrung
auch interpretieren, und dazu braucht man die Diskussion. Deshalb darf es keine
Einschränkung der Freiheit zum Widerspruch und zur abweichenden Meinung geben.
Nur dann, wenn ich weiß, daß die anderen die Freiheit zum Widerspruch
haben, kann ich mich auf meine eigene Meinung verlassen, als ob sie die Wahrheit
wäre. (Ebd., S. 65).Dagegen mobilisieren die neuen
Jakobiner Zauberwörter wie »Multikulturalismus«, »Respekt«
und neuerdings »Diversität«. Diese Begriffe leben davon, daß
sie undurchdacht bleiben. Denn nur wenn es eine Leitkultur gjbt, kann man multikulturell
eingestellt sein. Man kann nicht tolerant sein, wenn man keine eigenen Werte zu
verteidigen hat. Man kann nicht offen sein, wenn man nicht selbstbewußt
ist. Ich stehe zu meinen überzeugungen -im vollen Bewußtsein der Alternativen.
Und ich muß nicht respektieren, was ich toleriere. Toleranz ist nämlich
das Klima der Koexistenz von Andersgläubigen. Friedliche Koexistenz gjbt
es nur durch Verzicht auf Konsens. (Ebd., S. 65).Es ist deshalb
eine Schicksalsfrage für jeden Liberalen, daß er in den neuen Jakobinern
seine natürlichen Feinde erkennt. Von der FDP kann man das leider nicht behaupten;
gerade hat Westerwelle vor der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
kapituliert. Freiheit ist für den Liberalen das selbstverständliche
Recht, anders zu sein, ohne dafür bestraft und an den Pranger gestellt zu
werden. Liberal ist ein Mensch, der nicht dem Impuls nachgibt, denjenigen, der
eine andere Meinung hat, zu maßregeln und zu bestrafen. Mit einem Wort:
Feindschaft fällt dem Liberalen schwer. Aber in der Konfrontation mit den
neuen Jakobinern muß er erkennen, daß er in seiner Existenz in Frage
gestellt wird. (Ebd., S. 65).
Die fröhlichen Sklaven (in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.2012)Entmündigung
droht dem Bürger auch durch den Sozialstaat: Er kauft den Bürgern Freiheit
ab - für das Versprechen der Sicherheit und Gleichheit. Freiheit
und Ordnung stehen in einem wechselseitigen Steigerungsverhältnis. Paradox
formuliert: je freier, desto abhängiger. Dieses empfindliche Gleichgewicht
zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit kann jederzeit in neue Formen
freiwilliger Knechtschaft umschlagen. Es gibt nämlich eine dunkle Rückseite
jener Paradoxie. Man kann zwar Freiheit nur wahrnehmen, wenn man gesichert ist.
Und es ist eine Trivialität, daß Freiheit an ganz profane Bedingungen
geknüpft ist: im wesentlichen an Geld und Bildung. Aber die berechtigte Sorge
um die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit hat uns die Freiheit selbst
vergessen lassen und ein soziales Gefängnis errichtet, das heute vorsorgender
Sozialstaat heißt.Dieses Gefängnis braucht keine
Ketten und Schlösser. Die Angst vor der Freiheit schließt die Menschen
ein. Denn nicht Freiheit wollen die meisten, sondern das Glück der Sicherheit
und der Bequemlichkeit. Freiheit dagegen ist anstrengend; man muß sie in
heller, wacher Lebensführung leisten. Die verwaltete Welt ist deshalb für
viele eine Wunscherfüllung. Der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates
wird ihnen nicht nur aufgezwungen, sondern sie begehren ihn auch, denn er entlastet
sie von der Bürde der Freiheit.Infantile Haltung der Bürger
gegenüber dem StaatDie Gefühlslage des Einzelnen ist also
ambivalent. Mit dem Terror seiner Wohltaten rückt uns der vorsorgende Sozialstaat
derart auf den Leib, daß die Distanz der Kritik eingezogen wird. Wir haben
es dann mit Menschen zu tun, die den Politikern zutiefst mißtrauen und zugleich
alles vom Staat erwarten. Das bedeutet aber: Nicht die »Politikverdrossenheit«
ist das Problem der Massendemokratie, sondern die infantile Haltung der Bürger
gegenüber dem Staat.Wohlfahrtsstaatspolitik erzeugt Unmündigkeit,
also genau den Geisteszustand, gegen den jede Aufklärung kämpft. Und
so wie man Mut braucht, um sich des eigenen Verstandes zu bedienen, so kann man
nur mit Stolz das eigene Leben selbständig leben. Für den Wohlfahrtsstaat
ist persönlicher Stolz die größte Sünde. Vater Staat will
nicht, daß seine Kinder erwachsen werden. Für ihre Daueralimentierung
bezahlen die mit ihrer Würde. An die Stelle von Freiheit und Verantwortung
treten Gleichheit und Fürsorge. Der demokratische Despotismus ist die Herrschaft
der Betreuer, die das Leben der vielen überwachen, sichern und vergnüglich
gestalten. Dieser demokratische Despotismus entlastet den Einzelnen vom Ärger
des Nachdenkens genauso wie von der Mühe des Lebens. Ein Netz präziser,
kleiner Vorschriften liegt über der Existenz eines jeden und macht ihn auch
in den einfachsten Angelegenheiten abhängig vom vorsorgenden Sozialstaat.
Diese Überregulierung des Alltags verwandelt die Befolgung des Gesetzes aus
einem Sollen in ein Gehorchen. Ein guter Test dafür ist das Steuernzahlen.
An die Stelle bürgerlichen Rechtsbewußtseins ist soziale Kontrolle
getreten.Schutz vor der Freiheit zum »Schlechten«Das
paternalistische Staatshandeln »im Interesse der Bürger« ignoriert
aber das Interesse der Bürger. Jeder Paternalismus behandelt nämlich
Menschen als Material. Das gilt auch für die wohlmeinenden Reformer, die
Belohnungen und Strafen zu einer Technik der Fremdbestimmung organisieren. Ihr
Erfolgsprodukt sind die Gutmenschen. Mittlerweile benutzen sie sogar schon das
Glück der Ungeborenen, um uns die Freiheit zu rauben. Wir sollen Energie
sparen, den Müll trennen, sozial sein und nicht rauchen. So schützt
uns der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates vor der Freiheit zum »Schlechten«
- und verkauft das als Befreiung.Der Wohlfahrtsstaat hat den Bürgern
die Freiheit abgekauft, nämlich für das Versprechen der Sicherheit und
Gleichheit. In der Tat bringt die fröhliche Sklaverei unter kapitalistischen
Bedingungen fast allen einen akzeptablen Lebensstandard und hohe Lebenssicherheit.
Der vorsorgende Sozialstaat ist deshalb die Hoheitsverwaltung der Hilflosen. Die
moderne Gesellschaft zerfällt nicht mehr in Arbeiter und Kapitalisten, sondern
in Betreute und Betreuer. Dabei entwickelt sich auf beiden Seiten eine unheilvolle
Eigendynamik. Die Betreuer und Sozialarbeiter haben ein Interesse an der Hilflosigkeit
ihrer Klientel, während diejenigen, die es gelernt haben, sich hilflos zu
fühlen, nur noch mit der entlastenden Erklärung ihrer Unfähigkeit
beschäftigt sind.Diese Tendenzen sind überall in der westlichen
Welt zu beobachten. .... Die Gleichheit durch das Gesetz ersetzt heute die Gleichheit
vor dem Gesetz. Um die Dramatik dieses Vorgangs zu verstehen, genügt ein
Minimum an Freiheitsempfindlichkeit. Wem sich aber bei dem Wort Gleichstellungspolitik
nicht die Nackenhaare sträuben, der wird die Idee der Freiheit nie begreifen.Die
Krankheit des Verwaltet-werden-wollensAuch in modernen Massendemokratien
wollen die Menschen natürlich Freiheit. Aber das Freiheitsverlangen tritt
immer gemeinsam mit zwei ihm feindlichen Leidenschaften auf: dem Wunsch nach Gleichheit
und dem nach Führung. Rasch überlagert dann das Interesse daran, daß
es dem anderen nicht besser geht als mir, die Chance, daß es mir selbst
gut geht.Die Krankheit des Verwaltet-werden-wollens hat auch eine aggressive
Außenseite. Mit der Freiheit verlieren die vielen den Mut - und mit dem
Mut die Motivation. Dann weckt die Freiheit anderer nur noch eine Wut, die sich
zum Ressentiment einer hartnäckigen Knechtsgesinnung verfestigt. Dieses Ressentiment
der fröhlichen Sklaven hat eine raffinierte Dialektik ausgebildet. Wer die
Freiheit als eigene Möglichkeit versäumt hat, haßt die Freiheit
der anderen. Aber dieser Haß verkleidet sich als paternalistische Wohltat.
Das ist der Kern aller sozialpolitischen Kontroversen.Der vorsorgende
Sozialstaat entzieht seinen Bürgern Freiheiten, um sie zu bessern und vor
sich selbst zu schützen. Dieser Paternalismus erscheint denen gerechtfertigt,
die glauben, man müsse die Menschen vor der eigenen Willensschwäche
schützen. Die Betreuer gehen davon aus, daß tatsächliche Freiheit
durch eine beschränkte Wahlfreiheit für Inkompetente ersetzt werden
muß: Sie streben eine Sozialvormundschaft im Namen der Mündigkeit an.Benutzerfreundliches
Design des SozialenWenn es um Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge
geht, hilft es den Menschen nicht, wenn man ihnen eine Fülle von Wahlmöglichkeiten
anbietet. Je komplexer die gesellschaftliche Lage, desto wichtiger wird ein Sozialdesign,
das Bürger und Kunden in die richtige Richtung schubst. Der Paternalismus
schützt mich vor Willensschwäche und Irrationalität. Die Leute,
die nicht wissen, was gut für sie ist, brauchen also »Wahl-Helfer«
im wortwörtlichen Sinne, kompetente Menschen, die ihre Entscheidungen wohltätig
beeinflussen.Die modernen Paternalisten gehen also davon aus, daß
einige den legitimen Anspruch haben, das Verhalten anderer Leute so zu beeinflussen,
daß diese länger, gesünder und besser leben. Ihr Ziel ist ein
benutzerfreundliches Design des Sozialen. Es wird ein allgemeiner Konsens mit
dem politisch korrekten (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
Verhalten unterstellt, jedes abweichende Verhalten muß ausdrücklich
deklariert werden: Ich will keine Riester-Rente. Ich will meine Organe im Todesfall
nicht spenden.
Der vorsorgende Sozialstaat versteht das Glück als universalisierbaren
Wert. Deshalb kann sich die Wohlfahrtspolitik der roten, grünen und
schwarzen (und gelben, Herr Bolz! HB) Sozialdemokraten
als Entwicklungshilfe eines sich selbst bestimmenden Einzelnen begreifen.
Eine schöne Paradoxie: Der Staat betreibt Mitbestimmung bei der Selbstbestimmung
des Einzelnen. So wird Politik zum Glückszwangsangebot. (Ebd.).
Niklas Luhmann: Das Genie der Gesellschaftstheorie (in: Neue Zürcher
Zeitung, 08.12.2017, 05:30)
Vor 90 Jahren kam der deutsche Kultautor Niklas Luhmann zur Welt:
Was bleibt?
Niklas Luhmann hat schon vor Jahrzehnten, also lange bevor Globalisierung
ein Allerweltswort wurde, unterstellt, daß es nur noch einen möglichen
Gesellschaftsbegriff gebe, nämlich den der Weltgesellschaft. Es gibt
keine territorialen Grenzen mehr für Geld, Information, Bildung,
Energie, Umweltzerstörung, Terror. Und wir erfahren täglich
aus den Nachrichten, daß nationale Politik nicht umgehen kann mit ökologischen
Problemen, dem Problem der Durchsetzung von Menschenrechten, den Forderungen
nach «humanitären» Interventionen, modernen Völkerwanderungen
und weltweiten Finanzspekulationen.
Gerade von dieser einheitlichen Weltgesellschaft ist aber eine einheitliche
Weltbeschreibung nicht mehr möglich, weil es keinen Standpunkt außerhalb
von ihr und keine privilegierte Beobachterposition in ihr mehr gibt. Es
gibt kein Außerhalb der Gesellschaft, keine Repräsentation
ihrer Einheit und keine privilegierte Position in ihr. Es gibt keine Unschuld
in der Gesellschaft und keine Kritik an ihr.
Aber es gibt Luhmanns monumentales Werk «Soziale Systeme».
Er suchte vor allem bei Nichtsoziologen Inspiration und hatte vor allem
bei Nichtsoziologen Erfolg. Die Gründe für die Luhmann-Inflation
der letzten Jahrzehnte liegen auf der Hand. Seine Systemtheorie war und
ist konkurrenzlos, weil niemand sonst den Mut zur Gesellschaftstheorie
hat.
Die letzte große Erzählung.
Daß die Systemtheorie der Gesellschaft so großen publizistischen
Erfolg hatte und hat, hängt natürlich mit dem Ruin des Marxismus
zusammen. Seit man diese letzte große Erzählung darüber,
was die Welt im Innersten zusammenhält, nur noch als Lügenmärchen
empfand, gab es ein gesellschaftstheoretisches Vakuum. Luhmann hatte den
fabelhaften Mut, dieses Vakuum mit einem fünfundzwanzigjährigen
Alleinunternehmen zu füllen. Er hatte keine Angst vor der Philosophie
und erst recht nicht vor der Theorietradition seines Fachs. Er nahm es
mit allen auf.
Luhmann (8. 12. 1927 6. 11. 1998) wollte nicht fortsetzen, sondern
radikal neu anfangen. Deshalb betonte er den Bruch mit der Tradition,
also mit Max Weber, aber auch mit Talcott Parsons.
Am Anfang der Soziologie Luhmanns steht das Erstaunen über das
Funktionieren: daß es so geht und daß es immer noch geht. Der Begriff
Funktion meint eine Stelle, die immer auch anders, aber nicht beliebig
besetzt werden könnte. So macht sein Denken den entscheidenden Schritt
von der Fülle des Seins zur Vakanz der Leerstellen. Alles, was ist,
wäre auch anders möglich, aber nicht beliebig anders, nicht
alles auf einmal, nicht unbedingt besser und fast nichts kann man
ändern.
Weil die Welt komplex ist, fehlen uns immer Informationen.
Weil Informationen fehlen, sind wir immer unsicher.
Daß alles, was ist, ersetzt werden kann, heißt, daß
es immer Alternativen gibt, die mit dem, was ist, funktional gleichwertig
sind. Der moderne Mensch darf Sicherheit also nicht in den Fakten, sondern
muß sie in den Funktionen suchen. Die Rationalität des Systems
ersetzt die Vernunft der Aufklärung. Lebensführungssicherheit
gibt es nur noch durch Systemvertrauen. Modern heißt «Sicherheit»
also nicht «Verläßlichkeit des Seins», sondern
«Verfügbarkeit anderer Möglichkeiten». Die Moderne
ist das Zeitalter, das sich auf nichts und niemanden festlegt.
Weil die Welt komplex ist, fehlen uns immer Informationen. Weil Informationen
fehlen, sind wir immer unsicher. Weil wir unsicher sind, gibt es für
uns keine wahre Antwort, sondern nur den Konflikt der Meinungen. Zwietracht,
Widerstreit, Dissens. Deshalb müssen wir ohne Grundlagen leben und
Abschied vom Prinzipiellen nehmen.
Unsere Gesellschaft stabilisiert sich durch Variation. Dazu trägt
der Einzelne auf ganz prosaische Weise bei, indem er frei zwischen dem
wählt, was der Markt ihm bietet. Daß wir Zukunft haben, aber
kein Wissen von der Zukunft, ist Vorder- und Rückseite derselben
Freiheit. Wir bewegen uns auf ein Ziel zu, das sich selbst bewegt. So
gilt, daß man die Zukunft nicht prognostizieren, sondern nur provozieren
kann.
Aufgeklärt heißt abgeklärt.
Luhmanns Soziologie versteht sich deshalb als ironische Wissenschaft,
die nicht das Wissen erweitert, sondern die Fähigkeit schult, in
Ungewißheit zu leben. Er war aber nicht der naive Konservative,
der auf Begründungsunbedürftigkeit pocht, sondern der abgeklärte
Aufklärer, der Unbegründbarkeit akzeptiert. Wenn man etwas nicht
begründen kann, kann man doch immerhin versuchen, es in seiner Funktion
transparent zu machen. Gerade der Aufgeklärte muß die Abgeklärtheit
aufbringen, Entscheidungen zu akzeptieren und mit Unverstandenem einverstanden
zu sein.
Was Luhmann zum Kultautor gemacht hat, ist seine Theorietechnik der
Verfremdung des Vertrauten. Seine Maxime lautete: Suche Theorien, die
das Normale als unwahrscheinlich darstellen und das Selbstverständliche
unverständlich erscheinen lassen. Jeder Leser, der sich durch den
Abstraktionszauber der Systemtheorie nicht mehr erschrecken läßt,
wird aber auch bemerken, daß Luhmann ein Wissenschaftshumorist war.
Er liebte nicht nur ironische Formulierungen, sondern er benutzte Ironie
auch als Reflexionsform. Sie versetzt das Denken in eine Oszillation zwischen
verschiedenen Beobachtungsperspektiven. Die moderne Gesellschaft ist kontingent,
und deshalb braucht ihre Theorie Ironie.
Am Menschen vorbei.
Es ist leicht, eine Liste von Fehlanzeigen aufzustellen, in der notiert
wird, was bei Luhmann nicht vorkommt. Nie ist von Schmerz oder Lust, vom
Begehren oder vom Willen zur Macht die Rede. Souverän ignoriert er
Charisma und Geist, Gemüt und Gefühl, kurzum all das, was man
die Natur des Menschen nennt. Deshalb kann man als unbefangener Leser
leicht den Eindruck bekommen, Luhmann wisse nicht, was uns angeht und
was uns antreibt. Die Systemtheorie argumentiert bewußt am Menschen
vorbei, denn der Mensch ist kein System und deshalb kommt er bei
Luhmann nicht vor. Und immer dann, wenn der Mensch im Mittelpunkt steht,
steht er der Wissenschaft im Weg.
«Der Mensch» erwies sich für die Soziologie schon früh
als zu unscharfer Begriff er wurde deshalb von Max Weber durch
«Handlung» ersetzt. Aber auch der Begriff «Handlung»
erwies sich dann als zu unscharf und wurde von Luhmann durch «Kommunikation»
ersetzt (doch auch der ist zu unschaft und wurde
von mir durch «Sprache» ersetzt; HB). Die Humanität
seiner Systemtheorie bewährt sich nun aber gerade in diesem methodischen
Antihumanismus. Denn nur eine radikal antihumanistische Theorie kann konkrete
Individuen ernst nehmen. Die Austreibung des Menschen aus der Soziologie
schafft Platz für die vielen konkreten Individuen.
Mit souveränen Politikern, mutigen Unternehmern, charismatischen
Propheten, großen Autoren und genialen Künstlern konnte Luhmann
deshalb nichts anfangen er mußte sie wegerklären. Größe
war für ihn nichts anderes als eine soziale Konstruktion, mit der
man Variationen erklärt. Der Einzelne, der die Welt verändert,
ist ein Zufall, den die Gesellschaft auswählt. An die Stelle der
Genies und großen Männer tritt der große Evolutionsmechanismus
von Variation und Selektion, von Auflösung und Rekombination. Klassiker
waren für Luhmann die «Fünf-Sterne-Helden der Tradition»,
deren Exegese den Soziologen «Schutz gegen Gedanken- und Arbeitslosigkeit»
biete.
Luhmann: sein eigener Mythos.
Luhmann hatte sichtlich Freude an der Selbstmystifikation. Er stellte
sich nicht als Urheber seiner Werke dar, sondern als eine Art Zufallsgenerator,
der ein Gewebe von Kombinationsmöglichkeiten im Universum der Wissenschaft
produziert als ob sich die Theorie der sozialen Systeme selbst
schreiben würde. Im Zentrum dieser Selbstmystifikation steht der
berühmte Zettelkasten, den er zum Zentrum seiner Produktivität
erklärt hat. Sein Cogito lautet: Der Zettelkasten denkt.
Niklas Luhmann wäre demnach kein genialer Autor, sondern ein Computer,
der selektiert und kombiniert. Wissenschaftliche Verdienste seien in Wahrheit
Zufälle. In Entdeckern und Erfindern walte nicht der Forschergeist,
sondern eine «Zufallssortiermaschine». Das klingt bestechend
kalt und trocken aber Luhmann selbst war das beste Gegenbeispiel.
Er hat versucht, seine Einzigartigkeit hinter der prosaischen Gestalt
des Verwaltungsjuristen zu verstecken.
Aber was ist er uns heute anderes als ein Klassiker, ja ein Genie der
Theorie? (Ebd.).
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