Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen
(2008)
Religion
hat Konjunktur. Doch zumeist handelt es sich dabei um einen neuheidnischen Religionsersatz
wie den Götzendienst des Ich oder der Natur, die Sozialoffenbarung der Linken
oder den Konsumismus der Angepaßten. Räumt man diesen Unsinn beiseite,
so wird ein Wissen der Religion erkennbar, das alein uns helfen kann, jene großen
Fragen zu beantworten, vor denen die Wissenschaften verstummen müssen - die
Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Umgang mit der eigenen Endlichkeit. 2000
Jahre Christentum haben sich in unseren Traditionen und Institutionen abgelagert.
Und es ist die Aufgabe jedes guten Europäers, sich an dieser objektiven Religion
abzuarbeiten. Das gilt gerade auch für diejenigen, die nicht an Gott glauben.(Ebd.,
Klappentext). |
Wir guten Europäer
Vor den Toren der modernen
Gesellschaft wächst der Protest der Ausgeschlossenen und Ausgestoßenen.
Die Ausgeschlossenen zeigt uns das Fernsehen: in den trostlosen Favelas, auf den
überfüllten Schiffen der Schleuser, in den Plattenbauten der Hartz-IV-Existenz.
Doch es gibt auch seelische Globalisierungsverlierer. Gott und die Seele sind
die Ausgestoßenen der modernen Gesellschaft. Deren gottfremde Ideologie
ist taub gegenüber dem Ich, das sich selbst aussagen, und gegenüber
dem Gott, der sich offenbaren will. Der Soziologe Niklas Luhmann hat sich einmal
gefragt, ob es denn nicht möglich wäre, daß die beiden Ausgestoßenen,
Gott und Ich, sich in kommunikationsloser Verständigung verbünden. Das
wäre »das anarchische Bündnis von Gott und Seele« (Robert
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration, 1959,
S. 185), das die Götzendiener des Staates mehr fürchten als den Aufstand
des »Prekariats«. (Ebd., S. 9). **
Paulus
hat diese Seele erfunden, die Luther dann zum religiös autonomen Individuum
ausgeformt hat. (Ebd.). |
Noch
vor wenigen Jahren schien das undenkbar. Die metaphysischen Probleme waren nicht
gelöst sondern vergessen. Der Teufel wurde nicht mehr gefürchtet, auf
Gott nicht mehr gehofft. Theodor W. Adorno hat das die »Sozialisierung metaphysischer
Indifferenz« genannt. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Offenbar
haben wir die Zeiten hinter uns, die glauben konnten, die Religion hinter sich
gelaßen zu haben. Daß Religion nur durch Religion ersetzt werden kann,
scheint heute unstrittig. Mag auch der Einzelne ohne ihren Trost auskommen - die
moderne Gesellschaft kann nicht auf die Funktion der Religion verzichten. Das
scheint der vernunftmäßigen Selbstgewißheit der Aufklärung
und ihrem wissenschaftlich-technischen Projekt der Moderne zu widersprechen. Doch
gerade die Entzauberung der Welt durch Wissenschaft hat überhaupt erst die
Unvermeidlichkeit der Religion evident gemacht. (Ebd., S. 9).Deshalb
liegen Glaube und Wissen auch nicht mehr im Streit. Der Religion geht es um Sein
oder Nicht-Sein; der Wissenschaft geht es um das Anders-sein-können von allem.
Zwar wird die Wissenschaft als Grundlage unserer technischen Weltbeherrschung
für uns immer wichtiger; aber zugleich wird sie in ihrer schwindelerregenden
Abstraktheit für unsere Alltagspraxis und Weltorientierung immer unwichtiger.
Gerade indem sie sich souverän behauptet und jeden Zweifel an ihrer Legitimität
niederschlägt, erzeugt die Wissenschaftswelt ein Vakuum der Bedeutsamkeit.
(Ebd., S. 9-10).Moderne Wissenschaft ist zentrifugal - sie entfernt
sich vom Menschen und seiner Erde in astronomische und Nano - Dimensionen. Religion
dagegen ist zentripetal - christlich verweist sie auf das historische Ereignis
der Inkarnation, neuheidnisch auf die kosmische Ausnahme Erde. Gerade die Erfolge
von Wissenschaft und Technik führen zu einer Rückwendung des humanen
Interesses: Man fliegt in den Weltraum, um schließlich den kostbaren blauen
Planeten Erde zu entdecken. Man erzieht zur Multikulturalität, um schließlich
die Einzigartigkeit der europäischen Kultur zu entdecken. Man startet ein
Jahrhundertexperiment des Atheismus, um schließlich die Unvermeidlichkeit
der Religion zu entdecken. (Ebd., S. 10).Der
größte Denker des 20. Jahrhunderts, Martin Heidegger, hat am Ende seines
Denkwegs die planetarische Übermacht der modernen Technik als vom Menschen
prinzipiell unbeherrschbar eingeschätzt und die Philosophie in der Kybernetik
verschwinden sehen: »Nur noch ein Gott kann uns retten.« (Martin Heidegger,
in: Der Spiegel, # 10, 1966 [**]). Wir
stellen diese These im folgenden nicht in Frage, sondern als Frage. Doch weder
die These noch die Frage haben irgend etwas mit Technikkritik oder Wissenschaftsskepsis
zu tun. Es geht um sehr viel mehr. Wissenschaft ist an die absolute Grenze gestoßen
- es gibt keine Kommensurabilität oder gar Kommunikation des Menschen mit
dem Kosmos. Und deshalb kommt es heute zur großen Rückwendung, zum
Perspektivenwechsel von Wissenschaft zu Religion. (Ebd., S. 10).
Das
wäre dann ein Gott gegen einen Gott, denn die Technik ist selbst zum Kultzentrum
eines religiösen Glaubens geworden. So spricht Carl Schmitt (Der Begriff
des Politischen, 1927, S. 84) ausdrücklich von einer »Religion
des technischen Fortschritts«. (Ebd.). |
Carl
Schmitt hat in seinem Exemplar der »Legitimität der Neuzeit«
von Hans Blumenberg diesen berühmt gewordenen Titel korrigiert in: »Die
Legitimierung der Neugier«. Damit ist das Selbstverständnis sowohl
der modernen Wissenschaft als auch ihres großen Apologeten genau getroffen.
Es gibt ja kein Ende des wissenschaftlichen Fragens, und umgekehrt bleiben die
großen Fragen nach dem Sinn wissenschaftlich unbeantwortet. Vor diesem Hintergrund
ist leicht zu erkennen, welche außerordentliche Entlastung der fromme Mensch
durch die Dogmen seiner Religion erfährt. Dogmen schützen vor dem endlosen
Kreisen in unbeantwortbaren Fragen. Sakralisierung heißt nämlich unbefragbar
machen. Nur so erreicht man das Begründungsunbedürftige. Es gibt keinen
Ersatz für die Weisung der Religion. (Ebd., S. 10).Sinnfragen
lassen sich nicht mit Informationen beantworten. Aber eine gute Geschichte stiftet
Sinn; und die beste Geschichte, die wir kennen, ist die von Jesus Christus. Das
gilt ganz unabhängig von ihrer Wahrheit. Wer das für ein christliches
Vorurteil hält, hat recht aber das besagt nichts. Denn für uns - Abendländer,
Europäer, Westler - ist jenseits dieses Vorurteils nirgendwo. Wenn wir also
heute auf die Suche nach dem verlorenen Sinn gehen, dann führt sie uns auf
einen der Jakobswege; und es sind abzählbar viele. Das gilt auch für
den religiös unmusikalischen Beobachter, der vom Glaubensminimum ausgeht.
Vielleicht ist Religion heute nicht mehr die Antwort auf die Frage nach dem Sinn,
sondern nur noch die Unterstellung, daß die Frage einen Sinn hat. Man könnte
dann sagen: Die Religion hält die Wunde des Sinns offen. (Ebd., S.
10-11).In der modernen Welt hat Komplexität keinen Gegenbegriff
mehr. Und gerade deshalb wächst die Sehnsucht nach Einfachheit. Spezifisch
modern ist der Prozeß, den die Soziologen Ausdifferenzierung nennen, also
die Aufspaltung unserer Gesellschaft in autonome Teilbereiche, die alle ihrer
eigenen Logik folgen und sich gegenseitig nichts zu sagen haben; früher hat
man von Wertsphären gesprochen, heute spricht man nüchterner von sozialen
Systemen. Und gerade deshalb fasziniert Ganzheitlichkeit als ein anderer Name
für das Heil. (Ebd., S. 11).Sein heißt heute Ersetzbarsein.
Der Fachbegriff, der diese Erfahrung versiegelt, lautet Kontingenz: Alles, was
ist, wäre auch anders möglich. Und gerade deshalb wächst der Absolutheitshunger,
die Sehnsucht nach dem unersetzlich Einfachen. Die Leere des Absoluten hat ein
Vakuum erzeugt, das die von der Aufklärung verdrängte Religion machtvoll
ansaugt. Religion ist ja die Form des Gefühls fürs Absolute, und sie
wird genau in dem Augenblick wieder aktuell, da die spezifisch modernen Lebens-
und Erkenntnisformen wie Relativismus, Individualismus und Ausdifferenzierung
nur noch ein kulturelles Unbehagen erzeugen. (Ebd., S. 11).Das
Absolute der Religion profiliert sich gegen zwei unerträgliche Alternativen,
nämlich gegen das Totale der Politik und das Universale der Ethik. Totale
Politik war ja das Unheil des 20. Jahrhunderts, gegen das die universalistische
Ethik dann ein Heilmittel verschrieben hat, das uns alle überfordert. Um
aus dieser Falle herauszukommen, muß man offenbar bereit sein, die Ausnahme,
d.h. das Außeralltägliche zu denken. Zu denken? Oder muß es heißen:
Zu glauben? Aber daß genau an diesem Punkt Glauben und Denken zusammenfallen,
ist ja die Pointe der christlichen Religion: Zugang zur Wahrheit hat nur der,
der die Offenbarung annimmt. (Ebd., S. 11).Nur Religion gibt
uns die Möglichkeit, die Wertalternativen, die uns von Politik, Wissenschaft
und Wirtschaft aufgedrängt werden, zurückzuweisen. Auch ein so konsequenter
Parteigänger des Projekts der Moderne wie Jürgen Habermas zeigt neuerdings
in seiner für viele seiner Anhänger übertaschenden und verstörenden
Hinwendung zu Glaubensthemen vor allem ein Interesse an den Rejektionswerten der
Religion, mit denen man Marktlogik und Technologik in ihre Schranken weisen kann.
Mit jeder Verwerfung einer Wertalternative bildet sich Subjektivität; und
es ist von unschätzbarem Wert für unser Thema, daß der Philosoph
Gotthard Günther diese Rejektionsfunktion als logischen Ausdruck von Subjektivität
durch die christliche »Haltung des Das-bin-ich-nicht oder Das-ist-nicht-mein-Reich
illustriert.« (Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer
operationsfähigen Dialektik, 1968, Band II, S. 323). (Ebd., S.
11-12).Wie sieht nun diese subjektivitätsstiftende Zurückweisung
von Wertalternativen konkret aus? Religion ist anti-ökonomisch, denn Heil
und Verdammnis sind nicht knapp. Im Glauben gibt es weder Knappheit noch Konkurrenz;
daran ändert übrigens auch der Prädestinationsglaube nichts. Daß,
wie ja Jesus selbst sagt, nur wenige auserwählt sind, bedeutet nämlich
nicht Knappheit des Heils, sondern nur den Ausschluß einer »Verkündigung
für Jedermann« (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1920,
S. 380). Religion ist anti-soziologisch, denn im Leben des Gläubigen gibt
es kein »taking-the-role-of-the-other«. Religion ist anti-ethisch,
denn das jüngste Gericht ist nicht gerecht; es wird nicht moralisch geurteilt.
Vor allem aber: Religion ist anti-biologisch. Die Lebensführung des Gläubigen
eröffnet eine Anti-Darwin-Welt, in der Mitleid die Herrschaft der Selektion
bricht. (Ebd., S. 12).Vor allem die christliche Religion
kultiviert die Sensibilität für das Leiden an der Evolution, am Kampf
ums Dasein, an den Aggressionen von Rivalität und Selbsterhaltung. Mit anderen
Worten: Das Christentum ist die Religion der »Nicht-Darwin-Welt« (Hans
Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 552), in der sich der Mensch
als »Ausnahme der Natur« (Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen
Welt, 1975, S. 791),verstehen darf. Und das ist heute plausibler als je zuvor.
Denn unsere moderne Zivilisation schützt uns weitgehend vor grausamen Erfahrungen
- und deshalb kann die Schwelle der Empathie gesenkt werden - und deshalb wird
Sympathie universal anwendbar. Eine christliche Kultur des universalen Mitleids
setzt also voraus, daß wir keine schrecklichen Erlebnisse wie Hunger und
Krieg mehr haben. (Ebd., S. 12).Nun gibt es eine theokratische
und eine atheistische Form, zu all dem nein zu sagen. Theokratisch ist die heilige
Wut der Fundamentalisten, atheistisch der aufklärerische Furor der Darwinisten.
Wir werden ihnen im folgenden eigene Kapitel widmen. Doch wir wollen versuchen,
die Frage nach der Religion zwischen Fanatismus und Zynismus zu stellen. Atheisten
können die Antworten des Glaubens negieren, aber nicht die Fragen. Wie kann
man ohne Gott menschlich sein? Was ist an Religion mehr als Kompensation und spirituelle
Unterhaltung? (Ebd., S. 12-13).Aufmerksame Leser werden schon
bemerkt haben, daß die Frage nach der neuen Religiosität der Weltgesellschaft
immer wieder durch »christlichen Glauben« eng geführt wird. Ähnliches
ist ja aus der Globalisierungsdiskussion vertraut, die wir (wir!) aus der Perspektive
des »okzidentalen Rationalismus« führen. Doch geht es überhaupt
anders? »Wir guten Europäer« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche
Werke, Band V, S. 813) können die Frage nach der Weltgesellschaft nur
als Frage nach der Eigenart des Westens stellen - das ist nicht nur unvermeidlich,
sondern auch berechtigt. (Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie,
1919, Band I, S. 1). Die Selbstbehauptung des christlichen Abendlandes kann nicht
im Anspruch auf universale Gültigkeit, sondern nur in seiner Einzigartigkeit
gelingen. Außerhalb des Westens erscheint der Universalismus nämlich
als Imperialismus - und wir verstehen das! Gerade auch darin sind wir einzigartig:
Nur der Westen ist selbstkritisch. (Ebd., S. 13).Das ist
rasch erklärt. Es ist ja längst eine kulturhistorische Selbstverständlichkeit
geworden, davon auszugehen, daß das Abendland zwei verschiedene Wurzeln
hat, nämlich Athen und Jerusalem. Philhellenismus und Christentum vertragen
sich aber nicht. Da die abendländische Kultur nun ihre christliche Grundlage
nicht aufgeben kann und ihr Ideal der griechischen Antike nicht aufgeben will,
ist sie in sich selbst kritisch. Und genau diese infrastrukturelle Selbstkritik
macht die westliche Kultur bis zum heutigen Tag einzigartig. (Ebd., S. 13).Die
Selbstkritik des Westens hat allerdings längst pathologische Züge angenommen.
Und dafür gibt es einen massiven Grund: Weiße europäische Männer
haben das Abendland geprägt - das ist das Ärgernis. Als Reaktionsbildung
darauf hat sich in Intellektuellenkreisen eine düstere Selbstbeschreibung
durchgesetzt. Die Multikulturalisten konstruieren das Abendland als Schuldzusammenhang,
von dem uns nur die Anderen erlösen können. Wer Europa so von innen
betrachtet, bedient bestens die anti-westlichen Affekte derer, die Europa von
außen betrachten. (Ebd., S. 13).Die höchsten Werte
des Westens sind für die anderen zweitrangig, aber für uns können
sie es nicht sein. Wenn die Selbstkritik des Westens nicht die Form einer Identifikation
mit dem Angreifer annehmen soll (in bestimmten Kreisen hat
sie sie schon vor langem angenommen!HB), muß sie die lange Geschichte
vom kulturellen Zuhause erzählen. Wie sollte man sich als guter Europäer
seiner Identität vergewissern, wenn nicht in der kritischen Identifikation
mit der Geschichte des christlichen Abendlandes? Mit dieser Gegenfrage könnte
man auch als Agnostiker die Gretchenfrage beantworten. (Ebd., S. 13).Die
Freie Welt nennt sich heute Weltgemeinschaft; gemeint ist aber nach wie vor die
westliche Welt. Und wir, die Bürger dieser Welt, können uns nicht, aber
müssen uns doch damit abfinden, daß unsere wichtigsten Werte nur für
den Westen wichtig sind. Den Ausweg aus dieser Aporie weist das Problem der Kulturwissenschaften.
Nur wenn die eigenen Werte nicht mehr als universelle Wahrheiten gelten, kann
es Kulturwissenschaften geben. Und doch setzt jede Kulturwissenschaft Wertideen
voraus, mit denen man zur Welt Stellung nehmen kann. (Ebd., S. 14).»Man
streitet nicht, man vergleicht.« (Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft,
S. 271). So resümiert Niklas Luhmann einen rein funktionalistischen Begriff
der Kultur des Vergleichs der Kulturen. Doch das funktioniert nur in der Eigenwelt
der Wissenschaft und antwortet nicht auf die Frage nach dem Selbstverständnis
des guten Europäers. Rüdiger Altmann spricht im Blick auf diese kornparatistische
Kulturwissenschaft spöttisch vom »entproblematisierten Europäer,
der sein Amüsement dabei findet, Kammerdiener seiner Kultur zu sein und froh
ist, wenn er einen noch so schlüpfrigen Notausgang aus seiner Geschichte
erreicht.« (Rüdiger Altmann / Johannes Gross, Die neue Gesellschaft,
1958, S. 21). (Ebd., S. 14).Wir schließen stattdessen
an die ursprüngliche Fragestellung Max Webers an, der Kultur in ihrer Eigenart
und Bedeutsamkeit für uns analysiert hat, d.h. im Bewußtsein der unbewußten
Auslese durch Wertideen. Werte steuern die »unbewußt erfolgende Auswahl«
(Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Band I, S.
1). Sie färben die graue Faktizität einer Lebenswirklichkeit zur Eigenart.
Die Frage: Was ist »für uns« wichtig, wissenswert und bedeutsam?
führt letztlich zu der einfachen Formel: Kultur = Wirklichkeit + Wertidee.
Und für uns guten Europäer geht es konkret um 2000 Jahre Christentum
als Leitkultur, die wir nicht äquivalent ersetzen können. Es geht um
die objektive Religion, wie sie sich in den Traditionen und Institutionen der
europäischen Kultur manifestiert. (Ebd., S. 14).Leitkultur
ist ein Begriff, der in Politik und Feuilleton einen Proteststurm hervorgerufen
hat, denn er gehört in das Begriffsfeld von Tradition, Autorität, Vorurteil
und hat deshalb in aufgeklärten Ohren einen bösen Klang. Doch Philosophie
und Wissenschaft haben uns in den letzten Jahrzehnten immer wieder gezeigt, daß
die aufgeklärte Aversion gegen Vorurteil, Tradition und Leitkultur selbst
einem Vorurteil der Aufklärung entspringt. Am 30.04.2004 schreibt Joseph
Kardinal Ratzinger in einem Brief an den Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde:
»Ein Staat kann sich nicht völlig von seinen eigenen Wurzeln abschneiden
und sich sozusagen zum reinen Vernunftstaat erheben, der ohne eigene Kultur und
ohne eigenes Profil alte für Ethos und Recht relevanten T raditionen gleich
behandelt und alle öffentlichen Äußerungen der Religionen gleich
eimtuft. Was in der Diskussion der letzten Jahre ziemlich unzulänglich mit
dem Wort ,Leitkultur' angesprochen war, ist in der Sache fundiert.«
(Ebd., S. 14-15).Alles Verstehen ist nur in einer Vorurteilsstruktur
möglich, und es gehört deshalb zu einer Abklärung der Aufklärung,
das Vorurteil zu rehabilitieren. Jede Kultur ist ein unentrinnbares Vorurteil.
Und immer dann, wenn sich etwas von selbst versteht, hat uns ein Glaube im Griff.
Auch wenn man vergleicht oder beobachtet, wie andere beobachten, kann man doch
immer nur an einem Ort sein; man hat immer nur eine Perspektive: »soweit
ich sehe ...«. (Ebd., S. 15). **
Heute
weithin unstrittig. Vgl. etwa Hans-Georg Gadamer, Vorurteile als Bedingung
des Verstehens; Herbert Simon, Bounded Rationality; Mary Douglas, Culture
is Bias; Stanley Fish, Beliefs have You. (Ebd.). |
Wer
über die neue Religiosität der Weltgesellschaft schreibt, tut das in
der Regel als Outsider. Atheisten schreiben über Christen, Christen über
Islamisten, Monotheisten über das Neuheidentum. Man liest die Texte der anderen
nicht gläubig, sondern kritisch - und bringt sie genau dadurch in Rage. Das
läßt sich auch im vorliegenden Fall nicht vermeiden, in dem ein religiös
Unmusikalischer Betrachtungen über Fromme und Frömmelnde anstellt.
(Ebd., S. 15).Der Begriff des »religiös Unmusikalischen«
stammt von Max Weber. (**). Er erhellt
nicht nur sehr schön die Darstellungsperspektive seiner religionssoziologischen
Aufsätze, sondern auch die der fast gleichzeitigen Freudschen Psychoanalyse.
Für Weber wie für Freud geht es nicht nur um die wissenschaftliche Analyse,
sondern auch ums Erwachsenwerden: die Erziehung zur Realität. Sie kennen
zwar beide nicht den Gott der Liebe, wohl aber den Teufel und die Dämonen
der Gewalt. Das Resultat dieser Erziehung zur Realität wäre Männlichkeit.
Und das hieß für Max Weber konkret, nicht auf den Heiland zu warten,
sondern den eigenen Dämon zu finden, in einer letzten Stellungnahme zum Leben
(Wertidee!) das eigene Schicksal zu wählen. (Ebd., S. 15).
Vgl.
Max Weber: »Ich bin zwar religiös unmusikalisch und habe weder Bedürfnis
noch Fähigkeit, irgendwelche seelischen Bauwerke religiösen Caharakters
in mir zu errichten. Aber ich bin nach genauer Selbstprüfung weder antireligiös
noch irreligiös« (Zitat aus: Marianne Weber, Max Weber, S. 339).
(Ebd.). |
Aber der
religiös Unmusikalische ist nicht irreligiös; er hat einen Sinn für
den Sinn der Religion. Und vor allem weiß er: Nur Religion kann den Vielen
die Stopp-Regel für die Suche nach dem Sinn geben. Freuds Schrift über
die Religion hat den Titel »Die Zukunft einer Illusion«. Doch wenn
Religion eine Illusion ist, dann - und das werden die nächsten Seiten zeigen
- eine notwendige. (Ebd., S. 15).»Nun sag, wie hast
du s mit der Religion?« (Johann Wolfgang von Goethe, Faust [I],
1808, S. 149) So lautet bekanntlich die Gretchenfrage, gestellt von einem einfachen,
schönen Mädchen, für das Faust den Kosenamen »Liebe Puppe«
parat hat. (Vgl. ebd., S. 151). Er scheint als höflicher Agostiker und Nominalist
zu antworten, der die Gefühle der Frommen schont, indem er den Glauben selbst
in eine Gefühlswelt auflöst, in der »Glück! Herz! Liebe!
Gott!« (ebd. S. 150) funktional äquivalent sind. Doch Fausts
Antwort auf die Gretchenfrage hat noch eine ganz andere Dimension - eben die des
religiös Unmusikalischen:»Mein
Liebchen, wer darf sagen: Ich glaub' an Gott? .... Wer .... sich unterwinden
Zu sagen: ich glaub' ihn nicht?« (Ebd., S. 149-150) | Faust
hat recht: Die Antwort der Theologen und Kirchenleute klingt oft wie »Spott
/ Über den Frager« (ebd., S. 149). Das gab den Anstoß, es
einmal als Outsider zu versuchen. Man schreibt ja Texte, um herauszufinden, was
man denkt. So stellt dieses Buch auch den Versuch dar, eine Antwort auf die Gretchenfrage
zu finden. (Ebd., S. 15-16).
Der Stand der Dinge
Eine poetische Formel Gilles
Kepels ist als Markierung der neuen Weltreligiosität berühmt geworden:
die Rache Gottes. Doch wenn George Weigel nun glaubt, gar von einer Entsäkularisierung
der Welt sprechen zu können, dann ist das natürlich unsinnig. Denn Säkularisierung
heißt soziologisch betrachtet funktionale Differenzierung. Und die läßt
sich in einer modernen Gesellschaft schlechterdings nicht widerrufen. Aber gerade
deshalb kann man den Eindruck gewinnen, daß viele Gläubige unglücklich
sind über die gesellschaftliche Autonomie der Religion. Denn zwar bewirkt
die Säkularisierung kein Erlöschen der Religion, sondern ihre Vervielfältigung
- aber doch eben um den Preis ihrer Unverbindlichkeit. (Ebd., S. 17).Martin
Heidegger hat die Neuzeit im Blick auf den Prozeß, den man gemeinhin Säkularisierung
nennt, durch die Erscheinung der »Entgötterung« charakterisiert.
Gemeint ist eine Dialektik von Verchristlichung des Weltbildes und gleichzeitiger
Entchristlichung des Christentums. Das Christentum paßt sich der Neuzeit
an, indem es sich auf eine Weltanschauung reduziert und sich gleichsam selbst
historisch wird. Durch diese Selbstreduktion setzt das moderne Christentum »das
religiöse Erleben« frei, das nun beliebig eingefärbt werden kann.
(**). Diesen bunten Glaubenspluralismus
meinen wir, wenn wir von der neuen Religiosität der Weltgesellschaft sprechen.
Sie oszilliert zwischen Fundamentalismus und Sentimentalität. (Ebd.,
S. 17).
Vgl.
Martin Heidegger, Holzwege, 1949, S. 70. Es ist hier entscheidend wichtig,
Säkularisierung von Profanisierung und diese von Sakrileg zu unterscheiden.
Profanisierung verletzt das Sakrale, Säkularisierung ersetzt es. Und das
Sakrileg ersetzt, indem es verletzt. So beobachten wir in der Popkultur, wie das
Sakrement durch das Sakrileg ersetzt wird. (Ebd.). |
Die
christlichen Kirchen und vor allem der Protestantismus haben das Kreuz inflationiert.
So hört man von den Repräsentanten der beiden großen Kirchen nur
noch selten etwas über das Ärgernis und den Skandal des Paulinischen
Wortes vom Kreuz, aber sehr viel über die unzähligen kleinen Kreuze
wie Welthunger, Arbeitslosigkeit, Klimakatastrophe usf.. Zusammengehalten werden
diese kleinen Kreuze durch die Dauerbereitschaft eines »Reden wir miteinander«.
Formelhaft gesagt: Das Diakonische verdrängt das Dogmatische. Die christlichen
Kirchen vermeiden Konflikte, indem sie immer weniger behaupten - nämlich
im Sinne des Dogmas und der Orthodoxie, also des »richtigen Glaubens«.
(Ebd., S. 17).Der Weg einer Selbstsäkularisierung des Protestantismus
zum sozialistischen Humanitarismus ist längst schon gebahnt. Als Beobachter
bekommt man hier leicht den Eindruck, daß das Christentum in der modernen
Welt sich selbst nicht mehr für anschlußfähig hält, jedenfalls
nicht in seiner kirchlichen Dogmatik. Deshalb ersetzt es den Skandal des Gekreuzigten
zunehmend durch einen neutralen Kult der Menschheit. Thomas Mann hat das einmal
»Verrat am Kreuz« genannt (**).
Der Humanismus der Kirchen kompensiert, daß sie die Themen Kreuz, Erlösung
und Gnade tendenziell aufzugeben bereit sind. Was dann noch bleibt, ist Sentimentalität
als letzter Aggregatzustand des christlichen Geistes. Doch sind Zweifel an der
Publikumswirksamkeit dieser Strategie angebracht. Wenn die Kirche sich öffnet,
gehen nicht die Ungläubigen hinein, sondern Gläubige hinaus. (Ebd.,
S. 18).
Vgl.
Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 1918, S. 550. Gegen die
gleichgültigen fetten Menschen des »Köhlerglaubens« an Demokratie
und Menschheit setzte Thomas Mann - genau wie Max Weber und genau gleichzeitig
mit ihm - die Forderung, »in einer götterlosen Welt gefaßt und
würdig zu leben.« (Ebd.). |
Die
Selbstdarstellungspraxis des Christentums ist also inflationär. Es gibt zu
viele Kreuze - und sie entwerten das Wort vom Kreuz.Dagegen ist der theokratische
Fundamentalismus deflationär. Das Sicherheitsbedürfnis der Fanatiker
drängt auf einen Echtheitstest des Commitment, der im leider nicht seltenen
Extremfall Gewaltbereitschaft fordert. Hierauf werden wir gleich ausführlich
eingehen. Aber wir können jetzt schon sagen: Sowohl der christliche Humanitarismus
als auch der islamische Fundamentalismus sitzen in der Modernitätsfalle.
(Ebd., S. 18).In allen Menschen, die die moderne Welt als ausweglos
überkomplex erfahren, wächst die Sehnsucht nach Einheit und bedeutsamer
Einfachheit. Die Antike hatte die schöne Ordnung eines Kosmos, das Mittelalter
die Festigkeit und Verläßlichkeit eines Ordo. Erst die Moderne hat
ihre Einheit dialektisch durch »Entzweiung« definiert; heute spricht
man prosaischer von Ausdifferenzierung. Doch das war und ist für die meisten
nur zu ertragen, wenn ihnen die Kultur kompensatorisch einen Kult des Ganzen anbietet,
sei es in der Verklärung der Natur, sei es in der Thronerhebung des Ich.
(Ebd., S. 18).Dagegen blieben die dialektischen Lösungen des
Differenzproblems ein Intellektuellenvergnügen: positiv bei Hegel, der das
Wirkliche als vernünftig verteidigte, negativ bei Theodor W. Adorno, der
das Ganze als das Unwahre denunzierte. Heute wissen wir, daß das Problem
unlösbar ist, weil es das Problem der ausdifferenzierten Gesellschaft selbst
ist. »Einen Unterschied kann man nicht anbeten«, sagt der Systemtheoretiker
Niklas Luhmann. (Vgl. Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S.
92). Er steht für eine moderne Theorie der modernen Gesellschaft, die nichts
weiß von Anfang und Ende, Einheit und Einfachheit. Sie heißt uns in
der Weltzeit zu operieren, d.h. auf Wahrheit, Glück und Sinn zu verzichten.
(Ebd., S. 18).Der Systemfunktionalismus Luhmanns weiß nichts
vom guten Leben. Durchaus in der philosophischen Tradition der Neuzeit wird das
Gute der Selbsterhaltung geopfert. Robert Spaemann hat das zum zentralen Motiv
seines Denkens gemacht und Inversion der Teleologie genannt: Alles wird der Selbsterhaltung
untergeordnet. »Religion scheint das Residuum zu sein, das der Peifektionierung
der Gesellschaft beyond freedom and dignity im Wege steht, d.h. der
Peifektionierung einer Gesellschaft, die auf den Begriff des guten Lebens verzichtet,
indem sie die Idee eines solchen zu einer Bestanderhaltungsfunktion umfunktioniert.«
(Robert Spaemann, Das unsterbliche Gerücht, 2007, S. 115). Für
diese Unterordnung des guten Lebens unter die Selbsterhaltung des Lebens hat Spaernann
später dann im Blick auf Hans Blumenberg die scharfe Formulierung eines »Nihilismus
der Rechten« gefunden. (Vgl. Robert Spaemann, Der Ursprung der Soziologie
aus dem Geist der Restauration, 1959, S. 10). (Ebd., S. 19). **
Es
geht also um die Antithese Selbsterhaltung vs. Selbsttranszendenz bzw.
System vs. Sinn. Wir wollen hier nicht die Parole »Spaemann statt
Luhmann« ausgeben, aber man kann die Faszinationskraft der Systemtheorie
nur brechen, wenn man sie aus der Perspektive der Theologie liest. Spaemanns Dissertation
über den Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959)
hat sehr schön gezeigt, daß schon Bonald die Gottesidee gesellschaftlich
funktionalisiert - damit (!) und schon damals löst die Soziologie die
Metaphysik ab. Bonald hätte keine Schwierigkeiten mit Niklas Luhmann gehabt.
Auch in anderen Theoriezusammenhängen kann man leicht erkennen, daß
Luhmann mit der Theologie spielt: Soziale Diffenrenzierung ist diabolisch, Chaos
ist der »unmarked state« der Schöpfung. Gott ist tot heißt:
es gibt keinen letzten Beobachter. Jeder Blick auf die Welt hat einen blinden
Fleck. Und sogar die Antithese Fortschritt vs. Katechontik findet sich
bei Luhmann: Evolutionsbewußte Politik entspricht nämlich der Katechontik
als Aufschub der Zerstörung des Systems, als »Hinausschieben der Destruktion«
(Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, 1970, Band 4, s. 109).
(Ebd.). |
Die Grundwörter
der modernen Gesellschaft lauten: System, Funktion und Differenz. Die neue Religiosität
ist der Inbegriff aller Versuche, diese Weltbeschreibung zurückzuweisen.
Deshalb ist vom Ganzen die Rede, vom Sinn und vom Glauben, vom Ich und der Natur.
.... Die Stätte ist nicht nur eine Stelle. Das Sein protestiert gegen die
Funktion. Nicht theoretisch, sondern lebenspraktisch gibt es ein Unbehagen am
Funktionalismus. Man sucht wieder Substanz, Symbol, Sinn, Identität. Und
Religion heißt eben immer: Es gibt ein Jenseits des Funktionierens. Sie
lebt von der Spannung zwischen gesellschaftlichem Leben (Funktionieren) und eigendichern
Leben (Sinn). (Ebd., S. 19).In aufgeklärten Ohren muß
das romantisch und antimodern klingen. Jeder weiß ja, daß Modernisierung
gerade heißt, Substanzbegriffe durch Funktionsbegriffe zu ersetzen. Doch
das ist lediglich die Selbstbeschreibung des Durchgesetzten. Nur ein Funktionalist
kann sagen, daß Substanzbegriffe durch Funktionsbegriffe ersetzt wurden.
Der Funktionalismus kennt nämlich das Unersetzliche nicht - also das, was
»für uns« unendlich wertvoll ist. Werte sind seither Geister,
denn in dieser entstellten Form kehren Bestimmungen wieder, die aus den ausdifferenzierten
sozialen Funktionssystemen verdrängt wurden. (Ebd., S. 19).Die
Wertegespenster, denen wir auf den folgenden Seiten noch vielfach begegnen werden,
verführen dazu, die Frage nach der neuen Religiosität ethisch zu verengen.
An dieser Gefährdung des Glaubens durch eine »Tyrannei der Werte«
(Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, 1967, S. 51f.) hat die Kirche selbst
den größten Anteil. Religion ist ja zuständig für »das
Ganze«. Und da fällt es natürlich schwer, zu akzeptieren, daß
sie ihre Sinnfiguren in den Grenzen eines Teilsystems der Gesellschaft anbieten
muß. Deshalb erliegen die Kirchen leicht der Versuchung, auf Politik und
Wirtschaft »überzugreifen« - etwa unter dem Titel »Ethik«.
In der Bibel gibt es aber keine Werte. (Ebd., S. 19-20).Um
Ethik auf Distanz zu halten, könnte man sich an einem - leicht umverstandenen
- Spitzenwert unserer Gegenwart orientieren: Glaubwürdigkeit. Welcher
Glaube ist unseres Glaubens würdig? Zur ersten Orientierung schlage
ich hier zwei Schemata vor, die prinzipielle Lebenshaltungen (**)
und aktuelle Glaubensformen (**)
ordnen. (Ebd., S. 20). | Menschliche
Werte | Göttliche
Werte |
| | liberal | konservativ | gesellschaftskritisch | fundamentalistisch |
|
Der
Liberale orientiert Leistung an menschlichen Werten, der Konservative orientiert
Leistung an göttlichen Werten. Der Gesellschaftskritiker legitimiert sein
Ressentiment durch menschliche Werte, der Fundamentalist legitimiert sein Ressentiment
durch göttliche Werte. (Ebd., S. 20).Neben diesem Schema
der Lebenshaltungen brauchen wir noch ein Schema der Glaubensformen, das durch
zwei Antithesen strukturiert ist. Wir haben den Marxismus als säkulare Religion
(Sozialreligion) und den Kapitalismus als neuheidnische Kultreligion (Konsumismus)
durchschaut; hinzu kommen heute im Feld des Konsumismus die Wellneß-Religionen
und der Ich-Kult, im Feld der säkularen Religion der Kult der Mutter Erde.
Orthogonal dazu steht die Antithese zwischen islamischem Fundamentalismus und
Zivilreligion: | Fundamentalismus | | | | | | | Konsumismus |
| Sozialoffenbarung | | | | | | | Zivilreligion | | Sehen
wir näher zu. (Ebd., S. 20).
Fundamentalismus und Zivilreligion
Ähnlich
wie in der Kunst die Unterscheidung Kunst / Nicht-Kunst die Unterscheidung
schön / häßlich verdrängt hat, so scheint im System
der Religion die Unterscheidung religiös / nicht religiös
heute wichtiger zu sein als die Unterscheidung Immanenz / Transzendenz.
Auf der einen Seite stehen die Menschen des Glaubens (welchen Glaubens auch immer!),
auf der anderen formiert sich die säkulare Weltgesellschaft. Es gibt hier
natürlich Strukturanalogien zur soziologischen Unterscheidung traditionell / modern.
Der Mensch des Glaubens gehört in die traditionelle Struktur der wenigen
Optionen und der starken Bindungen. Die säkulare Weltgesellschaft dagegen
bietet viele Optionen, aber typisch nur schwache Bindungen. Niklas Luhmann meint
sogar: »Starke Integration ist immer negative Integration und eben deshalb
unheilvoll.« (Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 304).
(Ebd., S. 21).Die Menschen des Glaubens gegen die säkulare
Weltgesellschaft - das Erschrecken über diese Kampffront hat Gilles Kepel
in die gerade erwähnte Formel von der Rache Gottes gebannt. Die von der Aufklärung
verdrängte Religion kehrt wieder und schickt sich an, den Prozeß der
Modernisierung zu revidieren. Viele Ideengeschichtler meinen nun, der Westen könne
das nur beobachten, nicht aber die islamistische Herausforderung mit einer »geistigen«
Antwort parieren. Denn der Okzident hat niemals große Religionen, sondern
immer nur große politische Ideologien hervorgebracht hat. Nach dem Untergang
der »großen Erzählungen« aber, also im postideologischen
Zeitalter, scheinen die Religionen als Identitätsangebote konkurrenzlos geworden
zu sein. (Ebd., S. 21).Mit einem »Zurück
zur Aufklärung!« ist es nicht getan. Denken ist nicht das
Gegenteil von glauben, denn man denkt immer im Rahmen eines Glaubens. Nicht du
hast einen Glauben, sondern der Glaube hat dich. Man denkt mit dem, was man glaubt
- dieses Bewußtsein haben die Intelligenten unter dem Frommen den aufgeklärten
Universalisten voraus. Mit anderen Worten: Der Glaube, der uns hat, ist der blinde
Fleck unseres Denkens. Das hat nun eine für die Utopie eines »Dialogs
der Religionen« (**)
vernichtende Konsequenz: Ein Universalist und Multikulturalist kann einem Frommen
keine »zwingenden Gründe« nennen. Denn um die Gründe als
zwingend zu erfahren, dürfte er kein Frommer mehr sein. Deshalb sind Fundamentalisten
und Universalisten heillos ineinander verklammert. (Ebd., S. 21-22).Auf
den ersten Blick sieht es so aus, als sei religiöser Fundamentalismus, der
uns heute narürlich vor allem in seiner islamistischen Form bedrängt,
ein Widerstandskampf der Tradition gegen die Weltentzauberung. Und ganz analog
könnte man dann die neue Religiosität des Westens als Recycling der
Tradition im Dienste einer Wiederverzauberung der Welt verstehen. Bei Lichte betrachtet,
zeigt sich aber, daß der religiöse Fundamentalismus die Tradition instrumentalisiert,
nämlich als Intellektuellenrhetorik. Der islamische Fundamentalismus hat
also nichts mit Traditionspflege zu tun. Er ist die Intellektuellenerfindung einer
reinen Wertevergangenheit, auf die man sich dann mit moralistischer Aggressivität
berufen kann. (Ebd., S. 22).Jeder Fundamentalismus hebt sich
vor einem Hintergrund fundamentaler Unsicherheit ab. Dieser Hintergrund allgemeiner
Verunsicherung heißt heute Globalisierung. Man kann deshalb die fundamentalistischen
Bewegungen als genaue Reaktionsbildung auf Weltkommunikation, Liberalismus und
eine durch soziale Reflexivität auf Dauer gestellte Ungewißheit verstehen.
Mit anderen Worten: Der Funktionalismus der modernen Gesellschaft und der Fundamentalismus
des Glaubens sind Komplementärphänomene. Ja, man kann noch mehr sagen:
Der immer häufigere Fall des zum Islam konvertierten europäischen Gotteskriegers
macht deutlich, wie sich im Fundamentalismus der moderne Individualismus gegen
sich selbst kehrt. Die freie Glaubenswahl des Individuums wählt eine Religion,
die ihm die Last der Freiheit und Individualität nimmt. (Ebd., S. 22).Jeder
Fundamentalismus bietet eine Möglichkeit zur Flucht ins Handfeste. Wir haben
ihn deshalb schon als deflationär charakterisiert. Deflationäre Tendenzen
reagieren auf die wachsende Riskanz des modernen Lebens mit dem Angebot größerer
Sicherheit auf Kosten der Freiheit; man greift auf primitive Muster zurück.
Alle Fundamentalismen reduzieren soziale Komplexität durch einen moralischen
Rigorismus, vor dessen Standards jeder zum Schuldigen wird, und durch einen Zurechnungsmechanismus,
der alles, was geschieht, als Ausfluß des göttlichen Willens verstehen
läßt und damit jede moralische Verantwortung des Einzelnen aufhebt.
Inflationäre Tendenzen, wie wir sie vor allem im sich selbst säkularisierenden
Protestantismus beobachten können, verharmlosen dagegen das Problem der Unsicherheit
und Ungewißheit. Dem entspricht ein Gottesbegriff, aus dem alle strafenden
und disziplinierenden Momente entfernt sind - der nichts als liebe Gott. Der liebe
Gott der Humanitaristen und der absolute Gott der Fundamentalisten sind also Komplementärphänomene.
(Ebd., S. 22-23).Man kann den Fundamentalismus als Symptom für
die »Krankheit« der modernen Gesellschaft lesen. Insofern handelt
es sich um eine durch und durch aktuelle Form der Religion. Ihr Heilsversprechen
besteht darin, uns den Preis der Modernität zu ersparen: Sicherheit und Gewißheit
statt Freiheit und Ungewißheit. Manuel Castells hat diese Antithetik geradezu
apokalyptisch zu gespitzt: Hier die Welt des chaotischen Wandels, der Daten-,
Finanz- und Bilderströme, dort die Suche nach ursprünglicher Identität;
hier das Internet und sein Funktionalismus, dort das Selbst und sein Sinnveverlangen;
hier die Vernetzung der Mächtigen und Reichen, dort die vier Fünftel
der Weltbevölkerung, die durch die Maschen der Weltgesellschaft fallen.
(Ebd., S. 23).Der Fundamentalismus konfrontiert den Liberalismus
der westlichen Welt mit Konflikten, die nicht auf Interessenkonflikte reduzierbar
sind. Wer fromm ist, hat kein Interesse am Marktplatz der Ideen. Er hat die Wahrheit
- und deshalb kein Interesse an einer anderen Wahrheit. Was nämlich eine
Religion, die sich ernst nimmt, von einer bloßen Meinung unterscheidet,
ist der Anspruch auf privilegierten Zugang zur Wahrheit. Und deshalb gibt es keine
liberale Antwort auf die heute so dringliche Frage: Wie soll man mit Leuten diskutieren,
die von der Überlegenheit ihrer Kultur überzeugt sind? (Ebd.,
S. 23).»Universalistische Religionen sind ihrem Wesen nach
missionarisch, solange sie lebendig sind«, sagt Robert Spaemann (Das
unsterbliche Gerücht, 2007, S. 150). Nur tote Ideen existieren in der
Form der friedlichen Koexistenz nebeneinander. Man kann es auch so sagen: Eine
Religion, die sich ernst nimmt, ist dogmatisch. Und im Dogma haben wir den eigentlichen
Gegensatz zum liberalen Dialog. Es kodifiziert die Wahrheit des rechten Glaubens
und kann deshalb in unseren westlichen Spitzenwerten wie »Offenheit«
und »othering« nur gottlose Verirrungen sehen. Die höchsten Ideale,
die uns heilig sind, stehen immer im Kampf mit anderen Weltanschauungen.
(Ebd., S. 23).Höchstwerte sind nämlich keine Alternativen,
sondern Todfeinde. Deshalb hat Max Weber, der dieses Problem am tiefsten durchdacht
hat, von einer »Wertkollision« gesprochen. (Vgl. Max Weber, Gesammelte
Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 308). Es gibt hier keine Kompromisse
und keinen Relativismus mehr. Eben diese Wertkollision meint auch Samuel Huntingtons
berühmte Formel vom »clash of civilizations«; und davon sollte
sich der deutsche Leser nicht durch die Frage ablenken lassen, ob »Kampf
der Kulturen« eine angemessene Übersetzung sei. (Ebd., S. 23-24).Auch
wenn die »Politische Korrektheit« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
es auszusprechen verbietet: Es geht heute bei der Wertkollision um den Zusammenstoß
der abendländischen Werte mit dem Islam, und es geht bei der Frage nach der
Zukunft Europas um die Integration (eher: Nicht-Integration!
HB) der Türkei. Doch nicht nur die Denkverbote der »Politischen
Korrektheit« sondern auch die Faszination durch den Terror verhindern eine
angemessene Diskussion dieser Fragen. Und so lange diese Diskussion nicht offen
geführt wird (und zwar nicht mit dem Islam - wer sollte der Adressat sein?
-, sondern in Europa!), wird sich »la guerra fria« des 13. Jahrhunderts
zwischen Spaniern und Muslimen als Kalter Krieg Europas mit dem Islam fortsetzen.
(Ebd., S. 24).Der islamistische Terror verdeckt nämlich das
eigentliche Problem: den Islam. Für den Islam spielt der Nationalstaat keine
Rolle; alles dreht sich um die kleine Gruppe (den Klan) und den großen Glauben
(die Umma). In Europa war Nationalstaatlichkeit ja das Medium der Säkularisierung;
aber dieses Formular für Identitätsbildung überzeugt gerade in
einer globalisierten Welt immer weniger. Der Prozeß der Globalisierung hat
nämlich ein Problem freigelegt, das durch den Nationalstaatsgedanken verdeckt
worden war: Wie soll der Staat ohne Religion integriert werden? Niemand weiß
heute eine Antwort. Um so wichtiger ist es aber deshalb, den politisch-theologischen
Kern des Problems zu bestimmen: Einheit oder Trennung von Politik und Religion
- das ist die Frage. Und Religion macht hier den entscheidenden Unterschied.
(Ebd., S. 24).Nach wie vor ordnen die Muslime die Welt mit der
Unterscheidung der zwei Rechtskreise »Islam« und »Ungläubige«.
Genau damit manifestiert der Islam, daß er eine Religion ist, die sich noch
ernst nimmt. Er beansprucht nämlich, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit
zu haben. Zu Recht fordern die Muslime von den Europäern, in ihrem Glauben
respektiert zu werden. Und den Islam zu respektieren heißt, ihn ernst zu
nehmen. Doch den Islam in seinem politischen Anspruch ernst zu nehmen, heißt
für einen guten Europäer, ihm zu widersprechen. Pauschale Toleranz nimmt
die anderen nicht ernst. Wir können das Andere nur anerkennen, wenn wir unserer
Toleranz eine Grenze setzen. (Ebd., S. 24).Unstrittig ist
wohl auch unter Muslimen und den Verfechtern eines »Dialogs der Religionen«
(**),
daß der Islam keine Religion nach der Aufklärung ist. Es gibt im Islam
weder eine institutionalisierte Deutungskompetenz noch eine historisch-kritische
Theologie. Deshalb ist es sinnlos, eine spirituelle Wahrheit des Islam gegen seine
politische Machtform auszuspielen. Koranzitate dienen Seminaristen genau so gut
wie Terroristen. Man kann es auch positiv formulieren: Der Islam befindet sich
heute in der Situation des Christentums vor der Aufklärung. (Ebd.,
S. 24-25).Die rechtliche und politische Situation ist für
uns (für uns!) eindeutig. Wenn das »Reich Gottes« gepredigt wird,
dann kann der moderne Staat das tolerieren, solange es irgendwie metaphorisch,
also spirituell und innerlich gemeint ist - nicht aber als Aufruf zur politischen
Theokratie. Der säkulare Staat kann den Gläubigen also nicht politisch
in seinem Glauben ernst nehmen. Wie in anderen Lebensbereichen auch, wird die
Forderung nach Gleichheit vom Staat in Form von Gleichgültigkeit erfüllt.
(Ebd., S. 25).Von offiziellen Repräsentanten des Islam in
Europa kann man immer wieder hören, daß man durchaus bereit sei, die
rechtlichpolitischen Rahmenbedingungen des säkularen Staates zu respektieren;
für eine Religionsgemeinschaft in der Diaspora müßte das ja auch
selbstverständlich sein. Doch hier ist Skepsis angebracht, denn der Islam
ist nicht eine Religion unter anderen, sondern die weltweit dynamischste und selbstbewußteste.
An ihr kann man deshalb ein prinzipielles Problem aller Religionen besonders gut
beobachten. (Ebd., S. 25).Die Geschichte der konfessionellen
Bürgerkriege hat uns gelehrt, daß Religion nur tolerant ist, solange
sie machtlos ist. Religion muß Privatsache bleiben, sonst kommt ein Wahrheitsanspruch
in den öffentlichen Diskurs - und Blut fließt. Jede Religion beansprucht
ja, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben. Wer tief gläubig ist,
hat im Ernst keinen Respekt vor dem Wahrheitsanspruch anderer Religionen. Religion
ist also nicht geistig, sondern allenfalls politisch tolerant - nämlich unter
Bedingungen der Diaspora und des säkularisierten Staates. Dieses Problem
läßt sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner hin auflösen. Weltreligion
ist das Esperanto der Theologen. Es geht nicht um den größten gemeinsamen
Nenner einer Weltreligion, sondern um die friedliche Koexistenz des Exklusiven
- die Religionen der Welt. (Ebd., S. 25).Eine Religion, die
es, wie heute der Islam, auch politisch ernst meint, ist nicht tolerant. Deshalb
kann sie von der Religion der Toleranz, also dem Liberalismus, nicht toleriert
werden. Man sollte sich hier nicht von der humanistischen Seminarerfahrung der
Religionswissenschaftler und der »Politischen Korrektheit« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
der Politiker irreführen lassen, die uns heute unisono einreden wollen, der
Islam sei eine Religion des Friedens. Eine Religion predigt Toleranz, solange
und wo sie nicht an der Macht ist. Und umgekehrt ist Macht immer ein Maß
dafür, wie weit man sich nicht anpassen muß. Ich bin immer dann tolerant,
wenn meine tiefsten Überzeugungen nicht berührt werden, und ich bin
immer dann kompromißbereit, wenn ein Sieg unwahrscheinlich ist. Wenn sich
die Fundamentalisten also auf einen »Dialog« einlassen würden,
gäbe es gar keinen Grund mehr für einen Dialog. Stanley Fish hat einmal
gesagt, man könne Religion auch durch Freundlichkeit umbringen - und genau
das ist es, was die Fundamentalisten instinktsicher im »Dialog der Kulturen«
(**)
wittern. (Ebd., S. 25-26).In all ihrer politischen Ohnmacht
und theologischen Naivität bleibt die Idee eines »Dialogs der Religionen«
(**)
doch ehrenhaft als der Versuch, heil hindurchzusteuern zwischen der Skylla haßerfüllter
Gotteskrieger und der Charybdis wutschnaubender Aufklärer. Friedrich Theodor
Vischer hatte schon im 19. Jahrhundert deutlich erkannt, daß Stoffhuber
und Sinnhuber nebeneinander leben. Sobald sie sich aber in die Haare bekommen,
entstehen Fanatismus und Zynismus. Denn im Fanatismus kehrt sich der Sinn gegen
die Wirklichkeit - und provoziert prompt den Zynismus, der die Wirklichkeit gegen
den Sinn mobilisiert. Beides scheint heute zu funktionieren, weil beides fasziniert.
(Ebd., S. 26).Die Faszinationskraft des Fanatikers rührt zum
einen daher, daß er immun ist gegen Kritik; er hat die Heilsgewißheit
gegen die allgemeine Ungewißheit. Der Fanatiker erlöst von der Komplexität,
denn er hat die Kraft, viele Dinge nicht zu sehen. Der Fanatismus ist also die
Willensstärke der Schwachen und die Lebenssicherheit der U nsicheren; dahinter
steht letztlich das Begehren nach einem Befehl. Zum andern fasziniert der Fanatiker
durch seine Opferbereitschaft. Richard Dawkins würde sagen: Der Fanatiker
ist von den »Memen« (**)
des Heilsversprechens besessen - deshalb ist sein eigenes Überleben zweitrangig.
Wie alle Märtyrer stellen sich die Selbstmordattentäter in den Dienst
des Überlebens einer Idee. So wird der Glaube zur Waffe. Dem entspricht dann
eine durchaus triviale Psychodynamik des terroristischen Aktes: Selbstmord ist
nämlich die narzißtische Flucht vor der Einsicht in die eigene Bedeutungslosigkeit.
(Ebd., S. 26).Den extremen Gegenpol zum Fundamentalismus markiert
die Zivilreligion als der Glaubensinhalt, den man zwar nicht glauben, aber dem
man doch Geltung verschaffen muß. Im Begriff der Zivilreligion fragt der
säkulare Staat selbst nach den integrierenden Werten der modernen Gesellschaft.
Man kennt diese Frage, die sich gerne in die Form eines Aufrufs kleidet, aus den
Sonntagspredigten und Weihnachtsansprachen der Politiker. Doch jeder Ruf nach
Werten zielt, wenn er denn ernst gemeint ist, eigentlich auf die Unentrinnbarkeit
eines Dogmas. Nur Dogmen schützen uns nämlich vor dem endlosen Kreisen
in unbeantwortbaren Fragen. (Ebd., S. 26-27).Wir haben es
hier mit einer spezifisch religiösen Leistung zu tun. So bedeutet das johanneische
»Die Wahrheit wird euch frei machen« in diesem Zusammenhang: Akzeptiert
das Dogma, dann habt ihr keine Probleme mehr. Ähnlich funktionieren heute
auch die »Grundwerte« als das Dogma der Zivilreligion. Sie verdecken
die Paradoxie, die der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Ernst-Wolfgang
Böckenförde so klar gesehen hat: »Der freiheitliche, säkularisierte
Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist
das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.«
(Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang
der Säkularisation, in: Der Säkularsierte Staat, 2007, S.
71). Deshalb ist heute so viel von Verfassungspatriotismus die Rede; diese Rhetorik
zielt auf eine Substitution der Bibel durch die Verfassung. Doch das Grundgesetz
wird durch seine Sakralisierung als Zivilreligion überfordert. (Ebd.,
S. 27).Die uns so vertraute Rede von Menschenrechten, Demokratie,
Freiheit und Individualismus ist alles andere als voraussetzungslos. Wir haben
es hier mit jenen neutralen Prinzipien zu tun, die uns die Geschichte vergessen
lassen und damit jenes Vergessen wiederholen, das es ihnen ermöglicht (hat),
als neutrale Prinzipien zu erscheinen. So hat Carl Schmitt immer wieder darauf
hingewiesen, daß die staatstheoretischen Begriffe des Abendlandes säkularisierte
theologische - und das heißt eben konkret: christliche - Begriffe sind.
Dafür hat der islamische Fundamentalismus eine hohe Sensibilität. Dan
Diner spricht genau in diesem Zusammenhang von einem »westlichen Begriffsmonopol
in universalistischem Kleid«. (Ebd., S. 27).Es geht
in der Zivilreligion also um das Glaubensminimum, das wir - im Blick auf die unverzichtbare
Funktion der Religion in der modernen Gesellschaft - zur Geltung bringen müssen,
und zwar nicht nur gegenüber den Andersgläubigen, sondern auch gegenüber
den Ungläubigen. Ursprünglich, nämlich bei Rousseau, ist Zivilreligion
ein bürgerliches Glaubensbekenntnis, das religiöse Dogmen durch den
Sinn für die Gemeinschaft ersetzt. Rousseau sieht zwar, daß man die
Bürger nicht zum Glauben an die Gemeinschaft zwingen kann; doch soll man
jeden ungläubigen Bürger »verbannen, nicht deshalb, weil er gottlos
ist, sondern weil er sich nicht in die Gesellschaft einfügen will.«
(Jean-Jacques Rousseau, Sozialphilosophische und politische Schriften,
S. 389). Ohne das Sentiment der Geselligkeit kann man offenbar kein guter Bürger
sein. Schon am 18.08.1756 schreibt er an Voltaire, man brauche einen Bürgerkatechismus,
der die wesentlichen sozialen Maximen enthalte. (Ebd., S. 27).Auf
der anderen Seite des Atlantik sieht das Konzept der Zivilreligion ganz anders
aus. Wie schon Alexis de Tocqueville in seinen Beobachtungen über die »Demokratie
in Amerika« gesehen hat, gibt es dort zwar eine Vielzahl von Sekten, doch
bei aller Verschiedenheit des Glaubens treffen sie sich doch in einem republikanischen
Christentum. Hier werden die USA als theologischer Begriff erkennbar. Das Thema
dieser Zivilreligion ist die heilige Geschichte der USA. (Ebd., S. 28).Man
könnte von einer Umbesetzung des Puritanismus durch den US-Amerikanismus
sprechen. Der Glaube an die USA muß dann aber deutlich vom Patriotismus
einerseits, andererseits von der Zivilreligion im Rousseauschen, aber auch im
Lübbeschen Sinne unterschieden werden. US-Amerikanismus als Weltreligion
heißt nicht, daß die USA christianisiert sind, sondern daß das
Christentum us-amerikanisiert ist. David Gelernter hat jetzt gezeigt, daß
dieser US-Amerikanismus eine Weltreligion ist. Ich habe im »Konsumistischen
Manifest« (**)
gezeigt, daß der Antiamerikanismus eine Weltreligion ist. Mit anderen Worten:
Der Antiamerikanismus zeigt im Zerrspiegel des Hasses die Wahrheit einer Religion.
Das angemessene Bild von den USA ist ein Januskopf: der amerikanische Traum und
der antiamerikanische Haß. (Ebd., S. 28).Heute kann
man den Ungläubigen das Glaubensminimum wohl nur schmackhaft machen, wenn
man die Öffentlichkeit der Religion auf einen kleinsten gemeinsamen Glaubensnenner
bringt. Im Blick auf den »Leviathan« des Thomas Hobbes und dessen
Versöhnungsformel »Jesus is the Christ« hat Hans Blumenberg einmal
von der »Selektion des weltlich Erträglichen aus der Theologie«
gesprochen. Eine solche Definition von Zivilreligion müßte sogar für
einen Atheisten konsensfähig sein. (Ebd., S. 28).In
seinen Vorlesungen über die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters
unterscheidet schon Fichte zwischen allgemein anerkannter Religion und lebensweltlicher
Religiosität. Fichte charakterisiert seine Gegenwart durch drei Merkmale:
Die christlichen Kirchen sind in der Krise, der Aberglaube ist durch die Aufklärung
erledigt, doch zugleich sind die Bürger auch des freigeisterischen Geschwätzes
müde. Gerade vor diesem Hintergrund aber hebt sich der religiöse Kernbestand
des bürgerlichen Lebens ab: »wo noch gute Sitten sind und Tugenden:
Verträglichkeit, Menschenliebe, Mitleid, Wohlthätigkeit, häusliche
Zucht und Ordnung, Treue und sich aufopfernde Anhänglichkeit der Gatten gegen
einander, und der Eltern und Kinder, - da ist noch Religion, ob man es nun wisse,
oder nicht.« (Johann Gottlieb Fichte, Werke, Band VII, S. 230).
(Ebd., S. 28).Fichte war noch sicher, daß diese Zivilreligiosität
zu genuin christlichem Glauben wiedererweckt werden könnte. Doch heute sehen
wir, daß die Stabilität der Funktion der Religion in der Gesellschaft
keine Bestandsgarantie für die traditionellen Kirchen ist. Wenn heute ein
neues religiöses Bedürfnis aufflackert, dann müssen die christlichen
Kirchen beobachten, daß es meist nach anderen Heilsversprechen Ausschau
hält. Wie auch immer man die »religiöse Lage« der Gegenwart
einschätzen mag - sie ist gekennzeichnet durch eine Auflösung und Rekombination
der religiösen Tradition. (Ebd., S. 29).Auflösung
und Rekombination, wohlgemerkt, denn nur Religion kann Religion ersetzen. Andere
Äquivalente ignorieren entweder das Jenseits (so klassisch der Marxismus)
oder das Diesseits (so täglich der Drogenrausch). Die Zivilreligion resümiert
die Restbestände der religiösen Institutionen: die Kirchen, in denen
wir getauft werden und heiraten; die Grundgesetze, die ohne göttliche Abkunft
leer wären; die Schwüre »bei Gott«, mit denen Staatsoberhäupter
ihr Amt übernehmen. (Ebd., S. 29).Soweit sich die christlichen
Kirchen auf das Konzept der Zivilreligion einlassen, beschreiben sie sich selbst
funktionalistisch. Heilsversprechen gibt es dann nicht mehr. Als Zivilreligion
hat das Christentum die großen Themen wie Kreuz, Erlösung und Gnade
aufgegeben und durch einen diffusen Humanismus kompensiert. Wie andere westliche
Institutionen gerät es damit in die Modernitätsfalle. Die christliche
Zivilreligion leidet nämlich nicht daran, daß sie mit der Kulturentwicklung
nicht mitkäme, sondern an ihrer eigenen Realitätsgerechtigkeit. Vor
allem der protestantischen Kirche fehlt der Mut zur Unzeitgemäßheit.
Gerade weil sie so modern und »aufgeklärt« ist, kann sie nicht
mehr Heil versprechen und eine neue Welt prophezeien. (Ebd., S. 29).So
kann ein religiös Unmusikalischer beim Kirchenbesuch leicht den Eindruck
bekommen, die Pfarrer wüßten sehr viel von den Hungersnöten in
Afrika und den heimischen Arbeitslosenstatistiken, aber nichts mehr von der Apokalypse.
Man versteht natürlich: Diakonie und Seelsorge sollen Gott menschennah kommunizieren.
Diakonie personalisiert ja gesellschaftliche Probleme und hält so Realitätskontakt
- auf Kosten der großen Heilsversprechen. Das ist ein Trade-off, der das
Konzept der Zivilreligion für alle, die die Welt des Glaubens nur von außen
betrachten, so attraktiv macht. Denn als Zivilreligion fügt sich das Christentum
paßgenau in das System der modernen Gesellschaft. (Ebd., S. 29).Ein
derart dogmatisch abgerüstetes Christentum empfiehlt sich der modernen Welt
also nicht flur durch seine Resignation auf den kleinsten gemeinsamen Glaubensnenner,
sondern auch durch seinen Humanitarismus. Und es scheint fast gleichgültig,
ob dabei konkret geholfen wird oder die seelsorgerische Menschennähe zur
Gebärde erstarrt. In jedem Falle bietet das dogmatisch abgerüstete Christentum
den Opfern der Gesellschaft ein Design der Betroffenheit, widmet sich also den
unlösbaren Folgeproblemen anderer sozialer Systeme (»Schicksale«).
So identifiziert sich die Kirche letztlich mit dem Bild, das die Soziologen von
ihr gezeichnet haben: daß es die gesellschaftliche Funktion der Religion
sei, die faktisch Ausgeschlossenen »geistig« einzuschließen.
(Ebd., S. 29-30).
Konsumismus und Boutique-Religion
Wenn es heute
überhaupt eine Gemeinsamkeit in den Lebensformen der westlichen Welt gibt,
dann ist es der Konsumismus, also eine Welthaltung, die sich an der Logik des
Marktes orientiert und der die kapitalistische Wirtschaftsform zur zweiten Natur
geworden ist. (**).
Diese Welthaltung zeigt deutlich kultische, ja fetischistische Züge - und
weckt damit das Interesse des Theologen. Könnte es sein, daß wir im
Herzen des »Warencharakters« auf eine neue Religiosität treffen?
Diese Frage hat sich der Marxist und Theologe Walter Benjamin schon in den 1930er
Jahren gestellt und ein Forschungsprojekt skizziert, das in den letzten Jahren
immer größere Aufmerksamkeit gefunden hat: »Kapitalismus als
Religion«. (Ebd., S. 31).Zu Recht denkt man hier zunächst
an Karl Marx und seine Enthüllung des religiösen Geheimnisses
der Ware, aber vor allem natürlich auch an Max Weber
und dessen These von der Geburt des Kapitalismus aus dem Geist des Protestantismus.
Doch Weber selbst hatte schon erkannt, welche Erkenntnisbarrieren sich hier auftürmen,
weil jener Geist eben schon längst aus unserem Alltag entschwunden ist und
nur noch seine Hüllen übrig geblieben sind. Der kapitalistische Geist
entstand in einer Zeit, »in welcher das Jenseits alles war« (Max Weber,
Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, 1919, S. 163)
und eben das können wir nicht mehr nachfühlen. Um aber zu verstehen,
wie sich der kapitalistische Geist zu der reinen Diesseitsreligion des Konsumismus
depotenzieren konnte, brauchen wir doch eine einfache Hintergrundskizze jener
Geburtsphase - »damals, als die Sorge für das Jenseits
den Menschen das Realste von allem war, was es gab.« (Max Weber, Soziologie
- Weltgeschichtliche Analysen - Politik, S. 395). (Ebd., S. 31).Max
Webers These über den Geist des Kapitalismus besagt im Kern, daß eine
asketische Form des Protestantismus eine alltagsbestimmende Lebensmethodik geschaffen
hat. Diese Lebensmethodik stützt das kapitalistische Wirtschaften wie ein
Korsett und versieht es zugleich auch mit Heilsprämien. Formelhaft gesagt:
Der Kapitalismus ist religiös bedingt. Das war von Max Weber natürlich
als Konkurrenzthese zu jener marxistischen Grundformel, nach der das gesellschaftliche
Sein die Gestalten des Bewußtseins bestimme, gemeint. (Ebd., S. 31).Diese
Religionssoziologie des Kapitalismus entwirft das grandiose Bild vom innerweltlichen
Asketen des Puritanismus, der sich die Lebenssorge kapitalistischen Wirtschaftens
wie einen dünnen Mantel umwirft - aber dieser Mantel erstarrt zum Panzer,
»zum stahlharten Gehäuse« (Max Weber, Gesammelte Aufsätze
zur Religionssoziologie, Band I, 1919, S. 203). Die Askese baut die Welt um,
und gerade durch ihren strahlenden Erfolg gewinnen die Güter eine ungeheure
Macht über die Menschen. Seither funktioniert der Kapitalismus als perfekte
Maschine - auch ohne Geist. Für die Menschen heißt das: Sie haben keinen
Beruf mehr, sondern einen Job. (Ebd., S. 32).Der heute wieder
laut werdende Ruf nach einer »Wirtschaftsethik« klingt vor diesem
Hintergrund wie die verzweifelte Suche nach dem verlorenen Geist des Kapitalismus.
Max Weber hat aber nicht nur das Schwinden des Geistes christlicher Askese diagnostiziert,
sondern auch die Folgeerscheinungen benannt. Weil uns das religiöse Fundament
des Kapitalismus entzogen ist, haben wir den reinen Agon des Sports, aber auch
der Workaholics. Und deshalb kehren auch die alten Götter des Heidentums
wieder - man ist grün und vergöttert die Natur; man gewinnt das Design
des neuen Mikrochips in buddhistischer Meditation; man ist Holist und glaubt an
die schöpferische Macht des Chaos. Der Aberglaube erweist sich hier als die
Wahl der Eigenformel. Heute wird tatsächlich jeder nach seiner eigenen Fasson
selig. Und deshalb leben wir in einem Polytheismus der Marken und Moden.
(Ebd., S. 32).Walter Benjamin ist nun in seiner Analyse noch einen
Schritt weiter gegangen. Für ihn ist der Kapitalismus nicht nur in eine religiös
bestimmte Lebensmethodik eingebettet. Es geht ihm vielmehr um den Nachweis einer
essentiell religiösen Struktur des Kapitalismus« (Walter Benjamin,
Gesammelte Schriften, Band VI, S. 100). Der Kapitalismus ist schon deshalb
eine Religion, weil er in der Lage ist, den aus Leid und Qual geborenen Fragen
der Menschen eine befriedigende Antwort zu geben - nämlich eine Antwort der
Befriedigung. Und zwar ist die Reformationszeit für Benjamin der historische
Augenblick der Verwandlung von Christentum in Kapitalismus. Das setzt aber voraus,
daß die ganze abendländische Geschichte als Entwicklung eines parasitären
Verhältnisses begriffen werden muß: Der Kapitalismus entsteht als Parasit
des Christentums und zehrt so sehr von dessen Kräften, daß schließlich
- eben zur Zeit der Reformation - das Verhältnis in eines der Identität
umschlägt. Die neuzeitliche Geschichte des Christentums ist die Geschichte
des Kapitalismus. (Ebd., S. 32).Wir gebrauchen den Begriff
des Konsumismus, um deutlich zu machen, daß diese kapitalistische Religion
eine reine Kultreligion ist. Sie hat weder eine Dogmatik noch eine Theologie.
Sie ist unmittelbar praktisch orientiert - genau wie die Urformen heidnischer
Religiosität. Der Konsumismus ist also neuheidnisch. Er begründet seinen
Ritus ohne Gotteswort; und daß der Kult Vorrang vor der Lehre hat, ist eben
typisch heidnisch. In unserem Fall ist es der Vorrang der konsumistischen Praxis
vor der christlichen Lehre, der sie parasitär aufsitzt. Kapitalismus als
Religion ist eine Form des Neuheidentums. (Ebd., S. 32-33).Der
Kult der kapitalistischen Religion ist natütlich ein Kult der Ware. Das heißt
für den marxistischen Theologen, daß der Tauschwert zum Gegenstand
religiöser Verklärung und zum Medium eines religiösen Rausches
wird. In diesem Zusammenhang gebraucht Walter Benjamin den Begriff der Phantasmagorie.
Gemeint ist ein Raum des Vergnügens und der Zerstreuung, der sich genau dort
auftut, wo der Gebrauchswert der Waren gleichgültig wird. »Die Inthronisierung
der Ware« (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band V, S. 51),
also die Verehrung eines Produkts als Fetisch nach dem Ritual der Mode, ist der
einzige Inhalt des kapitalistischen Kults. (Ebd., S. 33).Die
»theologischen Mucken der Ware«, von denen Katl Marx sprach, ihr zweideutiges
Sein als »sinnlich-übersinnliches Ding«, sind konstitutiv für
unser modernes Weltverhalten. (Vgl. Karl Marx, Das Kapital, 1867, S. 50).
Es ist deshalb nicht metaphorisch gemeint, wenn Benjamin schreibt, die Pariser
Passagen, die Vorläufer der us-amerikanischen Malls, seien die ersten 6raquo;Tempel
des Warenkapitals« (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band V,
S. 86). Es gibt also eine Art Sakralarchitektur des Konsumismus. Hier findet Baudelaires
religiöser Rausch der Großstadt seinen konkreten Schauplatz: »die
Warenhäuser sind die diesem Rausch geweihten Tempel.« (Walter Benjamin,
Gesammelte Schriften, Band V, S. 109). (Ebd., S. 33).Die
Götter, die aus dem Himmel der Religionen verdrängt wurden, kehren als
Idole des Marktes wieder. Werbung und Marketing besetzen die vakant gewordenen
Stellen des Ideenhimmels. Düfte heißen Ewigkeit und Himmel, Zigaretten
versprechen Freiheit und Abenteuer, Autos sichern Glück und Selbstfindung.
Mit einem Wort: Marken besetzen Werte, um sie schließlich zu ersetzen. So
entfaltet sich heute der Konsumismus als die Religion der Gottunfähigen.
(Ebd., S. 33).Daß etwas Übersinnliches sinnlich greifbar
ist, kennt man eigentlich nur aus der Welt der religiösen Symbole. Deshalb
betrachtet schon Karl Marx die Warenwelt in Analogie zur religiösen Welt.
Die Waren sind nicht einfach Dinge für den Konsum. Sie befriedigen nicht
einfach ein konkretes Bedürfnis, sondern sie verkörpern Soziales - analog
zum Totem! Deshalb nennt Marx das Produkt, das auf dem Warenmarkt erscheint, eine
»gesellschaftliche Hieroglyphe« (Karl Marx, Das Kapital, 1867,
S. 53). Die Waren des kapitalistischen Marktes können als eine Art Geheimschrift
gelesen werden, in der sich unser gesellschaftliches Leben religiös chiffriert.
Das Geheimnis der Ware und das Geheimnis der Religion sind also dasselbe.
(Ebd., S. 33-34).Nicht die Kirchen, sondern die Konsumtempel sind
der bevorzugte Schauplatz dieser neuen Religiosität. So vergleicht der Theologieprofessor
Harvey Cox die Schaufenster der Warenhäuser mit der Krippenszenerie; das
Etikett mit dem Markenzeichen deutet er als säkularisierte Hostie. Prinzipieller
gesagt: Das Ideal des Marketing ist die religiöse Ikonenverehrung, denn »in
der Ikone ist der Gegensatz von Diesseits und Jenseits aufgehoben« (Gotthard
Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik
, 1968, Band II, S. 200). (Ebd., S. 34).Die Konsumgütermärkte
als Schauplatz der Sinnstiftung - es ist das große Verdienst deS. Saint-Simonismus,
diese Konzeption erstmals in aller Klarheit formuliert zu haben: die Verwandlung
aller Geschäfte in Kulte. Entscheidend ist dabei, daß der Kunde vom
passiven Konsum zur aktiven Devotion voranschreitet. Doch erst heute ist aus der
saint-simonistischen Idee konsumistische Wirklichkeit geworden. Große Marken
formieren Sekten. Und - Ironie der »Posthistorie« (**)
- dieser Kult der Märkte übergreift auch seine Kritiker. Denn die neue
Religiosität des Konsumismus hat zwei Gesichter - das affirmative des Markenkults
und das kritische der Protestbewegungen. Revolte und Mode sind beide soziale Heilsgottesdienste.
Und heute gibt es sogar Ansätze zu einem »guten Kapitalismus«,
der »ethisches Einkaufen« ermöglicht. Bio und Öko verheißen
das Heil als Freikauf: Man kauft sich auf dem Markt von einer Schuld los.
(Ebd., S. 34).Der Logik des Konsumismus folgt aber nicht nur die
kapitalistische Ersatzreligion, sondern auch die Religion selbst (die Religion
selbst!). Sie ist von außen betrachtet nur noch eine der Marken, die
auf dem Markt der Spiritualität miteinander konkurrieren. Die christlichen
Kirchen stehen heute also im Wettbewerb um den freien religiösen Markt. Neben
den Gläubigen ist längst der Religionskonsument getreten, der in die
Kirche geht, um sich spirituell zu unterhalten. Auf dem Markt der Religionen dominiert
die spirituelle Selbstbedienung, das Do-it-yourself der Selbsterlösung.
(Ebd., S. 34).So entsteht millionenfach das, was Karl Gabriel Bastelreligion
genannt hat. Und die hat durchaus noch Verwendung für christliche Versatzstücke
wie Weihnachten, das als »unmittelbare Vereinigung des Göttlichen mit
dem Kindlichen« (Friedrich Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier, 1867,
S. 67) so ideal in den Seelenhaushalt des modernen Menschen paßt. Aber auch
alle, die mehr für sich erwarten als bloße Sentimentalität, werden
heute konsumistisch bedient - etwa durch eine Wallfahrt, die die religiöse
Pflichtreise in Tourismus aufhebt. Ein Komiker mit einschlägigen Erfahrungen
hat für die spirituelle Erfahrung dieser Boutique - und Wellneß-Religion
die ununterbietbare Formel gefunden: Ich bin dann mal weg. (Ebd.,
S. 34-35).Schon Max Weber hatte in seiner Rede über den Beruf
zur Wissenschaft über die religiöse Innenausstattung der modernen
Seele gespottet, gerade Intellektuelle seien versucht, sich eine »spielerisch
mit Heiligenbildchen aus aller Herrn Länder möblierte Hauskapelle«
einzurichten. (Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 1917, S. 35). Entscheidend
ist hier für unseren Zusammenhang, daß man auch religiös sein
kann, ohne an etwas Bestimmtes zu glauben. Gerade für die Boutique-Religion
gilt also Nietzsches Formel: »der religiöse Instinkt« wächst,
aber er lehnt »die theistische Befriedigung« ab. (Vgl. Friedrich Nietzsche,
Sämtliche Werke, Band V, S. 73). Wir haben es hier mit Menschen zu
tun, die vielleicht »gottunfähig« (Alfred Delp), aber nicht irreligiös
sind. (Ebd., S. 35).Die Boutique-Religion ist wie eine Ellipse
um die beiden Brennpunkte Multikulturalismus und Tribalismus konstruiert. Die
religiöse Form des Multikulturalismus reicht vom Buddhismus light über
den Urlaub in Nepal bis zu fernöstlichen Managerweisheiten. Der Tribalismus
ist eine Reaktionsbildung auf die Globalisierung. Von der Brüderlichkeit
der Stammesgemeinschaft zur universalen Andersheit, zur Weltgesellschaft aus »Anderen«
- so hat der große Soziologe Benjamin Nelson die Entwicklung der abendländischen
Gesellschaft beschrieben. Doch der Prozeß der Globalisierung mit seinem
Preis der Entfremdung zu universaler Andersheit ist offenbar nur durch Kompensationen
zu ertragen. Die Boutique-Religion bedient hier nicht nur die Sehnsucht nach dem
»Ganzen«, sondern ist auch zuständig für das »Wir«.
Neue Tribalismen gleichen die Zumutungen der Weltgesellschaft aus. Auf den Straßen
der Metropolen und in den virtuellen Räumen des Internet finden sich die
Jugendlichen zu neuen Stammesgemeinschaften zusammen. (Ebd., S. 35).Für
derart triviale Sinnfragen hatte die Sprache der Religion immer schon das Bild
vom verlorenen Paradies parat. Das Paradies ist das Bild von der guten Schöpfung;
die Vertreibung daraus soll uns klar machen, daß wir auf Erlösung angewiesen
sind. Aber könnte man die Bewegungsrichtung der Menschheit - Fortschritt
genannt - nicht einfach umkehren und wieder zurück ins Paradies kehren? Zweitausend
Jahre lang hat man an religiöse und politische Erlösungsversprechen
geglaubt und auf das Reich Gottes oder der Freiheit gewartet. Die Enttäuschung
dieser Hoffnungen hat das Bild vom Paradies wieder aktuell gemacht. (Ebd.,
S. 35).Paradies heißt heute, nicht mehr erlösungsbedürftig
zu sein. Nach den revolutionären Sturmliedern erklingt nun weltweit die Pastorale
der Grünen, dieser »postmodernen« Hirten des Seins, die den Naturschutz
predigen. Ihr Motto lautet: Die Schöpfung bewahren, statt auf die Erlösung
zu hoffen. So tritt an die Stelle der christlichen Theologie der Felix Culpa (**),
also der Welt des Sündenfalls und der Komplexität, ein neuer Kult der
Einfachheit und Reinheit. (Ebd., S. 35-36).Das Paradies ist
die Welt des Infantilen, die heile Diesseitswelt. Im Paradies gibt es keine komplexen
Beziehungen; jedes Ding ist eine Welt. Es gibt nichts Unbekanntes, und die Erfahrungen
decken sich mit den Erwartungen. Der Garten Epikurs war dann der philosophische
Paradiesersatz: »die Abschirmung des kleinsten aller möglichen Paradiese.«
(Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, S. 268). Im Biedermeier
ist diese Technik, die man im heutigen Marketingjargon »Cocooning«
nennt, noch einmal ästhetisch durchprobiert worden. (Ebd., S. 36).Der
Garten Epikurs bot Genuß ohne Weltveranrwortung. Das ist verlockend in einer
Moderne, die sich das »Übermensch«-Programm zumutet, nämlich
Verantwortung für die ganze Welt zu übernehmen. Im Garten fallen Ökonomie
und Egonomie (Identitätsmanagement) zusammen - das gilt für den Garten
Eden, Epikurs, Candides und den Schrebergarten gleichermaßen. (Ebd.,
S. 36).Diese Gartenidylle läßt sich durchaus noch steigern.
Den Garten Epikurs überbietet Disneyland, das Paradies als Themenpark bzw.
als Etlebnispark, in dem alle Versprechungen gehalten werden. Und die ganze Welt
wird zum Garten Eden an den Traumstränden des Tourismus, dessen Werbung denn
auch ausdrücklich das Paradies verspricht. (**).
Jedes irdische Paradies ist, in der Sprache der Ökonomie, ein Positional
Good. Dessen Wert steht ja in direktem Verhältnis zur Beschränkung des
Zugangs zu ihm. Man genießt das, wozu die Vielen keinen Zugang haben; man
kauft sich sozialen Abstand. Und wenn man Positional Goods für die Massen
zugänglich macht, zerstört man sie. Die Paradiese der Welt existieren
nur, weil sie selten und immer schwer zugänglich sind. Mit anderen Worten:
Der Wert eines Paradieses bemißt sich danach, in wie weit es die anderen
ausschließt. Man genießt nicht nur, sondern man genießt auch
das Nichtgenießen der anderen. Damals hat Gott die Menschen aus dem Paradies
vertrieben. Heute vertreiben wir die anderen Menschen aus unserem Paradies: Privatweg.
No Trespassing. (Ebd., S. 36).
Um
sich vor dem Einbruch der Realiät in den Traum vom Paradies zu schützen
- Tsunami! -, kann man das Märchen der großem Gefühle, die Romanze
des Escape erzählt. All diese Paradiesgärten schützen uns vor dem
Erwachsenwerden, dem eigentlciehn Sündenfall. (Ebd.). |
Wer
in der Bibel liest, um sich über das Paradies zu informieren, wird enttäuscht.
Außer der Beschreibung eines schwach bevölkerten Gartens findet man
eigentlich nur den rätselhaften Hinweis, daß im Paradies alles seinen
richtigen Namen hatte. Aber vielleicht ist das ja der Grund für die Sprödheit
der Geschichte: Weil wir aus dem Paradies vertrieben worden sind, fehlen uns die
richtigen Worte, um es zu beschreiben. Auch in späteren Geschichten erscheint
das Paradies immer nur als das verlorene. Und das weckt den Verdacht, daß
es schon dem Gott der Bibel nicht um das Paradies, sondern um seinen Verlust zu
tun ist. Die Vertreibung aus dem Paradies ist die Ausstoßung in die Endlichkeit
- nur darum geht es in der Bibel. Die Versuchung durch die Schlange ist lediglich
ein Vorwand. (Ebd., S. 36-37).Wenn man die theologische Vorstellung
von der Vertreibung aus dem Paradies in philosophische Begriffe übersetzt,
dann besagt sie: Entzweiung, Differenz. »Paradies« ist die Vorstellung,
die uns »Entzweiung« als Verlust denken läßt. Und dieses
Bild hält uns auch dann noch gefangen, wenn wir die Einheit, das Ganze und
den Konsens gut finden, die Differenz und den Dissens aber scheuen. So beobachten
wir heute in allen Lebensbereichen eine Flucht aus dem Paradox ins Paradies -
zu Deutsch: wir wollen nicht mehr unterscheiden. (Ebd., S. 37).Paradies
heißt vor allem aber, daß es keinen Mangel an Zeit gibt. Und entsprechend
symbolisiert die Vertreibung aus dem Paradies, daß von nun an die Zeit knapp
ist. Seither erscheint das Leben im Zeichen von Entzweiung und Entfremdung, Arbeit
und Kampf ums Dasein; ja sogar die Erfolgreichen erfahren es als Tretmühle
der Lust. Die Vertreibung aus dem Paradies, das wir ja immer nur als das verlorene
gezeigt bekommen, steht für die Ausstoßung des Menschen in die Endlichkeit.
Für infantile Gemüter ist das ein Grund zum ewigen Jammern. Dem Erwachsenen
dagegen erzählt der Paradiesmythos, daß der Mensch zum Menschen wurde,
als er auf das Glück verzichtete. (Ebd., S. 37).Die
Zeit des absoluten Anfangs und die Zeit des absoluten Endes faszinieren beide
durch ihre Simplizität. Paradies und Apokalypse sind funktional äquivalent,
denn beide verheißen eine Existenz, für die Lebenszeit und Weltzeit
zusammenfallen, d.h. für die es keine Kontingenz mehr gibt. Der
Religionsphilosoph Jacob Taubes hat in listigem Anschluß an Gershom Scholem
und Leon Festinger einmal formuliert: Der Fehlschlag der Prophetie provoziert
Apokalypsen, der Fehlschlag der Apokalypse provoziert Gnosis. (Vgl. Jacob Taubes,
Vom Kult zur Kultur, S. 181). Diese Gesetzmäßigkeit bestätigt
sich gerade auch in der Geschichte weltlicher Heilsvorstellungen. Rückblickend
kann man sagen: Der Plan war - bis zum Zusammenbruch des Kommunismus - das Heilsversprechen
der Fortschritts-Religion. Und der Menschenrechts-Humanismus ist heute die Heilsreligion
der Demokratie; sie verkündet »Brüderlichkeit«, auch Solidarität
genannt. Wir kommen gleich darauf zurück. (Ebd., S. 37).All
diesen Varianten ist gemeinsam, daß sie das Heil als Entropie (**)
konzipieren. Man will Gegensätze überwinden, Widersprüche versöhnen
- also das Ende des Unterscheidens, gleichviel ob es sich dabei um Klassengegensätze,
die Geschlechterdifferenz oder den »clash of civilizations« handelt.
Heil hieß und heißt hier immer Ganzheit. Nach dem Scholem/Taubes-Gesetz
(**) folgt auf den Fehlschlag
der Prophetie also eine neue Apokalypse. Und in der Tat: Weil die Hoffnung auf
Erlösung (durch Gesellschaft) enttäuscht wurde, interessiert man sich
heute wieder für die Schöpfung (Natur). Und dann müßte man
erwarten, daß auf den Fehlschlag der grünen Apokalypse eine neue Gnosis
folgen wird. (**).
(Ebd., S. 37-38).Jedes Heilsversprechen produziert
zugleich Hysterie und Hoffnung. Die Hoffnung auf Erlösung in einer anderen
Zeit oder einem anderen Ort nährt sich von der Hysterie einer radikalen Kritik
des Bestehenden. Im Licht der Erlösung wird uns erst klar, daß und
wie unglücklich wir sind. Jedes Heilsversprechen ist also zugleich Elendspropaganda.
Wie Ärzte einen Therapiebedarf produzieren, so schaffen Propheten einen Erlösungsbedarf.
Ein Heilsversprechen macht uns erst klar, daß wir Erlösung brauchen.
(Ebd., S. 38).Die Sehnsucht nach dem Heil entwertet alles, was
der Fall ist, zu Requisiten des Unheils und legitimiert die Rücksichtslosigkeit
als revolutionäre Ungeduld. Indem es Charisma gegen die Pietät aufbietet,
diffamiert das Heilsversprechen die Rechtsordnung. Man ist dann mit gutem Gewissen
gegen das Bestehende. Und dabei ist es geradezu von Vorteil, eine »kleine
radikale Minderheit« zu sein, denn das Heilsversprechen wappnet gegen die
Kontingenz, indem es sie in sich aufnimmt: Nur wenige sind auserwählt. Das
Heil in der Schöpfungsordnung suchen die Anhänger der Öko-Religion.
Das Heil in der Gnadenordnung erzwingen die Fundamentalisten. (Ebd., S.
38).Heilsversprechen verwandeln Unglück
und Elend in revolutionäre Energie. Das Urmodell dafür ist wohl die
theologische Denkfigur der Felix Culpa: Der Sündenfall im Paradies wird als
Glücksfall für die Welt gedeutet. Jetzt kann Gott uns erlösen und
wir können uns bewähren. Gerade indem eine Prophetie Strafgerichte ansagt,
produziert sie eine »einheitliche sinnhafte Stellungnahme« zum Leben.
Und so wird »Lebensführung qua Formung des Lebens in der Welt«
möglich - Max Webers großes Thema. (Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze
zur Religionssoziologie, Band I, 1919, S. 262). Die jeder Prophetie implizite
Gesinnungsethik bezieht das ganze Leben auf das Heilsziel, das nicht von dieser
Welt sein darf. (Ebd., S. 38).Nur die Verheißung eines
transzendenten Heils kann die systematische Einheit einer autonomen Lebensführung
sichern. Gerade das Unglück wird dabei zum Motor des Heils. Die Auferstehung
ist zwar das Happy End des Christentums, doch damit ist der »gute Ausgang«
in der Welt blockiert. Für das dumpfe Faktum des Unglücks muß
man nun aufwendige Theodizee-Formulare bereitstellen. So hatte Calvins Begriff
der göttlichen Vorsehung ja den Sinn, jeden Gedanken an Zufall und Glück
auszuschließen. Mit dem Unglück dagegen konnte sich das Christentum
arrangieren - es war das Inkognito des Heilswegs. Doch damit hat das Christentum
die Latte des Heils zu hoch gelegt - jetzt will niemand mehr springen, nämlich
den Sprung des Glaubens. (Ebd., S. 38-39).So scheint den
christlichen Kirchen die religiöse Urunterscheidung Heil / Verdammnis heute
eher peinlich zu sein. Oder anders gesagt: Wenn Gott nur noch der liebe Gott ist,
zerfällt die ordnende Differenz von Heil und Verdammnis. Der Humanismus der
Kirchen muß dann kompensieren, daß sie die Themen Kreuz, Erlösung
und Gnade aufgegeben haben. Nietzsche hat das in aller Deutlichkeit gesehen: »Je
mehr man sich von den Dogmen loslöste, um so mehr suchte man gleichsam die
Rechtfertigung dieser Loslösung in einem Cultus der Menschenliebe.«
(Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke , Band III, S. 123). Das Residualchristentum
der Alle-Menschen-Liebe weiß nichts mehr von Paulus. (Ebd., S. 39).Resümieren
wir: Das Heil kommt entweder von Gott, und da ist es zunächst gleichgültig,
ob es unser Schöpfer oder ein gnostischer Fremdgott ist. Oder, spezifisch
modern: das Heil kommt durch die Gesellschaft, die sich nach Revolutionen als
Reich der Freiheit offenbart; hier kann man die Rettung durch Geschichtsphilosophie
und progressive Politik beschleunigen. Oder wir finden zum Heil in der Therapie,
sei es des Psychoanalytikers, des Homöopathen, des Unternehmensberaters.
Oder aber wir suchen das Heil im eigenen Selbst, sei es, daß man für
permanente Fitneß sorgt, sich an den körpereigenen Endorphinen berauschen,
ja Urin trinkt; hierher gehören auch alle Formen der Selbstmedikation und
der Optimierung des eigenen Körpers. Die letzte Variante ist natütlich
die interessanteste, weil sie die Sorge um das Heil im Selbstbezug oszillieren
läßt. Und das könnte die Gestalt der neuen Gnosis sein, die auf
den Fehlschlag der grünen Apokalypse folgen müßte. (Ebd.,
S. 39).
Die Weltmeister im Guten
Als Max Weber den Gesinnungsethikern
seiner Zeit eine Verantwortungsethik entgegenstellte, war dieser Begriff der Verantwortung
ein Ausdruck des politischen Augenmaßes und einer gereiften Männlichkeit,
die weiß, daß man mit jeder wertorientierten Lebensentscheidung in
Teufels Küche gerät. Seither hat sich die Bedeutung des Begriffs Verantwortung
geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Terroristen übernehmen weltöffentlich
»Verantwortung« für ihre wahnsinnigen Mordtaten, und große
Unternehmen blähen sich mit Konzepten wie »Corporate Responsibility«
als Große Bürger der Weltgesellschaft auf. Dem entspricht auf der Ebene
intellektueller Empfindsamkeit der Anspruch der »Gutmenschen«, von
den Ereignissen der ganzen Welt »betroffen« zu sein. (Ebd.,
S. 41).Die Ethik der Weltverantwortung entspringt dem rein religiösen
Bedürfnis, inmitten der entzauberten Welt das Mysterium des Humanen wieder
zur Geltung zu bringen. Es steht und fällt mit dem Phantasma, der Mensch
sei »Mandatar eines Wollens der Natur« (Hans Jonas, Technik, Medizin
und Ethik, 1987, S. 85). Diese Formulierung stammt von Hans Jonas, dessen
Ethik die religiöse Grundstruktur des Humanitarismus besonders deutlich macht.
Das »Prinzip Verantwortung« von Jonas ist zentriert um die Begriffe
von Furcht und Tabu, um das Humanum und das Heilige. Sein Ausgangspunkt ist das
Tabu über den Menschen als Geschöpf Gottes, das heute von der Gentechnik
angetastet wird. Von hier startet Jonas einen Generalangriff gegen die wissenschaftliche
Entzauberung der Welt. Und dieser Humanitarismus ist stets bereit, in Fundamentalismus
umzukippen - so fordert Jonas ausdrücklich: »Unsere so völlig
enttabuisierte Welt muß angesichts ihrer neuen Machtarten freiwillig neue
Tabus aufrichten.« (Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik, 1987,
S. 218). (Ebd., S. 41).Mit der paradoxen Formel von den freiwilligen
Tabus meint Hans Jonas Praktiken, die uns das Fürchten lehren. Wir sollen
uns fürchten vor dem, was wir können. Der Mensch ist sich hier selbst
zum bösen Demiurgen geworden, gegen den er Sicherheitsvorkehrungen treffen
muß. Technik ist des Teufels, der uns einem Absolutismus des Machbaren unterworfen
hat. In dieser Version des Teufelspakts wird Faust, der ja
einmal der tragische Held neuzeitlicher Selbstbehauptung war, nicht nur vom Teufel
geholt, sondern selbst zum Teufel. Mit anderen Wonen: Der faustische Mensch mit
seinen technischen Möglichkeiten wird zum letzten und eigentlichen Feind
der Menschheit stilisiert. (Ebd., S. 41-42).Das »Prinzip
Verantwortung« ist also im Kern eine »Ethik der Furcht vor unserer
eigenen Macht« (Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik, 1987, S.
299). Eine Angstkultur soll das naturwissenschaftlich-technische Wissen der Gegenwart
vermenschlichen. Damit wird Furcht zur ersten Bürgerpflicht - nicht mehr
die »Furcht des Herrn«, sondern die Furcht des Menschen vor sich selbst.
Die Angst des Menschen vor den eigenen Techniken tritt hier die Erbschaft der
archaischen Weltangst und der mittelalterlichen Angst vor Gottes Allmacht an.
Es ist das große Verdienst von Hans Jonas, diese Denkstruktur so klar herausgearbeitet
zu haben, daß sie als religiöses Fundament der fundamentalistischen
Grünen erkennbar wird. (Ebd., S. 42).So
wie früher revolutionäres Klassenbewußtsein produziert wurde,
wird heute apokalyptisches Umweltbewußtsein produziert - die Bewußtseinsindustrie
hat von Rot auf Grün umgestellt. Und wie damals die Roten, so beuten heute
die Grünen das Schuldbewußtsein der westlichen Kultur aus. Dabei entfaltet
sich eine Dynamik, die jedem Religionswissenschaftler vertraut ist: Die apokalyptische
Drohung produziert Heilssorge. (**).
Deshalb tritt man der Sekte bei, wirft Bomben im Namen der Unterdrückten
und Beleidigten, befreit die Hühner aus den Legebatterien oder trennt doch
wenigstens den Hausmüll. Zugleich wirkt in der apokalyptischen Drohung aber
auch die Verheißung, die eigene Lebenszeit mit der entfremdeten Weltzeit
endlich zur Deckung zu bringen, die eigene Existenz mit der Welt zu synchronisieren.
Sei es der Untergang der Welt oder der Sonnenaufgang des Kommunismus, sei es die
Rache der Natur an der Zivilisation oder das Flammenzeichen des Millenniums -
das Entscheidende geschieht in Deiner Lebensfrist! (Ebd., S. 42).Die
grüne Bewußtseinsindustrie ist auf dem Markt der öffentlichen
Meinung eben deshalb so erfolgreich, weil sie die Apokalypse als Unique Selling
Proposition offeriert. Und Apokalypse heißt stets: Was hier auf dem Markt
der Gefühle angeboten wird, war noch niemals da; die Wende der Welt steht
mir selbst bevor als absolutes Erlebnis. Daß dies nicht metaphorisch,
sondern buchstäblich zu verstehen ist, haben us-amerikanische Spötter
mit drei Lesarten des Hilferufs SOS verdeutlicht, in denen sich konkretisiert,
wie die Apokalypse als Ware auf dem Markt der Gefühle funktioniert.
(Ebd., S. 42-43).SOS heißt ursprünglich natürlich
Save Our Souls unüberbietbar vermarktet von dem Hollywood-Film »Titanic«.
Der gescheiterte Präsidentschaftskandidat und Friedensnobelpreisträger
Al Gore hat dann die zweite Lesart durchgesetzt: Save Our Selves - unüberbietbar
vermarktet in dem Weltkonzert »Live Earth« (Benefiz-Weltkonzert
- das größte und dem bis dahin größten »Live Aid«
nachgebildete Rockkonzert der Geschichte; HB). SOS heißt schließlich,
drittens, Save Our Sales. Denn nichts verkauft sich heute in der westlichen Wohlstandsgesellschaft
besser als Öko, Bio und Grün. Und längst hat Hollywood diese neue
Form der Gehirnwäsche, das »Greenwashing«, in eigene Regie genommen;
seine Sterne und Sternchen präsentieren uns die Rettung der Welt als gute
Unterhaltung. (Ebd., S. 43).Doch diese Kunst, aus der apokalyptischen
Drohung den Honig der guten Tat und der erfolgreichen Geschäftsidee zu saugen,
unterscheidet zur Zeit noch die us-amerikanische Öko-Religion von der deutschen,
die sehr viel mehr auf die Katastrophe als Negativ des Heils fixiert ist. So kann
es auch nicht verwundern, daß die empirischen Apokalypsen überwiegend
deutsche Erfindungen sind. 1830 prophezeit der Naturforscher Karl Friedrich Schimper
die Eiszeit. 1850 prophezeit der Physikprofessor Rudolf Clausius den Wärmetod
(**).
1979 prophezeit der Bodenforscher Bernhard Ulrich das Waldsterben. Nur die Klimakatastrophe
verdankt sich nicht deutscher Einbildungskraft: 1988 prophezeit der US-Amerikaner
James Hansen (Deutscher Herkunft?
HB) die »globale Erwärmung«. (Ebd., S. 43).Diese
vier Gestalten der grünen Apokalypse mögen genügen, um ein Zwischenfazit
zu ziehen. Die Theologie des Weltuntergangs ist durch die
Ökologie des Weltuntergangs ersetzt worden. Und hier handelt es sich um eine
präzise Umbesetzung im religiösen Stellenrahmen: Der Untergang der Welt
ist das Jenseits als Diesseitserwartung. Statt »Was darf ich hoffen?«
fragt die heutige Religiosität: »Was muß ich fürchten?«
Wenn es nämlich keinen positiven Gegenstand der Verehrung mehr gibt, richtet
sich die für jede Religion charakteristische Sehnsucht nach Abhängigkeit
auf das Unvorhersehbare, das die alten Griechen Tyche nannten. (Ebd., S.
43).So hat sich in der westlichen Welt eine Ökumene der Ängstlichen
formiert, die Schützenhilfe von engagierten Wissenschaftlern bekommt. Das
läuft dann so: Am Anfang steht die Erfindung einer Krise; die Krise begründet
die Notwendigkeit der Forschung; die Bedeutsamkeit dieser Forschungen legitimiert
ihre staatliche Finanzierung; die Forschung im »öffentlichen Interesse«
braucht eine politische Organisation - und dort entsteht, was Wissenschaftstheoretiker
»scientific bias« nennen. Zu Deutsch: Man findet immer, was man erwartet.
Und immer ist es Fünf vor Zwölf. (Ebd., S. 43-44).Die
Katastrophe fasziniert offenbar als genaues Gegenbild zum funktionierenden System
der modernen Gesellschaft. Keine Statistik, keine Mathematik und keine Erfahrung
kann uns auf eine Katastrophe vorbereiten. Die Katastrophe ist nämlich just
der Fall, für den man die modernen Techniken von Risikokalkül und Expertenurteil
nicht akzeptiert. Rationalität hat hier keine Chance einzuhaken. Gerade beim
Thema Erderwärmung präsentieren sich viele Wissenschaftler als Glaubenskrieger.
(Ebd., S. 44).Seit dem Fall der Berliner Mauer beobachten Medienwissenschaftler
eine Inflation der Katastrophenrhetorik. Offenbar hat das Ende des Kalten Krieges
ein Vakuum der Angst geschaffen, das nun professionell aufgefüllt wird. Man
könnte geradezu von einer Industrie der Angst sprechen. Politiker, Anwälte
und Medien leben ja sehr gut von der Angst. Und eine ständig wachsende Anzahl
von Gefälligkeitswissenschaftlern nutzen die Universitäten als eine
Art Zulieferindustrie. (Ebd., S. 44).Doch
nicht nur die Gefälligkeitsforschung der Alarmsignale, sondern auch der Exhibitionismus
des Publikums hält die Angstindustrie in Schwung. Es sind gerade die Gebildeten,
Engagierten und »Guten«, die ihre Angst vor XY öffentlich ausstellen.
Nun muß man kein Psychoanalytiker sein, um zu begreifen, daß die Unheilserwartungen
die bösen Wünsche der »Gutmenschen« sind. Im Angsttraum
ängstigen wir uns nämlich nicht vor dem Schrecklichen, sondern vor unserem
eigenen Wunsch danach. Von dieser Lust am Untergang lebt die Politik der Urängste.
(Ebd., S. 44).In der Faszination durch die Katastrophe oszilliert
aber auch eine Dialektik von Heilsversprechen und Elendspropaganda, die zugleich
Hysterie und Hoffnung produziert. Denn die Welt ist noch zu retten, wenn wir alle
am Gottesdienst der Vorsorge und Sicherheit teilnehmen. Schon heute ist die Religion
des Sorgens und Schützens die eigentliche Zivilreligion der Deutschen. Sie
folgen dabei den grünen Hohepriestern, die sie weg von Gott Vater und hin
zu Mutter Erde führen. Dieser Kult der Natur, der den Verlust der Gnade kompensiert,
gipfelt in »Biophilia (Wilson), der Liebe zum Lebendigen an sich.
(Ebd., S. 44).Die Öko-Religion hat durchaus ihre Priester,
ihre Pilgerfahrten und ihren Heiligen Gral. Nur daß die jungen Glaubenshelden
heute Ölplattformen besetzen und die Rainbow-Warrior gegen finstere Atommächte
in See sticht. Greenpeace - das sind die Kreuzritter der heilen Welt. Sie stehen
deutlicher als andere Nicht-Regierungs-Organisationen für eine neue Religiosität,
die auf den Namen »Umweltbewußtsein« getauft ist. Umwelt heißt
der erniedrigte Gott, dem die Sorge und die Heilserwartung gelten. Die Heilssorge
unserer Zeit artikuliert sich als Sorge um das ökologische Gleichgewicht.
Und das bedeutet im Klartext: Für die fundamentalistischen Grünen ist
Natur selbst die Übernatur. So funktioniert das Umweltbewußtsein als
Quelle einer neuen Religiosität. (Ebd., S. 44-45).Dieses
grüne Glaubenssystem ist natürlich viel stabiler als das rote, das es
ablöst. Die Natur ersetzt das Proletariat - unterdrückt, beleidigt,
ausgebeutet. Die Enttäuschung des linken Heilsversprechens hat apokalyptische
Visionen provoziert (**),
nämlich solche vom Untergang der Umwelt. Für eine funktionalistische
Betrachtung liegt der Zusammenhang auf der Hand: Weil die Hoffnung auf Erlösung
enttäuscht wurde, interessiert man sich wieder für Schöpfung -
unter dem Namen Umwelt. Und dabei muß man nicht einmal auf den Rausch der
Revolution verzichten. Denn man kann auch die Revolution als innerweltliche Askese
verklären - in exakter Gegenführung zu Max Webers puritanischem Kapitalisten.
Kämpfen »draußen« heißt dann nichts anderes als:
der Weltablehnung in der Welt selbst Nachdruck zu verleihen. (Ebd., S. 45).Wer
profitiert also vom Niedergang der christlichen Kirchen? Vor allem diejenigen
Organisationen, die den unverändert starken religiösen Impuls in ein
neues Glaubensschema umleiten können. Wir erinnern uns an die RAF, denken
aber auch an den fundamentalistischen Terror und die selbsternannten Retter von
Flora und Fauna. Sie alle entfesseln mit dem Gesetz des Herzens den Wahnsinn des
Eigendünkels. Die Öko-Religion ist der neue Glaube
für die gebildete Mittelklasse, in dem man Technikfeindlichkeit, Antikapitalismus
und Aktionismus unterbringen kann. (Ebd., S. 45).Hier gilt
es nun, ein nahe liegendes Mißverständnis auszuschalten. Ökologie
als Heilsreligion zu beschreiben, wie wir es gerade getan haben, bedeutet nämlich
nicht, das ökologische Komplexitätsbewußtsein zu denunzieren,
sondern es von einem neuheidnischen Naturkult zu unterscheiden, der allerdings
die Sympathie der Massenmedien auf seiner Seite hat. Diejenigen, die sich mit
religiöser Inbrunst der Natur zuwenden, sind von der Geschichte enttäuscht.
Und weil sie sich nicht mehr in die Arme der Kirche zu werfen
wagen, beten sie grüne Rosenkränze. Die Natur ersetzt Gott als externe
Instanz des Urteils über die Gesellschaft. (Ebd., S. 45).So
hat sich das Devotionsbedürfnis auf die Natur verschoben: die Umwelt als
Übernatur. Diejenigen, die es entrüstet als Zumutung von sich weisen,
Gott Vater anzubeten, huldigen ganz selbstverständlich einem Kult der Mutter
Erde. Und der hat alle Evidenzen der modernen Medienwelt auf seiner Seite; das
Foto vom blauen Planeten ist wohl das am häufigsten reproduzierte. Die ikonische
Qualität der aus dem Weltraum gesehenen Erde hat der Öko-Religion eine
unvergleichliche Aura verschafft. Dieses Bild steht für die Sakralisierung
der Erde und die große Rückwendung des menschlichen Interesses von
der Vermessung des Unermeßlichen zur Sorge um die eigene Endlichkeit.
(Ebd., S. 45-46).Das Wunder ist der theologische Begriff für
die Ausnahme, die das Gesetz der Natur nicht akzeptieren kann. Da wiegt es besonders
schwer, wenn ausgerechnet Hans Blumenberg, der überzeugend wie kein anderer
die für die Selbstbehauptung der Neuzeit konstitutive wissenschaftliche Neugier
legitimierte, am Ende seiner Beschreibung der kopernikanischen Welt den blauen
Planeten Erde als das »Wunder der Ausnahme« feiert. (Vgl. Hans Blumenberg,
Die Genesis der kopernikanischen Welt, 1975, S. 793). In dieser Pastorale
scheint sich der Anti-Absolutist mit den neuen Hirten des Seins zu treffen. Sie
wollen die Schöpfung bewahren, statt auf die Erlösung zu hoffen. Doch
die entscheidende Differenz liegt in der Hybris der Schöpfungsbewahrer, die
sich als Hirten des Seins aufspielen. Und Blumenberg hat sie mit ironischer Schärfe
benannt: »Der Memch besorgt die Sache Gottes, nicht als dessen Nachahmer,
sondern als dessen Schadenbereiniger, Nachhilfelehrer, wenn nicht gar als dessen
Nachlaßverwalter.« (Vgl. Hans Blumenberg, Ein mögliches Selbstverständnis,
S. 189). (Ebd., S. 46).
Der Götzendienst des Ich
Wenn,
wie gerade gezeigt, eine Naturidolatrie den Gnadenverlust kompensiert, dann deutet
das auf Substitutionsverhältnisse hin, die wir noch etwas genauer charakterisieren
müssen. Drei Kandidaten stehen bereit, um den gnädigen Gott zu ersetzen:
die gerechte Gesellschaft, die heile Natur und das wahre Selbst. Längst hat
unsere Alltagskultur die mittelalterliche Sünde der »incurvitas in
se ipsum«, also der grübelnden Versenkung in sich selbst, entübelt
und sieht gerade hier den Heilsweg. Konkret funktioniert das so, daß die
Rede vom Sinnverlust eine metaphysische Marktlücke für Selbstverwirklichung
erzeugt. (Ebd., S. 47).Spezifisch modern ist das deshalb,
weil die Sinnkrise durch Selbstthematisierung entsteht. Man wird sich selbst zum
Problem, weil man keine Aufgaben hat, die einen von sich selbst ablenken. Die
Sinnfrage ist also der Kurzschluß des Menschen. Das hatte wohl Eric Voegelin
im Sinn, als er von »Egophanie« sprach. Ein schöner Begriff,
der nicht nur romantisch klingt, sondern, wieder einmal, die Aktualität der
Romantik signalisiert: Jeder will sein eigener Priester sein. (Ebd., S.
47).Die Sorge um sich war ja einmal die Sorge um das eigene Seelenheil;
und dieses Heil erhoffte man sich von Gott. Seit den großen Revolutionen
der Moderne werteten die Menschen dann auf das Heil durch die Gesellschaft. Und
seit Freud bezahlen sie für ihr Heil in der Therapie. Hier ist nun eine Kuriosität
sehr aufschlussreich: Immer mehr Menschen ersetzen die Psychotherapie durch eine
Ritus-Beratung. Damit wird, erstens, Individualisierung selbst als Religion erkennbar
und, zweitens, deutlich, daß die absoluten Iche Bindung brauchen, also »religio«.
(Ebd., S. 47).Religion hat im Lauf der Geschichte ihren Schauplatz
gewechselt. Gott als Kultzentrum ist erst durch die Gesellschaft und dann durch
das Individuum ersetzt worden. Mit dem Kommunismus endete die Säkularreligion,
die den Glauben an die Erlösung durch Gesellschaft gepredigt hat. Der Gottesstaat
der Atheisten ist vor unseren Augen zusammengebrochen. Wir glauben nicht mehr
an die Verheißungen des Kollektivs. Was tritt nun an die Stelle einer Gesellschaft,
die ihrerseits an die Stelle Gottes getreten war? Offenbar das Individuum.
(Ebd., S. 47-48).Auch wenn Religionssoziologen zeigen können,
wie das moderne Individuum schon vor 500 Jahren auf der Suche nach dem eigenen
Heil entstand, wird es als soziale und Heils-Rolle doch erst heute unwiderstehlich.
Gerade wenn man, wie die neuere funktionalistische Soziologie, mit Systembegriffen
operiert, sieht man nämlich, daß das Individuum kein Teil oder Element
der Gesellschaft ist. Man könnte eher sagen: Das Individuum ist aus der Gesellschaft
ausgeschlossen. Aber gerade dadurch wird es »transzendent« - also
ein brauchbarer Gottesersatz. (Ebd., S. 47-48).Als Individuum
macht sich der Mensch zum Kultzentrum einer Religion der Einmaligkeit. Deshalb
ist heute Buddhismus angesagt als Lehre von der Selbsterlösung. Immer wenn
von »Selbstverwirklichung« die Rede ist, soll das aus der Gesellschaft
ausgeschlossene Individuum die Stelle der Transzendenz besetzen. Die Unergründlichkeit
des eigenen Selbst macht dann das dunkle Zentrum der Transzendenzerfahrung aus.
Und die Transzendenz im Selbst zu suchen, ist eben die entscheidende Pointe des
Buddhismus. (Ebd., S. 48).Mircea Eliade hat einmal gesagt:
Das menschliche Leben wird sinnvoll, indem es die paradigmatischen Modelle,
wie sie von übernatürlichen Wesen dargestellt werden, nachahmt.«
(Mircea Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung, 1976, S. 12). Sinn kommt
in die Welt, indem sich das Heilige manifestiert. Aber in unserer modernen, entzauberten
Welt hat sich das Heilige ins Imaginäre zurückgerogen. Zum Beispiel
in den Himmel über Berlin oder das Paradies der Werbung. Dort haben seit
einigen Jahren die Engel Konjunktur, und das bestätigt die Diagnose, die
wir schon im Blick auf die Öko-Religion gestellt haben: Nach dem Kult der
Natur kommt der Kult der Übernatur. Bischof Wolfgang Huber hat diesen Kult
der Engel neben der Wiedereinführung der Messe auf Latein in der katholischen
Kirche als wichtigstes Symptom für eine neue Ästhetisierung des Religiösen
analysiert. »In Deutschland glauben heute mehr Menschen an Engel als an
Gott. Sie wollen ein Gefühl des Behütetseins haben, aber nicht dabei
gefordert sein. Sie wollen bewahrt sein, aber nicht zur Rechenschaft verpflichtet.«
(Wolfgang Huber, Ich war selbst Schichtarbieter, in: Die Zeit, 15.11.2007,
S. 9). (Ebd., S. 48).Engel verbürgen »im Unsichtbaren
einen höheren Rang der Realität« (Rainer Maria Rilke, Über
Dichtung und Kunst, S. 270). Sie erscheinen als die Boten des Heilen. Engel
sind weder göttlich noch irdisch. Gerade deshalb sind sie die unüberbietbaren
spirituellen Embleme unserer Zeit. Sie bieten ein zugleich persönliches und
ätherisches Bild des eigenen Ich. Und welche Orientierungsverheißung
vom engelhaft Puren und Reinen ausgeht, hat die Kulturanthropologin Mary Douglas
sehr schön auf den Begriff gebracht: Reinheit ist der Feind des Wandels,
der Zweideutigkeit und der Kompromisse (vgl. a.a.O.). (Ebd., S. 48-49).Wem
das zu spirituell ist, dem bleibt doch die Selbsterregung und die Selbstherausforderung.
Man nimmt Drogen, berauscht sich an den körpereigenen Endorphinen - oder
an der Droge »Ich«. Und das sind durchaus echte Kultformen, denn die
haben ihren Adepten stets auch Erholung und Zerstreuung gewährt. Es wäre
aber ein Mißverständnis zu glauben, der Ich-Kult sei ein Schritt der
Befreiung des Einzelnen aus den Fesseln der Gesellschaft. Das hat Emile Durkheim
schon sehr klar gesehen: »Der Kult, den das Individuum für sich selber
und in seinem Innern organisiert, ist, statt der Kern des Kollektivkultes zu sein,
nur der Kollektivkult, der für die Bedürfnisse des Individuums hergerichtet
ist.« (Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens,
S. 249). (Ebd., S. 49).Im Ich-Kult ist der Mensch weniger
souveränes Individuum als - und so hat ihn Freud ausdrücklich interpretiert
- »unglücklicher Prothesengott« (Sigmund Freud, Gesammelte
Werke, Band XIV, S. 451). Er umstellt sich mit Hilfskonstruktionen der Existenz
aus der Welt der Moden, Drogen und Zerstreuungen. Und er ist längst unumkehrbar
abhängig von den Hilfsorganen seiner Techniken und Medien. Das mittelalterliche
Bild eines harmonischen Regelkreises von Gott-Welt-Mensch-Gott hat die Neuzeit
durch die Vorstellung eines Zweifrontenkrieges ersetzt, in dem der Mensch das
Chaos »draußen« und das Chaos »drinnen« mit Hilfe
seiner Apparate zu bewältigen sucht. Deshalb entspricht jenem Begriff des
Prothesengotts präzise die Konzeption der Seele als Apparat. Den »seelischen
Apparat«, von dem Freuds »Traumdeutung« spricht, also »das
Instrument, welches den Seelenleistungen dient«, sollen wir uns »vorstellen
wie etwa ein zusammengesetztes Mikroskop, einen photographischen Apparat u. dgl..«
(Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Band II/III, S. 541). Mehr läßt
die Aufklärung von der Seele nicht übrig. (Ebd., S. 49).Und
gerade deshalb fasziniert in der modernen Gesellschaft das Selbst als Seelenersatz.
Das moderne Individuum sucht die Selbsterlösung in der Selbstbezüglichkeit.
Damit durchbricht es aber die Selbstbeftiedigungsverbote der modernen gesellschaftlichen
Systeme. Das ist charakteristisch für die großen gnostischen Selbsterlösungsveranstaltungen
- man denke nur an die französische Revolution oder an Richard Wagners
Gesamtkunst-Werk. Es ist aber auch charakteristisch für das, was der Soziologe
Gerhard Schulze das »Selbstverwirklichungsmilieu« genannt hat; es
geht hier stets um die »Entfaltung des inneren Kerns«, nämlich
des gnostischen Ich-Kerns, der sich nur »spontan« bekunden kann, weil
er in der Black Box der sozialen Existenz eingekerkert ist. (Vgl. Gerhard Schulze,
Die Erlebnisgesellschaft, S. 314). (Ebd., S. 49).Ulrich
Beck spricht in diesem Zusammenhang von einer postreligiösen Theologisierung
des Alltags: »Die Entscheidungen der Lebensführung werden vergottet«.
(Ulrich Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 217). Das läßt sich
aber auch umgekehrt als Säkularisierungseffekt darstellen, wenn man den nominalistischen
Willkürgott des Mittelalters durch das eigenwertige und eigenrichtige Ich
umbesetzt. Das göttliche »Quia voluit« wird zum alltäglichen
»Weil ich es so will«. Das Individuum ist sein eigener Willkürgott
geworden. Und so trivial sich dieser Götzendienst des Ich heute auch darstellen
mag - er zieht doch die volle Konsequenz aus Nietzsches Überwindung des Atheismus
durch ein Antichristentum. Das Selbst, das sich selbst das Heil verheißt,
ist bei seinem Gott in die Schule gegangen. Und genau so wollte ja Nietzsche die
Religion retten: als Training der »Kraft der Selbsterlösung«
(Friedrich Nietzsche, Gesammelte Werke, Band III, S. 539) . (Ebd.,
S. 50).Doch für die These von Ulrich Beck liegt natürlich
auch eine kritisch-christliche Lesart auf der Hand: In der Vergottung der eigenen
Lebensentscheidungen wird die »postmoderne« Selbstverwirklichung auf
die mittelalterliche Sünde der »incurvitas in se ipsum« durchsichtig.
Und es gibt wohl keine Formel der christlichen Theologie, die heute aktueller
wäre als das Wort vom Götzendienst des Ich. Wer sich selbst sucht, findet
sich - das ist seine Strafe. Und er findet sich in der Hölle wieder. Denn
Gott gibt es, wie Donoso Cortes wußte, kein anderes Pronomen als »ich«.
So scharf pointiert zwar nur ein katholischer Reaktionär, doch auch ein protestantischer
Philosoph hat »die Verdammnis der Hölle durch das ewige Verbundensein
mit der subjektiven Tat, das Alleinsein mit seinem eigenen, sich selbst Angehörigen«
definiert. (Vgl .Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Glauben und Wissen, 1802)
(Ebd., S. 50).Diese Bestimmung findet sich in Hegels großartigem
Aufsatz »Glauben und Wissen« aus dem Jahre 1802, der auch heute noch
seine Reflexionsüberlegenheit über die Meinungen und Polemiken im Streit
um die neue Religiosität beweisen könnte - wenn man ihn lesen würde.
Dort wird der Kult des mit seiner Gottlosigkeit prunkenden Ich als innerer Götzendienst
entzaubert, und »Selbstverwirklichung« nennt Hegel schlicht eine »Unzucht
mit sich selbst« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Band II,
S. 387 [**]) Die antike Anweisung, sich
selbst zu erkennen, fordert nämlich nicht zur Selbstbeobachtung auf. Erkenne
Dich selbst, dann weißt Du, daß es wichtigeres gibt. Ich bin. Wie
komme ich von mir selber los? (Ebd., S. 50).
In
einer Rezension der Werke Friedrich Heinrich Jacobis aus dem Jahre 1817 (vgl.
Werke, Band IV, S. 436) findet Hegel denn auch die Formel, die jede Gestalt
des inneren Götzendienstes auf den kritischen Begriff bringt: »Verwerfung
der Vermittlung«. Man könnte auch einfacher sagen: Denkfaulheit.
(Ebd.). |
Paradox
formuliert: Man kommt dem Selbst in der Selbstvergessenheit näher als in
der Selbstverwirklichung. Das Selbst ist nämlich nicht der Einzelne, sondern
die Selbstvergessenheit in der Aufgabe. Und genau hier kehrt die aus der modernen
Welt verdrängte Seele wieder. Aber sie ist eben nicht im »psychischen
Apparat« und durch Introspektion zu entdecken. »Die Seele ist die
Aufgabe des Menschen.« (Nicolás Gómez Dávila, Scholien,
S. 159). Die Bedeutung des Einzelnen bemißt sich nach dem Maße, nach
dem er »Beamter« ist, also ein Amt, eine Aufgabe erfüllt.
(Ebd., S. 50-51).Wenn aber der Atheismus um der Majestät der
Persönlichkeit willen in die Sackgasse des inneren Götzendienstes, also
geradenwegs in die Hölle führt, muß die Frage nach dem Selbst
aus dem Spiegelstadium der Selbstverwirklichung befreit werden. Und das ist, wie
uns nicht nur die Theologen, sondern auch die Psychoanalytiker sagen, nur in der
Beziehung auf den ganz Anderen, durch die Öffnung zur Transzendenz möglich.
Es gibt keine Persönlichkeit ohne Transzendenz. »Der ganz Andere ist
... uns innerlicher als wir um selbst.« (Joseph Ratzinger [Papst Benedikt
XVI], Jesus von Nazareth, 2007, S. 51). Gebildete Leser werden diesen Satz
spontan dem klügsten aller Psychoanalytiker, Jacques Lacan, zuschreiben;
er stammt aber aus der Feder von Papst Benedikt XVI.. Christlicher, also metaphorischer
formuliert heißt das: Der Exodus des Herzens ist der dialektische Kern des
Glaubens. Man kommt zu sich nur im »Auszug aus sich selber (Joseph Ratzinger
[Papst Benedikt XVI], Jesus von Nazareth, 2007, S. 130). (Ebd., S.
51).
Die Sozialoffenbarung
Einer
der phantastischsten Texte der Philosophiegeschichte hat sich als der realistischste
erwiesen: Also sprach Zarathustra. Schon die Vorrede inszeniert die »Posthistorie«
(**),
also die Zeit nach dem Ende der Geschichte und des Hegelschen Menschen. Nietzsche
zeichnet dort den Letzten Menschen als Gegenteil des Übermenschen. »Was
ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?
- so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und
auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. Sein Geschlecht ist
unaustilgbar wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. Wir
haben das Glück erfunden - sagen die letzten Menschen und blinzeln.«
(Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 13).
(Ebd., S. 53).So steht der Letzte Mensch zwar für das Ende
des Menschen, doch dessen Verschwinden in der Spur des toten Gottes hat für
Nietzsche nichts Eschatologisches. »Posthistorie« (**)
ist als Zeit des Endes der Geschichte kein endgeschichtlicher Begriff. Gerade
der Letzte Mensch wird am längsten leben. Seine Arbeit der Nivellierung zielt
auf den Insektentypus, den die großen Ameisenbauten der modernen Städte
fordern. Diese totale Uniformierung, die Abschleifung zum Sand der Menschheit,
hat Nietzsche dem Christentum und der Demokratie zur Last gelegt. Und so sieht
er die Menschen der drohenden Zukunft: Alle sehr gleich, sehr klein, sehr
rund, sehr verträglich, sehr langweilig. Ein kleines, schwaches, dämmerndes
Wohlgefühl über alle gleichmäßig verbreitet, ein verbessertes
und auf die Spitze getriebenes Chinesentum.« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche
Werke , Band IX, S. 73). (Ebd., S. 53).Warum betont Nietzsche,
daß die Letzten Menschen das Glück nicht gefunden, sondern erfunden
haben? Das soll besagen, daß es sich um die Narkose der kleinen Gifte und
Rauschmittel handelt. Und diese Drogen betrügen den Menschen um seine letzten Kräfte, nämlich die Sehnsucht und die Verachtung. So charakterisiert
Nietzsche den Grundvorgang der Moderne als geistige Versklavung durch die langsam
fortschreitende Behaglichkeit des Wohlstands. (Ebd., S. 53).Um
1900 verbreitete sich der Eindruck, daß die westliche Zivilisation in eine
Endphase der Kristallisation eingetreten ist. Ein bloß noch biologisches
Auf und Ab ersetzt die Geschichte, die Form erstarrt zur Formel und der Lebensstil
versteinert zum Typus. So hat Oswald Spengler
den Faust des II. Teils als Herold der traumlosen Erstarrung begrüßt
und die Lehre von der Entropie als säkularisierte Götterdämmerung
verstanden. Ist die kristalline Zivilisation erst einmal in ihrem Grundriß
fertig, so gibt es keine Geschichte mehr, sondern nur noch das Kaleidoskop der
»Posthistorie« (**)
- eine Welt fortwährender Veränderungen, in der nichts anders wird.
(Ebd., S. 53-54).Auch Alexandre Kojève, der geniale Hegelianer,
dem die Nachkriegsintelligenz von Paris zu Füßen saß, hat als
Fazit seines Hegelstudiums die »Posthistorie« (**)
verkündet: Geschichte im emphatischen Sinn ist zu Ende. Der große Philosoph
Hegel hat gedacht, was zu denken war. Und der große Staatsmann Napoleon
hat die revolutionären Energien zum Bestand der Welt universalisiert, mit
dem nun zu rechnen ist. Von nun an entleert sich das geschichtliche Geschehen
bis zum reinen Als-ob. Alles geschieht nur noch, als ob etwas geschehe. Die Fülle
der Ereignisse gehorcht einem stabilen Pattern. Jetzt ist der Prestigekampf um
Anerkennung gewonnen, die Knechte sind seit der französischen Revolution
gleiche Bürger, von denen die Macht ausgeht. Wir entfalten nun die Paradoxie
der Demokratie als einer Herrschaft ohne Herrscher und Beherrschte. Es gibt keinen
Grund und Ansatzpunkt mehr für »Negativität«. Nun beginnt
die »Posthistorie«; der nachgeschichtliche Mensch betritt die Weltbühne.
(Ebd., S. 54).Hören wir Kojève selbst: »Was verschwindet,
ist der Mensch im eigentlichen Sinn. Das Ende der menschlichen Zeit oder der Geschichte
bedeutet ja ganz einfach das Aufhören des Handelns im eigentlichen Sinn des
Wortes. Das heißt praktisch: das Verschwinden der Kriege und blutigen Revolutionen.
Und auch das Verschwinden der Philosophie; denn da der Mensch sich nicht mehr
wesentlich selbst ändert, gibt es keinen Grund mehr, die Grundsätze
zu verändern, die die Basis der Welterkenntnis und Selbsterkenntnis bilden.
Aber alles übrige kann sich unbegrenzt erhalten: die Kunst, die Liebe, das
Spiel.« (Alexandre Kojève, a.a.O., S. 286f.). So Alexandre Kojeve
schon in den frühen 1950er Jahren. Er hat selbst radikale Konsequenzen aus
dieser Diagnose gezogen und seine wissenschaftliche Karriere beendet. Denn wenn
die Geschichte am Ende ist, endet auch die »große Politik« -
und damit ist auch die Philosophie am Ende. Kojève wurde Beamter in der
Europäischen Gemeinschaft. (Ebd., S. 54).In
der Grunddiagnose herrscht eine verblüffend große Einigkeit unter den
Denkern. Der berühmte Buchtitel Francis Fukuyamas - Das Ende der Geschichte
und der Letzte Mensch - faßt ja ganz einfach die Positionen Hegels und
Nietzsches zusammen. Diese Welt hat dann Max Weber als »Gehäuse der
Hörigkeit« definiert. »Verwaltete Welt« (Theodor W. Adorno),
»technischer Staat« (Helmut Schelsky) und das »Gestell«
(Martin Heidegger) sind nur verschiedene Namen für das Endprodukt eines spezifisch
modernen Prozesses, den Arnold Gehlen auf den Begriff der »kulturellen Kristallisation«
gebracht hat. (Ebd., S. 54-55).Es gibt heute weder Herr und
Knecht noch Freund und Feind. »Posthistorie« (**)
ist das Weltalter der Langeweile - obwohl doch so unendlich viel geschieht! Ja,
es ist gerade die Stabilitätsbedingung dafür, daß wir ertragen,
daß sich alles ständig ändert. Und all die Spielereien der »Postmoderne«
haben die Theorie der »Posthistorie« seither bestätigt: sei es
die operative Magie liturgischer Formen, die Dekonstruktivisten betört, sei
es das »Raffinement des Aufregungs - und Betäubungsbedürfnisses«
der Vielen, von dem Nietzsche so hellsichtig gesprochen hat. (Vgl. Friedrich Nietzsche,
Sämtliche Werke , Band XII, S. 118). (Ebd., S. 55). **
Diese
Betäubungsbedürfnis befriedigt gerade auch das Wohlfühlchristentum.
Jeder kennt Marxens Formel von der Religion als Opium des Volkes. Aber auch Nietzsche
hat von einem »opiatischen Christenthum« gesprochen. (Vgl. Friedrich
Nietzsche, Sämtliche Werke , Band XII, S. 138). Gemeint ist: Nicht
Religion selbst ist Opium, sondern die Letzten Menschen machen aus Religion ein
Opiat. Sie benutzen das Christentum als Droge, zur Beruhigung der Nerven. Jede
Spur der christlichen Erschütterung ist sorgfältig getilgt. Man denke dagegen an Kierkegaard und seine Erfahrung der Unmenschlichkeit Gottes: Gott quält
die Menschen - für einen Griechen muß es so aussehen, als würde
sich Gott am Leiden der Menschen delektieren. Christlich leben ist die Hölle
auf Erden. Gottes Liebe macht den Geliebten unglücklich. (Ebd.). |
Das Subjekt der »Posthistorie«
(**)
ist der Mensch als Haustier des Menschen. Übersetzt in den politischen
Alltag heißt das: Die Letzten Menschen Nietzsches sind die »Gutmenschen«.
Ihr Paradies ist Schweden. Wohlgemerkt geht es hier nicht um das Land
Schweden (von dem der Autor dieser Zeilen keine Erfahrung hat), sondern
um das sozialdemokratische Vorbild Schweden (dessen Ähnlichkeit mit
der Wirklichkeit vielleicht nur Schweden beurteilen können). Das
ist »die Welt des fröhlichen Roboters», von
dem Helmut Schelsky gesprochen hat. (Vgl. Helmut Schelsky, Auf der
Suche nach Wirklichkeit, 1979, S. 467). (Ebd., S. 55).
Daß
es fröhliche Roboter und glückliche Sklaven gibt, ist kein Huxley-Phantasma,
sondern die schlichte Konsequenz eines Utilitarismus, der keinen Sinn für
Freiheit hat. Und heute scheint der Schlaf der wohlfahrtsstaatlichen Vernunft
das Ungeheuer einer Welt als Kinderkrippe und Altersheim zu gebären. In dieser
Welt herrscht das Rentnerideal freiwilliger Knechte, die Nietzsche mit größter
Präzision als »die autonome Heerde« beschrieben hat. (Vgl. Friedrich
Nietzsche, Sämtliche Werke , Band V, S. 125). Dann gilt aber: Menschlich
ist das, was der Mensch nicht mehr ist. (Ebd., S. 55).Für
eine derartige Beschreibung der modernen Gesellschaft stand früher ein scharfer
diagnostischer Begriff bereit: Dekadenz. Man faßt ihn aus guten Gründen
heute nicht mehr gerne an. Denn sein Gegenbegriff lautet Wille zur Macht; so wie
der Gegenbegriff zum Letzten Menschen ja der Übermensch ist. Das Potential
des Schreckens, das beide Begriffe, Übermensch wie Wille zur Macht, in sich
bergen, ist Geschichte geworden. Deshalb kann man auch an ihre Gegenbegriffe schlecht
anschließen. Aber es gibt eine katechontische Fassung des Begriffs Dekadenz:
Niedergang ist der Preis, den wir für das Aufhalten des Untergangs zahlen
müssen. (Ebd., S. 55).Diese Bereitschaft, den Niedergang
zu akzeptieren, um den Untergang hinauszuzögern, scheint heute weit verbreitet
zu sein. Dekadenz wird nicht als Not, sondern als lebenskluge Bequemlichkeit erfahren.
Und man muß schon Philosophen oder Psychoanalytiker bemühen, um hier
überhaupt ein Bewußtsein dafür zu wecken, daß dieses Leben
nicht lebt. Die fröhlich konsumierenden Roboter spüren nichts von dem,
was Heidegger die »Not der Notlosigkeit« nannte (vgl. Martin Heidegger,
Gesamtausgabe, Band 65, S. 237) - ist es das, was der Begriff Dekadenz
einmal meinte? (Ebd., S. 56).Fragen wir nach bei denen, die
es wissen müßten: Soziologen, Ökonomen, Theologen und Psychologen.
Bei Soziologen taucht der Begriff Dekadenz kaum auf, und man könnte deshalb
mit dem Soziologiekritiker Nietzsche vermuten: Von Soziologen kann man nichts
über Dekadenz erfahren, weil die Soziologie selbst die Dekadenz als Wissenschaft
ist. Etwas weiter führt da schon ein Begriff aus dem Jargon der Ökonomen:
»discounting the future«. Für das Wirtschaftssubjekt rechnet
es sich nicht, weit in die Zukunft voraus zu denken; es genügt, die Preise
von heute abzulesen. Ein Theologe wird die Dekadenz des Westens in dessen Unfähigkeit
begründet sehen, das Religiöse zu denken. Diese These wird sich im folgenden
bestätigen. Und Psychologen würden sagen: Dekadenz ist erworbene Erschöpfung,
erlernte Hilflosigkeit. Auch auf diese Interpretation werden wir gleich zurückkommen.
(Ebd., S. 56).Dekadenz heißt politisch: die soziale Frage.
Genau so wie sich die Heuchelei des 19. Jahrhunderts um das Sexuelle drehte, dreht
sich die Heuchelei seit dem 20. Jahrhundert um das Soziale. Es ist das Gott-Wort
unserer Epoche. Man muß heute nur die Zauberwörter »Selbstverwirklichung«
und »soziale Gerechtigkeit« (**)
aussprechen, um die Massendemokratie in politische Trance zu versetzen und alle
Widerworte zum Schweigen zu bringen. Das Ich und das Soziale sind die beiden Götzen,
hat Simone Weil einmal sehr schön gesagt - ein Urteil von unglaublicher Hellsichtigkeit
und Aktualität. (Ebd., S. 56).Unsere Ehrfurchtssperre
vor dem Begriff »soziale Gerechtigkeit« (**)
ist heute so mächtig, daß man schon zu theologischen Begriffen greifen
muß, um sie zu analysieren. Die Religion der »sozialen Gerechtigkeit«
herrscht uneingeschränkt über die Seelen der Letzten Menschen, die längst
den Weg vom Seelenheil zum Sozialheil zurückgelegt haben. In der massendemokratischen
Religion des Letzten Menschen erweist sich das Soziale als das Pastorale. Und
»Reaktionär« heißt nun jeder, der nicht zur Glaubensgemeinschaft
der Sozialreligion gehört. Das verführt die Kirche immer wieder zu Zweideutigkeiten
zwischen Spiritualität und Politik; man denke nur an das 2. Vatikanische
Konzil, das uns, wie Hans Barion mit beißender Ironie bemerkte, die »Sozialoffenbarung«
brachte. (Vgl. Hans Barion, Die konziliare Utopie, in: Säkualrisation
und Utopie, 1967, S. 200). (Ebd., S. 56-57). **
Hans
Barion führt das Konzept auf Charles Fourier zurück: Jesus hat uns die
Heilsoffenbarung gebracht - jetzt müssen wir noch nach der »Sozialoffenbarung«
suchen. (Ebd.). |
In
der modernen Welt sind die christlichen Kirchen immer wieder in Versuchung, die
kerygmatische Wahrheit der pastoralen Zweckmäßigkeit zu opfern. Doch
die gute Nachricht des Evangeliums lautet nicht »soziale Gerechtigkeit«
(**).
Aus dem Kerygma kann man keine frohe Sozialbotschaft ableiten. Die hier einschlägige
Stelle aus dem Matthäusevangelium lautet: »Wenn du vollkommen sein
willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen« - »ei
thelais telaios«: »wenn du vollkommen sein willst«! Diese alles
entscheidende Einschränkung überliest die Theologie des Sozialen. Nur
die Vollkommenheitsethik diskriminiert Reichtum als Superfluum und fordert Askese.
(Ebd., S. 57).Den ersten entscheidenden Schritt zur Vergötzung
des Sozialen verdanken wir dem Marxismus und seiner »Religion der Arbeit«
(Paul Lafargue). Man muß sich immer wieder vor Augen halten, daß die
moderne Verklärung der Arbeit alles andere als eine kulturelle Selbstverständlichkeit
ist. Nicht nur für die Antike war die Verachtung der Arbeit selbstverständlich.
Seit 1848 aber gibt es den heiligen Arbeiter - heute ist es nicht mehr der Kumpel
aus dem Ruhrpott, sondern die Krankenschwester. (Ebd., S. 57).Der
Schritt von der Religion der Arbeit zur Vergötzung des Sozialen ist dann
ganz klein. Es genügt als zusätzliches Element der Kult des Kollektivs
- zu Deutsch: die Arbeit tun die anderen. Wer heute einen Job sucht, muß
vor allem den Eindruck erwecken, »teamfähig« zu sein. Und Schülern
bringt man im so genannten »sozialen Lernen« bei, daß Gruppenarbeit
die einzige Lebensform des guten Menschen ist. Kommunikationstraining statt Mathematik!
(Ebd., S. 57).Teamwork ist ein Euphemismus dafür, daß
die anderen die Arbeit tun. Hannah Arendt hatte den fabelhaften Mut, diese Wahrheit
ganz unzweideutig auszusprechen: Es gibt nichts, was der Arbeitsqualität
fremder und schädlicher wäre als Gruppenarbeit. Die Gruppe ist die Gehirnwäsche,
und es ist völlig gleichgültig, ob es sich dabei um Gruppentherapie,
Teamtraining oder soziales Lernen handelt - stets geht es um die Austreibung von
Individualität und Wettbewerb. Doch das darf man nicht laut sagen. Denn für
die Religion des Letzten Menschen gibt es nichts Schlimmeres als die Sünde
wider den heiligen Teamgeist. (Ebd., S. 57).Gerade
haben wir Dekadenz politisch spezifiziert, nämlich als die soziale Frage.
Sie definiert heute so ausschließlich das Politische, daß der Politiker
seinen Willen zur Macht als Fürsorglichkeit verkaufen muß. Neu ist
das nicht, und die Geschichte des Despotismus lehrt uns: Wer sagt, er wolle dem
Volke dienen, will sich des Volkes bedienen. Aldous Huxleys Einsicht, daß
Wohlfahrt Tyrannei ist, bewährt sich heute an der politischen Rhetorik sozialer
Probleme, die uns versklavt. Gerecht zu scheinen, ohne es zu sein, ist jene höchste
Ungerechtigkeit, die man »soziale Gerechtigkeit« (**)
nennt. (Ebd., S. 57-58). **Das
Problem liegt nicht darin, daß man - um die Lieblingsmetapher der Sozialoffenbarung
zu zitieren: »die starken Schultern« immer stärker belastet.
Vielmehr sind die Begünstigten der wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen
deren eigentliche Opfer. Denn »soziale Gerechtigkeit« (**)
qua Umverteilung sorgt für die politische Stabilisierung der Unmündigkeit;
Sozialpsychologen nennen das »erlernte Hilflosigkeit«. Die Massenmedien
besorgen dann den Rest: Man lernt, sich hilflos zu fühlen, wenn man andere
beobachtet, die unkontrollierbaren Ereignissen ausgesetzt sind - z.B. Naturkatastrophen.
Massenmedien exponieren uns täglich der Unkontrollierbarkeit. (Ebd.,
S. 58).Und so sehnt man sich nach dem schützenden Vater, der
in der vaterlosen Gesellschaft natürlich nur noch der Staat sein kann. Überall
in der westlichen Welt steht die politische Linke heute für den Sozialstaatskonservativismus.
Und überall wo der Sozialismus real existiert, programmiert er die Gleichheit
der Unfreien. Als Wohlfahrtsstaat besteuert er den Erfolg und subventioniert das
Ressentiment. Und gerade für die Propaganda der »sozialen Gerechtigkeit«
(**)
gilt das Grundkalkül des Ressentiments: Wie groß darf meine Aggression
sein, damit sie keine Vergeltung auslöst? (Ebd., S. 58).Der
paternalistische Staat ist der Hintergrund aller modernen »Emanzipationen«.
Wir haben es also mit einer handfesten Paradoxie zu tun: In den Befreiungen bekundet
sich die Liebe zur Sklaverei. Auch als er noch nicht so hieß, hat der »vorsorgende
Sozialstaat« die neuen Untertanen gezüchtet - die betreuten Menschen.
Man bekommt diese bittere Wirklichkeit gut in den Blick, wenn man sich der Schelskyschen
Unterscheidung selbständig vs. betreut bedient. (Ebd., S. 58).Natürlich
weigern sich die Betreuten genau so wie die Betreuer, ihre Wirklichkeit mit dieser
Unterscheidung zu beobachten; aber nur mit ihr kann man jene Paradoxie der Befreiung
aus Liebe zur Sklaverei entfalten. Die Gleichheit der Unfreien gewährt Sicherheit.
Doch Sicherheit verdanken die meisten heute nicht mehr dem Gesetz, sondern der
staatlichen Fürsorge. Im »vorsorgenden Sozialstaat« schließlich
wird die Daseinsfürsorge präventiv: Es wird geholfen, obwohl es noch
gar keinen Bedarf gibt. Konkret funktioniert das so, daß die Betreuer den
Fürsorgebedarf durch »deficit labeling« erzeugen. Der Wohlfahrtsstaat
fördert also nicht die Bedürftigen sondern die Sozialarbeiter.
(Ebd., S. 58-59).Mit beißender Ironie hat Rüdiger Altmann
den Kernbestand jeder Theologie des Sozialen als das Recht auf Abhängigkeit
definiert. Die Tyrannei der Wohltaten erzeugt jene Sklavenmentalität, die
wir gerade als »erlernte Hilflosigkeit« charakterisiert haben. Und
wenn wir diesen Sachverhalt in politischer Perspektive beschreiben, kommen wir
zu dem schmerzlichen Resultat: Der Paternalismus des »vorsorgenden Sozialstaates«
ist Despotismus. (Ebd., S. 59).Wer diese Formulierung für
maßlos überzogen hält, wird vielleicht umdenken, wenn er erfährt,
daß sie von Kant stammt. In seinem Aufsatz »Über den Gemeinspruch,
das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«
(1793) heißt es: »Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens
gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d.i. eine
väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige
Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich
oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind
um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts,
und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten:
ist der größte denkbare Despotismus.« (Immanuel Kant, ebd., 1793,
in: Werke, Band XI, S. 145f.). (Ebd., S. 59).Damit
sich niemand in den Windungen des Kantischen Satzes verliert, hier noch einmal
der Klartext: Wohlfahrtsstaatspolitik erzeugt Unmündigkeit, also jenen Geisteszustand,
gegen den jede Aufklärung kämpft. Und so wie es des Mutes bedarf, um
sich des eigenen Verstandes zu bedienen, so bedarf es des Stolzes, um das eigene
Leben selbständig zu leben. Wie für das Mittelalter ist deshalb auch
für den Wohlfahrtsstaat der persönliche Stolz die größte
Sünde. Denn das Projekt der Moderne war genau in dem Maße erfolgreich,
als es das Hobbes-Projekt war, den Stolz durch die Angst zu ersetzen - der Leviathan
ist der »King of the Proud«. (Ebd., S. 59).Vater
Staat will nicht, daß seine Kinder erwachsen werden. Und auch diejenigen,
die ihr Leben weitgehend unabhängig von staatlicher Betreuung gestalten,
bleiben oft genug politische Kinder. Früher war man als Jugendlicher rot
und ist dann nachgedunkelt. Heute bleibt man grün, auch wenn man längst
grau geworden ist. Man wird nicht mehr erwachsen. Und für dieses kulturkritische
Urteil gibt es durchaus Kriterien. Erwachsen ist man, wenn man aufgehört
hat, sich die Zukunft als Glück (oder Unglück) auszumalen. Oder anders
gesagt: Erwachsenwerden heißt Teleologie durch Evolution zu ersetzen.
(Ebd., S. 59).Was erwachsen sein bedeutet, hat man früher
an Charakteren der Männlichkeit abgelesen. Aber schon bei Max Weber wird
der Begriff der »Manneswürde« nur noch trotzig dem Zeitgeist
entgegengeschleudert. Männlich heißt hier trostunbedürftig. Das
geht auf eine Tradition zurück, in der Weisheit und Männlichkeit zusammengehörten
- Philosophie war nicht erbaulich. Diese Tradition endet aber schon mit Nietzsche,
der für die Männlichkeit ein letztes Asyl in der Redlichkeit fand.
(Ebd., S. 59-60).Das Bewußtsein dafür, daß hier
ein Kulturproblem ersten Ranges vorliegt, ist heute verschwunden. Und die Unduldsamkeit,
mit dem aktuelle Diskurse alleine schon auf das Wort »Männlichkeit«
reagieren, deutet auf ein mächtiges Tabu. Jedenfalls blieb William James'
Suche nach einem moralischen Äquivalent des Krieges erfolglos. Zum letzten
Mal stellte ein bedeutender Denker die Frage: Wie kann man Männlichkeit in
einer pazifistischen Welt bewahren und bewähren? (Ebd., S. 60).Über
dieser Frage liegen nun hundert Jahre Vergessenheit. Die »Posthistorie«
(**)
des Letzten Menschen kultiviert seither die Menschheit ohne Männlichkeit,
die geschlechtsneutrale Gesellschaft. Wenn aber, wie die Griechen meinten, Wahrheit
etwas ist, was der Vergessenheit entrissen werden muß, dann führt uns
die Frage nach der Dekadenz zu jenen Formen, die nun als männlichkeitsfeindliche
Ersatzreligionen erkennbar werden: Feminismus, Pazifismus, Environmentalismus,
Konsumismus - und über allem thronend die »Politische Korrektheit«
(**|**|**|**|**|**|**|**|**)
als Ersatzreligion der Akademiker. (Ebd., S. 60).Diese Formen
der neuen Weltreligiosität haben sich in einem langen »Emanzipationsprozeß«
herausgebildet. Erst störte die katholische Kirche, dann störte Jesus
Christus, dann störte Gott - und am Ende bleibt nur das »Reich«
der »Gutmenschen«. Das goldene Kalb, um das heute getanzt wird, ist
der Götze »Mensch«. Das müßte für einen Theologen
genau so evident sein wie für einen Psychoanalytiker. Man liebt die Menschheit,
um Gott verdrängen zu können. Und hier gewinnt die christliche Lehre
vom Antichristen eine skandalöse Aktualität. So
wie der Antichrist am Ende der Tage kommen wird, um Christus zu imitieren, so
erscheint am Ende der Geschichte »Der Mensch« als teuflischer Nachahmer
des Menschensohns. (Ebd., S. 60).
Den Teufel ernst nehmen
Im Bewußtsein
einer säkularen Welt läßt sich das Bild der Hölle besser
unterbringen als das des Himmels; die Figur des Teufels erscheint evidenter als
die Vorstellung von Gott, der ja ohnehin verbietet, sich ein Bild von ihm zu machen.
Das legt dem religiös Unmusikalischen nahe, nicht den geraden Weg zu Gott
zu suchen, sondern einen Umweg einzuschlagen, nämlich zunächst einmal
den Teufel ernst zu nehmen. (Ebd., S. 61).Der Teufel ist
das Alibi Gottes. Wenn man den Gott des Neuen Testaments mit dem des Alten vergleicht,
bemerkt man sofort, daß er sich vom wrnigen zum lieben Gott gewandelt hat.
Die ursprüngliche Einheit von Gott und Teufel weicht der Entzweiung. Mit
anderen Worten: Man braucht den Teufel, wenn Gort nur noch der liebe Gott ist.
Auch das Böse ist Mensch geworden, als sich Gott in Jesus Christus inkarnierte
- der T eufel, Gott nachahmend; wie es bei Karl Rosenkranz heißt. Die List
dieser Nachahmung besteht nun darin, daß der Teufel nicht ein Mensch wird,
sondern viele. Gegen die Inkarnation Gottes richten sich die Metamorphosen des
Teufels. Der Teufel ist plural und vielgestaltig. Das macht ihn attraktiv.
(Ebd., S. 61).Sympathie für den Teufel ist die Versuchung
der Aufgeklärten. Man könnte auch kritischer formulieren: Der Aberglaube
der Aufklärung ist die Religion des Teufels. Seine Macht liegt ja in der
Arglist, die zur Sünde verführt. Und dieser Arglist erliegen vor allem
die Intellektuellen. Es kann deshalb nicht überraschen, daß ein Buch,
das die Religion als Gotteswahn denunziert, die Bestsellerlisten der Welt stürmt
- und dort auf ein Buch des Papstes über Jesus Christus trifft. Der Teufel
verführt zum wissenschaftlichen Gottesbeweis. Dann entzweit sich nämlich
die Welt in das Lager der wissenschaftlich Aufgeklärten, die von Big Bang,
Evolution und Projektion zu sprechen wissen, und in das Lager der frommen Ignoranten,
die an Schöpfung, Jungfrauengeburt und Auferstehung glauben. (Ebd.,
S. 61).Für den Frommen nimmt die Versuchung durch den Teufel
eine doppelte Gestalt an. Für die erste steht die Formel »Gott als
Illusion«, die Sigmund Freud vor hundert Jahren noch taktvoll fragend vorgebracht
hat und die von Richard Dawkins heute so vulgär wie erfolgreich vermarktet
wird. Daß sich dieser antichristliche Furor gerne moralistisch maskiert,
hat Papst Benedikt XVI. sehr gut gesehen: »Zum Wesen der Versuchung gehört
ihre moralische Gebärde. .... Sie gibt vor, das Bessere zu zeigen: die Illusionen
endlich beiseitezulassen und uns tatkräftig der Verbesserung der Welt zuzuwenden.«
(Joseph Ratzinger [Papst Benedikt XVI.], Jesus von Nazareth, S. 57). Und
auch wenn der Teufel dem Menschen seinen Gott läßt, wird er ihm doch
deutlich machen, daß es wichtigeres gibt als die Gottesfrage. Das ist die
zweite Gestalt der Versuchung des Frommen: Gott als Privatsache. (Ebd.,
S. 61-62).Die Aufgeklärten versucht der Teufel natürlich
intellektuell. Der Teufel ist ein Betrüger; aber er kann auch mit der Wahrheit
lügen. Daß er Logiker ist, weiß man seit dem Mittelalter. Modern
wurde er Dialektiker: alle Polizisten sind Kriminelle, alle Sünder sind Heilige,
wir alle sind die Mörder der Kennedys. Und »postmodern«, wir
werden das gleich sehen, gibt sich der Teufel als Kybernetiker zweiter Ordnung.
(Ebd., S. 62).Sympathie für den Teufel zu hegen, ist also
die spezifische Intellektuellenversuchung - ob sie sich nun hinter Nietzsche und
Freud oder neuerdings hinter Niklas Luhmann versteckt. Der Teufel hat Gott überlebt,
er wurde nicht wie dieser widerlegt. Nicht der Himmel der Liebe, sondern die Hölle
des Unbewußten hat sich aufgetan »Luzifer-Amor« wie Sigmund
Freud am 10. Juli 1900 namensmagisch in einem Brief an Wilhelm Fließ formulierte.
Und wem diese Aufklärung nicht abgeklärt genug ist, der kann heute den
Teufel als den besseren Beobachter feiern. (Ebd., S. 62).»Gott
ist widerlegt, der Teufel nicht.« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche
Werke, Band XII, S. 36). Das ist eine großartige Formel, aber Nietzsche
macht zu wenig daraus. Die Botschaft vom Tod Gottes beweist die Existenz des Teufels.
Sie wird Nietzsche sogleich zur Formel absoluter Selbstermächtigung, die
sich durch zwei Grundsätze begründet: 1) Wenn es einen Gott gäbe,
hielte ich es nicht aus, kein Gott zu sein - also gibt es keinen. 2) Wenn man
den »genius malignus«, den (hypothetischen!) trügerischen Dämon,
der uns bei allen Denkoperationen täuscht, nicht widerlegen kann, muß
man selbst dieser Dämon sein. Diese einfachen Umkehroperationen legen dann
eine ebenso einfache Zielbestimmung nahe - »die Heiligung der mächtigsten
furchtbarsten und bestverrufenen Kräfte, im alten Bilde geredet: die Vergöttlichung
des Teufels.« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Band XII,
S. 11). (Ebd., S. 62).Doch diese Übermensch-Rhetorik
hat nicht überzeugt. Die Moderne hat den Teufel nicht vergöttlicht,
sondern verdrängt. Und seither ist der Teufel das Verdrängte als Person.
Achten wir deshalb auf die entstellten Formen seiner Wiederkehr. Das 18. Jahrhundert
hatte die Hölle erledigt; im 20. Jahrhundert kehrte sie wieder. Und zu Recht
hat Joachim Fest Hitler als theoriewidrige Erscheinung bezeichnet. Hitler ist
seither der Teufel für die Ungläubigen. (Ebd., S. 62-63).So
wie Hitler auch heute noch mehr Mythos als Geschichte ist, widersetzt sich das
Dritte Reich insgesamt der Historisierung durch Fachleute und bleibt das Zentralereignis
einer Religionsgeschichte des Bösen. Wer hier die Gelassenheit distanzierter
Betrachtung aufbringt, kann leicht erkennen, daß Auschwitz der negative
Gottesersatz des kritischen Bewußtseins geworden ist. Und das hat gravierende
geschichtspolitische Folgen. Die »Politische Korrektheit« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
konstruiert die deutsche Kultur als Vor- und Nachgeschichte von Auschwitz. Dabei
lautet die Grundbedingung jeder Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich, daß
sie nicht zu einer Entschuldigung der Deutschen führen darf. Und gerade die
jedem Historiker selbstverständliche Vergleichsperspektive verletzt dieses
Tabu. Das hat nicht nur Ernst Nolte
zu spüren bekommen. Wer die Singularität des Holocaust bestreitet und
ihn mit anderen Völkermorden vergleicht, wird heute behandelt, als würde
er ihn leugnen. Es war deshalb hochriskant, als Sergio Romano in seinem Brief
an einen hebräischen Freund das geschichtspolitisch kortekte Verhalten zu
Auschwitz und dem Holocaust als Sakralisierung des Massenmordes charakterisierte.
Die weltweit wütenden Reaktionen wecken doch tiefe Skepsis gegenüber
Hermann Lübbes Überzeugung, daß »der Nationalsozialismus
in seiner vollständigen Historisierung enden« werde. (Vgl. Hermann
Lübbe, Vom Parteigenossen zum Bundesbürger, 2007, S. 133).
(Ebd., S. 63). **
In
dieser Diskussion hat Theodor W. Adorno die Voltaire-Position besetzt: Lissabon
und Auschwitz, das waren die Naturkatastrophe und die gesellschaftliche Naturkatastrophe.
Aus dem Erdbeben folgert Voltaire ein Theodizee-Verbot; aus dem Holocaust folgert
Adorno ein Sinn-Verbot. (Ebd.). |
Doch
zurück zu den Intellektuellen, die Darwin, Nietzsche und Freud gelesen haben
und sich damit gegen die Wirklichkeit des Teufels immunisieren. Das geschieht
heute aber nicht durch Leugnung, sondern in einer attraktiven, ironisch formalisierenden
Haltung, die man als Entübelung des Diabolischen bezeichnen könnte.
Sympathie für den Teufel setzt seine ästhetische bzw. erkenntnistheoretische
Entübelung voraus. Im biblischen Urszenario ist Satan der Ankläger,
der Paraklet ist der Verteidiger. Diese klare Unterscheidung wird geradezu diabolisch
unterlaufen durch die Figur des Advocatus Diaboli. Das ist der Fürsprecher
dessen, der unterscheidet, der Anwalt des Beobachters. (Ebd., S. 63).Gott
ist der Eine; erst der Teufel setzt die Differenz. Gott sprach, aber erst durch
den Teufel kommt dann Dialog in den Logos. Und ganz logisch kann sich dann der
Teufel als Reflexionswert Gottes verstehen. Gott selbst unterscheidet ja nicht
zwischen Gott und Welt. Das überläßt er dem Teufel. Der tritt
zunächst in der Philosophie, etwa als »genius malignus« bei Descartes,
und dann in der Theorie auf, etwa bei dem Soziologen Niklas Luhmann, der den Teufel
als den Versucher rehabilitiert, der als erster versucht hat, Gott zu beobachten.
(Ebd., S. 63-64).Teuflisch nämlich ist es, das Ganze zu beobachten
- weil man sich schon deshalb für besser halten muß. Das Ganze zu beobachten,
bedeutet eben auch: Gott zu beobachten. Man kann Gott lieben, aber nicht beobachten.
Deshalb haben die Theologen den Teufel verteufelt - durchaus zu Recht. Aber gerade
darin, in der Beobachtung Gottes, erweist sich der Teufel ja als guter Theologe.
Die Theologen konkurrieren nämlich insgeheim - sind sie selbst des Teufels?
- mit dem Teufel um die Beobachtung Gottes. (Ebd., S. 64).Das
wirkt auf fromme Seelen auf den ersten Blick vielleicht wie ein Taschenspielertrick
reflexionsverliebter Intellektueller. Doch man wußte schon immer, daß
der Teufel gerne als Theologe auftritt und die Heilige Schrift sehr gut kennt.
In Wladimir Solovjews »Kurzer Erzählung vom Antichrist« verleiht
ihm die Universität Tübingen den Titel eines Ehrendoktors der Theologie.
Und es zeugt von großartiger Weitsicht, daß Solovjew seinen Antichrist
ein Buch schreiben läßt, das den Titel trägt »Der offene
Weg zu Frieden und Wohlfahrt der Welt« - es ist die Gegenbibel. (Ebd.,
S. 64).Man kann die Geschichte vom Teufel als Beobachter Gottes
auch so erzählen, daß sie uns den Teufel vollends sympathisch macht,
indem sie ihm »tragische« Züge verleiht. Triff eine Unterscheidung!
Das ist die Anweisung, die Gott seinem Lieblingsengel gibt, der damit die Welt
verletzt und dadurch zum Teufel wird. Seine Kraft, die, indem sie das Böse
will, das Gute schafft, ist die Differenz. Und gesellschaftlicher Fortschritt
heißt eben: Entzweiung höher schätzen als Identität. Gut
und Böse, Liebe und Haß, Krieg und Frieden, Freund und Feind - daß
diese Gegensätze dann in der Neuzeit als fortschrittsnotwendig erkannt werden,
»schafft dem Teufel neue Sympathien« (Niklas Luhmann, Soziologische
Aufklärung, 1970, Band IV, S. 243). (Ebd., S. 64).Der
Teufel nimmt das Kreuz der Unterscheidung auf sich, die Verletzung der Welt durch
die Differenzen, die Arbeit der Zuspitzung des Unterschieds zum Widerspruch -
aus Liebe zu Gott! Die Unterscheidung, mit der sich der Teufel auf Befehl Gottes
von Gott abgrenzt, um ihn beobachten zu können, ist demnach eine Entscheidung
»für Gott gegen Gott« (Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der
Gesellschaft, 1990, S. 119). Damit ist die Entübelung des Diabolischen
vollendet - ein ästhetisch eleganter und erkenntnistheoretisch anspruchsvoller
Gedanke. Wenn man derart davon abstrahiert, daß der Teufel der Böse
ist, zeigt er sich als der Urbeobachter. Mit anderen Worten, der Teufel ist der
ewige Beobachter, von dem die Menschen das Unterscheiden lernen. Man muß
seine List bewundern, den Unterscheidungsbefehl Gottes in eine Logik, eine Proto-Logik
zu verpacken. (Ebd., S. 64-65).Der Teufel hat das Kreuz des
Unterscheidens auf sich genommen. Übersetzt in eine Ethik der Erkenntnistheorie
heißt das dann: Es gibt keine Entlastung von der Eigenverantwortung für
die Wahl des Unterscheidens. Diese eigenverantwortlich getroffene Unterscheidung
ist nicht richtig, nicht verbindlich, aber auch nicht beliebig. Will man sie positiv
bestimmen, dann muß man einen Kontext wählen. Und wählt man den
christlichen Kontext unserer europäischen Tradition, dann kann man »die
Unausweichlichkeit der Eigenverantwortung als eine mit Liebe gegebene Freiheit«
begreifen. (Vgl. Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, 1970, Band
V, S. 93). (Ebd., S. 65).So kann man den Teufel sehen, wenn
man davon abstrahiert, daß er der Böse ist; wenn man den Diabolos etymologisiert;
wenn man ihn romantisch zum Proto-Logiker und Urbeobachter stilisiert kurzum:
wenn man ihn nicht ernst, sondern symbolisch (also das diabolon als sym-bolon!)
nimmt. Der Teufel als Maskottchen des Konstruktivismus - wie sympathisch. Aber
die Frommen wissen (!) - sie wissen es aus der Göttlichen Komödie -,
daß diese Indifferenz gegenüber dem Bösen noch schlimmer ist als
das Böse. Der harte Fels, auf dem jedes theologische »Argument«
aufruht und an dem jeder Versuch einer Versöhnung mit dem Geist der modernen
Wissenschaften zerschellt, ist die Gewißheit, daß man glauben muß,
um erkennen zu können. Wer nicht an den Fürsten dieser Welt glaubt,
wird nicht erkennen können, was sie im Innersten zusammenhält.
(Ebd., S. 65).Bekanntlich erzählt die Apokalypse, daß
nach einem Kampf (polernos) im Himmel der furchtbare Drache, der Diabolos oder
Satan heißt, weil er die ganze Welt verführt und uns Tag und Nacht
vor Gott verklagt hat, auf die Erde stürzt. Nun kommt er zu den Menschen
mit großem Zorn (thymos) - und dem Bewußtsein, daß ihm nur noch
eine kurze Frist (kairos) bleibt. Die Offenbarung des Johannes (12,12) belehrt
uns, daß der Teufel weiß, daß er wenig Zeit hat. Deshalb bietet
er je und je alle Unheilsenergie auf. Zweifel und Schmerz des Jesus am Kreuz;
die Schrecken erst des konfessionellen Bürgerkriegs, dann des Blitzkriegs;
die Ermordung der Kennedys und der Terrorangriff auf das World Trade Center -
er war da und hat sein rätselhaftes Spiel gespielt. (Ebd., S. 65).Seit
die Prädestinationslehre die Auserwählten von den Verdammten unterschied,
hat wohl kaum eine Unterscheidung so stark skandalisiert wie die zwischen Freund
und Feind. Daß sich in Saddam Hussein Hitler reinkarnierte und die Tyrannen
der Jetztzeit eine »Achse des Bösen« bilden, klingt in aufgeklärten
Ohren unerträglich obskurantistisch. Denn der Humanitarismus der Intellektuellen
kennt prinzipiell keine Feinde. Hier verpuppt sich die Angst vor dem Feind in
der Angst vor dem Begriff des Feindes. Aber Feindvergessenheit ist der Sieg des
Teufels. Deshalb muß der Kampf gegen den Teufel mit der Bestimmung des Feindes
beginnen. Der katholische Staatsrechtier Carl Schmitt hat genau in diesem Sinne
vom »ganz konkret erscheinenden Teufel von heute« gesprochen. (Vgl.
Carl Schmitt, Glosarium, 162). Man muß ihn je und je beim Namen nennen.
(Ebd., S. 65-66). **
Der
schon von Max Weber beschworene Kampf der Wert-Götter verwandelt sich nämlich
für den, der sich entschieden hat, in einen Kampf zwischen Gott und Teufel.
Und dieser Kampf zwischen Gott und Teufel impliziert, daß es keine Wertalternativen
gibt: im Jargon unserer Zeit: »commitment« ist nicht »choice«!
(Ebd.). |
Wenn man
diese Welt betrachtet, gibt es keine Evidenz für einen Gott - wohl aber für
den Teufel. »Mit der Wirklichkeit rechnen heißt mit dem Teufel rechnen.«
(Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, 1924, S. 123). An den Teufel
zu glauben ist deshalb der Realismus der Frommen. Man könnte auch sagen:
Der Teufel garantiert den Realismus der Frommen. Es gibt nämlich zwei Arten
des Frommseins, eine idealistische und eine realistische. Die Franziskaner knien
vor Maria, doch die Dominikaner kämpfen gegen den Teufel. Auch für Luther
war das Leben ja ein Kampf gegen den Teufel - geführt, wenn nötig, mit
einem Tintenfaß. Und nichts schien ihm gefährlicher als die behagliche
Hoffnung, »daß der Teufel sei jenseits dem Meer, und Gott sei in unserer
Taschen.« (Martin Luther, Werke, Band 50, S. 473f.). (Ebd.,
S. 66).Die Weltgeschichte beginnt für den frommen Realisten
mit Kain und Abel, also mit einem Brudermord. Ihre Seiten des Glücks bleiben
unbeschrieben. So läßt Byron Kain fragen: Bist du glücklich? Und
Luzifer antwortet: Wir sind mächtig! Das bestimmt seither den Begriff des
Politischen. Der Teufel ist der Fürst dieser Welt; er steht auf der Seite
des Fortschritts und des Erfolgs; er ist die Macht der Geschichte. Und der erste
Satz einer politischen Theologie müßte eigentlich lauten: Souverän
ist, wer ungestraft das Böse tun kann. (Ebd., S. 66).Nicht
erst für René Girard, sondern schon für Max Weber und Freud ist
der Teufel die Gewalt. Er zeigt sich in der Aggression und ist vor allem in der
Politik zu Hause. Politik ist Gewalt, also diabolisch. Die Frage ist nur, ob man
ihr entkommen kann oder sich mit ihr arrangieren muß. Politik als Beruf
ist Max Webers Antwort: das rationale und zugleich männliche Arrangement
mit der alles gesellschaftliche Leben durchdringenden Gewalt. Und auch Freuds
Antwort ist klar: die Anerkennung des Bösen im Menschen als Aggressionstrieb
- wovon die politischen Kinder aber nichts hören wollen. (Ebd., S.
66).Das sind religiös unmusikalische, ja atheistische Antworten.
Niemand aber hat das Leben der Menschen radikaler im Zeichen der Gewalt gesehen
als René Girard - radikal bis zur Obsession. Seine Apologie des Christentums
ist ein Akt der Notwehr. Es geht im Kern um die Wiedergewinnung der Transzendenz.
Denn nur die Macht der Transzendenz kann den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen.
Nicht das Christentum, sondern die Allzumenschlichkeiten von Neid und Rache haben
uns in eine Welt des Ressentiments gebannt. Und ob man nun an »Public Envy«
(zu Deutsch: »soziale Gerechtigkeit« **),
also den Neid zugunsten des öffentlichen Wohls, oder an den alltäglichen
Ostrazismus der Massenmedien denkt - überall herrscht Girards Imitationskonflikt,
Jacques Lacans Begehren des anderen. Das eigentliche Sozialgefühl ist der
Neid. Und der Teufel ist der Teufelskreis der Rache. (Ebd., S. 66-67).Wenn
wir nun aber vom Christentum lernen können, daß nur die Macht der Transzendenz
den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen kann, dann ist der Satan »die falsche
Transzendenz der Gewalt« (René Girard, Verfolgung und Ausstoßung,
1992, S. 237). Sein Bild ist das Maximum an Problembewußtsein, das man »in
der Welt« gewinnen kann. Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, und
der Mensch schuf den Teufel nach seinem Bilde. Deshalb erscheint der Teufel oft
auch als dummer Teufel, als Sündenbock, als »homo sacer« oder
»pharmakos«. (Ebd., S. 67).In der Moderne gibt
es kein Containment mehr für Gewalt - und Leidenschaft. Wer hier tiefer loten
möchte, müßte einmal René Girards »Imitationskonflikt«
und Denis Rougemonts »passionierte Liebe« als Komplementärprobleme
interpretieren. Der Glaube an den Teufel war das christliche Containment der Gewalt.
Doch in der modernen, also funktional differenzierten Gesellschaft entfallen die
Regulierungen des Imitationskonflikts durch Religion und soziale Schichtung. Die
asketischen Formen der Ritterlichkeit bis hin zu den Konventionen des Gentleman
leisteten ein Containment der Passion. Doch in der Welt der Massenmedien ergießt
sich der Content aus Gewalt und Leidenschaft über die massendemokratische
Kultur. (Ebd., S. 67).Teufel - das heißt für den
Frommen: es gibt zwei (!) Weltmächte: Liebe vs. Tod. Der Gegner des Teufels
ist die Liebe. Und das gilt nicht erst für die christliche Agape, sondern
schon für den heidnischen Eros. Seit Platons Politeia im Namen des Politischen
den Eros als Tyrannen denunzierte, kämpft der Gott der Liebe gegen den Dämon
der Politik. Doch nicht nur gegen den Leviathan, sondern auch gegen jenen Teufel
als Beobachter und seine Unterscheidungen steht nur das Kalkül der Liebe,
das alle kontingenten Unterscheidungen und souveränen Entscheidungen suspendiert.
Daß es sich in dieser Liebe nicht um Sentimentalitär, sondern um ernste
Arbeit handelt, hat Papst Benedikt XVI. durch eine schöne Analogbildung zum
Verb »aufarbeiten« verdeutlicht: Es gehe darum, das Böse durch
Liebe »aufzuleiden« (Joseph Ratzinger [Papst Benedikt XVI], Jesus
von Nazareth, 2007, S. 195). (Ebd., S. 67-68).Man muß
gar nicht dogmatisch bestreiten (- in einer Art negativem ontologischem Teufelsbeweis
-), daß es den Teufel »gibt«. Der Teufel hat kein Sein, er ist
der reine Parasit, die bloße gewalttätige Mimetik der sogenannten zwischenmenschlichen
Beziehungen, der Herr der Opferlogik, das Lügennetz des Sozialen. Der Teufel
ist also parasitär, und schon das Mittelalter wußte, daß Satan
der Inbegriff der mimetischen Geschicklichkeit ist. Was z.B. unterscheidet die
Einflüsterungen des Teufels von den Inspirationen des Heiligen Geistes? Engel
und Teufel, Heiliger und Dämon - das sind ästhetische Doppelgänger.
(Ebd., S. 68).Nachdem die »Hölle« im 20. Jahrhundert
wiedergekehrt war, hat sich der Teufel als Gutmensch verkleidet. Der Teufel ist
heute jene, Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. Das
Gute ist nämlich der Traum des Bösen. Das hat Nietzsches Genealogie
der Moral genau so deutlich gezeigt wie Freuds Psychoanalyse. Und der Teufel selbst
ist Logiker genug, um unwiderleglich zeigen zu können, wie gerade die Definition
des Guten das Böse erzeugt. Das Böse ist also mit unserer Moralität
koextensiv. (Ebd., S. 68).Aber es tritt heute eben nicht
mehr »satanistisch«, sondern gerade umgekehrt: »katharisch «
auf. »Gutmenschen« - so haben sich die Katharer selbst genannt. Die
»Gutmenschen« sind Sündenbockjäger zweiter Ordnung. Der
Sachverhalt klingt kompliziert, wird aber sofort evident, wenn man ihn in theologische
Begriffe übersetzt: Satan ahmt Christus nach. Die
»Gutmenschen« sind die antichristliche Macht unserer Zeit; sie pervertieren
die Sorge um die Opfer, die Toleranz und den Frieden. Mit anderen Worten: Der
Teufel spricht heute die Sprache der Opfer. (Ebd., S. 68).Um
das zu verstehen, ist es hilfreich, sich noch einmal daran zu erinnern, daß
Satan der Ankläger ist - eine außerordentlich attraktive Position.
J' accuse! Und spätestens seit den Nürnberger Prozessen ist es gerade
unter deutschen Intellektuellen eine Klugheitsregel, sich in die Anklägerposition
zu bringen. War zu Zeiten der Theodizee noch Gott der Angeklagte (unde malum?),
so sind seit der Erfindung der Geschichtsphilosophie immer »die anderen«
schuld gewesen. Im Blick auf die Anklagerituale der Massenmedien spricht man in
den USA von » The Blame Game« - und dieses Spiel ist des Rätsels
Lösung. Perfektioniert haben es die Deutschen durch die Form der Selbstanklage:
Wir sind schuld an Armut, Krieg und Umweltverschmutzung. (Ebd., S. 68).Tribunalisierung
ist das satanische Ritual der »Gutmenschen«. Sie warnen, mahnen und
klagen an, um - das hat Odo Marquard ebenso klar wie folgenlos gezeigt - das Gewissen
zu sein, das sie nicht haben. Das gute Gewissen ist eine Erfindung des Teufels,
sagte Albert Schweitzer einmal. Und die »Gutmenschen« haben daraus
ein gut florierendes Geschäft gemacht. Der Teufel tritt heute also gerade
auch als Ethiker auf, der die Wut des Anklagens und Verfolgens entfesselt und
die Religion der absoluten Humanität predigt. Damit zeigt er sich auf der
Höhe der Zeit, denn durch nichts lassen sich moderne Menschen leichter verführen
als durch das Versprechen von »pax et securitas« Frieden und Sicherheit.
(Ebd., S. 69).Das satanische »Gutmenschentum«
hat bekanntlich eine eigene Sprache entwickelt, und sprachlich leben wir heute
immer noch im Jahre 1984. Die »Politische Korrektheit« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
ist Orwells Newspeak, in der die Lüge zur Moral erhoben wird. Daß der
Teufel der Vater der Lüge heißt, macht seine brennende Aktualität
aus. Er steht für den geistigen Selbstmord durch jene »Politische Korrektheit«,
in der die Diffamierung als Aufklärung auftritt. Mit den Worten, die Arnold
Gehlens Buch über Moral und Hypermoral beschließen: »der Antichrist
trägt die Maske des Erlösers, wie auf Signorellis Fresco in Orvieto.
Der Teufel ist nicht der Töter, er ist Diabolos, der Verleumder, ist der
Gott, in dem die Lüge nicht Feigheit ist, wie im Menschen, sondern Herrschaft.
Er verschüttet den letzten Ausweg der Verzweiflung, die Erkenntnis, er stiftet
das Reich der Verrücktheit, denn es ist Wahnsinn, sich in der Lüge einzurichten.«
(Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 185 [**]).
(Ebd., S. 69).Die zweite populäre Gestalt, die der Teufel
in der Jugendkultur der 1960er Jahre angenommen hat, ist der Dandy. Um zu verstehen,
wie es dazu kommen konnte, muß man sich an die ästhetischen Helden
der Neuzeit erinnern. »Wer an den Teufel glaubt, der gehört ihm schon«,
sagt Serenus Zeitblom und bringt damit die Hilflosigkeit des Humanismus angesichts
der spezifisch neuzeitlichen Bereitschaft zum Heilsverzicht in die Form einer
vollendeten Paradoxie. (Vgl. Thomas Mann, Doktor Faustus, 1947, S. 249).
Doch schon bei Goethe wird Faust ja nicht mehr vom Teufel geholt. »Umgekehrt:
Faust holt den Teufel.« (Johann Wolfgang von Goethe, Werke, Band
XXII, S. 156). Der Versuchte ist selbst der Versucher. Das wird in der ästhetischen
Moderne zur Attitüde. (Ebd., S. 69).Daß der Mensch
zum Teufel wird, hat der Hegel-Schüler Karl Rosenkranz aus einem unersättlichen
»Hunger nach Ichheit« abgeleitet, den wir heute sicher Selbstverwirklichung
nennen würden. (Vgl. Karl Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen,
1853, S. 38f.). Die Mahnung Kafkas, das »Erkenne Dich selbst« nicht
mit »Beobachte Dich« zu verwechseln, verhallte ungehört. »Aus
den unruhig ermatteten, genußgierig impotenten, übersättigt gelangweilten,
vornehm cynischen, zwecklos gebildeten, jeder Schwäche willfahrenden, leichtsinnig
lasterhaften, mit dem Schmerze kokettierenden Menschen der heutigen Zeit hat sich
ein Ideal satanischer Blasirtheit entwickelt«. (Ebd., S. 69-70).
|  |
Prägnanter kann man die Vulgär-Gnosis unserer Zeit
nicht charakterisieren: den Kult des Bösen in der Pop-Kultur. Indem er das
Sakrament durch das Sakrileg ersetzt, erweist sich dieser Kult des Bösen
als eine inverse Religion. Und damit wird auch die Janusköpfigkeit des Teufels
als Gutmensch und Dandy verständlich. Denn gerade in einer Gesellschaft der
»Gutmenschen«, die die »Menschheit« vergöttlicht,
kann der Dandy als Antichrist auftreten. Mick Jagger war Oscar Wildes Luzifer:
»his lips were like a proud red flower«. Wie kein zweiter verkörperte
er den Teufel als Dandy, präsentierte »Luzifer als infernalisches Mannequin«
(Ernst Osterkamp, Darstellungsformen des Bösen, in: Sprachkunst, Jg.
V, 1974, S. 193), das man auf dem Laufsteg des Open-Air-Konzerts feierte - »at
her satanic majesty's request«. Und die »Gutmenschen« feierten
ihren Pop-Gottesdienst dann im Namen von »Jesus Christ, Superstar«
- der Teufel selbst hätte es nicht besser formulieren können.
(Ebd., S. 70).Wie wird der Kampf mit dem Teufel enden? Bekanntlich
glauben die Christen daran, daß Jesus wiederkehren wird, um den Widersacher
zu vernichten. Doch nun sind schon zweitausend Jahre verstrichen, ohne daß
der Endkampf stattgefunden hätte - und das muß man den Gläubigen
erklären. Paulus hat es im Zweiten Brief an die Thessaloniker (2,4-9)
mit der Geschichte vom Katechon versucht. Der Widersacher (ho antikeimenos) wird
einmal den Tempel besetzen und vorgeben, Gott zu sein. Der Antichrist wird erscheinen
wie Christus und Wunder tun - er ist, mit Erik Petersons großartiger Formel,
»der Automat Satans.« (Erik Peterson, Satan und die Mächte
der Finsternis, in: Der erste Brief an die Korinther und Paulus-Studien,
in: Ausgewählte Schriften, Band VII, S. 445). In den Worten des Paulus
nach der Einheitsübersetzung: »Der Gesetzwidrige aber wird, wenn er
kommt, die Kraft des Satans haben. Er wird mit großer Macht auftreten und
trügerische Zeichen und Wunder tun.« (Paulus, Zweiter Brief an die
Thessaloniker, 2,9). (Ebd., S. 70).Daß der Gesetzwidrige
(ho anomos) bis heute nicht offenbar geworden ist, liegt daran, daß es einen
gibt, der ihn jetzt noch aufhält (ho katechon). Der Katechon ist der Aufhalter
des Antichrist, und so wie der Antichrist nimmt auch der Katechon in der Geschichte
immer wieder konkrete Gestalt an. Das ist das christliche Geschichtsbild, das
der katholische Staatsrechtler Carl Schmitt gezeichnet hat. Um die Geschichte
post Christum natum sinnvoll zu finden, muß es demnach möglich
sein, für jede Epoche den Katechon zu benennen, dessen Leistung je und je
darin besteht, das Erscheinen des Antichrist und das Ende des Weltalters aufzuhalten.
Schmitt nennt hier ganz konkret die christlichen Kaiser und das »Reich«,
aber auch die großen Aufhalter des Islam und des Anarchismus. (Ebd.,
S. 70).Das Geschichtsbild des Katechon kennt die Beschleuniger
und Verzögerer des Endes - aber auch jene Zögerlichen, die die Aufgabe
des Katechon verfehlen und dadurch zu »Beschleunigern wider Willen«
werden. (Vgl. Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos, S. 436). Die
Katechontik verleiht der christlichen Geschichtsbetrachtung einen heilsgeschichtlichen
Halt, der es Carl Schmitt ermöglicht, der mythischen Selbstverklärung
der neuzeitlichen Selbstbehauptung in der Figur des Prometheus eine Gegenfigur
christlichen Handelns entgegenzustellen: den christlichen Epimetheus. In scharfer
Antithese zur prometheische Technik des Fortschritts ist christliches Handeln
Aufhalten und Vorgebot. (Ebd., S. 71).Indem Carl Schmitt
die Figur des Katechon, von der Paulus ja noch eindeutig sagt, daß sie »weggetan«
(Luther), beseitigt werden muß, historisch positiviert, verändert er
die Vorzeichen: Die Katechontik ersetzt die Apokalyptik. Wenn das Ende naht, wird
Selbstbehauptung sinnlos. Der Katechon überwindet ja die »eschatologische
Lähmung«; er ist die »Geschichtskraft«, die das Böse
niederhält. (Vgl. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 29 und
ders., Briefwechsel, S. 164). Geschichtsbewußtsein wird erst möglich,
wenn die Eschatologie ausgeschlossen ist; das leistet die Idee des Katechon.
(Ebd., S. 71).Immer wieder verkörpert sich der Teufel, und
immer wieder tritt ein Katechon auf, der ihn niederhält. Es ist also das
Ärgernis für den Glauben, die Parusieverzögerung, die dem Katechon
seinen Platz gibt. Und das erweist die Kirche als legitime Geschichtskraft. Schopenhauer
hat erkannt, daß gerade die unendliche Parusieverzögerung, die Enttäuschung
der eschatologischen Erwartung als Beweis für die Echtheit des Evangeliums
verstanden werden kann. Wäre die frohe Botschaft erst hundert Jahre nach
Christus und ohne Fundierung in gleichzeitigen Dokumenten verfaßt worden,
so hätten sich die Autoren die Peinlichkeit einer unerfüllten Prophezeiung
gewiß erspart. Die Antwort an die zweifelnden Gläubigen lautet: Das
Ende ist noch nicht gekommen, weil es je und je aufgehalten worden ist. Und hier
zeichnet sich schließlich der konservative Grenzwert jeder Katechontik ab:
Der Gnadenschatz der Kirche macht die Eschatologie überflüssig.
(Ebd., S. 71).Der französische Soziologe Emil Durkheim hat
das Begehren und das Heilige als die Grundelemente des Sozialen herausgearbeitet.
Doch während heidnische Religionen das Begehren vergöttlichen, stellt
das Christentum das Begehren in den Umkreis der sieben Todsünden: avaritia
(Habsucht), luxuria (Wollust), gula (Maßlosigkeit) superbia (Stolz), ira
(Zorn), invidia (Neid), acedia (Trübsinn). (Ebd., S. 71).Die
Frage nach den Quellen des Begehrens führt uns zunächst natürlich
zu Freuds psychoanalytischer Theorie der Sexualität. Aber es gibt noch eine
zweite Quelle, zu der uns René Girard und Jacques Lacan geführt haben:
die Rivalität. Beide Theorien harmonieren sehr gut, denn Girard ersetzt Freuds
Begriff des Aggressionstriebs funktional äquivalent durch den der mimetischen
Rivalität. (Ebd., S. 71-72).Entscheidend ist hier die
Einsicht, daß Rivalität eine besonders intensive Form der Bindung darstellt.
In dem Kampf, den Girard Imitationskonflikt nennt, kämpft man nämlich
gegen den, den man nachahmt. Sinnvoll ist jeweils das, was der andere begehrt.
Und solange das Begehren nicht anerkannt ist, sieht man es nur im anderen - dem
Rivalen. So erklärt sich die quälende Unerfüllbarkeit unserer Wünsche,
von der »vanitas« des Mittelalters bis zur »vanity« der
Nationalökonomie Adam Smiths. Zeit unseres Lebens sind wir in die Imitationskonflike
von Neid und Eifersucht verstrickt. (Ebd., S. 72).Statt,
wie es heute so beliebt ist, die Gewalttätigkeit der Menschen sozialpsychologisch
wegzuerklären, sieht René Girard dem Schrecken des »homo natura«
ins Auge: Die Gewalt ist ohne Grund. Das wird im christlichen Dogma von der Erbsünde
anerkannt; sie ist das christliche Apriori. Im theologischen Stellenrahmen ersetzt
die Erbsünde das unerfüllbare Gesetz der Juden, und ein Psychoanalytiker
könnte sagen, daß das Gesetz nun im Unbewußten verankert ist.
Aber das Gesetz zu erfüllen ist für den Juden so unmöglich und
notwendig wie für den Christen seinen Nächsten zu lieben. (Ebd.,
S. 72).Das christliche Gebot der Nächstenliebe ist so unerfüllbar
wie das jüdische Gesetz. Und derart kommt die Schuld in die Welt. Für
den Religionsphilosophen Jacob Taubes ist deshalb Schuld konstitutiv für
den Menschen. Man kann es auch so sagen: Das Gebot der Nächstenliebe thematisiert
erstmals den Imitationskonflikt, denn der Nächste ist der Rivale. Dafür
hat Hans Blumenberg Worte wohlgeformter Resignation gefunden: »Das sterbliche
Wesen kann nicht leben ohne die Schuld, wegen seiner endlichen Lebenszeit den
Nächsten als den Rivalen um jedes Lebensgut nicht lieben zu können.«
(Jacob Taubes, Die politische Theologie des Paulus, 1987, S. 122).
(Ebd., S. 72).Daß die Gewalt ohne Grund ist, impliziert,
daß dem Menschen jede instinktive Hemmung fehlt. Ein funktionales Äquivalent
für die instinktive Hemmung findet der Einzelne nur im anspruchsvollen Lebensprogramm
der Askese und die Gesellschaft im Ritual, das die Gewalt gleichsam täuschen
soll. Wie der Imitationskonflikt der Rivalen zeigt, zielt die Gewalt auf den Nächsten
- und das verleiht dem christlichen Gebot der Nächstenliebe seine Schlüsselstellung
in der Bestimmung des Menschen. Die spezifisch monotheistische Lösung des
Problems besteht also in einer Verschiebung der Gewalt in die Transzendenz. Das
Heilige ist die nach außen projizierte Gewalt des Menschen. Deshalb kann
keine Gesellschaft auf Religion verzichten. Das Religiöse entwendet dem Menschen
die Gewalt und verwandelt sie in Transzendenz. Und von nun an gilt für jede
Gewalt, die von Menschen ausgeht: Nur eine Transzendenz kann sie legitimieren.
(Ebd., S. 72-73).Doch die Überwindung der ursprünglichen
Gewaltsamkeit durch ihre Verschiebung in die Transzendenz geht nicht ohne Gewaltsamkeit
ab. Davon berichtet das Christentum in der Geschichte vom Gekreuzigten und davon
berichtet Freud im Mythos vom Urvatermord. Den entscheidenden Umschaltmechanismus
hat aber erst René Girard durchschaut: Der Gewalt aller gegen alle wird
dadurch ein Ende gesetzt, daß sie in eine das gesellschaftliche Leben überhaupt
erst ermöglichende Gründungsgewalt gegen den Sündenbock verwandelt
wird. Sehr prägnant spricht Girard hier von einer »Einmütigkeit
minus eins« (René Girard, Das Heilige und die Gewalt, S. 380).
(Ebd., S. 73).Der zentrale Gegenstand des Religiösen ist demnach
der Sündenbock-Mechanismus. Das versöhnende Opfer des Sündenbocks
verwandelt die grundlose Gewalt in Gründungsgewalt. Und seither ist jeder
Konsens ein Konsens minus eins, setzt jede Einmütigkeit einen Schuldigen
voraus, verdeckt jedes Thema ein Anathema. Durch diesen Mechanismus des versöhnenden
Opfers schützt also die Religion die Gesellschaft vor ihrer eigenen Gewalt.
»Die religiöse Vorbeugung« gegen Gewalt kann durch keine andere
gesellschaftliche Leistung ersetzt werden. (Vgl. René Girard, Das Heilige
und die Gewalt, S. 34). (Ebd., S. 73).Dieser Wahrheit
ist keine Religion näher gekommen als das Christentum, denn der Ritualmord
an Christus steht im Zentrum des christlichen Glaubens. Die Passionsgeschichte
offenbart den üÜndenbockmechanismus; es ist die Geschichte vom grundlosen
Haß gegen ein unschuldiges Opfer. Und Jesus wußte, daß dieser
grundlose Haß aus dem kollektiven Unbewußten aufsteigt: »sie
wissen nicht, was sie tun« (Lukas, 23,34). Mit dieser Enthüllung überbietet
das Christentum jede Aufklärung und weist zugleich den dialektischen Ausweg
aus dem Gewaltzusammenhang. Aus den Imitationskonflikten von Neid und Eifersucht
befreit nur die Imitation eines transzendenten Vorbildes - die imitatio Christi.
Die schreckliche Wahrheit wird also nicht verdrängt, sondern vergöttlicht.
(Ebd., S. 73).
Glaube und Wissen
Man kann sich um die Gretchenfrage
drücken, indem man sich mit Religion beschäftigt; so wie man sich um
eine Psychoanalyse drücken kann, indem man Freud liest. Und beide Vermeidungstechniken
ergänzen sich gut, denn gerade die Psychoanalyse ermöglicht es, die
Frage danach, wie man es selbst mit der Religion hält, durch die Frage zu
ersetzen, warum andere Religion nötig haben. Doch nur scheinbar haben wir
es hier mit einern Wissen zu tun, das den Glauben hinter sich läßt.
Ein kleiner Perspektivenwechsel genügt nämlich, um zu sehen, daß
der Atheismus selbst ein Glaube ist - nämlich der Glaube an den Unglauben.
Die Ungläubigen brauchen den Glauben an die Nichtexistenz Gottes. »Außer
Dienst« heißt ein Paragraph in »Also sprach Zarathustra«,
in dem sich dieser vom letzten Papst belehren läßt. Der Papst nennt
den gottlosen Zarathustra »den Frömmsten aller Derer, die nicht an
Gott glauben« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Band IV,
S. 322); er ist zur Gottlosigkeit bekehrt, sein Unglaube eine Form der Frömmigkeit.
(Ebd., S. 75).Der Atheist leugnet Gott immer im Namen eines unbekannten
Gottes. Zwar stilisiert er sich gern als unerschrockenen Aufklärer, doch
in Wahrheit sucht er Entlastung. Der Atheist leugnet Gott, um sich nicht mit ihm
vergleichen zu müssen. Aber immerhin macht er sich noch die Mühe, Gott
zu leugnen. Atheisten nehmen die Religion ernst. Und deshalb findet ein frommer
Mensch zwar niemals Zugang zur Welt des Irreligiösen, aber er sieht auch
keine Schwierigkeiten, mit einem Atheisten ins Gespräch zu kommen. Karl Barth
hat diese Begegnung zur Kraftquelle seiner Theologie gemacht. Von Gott abzufallen,
ist nämlich ein Akt des Glaubens. Und hier ist aus der Perspektive des Frommen
eigentlich nur noch ein Schritt zu tun, denn der Glaube ist der überwundene
Unglaube. (Ebd., S. 75).Der aufklärerische Furor, mit
dem ein atheistischer Wissenschaftler heute die Bestsellerlisten stürmt,
markiert keinen Fortschritt im Bewußtsein der Gottlosigkeit, sondern ist
gerade ein Symptom dafür, daß der zur Selbstverständlichkeit gewordene
Säkularismus der modernen Welt heute von einer neuen Religiosität herausgefordert
wird. (**). Immer mehr Menschen glauben
nicht mehr an den Unglauben. Sie suchen nach einem Leben jenseits von Atheismus
und Utilitarismus. Doch die Erzengel der Aufklärung versperren ihnen den
Rückweg in die christlichen Kirchen. So gewinnt man leicht den Eindruck:
Viele Leute möchten glauben, aber sie wagen es nicht. (Ebd., S. 75-76).
Soweit
alle Religionen eine Gefühlsambivalenz gegenüber dem Vater zum Ausdruck
bringt, läßt sich die haßerfüllte Religionskritik im Deutungsschema
der Psychoanalyse auf zwei korrespondierende Ursachen zurückführen:
Man haßt den Gott, um an den geliebten Vater, den er ersetzen soll, festhalten
zu können. Und man realisiert in der Feindseligkeit gegen Gott die feindselige
Regung gegen den Vater. So betrachtet wäre auch Richard Dawkins nur ein Kapitel
»Aus der Geschichte einer infantilen Neurose«. (Ebd.). |
Doch
was hat die atheistische Selbstsicherheit eigentlich erschüttert? Schon Mitte
des 19. Jahrhunderts zeichnet sich das Problem deutlich ab. Nachdem der Protestantismus
die Menschwerdung Gottes in Christus zur Vermenschlichung Gottes zugespitzt hat,
bleibt innerhalb des christlichen Denkens noch ein weiterer Schritt zu tun. Es
geht für den Hegelianer Ludwig Feuerbach darum, an Stelle des Gottmenschen
den endlichen Menschen selbst als wahres Wesen des Christentums zu feiern. Feuerbach
erhebt also den sterblichen, endlichen Menschen an Stelle des Gottmenschen zum
wahren Wesen des Christentums. (Ebd., S. 76).Da ist natürlich
die umgekehrte Lesart genau so evident: daß nämlich diese atheistische
Thronerhebung des Menschen nur das letzte Inkognito des Christenglaubens selbst
ist. Und genau das hat dann Max Stirner den junghegelianischen Emanzipationsprogrammen
entgegengehalten. Stirner entlarvt den Atheismus als hartnäckigste Form der
Frömmigkeit. Im Atheismus wird lediglich die vakant gewordene Systemstelle
des christlichen Gottes durch Den Menschen umbesetzt. Den Ausweg aus diesem
Dilemma weist dann die »Gott ist tot«-Formel, die Hans Blumenberg
»Nietzsches größten rhetorischen Coup« genannt hat. (Vgl.
Hans Blumenberg, in: Briefwechsel [mit Carl Schmitt], S. 228). Nietzsches
grundlegende Einsicht besteht nämlich darin, daß der Atheismus gescheitert
ist. Und deshalb setzt er an die Stelle der Gottesverleugnung den Gottesmord.
(Ebd., S. 76).Das läßt sich nicht mehr überbieten,
und auch Freuds Aufklärung folgt noch dieser Spur Nietzsches. Doch mit Stirner
und Nietzsche hat eben zugleich die Aufklärung der Aufklärung begonnen,
und sie muß sich eine theologische Interpretation bieten lassen, nämlich
aus der Perspektive einer Religion nach der Aufklärung: Aufklärung war
die Flucht des Menschen vor dem allmächtigen Gott in den Atheismus. Und es
war das Selbstmißverständnis der Aufklärung, in der Religion einen
Feind zu sehen. Denn Christentum ist selbst schon Aufklärung - als Religion.
(Ebd., S. 76).Man erkennt den klassischen Aufklärer an zwei
Eigenarten. Zum einen heißt Aufklärung für ihn, die Bibel als
Literatur zu lesen. Zum andern wendet der Aufklärer in Glaubensfragen immer
die Zauberformel »x ist nichts anderes als y« an. Hier ein Beispiel:
»Das Wunderbare ist demnach nichts anderes als ein vermummtes Wahrscheinliches.«
genannt hat. (Johann Jacob Breitinger, Critische Abhandlung, S. 132). Nichts
anderes als - das ist der aufklärerische Gestus des Entlarvens. (Ebd.,
S. 76).Doch die Rache Gottes besteht darin, daß er die Aufklärer,
die das Geheimnis der Religion entlarven wollen, mit Verständnislosigkeit
schlägt. Die Dialektik der Aufklärung besteht heute darin, daß
Aufklärung, die einmal Europa vom religiösen Fundamentalismus befreite,
selbst fundamentalistisch geworden ist; man denke nur an Richard Dawkins und seinen
Kreuzzug gegen die Religion. Wie vor zweitausend Jahren weckt die Offenbarung
Glauben oder Wut. (Ebd., S. 77).Während Kenneth Burke
Gott noch als »Term« neutralisierte, naturalisiert Dawkins Gott zum
»Mem«, also einer Art Gen des Geistes. Gott erscheint hier als kultureller
Virus, der das Gehirn parasitiert, d.h. als ein sich selbst reproduzierendes Informationsmuster.
Das ist der ironische Gottesbeweis der Gen- und Hirnforschung. Ihr Naturalismus
entlastet von Freiheit und Schuld. In diesem Lichte betrachtet erscheinen nicht
nur die islamistischen Terroristen als Opfer einer Gottesinfektion. Nun können
sich alle Delinquenten wissenschaftlich dagegen wehren, für ihre Untaten
zur Verantwortung gezogen zu werden. Und genau das dürfte der entscheidende
Grund für die Popularität dieser Forschungen sein. Sie bieten in der
Sprache modernster Wissenschaft ein funktionales Äquivalent zur religiösen
Erlösung von der Schuld. (Ebd., S. 77).
Hier scheint sich wieder Max Webers Einschätzung zu bestätigen,
Wissenschaft sei die spezifisch gottfremde Macht« (Max Weber, Wissenschaft
als Beruf, 1917, S. 322). Er hat ja die Aufklärung als unaufhaltsamen
Prozeß des okzidentalen Rationalismus beschrieben und dafür
die poetische Formel von der Entzauberung der Welt gefunden. Diese Formel
bekommt ihr Profil erst im Gesamtkontext von Webers religionssoziologischen
Analysen. Die okzidentale Entzauberung der Welt wird nämlich gemessen
an der asiatischen Religion der Welt als »Zaubergarten« (Max
Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band II,
1919-1920, S. 371). Am Ende des Modernisierungsprozesses, also der Entzauberung
der Welt durch Wissenschaft, kommt es dann zur Konfrontation von Gott
und Maschine. (Ebd., S. 77).
Das ist auch das Pathos von Richard Dawkins - doch
es geht ins Leere. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben heute nämlich keine
religiöse Bedeutsamkeit mehr. Dafür gibt es drei Gründe. Moderne
Wissenschaft hat, erstens, ein rein konstruktivistisches Selbstverständnis,
d.h. sie verzichtet auf jeden emphatischen Wahrheitsanspruch. Wenn es aber in
der Wissenschaft nur noch um Konstruktionen geht, muß sich die Religion
nicht mehr von ihr bedroht fühlen. Wissenschaft weiß, zweitens, daß
wir immer mehr immer weniger wissen. Mit der Expansion des Wissens wächst
das Nichtwissen - und damit der Glaubensbedarf. Wir wissen unendlich viel - nur
ich nicht. Gerade der Fromme weiß, daß Wissen und Nichtwissen gemeinsam
wachsen. Moderne Wissenschaft ist, drittens, so hochabstrakt, daß wir ihre
Befunde und Hypothesen nicht mehr mit der Interpretation unserer Lebenswelt vermitteln
können. Diese prinzipielle Unnachvollziehbarkeit der modernen Wissenschaft
für den Laien macht Religion in Sachen Weltanschauung konkurrenzlos. Darwin
war eine Gefahr für die Kirche - Dawkins ist es nicht mehr. Und die szientistischen
Fundmentalisten können der Sekte der Kreationisten eigentlich dankbar sein
dafür, daß sie den Schein erzeugt, die Wissenschaft habe heute noch
einen Gegner. (Ebd., S. 77-78).Nur im historischen Rückblick
ist heute noch das Pathos der Selbstbehauptung verständlich, das Hans Blumenbergs
Verteidigung der Legitimität der Neuzeit gegen theologische Absolutismen
getragen hat. Die Urszene der Neuzeit sieht so aus: Ein Abgrund tut sich auf.
Jetzt kann es den Schwindel des Blicks in die Tiefe geben (Pascal), oder den Entschluß,
eine Brücke zu bauen (Leonardo). Neuzeitliche Selbstbehauptung heißt,
nicht auf Transzendenz zu wetten, sondern auf die Immanenz von wissenschaftlicher
Neugier und technischem Mut zu setzen. Aber nicht nur die Transzendenz Gottes,
sondern auch die Selbsttranszendenz der Liebe wird dem Projekt der Neuzeit geopfert.
Die Neuzeit will sich nämlich nichts schenken lassen - und kennt deshalb
keine Gnade. (Ebd., S. 78).Pathetisch behauptet sich der
neuzeitliche Mensch damit nicht nur gegen die Übermacht der Natur, sondern
auch gegen die Hoffnung auf Erlösung. Hier erreicht das Verhälrnis von
Glaube und Wissen den Zustand reinster Antithetik. Denn während für
den Frommen die Selbstbehauptung als jene Selbstermächtigung des Menschen
erscheinen muß, die das Dogma der Erbsünde meint, erzählt Hans
Blumenberg in genauer Umkehrung der Perspektive die Geschichte von der Selbstaufwertung
der Vernunft als Depotenzierung des Absoluten. Ganz konsequent mündet diese
Legitimierung des wissenschaftlich-technischen Neuzeitprojekts denn auch nicht
nur in eine Theorie der Gewaltenteilung bzw. »Gewalteinteilung« gegen
das Absolute, sondern auch in ein Lob des Polytheismus. (Vgl. Hans Blumenberg,
in: Briefwechsel [mit Carl Schmitt], S. 169). (Ebd., S. 78).In
der Selbstbehauptung der Neuzeit geht es genau darum, ob an die Stelle des göttlichen
Befehls der Selbstbefehl treten kann; ob der Mensch sich aus sich selbst heraus
autorisieren kann. Den heroischen Gipfel dieses Projekts haben dann Hermann von
Helmholtz und Charles Darwin erklommen: den absoluten materialistischen Immanentismus
der modernen Wissenschaft. Das ist der Endpunkt einer viertausendjährigen
Entwicklung, deren entscheidende Stadien der Psychologe Julien Jaynes ... herausgearbeitet
hat: | Im
2. Jahrtausend vor Christus verstummten die Stimmen der Götter. | | Im
1. Jahrtausend vor Christus starben auch die letzten aus, die jene Stimmen noch
hörten, nämlich die Orakel und die Propheten. | | Im
1. Jahrtausend nach Christus gehorchten die Menschen den Weisungen der Götter,
soweit sie in heiligen Texten aufbewahrt waren. | | Im
2. Jahrtausend nach Christus verlieren diese Schriften ihre Autorität. | Die
Neuzeit wendet sich in der großen wissenschaftlichen Revolution von der
Offenbarung der heiligen Schriften ab und ersetzt deren Autorität durch die
Autorität der Natur; man liest Gottes Sprache in der Natur. | | Im
19. Jahrhundert säkularisiert sich die Wissenschaft selbst und sucht die
Quelle aller Autorisierung nur noch im Menschen selbst. |
| Erst
befehlen dem Menschen die Stimmen der Götter, dann die Orakel, dann die heiligen
Schriften, dann die Natur - und zuletzt muß er sich selbst befehlen. Doch
seit die Helden der theoretischen Neugierde abgetreten sind, hat die moderne Wissenschaft
dieses Pathos eingebüßt. Seit Platon zielt ja die wissenschaftliche
Erkenntnis auf eine hinter der bloßen Erscheinungswelt liegende eigentliche
Realität. Doch heute trifft sie dort nur noch auf sich selbst. Diese Reflexivität
unterläuft aber den Vernunftanspruch der Aufklärung. Und seither schafft
Wissenschaft nur noch Wissen ohne Gewißheit. Es gilt heute als gesichert,
daß die Grundlagen der Wissenschaften unsicher sind. (Ebd., S. 78-79).Eine
solche Wissenschaft ist nicht mehr skandalträchtig. Weder fühlt sich
der moderne Mensch von ihren Ergebnissen betroffen, noch kann er für sie
ein Maß an der eigenen Erfahrung finden. Denn jede moderne Wissenschaft
desanthropomorphisiert; weder kennt sie das Maß des Menschen, noch läßt
sie diesen im Mittelpunkt stehen. Mit dem Mikroskop und heute der Nanotechnologie
erobert sie die Welt des viel zu Kleinen; mit dem Teleskop erforscht sie unvorstellbare
Weiten. Ordnung und Substanz hat die moderne Wissenschaft durch System und Funktion
ersetzt; die allmächtige Evolutionstheorie räumt dem Menschen nur ein
paar Atemzüge der Erdgeschichte ein. Und weder in der neueren Theorie der
Medien, noch in der Analyse des Unbewußten spielt der Mensch eine Rolle.
(Ebd., S. 79).Gerade die Unbelangbarkeit des Menschen durch den
Prozeß der theoretischen Neugierde ermöglicht aber eine friedliche
Koexistenz zwischen Glaube und Wissen. Für diese Möglichkeit steht Stephen
J . Goulds Akronym NOMA: »non-overlaping magisteria«, also zwei sich
nicht überschneidende Lehrbereiche von Wissenschaft (Fakten) und Religion
(Bedeutsamkeit). Beim Licht der Wahrheit verhält es sich demnach wie beim
natürlichen Licht. Es gibt zwei Theorien, die beide richtig, aber nicht vereinbar
sind: Wissenschaft und Religion (analog zur Wellen- und Korpuskulartheorie des
Lichts). Die beiden richtigen Lehrformen über das, was man über die
Welt wissen muß, konkurrieren aber auch nicht miteinander. Die Theorie der
Evolution belehrt über das Wie des Seienden, und der Glaube an die Schöpfung
beantwortet die Frage nach dem Warum des Seienden. (Ebd., S. 79-80).Doch
auch wenn man auf eine Ökumene des Geistes von Religion und Wissenschaft
hofft; auch wenn man Kultur als Einheit von Vernunft und Religion begreift, muß
man doch deutlich sehen, daß es einige unüberwindliche Hindernisse
für jeden Dialog von Glauben und Wissen gibt. Goulds NOMA besagt ja eben
auch: Es gibt keine Einheit von Glauben und Wissen, sondern nur friedliche Koexistenz.
In diesem Bewußtsein müßten beide Gesprächspartner die Differenzen
pflegen. (Ebd., S. 80).So steht jede Soziologie der Religion
vor dem Problem, daß ihr Gegenstand ihre Theorie gar nicht akzeptieren darf.
Es gäbe gar keine Religion, wenn es nicht Leute gäbe, die nicht glauben,
daß man Religion soziologisch verstehen kann. Wer als frommer Mensch glaubt,
will eigentlich nichts von der gesellschaftlichen Funktion der Religion wissen.
Denn der Gläubige behauptet ja durch seine Frömmigkeit, daß die
Erfahrung des Außeralltäglichen das Alltägliche verändert.
Für den Gläubigen gibt es die Ungläubigen - aber eben nur für
sie. Er kann nicht zu der neutralen soziologischen Beobachtung kommen, daß
man ohne Religion leben kann. (Ebd., S. 80).Umgekehrt haben
die Gläubigen das Problem, daß die Wissenden nicht glauben können,
daß auch ihr Wissen auf einem Glauben beruht. Man müßte die,
die glauben zu wissen, dazu bringen, zu wissen, daß sie glauben. Deshalb
hat die Religion heute das Problem der Platonischen Höhle: Man kann den »wissenden«
Höhlenbewohnern nicht klar machen, daß es ein Draußen des Glaubens
gibt. Wenn man aber einen aufgeklärten Menschen nicht von Gott überzeugen
kann, dann bleibt dem Glauben im Dialog mit dem Wissen nur eines: Bekehren statt
überzeugen! (Ebd., S. 80).Die weltweite Kollaboration
der Wissenschaftler und ihr gemeinsames Werk der Weltobjektivation im Dienste
zivilisatorischen Fortschritts bietet dem Menschen die Gelegenheit, seine Subjektivität
zu vergessen. Über dieses Subjekt, das sich in den Kommunikationen des Wissenschaftsbetriebs
verliert, schreibt der Psychoanalytiker Jacques Lacan mit beißender Ironie:
»Es kann in seiner täglichen Arbeit effektiv an dem gemeimamen Werk
mitarbeiten und seine Freizeit vom Kriminalroman bis zur Memoirenliteratur, von
Pädagogikvorträgen bis zur Orthopädie von Gruppenbeziehungen mit
allen Annehmlichkeiten einer überwuchernden Kultur ausstaffieren, die ihm
Stoff bietet, seine Existenz und seinen Tod zu vergessen und zugleich in falscher
Kommunikation den besonderen Sinn seines Lebem zu verkennen.« (Jacques Lacan,
Schriften, Band I, S. 123). (Ebd., S. 80-81).Für
unser Thema ist es weniger interessant, daß es bedeutende Naturwissenschaftler
gibt, die sich als Christen bekennen, sondern daß wir auch jeden atheistischen
Wissenschaftler, der die Struktur der Welt bewundert, als religiösen Ungläubigen
verstehen können. Der Wissenschaftler glaubt an die Wissenschaft, der Astrologe
glaubt ans Horoskop, der Fundamentalist glaubt an die Heilige Schrift. Man denkt
mit dem, was man glaubt; und jeden hat ein Glaube im Griff. Die Gläubigen
bekennen ihren Glauben, die Ungläubigen sind die Sklaven ihres Glaubens.
(Ebd., S. 81).In der Regel glaubt man, was andere glauben, weil
sie es glauben. Das gilt gerade auch für Wissenschaftler, die natürlich
lieber von »Paradigma« sprechen. Wissen ist ein gut sondierter und
dann als Objektivität institutionalisierter Glaube. Das hat Willard van Orman
Quine gemeint, als er davon sprach, daß jede Erkenntnistheorie auf einem
zweckmäßigen Mythos beruhe. Um es mit einer beliebten Metapher neuerer
Erkenntnistheorie zu sagen: Der Glaube ist der blinde Fleck der Erkenntnis.
(Ebd., S. 81).Wer erkennt, daß alle Erkenntnis in einem Glaubensrahmen
statt hat, und daß die letzte logische Ebene eines Arguments das Bekenntnis
meines persönlichen Glaubens fordert, hat keine Angst mehr vor Dogmatismus
und Orthodoxie. Es geht hier um das Bewußtsein, in jedem Akt der Erkenntnis
von unbewiesenen Glaubensüberzeugungen ausgehen zu müssen. Michael Polanyi
hat dafür ein grandioses Bild gefunden: den Auszug aus dem Paradies der Narren.
Seine explizite Einladung zum Dogmatismus fordert uns auf, noch einmal vom Baum
der Erkenntnis zu essen, um noch einmal die Unschuld zu verlieren - diesmal aber
die erkenntnistheoretische Naivität, zu glauben, objektive Gültigkeitskriterien
des Wissens könnten uns von der persönlichen Verantwortlichkeit für
unsere ebenso unbeweisbaren wie unwiderlegbaren Glaubensüberzeugungen entlasten.
(Ebd., S. 81).Wenn wir die Frage nach dem Verhältnis von Glaube
und Wissen auf die Theorie-Ebene hochreflektieren, geht es um das Verhältnis
von Theologie und Wissenschaft. Die Wissenschaft unterscheidet System und Umwelt,
innen und außen. Die Theologie unterscheidet Immanenz und Transzendenz,
Sein und Nicht-Sein. Mit der Hamlet-Frage kann die moderne Wissenschaft nichts
anfangen. Ihr Konstruktivismus, der ja ständig Unterscheidungen prozessiert,
muß doch diese eine Unterscheidung als fatal tabuisieren: Sein oder Nichtsein.
Diese Unterscheidung reicht an den Grund der Welt heran und provoziert die Frage,
was denn vor allen Unterscheidungen ist. Nur Theologen können hier antworten,
etwa mit Nikolaus von Kues, der gesagt hat, daß Gott vor allen Unterscheidungen
ist. Oder mit anderen Worten: Daß die Welt ohne Grund ist, ist der Grund
an Gott zu glauben. (Ebd., S. 81-82).Demnach besteht nicht
nur soziologisch, sondern auch epistemologisch die Funktion der Religion darin,
das Ausgeschlossene einzuschließen - eben nicht nur die aus der modernen
Gesellschaft Ausgeschlossenen, sondern auch das Ausgeschlossene des Denkens. Denn
in der Wissenschaft ist jede Konklusion immer auch eine Exklusion. Nun hat aber
die Theologie im Verhältnis zur Wissenschaft das Problem, die Wirklichkeit
Gottes als nur dem Glauben wahrnehmbar darstellen zu müssen. Schon deshalb
kann Theologie niemals Wissenschaft im Sinne des Aufldärungsprozesses der
theoretischen Neugierde sein. Wenn Theologie nämlich eine echte Wissenschaft
wäre, müßte sie ständig etwas Neues sagen können über
- Offenbarung. Und sie müßte negieren, also auch gegen Gott argumentieren
können. Daraus folgt für das Verhältnis von Theologie und Wissenschaft,
daß die Theologie akzeptieren muß, keine Wissenschaft zu sein, und
die Wissenschaft akzeptieren muß, niemals die Funktion der Religion erfüllen
zu können. (Ebd., S. 82).Theologie ist keine Wissenschaft,
aber sie kann den Respekt der Wissenschaft vor der Religion erwarten. Wissenschaftlicher
Geist ist, so der Soziologe Niklas Luhmann, die Paradoxie eines Bekenntnisses
zum Nichtbekenntnis. Ein Wissenschaftler kann beten, daß ein Experiment
gelingt; aber während des Experiments muß er sich Gott vom Leib halten.
Ähnliches gilt im Verhältnis zur Ethik. Ein Wissenschaftler kann Skrupel
haben, die Ratten im Labor zu quälen. Aber es gibt kein moralisches Urteil
in der Wissenschaft, und Forschungsverbote sind sinnlos. Deshalb ist das Umkehrproblem,
nämlich inwieweit die Wissenschaft Respekt von den Gläubigen erwarten
darf, sehr viel gravierender. (Ebd., S. 82).Hinter der Frage
nach dem Verhältnis von Glaube und Wissen versteckt sich oft die Absicht,
Wissenschaft wieder dem moralischen Urteil zu unterwerfen. Denn für den Frommen
bleibt das Wissen versucherisch: der Biß in den Apfel. Deshalb kann man
heute so leicht die Gentechnik als eine Art »Gott spielen« diabolisieren.
Akademische Freiheit heißt für den Frommen streng genommen: Wissenschaft
ist des Teufels. Wissenschaft kann nämlich nicht akzeptieren, daß die
Gottesbeobachtung untersagt ist. Der Versucher versucht zu unterscheiden, wo Unterscheidung
verboten ist. Auch der Theologe beobachtet ja Gott - aber ehrfürchtig. Ganz
anders der Soziologe der Religion. Er sieht, daß Gott Geheimnisse hat -
und das kann er als Wissenschaftler nicht respektieren. Das Verbot stimuliert
zur Übertretung, das Geheimnis zur Aufklärung. Und wenn die Wissenschaft
auf »Göttliches« trifft, lauten ihre Befunde stets: Es ist nichts
als .... (Ebd., S. 82-83).Wohlgemerkt: Die Soziologie weiß
es nicht besser als die Theologie. Die Wissenschaft kann nicht von Gott sprechen;
sie kann nur beschreiben, wie andere das tun. Den einen genügt es, daß
Gott nicht widerlegt werden kann, um an ihn zu glauben. Den anderen genügt
es, daß Gott nicht bewiesen werden kann, um ihn zu ignorieren. Natürlich:
Ein Wissenschaftler kann glauben. Aber als Wissenschaftler kann er den Sinnanspruch
der Religion allenfalls interessant finden. (Ebd., S. 83).Die
Entfernung der Wissenschaft von Gott ist heute genau so groß wie die von
Geld oder Macht. Wenn hier Ironie erlaubt wäre, könnte man sagen: Gott
kann alles, nur eines nicht - sich irren. Errare humanum est; es ist eine
spezifische Fähigkeit des Menschen. Und das bedeutet umgekehrt, daß
Unfehlbarkeit aus der Perspektive der Wissenschaft ein Gebrechen ist. Die Wissenschaft
muß sich also Gott vom Leib halten; und das tut sie, indem sie auf die Differenz
von Immanenz und Transzendenz verzichtet. Transzendenz transzendiert nämlich
genau die Welt der Unterscheidungen, in der die moderne Wissenschaft sich entfaltet.
Das betrifft nicht nur den christlichen Gott, sondern auch den Gott der Aufklärung:
die Vernunft. Wir sehen heute, daß die Einheit der Vernunft ein Gottesderivat
war. (Ebd., S. 83).Die Philosophie hat schon gelernt, auf
Vernunft zu verzichten und sich wieder als Kunst des Fragens zu verstehen. Und
vielleicht wäre auch die Theologie gut beraten, wenn sie sich aufs Fragen
konzentrierte. Denn mit jeder Antwort verstrickt sie sich heillos in die Unterscheidungen
der Wissenschaft und verliert an Autorität - das gilt vor allem für
Themen wie »Evolution« und »soziale Gerechtigkeit« (**).
Die religiöse Frage dagegen hat den guten Sinn, die Frage nach dem Sinn wach
zu halten. Und da darf man sicher sein, daß die Wissenschaft nichts zu sagen
hat. Sie kann ja auch die Frage »Was ist wichtig?« nicht beantworten.
Die religiöse Frage dirigiert also die Aufmerksamkeit weg vom blinden Fleck
des Glaubens hin zum blinden Fleck des Wissens. Und wir können dann sehen:
Gott ist ein Symbol für den blinden Fleck der Wissenschaft. (Ebd.,
S. 83-84).Wenn man vor diesem Hintergrund den Publikumserfolg von
Richard Dawkins betrachtet, der sich lustvoll als Furie der Aufklärung inszeniert,
kann man nur sagen: Es ist schade, daß ein Wissenschaftler dem Gott, an
den er nicht glaubt, nicht taktvoll begegnen kann. Oder gibt es doch einen »taktvollen
Atheismus« in den Wissenschaften? (Vgl. Hans Blumenberg, Der Mann vom
Mond, S. 174). Der Philosoph Hans Blumenberg, der diesen Begriff geprägt
hat, widmete sein ganzes Werk der Anstrengung des Menschen, sich das Absolute
vom Leib zu halten. Doch gerade deshalb steht Gott im Zentrum seiner Reflexionen
- nicht dogmatisch, sondern metaphorisch. (Ebd., S. 84).Der
taktvolle Atheist begreift die Theologie als eine Rhetorik, in der die Menschen
nach einem möglichen Selbstverhältnis suchen. Die Ernsthaftigkeit jeder
neuen Theologie kann für Hans Blumenberg deshalb nur darin liegen, daß
sie »nichts preisgeben will, was sich der Mensch legitim errungen hat«
(Vgl. Hans Blumenberg, Der Mann vom Mond, S. 21). Hier sind seine Grundmotive
versammelt: die Legitimität der Neuzeit und die Selbstbehauptung gegen den
Absolutismus. Jede neue Theologie ringt mit Gott, so wie das Ernst Jünger
am 23.12.1944 in seinem Kriegstagebuch formuliert hat: »Gott tritt den Gegenbeweis
gegen uns an« (Ernst Jünger, Strahlungen, 1949, S. 348f.).
(Ebd., S. 84).Dahinter steht das biblische Bild von Jakobs Ringkampf
mit dem Herrn, der unter Neuzeitbedingungen zu einem Ringkampf des Rationalisten
mit Gott geworden ist. Dieser Rationalist möchte sich besiegen lassen, aber
nicht billig; er muß der Versuchung widerstehen, sich einfach fallen
zu lassen in die weit geöffneten Arme der Kirche. Die neue Theologie
des sich selbst überwindenden Rationalismus soll ein Bollwerk aufrichten
gegen die große Bedrohung einer neuen Religiosität aus Mattigkeit.
Diese Anstrengung verdient den Respekt jedes taktvollen Atheisten, auch wenn er
als moderner Wissenschaftler vielleicht den Anspruch der neuen Theologie, die
Wissenschaft von der Vernunft des Glaubens zu sein, nicht akzeptieren kann.
(Ebd., S. 84).
Das metaphysische Bedürfnis und seine christliche
Befriedigung
Das metaphysische Bedürfnis ist eine Reaktionsbildung
auf die Sinnwidrigkeit der Welt. Jede Religion lebt ja von der Spannung zwischen
»eigentlichem« Leben (Sinn) und gesellschaftlichem Leben (Funktionieren).
Atheistische Aufklärung kann daran nichts Wesentliches ändern. Denn
die gesellschaftliche Funktion der Religion ist völlig unabhängig davon,
ob die Mehrzahl der Menschen an Gott glaubt oder nicht. Religion ist der Thesaurus,
die Schatzkammer des Sinns, und aller Lebenssinn ist religiös. Das gilt für
die Religion nach der Aufklärung allerdings unter veränderten Vorzeichen.
Religion bietet der modernen Gesellschaft nicht mehr die Antwort auf die Frage
nach dem Sinn, sondern sie wirkt nur noch als die Unterstellung, daß die
Frage einen Sinn hat. Man könnte sagen: Religion hält die Wunde des
Sinns offen. (Ebd., S. 85).Nur Religion bietet die absoluten
Metaphern, die es vermögen, das Ganze zu imaginieren. Religion schließt
also den Sinnhorizont; sie ist spezialisiert auf das Ganze. Und diese Leistung
ist für jeden Einzelnen heute wichtiger denn je. Zwischen der komplexen Welt
und der knappen Aufmerksamkeit des modernen Menschen vermittelt nämlich die
Konstruktion von Sinn. Religion ist die rituelle Konstruktion von Sinn im Überraschungsfeld
der Welt. Die Betonung liegt hier auf »rituell« - wir kommen noch
ausführlich darauf zurück -, denn bei den Überraschungen des Lebens
handelt es sich zumeist um Enttäuschungen. Sie gelassen, ja dankbar zu ertragen
setzt eine Lebenshaltung voraus, die sich auf Rituale und ihre Sicherheit des
Begründungsunbedürftigen stützt. Shaftesbury hat sie einmal «good
humour« genannt; er schützt vor Enthusiasmus und trägt das Management
von Enttäuschungen. Durch diese fundamentale Leistung schafft eine Religion
Weltvertrauen. (Ebd., S. 85).Der rituellen Sicherung entspricht
eine dogmatische, die wie eine Barriere auf dem Lebensweg des Enttäuschten
errichtet wird. Gegen jede Form des Nihilismus formuliert die christliche Theologie
das Tabu über die Sinnlosigkeit. Es handelt sich hier um große Rhetorik.
Der Priester therapiert das Leiden an der Sinnlosigkeit, indem er die Sinnlosigkeit
des Leidens weginterpretiert. Das ist der Geniestreich des Christentums, dem auch
der Antichrist Nietzsche seine Bewunderung nicht versagen konnte. Das Christentum
suggeriert die Göttlichkeit des Leidens - denn auch sein Gott leidet. Leiden
ist dann aber kein Venweiflungsmotiv mehr, sondern der Königsweg zum Heil.
(Ebd., S. 85-86).Aus der christlichen Sorge um das Heil wurde modern
die Frage nach dem Sinn. Und gerade in der Konkurrenz mit anderen Sinnformangeboten
der säkularen Welt wird das asketische Ideal als spezifisch christliches
Angebot auf dem Markt des Sinns konturscharf - in Nietzsches sarkastischer Formulierung:
»So zu leben, daß es keinen Sinn mehr hat, zu leben, das wird jetzt
zum Sinn des Lebens.« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche
Werke, Band V, S. 411 [**]). Mit
dieser Denkfigur kann man auch den spezifisch modernen Sachverhalt entparadoxieren,
daß immer mehr Menschen den Sinn ihres Lebens in der Propaganda des Sinnverlusts
suchen. Gerade die Melancholiker und professionell Venweifelten zeigen ja, daß
Sinnlosigkeit eine sehr stabile Sinnform sein kann. Sie ordnen ihr Leben um die
Katastrophe als Negativfigur des Sinns. (Ebd., S. 86).
Wir
widersprechen also mit Nietzsche und der Überschrift dieses Kapitels ausdrücklich
der Grundthese von Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 35:
»Religion versteht Sinn auch nicht als ein Bedürfnis, das
zu befriedigen wäre.« Luhmann kann im metaphysischen Bedürfnis
nur eine anthropologische Hypostase sehen, mit der die Kirche seit dem 19. Jahrhundert
»dem Menschen« ein Problem unterstellt, das die vielfältig bunten
Individuen gar nicht verspüren. Vgl. hierzu auch Niklas Luhmann, Die Religion
der Gesellschaft, S. 340: Die Problemlösung Erlösung liegt schon
vor, das Problem Sinn »wird hinzuerfunden«. (Ebd.). |
Der
asketischste aller Philosophen, Ludwig Wittgenstein, hat die Frage nach dem Sinn
des Lebens am eindringlichsten gestellt. In einer Tagebuchaufzeichnung vom 11.06.1916
heißt es: »Den Sinn des Lebens, d.i. den Sinn der Welt, können
wir Gott nennen. Und das Gleichnis von Gott als einem Vater daran knüpfen.«
(Ludwig Wittgenstein, Schriften, Band I, S. 80). Das Gebet ist der Gedanke
an den Sinn des Lebens. Weiter heißt es dann in einer Tagebuchaufzeichnung
vom 08.07.1916: »An einen Gott glauben heißt, die Frage nach
dem Sinn des Lebens verstehen.« (Ebd.). Das, was der Fall ist, ist
eben noch nicht alles. Doch daß das Leben über die Tatsächlichkeit
der Welt hinaus einen Sinn hat, sieht nur der, der an Gott glaubt. (Ebd.,
S. 86).Die Wissenschaft hat es mit dem Wie der Welt, mit den Tatsachen,
mit dem, was der Fall ist, zu tun. Sie hat nichts mit dem zu tun, was die Offenbarung
zeigt. In der Welt gibt es keinen Wert, keinen Sinn und keinen Gott - alles ist
wie es ist. Doch alles wendet sich, wenn man nicht nach dem Wie sondern nach dem
Daß der Welt fragt. Darüber weiß die Wissenschaft nichts zu sagen.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens berührt sich also an keiner Stelle mit
den wissenschaftlichen Fragen. So lautet das Fazit des Tractatus logico-philosophicus:
»Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen.«
(Ebd., S. 86).So wird also nach einem Sinn des Daseins jenseits
seiner selbst, oder doch zumindest jenseits seiner Welt gefragt. Daß diese
Frage auftaucht, setzt trivialerweise voraus, daß man von körperlicher
Arbeit und Naturzwängen befreit ist. Nicht zufällig stammen die gerade
zitierten Sätze von einem Philosophen. Wer dagegen im Handgemenge mit der
Welt liegt, will nicht erlöst werden - er hat zu tun. Max Weber hat sehr
schön gezeigt, wie die wissenschaftliche Entzauberung der Welt zum bedeutungslosen
Sein die Intellektuellen zur »Konzeption der Welt als eines
Sinn-Problems« provoziert hat. (Vgl. Max Weber, Wirtschaft
und Gesellschaft, 1920, S. 308). So, nämlich in der Zurückweisung
der Zumutung einer sinnwidrigen Welt, entsteht Metaphysik. Doch in jedem Menschen
steckt offenbar ein Metaphysiker. Das Streben nach Sinn gehört konstitutiv
zum Menschsein dazu. Das können Psychologen heute mit den »noncontingent
reward experiments« sehr schön zeigen: Wer erst einmal Sinn in eine
Unordnung hineinkonstruiert hat, ist kaum mehr bereit, seine Konstruktion aufzugeben.
(Ebd., S. 86-87).Die raffinierteste Theorievariante zum Problem
des metaphysischen Bedürfnisses hat Ernst Jantsch in seinen Spekulationen
über die Selbstorganisation des Universums entwickelt, und zwar ausgehend
von der spektakulären These: »Gott ... ist die Evolution.«
Früher hätte man so etwas wohl Säkularisierung genannt, also die
weltliche Umbesetzung der letzten, absoluten Instanz, des Gott-Terms. Es geht
nicht ohne Metaphysik - das wußte man spätestens seit Kant. Metaphysik
ist eben das, was der Wissenssoziologe Karl Mannheim die Sinnergänzung des
Partikularen genannt hat. Doch die Denkfigur von Jantsch ist anspruchsvoller,
raffinierter: Die Evolution ist der Sinn, nach dem zu fragen die Evolution der
Kultur vorantreibt. »Das Bedürfnis nach Sinn erweist sich als mächtiger
autokatalytischer Faktor in der Evolution des menschlichen Bewußtseins.«
(Erich Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums, S. 414). Indem wir
nach dem Sinn suchen, reizen wir unser Bewußtsein, sich weiterzuentwickeln.
(Ebd., S. 87).Die Entzauberung der Welt zum Inbegriff von sinnfremden
Tatsachen läßt sich nicht widerrufen; das haben Max Weber und Ludwig
Wittgenstein deutlich gesehen. Je wissenschaftlicher und technischer unsere Welt
wird, desto unmöglicher ist es, sie als »sinnvoll« zu erfahren.
Das war natürlich schon das zentrale Motiv der Romantik. So heißt es
bei Novalis: »Der Sinn der Welt ist verlorengegangen. Wir sind beim Buchstaben
stehn geblieben. Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung verloren.
Formularwesen.« (Novalis [Friedrich von Hardenberg], Schriften, Band
II, S. 594). Das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Denn die mathematische
Formalisierung produziert Signifikanz - im Gegensatz zum Sinn. Insofern könnte
man sagen, daß die Formel der Mathematik im größtmöglichen
Gegensatz zum Sinn der Religion steht. Nichts ist der sinnhaften Erlebnisverarbeitung
des Romantikers fremder als die maschinelle Datenverarbeitung des Mathematikers.
(Ebd., S. 87).Zahlen und Figuren sind in der modernen Welt die
Chiffren aller Kreaturen. Die Technik und die sozialen Systeme sind an diese Umwelt
angepaßt, sonst würden sie nicht funktionieren. Der Mensch aber nicht.
Deshalb haben der Zeichensinn und der Funktionssinn nichts mit dem Sinn des Lebens
zu tun. Wir müssen also einen formalen Sinn, der einen Horizont oder ein
Verweisungsgefüge meint, von einem substantiellen Sinn unterscheiden, der
eine befriedigende Orientierung bietet. Wer aber Sinn nicht als Form sondern als
Gehalt begreift, ist religiös. Sobald man nämlich einen emphatischen
Begriff des Sinns vom bloßen Funktionieren eines Betriebs absetzt, bekommt
er einen Transzendenz-Index. (Ebd., S. 88).Das widerspricht
natürlich dem Geist der Moderne, und deshalb gibt es von Heidegger bis Luhmann
stets die Auskunft, Sinn sei eine Verweisungsstruktur, ein unnegierbarer Begriff.
Doch das kann den nicht befriedigen, der nach dem Sinn des Lebens fragt. Diese
Frage wird deshalb schon von Freud als krank abgefertigt; der so Fragende habe
sich, wie Arnold Gehlen formuliert, verlaufen. Und auch Wittgenstein hat ja derartige
Fragen als Krankheiten behandelt. So scheint es unter Wissenschaftlern nur noch
Spott über den »Sinnlosigkeitsbeseitigungsanspruch« des Geistes
zu geben. (Vgl. Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, 1970,
Band VI, S. 140). (Ebd., S. 88).Daß Sinn ein unnegierbarer
Begriff ist, zeigt sich aber eben gerade in der Frage nach dem Lebenssinn. Auch
wenn die moderne Wissenschaft diese Frage pathologisiert oder verspottet, muß
sie doch beobachten, daß sie den Menschen wichtiger ist als alle wissenschaftlichen
Fragen. Die wichtigsten Fragen kann man wissenschaftlich für sinnlos halten,
aber nicht lebenspraktisch. Es gibt also große, unbeantwortbare, nicht eliminierbare
Fragen, die zwar wissenschaftlich sinnlos, aber praktisch unaufschiebbar sind.
Der Essayist Hans Magnus Enzensberger hat sie spöttisch die »zu großen
Fragen« genannt. (Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Zu große Fragen,
2007). Das Dogma beantwortet sie, die Wissenschaft wehrt sie ab. (Ebd.,
S. 88).Schärfer formuliert: Wissenschaft ist die organisierte
Abwehr der Frage nach dem Sinn des Lebens. An Stelle einer Antwort analysien sie
die Frage und bietet für die dogmatische Antwort des Glaubens funktionale
Äquivalente. Doch Lebenssinn ist ein Singularetantum. Und so sorgt gerade
die Fülle der Optionen für die Erfahrung des Mangels. Weil sich niemand
ausreden läßt, daß es sich um die wichtigste aller Fragen handelt,
ist das materialistische Projekt der Abschaffung der Religion gescheitert. Die
bunte Fülle des Diesseitigen, das die wissenschaftlich-technische Welt vor
den Menschen ausbreitet, bewirkt vielmehr einen Überdruß an konfektionierten
Sinnformangeboten. Hans Blumenberg resümiert: »Es gibt keine Erfahrungen,
die den Sinn des Lebens widerlegen können. Gegen den Sinn gibt es nur den
Verdacht. Er kommt aus der Übersättigung mit Angeboten von Sinn. Denn
von diesem kann es schlechthin den Plural nicht geben; ihn könnte nur gebrauchen,
wer von Sinnen wäre.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über
den Fluß, 1987, S. 183). (Ebd., S. 88-89). **
Ein
Philosoph könnte betsreiten, daß »das Leben« einen Sinn
haben kann, weil es sich nicht selbst prädizieren kann. Immer nur kann »ein
Leben« Sinn machen. Gerade deshalb läßt sich »das Leben«
auf Sinn nur beziehen, soweit es ekstatisch aus sich heraustritt: Gott. (Darauf
hat mich Raimar Zons hingewiesen.) (Ebd.). |
Menschen
sind Wesen, die Bedeutsamkeit produzieren; die US-Amerikaner nennen das heute
»sensemaking«. Und das meinte schon Sokrates, als er davon sprach,
es läge von Natur aus etwas Philosophisches in der Seele des Mannes. Daraus
ergibt sich dann schlüssig die Aufgabenstellung für jede professionelle
Philosophie, nämlich die »Metaphysik als Naturanlage« durch den
Aufklärungsprozeß einer Kritik der Vernunft in »Metaphysik als
Wissenschaft« zu verwandeln. (Vgl. Immanuel Kant, Werke, Band V,
S. 241ff.). Diese berühmte Programmformel Kants bleibt auch noch für
Martin Heidegger verbindlich: »Die Metaphysik ist das Grundgeschehen im
Dasein.« (Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, 1929, S. 41).
(Ebd., S. 89).Wer sich aber nicht mit den Setzungen einer philosophischen
Anthropologie der Philosophie begnügen möchte, wird die Soziologie befragen,
wie jene großen Ideen entstehen, die den Rahmen menschlicher Handlungsinteressen
vorgeben. In der Einleitung zu seinem Aufsatz über die Wirtschaftsethik der
Weltreligionen hat Max Weber die Entstehung des »metaphysischen Bedürfnisses«
als intellektuelle Reaktionsbildung auf die Erfahrung einer sinnlosen Welt beschrieben.
(Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1919,
Band I, S. 253). Als sinnlos wird die Welt erfahren, wenn objektive Ungewißheit
auf Dauer gestellt ist und Wissenschaft nur noch Relativismen und Pluralismen
anzubieten hat. (Ebd., S. 89).Metaphysisch ist das Bedürfnis
nach der einen Wahrheit. Man kann nämlich kein Relativist sein. Genauer gesagt:
Man kann als Intellektueller zwar einer relativistischen Erkenntnistheorie anhängen,
aber man kann nicht relativistisch leben. So wächst auch heute wieder das
Bedürfnis nach einer transzendenten Verankerung des Lebens. Um es paradox
und mit dem Psychoanalytiker Jacques Lacan zu formulieren: Wir glauben an Gott
auch ohne an ihn zu glauben, weil wir ihn als »höchsten Zeugen«
für die Artikulation der Wahrheit brauchen. Du bist der Herr, mein Gott -
das ist die fromme Anrufungsformel für die Anerkennung des absoluten Anderen
als Bedingung des Zugangs zur Wahrheit. (Ebd., S. 89).Gerade
die scheinbar so konturlose, ästhetizistisch klingende romantische Definition
der Religion als Geschmack für das Unendliche macht deutlich, daß man
das metaphysische Bedürfnis nicht auf Ethik reduzieren kann. Es geht nicht
einfach, wie etwa in Sonntagsreden, um die Frage nach den Werten, an denen man
sich orientieren könnte und die eine Gesellschaft zusammenhalten sollen,
sondern es geht um die Sehnsucht nach Wert - als Wert. Während die Ethik
im Blick auf die anderen danach fragt, was das richtige Verhalten ist, geht es
der Religion darum, was wirklich wichtig ist. Keine Logik und keine Information
kann einem ja bei der Frage weiterhelfen, worum man sich kümmern soll, was
unsere Mühe und Aufmerksamkeit verdient, wo es ernst wird mit dem Leben.
In dieser alles entscheidenden Frage nach der Lebensführung bietet die Religion
geheiligte Selektionskriterien. (Ebd., S. 89-90).Nun liegt
es in der Natur der idealistischen Philosophie, das metaphysische Bedürfnis
sowohl erklären als auch befriedigen zu wollen. Sie kann das, wie unüberbietbar
bei Hegel, durch Überbietung versuchen, indem sie die christliche Religion
als die Wahrheit anerkennt, die noch nicht ihre wahre Form gefunden habe. Oder
sie kann selbst, wie bei Kant, »das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz
zu bekommen.« (Immanuel Kant, Werke, Band III, S. 33). Alle Idealisten
akzeptieren den Glauben als eine spirituelle Haltung des Willkommens gegenüber
der Wahrheit; doch den Zugang zur Wahrheit und damit die Befriedigung des metaphysischen
Bedürfnisses behalten sie der Philosophie vor. (Ebd., S. 90).Den
Bankrott dieses Anspruchs haben dann die großen Denker des 19.Jahrhunderts
notiert, allen voran Kierkegaard. Aber eben auch die Einsichten von Marx, Nietzsche
und Freud signalisieren diesen Bankrott der Philosophie, den der Religionsphilosoph
Jacob Taubes auf die lakonische Formel gebracht hat: »Der Geist blamiert
sich.« ((Jacob Taubes, Die politische Theologie des Paulus, 1987,
S. 59f.). Und zwar blamiert sich der Geist der Philosophie nicht nur vor dem Forum
der Entzauberungsunternehmen von Ökonomie, Soziologie und Psychologie, sondern
gerade auch vor dem Geist des Christentums. Seither sind die guten Philosophen
Abbruchsunternehmer, niemand konsequenter als Ludwig Wittgenstein, der resümierte:
»Wenn das Christentum die Wahrheit ist, dann ist alle Philosophie darüber
falsch.« (Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, S. 197).
(Ebd., S. 90).Doch was folgt daraus für den christlichen Umgang
mit der christlichen Wahrheit? Wir haben schon gesehen, daß der Teufel Theologe
ist. Und wenn die Theologen sich dazu verführen lassen, Gott wissenschaftlich
zu betrachten, sind sie des Teufels. Denn wenn man Gott wissenschaftlich beobachten
könnte, dann wäre jeder Gottesdienst Götzendienst. Wenn die Wunder,
die Jesus tat, experimentell verifiziert werden könnten, wäre bewiesen,
daß es keine Wunder gibt. Der gewußte Gott ist ein Götze, und
das Wissen von der christlichen Wahrheit ist Unwahrheit. Die Offenheit zur Transzendenz
setzt gerade voraus, daß man Gott nicht weiß. (Ebd., S. 90).Den
Gott des Christentums kann man also nicht beobachten, sondern nur lieben. Zu jeder
Beobachtung gehört nämlich Distanz, während die religiöse
Erfahrung der Gottesnähe gerade dadurch gekennzeichnet ist, daß sie
den Gläubigen verwandelt. Gott erfahren ist etwas anderes als Gott beobachten
- hier behält der Geisteszwerg Jacobi gegen den Geistesriesen Hegel recht.
Wissenschaftliche Beobachtung und religiöse Erfahrung sind inkommensurabel.
(Ebd., S. 90-91).Wissenschaft ist das Gegenteil von Gottesdienst.
Während die Wissenschaft Probleme löst, ist der christliche Glaube von
einem unlösbaren Problem besessen. Die Lösung des Problems liegt für
den Gläubigen im Verzicht auf die Lösung des Problems - dafür steht
die Gestalt Hiobs. Diese Paradoxie hat der Chemiker und Philosoph Michael Polanyi
auf die großartige Formel gebracht, das Christentum befriedige die Sehnsucht
nach geistiger Unzuftiedenheit mit dieser Welt, indem es dem Menschen den Trost
eines gekreuzigten Gottes anbiete. (Ebd., S. 91).Gott kann
man also nicht beobachten oder beweisen, sondern nur lieben und gehorchen. Und
Gottesdienst heißt eben auch, daß man Gott nur erfahren kann, indem
man ihm dient. Michael Polanyi hat den christlichen Glauben deshalb als leidenschaftlichen
heuristischen Impuls definiert, der durch Zweifel, Sünde und Angst hindurchsteuert,
ohne jemals zu einem spirituellen Ziel zu gelangen. Dieser Glaube übergreift
den Zweifel an sich selbst. Deshalb konnten nur Irreligiöse über die
Tagebücher der Mutter Theresa erstaunt sein. (Ebd., S. 91).Die
Gläubigen wissen typisch gar nicht, daß das Thema der Religion das
aktuellste ist: Komplexität. Und zwar in personalisierter Form: als Angst
und Unsicherheit. Religiöse Kommunikation verspricht, daß man mit dem
Unverständlichen umgehen kann - als ob man die unübersichtliche Welt
von außen betrachten könnte. Mit Theorie hat das nichts zu tun. Zum
Glauben kommt man nicht durch einen Gottesbeweis, sondern nur durch eine Gotteserziehung.
Deshalb heißt es bei Wittgenstein: »Wenn Du also im Religiösen
bleiben willst, mußt Du kämpfen.« (Ludwig Wittgenstein, Vermischte
Bemerkungen, S. 163). Der Glaube ist eine Leidenschaft; Weisheit dagegen ist
kalt und leidenschaftslos. Ich begreife nicht das Christentum, sondern der Glaube
ergreift mich. Glauben heißt das Leben ändern. (Ebd., S. 91).Ein
dauerhafter Seelenzustand ist charakteristisch für den frommen Menschen.
An ihm wird deutlich, daß der Glaube zugleich Weltentwurf und Handlungsanweisung
ist. Die unbefragbare und begründungsunbedürftige Lebenssicherheit,
die das fromme Leben auszeichnet, hat Ludwig Wittgenstein auf wunderbar prägnante
Formeln gebracht. »Gäbe es ein Verbum mit der Bedeutung ,fdlschlich
glauben: so hätte das keine sinnvolle erste Person im Indikativ des Präsenz.«
(Ludwig Wittgenstein, Schriften, Band I, S. 500). Glauben ist die Entscheidung,
die objektive Ungewißheit in subjektive Gewißheit verwandelt. Er ist
»das leidenschaftliche Sich-entscheiden für ein Bezugssystem«
(Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, S. 122 [**]).
Der Glaube bringt also das »Gefühl der Zuversicht« ins Denken.
(Vgl. Ludwig Wittgenstein, Schriften, Band I, S. 462). (Ebd., S.
91-92).
Insofern
kann man kontrollieren, was man glaubt, indem man diejenigen Informationsquellen
auswählt, die den gewünschten Glauben bestätigen. Man kann Werte
wählen, indem man Erfahrungen wählt, die bestimmte Werte induzieren.
(Ebd.). |
Die vier
möglichen Stellungen zum Bezugssystem des Glaubens haben wir als positiv
religiös, antireligiös, irreligiös und religiös unmusikalisch
bezeichnet. Der positiv Religiöse bringt das Opfer des Intellekts. Daß
man relativistisch reflektieren, aber nicht relativistisch leben kann, heißt
für den gläubigen Menschen, daß er im Blick auf seinen Glauben
kein Kontingenzbewußtsein entwickeln kann. Ein Atheist kann einem Frommen
keine »zwingenden Gründe« nennen. Denn um die Gründe als
zwingend zu erfahren, dürfte er kein Frommer mehr sein. (Ebd., S. 90).Die
positiv Religiösen können ihren Glauben nicht nur orthodox sondern auch
eklektisch leben. So ist es für den Romantiker typisch, daß er »glaubt,
glauben zu können« (Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt,
S. 268). In der Romantik wird die Religion selbstbezüglich. Man glaubt zu
glauben und man glaubt an den Glauben - »schwebend zwischen dem Wunsche
und dem Unvermögen zu glauben«, wie Jean Paul sagt.« (Vgl. Jean
Paul [Johann Paul Friedrich Richter], Sämtliche Werke, Band XXXVI,
S. 51). So kann man seit der Romantik wissen, daß man glauben wollen kann.
Dazu genügt das Gefühl der Religiosität, oder im trivialsten Fall
die Religiosität des Gefühls: Ich glaube nicht an Gespenster, aber ich
habe Angst vor Gespenstern. Ich glaube nicht an Glücksbringer, aber ich hänge
trotzdem ein Hufeisen auf. (Ebd., S. 92).Auch auf der Seite
der Ungläubigen gibt es zwei Varianten, die kritische und die ignorante.
Blanke Irreligiosität ist ein Abwehrmechanismus. Man meidet die Stelle, wo
sich eine Frage stellt, auf die es keine Antwort gibt. Es gibt Leute, die nur
mit den Schultern zucken, wenn man »von Gott« spricht. Sie können
noch nicht einmal wissen, daß sie Ungläubige sind. Aber die Geschichte
des Atheismus mahnt auch die Gebildeten unter den Ungläubigen zur Vorsicht.
Kann man Religion erklären, ohne daß die Erklärung selbst religiös
wird? Vor allem die Gottesleugner verfangen sich ja in der Paradoxie, die Religion
gerade durch ihre Negation zu bestätigen. (Ebd., S. 92).Das
haben die dialektisch versierten Theologen natürlich bemerkt und die Gottesleugner
zum höheren Ruhm Gottes rezipiert. Das geniale Verfahren Karl Barths bestand
darir; den christlichen Glauben streng von Religion zu unterscheiden, um ihn so
für die moderne Religionskritik zu öffnen. Seither ist Atheismus Wasser
auf die Mühlen des Christentums. Die Sonderstellung des Christentums unter
den Religionen kann man also bis zur Antithese Christentum vs. Religion steigern.
Der Katholik Carl Schmitt macht das an der historischen Einmaligkeit des Heilsgeschehens
fest. Der Protestant Karl Barth sieht im Glauben das Diskrimen, das alle anderen
Religionen zum Aberglauben depotenziert - zugespitzt in der polemischen Rede von
der »Religion als Götzendienst« (Karl Barth, Kirchliche Dogmatik,
1932, I, 2, S. 343).. (Ebd., S. 92-93).Anspruch der Religion
ist es immer, einen Sinn sichtbar zu machen. Die spezifisch christliche Verschärfung
muß nun darin liegen, daß dieser Sinn eigentlich ein anderer ist,
daß er nicht in die Gesellschaft paßt. Und die christliche Dogmatik
hat ganz entsprechend auch einen eigenen Gesellschaftsbegriff, der gegen die reale
Gesellschaft gerichtet ist: das Reich Gottes. Das Reich Gottes liegt, erstens,
in Jesus Christus als Person; das hat der Kirchenvater Origines mit dem Begriff
»autobasileia« gemeint. Das Reich Gottes liegt, zweitens, in der katholischen
Kirche. Und es liegt schließlich für die Protestanten in der Innerlichkeit.
In jedem Falle aber lautet das letzte Wort des Glaubens Andersheit: anders als
das, was ist. Der christliche Glaube ist die Gewißheit, daß das, was
ist, nicht alles ist, auch wenn es sich nicht ändern läßt.
(Ebd., S. 93).
Der absolute Vater
Nur scheinbar paradox geht
die Weltablehnung der Welt voraus. Es ist ja die Naherwartung des Gottesreichs,
die die Urchristen zur Weltablehnung führte - und diese zur Unterscheidung
weltlich / unweltlich. Daraus entstand dann erst »Welt«. Diese Dialektik
ist für das Christentum konstitutiv. Geistlich heißt nicht weltlich.
Und weltlich heißt: nicht »nicht von dieser Welt«. Wir haben
es hier mit einer Abweichungsverstärkung, einem positiven Feedback der religiösen
Erfahrung zu tun. Die Verweltlichung der Welt vergeistigt den Geist. (Ebd.,
S. 95).Nun ist die Naherwartung bekanntlich enttäuscht worden,
und die Christen mußten Thelogen werden, d.h. die Naherwartung durch Transzendenz
ersetzen. Es war also die Erfahrung der Parusieverzögerung, die zur Unterscheidung
von Immanenz und Transzendenz gezwungen hat. Indem das Reich Gottes auf sich warten
läßt, entsteht die Welt. (Ebd., S. 95).Dem unbefangenen
Beobachter von außen drängt sich hier rasch der Eindruck auf, die siegreiche
Kirche habe gar kein Interesse mehr am Ende der Welt. Man betet, wie Tertullian
sagt, »pro mora finis«, und durch den Aufschub des Endes erwächst
die Frist als geschichtliche Form des christlichen Lebens. Wie die Transzendenz
entsteht auch die Frist aus der Inkongruenz von Leben und Sinn. Das verschafft
aber der religiösen Sinngebung ganz neue Freiheitsgrade. Mit der Unterscheidung
von Immanenz und Transzendenz kann die Religion nun nämlich jeder Erfahrung
einen positiven Sinn verleihen. Sie ist also nicht mehr durch die Bereichsdifferenz
sakral / profan gebunden. (Ebd., S. 95).Der für die
Neuzeit maßgebliche Prozeß der Säkularisierung bleibt für
den christlichen Glauben so lange unproblematisch, so lange er durch die Grenze
zwischen Immanenz und Transzendenz begrenzt wird. Doch könnte man die Grenze
zwischen Immanenz und Transzendenz nicht selbst säkularisieren? Genau das
hat der große Apologet des sich selbst behauptenden neuzeitlichen Menschen,
Hans Blumenberg, mit einer raffinierten Engführung der Unterscheidung versucht.
Ist der Glückszustand aus eigener Kraft erreicht oder aus Gnade - also l»eistungstranszendent
oder leistungsimmanent«? (Vgl. Hans Blumenberg, Briefwechsel, S.
29). Lieber stürzt sich der Held der Neuzeit auf der Suche nach dem Glück
in das unglücklichste Bewußtsein, nämlich das ohne Jenseits, als
sich irgendetwas nicht selbst zu verdanken. (Ebd., S. 95-96).Für
den Gläubigen dagegen markiert die heilige Schrift die Grenze zwischen Immanenz
und Transzendenz. Schriftreligionen - besonders deutlich natürlich der Protestantismus
- signalisieren allein schon durch ihr Medium, daß sich das Übersinnliche
aus der Welt zurückgezogen hat und zum Jenseits geworden ist. Im Mittelalter
war die Transzendenz noch wahrnehmbar - so wie in der Antike die Götter wirklich
waren. Doch in der Neuzeit bleibt der Gläubige auf den Kanon heiliger Texte
verwiesen. Die heilige Schrift stellt den Exodus des Heiligen aus der Welt dar.
(Ebd., S. 96).Die Theologen haben die Gotteskommunikation auf die
Texte der Offenbarung reduziert. Man kann sie nicht fragen, was Gott von der modernen
Welt hält. Es gibt nur Texte, die man interpretieren kann, und Gott ist der
universelle Autor. Es kann deshalb nicht überraischen, daß die großen
theologischen Themen schon lange nicht mehr nur in der Theologie angeschlagen
werden, sondern z.B. in den Literaturwissenschaften. So spricht einiges für
die Auflösung der Theologie in Literaturwissenschaft und Soziologie, denn
es gibt keine Stelle für Theologie im Wissenschaftssystem. (Ebd., S.
96).Um Gott genau kennen zu lernen, empfiehlt es sich natürlich,
seine Biographie zu studieren. Und schon auf den ersten Seiten der Bibel wird
klar: Gott schafft die Welt der Unterscheidungen, ohne selbst unterscheidbar zu
sein. Und er kann erkennen, ohne unterscheiden zu müssen. Gott unterscheidet
nicht zwischen Gott und Welt. Deshalb kann man Gott lieben, aber nicht beobachten.
(Das ruft bekanntlich den Teufel auf den Plan!). Thema der Religion ist also der
Ungrund aller Unterscheidungen. Da Menschen aber unterscheiden müssen, kann
man das Göttliche nur paradox kommunizieren. Hier setzt dann die Begriffsakrobatik
der Dogmatik an. (Ebd., S. 96).Auf der Abstraktionsebene
der Theologie ist die Kommunikation über Gott an die Stelle der Erfahrung
des Heiligen getreten. Die Theologie muß behaupten, daß Gott kommuniziert,
nämlich durch die Offenbarung, und daß man mit Gott kommunizieren kann,
nämlich im Gebet. So könnte man Beten als eine Rhetorik begreifen, die
versucht, Gott und sich selbst zum Glauben zu überreden. Offenbaren und Glauben
sind Sprechakte, die allererst erzeugen, was sie unterstellen. Man entgeht dieser
Paradoxie theologisch, indem man, statt mit Gott, über den Gottesbegriff
spricht, oder religionssoziologisch, indem man diesen Gottesbegriff als Selbstbezug
der Gesellschaft analysiert. (Ebd., S. 96-97).Im Begriff
Gott bezieht sich die Gesellschaft auf sich selbst - aber ohne es zu wissen, nämlich
als Transzendenz. So entsteht die Illusion, es könnte eine richtige Beschreibung
der Gesellschaft von außen geben. Je moderner, d.h. differenzierter, arbeitsteiliger
und damit unübersichtlicher die Gesellschaft wird, desto größer
wird auch diese Sehnsucht nach Einheit und Ganzheit. Gott ist die traditionelle
Formel für die Einheit der Welt. Das weckt die Neugier: Wie kann ich die
Einheit beobachten, in der ich mich selbst befinde? (Ebd., S. 97).Man
kann es sich leicht machen mit Mystik und Esoterik, also mit der Beschwörung
des Ganzen. Mystisch ist die Ganzheitserfahrung der Welt, die suggeriert, man
könne das Unterscheiden vermeiden, das die Welt verletzt. Indem sie die Beobachtung
durch »Schau« ersetzt, betäubt die Mystik den Schmerz, den der
Schnitt zwischen Gott und Mensch bereitet. So scheint an der offenbarten Wahrheit
das Daß wichtiger als das Was. Dann handelt es sich aber auch nicht um eine
Mitteilung, sondern tatsächlich um Rudolf Bultmanns wortlosen Schrei. Und
dem entspricht ein Reden über das, worüber man nicht reden kann. Mystik
ist Mitteilung ohne Information, jene Ganzheitskommunikation, als deren Thema
Theresa von Ávila das unaussprechliche Herz aller Wirklichkeit bezeichnete.
(Ebd., S. 97).Man kann es sich aber auch schwer machen, nämlich
mit einer Kritik des Ganzen, wie früher in der Gnosis, später dann in
der negativen Dialektik einer Kritischen Theorie, oder heute im Ressentiment der
Globalisierungsgegner. Theodor W. Adorno, der größte Esoteriker des
modernen Negativismus, hat dafür die unüberbietbare Formel gefunden:
»Das Ganze ist das Unwahre.« (Theodor W. Adorno, Minima Moralia,
1951, S. 57). Radikale Gesellschaftskritik als Inkognito der Theologie - das ist
mittlerweile ein vertrautes Theoriedesign. (Ebd., S. 97).Für
den gläubigen Christen genügt es dagegen, in Gott die Transzendenz als
Person zu erfahren. Und das hat einen faszinierenden dialektischen Umkehreffekt.
Denn seither setzt Persönlichkeit einen Bezug auf Transzendenz voraus. Wie
sehr sich unsere Idee der Persönlichkeit einer Lebensführung verdankt,
die aus der jüdisch-christlichen Tradition herauswächst, hat Max Weber
im Vergleich mit dem konfuzianischen Gentleman deutlich gemacht. Man kann die
Lebensführung so rationalisieren, daß der Mensch in optimaler Weise
seiner Umwelt angepaßt ist. Er hat dann zwar Haltung, aber kein Eigengewicht
gegenüber der Welt. Persönlichkeit dagegen setzt Transzendenz voraus;
ein »Hinausgreifen über die Welt« ( Max Weber, Gesammelte
Aufsätze zur Religionssoziologie, 1919, Band I, S. 521). (Ebd.,
S. 97).Wie dieses Hinausgreifen dem Menschen das Gewicht einer
Persönlichkeit verleihen kann, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt,
daß jede Vorstellung von Transzendenz eine Zäsur zwischen Alltäglichkeit
und Außeralltäglichkeit darstellt. Dann kann man das Charisma von der
Tradition unterscheiden - und ins Recht setzen. Und dann macht es Sinn, den Sinn
des Seins jenseits der Lebenswelt zu suchen. Mit einem Wort: Transzendenzmotive
üben die Unterscheidung von Normalität und Ausnahmezustand ein.
(Ebd., S. 98).Kafka hat vorgeführt, wie solche Einübung
ins Christentum typisch scheitert, nämlich an der absoluten Transzendenz,
die der gottlosen Leere exakt entspricht. Die Katkasche Urszene ist bekannt: die
hoffnungslose Selbstbehauptung gegen den absoluten, d.h. unerreichbaren und unentrinnbaren
Vater - »die letzte Instanz, fast ohne Grund«. Hans Blumenberg hat
diese Urszene des modernen Menschen genial interpretiert. Die »Sorge der
Selbstbehauptung« steht gegen die Sorge des Hausvaters, dessen Liebe als
Gewalt erscheint. (Vgl. Hans Blumenberg, Der absolute Vater, in: Hochland,
# 45, 1952, S. 282ff.). Für Blumenberg ist der Gott Kafkas aber nicht die
Projektion des übermächtigen Vaters, sondern umgekehrt besetzt die Figur
des »absoluten Vaters« die »Leere des Absoluten«o;.
(Ebd., S. 98).Die Urszene Kafkas ist die eines absoluten Transzendenzbewußtseins,
das sich nicht mehr mit religiösem Material füllen läßt;
»die Leere dieser gottlosen Religiosität« muß anders besetzt
werden. Entscheidend ist hier, daß Blumenberg Kafkas Gefühl des Unterworfenseins
unters Absolute nicht aus menschlichen Wirklichkeiten ableitet. Und hier zeigt
sich die Kafkasche Dichtung der Freudschen Psychoanalyse überlegen. Die schlechthinige
Abhängigkeit ist nämlich keine Projektion. Der absolute Vater ist nur
der »Platzhalter der Transzendenz«. So sind alle Kafkaschen Texte
Briefe an den Vater, denn nur über ihn kann er sich in ein Verhältnis
zur Transzendenz und damit zu sich selbst setzen. (Ebd., S. 98).Was
bedeutet »Vater«? Das ist die Frage von Christentum und Psychoanalyse.
Keine »Politische Korrektheit« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
vergleichender Kulturwissenschaften wird darüber hinwegtäuschen können,
daß nur die jüdisch-christliche Tradition den Sinn des Vaters erschließt.
Der wahre, symbolische, absolute Vater des Anfangs ist der getötete Vater;
der Mord hat ihn verewigt. Und dieser symbolische Vater ist mächtiger als
es der reale je war. Das ist die Geschichte, die Freud erzählt. Sie chiffriert
zugleich auch die Geburt der Psychoanalyse aus dem sozialen Zerfall der Vaterimago.
(Ebd., S. 98).Der getötete und dadurch verewigte Vater; der
symbolische Vater, der mächtiger ist als es je ein realer sein könnte;
der Name des Vaters; die Dimension der absoluten Andersheit - das ist der Gott
des Monotheismus. Die Psychoanalyse lokalisiert ihn im Unbewußten. Und während
der Jude Freud hier noch mit hohem Bewußtsein den Mythos der alten Griechen
bemüht, heißt es bei dem Katholiken Jacques Lacan: »Wenn der
Vater irgendwo seine Synthese, seinen vollen Sinn finden muß, so gelingt
dies nur in einer Tradition, die sich die religiöse Tradition nennt.«
(Jacques Lacan, Seminar, Band IV, S. 439). Der symbolische Vater ist die
historische Wahrheit der Auferstehung Christi. (Ebd., S. 98-99).Vor
diesem Hintergrund gewinnt das »tremendum«, das Furchterregende des
Heiligen, einen völlig neuen Sinn. Die monotheistische Gottesfurcht ist nämlich
das Gegenteil der heidnischen Furcht vor den Göttern. Der Gott ist nicht
nur ein Gott. Und das wendet den Schrecken in Zuversicht. Die unzähligen
Befürchtungen werden durch eine einzige Furcht ersetzt - und dadurch in Mut
verwandelt. So kann die Gottesfurcht zur Grundlage der Gottesliebe werden. Wer
in der Furcht Gottes lebt, muß nichts mehr fürchten. Das ist, um Hans
Blumenbergs Begriffe noch einmal zu zitieren, der leistungstranszendente Glückszustand.
Doch wie sieht dann der leistungsimmanente Weg aus? (Ebd., S. 99).Um
sich selbst zu behaupten, muß der Mensch einen Umweg über die Instanzen
des Absoluten nehmen, sei es die Abschirmung gegen die Schrecken des Realen, sei
es die Arbeit am Mythos, sei es das Hinausgreifen in die absolute Transzendenz.
Das paßt zum Grundbefund der modernen Anthropologie, daß der Mensch
sich selbst äußerlich bleibt. Und so sieht dann Blumenbergs anthropologische
Annäherung an die Religion aus: Es gibt keine Natur des Menschen, kein unmittelbares
Verhältnis zu sich selbst, sondern nur Metaphern für die »menschliche
Natur«. Und die radikalste dieser Metaphern, mit deren Hilfe der Mensch
sich selbst versteht, liegt in seinem Selbstvergleich mit dem transzendenten Gott.
Der Gott des Monotheismus war zunächst das beängstigende Absolute, das
sich der Mensch endgültig vom Leib halten wollte und also ins Jenseits versetzte;
doch »indem er den Gott als das Ganz-Andere von sich absolut hinwegzudenken
versuchte, begann er unaufhaltsam den schwierigsten rhetorischen Akt, nämlich
den, sich mit diesem Gott zu vergleichen.« (Hans Blumenberg, Wirklichkeiten,
in denen wir leben, 1981, S.135). (Ebd., S. 99).Der
Mensch hält sich Gott vom Leib, um sich mit ihm zu vergleichen; die Transzendenzmotive
sollen also dem menschlichen Selbstverhältnis dienstbar gemacht werden. Das
bedeutet aber, daß gerade die »Distanz zu Gott« ihn als Instanz
fixiert. (Vgl. Gottfried Benn, Gesammelte Werke, Band IV, S. 312). Wer
versucht, Gott zu leugnen, macht die Erfahrung, daß er ihm wie ein Affe
im Genick sitzt, den er nicht abschütteln kann. Gottfried Benn hat das so
formuliert: »niemand ist ohne Gott, das ist menschenunmöglich, nur
Narren halten sich für autochthon und selbstbestimmend.« (Ebd.).
(Ebd., S. 99-100).Doch die Namen wechseln. Jede Epoche hat ihren
Gottes-Term: Gnädiger Gott - gerechte Gesellschaft - heile Natur - wahres
Selbst. Gott ist tot, und wir haben ihn getötet. Aber nur, um vor neuen Götzen
in die Knie zu gehen: vor dem Staat oder dem Ich, vor der Natur oder dem Sozialen.
Und der lange Schatten des toten Gottes reicht vom Christentum über den Marxismus
bis zum »Gutmenschentum« unserer Tage. Wenn man den Schleier dieser
vielen Gottes-Terme lüftet, erweist sich die Geschichte des Menschen als
Eskalation der Gottesidee. Nachdem das antike Schicksal in die Kontingenz der
Existenz einerseits und die Omnipotenz Gottes andererseits zerfallen war, schrieb
sich der Prozeß der Selbstermächtigung des Menschen in das religiöse
Register als Entwicklung vom allmächtigen zum ohnmächtigen Gott ein.
Die eingängigsten Reklameformeln fanden sich dann erst im 19. und 20. Jahrhundert:
Gott ist tot (Nietzsche); das Seyn entzieht sich (M. Heidegger); der ohnmächtige
Gott (D. Sölle). (Ebd., S. 100).Die grandiose Dialektik
dieser Enrwicklung besteht nun darin, daß gerade die Ohnmacht Gottes und
die Zweifel an seiner Existenz die Liebe zu ihm ermöglichen. Indem Gott dem
Menschen die Freiheit gab, hat er seine Macht begrenzt. Aber begrenzte Macht ist
mächtiger als unbegrenzte Macht. Gott fehlt etwas, und dieses Fehlen läßt
uns an seiner Existenz zweifeln. Daß nun aber dieser Zweifel nicht zur Verzweiflung
sondern zur Gottesliebe führt, hat kein Theologe je so plausibel machen können,
wie der Psychoanalytiker Jacques Lacan: »Es gibt keinen anderen Grund, Gott
zu lieben, wenn nicht den, daß er vielleicht nicht existiert.« (Jacques
Lacan, Seminar, Band IV, S. 165). Wenn nämlich die Ohnmacht der Allmacht
erfahren wird, überträgt man die Allmachtinstanz nach »jenseits«.
Und im Jenseits zeigt sich jener Mangel als die Möglichkeit der Nichtexistenz.
(Ebd., S. 100).Typisch modern fragt man nicht mehr nach Gott, sondern
nach der Religion. Oder schärfer formuliert: Die Frage nach Gott ist modern
die Frage nach seiner Todesursache. So hat sich für die meisten der erinnerte
Gott an die Stelle des erwarteten Gottes geschoben. Der Gläubige dagegen
erspart sich diese Frage, indem er Gott benutzt, um eine Frage zu stellen. Auch
für ihn gilt das Wort Ludwig Wittgensteins: »Wie Du das Wort , Gott
' verwendest, zeigt nicht, wen Du meinst sondern, was Du meinst.« (Ludwig
Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, 97). Und so lange man Gott benutzen
kann, um eine Frage zu stellen, ist es fast gleichgültig, ob er existiert.
(Ebd., S. 100).Wenn man keinen Gott mehr hat, hat man Religion.
Wir können hier sehr klar das Bedürfnis nach einem Gott unterscheiden
von dem spezifisch modernen Bedürfnis, an einen Gott zu glauben. Wenn heute
also jemand fragt »Glaubst Du an Gott?«, dann antwortet man wohl am
besten mit der Gegenfrage: Kannst Du noch begreifen, was es bedeutet, einen Gott
zu haben? Man kann nicht sagen, wer Gott ist; man kann ihm nur dienen. Und deshalb
sagt Nicoláis Gómez Dávila zurecht: »Gott ist das Ärgernis
des modernen Memchen.« (Nicoláis Gómez Dávila, Scholien,
S. 198). Das läßt sich aber auch positiv formulieren, nämlich
so: Gott ist das größte Abenteuer, auf das sich der moderne Mensch
einlassen kann. (Ebd., S. 100-101).
Die wundeste Stelle der Kultur
Eine der berühmtesten
Figuren aus Nietzsches Drama des abendländischen Nihilismus ist der tolle
Mensch. Was er uns klar machen will, ist, daß das Wort »Gott ist tot«
etwas ganz anderes meint als »nicht an Gott glauben«. Nur wenige haben
das verstanden, aber immerhin die wichtigsten der Nietzscheaner: Max Weber und
Sigmund Freud. Nietzsche, Weber und Freud verkünden eine Botschaft, die niemand
hören will. Diese These klingt zunächst unverständlich, wenn man
etwa an den weltweiten Publikumserfolg Nietzsches, die beherrschende Stellung
Webers in der Soziologie, v.a. in der us-amerikanischen, und an die Allgegenwart
psychoanalytischer Slogans denkt. Doch alle drei waren davon überzeugt, daß
man den Menschen erst die Ohren zerschlagen müßte, damit sie jene Botschaft
erreicht. (Ebd., S. 103).»Gott ist tot«, das
heißt zunächst, daß der Mensch seinen schützenden Vater
verloren hat. Dieser Teil der unerhörten Botschaft ist leicht verständlich.
Doch die entscheidende Verschärfung verleiht ihr Nietzsche durch die Selbstanklage:
Wir haben ihn ermordet. Daraus hat Freuddann den psychoanalytischen Grundmythos
vom Urvatermord entwickelt. Hinter den zu grpßen Fragen des metaphysischen
Bedürfnisses steht die zu große Tat: der Gottesmord. (Ebd., S.
103).Hören wir noch einmal genauer auf die buchstäblich
unerhörte Botschaft des tollen Menschen im berühmten § 125 der
Fröhlichen Wissenschaft: Gott ist tot, und wir haben ihn getötet. Das
ist die größte Tat der Weltgeschichte; sie ist aber für uns zu
groß, wir wissen uns nicht von ihr zu reinigen. Deshalb haben wir sie verdrängt;
wir wissen nicht, was wir getan haben; unsere eigene, größte Tat ist
uns ferner als das fernste Gestirn. Und deshalb versteht niemand den tollen Menschen,
Nietzsche, Freud. Das Allermundewort »Gott ist tot«, das man in Popsongs
hören und als Graffito auf Autobahnbrücken lesen kann, bleibt die rätselhafteste
Hieroglyphe. Deshalb stellt Nietzsche immer wieder die Frage: Hat man mich verstanden?
Durchaus nicht, denn »das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fern,
zu abseits vom Fassungsvermögen Vieler, als daß auch nur seine Kunde
schon angelangt heißen dürfte.« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche
Werke, Band III, S. 573; vgl. ders., Die Unschuld des Werdens, a.a.O.,
S. 348: »Das ist eine furchtbare Neuigkeit, welche noch ein paar Jahrhunderte
bedarf, um den Europäern zum Gefühl zu kommen«). (Ebd.,
S. 103).Nach dem Tod Gottes wird aus Religion Religiosität;
sie bekommt in der modernen Gesellschaft tatsächlich jene Opium-Qualität,
die Karl Marx ihr nachgesagt hat. Mit anderen Worten: Säkularisierung produziert
atheistische Religiosität, das Parfüm des Heiligen. Wir haben das unter
dem Stichwort »Boutique-Religion« schon ausführlich diskutiert.
Dagegen formuliert Nietzsche sein Wahnsinnsprojekt, einen neuen Gott zu schaffen,
weil nur ein Gott uns vor dem Letzten Menschen retten kann. Am 06.01.1889 schreibt
Nietzsche an Jacob Burckhardt: »zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler
Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit
zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen.« (Friedrich
Nietzsche, Sämtliche Werke, Band IX, S. 577) (Ebd., S. 104).Das
ist die eine heroische Möglichkeit, sich in einer gottfernen Zeit zu behaupten,
nämlich selbst einen neuen Gott zu schaffen, oder doch zumindest zu verkündigen
- Nietzsche als neuer Prophet. Sein Schüler Max Weber hat die Bedingungen
der zweiten Möglichkeit benannt, männlich in einer gottfernen Zeit leben
- Politik als Beruf. Und die Weber-Formel für die dritte Möglichkeit,
nämlich Wissenschaft als Beruf, paßt auf niemanden besser als auf Freud,
den Begründer der Psychoanalyse, der sein ganzes Leben in den Dienst des
Durcharbeitens zur historischen Wahrheit gestellt hat. (Ebd., S. 104).Max
Weber hat Nietzsches Forderung, aus dem Tod Gottes eine großartige Entsagung
zu machen, ernst genommen. Das kann man seinen religionssoziologischen Untersuchungen
genau so entnehmen wie den großen Reden über Wissenschaft und Politik
als Beruf. Für den ernsten Menschen ist der Sinn des Lebens im Dienst an
einer Sache zu finden, also im rational und methodisch ausgeübten Beruf,
dessen asketische Bedeutung der Calvinismus so großartig herausgearbeitet
hat. Die polemische Stoßrichtung des Lebensprogramms, das Heil der Seele
im Beruf zu suchen, wird aus der Gegenstellung zur Kontemplation der Intellektuellen
besonders deutlich. (Ebd., S. 104).Max Weber übersetzt
Luthers Zwei-Reiche-Lehre in die Antithese von Gesinnungs- und Verantwortungsethik.
Obwohl es sich hier nicht um eine bündige Disjunktion handelt, sondern beide
Ethiken sich in der konkreten Lebenswirklichkeit durchdringen können, arbeitet
Weber doch ein großes Entweder / Oder heraus. Man muß zwischen einem
Leben in religiöse Würde und Manneswürde unterscheiden. Und aus
der Perspektive der Manneswürde muß das Leben in religiöser Würde
geradezu als Würdelosigkeit erscheinen. Hier gibt es keine Kompromisse, und
es ist eine unterhintergehbare Frage der eigenen letzten Stellungnahme, welche
der Lebensformen als Gott wohlgefällig oder als des Teufels erscheint.
(Ebd., S. 104).Dem religiös Unmusikalischen ist die Lebensform
der religiösen Würde unvollziehbar. Er läßt sich auf »diese
Welt« und ihre durchschnittlichen Defekte ein. Max Weber verwandelt Nietzsches
Pathos der Distanz in die politische Tugend des Augenmaßes, die allein »dem
Ethos der Politik als Sache« entspricht. Mit der Wendung zum
Beruf der Politik ist die religiöse Frage aber nicht erledigt, sondern stellt
sich mit neuer Dringlichkeit. Denn die Sache der Politik ist zuletzt Glaubenssache.
(Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 105).Doch
dieser Glaubenssache der Politik kann man nicht durch ein Opfer des Intellekts
entsprechen, sondern nur durch entschlossenes politisches Handeln, das unvermeidlich
in Schuld verstrickt. Die Tragik des politischen Handeins fordert eine männliche
und herbe Haltung, nämlich »Sachlichkeit und Ritterlichkeit«
(Max Weber, Politik als Beruf, S. 53ff.). Diese stolzen Vokabeln machen
deutlich, wie schwer die Aufgabe ist, den modernen Alltag auszuhalten. Und die
Polarnacht, die Weber für Europa ankündigt, bestätigt noch einmal
den tollen Menschen Nietzsches: »Ist es nicht kälter geworden? Kommt
nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage
angezündet werden?« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke,
Band III, S. 481). (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008,
S. 105).Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht, Max Webers
Begriff von Politik als Dämonie der Gewalt und Freuds Enthüllung der
triebhaften menschlichen Aggressivität sind drei Varianten derselben unerhörten
Botschaft. Daß politische Aufgaben nur mit Gewalt zu lösen sind; daß
Politik als Gewaltpragma unvereinbar mit dem Leben des Heiligen ist; daß
Politik als Pakt mit dem Teufel begriffen werden muß, weil sie sich unweigerlich
in Gewaltsamkeit verstrickt - all das wollen die politischen Kinder der modernen
Gesellschaft nicht wahrhaben. Nicht Männlichkeit, sondern Kindlichkeit ist
die Signatur unserer Zeit. Und die Kindlein hören es nicht gern, wenn man
ihnen vom Bösen im Menschen erzählt. Man hat Ohren, um nicht zu hören.
Und deshalb dringt durch die Schriften dieser großen Denker immer wieder
der Verzweiflungsruf: Habt ihr mich verstanden? (Norbert Bolz, Das Wissen
der Religion, 2008, S. 105).Durchaus nicht! Und was
Freud über Nietzsches Wahnsinn und Webers Resignation hinausträgt, ist
allein die Tatsache, daß er dieses Nichthörenwollen selbst in seine
Theorie integrieren konnte, nämlich als »Widerstand« in der und
gegen die Psychoanalyse. Den toten Gott ins Register des Unbewußten einzutragen,
war seine genialste Intuition. Gott ist tot, aber gerade dadurch mächtiger
denn je, nämlich im Unbewußten. Die Religion verdankt ihre Macht dem
Schicksal der Verdrängung. Wer Freuds Analysen ernst nimmt, kann Religion
also nicht mehr einfach nur als Tradition begreifen, sondern muß sie als
zwanghafte Erinnerung verstehen - als Wiederkehr des Verdrängten. (Ebd.,
S. 105).Hier stoßen auch die beiden artikuliertesten Theorien
der Religion der Gegenwart, nämlich die von Hermann Lübbe und Niklas
Luhmann, auf ihre Grenzen. Die Robustheit der Religion wäre unerklärlich,
wenn es nur um eine zivilreligiöse Kompensationsfunktion oder um religiöse
Kommunikation ginge. Warum ist sie immun gegen Aufklärung, Skepsis und Kritik?
Im Medium des Glaubens wird eine historische Wahrheit überliefert, doch »sie
muß erst das Schicksal der Verdrängung, den Zustand des Verweilens
im Unbewußten durchgemacht haben, ehe sie bei ihrer Wiederkehr so mächtige
Wirkungen entfalten kann.« (Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Band
XVI, S. 209). (Ebd., S. 106).Destruo, ergo sum. Das ist das
bittere Fazit der über sich selbst aufgeklärten Aufklärung. Herr
Cogito war eine Maske, hinter der nun wieder »homo natura«, der alte
Adam erkennbar geworden ist. Deshalb ist die Lehre von der Erbsünde realistischer
als die der Vernunftaufklärung. Der protestantische Theologe Karl Barth hat
das einmal auf die Formel gebracht: »Die Wirklichkeit der Religion ist das
Entsetzen des Menschen vor sich selbst.« (Karl Barth, Der Römerbrief,
1922, S. 252). Seine Aggressivität läßt sich nicht aus den Notwendigkeiten
der Naturbeherrschung und der Eigendynamik der Freund-Feind-Verhältnisse
ableiten. Die Gewalt ist ohne Grund. (Ebd., S. 106).Freud
lehrt nun, daß die grundlose Gewalt aus einer »primären Feindseligkeit«
des Menschen entsteht; »der Nächste [ist] eine Versuchung, seine Aggression
an ihm zu befriedigen«. (Vgl. Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Band
XIV, S. 470). Deshalb hat Moses die Zehn Gebote gebracht, und Jesus hat sie in
dem uns alle überfordernden Liebesgebot resümiert. Die Größe
der Forderung, den Nächsten und den Feind zu lieben, ist ein getreuer Maßstab
für das Ausmaß jener für das gesellschaftliche Leben konstitutiven
Gewalt. Was wir Gesellschaft nennen, ist auf die grundlose Gewalt hin berechnet.
Mit den kalten Worten des Psychoanalytikers Jacques Lacan: »wir verbringen
unsere Zeit damit, die Zehn Gebote zu verletzen, und deshalb ist eine Gesellschaft
möglich.« (Jacques Lacan, Seminar, Band VII, S. 87). (Ebd.,
S. 106).Die grundlose Aggression des Menschen hat Freud als das
Kulturhindernis schlechthin erkannt; sie markiert »die wundeste Stelle jeder
Kultur« (Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Band XIV, S. 503f.). Für
dieses Problem gibt es keine Lösung, sondern nur die tragische Wahl zwischen
dem Unglück durch Aggression und dem Unglück durch die ethische Abwehr
der Aggression. Das Unglück durch Abwehr ist nämlich gemeint, wenn Freud
vom Unbehagen in der Kultur spricht, die gegen die Erbsünde der Aggression
das unerfüllbare Gebot der Nächstenliebe aufgerichtet hat. Jacob Taubes
sagt deshalb zu recht: »Niemals seit Paulus und Augustin hat ein Theologe
eine radikalere Lehre von der Erbsünde vertreten als Freud.« (Jacob
Taubes, Vom Kult zur Kultur, S. 374). (Ebd., S. 106).Alle
Religionen kennen den Kult des Großen Mannes, aber nur das Christentum weiß
von seiner Tötung. Das Christentum ist zwar dem Judentum intellektuell unterlegen,
aber es stellt einen entscheidenden Fortschritt in der Erkenntnis der historischen
Wahrheit dar. Der Punkt, um den sich für Freud sowohl individualpsychologisch
als auch kulturgeschichtlich alles dreht, ist »das Verhältnis zum Vater«.
(Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Band IX, S. 188). Es geht um das urzeitliche
Verbrechen des Vatermords, das Schuld und Stolz der Menschheit ausmacht. Die Leiden
des göttlichen Bockes Dionysos, von denen die griechischen Tragödien
berichten, sind von der Passion Christi eigentlich gar nicht zu unterscheiden.
Das Martyrium ist das Mysterium - das gilt für Christus und Dionysos gleichermaßen.
Doch nur das Christentum bekennt die Untat der Urzeit. (Ebd., S. 107).Die
Christen gestehen also den Gottesmord. Und erst dieses Bekenntnis der Schuld ermöglicht
den Machtwechsel. Die »Sohnesreligion löst die Vaterreligion ab«.
(Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Band IX, S. 186). Doch damit ist der
absolute Vater nicht abgetan, sondern er gewinnt sogar an Macht - ein dialektisches
Meisterstück, das wir dem Apostel Paulus verdanken. Der christliche Gott
der Liebe ist für die Menschen erfahrbar in Jesus Christus, der aber selbst
nur seine Beziehung zum Vatergott ist. In der Relation Gott-Mensch ist nur der
Mensch ein Relatum; Gott ist ein Absolutum. Aber durch Jesus Christus ist Gott
auf beiden Seiten des Verhältnisses - als Allmacht und Ohnmacht. (Ebd.,
S. 107).Auch diejenigen, die Paulus gehaßt haben, mußten
doch anerkennen, daß seine Umwertung des Kreuzes der großartigste
semantische Coup der Weltgeschichte war. Das Wort vom Kreuz richtete sich gegen
die Griechen, deren logischem Empfinden es eine Torheit war; gegen die Juden,
denen es, wie der ehemalige Zelot nur zu genau wußte, ein unerträgliches
Ärgernis sein mußte; gegen die Gnostiker, von denen denn auch der Bannfluch
»anathema Jesous« überliefert ist; aber letztlich auch gegen
das Leben des Lehrers und Magiers Jesus, von dem die Evangelien berichten.
(Ebd., S. 107).Paulus macht aus Jesus Christus. Es geht ihm nicht
mehr um den großen Lehrer Jesus, sondern um die Geschichte seines Todes.
Paulus hat Jesus nicht gekannt und mußte ihn auch nicht kennen, um jene
Urgeschichte fortschreiben zu können. Die Paulinische Ironie der Torheit
des Kreuzes liegt eben darin, daß der wie ein Verbrecher schmählich
Gekreuzigte der König Israels ist; man könnte von einer göttlichen
Dissimulation sprechen. Die Passion entauratisiert den Messias. Seither kommt
das Heil aus der Hinfälligkeit. Der Sohn Gottes stirbt wie ein Verbrecher.
Und das bedeutet in Paulinischer Dialektik, daß der Messias als Sündenbock
das Gesetz aufhebt. (Ebd., S. 107).Jesus hat die Macht der
Vergebung entdeckt. Ein Mensch, der vergibt, vollbringt ein Wunder. Und darin
geht die Dialektik des Kreuzes nun doch entscheidend über eine bloße
Umwenung der Werte, einen rein semantischen Coup hinaus. Das Kreuz steht für
ein neues Sein: das Sein im Leiden. Die dialektische Macht dieses neuen Seins
hat Papst Benedikt XVI. in einen unscheinbaren Neologismus gefaßt: »umleidend«
(Joseph Ratzinger [Papst Benedikt XVI], Jesus von Nazareth, 2007, S. 46).
So wie die Griechen im »pathein mathein« das Leiden und das Lernen
verknüpft haben, so verknüpft Jesus in der Bergpredigt das Leiden und
das Lieben. Lieben kann nur, wer leiden kann. (Ebd., S. 108).Und
moderne Menschen leiden daran, nicht leiden zu können. Deshalb hat Schopenhauer
ihnen seine eigene Philosophie als Therapie verordnet. Nun kann man zwar Schopenhauer
darin folgen, daß das Christentum die Allegorie der Wahrheit ist. Aber man
kann sie nicht deuten! Da hat sich die Philosophie überschätzt. Man
muß also beim Bild stehen bleiben - bei Jesus. Und dazu bedarf es keiner
Metaphysik. Jesus Christus genügt. Mehr muß man von Gott nicht wissen.
Es ist kein Problem, daß er »deus absconditus«, der verborgene
Gott, bleibt. Jesus Christus ist das »eikon tou theou« (2. Kor., 4,4),
das wahre Bild von Gott. (Ebd., S. 108).Dem Gläubigen
genügt es, den Geschichten von und über Jesus zu folgen, die um die
Wunder, die Lehre und das Leiden kreisen. »Das Christentum ist eine Erzählgemeinschaft«,
hat Harald Weinrich zurecht bemerkt. (Vgl. Harald Weinrich, Wie zivilisiert
ist der Teufel?, 2007, S. 50). Gerade deshalb aber ist es sinnlos, zwischen
dem Christus des Glaubens und dem historischen Jesus unterscheiden zu wollen.
Denn erstens gab es damals nur ein mythisches Weltverstehen. Und zweitens würde
sich der christliche Glaube ohne den historischen Jesus in Gnosis verwandeln.
(Ebd., S. 108).Das zentrale Paradox des Glaubens besteht eben darin,
daß das Ewige das Geschichtliche ist. Im Christ-Sein ist das Reich Gottes
da. Das gibt ja auch der Gerichtsszene des Jesus vor Pilatus ihre Gewalt: Die
Wahrheit bricht in die Realität ein und forden sie heraus. Doch von nun an
bleibt die Wahrheit an das Opfer des Intellekts gebunden. Es geht um Pistis, nicht
um Gnosis. Und man versteht das Evangelium durchaus richtig, wenn man es, wie
Max Weber, als »Verkündigung eines Nichtintellektuellen nur an Nichtintellektuelle«
liest. (Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1920, S. 379). Gott
gibt den Glauben den Kindern, nicht den Intellektuellen; es geht nicht um das
Wissen der Dogmen, sondern um Vertrauen in die Verheißung. (Ebd.,
S. 108).Nichtintellektuelle, Ungebildete, Kinder - das kann man
leicht mißverstehen. Jesus sagt zwar: Liebe Gott wie ich ihn liebe, nämlich
als sein Sohn. Doch dieses »Gotteskindschaftsbewußtsein« steigerte
in der modernen Welt die Sentimentalität bis in pietistische Gefühlshöhen,
deren »winselnder Tonfall ... kraftvolle Männer so oft aus der Kirche
gescheucht hat.« (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1920, S.
345). Deshalb hat Max Weber die evangelische Kirche immer wieder daran erinnert,
daß auch der Vater des Gottessohns kein zärtlicher moderner Papa ist,
sondern, ganz kafkaesk, strenger Hausvater. (Ebd., S. 108-109).Doch
daß Gott kein netter Papa ist und Jesus nicht sozial war, wagt die Kirche
heute kaum mehr auszusprechen - und man muß befürchten: auch kaum mehr
zu denken. Dabei würde es genügen, sich an Luthers schlichte Bestimmung
des Wesenskerns der absoluten christlichen Religion zu erinnern: an Christus und
das Kreuz glauben und Mildtätigkeit gegen die Armen. Das ist die einzige
materiale Ethik, die der Westen zu bieten hat. (Ebd., S. 109).Heute
scheint sie aber in Sentimentalität und Wertefunktionalismus zu zerfallen.
Aus dem »summum bonum« ist der höchste Wett geworden. Wir haben
ja schon zahlreiche Versuche einer Neubesetzung der Wertstelle Gott beschrieben,
die sich alle darin gleichen, daß sie das Heilige als den Wert des Werts
ansetzen. Doch was auf den ersten Blick wie der Versuch einer Rettung Gottes in
modernen Wertbegriffen aussieht, erweist sich bei Lichte betrachtet als erneuter
Gottesmord. Martin Heidegger sagt: »der härteste Schlag gegen Gott
besteht darin, daß er zum höchsten Wert herabgewürdigt wird.«
(Martin Heidegger,Holzwege, 1949, S. 240). Diese wunderbar dialektische
Formulierung entspricht präzise der Diagnose Nietzsches, im Bild des nur
noch lieben Gottes und seines Reichs als Hospital wolle das Christentum Gott zum,
Guten an sich' herunterbringen. (Ebd., S. 109).Wir nehmen
das als Warnung, die christliche Liebe nicht vom lieben Gott aus zu denken. Stattdessen
fassen wir die christliche Liebe im Gegensatz zum archaischen Opfer, vor allem
aber als Aufhebung des jüdischen Gesetzes. Die Liebe zu Gott ist absolut,
weil man vor ihm immer Unrecht hat. Leben läßt sich diese Liebe zu
Gott aber nur als Liebe zum Nächsten. Man braucht das Wissen vom Ganzen,
das Gesetzeswissen nicht, wenn man den Nächsten liebt. Es handelt sich hier
um eine Injunktion, eine Verschreibung. Gerade weil die Liebe zu den Menschen
unplausibel ist, wird sie als Nächstenliebe geboten: Liebe den Menschen um
Gottes willen! Die Caritas liebt im anderen Menschen Gott. Das bedeutet aber,
daß Caritas sich nicht um die Eigenart des anderen sorgt, sondern um sein
Heil. Sie kann deshalb mit persönlicher Kälte einhergehen. Vom Eistempel
der Nichts-als-Gottes-Liebe hat der junge Georg Lukacs einmal gesprochen.
(Ebd., S. 109).Um die christliche Liebe stark zu machen, muß
man den Begriff des Nächsten von der Soziologie eines »alter ego«
genau so deutlich abheben wie von der Psychologie des Narzißmus - daß
ich der andere des anderen bin und mich selbst im anderen liebe. Aber gerade wenn
man die Erfahrung macht, daß Nächstenliebe im Normalfall des Alltags
Narzißmus ist, weil »Ich« und mein »Nächster«
derselbe andere sind, wird die Lektion des Christentums deutlich: Jede Liebe ohne
Gott ist narzißtisch. Das gilt auch noch für die humane Forderung,
den Nächsten zu lieben, weil man selbst nur zufällig nicht er ist. Vor
Christus dagegen sind alle gleich, weil alle gleichen Anteil an seiner Liebe haben.
Brüder sind sie durch die Liebe, die er für sie hat. Die Erwartung -
Überforderung? -, die mit dieser Gewißheit des Glaubens verknüpft
ist, hat Freud genau bestimmt: » Christ liebt Christus als sein Ideal und
fühlt sich den anderen Christen durch Identifizierung verbunden. Aber die
Kirche fordert von ihm mehr. Er soll überdies sich mit Christus identifizieren
und die anderen Christen lieben, wie Christus sie geliebt hat.« (Sigmund
Freud, Gesammelte Werke, Band XIII, S. 150f.). (Ebd., S. 110).Die
eleganteste Antwort auf die Frage, wie ein armer Sünder dieser Forderung
gerecht werden soll, findet sich bei Paulus. Seine große Leistung, die Umwertung
der antiken Werte, steckt im Agape-Begriff wie in einer Nußschale. Liebe
deinen Nächsten wie bzw. als dich selbst. Wie soll das psychologisch möglich
sein? Der Nächste ist doch zunächst einmal mein Rivale! Die Paulinische
Lösung ist genial: Ich liebe meinen Nächsten, den Fremden, nur »als
Mandatar des unbekannten Gottes.« (Karl Barth, Der Römerbrief,
S. 1922, 437). Und wie Karl Barth in aller Nüchternheit betont: »Eine
direkte allgemeine Nächsten- und Bruder- oder auch Fernsten-
und Negerliebe ist nicht gemeint.« (Ebd.). (Ebd., S. 110).Gerade
deshalb ist aber auch der Schritt von der Nächstenliebe zur Feindesliebe
kleiner, als es ein religiös Außenstehender vermuten muß. Im
Gegensatz zu menschlichen Gefühlen ist Agape nämlich nicht reziprok.
Gemeint ist Liebe als Haltung, die es ermöglicht, liebevoll zu Menschen zu
sein, die man nicht mag. Und wenn Freud gegen die christliche Liebesforderung
darauf hinweist, daß nicht alle Menschen liebenswert sind, so besteht die
Pointe des Begriffs Agape genau darin: den zu lieben, der nicht liebenswert ist;
Leute zu lieben, die man nicht mag. Und es ist gerade die Nichtreziprozität
der Agape, die aus dem Dilemma befreit, daß enttäuschte Liebe in Haß
umschlägt. Auch im Begriff der Liebe ist Paulus also eine perfekte dialektische
Umkehrung gelungen. Agape setzt am Gegenpol an. Und so lautet die christliche
Mission: Liebe deine Feinde -als künftige Brüder! (Ebd., S. 110).Der
Begriff der christlichen Liebe mit ihrem Gebot der Feindesliebe und der Begriff
des Politischen mit seiner Grundunterscheidung von Freund und Feind stehen sich
unversöhnlich gegenüber. Daran ändern auch Carl Schmitts raffinierte
Differenzierungsbemühungen nichts, die in die Unterscheidung von persönlichem
und öffentlichem Feind, also inimicus und hostis, die Möglichkeit
hineindeuten, die christliche Feindesliebe mit Realpolitik zu vereinbaren. Max
Weber war hier konsequenter und hat der christlichen Liebe ohne Distanz das Nietzschesche
Pathos der Distanz entgegengestellt. (Ebd., S. 111).Am Thema
der Feindesliebe kann man sich besonders gut vergegenwärtigen, wie schlüssig
die Theoriebemühungen von Nietzsche, Freud und Weber ineinander greifen.
So entwickelt der Soziologe Weber seinen Begriff der religiösen Rationalisierung
aus dem Ressentimentbegriff des Philosophen Nietzsche (»Geist der Rache«)
und dem Sublimationsbegriff des Psychologen Freud. Feindesliebe ist demnach jene
Sublimierung, die dem Feinde schrankenlos verzeiht, um ihn vor andern oder und
vor allem vor sich selbst beschämen und verachten zu können. Man kann
den Feind nur lieben und darauf verzichten, dem Übel mit Gewalt zu widerstehen,
wenn man sicher sein kann, daß Gott dereinst vergelten wird. Es gibt also
keine Kommunikation zwischen dem Gott der Liebe und dem Dämon der Politik.
Und genau das markiert die wundeste Stelle der Kultur. (Ebd., S. 111).
Seelennahrung
Papst Benedikt XVI. hat
im Blick auf »postmoderne« Theorien der modernen Welt von einer Diktatur
des Relativismus gesprochen. Und in der Tat heißt Moderne immer auch Relativismus,
Individualität, Differenz. Dagegen verheißt die Politik das Totale
(das ist das große Thema des Staatsrechtiers Carl Schmitt), die Ethik das
Universale (das ist das große Thema des Philosophen Jürgen Habermas)
und die Religion das Absolute (unser Thema). Durch den Zerfall der Institutionen
sind die Werte obdachlos geworden. Aber auch die konkrete, alltägliche Lebensführung
ist dadurch problematisch geworden. Man könnte sagen, die selbstverständliche
Hintergrundserfüllung durch Institutionen schwindet. (Ebd., S. 113).Am
Anfang war die Bindung. So heißt es noch beim »frühen«
Niklas Luhmann: »das Faktum konkret festlegender Selbstverstrickung in den
sozialen Prozeß ist die Natur des Menschen.« (Niklas Luhmann,
Institutionalisierung, in: Helmut Schelsky, Zur Thorie der Institution,
1970, S. 37). Traditionell lebten die Menschen mit wenigen Optionen in starken
Bindungen. Modern leben sie mit vielen Optionen in schwachen Bindungen. Wer aber
zu viele Optionen hat, braucht Navigatoren und Ligaturen. Man kann nämlich
nicht wählen, wenn man zu viele Möglichkeiten hat. Die anderen Möglichkeiten
verderben uns das Vergnügen. Kontingenz macht unglücklich. Das ist die
aktuelle Variante des Unbehagens in der Kultur: Die moderne Explosion der Erwartungen
und Optionen stürzt uns in Depressionen. (Ebd., S. 113).Wenn
man Alternativen hat, braucht man Werte, die regeln, welcher der Vorzug zu geben
ist. Doch woher nehmen? Die Ratlosigkeit ist besonders groß bei denjenigen,
die ihr Identitätsmanagement modernitätskonformistisch an den Standards
der wissenschaftlich entzauberten Welt orientieren. Ihnen hat der große
Reaktionär Nicolás Gómez Dávila einen »Analphabetismus
der Seele« vorgeworfen. (Nicolás Gómez Dávila, Es
genügt, daß die Schönheit unseren Überdruß streift,
S. 89). Und in der Tat produziert die moderne Welt nicht nur ökonomische
sondern auch seelische Globalisierungsverlierer, in denen sich eine konturlose
Gottesnostalgie regt; sie sind die eigentlichen Subjekte der neuen Religiosität.
(Ebd., S. 113).Gerade die Ungläubigen haben Religion als Glauben
an eine transzendente Realität nötig. Gerade ihnen kann man konfektionierte
Transzendenz verkaufen. Der Gläubige sieht deshalb die Kirche in der Gefahr,
als seelenvolles Komplement der entzauberten Welt in den Gefühlshaushalt
des modernen Großstädters eingerechnet zu werden: Katholizismus als
Kompensation des Kapitalismus, Christentum als Konsumartikel, die Kirche als Fluchthelfer
aus der Langeweile des Unglaubens. Schon Oswald Spenglers
Definition der Religion als »erlebter Metaphysik« ratifiziert eine
radikale Subjektivierung des Glaubens. (Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang
des Abendlandes, 1918-1922, S. 821 [**]).
Wenn aber Religion zur Privatsache wird, ist alles Private religiös aufgeladen.
Und so kann man Individualisierung selbst als die heimliche Religion der modernen
Gesellschaft begreifen. (Ebd., S. 114).Aber die absoluten
Iche brauchen Bindung: religio. Das wird sofort erkennbar, wenn wir von der alten
zur neuen Weltsprache wechseln. Religio heißt heute Commitment. Es geht
um ein funktionales Äquivalent für den Gottesglauben, wobei Gott durch
eine Selbstversorgung mit Werten ersetzt wird. Der Glaube ist ja die traditionelle
Sprache der Werte, und Werte seligieren, wie wir mit unserer knappen Lebenszeit
umgehen. Ökonomisch betrachtet, impliziert Commitment eine Wahl gegen den
Strich der eigenen Vorlieben und Interessen. Es fällt also das, was man wählt,
nicht mit dem zusammen, was die eigene Wohlfahrt steigert. Commitment ist aber
auch nicht Sympathie. Denn Sympathie wäre Leiden am Leiden anderer, während
Commitment ein Selbstopfer impliziert. Und dadurch werden Werte wertvoll. Commitment
ist die Entscheidung für eine Bindung. Dieser Lieblingsbegriff des Amerikanismus
bezeichnet eine selektive Selbstfestlegung, eine freiwillige Wertbindung.
(Ebd., S. 114).Die Welt hat eine Bedeutung und der Mensch eine
Berufung; es gibt menschliche Größe, universale Standards und persönliche
Verantwortung - das sind die Elemente einer freiwilligen Wertbindung, die sich
gegenseitig stützen. Doch das gilt eben nur in dieser freiwilligen Bindung.
Michael Polanyi spricht hier von einer Ontologie der Selbstverpflichtung. Gemeint
ist eine Welt von Dingen, die nur für diejenigen existieren, die sich ihnen
verpflichten. Wissenschaftlich, also von außen betrachtet bleibt dagegen
vom Gesetz nur das Gesetzte, von der Sittlichkeit nur die Konvention, von der
Tradition nur die Trägheit und von Gott nur ein psychologisches Bedürfnis
übrig. (Ebd., S. 114).Als Regis Debray einen der bekanntesten
Sätze von Karl Marx vom Kopf auf die Füße stellte und Religion
nicht als Opium fürs Volk, sondern als Vitamin für die Schwachen definierte,
zielte er auf ihre lebenspraktische Prägekraft. Nur Religion motiviert wirklich.
Und was man versteht, motiviert nicht mehr. Religion als Praxis bezieht sich deshalb
nicht auf das Dogma, sondern auf die Lebensführung. So könnte man Religion
als Einheit von Weltbild und Lebensführung, als System der Lebensregulierung
definieren. (Ebd., S. 114-115).Jede Lebensführung setzt
eine Führungsidee voraus. Und das markiert den polemischen Index dieses Begriffs
- nämlich gegen den des bloßen Lebensstandards. Max Weber hat daran
seine Forderung der Männlichkeit geknüpft: weder einen Ausweg aus der
Welt noch sein Selbst zu suchen. Das gibt seiner Stilisierung der bürgerlichen
Lebensführung durch die Begriffe Beruf und Pflicht ihr unnachahmliches Pathos.
Für Weber war ja das Suchen nach Lebenssinn selbst der Grund für das
Nichtfinden - so hat es später dann auch der Therapeut Paul Watzlawick gesehen.
(Ebd., S. 115).Solange man weiß, was man zu tun hat, sucht
man nicht nach dem Sinn. Das gilt auch innerreligiös. Doch die Lösungsstrategie
der Religion ist eine andere; sie spaltet das Problem der Ungewißheit auf.
Die Kirche bietet hohe soziale Ungewißheit (Was soll ich tun?) bei geringer
symbolischer Ungewißheit (Was bedeutet das?) - und genau umgekehrt ist es
bei der Sekte. Man hat in der Religion also immer die Wahl zwischen sozialer und
symbolischer Unsicherheit. Der Kirchgänger könnte, wenn er reflektieren
wollte, sagen: Ich weiß, was es bedeutet; aber was folgt daraus? Und das
Sektenmitglied müßte, wenn es reflektieren könnte, sagen: Ich
weiß, was ich tun soll; aber worum geht es? (Ebd., S. 115).Der
monotheistische Gott, der sich an die Seelen wendet, hat den Außenhalt der
Religion zerstört - und braucht deshalb eine Kirche. Seither trennt die Kirche
die Religion vom Wahnsinn. Sagen wir genauer: die katholische Kirche. Sie hält
den Fanatismus nieder, indem sie das Amt des Priesters vom Charisma ablöst.
Der Religionsphilosoph Jacob Taubes ist sogar so weit gegangen, der Kirche einen
ironischen Effekt der Weltlockerung zuzuschreiben - nur der Glaube macht gelassen.
(Ebd., S. 115).Durch diese Funktionsbestimmung sieht sich die christliche
Kirche aber in ein Netz von Antithesen verstrickt. Sie steht theologisch gegen
jede Form von Gnosis und gegen den Legalismus des Judenturns. Sie steht »erkenntnistheoretisch«
gegen die Philosophie für die Wenigen, denen Karl Jaspers das Adelsprädikat
der »bewußt Ungeborgenen« verliehen hat, und den Aberglauben
für die Vielen, der in der Wahl einer Eigenformel besteht. (Vgl. das Kapitel
über Boutique-Religion [**];
vgl. Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, 1930, S. 133). Sie
steht soziologisch gegen den Einzelnen und die Masse. Aber vor allem auch: gegen
die Sekte und deren strenge Zucht, Auslese, ja Bewährungseniehung. Alle Sekten
eniehen durch eine Art ethisches Training; so entsteht eine Frömmigkeit,
die ihrerseits »Charakter« produziert. Deshalb finden wir die Charismatiker
und Glaubensvirtuosen typisch in der Sekte. Sie verhält sich zur Kirche wie
die Auslese zum Befehl. (Ebd., S. 115-116).Max Weber hat
einmal gesagt, die Sekte liege im »Kriege gegen die Theologie« (Max
Weber, Soziologie - Weltgeschichtliche Analysen - Politik, S. 396). Theologie
ist nämlich die Rationalisierung des Heilsbesitzes; sie geht vom Faktum der
Offenbarung aus: Es gibt Sinn. Und die Kirche versteht sich als Anstalt des Heils,
die die Gnadengaben monopolartig verwaltet. Das gibt dem Priester seine unvergleichliche
Stellung; er steht für das Heil von Amts wegen. Und gerade dem religiös
unmusikalischen Menschen verhilft das von der Kirche verwaltete Dogma zum Glauben.
Deshalb könnte man heute (heute!) sagen: Die Kirche ist das transzendentale
Obdach der religiös Unmusikalischen. Denn religiös unmusikalisch heißt
eben nicht irreligiös. Die Kirche überlebt gerade weil und wo die religiösen
Motive schwach sind. Starke religiöse Motive führen ja zur Sektenbildung.
Das stößt uns auf eine erstaunliche Paradoxie: Die Stärke der
Kirche liegt in der Schwäche der religiösen Motivation. (Ebd.,
S. 116).Wenn man sich nun fragt, wie die Kirche gegen die Gefahr
des Zerfalls in Sekten noch am Anspruch auf absolute Autorisierung festhalten
kann, bieten sich zwei Instanzen als Antwort an: das Buch der Bücher und
der Papst. Die christliche Kirche versteht sich als Subjekt der Bibel. Indem sie
kanonisiert und auf den Index setzt, verteilt sie souverän Thema und Anathema.
Die kanonische Exegese liest ja die Bibel als Ganzes, konstruien damit das Gedächtnis
der Kirche und konstituien Tradition als Aggregation des heiligen Wissens, das
über die Zeit verstreut ist. (Ebd., S. 116).Der zweite
Extremwert der Orientierung liegt in der Unfehlbarkeit des Papstes. Der Papst
verkörpert ja traditionell den Katholizismus durch persönliche Repräsentation
- das gibt es bei Juden, Moslems und Protestanten nicht. Und als Katechon steht
er gegen die Entchristlichung der Welt. Das ist heute nur noch zu verstehen, wenn
man sehr hoch abstrahiert. Wie schon Carl Schmitt gesehen hat, ist der Vatikan
in einem ganz radikalen Sinne die letzte Repräsentation. Das wird gerade
durch die neue Sichtbarkeit der Kirche qua Medienpräsenz deutlich. Im Medium
der Medienpräsenz kann der Papst tatsächlich aber nur noch die Idee
der Repräsentation repräsentieren. (Ebd., S. 116).Papst
Johannes Paul II. war die bekannteste und zugleich rätselhafteste Persönlichkeit
unserer Zeit. Seine souveräne, persönliche Herrschaft über die
katholische Kirche konnte man eigentlich nur noch mit der Weltherrschaft des amerikanischen
Präsidenten vergleichen. Früher war der Papst ein »priesterlicher
Cäsar« (Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, 1900,
S. 158); heute ist er ein medialer Weltstar. Johannes Paul II. hatte als erster
begriffen, daß sich das charisma seines Amtes heute auch der massenmedialen
Inszenierung verdankt. In der Okonomie der Aufmerksamkeit, die alle Lebensbereiche
beherrscht, braucht man Stars. Erfolg hat hier nur derjenige, der selbst Markencharakter
gewinnt. Und Karol Wojtyla, der einmal Schauspieler war, hat sich konsequent als
»personal brand« stilisiert. (Ebd., S. 116-117).Von
der Persönlichkeit mit Markencharakter erwartet das Publikum Exzellenz, Allgegenwart
und Intimität. Damit dienen natürlich alle berühmten Schauspieler
und Politiker. Doch der Papst des Medienzeitalters hat hier noch einen entscheidenden
spirituellen Mehrwert zu bieten: er suggeriert Intimität mit dem Heiligen.
Damit entspricht er dem tiefen Bedürfnis nach Außerlichkeit und Sichtbarkeit
des Religiösen. (Ebd., S. 117).Es war immer schon eine
grobe Vereinfachung, den Unterschied von Katholizismus und Protestantismus mit
dem Schema sichtbare / unsichtbare Kirche zu modellieren. Aber es ist sicher eines
der Erfolgsgeheimnisse der neuen mediengerechten Päpste, konsequent auf Gefühl,
Geste, Symbol und Mythos zu setzen. Wie Johannes Paul II. die Erde des jeweiligen
Gastgeberlandes küßte, war von großer ikonischer Prägnanz.
Der weltreisende Weltkommunikator nutzte die Massenmedien souverän als Werkzeuge
der Evangelisierung. (Ebd., S. 117).Es handelt sich hier
um ein einzigartiges Zusammenspiel von persönlicher Repräsentation,
Realpräsenz und Medienpräsenz. Der Papst repräsentiert als Person
den Katholizismus, als Weltreisender wird er für viele Millionen wirkliche
Gegenwart, und seine Medienpräsenz sichert ihm eine imaginäre Allgegenwart.
Carl Schmitt hat schon in den 1920er Jahren mit einigem Recht darauf hingewiesen,
daß sich im unbildlichen Betrieb der von sachlich-technischer Zweckmäßigkeit
beherrschten modernen Welt nur noch die katholische Kirche die Kraft der Repräsentation
zutraut. Der Papst repräsentiert insofern nicht nur den Katholizismus, sondern
die Repräsentation selbst. (Ebd., S. 117).Die Realpräsenz
des weltreisenden Weltkommunikators macht heute zweierlei deutlich: Propaganda
fide ist der Ursprung der Werbung, und der Pilger ist der Ur-Tourist. Es wäre
deshalb nahe liegend, die strategische Ausrichtung des Pontifikats einmal unter
Marketinggesichtspunkten zu analysieren. Die Repräsentation der Repräsentation
und der religiöse Tourismus sind gewissermaßen der Inhalt der päpstlichen
Werbebotschaft. Die zentrale Botschaft der Medienpräsenz des Papstes ist
die Sichtbarkeit der Kirche. (Ebd., S. 117).Es ist nicht
besonders originell, an zahlreichen Beispielen zu belegen, wie weit sich der Papst
vom Zeitgeist entfernt hat. Das gilt gerade auch für den Zeitgeist des Christentums
selbst - man erinnere sich nur an den Streit mit Hans Küng, dem ebenfalls
sehr medienwirksamen Exponenten der »Theological Correctness« (Zur
»Theologischen Korrektheit« vgl. auch: »Politische Korrektheit«
(**|**|**|**|**|**|**|**|**).
Die Betrachtungen, die Johannes Paul II. über das moderne Leben, insbesondere
dessen Sexualmoral anstellte, waren natürlich völlig unzeitgemäß.
Doch gerade radikal gegen den Strich des Zeitgeistes zu sprechen, ist ein probates
Mittel im Kampf um die knappe Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Der
Papst setzte den Anachronismus selbstbewußt als Technik der Aufmerksamkeitsallokation
ein. Man könnte auch sagen: er verkörperte die Vorteile mangelnder Lernbereitschaft.
(Ebd., S. 118).Biblisch ist diese Haltung vorgeprägt in der
Figur des Katechon, des Aufhalters. Die Physiognomie des Leidens, die den von
Attentat und Selbstüberforderung gezeichneten Papst so eindringlich charakterisierte,
paßt präzise zu dieser Selbststilisierung als Katechont gegen die Entchristlichung
der Welt. Und damit sind wir wohl dem Rätsel seiner Faszinationskraft auf
der Spur: Seine Positionen waren oft unzeitgemäß, aber mit allen Wassern
der neuen Medienwelt gewaschen. Mehr denn je lautet das Zauberwort der katholischen
Kirche »complexio oppositorum« (**),
das Bündnis der Gegensätze. So praktizierte der Papst etwa gegenüber
dem Islam, den Juden und der orthodoxen Kirche eine fortschrittliche Außenpolitik
- um doch zugleich mit »heiliger Starrsinnigkeit« an einer fundamentalistischen
Innenpolitik festzuhalten. Das Rätsel der Faszinationskraft des Papstes liegt
in der Einheit von Modernität und Antimodernität. (Ebd., S. 118).
Diese
Charakterisierung der katholischen Kirche hat Carl Schmitt (vgl. ders., Römischer
Katholizismus und politische Form, 1923, S. 11), ins Zentrum seiner Interpretation
gestellt. Sie geht aber wohl auf Adolf von Harnack (vgl. ders., Das Wesen des
Christentums, 1900, S. 162) zurück. (Ebd.). |
Doch
was ist daran verlockend? Für den aufgeklärten, modernen Menschen ist
am Papsttum nichts provozierender als der Anspruch der Unfehlbarkeit. Die Wissenschaftskultur
der westlichen Welt orientiert sich ja gerade umgekehrt an der prinzipiellen Fehlbarkeit
jeder Argumentation. Was nicht prinzipiell falsifizierbar ist, macht sich eben
dadurch verdächtig. Der unfehlbare Papst ist der permanente Skandal der modernen
Welt. Aber gerade deshalb ist er attraktiv für alle, die die Folgelasten
der Modernisierung auf ihren Schultern und Seelen spüren. In seiner Unfehlbarkeit
kehrt die unbedingte Autorität des Vaters wieder und verspricht Orientierung
in einer unübersichtlichen Gesellschaft. (Ebd., S. 118).Auch
als Sinnstifter und Orientierungshelfer folgt der Papst der katholischen Grundfigur
der complexio oppositorum: Er bedient das wachsende Bedürfnis nach
einer neuen Spiritualität und forciert zugleich die Entsublimierung der geistlichen
Kommunikation zum Kult. Johannes Paul lI. wußte, daß sich der Glaube
des Volkes von Formen ernährt, und deshalb ließ er das Kultmarketing
des Katholizismus in einem Maße gewähren, das bei Protestanten den
Verdacht weckte, hier ersetze Ritualisierung die Religion. (Ebd., S. 118-119).So
präsentiert sich die katholische Kirche heute als selbstbewußter Anachronismus,
der die Aufmerksamkeit fasziniert. Um das Geheimnis ihrer jüngsten Erfolge
zu lüften, ist es hilfreich, sich an den Dichter Rimbaud zu erinnern, der
den Avantgardismuszwang der Neuzeit auf die Formel gebracht hat, man müsse
absolut modern sein. Nicolás Gómez Dávila hat daraus die
Waffe zum Gegenschlag geschmiedet: Nur die katholische Kirche nimmt uns »die
Angst, nicht modern zu erscheinen« (Nicolás Gómez Dávila,
Scholien, S. 540). Katholisch ist die Tiefe der Institutionen statt der
Selbstreflexion einsamer Seelen. Das Absolute liegt in den Ordnungen. Und den
Sinn des Lebens findet man im Geist der Institutionen, von denen man sich konsumieren
läßt - in der objektiven Religion. (Ebd., S. 119).Das
Wort Religion kommt entweder, wie Laktanz meint, von »religare«, was
die Bindung der Seele an Gott bezeichnet, oder, wie Cicero meint, von »relegere«,
was die gewissenhafte Beobachtung der Riten bezeichnet. Dieser zweiten Lesart
müssen wir uns nun zuwenden, denn die neue Religiosität der Weltgesellschaft
erwächst nicht nur aus der Sehnsucht nach Gemeinschaft, sondern auch aus
dem Hunger nach Ritualen. (Ebd., S. 119).Jedes Ritual kompensiert
Kontingenz; es macht erträglich, daß alles, was ist, auch anders sein
könnte. Religion kennt den Zufall nicht. Das Ritual ist die symbolische Transformation
von Erfahrung. Das heißt aber auch, daß Rituale Gefühlsmuster
anbieten, in denen man die eigenen Gefühle ausdrücken kann und die uns
helfen, die Bürde der Freiheit zu tragen. Diese Gefühlsmuster bieten
Weltorientierung. Denn man findet Patterns und Stereotype ja deshalb gut, weil
sie die unerträgliche Vielfalt der Welt erträglich machen. Die Menschen
können ertragen, daß sehr vieles möglich ist, wenn man sie zugleich
vor der Erfahrung schützt, alles sei auch anders möglich, also zufällig.
Und das ist eben die Funktion des Rituals. (Ebd., S. 119).Das
Ritual ist ein beschränkter, Alternativen reduzierender Code im Sinne von
Mary Douglas - es vollzieht die Einschränkung des Möglichen. Seine Ursprungssphäre
ist natürlich das Religiöse, und Soziologen haben im Ritual denn auch
den symbiotischen Mechanismus der Religion, also die Regulierung der Körperlichkeit
des Gläubigen erkannt. Wenn Glaubensreligionen wie das Christentum sich entritualisieren,
entziehen sie also den Gläubigen die Sicherheitsgrundlage. »Das Verbot
des klassischen römischen Ritus nach der Liturgiereform Pauls VI. war für
viele Menschen eine spirituelle Katastrophe«, meint Robert Spaemann sogar.
(Vgl. Robert Spaemann, Das unsterbliche Gerücht, 2007, S. 115).
(Ebd., S. 119-120).Von außen betrachtet, erscheinen religiöse
Kulte, Zeremonien und Rituale als sperrig, spröde und unmodern. Doch gerade
das ist ihr Reiz. Das läßt sich mit dem Handicap-Prinzip ... sehr gut
erklären. Das Ritual ist ein teures Signal. Und das unnütze Teure kommuniziert
in eindeutiger Weise den Wert einer Religion. Das Ritual ist das Handicap, das
der Religion Glaubwürdigkeit und Aufmerksamkeit sichert; es ist gerade nicht
eingängig und verständlich, sondern im Gegenteil meist schwer zu befolgen
und oft geradezu absurd. Das zur Schau getragene Handicap signalisiert: Ich kann
mir das leisten - z.B. anachronistisch zu sein. So, also von außen betrachtet,
erscheint die lateinische Liturgie heute als das Pfauenrad des Katholizismus.
(Ebd., S. 120).Von innen betrachtet, bietet das Ritual eine kollektive
Darstellung der Transzendenzerfahrung - genau da, wo Worte versagen. Man könnte
deshalb auch definieren: Riten sind die Praxis der Mystik. Das Mystische ist ja
nach Wittgensteins schöner Formulierung das Unsagbare, das sich nur zeigt.
Und genau so gibt es für das, was ein Ritual sagt, kein Äquivalent in
der Umgangssprache. Das bedeutet aber auch: Nur im Ritual kann man sich dem zuwenden,
was unendlich wertvoll ist. (Ebd., S. 120).Diese an Religion
abgelesenen Bestimmungen lassen sich mühelos säkularisieren. Das Ritual
synchronisiert Stimmungen - es ist das »Organ überindividueller Gestaltung«
(Adolf Portmann, Das Tier als soziales Wesen, 1953, S. 335). Wer also wissen
will, was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält, muß ihre Kulte
und Rituale beobachten. Der autonome Ritus funktioniert als soziales Band. An
den Restbeständen von Manieren und Höflichkeit kann man noch heute beobachten,
wie das Zeremonielle das Soziale stimuliert. Doch Kult, Ritual und Zeremonie sind
nicht nur das Vollzugsmedium sprachunbedürftiger Kommunikation, sondern auch
das Sicherungsmedium, in dem die Gesellschaft das Kommunikationsrisiko kontrolliert.
Gemeint ist das Risiko, daß Kommunikationsofferten abgelehnt, Aussagen negiert
werden, Redeflüsse versiegen. (Ebd., S. 120).Wie geht's?
Wie war's im Urlaub? Das Wetter! Rituale sind prinzipiell eingeschränkte
Verständigung. Beste Grüße an die verehrte Gattin! Da kann man
nicht nichts sagen. Und umgekehrt ist »Mein herzliches Beileid« bei
aller Steifueit das Beste, was man einem Hinterbliebenen sagen kann - jede Eigendichtung
persönlicher Betroffenheit wäre nur indiskret und peinlich. So hat Hermann
Lübbe genau in diesem Zusammenhang auf einen kuriosen Effekt des Zerfalls
alltäglicher Rituale hingewiesen: Seit Formeln wie »Der Herr hat's
gewollt« und dergleichen am Grabesrand durch »persönliche«
Worte abgelöst werden, ist die Sache für viele zu Tröstende so
peinlich geworden, daß sie schon in der Traueranzeige darum bitten, von
sämtlichen Beileidsbekundungen am Grab Abstand zu nehmen. (Ebd., S.
120-121).Auch das also leistet das Ritual: »Kommunikationsvermeidungskommunikation«
(Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 235). Es versorgt
uns nicht nur mit dem transzendenzverbürgend Unsagbaren, sondern auch mit
dem überlebenswichtig Nichtssagenden. Rituale operieren aber vor allem auch
sprachlos, nämlich mit Rhythmus und Stereotyp; sie appellieren an den Körper
und prozessieren Sinn über Wahrnehmung. Jedes Ritual unterbindet Reflexion
und macht dadurch immun gegen Enttäuschungen. Das zeigt sich besonders deutlich
daran, daß umgekehrt jeder Akt der Entritualisierung unmittelbar Ungewißheit
erzeugt. Im rituellen Vollzug dagegen gibt es keine Chance für Negation -
und damit für Reflexion. Das Ritual erspart uns die irritierende Mitteilung
in der Kommunikation; an die Stelle von Verständigung tritt die Richtigkeit
des Vollzugs. (Ebd., S. 121).All diese Leistungen werden
vor allem in Phasen des Übergangs attraktiv, in denen große Gefahren
lauern - wie eben heute in der Phase der Globalisierung. Rituale gestalten Betroffenheiten,
die uns hilflos und ohnmächtig machen. Darauf zielt auch Odo Marquards Definition:
»Religion ist Routine für das Außerordentliche« (Odo Marquard,
in: Willi Oelmüller, Wiederker von Religion?, 1984, S. 192). Riten
ermöglichen uns nämlich die Anpassung an emotionale Problemlagen, d.h.
sie geben dem Problem eine Ausdrucksform und sorgen so für das »Überleben
der Spannung in Formen« (Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung,
Band I, 1970, S. 13). Es geht also nicht darum, Widersprüche aufzuheben,
sondern sie zu stabilisieren. Dann kann man auch mit dem Unverständlichen
einverstanden sein. (Ebd., S. 121).Die Vertrautheit des Rituals
macht das Unerklärliche erträglich. Diese Konstruktion des Erträglichen
nennen wir Normalität. Deshalb charakterisiert Niklas Luhmann das Ritual
als Konsensschaltung, denn seine Leistung besteht darin, das Bestehende nicht
zu verändern, sondern zu sichern. Ganz ähnlich hat schon der Anthropologe
Arnold Gehlen es als die wesentliche Leistung des Ritus bezeichnet, in Wahrnehmung,
Bewußtsein und Verhalten der Menschen Stabilisationskerne zu legen.
(Ebd., S. 121).Ein Ritual ist eine zum Selbstverhältnis stilisierte
Handlung. Entscheidend ist also, daß die Form des rituellen Verhaltens mit
ihrem Inhalt identisch ist. Man könnte sagen, Riten funktionieren als eine
Art religiöser Formalismus. Das ist für unseren Zusammenhang von allergrößter
Wichtigkeit. Denn aus dem Gesagten wird schon klar geworden sein, daß es
auch »Riten ohne Gott« gibt, ja daß Götter aus Riten geboren
werden. Der Soziologe Emile Durkheim hat das in seinem Werk über die elementaren
Formen des religiösen Lebens klar herausgearbeitet. Sein Fazit: Religion
ist weit mehr als die Idee eines Gottes oder heiligen Geistes. (Ebd., S.
121-122).Deshalb haben auch gottunfähige Zeiten wie die unsere
eine Religion - man darf sie nur nicht ausschließlich in den offiziellen
Kirchen suchen. Man glaubt zwar nicht an einen Gott, aber man schätzt die
verhaltenssichernde Kraft der Rituale - etwa bei der Taufe, bei der Beerdigung
und an Weihnachten. Oder man beschwört »christliche Werte«, wenn
man politisch nicht mehr weiter weiß (vgl. hierzu das Kapitel über
Zivilreligion [**]).
(Ebd., S. 122).Rituale entstehen aus dem Schiffbruch der Unmittelbarkeit.
Es ist nämlich tödlich für den Menschen, sich für ein natürliches
Wesen zu halten; er paßt nicht in die Welt. Und Riten kompensieren nun genau
diesen Mangel an Umwelteingepaßtheit. Jedes Ritual produziert rein als Form
Vertrautheit und Bedeutsamkeit. Heute lehrt es uns den Wert der Redundanz, also
des Gegenteils von Information (Muster, Stereotypen, Schemata). Wir beginnen,
das Kultische als Pfeiler im Datenstrom zu schätzen. Die rituellen, kultischen
Elemente der Gegenwartskultur haben also vor allem eine Kompensationsfunktion.
Zunächst einmal kompensien die Ritualisierung die globale Mobilmachung, die
Beschleunigung der Modernisierungsprozesse. Ganz selbstverständlich etablien
sich heute ein Langsamkeitskult, der das Nichtmitgekommensein als Kulturleistung
verklän, neben dem spezifisch modernen Geschwindigkeitskult. Und in der Tat
leisten extreme Geschwindigkeit und extreme Langsamkeit kulturell dasselbe: sie
machen das Alltägliche reizvoll. (Ebd., S. 122).Und
damit sind wir schon bei den therapeutischen, sozialhygienischen Effekten von
Kult und Ritual. Der Vorrang des Rituellen ermöglicht den Placebo-Effekt,
den man nicht gering schätzen sollte, wenn man nichts anderes hat. Hausmüll
trennen, Wasser sparen, auf Plastiktüten verzichten, das Hotelhandtuch mehrfach
benutzen man tut etwas für die Umwelt. Das hilft vielleicht nicht der Natur,
aber der Seele. Und wem es nicht genügt, die eigene Seele durch gute Umwelttaten
zu retten, sondern sich auch noch »selbstverwirklichen« will, dem
werden heute konfektioniene Eigenformeln angeboten, die an den von Freud beschriebenen
Individualmythos des Neurotikers erinnern. (Ebd., S. 122).Der
Pseudoindividualist der Posthistorie sehnt sich nach dem persönlichen Ritus
- eine wunderschöne Paradoxie, die heute von Ritus-Beratern entfaltet wird;
das erspart die Psychotherapie. Marketingexperten nennen dieses Angebot Emotional
Design; es ist das Kommunikationsdesign des Rituellen. Jedem Gläubigen muß
das wie eine satanische Parodie auf die Präfiguration des richtigen Lebens
im Kult, auf die sakramentale Steuerung des Menschen durch die Kirche erscheinen.
(Ebd., S. 122-123).
Vom Umgang mit der Hilflosigkeit
Es gibt Ideen,
die so großartig sind, daß der Wissenschaftsbetrieb mit ihnen nur
fertig werden kann, indem er ihren Autor für verrückt erklärt.
Der Psychologe Julian Jaynes hatte eine solche Idee, und es ist nur einer Intervention
des weltweit anerkannten Philosophen Daniel Dennett zu verdanken, daß sie
heute wieder ohne Obskuritätsverdacht diskutiert werden kann. Der Titel des
Buches von Jaynes artikuliert die Idee sehr präzise: The Origin of Consciousness
in the Breakdown of the Bicameral Mind - Der Ursprung des Bewußtseins aus
dem Zusammenbruch des Zweikammerngeistes. Dennett nennt diesen Forschungsansatz
Software-Archäologie, weil hinter der Schlüsselidee von Jaynes letztlich
die Überzeugung steht, daß sich die Hardware des menschlichen Gehirns
in den letzten Jahrtausenden nicht wesentlich geändert hat, daß aber
historisch-technische Prozesse die Entwicklung einer Software des Geistes provoziert
haben, die dann eine Kettenreaktion ausgelöst hat, an deren Ende Bewußtsein
entstand. (Ebd., S. 125).Es geht also um ein Modell des Geistes
und nicht um eine Theorie des Gehirns. » The Bicameral Mind« ist der
Begriff für den Geist des Menschen vor der Entstehung des Bewußtseins.
Der Geist des archaischen Menschen war buchstäblich schizophren, zweigeteilt.
Es gab einen befehlenden Teil, nämlich die Stimmen der Götter, und einen
gehorchenden Teil, nämlich den Menschen. Und Religion ist für Julian
Jaynes der nostalgische Schmerz über den Verlust dieses Zweikammerngeistes.
(Ebd., S. 125).So wie die Ilias eine Welt bezeugt, in der ein geistiges
Zweikammernsystem stabile Identitäten ermöglichte, die dem Befehl von
Göttern folgten, so erzählt das Alte Testament die Geschichte vom Verlust
des Zweikammerngeistes, d.h. des allmählichen Verstummens der göttlichen
Stimmen. Das Neue Testament ist dann neu gerade darin, daß es eine Religion
für den bewußten Menschen ist. Das Gesetz des Moses sprach noch von
außen; das Gewissen des Sünders spricht von innen. Seither wächst
die Sehnsucht nach den verlorenen Autoritäten, nach dem göttlichen Befehl
- die Sehnsucht nach dem Absoluten. (Ebd., S. 125).Sobald
Bewußtsein entsteht, verstummen die Götter, und die Sehnsucht nach
einer archaischen Autorisierung des Lebens muß sich an heilige Schriften
halten. Der Absolutheitshunger strebt nach einer Beziehung zum verlorenen Anderen
des göttlichen Befehls und damit nach der Lebenssicherheit dessen, der gehorchen
darf. Das klingt in modernen Ohren natürlich sehr dissonant, weil die Aufklärung
Befehl und Gehorsam, Autorität und Hierarchie als die eigentlichen Feinde
des emanzipierten Seins identifiziert hat. Man braucht schon den Mut der radikal
unzeitgernäßen Betrachtung, um dieses Problem des Absolutheitshungers
zu durchdringen. (Ebd., S. 126).Nun gab es ja einen, der
selbst göttliche Befehle geben wollte. Für Nietzsche war der Befehl
die Idealform der Kommunikation. Und was den Willen zur Macht von bloßen
Wünschen und dem Begehren unterscheidet, ist exakt diese Dimension des Kommandos.
Deshalb gravitieren Nietzsches Schriften zur Form des Spruchs, der auswendig gelernt
werden will; er vereint die autoritative und die befehlende Rede. Was Nietzsches
Stil damit produziert, ist »das gehorchende Ohr« (Friedrich Nietzsche,
Sämtliche Werke, Band IV, S. 405). (Ebd., S. 126).Der
Leser als Gefolgsmann - das war später dann auch das Ideal von Martin Heidegger,
Theodor W. Adorno und Jacques Derrida. Und nur allzu gerne haben sich ihre Leser
den Jargon angeeignet, die »Sprüche« nachgeplappert. Was Nietzsche
so wohltuend von seinen Epigonen unterscheidet, ist, daß er den gehorsamen
Leser ausdrücklich gefordert hat, ohne ihm ein Mäntelchen der Aufklärung
oder des Selbstdenkens umzuhängen. (Ebd., S. 126).
Der Stil von Befehl und Gehorsam läßt sich unter den
Medienbedingungen der Zeit Nietzsches nur entwickeln, wenn es gelingt,
Mündlichkeit in Schrift hineinzuretten. Zurück zur Mündlichkeit
- diese Parole bestimmt den großen Stil als Jenseits der Schrift,
in dem der Redner als Held vergöttert wird. Sokrates, Jesus und Zarathustra
haben nicht geschrieben. Und wenn man wie Nietzsche unter Bedingungen
der Modernität eben doch schreiben muß, um gehört zu werden,
muß man schreibend reden. So entstehen Bücher als ob nicht.
Der Text soll wie eine Partitur gelesen werden und hinter allem die tönende
Stimme zu hören sein. Damit haben wir den absoluten Gegenpol des
deliberativen Diskurses erreicht: die akustische Halluzination. In dieser
Form haben sich im antiken Griechenland - folgt man Nietzsche, aber eben
auch Julian Jaynes - Götter bekundet. (Ebd., S. 126).
Der Befehl eines Gottes befriedigt
unser Bedürfnis nach Unterordnung. Alle Religion lebt von dieser archaischen
Erbschaft des Gehorchens. Wir suchen nach dem »Du sollst«, das uns
Abhängigkeit und Freiheit zugleich schenkt. Denn erst der Befehl »Gehorche!«
ermöglicht ja Freiheit als Möglichkeit zum Ungehorsam. Und auch die
Abhängigkeit ist ein Geschenk, denn sofern jede Autorität die Hinnahme
fremder Entscheidungen impliziert, entlastet sie auch von Entscheidung. Hierarchie
entlastet, weil sie klärt, worauf man reagieren muß, und uns die Leistungskonkurrenz
mit dem Überlegenen erspart. Der, dem man dient, schützt. (Ebd.,
S. 126-127).Julian Jaynes' Software-Archäologie des Geistes
harmoniert nun sehr gut mit den Befunden der Psychoanalyse, vor allem aber mit
dem Begriff der Prämaturation. Der Mensch wird zu früh geboren, und
daraus folgt fast alles. Man könnte von einer Geburt der Institution aus
der Prämaturation sprechen. Der Mensch ist die normale Frühgeburt, instinktverlassen
und hilflos wie kein anderes Wesen und deshalb dauerschutzbedürftig. Und
wenn Thomas Hobbes den Staat aus dem wechselseitigen Versprechen von Schutz und
Gehorsam entstehen ließ, so hat er damit nur die fundamentalen Existenzialien
des Menschseins ins Politische übertragen: Ich bin bereit zu gehorchen, wenn,
nein: weil du mich schützt. So prägt die infantile Abhängigkeit
von der Liebe der Mutter den Kernbestand der Religion: das aus der Sorge geboreneVertrauen.
(Ebd., S. 127).Bei Freud findet sich die ganz einfache Bestimmung,
Religion entstehe aus dem »Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit
erträglich zu machen« (Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Band
XIV, S. 340). Sie übersetzt die infantile Hilflosigkeit in schlechthinige
Abhängigkeit, indem der schützende Vater die sorgende Murter verdrängt.
Das ursprüngliche Gefühl des rertungslosen Preisgegebenseins macht also
einen charakteristischen Gestaltwandel durch: von der infantilen Hilflosigkeit
über die Vatersehnsucht zum Gottesglauben. Sein heißt nun abhängig
sein von Gott. Der protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher hat hierfür
den prägnantesten Begriff gefunden: »schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl«
(Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen
der evangelischen Kirche, 1821, Einleitung, § 4). (Ebd., S. 127).
**
In
der Religion sucht der Mensch den »Grund seiner Unselbständigkeit«,
heißt es bei Hegel (vgl. ders., Werke, Band XVI, S. 308). Auch René
Girard (vgl. ders., Das Heilige und die Gewalt, 1992, S. 317) spricht ...
von einer »radikalen Abhängigkeit der Menschheit vom Religiösen«.
(Ebd.). |
Schlechthinig
heißt die Abhängigkeit von einer absoluten Macht. Und wenn wir auf
die Ursituation der infantilen Hilflosigkeit und seine phylogenetischen Entsprechungen
zurückblicken, können wir sagen: Die Menschen erfinden Absolutismen,
um den ursprünglichen Absolutismus der Wirklichkeit zu depotenzieren. Der
Philosoph Hans Blumenberg, dessen gesamtes Werk um diesen Komplex kreist, spricht
vom »typischen Prozeß der theologischen Inkubation der begrifflichen
Elemente der Selbsterfassung der Subjektivität« (Hans Blumenberg, Wirklichkeiten,
in denen wir leben, 1981, S. 69). Die Geschichte des Selbst ist die seiner
Selbstbehauptung gegen das Absolute. (Ebd., S. 127).Doch
die Kampflinie verläuft quer durch die Subjektivität selbst: »das
Gefühl des eigenen Selbst und das Abhängigkeitsgefühl« (Immanuel
Hermann Fichte, Psychologie, 1864-1873, S. 727) liegen miteinander im ewigen
Streit. Der Kampf zwischen dem Selbst und dem Absoluten wird gleichsam ins Selbst
hineinkopiert - als Widerstreit zwischen Stolz, dem antiken Thymos, und christlicher
Demut. Das Christentum versteht sich deshalb als Sieg über den Stolz. Und
genau das definiert nach Nietzsche »die christliche Würde: über
den Stolz im Memchen Herr geworden zu sein.« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche
Werke, Band XII, S. 296). (Ebd., S. 127-128).Von Soziologen
wird man heute belehrt: Der Wirtschaft, dem Recht, der Schule und der Medizin
kann sich niemand entziehen. Aber man muß nicht verreisen; man muß
sich nicht für Politik oder Kunst interessieren. Und man muß nicht
glauben. Das ist zuzugestehen. Doch Niklas Luhmann übertreibt die Bedeutung
des unbestreitbaren Faktums, daß es Menschen gibt, die ohne Religion leben
und sterben können. Damit will er jede anthropologische Fundierung der Religion
zurückweisen und sie rein soziologisch begründen. Wir können ihm
hier nicht folgen; natürlich halten gerade auch die Sinn- und Trostbedürfnisse
des Menschen die Religion am Leben. (Ebd., S. 128).Nie wird
sich etwa daran ändern, daß das Leben schwer zu ertragen ist wegen
der Übermacht der Natur, der Verbote der Kultur, der Bosheit der Anderen
und der kreatürlichen Hinfälligkeit. Endlichkeit muß man lernen.
Die moderne Gesellschaft kann hier dem Einzelnen fast nichts bieten. Seine fundamentale
Trostbedürftigkeit resultiert aus zwei schlichten Einsichten: ich bin sterblich
und ich bin nur einer unter vielen. Die Cartesische Subjektivität, Kants
Kategorischer Imperativ und Heideggers Man machen deutlich, was die funktional
ausdifferenzierte Gesellschaft der Moderne für den einzelnen Menschen bedeutet:
Ich und die anderen sind nur jedermann. Erst versucht man die Menschen zu beftiedigen;
wenn das nicht geht: zu therapieren; und wenn das nicht geht: zu trösten.
Wenn man etwa medizinisch nicht weiter weiß, hilft nur beten. Der religiöse
Trost behebt dann natürlich nicht das Leiden, sondern das Leiden am Leiden.
(Vgl. dazu: Georg Simmel, Fragmente und Aufsätze, S. 17). (Ebd.,
S. 128).Was der Theologe Schleiermacher als schlechthinige Abhängigkeit
bezeichnet hat, nennen Philosophen Kontingenz. Irreligiöse Denker der Moderne
versuchen zwar, Kontingenz als Stimulans oder als Möglichkeit des Andersseinkönnens
zu positivieren, aber sehr viellebensnäher bleibt doch die Erfahrung der
Kontingenz als Fluch oder Trauma. Leben unter Bedingungen der Modernität
ist verlassen von der Evidenz, ausgesetzt in die Kontingenz. Und daran hat der
Philosoph Odo Marquard eine der einfachsten und schönsten Bestimmungen des
Gottesglaubens geknüpft: »Gott ist - für den Religiösen -
der, der noch da ist, wenn niemand mehr da ist.« (Odo Marquard, Skepsis
und Zustimmung, 1994, S. 121). (Ebd., S. 128).Die Komplexität
der modernen Welt erzwingt kontingente und deshalb riskante Selektionen. Dahinter
steht die Frage »Was ist wichtig?« und die Gewißheit »Morgen
ist es anders!« In der Lebenswelt wird die Kontingenz als Sinnproblem erlebt.
Nun setzt ja jede Theologie immer schon voraus, daß die Welt einen Sinn
hat - nichts anderes meint man mit dem Wort Heilsbesitz. Oder anders gesagt: Religion
verwaltet von alters her den »eigentlich anderen Sinn« des Lebens
gegen den schlichten Funktionssinn der Gesellschaft. Sie stiftet genau dort Sinn,
wo das soziale Leben von Zufall zu Zufall stürzt. Insofern ist die Religion
ganz streng auf jenen Sachverhalt bezogen, den man Kontingenz nennt: daß
nämlich alles, was ist, zufällig ist, wie es ist, und eben auch anders
möglich wäre. Und Religion vollzieht nun die rituelle Konstruktion von
Sinn im Überraschungsfeld der Welt. Sie kümmert sich um die Kontingenz,
die man nicht in Sinn verwandeln kann - man denke nur an den Tod und schwere Krankheit,
an die irrationalen Schicksalsschläge des Lebens. (Ebd., S. 128-129).Auf
diese einzige Notwendigkeit der modernen Welt, nämlich Kontingenz, kann man
sich nicht einstellen. Kontingenz heißt nämlich: immer kommt etwas
dazwischen. Es gibt das unverfügbar Vorgegebene, das man nur übernehmen
kann - zwischen Datum und Fatum. Und man kann Religion als die Praxis begreifen,
die die Kontingenz bewältigt. Dabei geht es nicht nur um das äußere
Unverfügbare, also das Andersseinkönnen der Welt, sondern auch um das
innere Unverfügbare, das unbewußte Begehren. Hermann Lübbe hat
dieses Konzept: Religion als Praxis der Kontingenzbewältigung und vernünftiger
Umgang mit dem Unverfügbaren, systematisch entfaltet. »Nichts als Religion
bleibt, sich zum Unverfügbaren in Beziehung zu setzen.« (Hermann Lübbe,
Religion nach der Aufklärung, 1986, S. 16). Und nur Religion ermöglicht
ein vernünftiges Verhältnis zur unverfügbaren Kontingenz.«
(Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 1986, S. 17).
(Ebd., S. 129).Diese Konzeption führt zu der jeden Irreligiösen
verblüffenden Konsequenz, daß in einer Welt, die außer Kontrolle
ist, gerade Frömmigkeit Handlungsfähigkeit garantiert. »Religion
macht hyperrealistisch«, d.h. sie ermöglicht ein realistisches Verhältnis
zu dem, was sich nicht ändern läßt, obwohl es auch anders möglich
gewesen wäre, und macht Mut, der zu sein, der man zufällig ist. (Vgl.
Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 1986, S. 193). Der
Fanatiker dagegen mobilisiert den Sinn gegen die Wirklichkeit. Und komplementär
dazu setzt der Zyniker die Wirklichkeit gegen den Sinn ins Recht. (Ebd.,
S. 129).Was sich nun schlechterdings nicht ändern läßt,
ist, daß wir sterben müssen. Nun haben offenbar sehr viele gelernt,
ohne Gott zu leben. Aber kann man ohne Gott sterben? Diese Frage scheint unsere
Gegenwart zu verfehlen. Denn das allgemein verbreitete ökonomische Denken,
das ja prinzipiell jede Zukunft diskontiert, interpretiert den Tod als Auflösung
des Lebenskontos mit dem Saldo Null. Wie das Geld soll auch der Tod keine Spuren
hinterlassen. Viele empfinden offenbar das eigene Fortleben in einer rituell verpflichtenden
Erinnerung schon als Zumutung für die Nachkommen. So konnte man bereits vor
zwanzig Jahren in der Zeitung lesen: »Immer mehr Bürger wollen im Tod
anonym bleiben.« (F.A.Z., 24.02.1988). Man will den eigenen Kindern die
Kosten und Mühen ersparen, die ihnen das Gedenken an die verstorbenen Eltern
auflastet - so, wie man sie sich selbst wohl gerne erspart hätte. (Ebd.,
S. 129-130).Wir müssen uns fragen: Wie konnte es dazu kommen?
Und: Was kann nun noch kommen? Der Soziologe Ferdinand Tönnies hat schon
vor hundert Jahren gezeigt, daß der Totenkult nicht nur der Inbegriff der
Sitte, sondern auch die Wurzel der Religion ist. In der Konstellation von Familie,
Religion und Totenkult liegt die Bedingung für die Bildung einer Geschlechterkette,
die dem Begriff des Volkes die Eigenart verleiht, auch die Toten mitzumeinen.
Irn eigentlichen Totenkult sind das Grabmal, der Ort und das Ritual des Gedenkens
untrennbar miteinander verknüpft. Man könnte sagen, das Gedenken fordert
ein Merkzeichen, das einen sakralen Raum markiert. (Ebd., S. 130).So
verschafft die Erinnerung an den Toten einen fundamentalen Identitätsgewinn:
Die Einheit des Ortes bewährt die Einheit der Familie. Das Grab ist deshalb
sowohl eine Art Altar als auch die Ursprungsstätte des Symbols. So heißt
es bei Johann Jakob Bachofen sehr klar: »An den Stein, der die Grabstätte
bezeichnet, knüpft sich der älteste Kult, an das Grabgebäude der
älteste Tempelbau, an den Grabschmuck der Ursprung der Kunst und der Ornamentik.
An dem Grabstein entstand der Begriff des Unbeweglichen, Unverrückbaren.«
(Johann Jakob Bachofen, Der Mythus vom Orient und Okzident, S. CXCVII).
(Ebd., S. 130).In der Neuzeit geht die Funktion des Grabes dann
weit über das Memento mori und die familiare Identitätsbestätigung
irn Gedenken hinaus; nun wird je eines Individuums gedacht. Die Bestattung soll
den einmaligen Wert eines menschlichen Seins behaupten. Der Name auf dem Stein
versiegelt einen Ort. Wesentlich für den eigentlichen Totenkult ist also
die enge Verknüpfung von Name, Ort und Gedenken. Sobald sich aber das Gedenken
vom Platz lossagt, verliert es die Kraft des Symbolischen, das eben an den Ort
gebunden ist. Der Friedhof wird zum Park umarrangiert, der Tod wird zum Ornament
stilisiert. Es liegt ganz in der Konsequenz dieser Entwicklung, daß die
Embleme des Todeskultes heute irn Design einer Hornepage des Internets aufgehen.
Diese Friedhöfe des 21. Jahrhunderts gewähren den Toten die Ewigkeit
der Information am Un-Ort des Cyberspace. (Ebd., S. 130).Doch
erinnern wir uns noch einmal an den traditionellen Friedhof und den konventionellen
Totenkult. Die Trauer um die Toten nimmt dem Kult alles bloß Ästhetische
und läßt, wie Ferdinand Tönnies sehr schön sagt, »das
Bedürfnis des Putzes verstummen« (Ferdinand Tönnies, Die Sitte,
1909, S. 49). Das ist eine sehr wichtige Beobachtung. Der Friedhof ist also der
Bezirk einer Symbolik, die sich der Ästhetik als einer Theorie des schönen
Scheins widersetzt. Die Sinne sollen nicht angeregt werden, weil man zur Besinnung
kommen will. (Ebd., S. 131).Das liegt natürlich ganz
und gar nicht auf der Linie der modernen Zivilgesellschaft. Es war für die
Aufklärung schon immer ein Ärgernis, daß das Christentum »das
alte heitere Bild des Todes« aus der Kunst verdrängt hat; nichts war
ihr unerträglicher als die Antiästhetik des Gerippes, des Sensenmanns.
So gipfelt Lessings berühmte Abhandlung »Wie die Alten den Tod gebildet«
in einem Lob des schönen Todes. Der schöne Engel des Todes soll »das
scheußliche Gerippe« ersetzen; und Lessings Abhandlung endet mit dem
Satz: »es ist ein Beweis für die wahre, für die richtig verstandene
Religion, wenn sie uns überall auf das Schöne zurückbringt.«
(Gotthold Ephraim Lessing, Werke, Band VI, 462) (Ebd., S. 131).Diese
Aversion gegen das traurige Bild des Todes und die ästhetische Monotonie
des Friedhofs ist spezifisch modern. Man muß das im größeren
Zusammenhang sehen. Mit Beginn der Neuzeit verliert die christliche Todesdeutung
durch einen transzendenten Todessinn an Kraft, und der Tod wird immer mehr zum
innerweltlichen Darstellungsproblem. Die Parkästhetik des Friedhofs macht
den Tod zum Ornament. Von hier ist es nur ein Schritt bis zum »postmodernen«
Management des Todes. Heute greift die Ästhetisierung des Todes auf das Sterben
über, das weder Scham noch Irritation auslösen soll. Deutlicher gesagt:
Es geht auf dieser letzten Stufe der Ästhetisierung des Todes um die Ausschaltung
der Trauer. Wer aber die Trauerarbeit verweigert, versucht das Vergessen zu vergessen.
Deshalb ist man auf den Friedhöfen der modernen Welt oft unsicher: Soll hier
der Tote oder der Tod begraben werden? (Ebd., S. 131).Wenn
man angemessen Abschied nehmen will von einem geliebten Menschen, kann man nicht
mit den Bordmitteln der gewohnten Lebenswelt operieren. Nun haben Rituale in der
aufgeklärten Welt der Moderne aber an Verbindlichkeit und verhaltenssteuernder
Selbstverständlichkeit verloren. Der Philosoph Hermann Lübbe konstatiert:
»Nachlassende soziale Kontrolle bedeutet eben auch nachlassende Kontrolle
in Fragen des Geschmacks, und mit den Freiheiten, die wir durch Emanzipation aus
institutionell gebundenen Riten gewinnen, breiten sich daher zwangsläufig
auch Geschmacklosigkeiten aus.« (Hermann Lübbe, Im Zug der Zeit,
1992, S. 48). (Ebd., S. 131).Wir können resümieren:
Der Ritualschund provoziert die Geschmacklosigkeit. So trifft man bei Beisetzungen
immer häufiger auf die Peinlichkeit eines »persönlichen Rituals«.
Da ist es nur konsequent, daß sich ein neues Berufsprofil herausbildet:
der Ritualberater . Er versorgt seine Klienten mit maßgeschneiderten kultischen
vollzügen. Auch auf dem Friedhof ersetzt dann der Service die Zwischenmenschlichkeit.
Das Gedenken wird zur Dienstleistung. Philippe Ariès hat das in den USA
beobachtet: »Beim »memorial service« finden sich die Freunde
und Angehörigen des Verstorbenen an einem neutralen Ort zusammen, um seiner
zu gedenken, seine Familie zu trösten, sich philosophischen Betrachtungen
zu überlassen und gegebenenfalls einige Gebete zu sprechen.« (Philippe
Ariès, Geschichte des Todes, 1979, S. 380). (Ebd., S. 132).Die
Ästhetisierung und der Ritualschwund auf den Friedhöfen sollten nun
aber nicht zu der Annahme verleiten, unsere Gesellschaft käme ohne Kulte
und Rituale aus; aber sie haben den Schauplatz gewechselt. Der Friedhof verliert
seine Kult- und Gedenkfunktion in der Moderne zunehmend an die neuen Medien. Vor
allem das Fotoalbum fungiert als Ersatzfriedhof. Um das zu verstehen, muß
man sich etwas Grundsätzliches über das Wesen der technischen Bilder
klarmachen. Das, was ein Foto eigentlich abbildet, ist nicht ein Sein, sondern
ein »Dagewesensein« (Roland Barthes). Mit anderen Worten, das Foto
ist keine Kopie der Wirklichkeit, sondern das Beweisstück eines Dagewesenseins:
So ist es gewesen - die Gestalt auf dem Bild war real. Das Foto ist, in spröder
Wissenschaftssprache formuliert, eine Emanation des Referenten. Genau so hat sich
ja schon Epikur die Sichtbarkeit der Welt erklärt: Bildchen lösen sich
von den Dingen ab! (Ebd., S. 132).Im Zeitalter der neuen
Medien hat nur das Gewesensein die Qualität des Seins. Und genau das ist
das Geheimnis des Etlebniskults. Denn am Erlebnis zählt nicht das Ereignis,
sondern daß es wirklich (wirklich!) gewesen ist. Das kann man von den Touristen
lernen. Sie sichern ihr Erlebnis mit der Instant-Romantik der Fotografie - einmal
knipsen und schon fertig. Was immer das Foto dann zeigen mag - es beweist, daß
das, was es zeigt, wirklich gewesen ist. André Bazin hat das so formuliert:
Das Foto ist einbalsamierte Zeit. Mit anderen Worten, der Erinnerungskult ist
der untilgbare auratische Restbestand der technischen Bilder. Weißt Du noch
.... (Ebd., S. 132).Konkrete Unsterblichkeit versprechen
dann erstmals die Techniken bewegter Bilder. Der Filmstar ist unsterblich, solange
das Fernsehen seine Geschichten sendet. Und im »historischen Film«
verspricht die Technik den Helden der Vergangenheit eine Wiederauferstehung auf
Zelluloid. So heißt es schon 1927 bei Abel Gance: »Alle Legenden,
alle Mythologien und alle Mythen, alle Religionsstifter, ja alle Religionen warten
auf ihre belichtete Auferstehung, und die Heroen drängen sich an den Pforten.«
Mit der Videotechnik war dann endlich auch dem Kleinbürger der Weg zum Heldenruhm
offen. Video ist die Demokratisierung der technischen Unsterblichkeit. Unaufuörlich
wächst die Zahl derer, deren Leben in allen bedeutsamen Etappen von der Geburt
bis zum Tod elektronisch gespeichert ist. Wer sich an einen Verstorbenen so erinnern
will, wie er »wirklich« war, spielt dann einfach ein Video ein.
(Ebd., S. 132-133).Es kommt also nicht von ungefähr, wenn
heute virtuelle Friedhöfe im Cyberspace angelegt werden - in den USA natürlich
vor allem virtuelle Tierfriedhöfe, in denen man die geliebten Hundchen verewigen
kann. »Verewigen« heißt dann konkret: die Eintragung besteht,
solange sich die Web-Site im Internet hält. Die »postmoderne«
Hommage ist eine Homepage. Die Dienstleistung »Gedenken« bietet heute
beides: die Verewigung der Erinnerung im digitalen Speicher und die Unsterblichkeit
im Recycling der technisch bewegten Bilder. Das sind technische Kommunikationsrituale.
(Ebd., S. 133).Zwar besteht das Leben jedes Menschen darin, Weltzufälle
in Elemente seiner Identität umzudeuten - doch bleiben eben gerade die gewichtigsten
Zufälle für den einzelnen unausdeutbar. Und genau hier hakt nun die
Religion ein. Sie kümmert sich um die Lebenszufälle, die man nicht in
Sinn verwandeln kann. Und der Tod ist die härteste Zuspitzung der Lebenskontingenz,
das Unverfügbare schlechthin. Nichts im Alltag bereitet uns darauf vor, mit
diesem Ereignis umzugehen, fertig zu werden. Mit anderen Worten: Nur im Schutz
von Kulten und Ritualen kann man dem Tod begegnen. (Ebd., S. 133).
Leitbild Don Quijote
Am Anfang war die große
Unvereinbarkeit von Griechentum und Christentum. Ihr verdanken die guten Europäer
alles, was sie zukunftsfähig macht, vor allem auch eine unvergleichliche
Eigenart der westlichen Kultur: die Fähigkeit zur Selbstkritik. Entweder
entscheidet man sich zwischen Athen und Jerusalem und wird Christ wie Kierkegaard
bzw. Antichrist wie Nietzsche. Oder man hält die große Unvereinbarkeit
aus und kultiviert, wie Max Weber es forderte, eine gereifte Männlichkeit.
Mit den »Gutmenschen« des heutigen Westens, die weder Altgriechisch
können, noch Paulus kennen, hat das natürlich nichts zu tun; sie sind
nicht selbstkritisch, sondern Kultgänger eines Bußrituals, das an die
Stelle von historischer Erkennrnis getreten ist. (Ebd., S. 135).Daß
sich die abendländische Kultur aus zwei Quellen speist, aus der griechisch-antiken
und aus der jüdisch-christlichen, hat Nietzsche buchstäblich zum Wahnsinn
getrieben. Er forderte das Entweder / Oder, die große Entscheidungsschlacht.
Die Unvereinbarkeit zwang ihn zur Unzeitgemäßheit, d.h. zur Frage nach
dem Sein im Horizont einer anderen Zeit. Kann man die Antike auf der Spitze der
Modernität wiederholen? Kann es ein nicht nur humanistisch angelesenes, sondern
wirklich gelebtes Griechentum geben? (Ebd., S. 135).Jede
unzeitgemäße Betrachtung setzt Askese, also eine sehr anspruchsvolle
Form des Identitätsmanagements voraus. Deshalb hat Nietzsche von Bildung
und Erziehung immer im verschärften Sinne gesprochen, nämlich als Selbstdisziplin
und Züchtung. Askese heißt ja, daß sich das Geschöpf zum
Schöpfer seiner selbst macht - griechisch und antichristlich geredet: zum
Gott wird. Es geht, wohlgemerkt, um Erziehung als Züchtung, nicht um Phantasmen
wie Selbstverwirklichung. Nietzsche war tatsächlich Dynamit, nämlich
für die Idee der humanistischen Bildung. (Ebd., S. 135).Die
Überzeugung, daß die Griechen sich darauf verstanden, zu leben, legitimierte
die unzeitgemäße Betrachtung der Gegenwart. Der Gehorsam, mit dem alle
Bildung beginnt, bestand für Nietzsche also darin, in einem umfassenden Sinne
Griechisch zu lernen. Nur die so eingeübte Optik könnte einen Fluchtweg
aus der Moderne in die Welt der antiken Vornehmheit sichtbar machen: Distanz,
Distinktion, Stil. Das war das erkenntnistheoretisch Antimoderne an Nietzsche;
er glaubte an den bevorzugten Standpunkt - das Auge Zarathustras. (Ebd.,
S. 135-136).Diese heldenhaft konsequente antimoderne Haltung hat
unfreiwillige Parodien ins Leben gerufen, aber keine ernstzunehmende Nachfolge
gefunden. Heute ist Friedrich Kittler der einzige, der die Wette auf die Möglichkeit
des Griechischseins noch einmal gewagt hat. Kittler teilt Nietzsches Zorn darüber,
daß Europa das Griechentum als christliche Antike rezipiert hat. So ist
ein großes, einsames Buch entstanden, »Musik und Mathematik«.
Und man darf auf weitere Bücher hoffen - aber nicht auf ein gelebtes Griechentum.
Wir wollten zeigen, daß man es anders machen muß. (Ebd., S.
136).Wir sind am Ende unserer Betrachtungen angekommen. Daß
sie weder dem Selbstverständnis der Gläubigen noch dem Erkenntnisanspruch
der Religionswissenschaften gerecht werden, hat die Bestimmung »religiös
unmusikalisch« eingeräumt. Wir haben moderne Ersatzreligionen beschrieben
und versucht, die Faszination der Fundamentalismen zu verstehen. Wir haben den
Glauben in seinem Kampf mit dem Wissen betrachtet und die sowohl anthropologische
als auch soziale Funktion der Religion noch völlig diesseits ihres Wahrheitsanspruchs
herausgearbeitet. Dabei wird der Leser gelegentlich bemerkt haben, daß bloße
Beschreibung eine Form der Verachtung sein kann. Diese Betrachtungen eines religiös
Unmusikalischen sind nämlich nicht »desinteressiert«; in ihnen
steckt ein Plädoyer. Und auf ihren letzten Seiten soll es noch deutlicher
profiliert werden. (Ebd., S. 136).Wir konstruieren die christliche
Religion als Ellipse. Ihre beiden Brennpunkte sind die europäische Identität
und die Glaubensrüstung des Ich. Denn obwohl unser Thema ja die neue Weltreligiosität
ist, folgt unsere Darstellung - und wie wir gleich sehen werden: unvermeidlicherweise
- einem Vorurteil für das Christentum. (Ebd., S. 136).In
seinem Roman »Die Schattenlinie« sagt Joseph Conrad über einen
Erzähler, er habe den Sinn einer Geschichte nicht in ihrem narrativen Kern
gesucht, sondern in der Ausstrahlungskraft, die sie durch das Wieder- und Weitererzählen
im Laufe der Zeit gewinne. Wenn wir das auf die Geschichte und die Geschichten
des Christentums übertragen, relativieren wir damit nicht die Bedeutsamkeit
seines narrativen und dogmatischen Kernbestandes. Im Alltag kann keine Philosophie
mit den guten Geschichten konkurtieren, die in der Bibel stehen. Aber das, was
unser Vorurteil für das Christentum begründet, liegt nicht im Buch der
Bücher allein beschlossen. Es geht vielmehr um die 2000 Jahre seiner Auslegung
und seiner Häresien. (Ebd., S. 136-137).Die Wissenschaften
haben ihr Buch der Natur Aug' in Aug' mit dem Buch der Bücher erforscht.
Die Politik hat ihre Autonomie Aug' in Aug' mit dem Wahrheits- und Machtanspruch
der Kirche erkämpft, so daß der Jurist Carl Schmitt sagen konnte: »Alle
prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische
Begriffe.« (Carl Schmitt, Politische Theologie, 1922, S. 49). Die
Kunst stand bis zur Schwelle der technischen Medienrevolutionen im 19. Jahrhundert
im Dienst eines Rituals, so daß der Ästhetiker Walter Benjamin sagen
konnte: »Der einzigartige Wert des echten Kumtwerks ist immer
theologisch fundiert.« (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band
I, S. 441). (Ebd., S. 137).Fast 2000 Jahre lang haben fast
alle intelligenten und gebildeten Menschen unserer europäischen Kultur die
Frage nach dem christlichen Gott durchdacht und durchlitten; ob apologetisch,
ob kritisch gleichviel. Jeder ernst zu nehmende Gedanke ist Metaphysik, und jede
Metaphysik ist säkularisierte Theologie. Sich aus diesem Traditionszusammenhang
herausreflektieren zu wollen, ist geistiger Selbstmord. (Ebd., S. 137).Das
ist der erste Brennpunkt unserer Ellipse: europäische Identität. Den
zweiten Brennpunkt haben wir Glaubensrüstung des Ich genannt. Gemeint ist
die unerschüttetliche Sicherheit einer Lebensführung, die durch und
durch von einem Glauben an Gott geprägt ist. Das unüberbietbare Muster
hat uns Max Weber im Puritaner gezeigt. Seine Religion ist die Reaktionsbildung
auf die »irrationale Welt des unverdienten Leidem, des ungestraften Unrechts
und der unverbesserlichen Dummheit.« (Max Weber, Politik als Beruf,
S. 60). Gerade die ökonomische Rationalität stößt den Menschen
auf die ethische Irrationalität der Welt. Wer aber einen Beruf im Sinne innerweltlicher
Askese hat, ist »von glücklicher Borniertheit für jede Frage nach
einem Sinn der Welt geschlagen.« (Max Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft, 1920, S. 332). Die Welt ist zwar irrational, aber sein Handeln
in ihr rational. (Ebd., S. 137).Das ist die große religiöse
Antithese zur Weltflucht. Der Puritaner ist eine Figur der Weltzugewandtheit,
die aber nicht weltbejahend ist wie der antike Grieche und der Ja-und-Amen sagende
Nietzsche, sondern weltablehnend. Ich wende mich der Welt zu - und lehne sie ab.
Das macht die einzigartige Bedeutung des Berufs aus; er ist das Medium der Bewährung
vor Gott als Bewährung vor sich selbst. Der Puritaner schließt sich
gegen die Welt ab, um sie zu rationalisieren. So macht der Glaube in höchstem
Maße realitätstüchtig. (Ebd., S. 137).Aber
es gibt noch eine zweite Figur des glaubensgerüsteten Ich, die sehr viel
aktueller ist: Don Quijote. Gott verläßt die Welt, und da wird der
Glaube zum Wahnsinn; ein Wahnsinn aber, der sich als ästhetische Strategie
eines Dichters der eigenen Handlungen erweist und den Glaubensritter immun macht
gegen die Täuschungen der Welt. Don Quijote führt sein Leben durch einen
Glauben, den er als Fiktion durchschaut und an den er als Fiktion glaubt. Sein
Heldentum erscheint grotesk und sein Glaube wahnsinnig, weil er sich nicht damit
abfindet, daß ewige Inhalte und ewige Haltungen ihren Sinn verlieren, wenn
ihre Zeit vorbei ist; daß die Zeit über ein Ewiges hinweggehen kann.
Doch was könnte daran aktuell sein? (Ebd., S. 137-138).Der
fahrende Ritter weiß, daß er eine ganz bestimmte Rolle zu spielen
hat, und er käme nie auf den Gedanken, sich einer Verpflichtung zu entziehen,
die in der Sphäre seiner Aufgaben auftaucht. Sein Leben ist die Lust, den
Anforderungen seiner Pflicht zu gehorchen. Mit dem Mut des Emeritus hat der große
Organisationssoziologe James G. March diese Figur des Don Quijote zum Emblem eines
modernen Identitätsmanagements erhoben. Nur mit der Kraft seiner Narrheit
gelingt die Flucht aus dem Utilitarismus. Es geht March um die Wiedergewinnung
einer Tradition, die den Menschen nicht die Selbsterhaltung sondern das richtige
Leben lehrt. (Ebd., S. 138).Das richtige Leben orientiert
sich nicht am Geschäftserfolg.sondern an einem »sense of self«;
d.h. an den Verpflichtungen sozialer und persönlicher Identität. Don
Quijote stellt die Imperative des Selbst über die Imperative der Umwelt;
die Gesundheit seiner Identität ist ihm wichtiger als Realitätsgerechtigkeit.
Und sein Selbstwertgefühl wiegt schwerer als sein Eigeninteresse. Noch heute
lachen die utilitaristischen Dummköpfe über seinen Kampf gegen die Windmühlen.
Aber keiner dieser Letzten Menschen dürfte wie Don Quijote von sich sagen
«Yo se quien soy«, ich weiß, wer ich bin. (Ebd., S. 138).Jeder
moderne Mensch, der heute sein Leben am christlichen Glauben orientiert, ist ein
Don Quijote. Die Ritterrüstung des Christentums panzert ihn gegen die Kontingenzen
des Alltags, die gottfremde Macht der Wissenschaft und die eigene kreatürliche
Hinfälligkeit. Als religiös unmusikalischer Betrachter kann man das
nur bewundern; wer einen Gott hat, ist beneidenswert. (Ebd., S. 138).Nun
kann man sich nicht vornehmen zu glauben. Aber es gibt einen Glauben (und eine
Erziehung zu diesem Glauben), der auch den trägt, der nicht hoffen kann,
ein Christ zu sein. Das ist der Glaube an den einzigartigen Wert der von Griechentum
und Christentum geprägten europäischen Kultur. Nun haben moderne Menschen
typisch Angst davor, zu bekennen, was sie glauben. Und das gilt gerade auch für
den Glauben an die Einmaligkeit der europäischen Kultur. Wir haben uns von
dem Gymnasialhumanismus des 19. Jahrhunderts distanziert, wir haben uns selbst
unter Eurozentrismusverdacht gestellt und wir haben uns Walter Benjamins Wort
zueigen gemacht, jedes Dokument der Kultur sei zugleich eines der Barbarei.
(Ebd., S. 138-139).Antiautoritäre Diskurse und Diskursanalysen,
der Bruch des Bildungsprivilegs und der Verlust der selbstverständlichen
Orientierung an der abendländischen Tradition haben es zur Selbstverständlichkeit
werden lassen, daß es keinen verbindlichen Kanon der Bildung mehr gibt.
Die Zeichen der Zeit standen in den letzten Jahrzehnten auf Dekonstruktion und
Archivarbeit an den grauen Dokumenten. Politisch hieß das: Kulturvergleich
statt Eurozentrismus, Europa als Zweckverband statt europäische Identität.
Der Europäischen Union ist die christliche Tradition Europas peinlich.
(Ebd., S. 139).Aber heute ist der Zeitpunkt gekommen, die Gegenrechnung
aufzumachen - ohne Angst vor der konservativen Gesellschaft, in die man dadurch
gerät. Vor über einem halben Jahrhundert schrieb Ernst Robert Curtius
»gegen die Selbstpreisgabe der deutschen Bildung, gegen den Kulturhaß
und aus Sorge für die Bewahrung der westlichen Kultur.« (Ernst Robert
Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 1948,
S. 9, 11). So darf man heute, will man Gehör finden, natürlich nicht
mehr formulieren. Aber genau darum geht es. Die christlich geprägte europäische
Kultur ist eine einmalige evolutionäre Errungenschaft, die man natürlich
mit anderen Kulturen vergleichen kann und soll, die aber gerade darin sich immer
wieder als unvergleichlich erweist. Das zu leugnen, bleibt den Ignoranten des
»Gutmenschentums« vorbehalten. (Ebd., S. 139).Man
muß vor der europäischen Kultur nicht die Knie beugen, aber man sollte
ihre großen alten Bücher lesen, die uns die religiöse Etziehung
und Tradition ersetzen. In diesem Sinne plädieren wir hier für eine
ernste Arbeit an der objektiven Religion, d.h. dem Kultur gewordenen Christentum,
als dem einzig gangbaren Weg zu einer europäischen Identität. Dieser
Weg steht gerade auch dem religiös Unmusikalischen offen. Er sollte ihn unbeirrt
von dem gehen, was er im Innern der modernen Gesellschaft beobachtet, nämlich
das ästhetische Spiel mit der Religion und das Ressentiment der Sozialreligion.
Unbeirrt aber auch von dem, was sich außerhalb der modernen Gesellschaft
anbahnt - das anarchische Bündnis der Ausgestoßenen: Gott und Seele.
(Ebd., S. 139).Joachim Ritter hat im Anschluß an Hegel die
Moderne als »die Entzweiungsform der Gesellschaft« beschrieben (vgl.
Joachim Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 230): Sicherheit steht
gegen das Heil, Selbstbehauptung gegen Selbsttranszendenz, das Cogito Descartes'
gegen den Gehorsam Fenelons, die wissenschaftliche Methode gegen Pascals Logik
des Herzens, der Gelehrte gegen das Genie, Newtons Natur gegen Goethes Natur,
Rationalismus gegen Pietismus. So war glauben oder philosophieren noch für
Schopenhauer eine bündige Disjunktion: entweder »sich von aller Auktorität
emancipiren oder auf das Fundament der Auktorität« vertrauen - hier
müsse man wählen. (Vgl. Arthur Schopenhauer, Werke, Band V, S.
342f.). Es schien kein Mittleres zwischen Rationalismus und Offenbarungsglauben,
zwischen Atheismus und Katholizität zu geben. Doch der Bürgerkrieg zwischen
Glaube und Vernunft ist beendet. Und statt beim Stichwort Monotheismus immer nur
das Blut der Intoleranz über die Seiten des Feuilletons fließen zu
lassen, wäre es heute umgekehrt die Sache des ernsthaften Nachdenkens, wie
»die Modernisierung durch Religion zu zivilisieren« (Paul Nolte, in:
Die Zeit, 24.10.2002) ist, ohne sich dabei mit der leichenblassen Antwort »Zivilreligion«
zu begnügen. (Ebd., S. 139-140).Zivilisieren heißt
gerade nicht simplifizieren. Bei Fragen, auf die es keine Antwort gibt, kommt
alles darauf an, wie man sie stellt. Wie geht man mit unlösbaren Problemen
um? Wir haben ja gerade gesehen, daß nur Religion weiß, mit Kontingenz
umzugehen. Und zwar bewältigt sie die Kontingenz durch Steigerung der Kontingenzerfahrung
d.h. sie enttrivialisiert unsere Lebenserfahrung. Nicht die Religion ist die größte
Illusion, sondern der Glaube, man könne die zu großen Fragen mit den
Bordmitteln der Vernunft beantworten. (Ebd., S. 140).Es gehört
zu den großen Modernitätslegenden, der abendländische Geist habe
sich vom Mythos zum Logos, von der Doxa zur Episteme emanzipiert. Doch gibt es
nicht nur ein neues Interesse an der Doxa, sondern auch die Sehnsucht nach Orthodoxa.
Michael Polanyi hat den Kontinent des persönliches Wissen (tacit knowledge)
entdeckt; und heute wächst unter neuesten Medienbedingungen eine Doxa des
Wissens der Vielen (Doxa heißt jetzt Wiki). Friedrich Kittler rettet in
einsamer Arbeit, aber der Pflugschar Nietzsches und Heideggers folgend, für
uns das gymnasialhumanistisch verdrängte Wissen der Griechen; und Jochen
Hörisch hat unlängst erste Studien über das unvergleichliche Wissen
der Literatur vorgelegt. All diesen Wissensformen ist es gemeinsam, daß
sie dem Zugriff der Episteme entgleiten. (Ebd., S. 140).Als
Jacques Lacan, der scharfsinnigste und gebildetste unter den Nachfolgern Freuds,
das Niveau der Psychoanalyse bestimmte, sprach er von den Orthodoxa, die der Konstitution
des wissenschaftsförmigen Wissens vorausgehen. Das ist die Welt der wahren
Meinungen, in die wir eingehüllt sind und die uns in unserem Sein konstituieren
- »während sich da keinerlei Wahrheit in Form. eines generalisierbaren
und immer wahren Wissens auffinden läßt.« (Jacques Lacan, Seminar,
Band II, S. 31). Es ist die Welt der gründenden Worte und des richtigen Wortes
zur rechten Zeit. Genau auf diesem Niveau ist auch das Wissen der Religion angesiedelt.
Doch während das Wissen der Psychoanalyse immer subjektiv bleiben muß
und damit nur Seltenen selten wird, hat sich die christliche Religion 2000 Jahre
lang objektiviert. Und es ist der Stolz des guten Europäers, an der objektiven
Religion zu arbeiten. Wer diese Herkunft hat, braucht keinen Ruhm. (Ebd.,
S. 140-141). **
So
Nietzsche in einem Nachlassungsfragment aus dem Herbst 1881 (vgl. ders., Sämtliche
Werke, Band IX, S. 642): »Mein Stolz dagegen ist: ich habe eine
Herkunft - deshalb brauche ich den Ruhm nicht. In dem, was Zarathustra,
Moses, Mohamed Jesus Plato Brutus Spinoza Mirabeau bewegte, lebe ich auch schon,
und inmanchen Dingen kommt in mir erst reif an's Tageslicht, was embryonisch ein
paar Jahrtausende brauchte. Wir sind die ersten Aristokraten in der Geschichte
des Geistes - der historische Sinn beginnt erst jetzt.« (Ebd.). |
Geistiger Selbstmord (in: Focus, 21.04.2008) **Die
Wissenschaft unterwirft sich immer freudiger der Tyrannei der Werte. So hat einer
meiner Kollegen die Bundesregierung aufgefordert, alle Wissenschaftler zu bestrafen,
die den von Menschen verursachten Klimawandel leugnen. (Ebd.).Ich
habe keine Angst davor, unmodern zu sein. (Ebd.).Irgendetwas
muß Gott sein. Das ist evident beim Kult ums moderne Ich. Das ist auch evident
bei der grünen Religion, wo Gottvater durch Mutter Erde ersetzt wird. Die
Sozialreligion wiederum, in welcher der Staat quasi die göttliche Rolle einnimmt,
ist sicher die wichtigste und immer noch folgenreichste. Die Erfahrung der letzten
Jahrzehnte zeigt, daß wir immer tiefer in den Staatsgötzendienst steuern
und jede Menge Theologen sind bereit, aus Gründen der Anpassung an
dieser Sozialoffenbarung mitzuwirken. Das Traurige ist eben, daß solche
Ersatzreligionen gerade von denen praktiziert und vorangetrieben werden, von denen
man eigentlich erwarten sollte, daß sie denken können. Sowohl die Grünen
als auch die Ich-Religiösen und auch die Staatsgötzendiener sind eigentlich
Intellektuelle. Offensichtlich brauchen Menschen eine Möglichkeit, sich irgendwelchen
Imperativen zu unterwerfen. Angesichts dessen ist eigentlich das christliche Angebot
das freiheitlichste und souveränste und auch intellektuell befriedigendste,
weil diese Unterwerfung es ermöglicht, allem anderen gegenüber souverän
zu sein, während diejenigen, die den Gott nicht haben, sich sofort in einer
gnadenlosen Knechtschaft wiederfinden. (Ebd.).Die Frage ist
nur: Welche Verknechtung ist die jammervollste? Ist es diese neuheidnische Natur-Idolatrie
der Grünen, die ich in ganz besonderer Weise lächerlich finde? Oder
ist es die Anbetung des Staates, die wenigstens eine gewisse Tradition hat? Oder
ist es das Ich-Götzentum? (Ebd.).»Soziale
Gerechtigkeit« ist die Maske des Neids, »Teamfähigkeit«
ist die Maske des Hasses auf die Ehrgeizigen und Erfolgreichen, »Dialog
der Kulturen« ist die Maske der geistigen Kapitulation vor fremden Kulturen.
Überhaupt: Das, was man »Political Correctness« (**|**|**|**|**|**|**|**|**)
nennt, ist die aktuelle Rhetorik des Antichrist. (Ebd.).Die
islamischen Fundamentalisten konfrontieren uns mit einer Religion, die sich ernst
nimmt. Ich sage nirgendwo, wir müssen zurück zu einer christlichen Religion,
die sich vergleichbar ernst nimmt. Das Christentum steckt nicht mehr in den Köpfen
und in den Seelen der meisten Menschen, aber so, wie eine Maschine mit den Worten
Max Webers nicht nur Mechanik, sondern geronnener Geist ist, steckt das Christentum
in unserer Kultur, und die ist wahrscheinlich besser als jede andere. Ich sage:
Es ist geistiger Selbstmord, eine solche Tradition aufzugeben. (Ebd.).Ich
bin Wehrdienstverweigerer, aber ich war kein überzeugter Pazifist, sondern
einfach ein Feigling, weshalb es jetzt frivol wäre, wenn ich behauptete,
ich würde kämpfen. Doch mit den Waffen, die ich heute noch zu führen
weiß, kämpfe ich. Ich stelle beispielsweise die These auf, daß
nicht der islamistische Terror das Problem ist, sondern der Islam selbst.
(Ebd.). |