Evolution, Zivilisation und Verschwendung. Über den Ursprung
von Allem. (2008) **
Seit
den bahnbrechenden Arbeiten Charles Darwins wird allgemein angenommen, es sei
das Prinzip der natürlichen Auslese, welches die Evolution des Lebens und
die Vielfalt der Arten bewirke: Besser an ihren Lebensraum angepaßte Individuen
hinterlassen durchschnittlich mehr Nachkommen als weniger gut angepaßte.Peter
Mersch weist dagegen nach, daß es sich bei der natürlichen Selektion
um das Ergebnis der Wirkungen grundlegenderer, auf den Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen
von Individuen beruhender Prinzipien handelt, die er unter dem Namen »Systemische
Evolutionstheorie« zusammenfaßt. Damit kann er nicht nur die biologisch
»Central Theoretical Problem of Human Sociobiology« lösen.Gemäß
der Systemischen Evolutionstheorie können nur selbsterhaltende, selbstreproduktive
Systeme eigendynamisch evolvieren. Daraus folgt aber, daß - anders als von
Richard Dawkins vermutet - weder »egoistische« Gene noch Meme Gegenstand
der Selektion sein können. Auch widerspricht die Theorie wesentlichen Grundannahmen
der Luhmannschen Systemtheorie.Mit der
sexuellen Selektion gelang der Natur eine ganz entscheidende Innovation, nämlich
die Einführung der marktmäßigen »Gefallen-wollen-Kommunikation«,
die ihr die Möglichkeit gab, vielfältige, den Prinzipien der Systemischen
Evolutionstheorie genügende evolutive Infrastrukturen zu schaffen. Dieser
Durchbruch dürfte maßgeblich verantwortlich gewesen sein für die
Herausbildung unserer großen Gehirne und unserer Zivilisation, aber auch
für eine ungeheure Verschwendung.Das
Zusammenspiel von Systemischer
Evolutionstheorie und Gefallen-wollen-Kommunikation
kann erklären, wie aus der auf die Erde einströmenden Sonnenenergie
und ersten Lebensformen zunächst Pflanzen, Dinosaurier und Löwen, dann
Menschen, Autos, Mobiltelefone, Banken, Technologiekonzerne und schließlich
eine enorme Umweltzerstörung entstehen konnten.(Ebd.,
Klappentext). |
Vorwort (S. i-x)
Ausgangspunkt des vorliegenden
Buches waren Fragen wie: Was treibt die technische Evolution an? Wie entsteht
eigentlich Fortschritt? (Auslöser war das Buch »Der göttliche
Ingenieur - Die Evolution der Technik« von Jacques Neirynck, 1994).
(Ebd., S. i).In der Biologie nimmt man allgemein an, vergleichbare
Fragestellungen für den eigenen Wissenschaftsbereich längst geklärt
zu haben: Es sei das Prinzip der natürlichen Auslese, welches die Evolution
des Lebens und die Vielfalt der Arten bewirke: Besser an ihren Lebensraum angepaßte
Individuen hinterlassen durchschnittlich mehr Nachkommen als weniger gut angepaßte.
(Ebd., S. i).Doch selbst Charles Darwin kamen bereits erste Zweifel:
Wie konnten unter den Bedingungen der natürlichen Selektion etwa Pfauenmännchen
entstehen, deren riesige gefiederte Schweife einer optimalen Adaption an ihren
Lebensraum eher im Wege stehen? Seine Antwort war verblüffend: Es sei die
sexuelle Selektion, die Auswahl der geeignetsten oder vielleicht auch nur »genehmsten«
Männchen durch die Weibchen, die all dies bewirke. (Ebd., S. i).
Mit der sexuellen Selektion gelang der Natur
eine ganz entscheidende Innovation, die die Grundlage vieler späterer
Entwicklungen war: die Einführung der marktmäßigen und
herrschaftsfreien Gefallen-wollen-Kommunikation
(**). Sie dürfte maßgeblich
verantwortlich sein für eine beschleunigte Evolution, für die
Entstehung unserer großen Gehirne und unserer Zivilisation, aber
eben auch für eine ungeheure Verschwendung. Und sie stand Modell
für unsere modernen Märkte, die so ungeheuerliche Dinge wie
Mobiltelefone mit integrierten Videokameras, Rundfunkempfängern und
MP3-Playern hervorgebracht haben. (Ebd., S. i).
Es
handelt sich hierbei um eine eigene Wortschöpfung, die im Kapitel Selektionen
neu eingeführt wird. (Ebd.). |
Doch
all das erklärt noch nicht, warum sich etwas in die eine oder andere Richtung
oder überhaupt entwickelt. Ist es vielleicht doch die »unsichtbare
Hand«, die Adam Smith hinter all dem sah (**)?
(Ebd., S. ii).
Adam
Smith behauptete in seinem Werk »Der Wohlstand der Nationen«, das
Zusammenwirken der Menschen (in Märkten) werde »von einer unsichtbaren
Hand geleitet«, so daß jeder von ihnen »einen Zweck fordert,
den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat«. Dieser Zweck
sei das Gemeinwohl im Sinne einer gesamtwirtschaftlichen Effizienz der Güterallokation.
Kein einzelner Marktteilnehmer verfolge die Absicht, daß insgesamt die effiziente
Marktmenge gehandelt werde; jeder wolle nur seinen Güterbedarf decken. Und
doch führe der Marktmechanismus durch seine unsichtbare Hand zur Bereitstellung
dieser effizienten Menge. (Ebd.). |
Das
vorliegende Buch zeigt, daß dessen Vorstellung so falsch nicht war. Es erklärt
nämlich die biologische, kulturelle, soziale, wissenschaftliche und technische
Evolution einheitlich aus einigen wenigen, unter dem Namen Systemische
Evolutionstheorie zusammengefaßten Prinzipien heraus, die in erster
Linie auf Systemeigenschaften, namentlich den Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen
von Individuen, beruhen. Damit trennt es sich gleichzeitig auch von der in der
Biologie aktuell vorherrschenden Vorstellung, Individuen handelten vorrangig im
Eigeninteresse ihrer Gene, die möglichst lange fortbestehen wollten.
Stattdessen stellt es das grundlegende Bestreben von Individuen, sich selbsterhalten
und reproduzieren zu wollen, in den Vordergrund (**).
(Ebd., S. ii).
Die
Argumentation ist strikt systemtheoretisch. Demgemäß geht es etwa Unternehmen
- als Systemen - primär um den eigenen Selbsterhalt, während die Interessen
von Mitarbeitern und anderen Akteuren demgegenüber nachgelagert sind. Entsprechend
ist zwar durchaus vorstellbar, daß Gene eigene Interessen besitzen und auch
verfolgen, auf der Ebene des Individuums sind aber in erster Linie dessen eigene
Interessen von Belang. (Ebd.). |
Ein
Selbsterhalt hat unter anderem auch immer die Erhaltung von Kompetenzen im Umgang
mit der primären selektiven Umwelt (**)
zum Gegenstand. Solche Kompetenzen beziehungsweise Adaptionen sind aber zu jedem
Zeitpunkt stets nur relativ in Bezug auf die Fertigkeiten und Fähigkeiten
aller anderen Individuen der gleichen Population, weswegen sie permanent erneuert
und gegebenenfalls sogar verbessert werden müssen, wollen sie sich nicht
sukzessive selbst entwerten. (Ebd., S. ii).
Die
Begriffe »primare selektive Umwelt«, »Lebensraum«, «Milieu«,
»Umgebung«, »Außenwelt« oder auch einfach nur »Umwelt«
werden im Laufe des Buches weitestgehend synonym verwendet. (Ebd.). |
Daraus
ergeben sich einige überraschende Konsequenzen: | Beim
Prinzip der natürlichen Auslese handelt es sich um kein Basisprinzip des
Lebens, sondern um das Ergebnis der Wirkungen grundlegenderer Evolutionsprinzipien,
die auf Interessen beruhen. Anders gesagt: Biologische Populationen evolvieren
nicht, weil besser an den Lebensraum angepaßte Individuen im Mittel mehr
Nachkommen hinterlassen als andere, sondern weil Lebewesen leben und überleben
wollen. Evolution wird somit nicht durch den Kampf ums Dasein oder das Überleben
der Tauglichsten, sondern durch die jeweiligen Eigeninteressen von Individuen
vorangetrieben. | | Die
Natur selektiert nicht. | | Nur
selbsterhaltende, selbstreproduktive Systeme können eigendynamisch evolvieren
beziehungsweise »Gegenstand der Selektion« sein. Gene, Meme, Entscheidungen,
Handlungen, Praktiken u.s.w. scheiden dafür aus. Die biologische Evolution
wird folglich auch nicht durch egoistische Gene (vgl. Dawkins, a.a.O.) vorangetrieben. | | Bei
Unternehmen handelt es sich um Organisationssysteme, die sich fortlaufend um ihren
Selbsterhalt bemühen und deshalb auf kompetitiven Märkten dazu gezwungen
sind, ihre Adaptionen beziehungsweise Kompetenzen - Produkte und Dienstleistungen
-ständig zu aktualisieren, sich also selbst zu reproduzieren. Dies bewirkt
dann die »Evolution« der Technik. Anders gesagt: Nicht die Technik
evolviert, sondern die Organisationen, die sie herstellen. Die Evolution der Technik
ist nur ein Aspekt der ihr unterliegenden Evolution der Organisationssysteme. | | Soziale
Systeme wie Gesellschaften oder Organisationssysteme beinhalten stets auch selbsterhaltende
Systeme (Menschen und andere Akteure), die sich mit eigenen Intentionen (Interessen)
und Kompetenzen in das Gesamtsystem einbringen. Sie bestehen folglich nicht nur
aus Kommunikation. Wesentliche Grundannahmen der Luhmannschen Systemtheorie dürften
deshalb nicht zu halten sein. | | In
modernen menschlichen Gesellschaften, deren Mitglieder allgemein , über leistungsfähige
und sichere Methoden der Familienplanung verfügen, entwickelt sich das Reproduktionsinteresse
von Individuen zu einer ökonomisch abschätzbaren Größe: es
ist dann nicht länger nur »natürlich« vorhanden. Unter der
Rahmenbedingung der Gleichberechtigung der Geschlechter ist es im Mittel sogar
umso niedriger, je höher die Kompetenzen und beruflichen Beanspruchungen
der betroffenen Personen sind. Dies gilt in zunehmendem Maße für Frauen
wie Männer, da in solchen Gesellschaften üblicherweise eine Angleichung
der Lebensentwürfe beider Geschlechter - bei gleichzeitiger paritätischer
Aufteilung eventueller Familienarbeiten - angestrebt wird. Es bildet sich dann
aber ein für Menschen unlösbarer Konflikt heraus: Mit zunehmender Kinderzahl
steigen die Ausgaben für die Familie, während gleichzeitig ihre Einkünfte
sinken (**). Die Konsequenz daraus
ist: Modeme menschliche Gesellschaften reproduzieren sich nicht mehr gemäß
den Prinzipien der Systemischen
Evolutionstheorie. Damit erklärt sich dann auch das Central Theoretical
Problem of Human Sociobiology. | Wie im Laufe der
weiteren Ausführungen gezeigt wird, beruht der Prozeß der Zivilisation
maßgeblich auf einer zunehmenden Durchsetzung der Gefallen-wollen-Kommunikation
gegenüber eher dominanten Kommunikationsweisen. Diese Entwicklung ging Hand
in Hand einher mit Ausdifferenzierungs- und Individualisierungsprozessen, aber
auch mit einer Wandlung des Trieb- und Affekthaushaltes auf Seiten der Individuen.
Gleichzeitig war sie Voraussetzung für das Entstehen großer Organisationen
(Organisationssysteme),
deren plötzliches massenhaftes Auftreten ein entscheidendes Merkmal der Modeme
sein dürfte. (Ebd., S. ii-iv).
Familien
gelten in unserer Gesellschaft als ökonomisch autarke Einheiten, die sich
im wesentlichen selbst zu finanzieren haben. (Ebd.). |
Bei
Organisationssystemen
(**|**|**|**)
handelt es sich um neuartige biologische Phänomene einer bislang unbekannten
Größenordnung, die sowohl eigene Identitäten als auch eigenständige
Selbsterhaltungsinteressen besitzen. Während die biologische Evolution die
Ein- und Mehrzeller (Organismen) hervorgebracht hat, sind die kulturelle, soziale,
wissenschaftliche und technische Evolution primär das Ergebnis evolutiver
Entwicklungen auf der nächst höheren Systemebene, den Organisationssystemen.
Im Prinzip könnten diese als eine neue Form des Lebens aufgefaßt werden
(**). (Ebd., S. iv).
Im
Gegensatz zu einigen anderen Autoren wird hier behauptet, daß es sich bei
menschlichen Organisationssystemen (zum Beispiel Unternehmen) um Superorganismen
handelt. Die Menschheit selbst dürfte dagegen diesen Status zur Zeit noch
nicht besitzen. (Ebd.). ** |
Ihr
Energie- und Kapitalbedarf übertrifft alles bislang Dagewesene. Konnten sie
anfangs noch auf Territorialstaaten eingegrenzt und damit zum Teil auch kontrolliert
werden, so haben sie diese Beschränkungen längst hinter sich gelassen
und sich teilweise über die ganze Welt ausgebreitet. Wenn man fragen würde,
was Globalisierung eigentlich genau ist, dann müßte man wohl sagen:
Es ist der Prozeß des Anwachsens von Organisationssystemen zu globaler Größe,
bei dem die Nationalstaaten gleichzeitig zu Lieferanten degradiert werden. Oft
erhalten die betroffenen Länder noch nicht einmal mehr ausreichende Gelegenheit,
ihr Humanvermögen zu bewahren. Wenn dieses dann schließlich erschöpft
ist, was für Europa in den nächsten 30 bis 50 Jahren zu erwarten ist,
dann werden die Organisationen zur nächsten Lokation weiterwandern, denn
anders als Territorialstaaten sind sie nicht an Regionen und Bevölkerungen
gebunden. (Ebd., S. iv-v).Die primäre selektive Umwelt
solcher Organisationssysteme sind vor allem die Märkte, die aber allesamt
auf der verschwenderischen Gefallen-wollen-Kommunikation
basieren. Die Ursache der globalen Erwärmung dürfte folglich auch eher
hier zu suchen sein, denn gegenüber diesen Giganten sind Menschen praktisch
ohne Bedeutung, auch und gerade was den Ressourcenverbrauch angeht. Es stellt
sich die Frage, ob es der Menschheit jemals noch gelingen wird, diese Superorganismen,
in denen einzelne Menschen nur noch vertraglich temporär gebundene, jederzeit
austauschbare Zellen sind, in ihre Schranken zu weisen. (Ebd., S. v).Wenn
man so will, dann erklärt das vorliegende Buch die Welt, nämlich wie
einige wenige gemeinsame Evolutionsprinzipien aus der auf die Erde einströmenden
Sonnenenergie und ersten Lebensformen zunächst Pflanzen, fleischfressende
Dinosaurier und Löwen, dann zivilisierte Menschen, Autos, das Internet, Mobiltelefone,
Organisationen wie die Deutsche Bank, General Electric oder Microsoft und schließlich
eine gewaltige Verschwendung und Umweltzerstörung entstehen ließen.
(Ebd., S. v).Im Grunde liegt in den dargelegten Resultaten eine
weitere »Kränkung« der Menschheit. Obwohl man seit Darwin weiß,
daß der Mensch evolutionär aus dem Tierreich hervorgegangen ist, wird
ihm noch immer eine absolute Sonderstellung unter den Lebewesen eingeräumt.
So meint man denn etwa, es gäbe auf der einen Seite die Natur, und daneben
all das, was der Mensch aus sich selbst heraus geschaffen hat. Dem ist aber wohl
nicht so. Stattdessen scheint der gleiche Evolutionsmechanismus, der aus Bakterien
irgendwann hat Menschen werden lassen, nun die moderne Welt und damit auch das
vorliegende Buch hervorgebracht zu haben. (Ebd., S. v).Frankfurt,
im April 2008Peter Mersch* Die
Darwinsche Evolutionstheorie gilt allgemein als eine der bedeutendsten wissenschaftlichen
Leistungen aller Zeiten. Allerdings bestehen in ihrem Zusammenhang einige Ungereimtheiten,
die sich bislang nicht ausräumen ließen, zum Beispiel: | Obwohl
sich Charles Darwin bei der Formulierung des Prinzips der natürlichen Selektion
von der Bevölkerungslehre Thomas Robert Malthus' - und damit von gesellschaftspolitischen
Konzepten - leiten ließ, wird die Anwendung der Evolutionstheorie auf menschliche
Gesellschaften in aller Regel als Sozialdarwinismus, Biologismus oder naturalistischer
Fehlschluß diskreditiert (Sozialdarwinismus-Problem). | | Gemäß
dem Prinzip der natürlichen Auslese hinterlassen besser an den Lebensraum
angepaßte Individuen mehr Nachkommen als weniger gut angepaßte. In
modernen menschlichen Gesellschaften sind die Verhältnisse jedoch genau umgekehrt,
denn dort besteht in aller Regel ein negativer Zusammenhang zwischen sozialem
Erfolg und Kinderzahl (Central Theoretical Problem of Human Sociobiology). | | Bislang
konnte keine einzige nichtbiologische Evolution (Technik, Kultur, Wissen u.s.w.)
schlüssig auf das Prinzip der natürlichen Auslese zurückgeführt
werden. | | Im
Grunde gilt dies sogar für die sexuelle Evolution, für die Charles
Darwin mit der sexuellen Selektion ein von der natürlichen Auslese deutlich
abweichendes Evolutionsprinzip formulierte, so daß nun zur Erklärung
der Entstehung und Weiterentwicklung der Arten mehrere konkurrierende Evolutionsmechanismen
existieren. | In »Evolution, Zivilisation und
Verschwendung« wird eine ganz einfache Theorie vorgestellt (**),
die die genannten Ungereimtheiten allesamt auflösen kann. Gemäß
der Systemischen
Evolutionstheorie besteht die Welt nämlich aus einer Vielzahl an evolutionsfähigen
Systemen, die vor allem eins im Sinn haben: leben und überleben wollen. Kommen
sie sich dabei in die Quere, werden sie zu Feinden, Konkurrenten oder Partnern.
Ist ihre Kooperation besonders intensiv, kann eine neue Systemebene entstehen,
für die nun wieder das Gleiche gilt: leben und überleben wollen. Etwas
Entsprechendes ist seit Beginn des Lebens auf der Erde mindestens zweimal passiert,
einmal im Rahmen der Organismenbildung vor ca. 500 Millionen Jahren, ein anderes
Mal erst unlängst mit dem Aufkommen der Organisationssysteme
(**|**|**|**).
(Ebd., S. vii-viii).
Der
Grundgedanke des dahinterliegenden »Weltbildes« ist: Wenn sich schon
angeblich die gesamte biologische Artenvielfalt aus einfachsten Prinzipien (Variation,
Selektion, Vererbung) heraus erklären läßt, dann sollte dies für
alle anderen Phänomene des Lebendigen (einschließlich des Menschen)
ebenfalls gelten. Die im vorliegenden Buch vorgestellte Systemische
Evolutionstheorie vereint dabei sowohl reduktionistische als auch ernergenztheoretische
Ansätze: Alle Evolutionen werden auf einige wenige »atomare«
emergente Eigenschaften des Lebendigen zurückgeführt. (Ebd.). |
Mit
der Sexualität erfand die Natur eine neue Interaktionsweise - die Gefallen-wollen-Kommunikation
-, die ihr die Möglichkeit gab, beliebige eigenständige Evolutionsumgebungen
entstehen zu lassen. Damit war der Weg frei für die heutige Artenvielfalt,
aber auch die Evolution der Technik, der Kultur und des Wissens. (Ebd.,
S. viii).Fundamente der Systemischen
Evolutionstheorie sind also letztlich das Leben selbst und die Sexualität.
Unter den Neuerungen der vierten Auflage von »Evolution, Zivilisation und
Verschwendung« stehen deshalb zwei zentrale biologische Fragestellungen
im Vordergrund: | Was
ist Leben? Anders gefragt: Worin unterscheiden sich Lebewesen von unbelebter
Materie beziehungsweise von anderen biologischen Phänomenen (wie etwa Ameisennestern)? | | Wozu
gibt es Sexualität? | Um es gleich vorweg zu
sagen: Das vorliegende Buch bemüht sich zwar um eine Beantwortung der ersten
Frage, doch scheint mir die Problemstellung damit keineswegs abschließend
gelöst zu sein. Dennoch glaube ich, daß man sich dem Wesen des Lebens
nur ungefähr so wie vorgeschlagen wird nähern können, nämlich
über die in den Lebewesen verankerte emergente Subjektfunktion und den daraus
resultierenden Eigeninteressen (Selbsterhalt, Selbstreproduktion) in Relation
zu einer ansonsten objekthaften Umwelt. Möglicherweise wird eine reduktionistische
Vorgehensweise dagegen niemals befriedigende Antworten liefern können.
(Ebd., S. viii).Ganz anders sieht die Situation beim Thema Sexualität
aus. Hier kann man die grundsätzlichen Vorteile der sexuellen Fortpflanzung
in getrenntgeschlechtlichen Populationen recht genau benennen. Auf eine Kurzformel
gebracht: Die meisten Vorteile der sexuellen Reproduktion erwachsen aus dem Unterschied
in der potentiellen Fruchtbarkeit von männlich versus weiblich (vgl auch:
Eckart Voland, Die Natur des Menschen, 2007, S. 49). Die daraus resultierende
Aufgabenspezialisierung des männlichen Geschlechts stellt den eigentlichen
evolutionären Vorteil getrenntgeschlechtlicher Spezies gegenüber Hermaphroditen
oder sich asexuell reproduzierenden Arten dar. (Ebd., S. viii-ix).Allerdings
ist eine solche Erkenntnis relativ neu, denn Mitte des 20. Jahrhunderts schrieb
etwa Simone de Beauvoir in ihrem Hauptwerk »Das andere Geschlecht«
noch, der eigentliche Sinn der Unterteilung der Arten in zwei Geschlechter sei
den Biologen überhaupt nicht klar und es gebe möglicherweise auch keinen
(vgl. Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, S. 28), weswegen sie dann
folgerte: »Vielleicht wird die Mitwirkung des Mannes in der Fortpflanzung
eines Tages überflüssig: das ist anscheinend der Wunsch zahlreicher
Frauen.« (Ebd., S, 33). Alice Schwarzer ergänzt, der Mensch habe ursprünglich
eine »polymorphe Sexualität«, die nicht festgelegt sei, und die
vorherrschende Heterosexualität sei ein Resultat der kulturellen Priorität
(vgl. Alice Schwarzer, Die Antwort, S. 41). Entsprechend fordert sie einen
»neuen Menschen«: Ja, es stimmt, die schlimmsten Albträume der
Fundamentalisten und Biologisten müßten wahr werden: Das werden nicht
mehr die gewohnten »Frauen undMänner« sein ..., sondern herauskommen
wird ein »neuer Mensch«. Ein Mensch, bei dem die individuellen Unterschiede
größer sein werden als der Geschlechtsunterschied.« (Ebd., s.
168). Die Soziologin Judith Butler geht noch einen Schritt weiter, indem sie behauptet,
Geschlecht stelle ausschließlich eine soziale Kategorie dar, wobei sie gleichzeitig
die biologische, binäre Konstruktion der Getrenntgeschlechtlichkeit radikal
in Frage stellt. (Ebd., S. ix).Das vorliegende Buch zeigt
dagegen auf: Kultur, Altruismus, Zivilisation, Höflichkeit, Demokratie, Marktwirtschaft,
Kunst, Wissenschaft und Technologie beruhen allesamt maßgeblich auf einer
ganz entscheidenden Errungenschaft der sexuellen Fortpflanzung, nämlich der
Gefallen-wollen-Kommunikation.
Sexualität ist vor allem Kommunikation. Ohne Sexualität und Getrenntgeschlechtlichkeit
basierte die Welt wohl noch immer ausschließlich auf dem Prinzip Fressen
und Gefressen werden. (Ebd., S. ix).Ich bin seit der
Veröffentlichung der ersten Auflage von »Evolution, Zivilisation und
Verschwendung« mehrfach gefragt worden, ob die Systemische
Evolutionstheorie nun eine Verallgemeinerung der Darwinschen Lehre sei oder
gar deren Widerlegung. (Ebd., S. ix-x).Sie ist im Grunde
beides. Einerseits handelt es sich bei ihr um eine Verallgemeinerung, weil aus
ihr die Prinzipien der Darwinschen Evolutionstheorie - inklusive der natürlichen
Auslese - unmittelbar ableitbar sind, und weil sie zusätzlich eine ganze
Reihe an nichtbiologischen Evolutionen erklären kann, was mit der Darwinschen
Theorie nicht möglich ist. (Ebd., S. x).Andererseits
relativiert sie aber auch das Prinzip der natürlichen Auslese, welches die
Evolution des Lebens bekanntlich mit dem durchschnittlich höheren Fortpflanzungserfolg
der fitteren Individuen erklärt. (Ebd., S. x).Doch was
bedeutet in diesem Zusammenhang Fitneß? Setzt man Fitneß mit sozialem
Erfolg, Bildung oder Wohlstand gleich, dann besteht in modernen menschlichen Gesellschaften
gemäß dem empirisch sehr gut belegten Central Theoretical Problem
of Human Sociobiology sogar eine zur natürlichen Selektion genau umkehrte
Relation. Der höhere Fortpflanzungserfolg der Fitteren scheint sich also
- anders als es die Darwinsche Lehre behauptet - nicht in allen Fällen zu
realisieren. (Ebd., S. x).Die Biologen behalfen sich damit,
indem sie Fitneß kurzerhand mit relativem Lebenszeit-Fortpflanzungserfolg
gleichsetzten, und zwar gemäß der Devise: »Die Fitneß eines
Individuums läßt sich nur im Nachhinein beurteilen. So gesehen sind
die Fittesten diejenigen, die in ihrem Leben - in Relation zu den anderen Mitgliedern
einer Population - die meisten Nachkommen hinterlassen.« (Ebd., S.
x).Allerdings würde die natürliche Selektion auf diese
Weise zu einer Tautologie verkommen, es sei denn, man forderte zusätzlich
noch, daß sich fittere Individuen mindestens genauso oft fortpflanzen »wollen
» wie weniger fitte. Damit wäre dann wieder ein echter Bezug zwischen
Leben (Fitneß) und Überleben (Survival) hergestellt. Und genau dies
tut die Systemische
Evolutionstheorie: sie ersetzt den Begriff des Fortpflanzungserfolges weitestgehend
durch den des Fortpflanzungswunsches, wodurch es ihr gelingt, eine konzeptionelle
Lücke in der Darwinschen Lehre zu schließen, die für viele Mißverständnisse
bei deren Anwendung verantwortlich gewesen sein dürfte. (Ebd., S. x).Frankfurt,
im August 2008Peter Mersch
1) Leben (S. 1-20)
1.1) Leben und Energie
Grundlage jeglichen Lebens auf der
Erde ist. die die Erdoberfläche erreichende Sonnenenergie, denn Lebewesen
benötigen vor allem Energie. (Ebd., S. 1).Damit sich
das Leben auf der Erde evolutiv entwickeln konnte, mußte die Zufuhr an Sonnenenergie
über einen sehr langen Zeitraum ausreichend konstant erfolgen, denn selbst
kurzfristige größere Energieschwankungen (zum Beispiel nach sehr schweren
Vulkanausbrüchen oder Meteoriteneinschlägen) hatten jedes Mal ein Massenaussterben
von biologischen Arten zur Folge. (Ebd., S. 1).Interessanterweise
scheint selbst die Dreidimensionalität unseres Universums eine notwendige
Voraussetzung für die Entstehung von Leben zu sein:»Planeten
sind eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Entstehung
von Bewßtsein. Einem solchen Planeten muß mäßige Wärme
zugeführt werden, damit die Fließfähigkeit seiner Umwelt erhalten
bleibt. Nur so sind die Moleküle beweglich genug, die Entwicklungslinien
der Evolution zu erkunden. Die Wärme könnte aus dem Inneren des Planeten
stammen - es ist denkbar, daß sich Leben auf der Oberfläche eines warmen
Sterns entwickelt. Doch Wärme allein reicht nicht aus. Das Leben lebt von
Qualität .... Es hätte keinen Zweck, mit Wärme, einer Energieform
minderer Qualität, zu beginnen und zu hoffen, sie könnte die Evolution
von Komplexität speisen. Wir müssen mit hochgradiger Qualität beginnen
und dann von ihrem Velfall leben. Kurz, zum Leben brauchen wir Licht.Ein
Planet, der heiß genug wäre, um als Lichtquelle - und damit auch als
potentielle Lebensquelle - dienen zu können, wäre zugleich ein globales
Krematorium: Kein komplexes Molekül könnte überleben, ganz zu schweigen
von Molekülverbänden, die sich als Organismen verhielten. Natürlich
lassen sich auf einem abgekühlten Planeten Lichtquellen konstruieren, doch
dazu bedalf es gewöhnlich einer Intelligenz. Folglich sind sie eine Konsequenz
des Lebens, nicht seine Voraussetzung. Von Zivilisationen und eingegrenzten Örtlichkeiten
abgesehen, muß ein Planet sein Licht von außerhalb beziehen: Das Leben
auf Planeten ist auf Sonnen angewiesen.Soll
ein Planet die Voraussetzungen für die Entstehung von Leben bieten, muß
er die zentrale Sonne in einer Bahn umkreisen, die sich weder so weit nähert,
daß die entstehenden Lebensformen verschmoren, noch so weit entfernt, daß
sie erfrieren. Die Umlaufbahn darf keine Schwankungen aufweisen, wenn das Leben
eine Chance haben soll und wenn die empfindlichen Moleküle ihre stets gefährdete
Komplexität auf Dauer bewahren sollen. Diese förderlichen Bedingungen,
die von gleichbleibenden Umlaufbahnen geschaffen werden, müssen über
Äonen erhalten bleiben. Die Suche nach Kriterien für die Evolution von
Bewußtsein reduziert sich damit auf die Suche nach Kriterien für die
Stabilität von Planetenumlaufbahnen. ....In
zwei Dimensionen ebenso in Universen mit vier und mehr Dimensionen wären
Planeten schon durch geringfügige Störungen aus ihren Umlaufbahnen zu
bringen. .... Hingegen sind die Erde und ihresgleichen in der Nähe dieser
und anderer Sonnen in der Lage, auf Kometen, Planeten und Begegnungen anderer
Art zu reagieren und zu überleben. Die durch die drei Dimensionen unseres
Raumes ermöglichte Bewegungsfreiheit ist gerade groß genug, um Umlaufbahnen
flexibel korrigieren und Katastrophen vermeiden zu können. .... Die Vermeidung
solcher Katastrophen ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Menschen
....« (Peter W. Atkins, Schöpfung ohne Schöpfer, 1984,
S. 105ff.): | Sind die genannten günstigen Bedingungen
vorhanden, scheint das Leben praktisch sofort zu entstehen:»Man
vermutet, daß [das Leben] vor 4,2 bis 4,4 Milliarden Jahren begonnen habe.
Das ist schon einmal eine sehr interessante Sache, weil sie uns folgendes zeigt:
Kaum war die Erdoberfläche aufunter 100 Grad Celsius abgekühlt, entstand
schon das erste Leben. Früher hatte man sich nämlich vorgestellt, daß
nach der Entstehung der Erde (vor rund 4, 6 Milliarden Jahren) erst einmal lange
Zeit gar nichts geschah, bis dann kurz vor der Gegenwart alles Leben explosionsartig
hervorgekommen sein soll. Wir sehen aber wiederum: die physikalischen und chemischen
Bedingungen waren offenbar so, daß bei der ersten Gelegenheit
schon Leben entstanden ist.« (Robert Kaspar, Wie kam der Apfel auf den
Baum?, 1984, S. 25): |
Ganz anders sieht dies bezüglich der Entstehung von komplexem Leben (Organismen,
Mehrzellern) aus, denn mit dessen Entwicklung ließ sich die Evolution mehr
als drei Milliarden Jahre Zeit. Doch nicht nur das: Nahezu alle heute noch gültigen
Hauptentwürfe vielzelligen Lebens sind im Kambrium in einem Zeitraum von
nur etwa fünf Millionenn Jahren entstanden. (Ebd., S. 1-3).Die
Sonne liefert pro Jahr eine Energiemenge von etwa 3,9 Yottajoule auf die Erdoberfläche,
das sind 3,9 Millionen Exajoule, wobei ein Exajoule wiederum einer Milliarde Gigajoule
entspricht, und bei einem Gigajoule selbst handelt es sich um eine Milliarde Joule.
Um ein Gefühl für die Größenordnungen zu bekommen: Ein Mensch
benötigt pro Tag ca. 2000 Kcal an Nahrungsenergie. (**).
Umgerechnet in Joule (1 cal = 4,18 Joule) und Jahr entspricht dies einem Energiebedarf
von ca. 3 Gigajoule pro Jahr. Die gesamte Menschheit von zur Zeit etwa 6,7 Milliarden
Menschen hat demzufolge einen jährlichen Nahrungsenergiebedarf von ca. 20
Exajoule. Gemäß den folgenden Ausführungen handelt es sich bei
Nahrungsenergie letztendlich um Sonnenenergie. (Ebd., S. 3).
Allerdings
stehen heute hinter jeder Kalorie, die wir als Lebensmittel zu uns nehmen. bis
zu zehn Kalorien fossiler Energie, die für Kunstdünger, Landwirtschaftsmaschinen,
Kühlung, Verarbeitung, Transport u.s.w. aufgebracht werden müssen. (Vgl.
Franz Josef Radermacher / Bert Beyers, Welt mit Zukunft - Überleben im
21. Jahrhundert, 2007, S. 64). (Ebd.). Zusatz-Info: Kcal = Kilokalorie;
1 cal = 4,187 J bzw. 1 J = 0,239 cal; J ist die SI-Einheit der Energie, benannt
nach dem englischen Physiker James Prescott Joule (1818-1889). |
Die
Evolution des Lebens auf der Erde könnte auch als eine Evolution der Nutzung
von Energie verstanden werden. Pflanzen nehmen Sonnenenergie über die Photosynthese
direkt auf, und speichern sie für sonnenarme Zeiten in Form von Stärke
beziehungsweise teilweise auch als Fett ab. Sie kommen deshalb ohne Fortbewegung
aus. Die Photosynthese der Pflanzen ist die auf der Erde am weitesten verbreitete
Nutzung von Sonnenenergie. Daneben gewinnen auch einige Bakterien ihre Energie
direkt aus dem Sonnenlicht. (Ebd., S. 3).Tiere nutzen Sonnenenergie
indirekt, zum Beispiel durch Verzehr der in Pflanzen gespeicherten Energie. Man
nennt sie dann Pflanzenfresser (Herbivoren). Dafür müssen sie
sich allerdings von Pflanze zu Pflanze fortbewegen. Über den Verzehr von
Pflanzen kann mehr Energie pro Zeiteinheit aufgenommen werden als über eine
direkte Nutzung von Sonnenergie. Die Evolution der Tiere ging folglich mit einer
Steigerung der Energieeffizienz einher. Tiere speichern den größten
Teil ihrer Energiereserven als Fett ab. Ein Grund dafür ist die hohe Energiedichte
von Fett (900 Kcal pro 100 g). Ein Tier kann dann im Vergleich zu anderen Energieträgern
mehr Energie pro kg zusätzlichem Körpergewicht mit sich herumtragen.
Viele Pflanzenfresser sind den ganzen Tag mit der Nahrungsaufnahme beschäftigt.
Elefanten nehmen beispielsweise täglich etwa 200 Kilogramm Nahrung beziehungsweise
250000 Kcal zu sich, wofür sie allein 17 Stunden benötigen. Sie fressen
vor allem Gras, aber auch Früchte, Wurzeln, Zweige und Rinde. Daneben trinken
sie 70 bis 150 Liter Wasser am Tag. (Ebd., S. 3-4).Tierisches
Gewebe besitzt in der Regel eine höhere Energiedichte als pflanzliches. Die
Evolution der Fleischfresser (Carnivoren) bedeutete deshalb eine weitere
Steigerung der Energieeffizienz. Anders als viele Pflanzenfresser können
sich Fleischfresser bei der Nahrungsaufnahme meist auf wenige Stunden pro Tag
beschränken. Allerdings ist ihre Nahrungsbeschaffung im Gegenzug mit einem
höheren Energieaufwand verbunden. Deshalb können Fleischfresser nicht
die maximale Größe von Pflanzenfressern erreichen und diese wiederum
nicht die maximale Größe von Pflanzen. (Verdoppelt man den Durchmesser
einer Kugel, so verachtfacht sich ihr Volumen. Ein nach allen Seiten doppelt so
großer Löwe wäre also 8-mal so schwer. Er müßte dann
nicht nur überall wesentlich stabiler konstruiert sein, sondern wüde
bei Beschleunigungen auch viel mehr Energie verbrauchen.). (Ebd., S. 4).Der
moderne Mensch ist wie die meisten anderen Primaten ein Allesfresser (Omnivore),
er kann also sowohl Pflanzen als auch tierische Produkte verdauen. Allerdings
ist die Vergrößerung des menschlichen Gehirnvolumens in der Altsteinzeit
ohne den enormen Fleischkonsum unserer Vorfahren nicht erklärbar. (Vgl. Josef
H. Reichholf, Das Rätsel der Menschwerdung - Die Entstehung des Menschen
im Wechselspiel mit der Natur, 1990, S. 115ff.; Peter Mersch, Migräne,
2006, S. 40ff.). (Ebd., S. 4).In der Natur geht es also in
erster Linie um Energie. Da nicht nur die Sonnenenergie, sondern auch Lebewesen
selbst Energie darstellen, heißt das Prinzip »fressen oder gefressen
werden«, wobei die relative Position in der Nahrungskette (Energiekette)
von entscheidender Bedeutung ist. Lebewesen, die gezielt auf die Jagd nach Energie
in anderen Lebewesen gehen, nennt man deren natürliche Feinde, sie nehmen
somit in der Nahrungskette einen höheren Rang ein als ihre Nahrung.
(Ebd., S. 4).Innerhalb der Nahrungskette existieren noch so genannte
Destruenten, die abgestorbene Pflanzen und tote Tiere zersetzen und Böden
wieder mit zusätzlichen Mineralstoffen anreichern. (Ebd., S. 4).Der
Mensch hat die Energieeffizienz nochmals und auf vielfältige Weise gesteigert.
Zunächst trat er aufgrund seiner intelligenten Jagdstrategien und der Erfindung
von Waffen und des Feuers als das gefährlichste Raubtier aller Zeiten auf.
Dabei konzentrierte er sich über weite Strecken sogar darauf, die größten
Pflanzenfresser (zum Beispiel Mammuts) zu jagen, die davor noch keine natürlichen
Feinde besaßen. Auf diese Weise konnte er den Zeitaufwand für die Nahrungssuche
und -aufnahme drastisch reduzieren. Die freigewordene Zeit stand nun für
die Weiterentwicklung von Waffen, die Verfeinerung der Kommunikation, aber insbesondere
auch die Verbesserung der Brutpflege zur Verfügung. Dies erlaubte es dem
Menschen, sich sukzessive auf der Erde auszubreiten. (Ebd., S. 5).Mit
der Beherrschung des Feuers und dem Erfinden des Kochens gelang dem Menschen eine
weitere Steigerung der Energieeffizienz, da nun die Nahrung zum Teil bereits außerhalb
der eigenen Verdauungsorgane aufgeschlüsselt werden konnte. Dazu war allerdings
eine separate Energiequelle (Holz) erforderlich, eine Innovation von geradezu
historischer Tragweite, gelang es doch damit einem Lebewesen zum ersten Mal, eine
zusätzliche Energiequelle gezielt für die eigenen Zwecke einzusetzen.
Heute verbraucht der durchschnittliche US-Amerikaner mehr als 100-mal soviel Energie
für andere Belange, wie für die Versorgung des eigenen Körpers.
(Ebd., S. 5).Als die Bevölkerungszahlen stiegen, die Nahrungsversorgung
aufgrund der begrenzten Ressourcen aber immer schwieriger wurde, erfand der Mensch
vor ca. 10 000 Jahren Ackerbau und Viehzucht. Mit dieser, als neolithische
Revolution bezeichneten Innovation, begann der Mensch, sich quasi aus der Natur
herauszulösen und sich seine eigene Natur zu schaffen .... Sich seine eigene
Natur zu schaffen, hat einige offenkundige Nachteile: Man muß unter anderem
durch eigene Arbeit für all das sorgen, wofür die Natur normalerweise
ganz automatisch sorgt. Die paradiesischen Verhältnisse der Altsteinzeit,
als der Mensch nur nach den Früchten der Natur zu greifen brauchte, waren
also vorbei. (Ebd., S. 5).Doch gleichzeitig gab es einige
entscheidende Vorteile, die die Nachteile des harten Arbeitens mehr als aufwogen.
Dazu zählten die stärkere Unabhängigkeit gegenüber den Launen
der Natur und die Erhöhung der Erträge pro Quadratkilometer Boden. Allerdings
erfolgte der Wandel vom Jagen und Sammeln hin zu Ackerbau und Viehzucht weniger
aus strategischen Überlegungen heraus, sondern in erster Linie aus reiner
Not.»Als
das Zeitalter des Paläolithikums (Altsteinzeit) sich seinem Ende näherte,
in der mesolithischen Periode (mittlere Steinzeit: vor 20000 bis 10000 Jahren),
kam es in Europa. Nordamerika und Asien auf breiter Front zu einem Aussterben
der großen Säugetiere. Das fiel zusammen mit einer grundlegend veränderten
Nutzung der Umwelt sowie anderer Nahrungsquellen durch die Jäger und Sammler.
Überall auf der Welt begannen die Menschen ausgedehnter zu jagen und zu sammeln;
so wurden alle Nischen ihrer Umwelt besser genutzt. .... Zum
ersten Mal tauchen vor 15000 Jahren im Nahen Osten Mahlsteine und grobe Mörser
unter den archäologischen Funden auf sie weisen auf den Beginn der Nutzung
von Getreide durch den Menschen hin. ....Als
... vor 10000 Jahren die Bevölkerungszahlen zunahmen und große Pflanzenfresser
entweder ausgerottet oder sehr selten geworden waren, mußte die Menschheit
zunehmend häufiger auf kleine Säugetiere, Fisch, Geflügel und gesammeltes
Pflanzenmaterial zurückgreifen, um ihren Kalorienbedarf zu decken. Schrittweise,
je mehr sich auch diese Ressourcen zu erschöpfen drohten, wurde angesichts
wachsender Bevölkerungszahlen der Ackerbau zum vorherrschenden Lebensstil
und das Getreide zum bestimmenden Kalorien- und Proteinlieferanten in vielen,
wenn auch nicht in allen prähistorischen Kulturen.« (Loren Cordain,
2004, S. 5f.). | Die Revolution bei der Nahrungsbeschaffung
hatte einige unmittelbare Konsequenzen (vgl. Thomas Junker, Die Evolution des
Menschen, 2006, S. 107ff.; Jared Diamond, Der dritte Schimpanse, 2006,
S. 232ff.; Loren Cordain, 2004): | Ausdifferenzierung
der Arbeitsteilung: Gab es vorher im wesentlichen eine Arbeitsteilung zwischen
den Geschlechtem (Männer: Sicherstellen des Überlebens auf täglicher
Basis, Frauen: Sicherstellen des Überlebens in der Zukunft), so erfolgten
nun weitere Spezialisierungen im Rahmen der Nahrungsproduktion (Bauer, Hirte)
und bei anderen, gegebenenfalls sogar rein geistigen Tätigkeiten. | | Verstädterung:
Die außerhalb der Städte produzierte Nahrung konnte eine große
Zahl an Menschen auf gesicherte Weise versorgen. Die Menschen wurden seßhaft,
und es bildeten sich die ersten Städte heraus. | | Kulturelle
und wissenschaftliche Weiterentwicklung: Verstädterung und Arbeitsteilung
führten zu einer verbesserten Kommunikation, einer Vertiefung des Wissens
und einem schnelleren Wissenszuwachs. Es entstanden die ersten Hochkulturen (ich
nenne sie: Historienkulturen! HB). | | Bevölkerungsexplosion:
Die eigene Nahrungsproduktion machte den Menschen unabhängig
von der Natur und schützte ihn gleichzeitig vor natürlichen Feinden.
In Verbindung mit der veränderten Nahrungszusammensetzung kam es zu einem
deutlichen Bevölkerungszuwachs. | | Ungehinderte
Ausbreitung über die ganze Erde: Die Umstellung
von Jagen/Sammeln auf Ackerbau/Viehzucht erlaubte es dem Menschen, bislang unbewohnte
Gebiete zu besiedeln. Dazu mußte lediglich die Nahrungsmittelproduktion
gemäß den erlernten und beherrschten Methoden in die neue Lokation
exportiert werden. Immer mehr Land wurde der Natur entrissen. | Die
mit der veränderten Nahrungsbeschaffung einhergehende Veränderung in
der Nahrungszusammensetzung hatte aber auch erhebliche gesundheitliche Konsequenzen:»Als
die vorwiegend auf Fleisch aufbauende Kost der Jäger und Sammler durch eine
auf Getreide beruhende Ernährung ersetzt wurde, waren die Folgen in allen
Erdteilen gleich: Das Höhenwachstum entwickelte sich rückläufig
(die Menschen wurden kleiner), die Kindersterblichkeit nahm zu, die Lebenserwartung
sank (die Menschen starben früher), Infektionserkrankungen traten häufiger
auf, Eisenmangelkrankheiten (Blutarmut) nahmen zu, ebenso wie Knochenerweichung,
Deformationen des Schädels und andere auf Mineralstoffmängel zurückzuführende
Knochenerkrankungen, und es kam vermehrt zu Dentalkaries sowie anderen krankhaften
Veränderungen des Zahnschmelzes.« (Loren
Cordain, 2004, S. 6f.). | Als weitere negative Effekte
der neolithischen Revolution sind zu nennen: Soziale Ungleichheiten, Sklaverei,
Gewaltherrschaft. (Ebd., S. 5-8).Der entscheidende Grund
für den Durchbruch und den langfristigen Erfolg von Ackerbau und Viehzucht
war aber wohl die weitere Steigerung der Energieeffizienz, denn nun konnte pro
Quadratkilometer Land mehr Energie gewonnen werden als dies Jäger/Sammler-Kulturen
möglich war. (Ebd., S. 8).Weitere Steigerungen des Energieertrags
setzten eine verstärkte Arbeitsteilung und den Einsatz zusätzlicher
Arbeitskräfte voraus, sei es als Mensch (zum Teil als Sklave) oder Tier (Pferd,
Ochse, Esel u.s.w.). Natürlich mußten die Arbeitskräfte genährt
werden, das heißt sie benötigten Energie. (Ebd., S. 8).Später
erschloß der Mensch dann weitere Energiequellen, insbesondere die fossilen
Brennstoffe Kohle, Öl und Gas, bei denen es sich um Ablagerungen früherer
Lebewesen und damit um Sonnenenergie handelt. Der Mensch nutzt also heute ganz
gezielt die Energie, die vor Jahrmillionen von der Sonne auf die Erde eingeflossen
ist. Die fossilen Brennstoffe haben das Zeitalter der Technik erst möglich
gemacht. Seitdem werden Arbeitsleistungen in erster Linie durch Maschinen erbracht.
Auf menschliche und tierische Arbeitskräfte konnte zunehmend verzichtet werden.
Ein günstiger Nebeneffekt war die Beendigung der Sklaverei. (Ebd.,
S. 8).Die von der Menschheit neben der Nahrung pro Jahr verbrauchte
Primärenergie (fossile Brennstoffe, Atomenergie, erneuerbare Energiequellen)
wird auf ca. 430 Exajoule geschätzt. Zusammen mit den für die Nahrung
verbrauchten 20 Exajoule ergibt sich ein jährlicher Gesamtenergieverbrauch
der Menschheit von ca. 450 Exajoule, soviel wie etwa 150 Milliarden Naturmenschen
verbrauchen würden. Zum Vergleich: Die gesamte von der Sonne auf der Erdoberfläche
eintreffende Energie entspricht ungefähr dem 9000-fachen des aktuellen menschlichen
Energiebedarfs. Die Menschheit nutzt aktuell bereits rund die Hälfte der
weltweiten Netto-Photosynthesekapazität, also des Überschusses, der
aus der Fähigkeit der Pflanzen resultiert, Sonnenenergie zu speichern. (Vgl.
Franz Josef Radermacher / Bert Beyers, Welt mit Zukunft - Überleben im
21. Jahrhundert, 2007, S. 64). Der Primärenergieverbrauch pro Kopf
und Land ist weltweit sehr unterschiedlich, in Deutschland sind es ca. 172 Gigajoule,
in den USA 325, in Norwegen 392 und in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE)
gar fast 700. Überspitzt könnte man sagen: Jeder Deutsche beschäftigt
noch zusätzliche 60 Sklaven, jeder US-Amerikaner sogar 110. Würden alle
Menschen auf der Erde den gleichen Energiebedarf wie die US-Amerikaner haben,
dann hätte die Menschheit einen jährlichen Energieverbrauch von ca.
2200 Exajoule. Die gesamte auf der Erde nutzbare Sonnenenergieleistung wäre
dann nur noch 1800-mal so groß, nähme man die VAE als Maßstab,
dann sogar nur noch das 870-fache. (**).
(Ebd., S. 8-9).Da der Vorrat an fossilen Brennstoffen sich in den
nächsten 50 Jahren dem Ende zuneigen dürfte und der bisherige Energieverbrauch
bereits klimatische Veränderungen zur Folge hat, sind für die Zukunft
neue Energiekonzepte erforderlich. Entweder der Menschheit gelingt es, neue leistungsfähige
Energiequellen (zum Beispiel Kernfusion) zu erschließen - wobei einige Kritiker
darin einen Widerspruch zum 2.
Hauptsatz der Thermodynamik erkennen wollen (vgl. Entropie;
und vgl. z.B. Jeremy Rifkin, Entropie - Ein neues Weltbild, 1985; Jacques
Neirynck, Der göttliche Ingenieur - Die Evolution der Technik, 1994)
und vor möglichen klimatischen Folgen warnen -, oder sie muß ihren
Energieverbrauch reduzieren und den Energiebedarf hauptsächlich aus erneuerbaren
Energiequellen decken. Letzteres hätte vermutlich erhebliche gesellschaftliche
Veränderungen zur Folge. Beispielsweise basieren die momentanen Wirtschafts-
und Globalisierungsprozesse ganz erheblich auf der freien Verfügbarkeit nahezu
unbegrenzter Mengen an kostengünstiger Energie. (Ebd., S. 9).Die
Ausführungen in diesem Abschnitt sollten in erster Linie deutlich machen,
daß es sich bei biologischen und sozialen Evolutionen ganz wesentlich um
Evolutionen bei der Nutzung von Energie handelt. (Ebd., S. 29).Grundsätzlich
kennt der Energiehunger biologischer Phänomene praktisch keine Grenzen. Wenn
sich eine Möglichkeit zur Verwendung zusätzlicher, ständig verfügbarer
Energie ergibt, dann dürfte es auch schon bald zu einr entsprechenden Nutzung
kommen. (Ebd., S. 9).Im Laufe dieses Buches wird ein neuartiger
Typ von biologischen Phänomenen (die Organisationssysteme, Superorganismen)
vorgestellt, der einen geradezu gigantischen Energiebedarf besitzen kann.
(Ebd., S. 9).
1.2) Leben als dissipative Struktur **
Unter
einer dissipativen Struktur versteht man eine stabile, geordnete Struktur in einem
System fern vom thermodynamischen Gleichgewicht, also einem System wie unserer
Erde etwa, dem ständig Energie von außen zugeführt wird. Dissipative
Strukturen benötigen äußere Energieflüsse, um ihre Organisation
und selbstorganisatorischen Prozesse erhalten zu können. Dabei gleichen sie
vorhandene Energiedifferenzen (Energiegradienten) im Gesamtsystem aus. (Ebd.,
S. 9-10).Typische Beispiele dissipativer Strukturen sind Hurrikans.
Ganz häufig wird behauptet, auch lebende Systeme seien dissipative Strukturen:»Leben
kann als eine dissipative Struktur angesehen werden, die ihren lokalen Organisationsgrad
um den Preis der Entropieerzeugung in der Umgebung erhält.«
(Eric Schneider / James Kay, Ordnung aus Unordnung, 1997, S. 190). | Ich
werde auf den nächsten Seiten jedoch einige Einwände gegenüber
einer solchen Auffassung vorbringen. (Ebd., S. 10).Ein Standardbeispiel
fur die Ausbildung von dissipativen Strukturen in offenen Systemen fern vom thermodynamischen
Gleichgewicht ist das sogenannte (Rayleigh-)Bénard-Experiment. Dabei wird
ein Gefäß, in dem sich eine dünne, homogene Flüssigkeit befindet,
auf der Unterseite erhitzt, während seine Oberseite auf einer niedrigen Temperatur
gehalten wird. Die Flüssigkeit dehnt sich an der warmen Unterseite aus und
kann aufgrund der geringeren Dichte nach oben aufsteigen, während die kältere,
dichtere Flüssigkeit im oberen Bereich nach unten sinkt. Die Viskosität
(Zähflüssigkeit) der Flüssigkeit wirkt diesem Vorgang entgegen.
Ist die Temperaturdifferenz zwischen Boden und Oberseite gering, überwiegt
die Viskosität der Flüssigkeit, und die Wärme wird ohne gleichzeitigen
Stofftransport durch homogene Wärmeleitung (durch Molekül-Molekül-Wechselwirkungen)
von unten nach oben befördert. Anders gesagt: Die Teilchen der Flüssigkeit
bleiben dort, wo sie sind. Oberhalb eines kritischen Temperaturunterschiedes wird
dieser Zustand jedoch instabil, und der Wärmetransport findet durch Wärnlekonvektion
statt. Konkret heißt das: Die Teilchen der Flüssigkeit werden dann
von unten nach oben transportiert, so daß die gesamte Flüssigkeit aufgrund
der Dichteunterschiede zwischen Ober- und Unterseite in Bewegung gerät. Dabei
treten regelmäßig geformte Konvektionszellen - meist in Sechseck- oder
Rollenmustern -auf, die sogenannten Bénard-Zellen. Das System ist nun nicht
länger eine planlose Ansammlung von sich zufällig bewegenden Molekülen,
sondern Milliarden von Molekülen kooperieren, um makroskopische Muster -
die sogenannten dissipativen Strukturen - zu schaffen, die sich in Raum und Zeit
entwickeln. Steigt die Temperaturdifferenz zwischen der Ober- und Unterseite des
Gefäßes weiter an, gelangt das System ab einem zweiten kritischen Wert
schließlich ins Chaos und es entwickeln sich Turbulenzen. (Ebd., S.
10-11).Gemäß dem 1.
Hauptsatz der Thermodynamik kann Energie in geschlossenen Systemen weder geschaffen
noch vernichtet werden. Allerdings kann die in einem System vorhandene Energie
in ihrer Beschaffenheit beziehungsweise in der Fähigkeit, nutzbare Arbeit
zu verrichten, stark variieren. Exergie stellt in diesem Zusammenhang ein
Maß für die maximale Fähigkeit eines energiehaltigen Systems dar,
nützliche Arbeit zu verrichten, während es sich zum Gleichgewicht mit
seiner Umgebung hin bewegt. Das Gegenteil, nämlich nicht mehr arbeitsfähige
Energie, wird Anergie genannt. (Ebd., S. 11).Der 2.
Hauptsatz der Thermodynamik besagt nun, daß die Qualität der Energie
(die Exergie) in einem (energetisch und materiell) abgeschlossenen, energiehaltigen
System fortlaufend abnimmt, wenn irgendwelche Vorgänge im System ablaufen.
Anders gesagt: Exergie wird dann fortlaufend in Anergie umgewandelt. Auf diese
Weise geht das System zunehmend von einem geordneten in einen ungeordneten Zustand
über, das heißt, die Entropie des Systems nimmt immer weiter zu. Es
handelt sich hierbei um einen irreversiblen Prozeß. Die Kernaussage des
2. Hauptsatzes der Thermodynamik ist: Jeder reale Prozeß kann in einem abgeschlossenen,
energiehaltigen System nur in einer Richtung fortschreiten, bei der sich die Entropie
des Systems erhöht. (Ebd., S. 11).Nun liegt aber bei
dem weiter oben beschriebenen Bénard-Experiment kein abgeschlossenes System
vor, sondern die Versuchsanordnung bestand ja gerade darin, dem Gefaß von
unten Wärme zuzuführen und gleichzeitig seine Oberseite abzukühlen.
Wir haben es hier also mit einem Problem der Nichtgleichgewichtsthermodynamik
zu tun. Die Energiedifferenz zwischen den beiden Gefäßhälften
wird in diesem Zusammenhang als Wärme- beziehungsweise allgemeiner als Energiegradient
bezeichnet. (Ebd., S. 11).Besteht etwa an einem auf Meereshöhe
liegenden Ort ein Luftdruck von 1030 Hektopascal. (mbar) und an einem anderen,
gleichfalls auf Meereshöhe befindlichen Ort zur seIben Zeit ein Luftdruck
von 970 Hektopascal, dann bezeichnet man die Druckdifferenz (60 Hektopascal),
dividiert durch die Distanz zwischen beiden Orten, als den Druckgradienten. Unter
den genannten Verhältnissen wird dann ein Wind, dessen Stärke von der
Höhe des Druckgradienten abhängt, vom Hochdruckgebiet zum Tiefdruckgebiet
fließen, um auf diese Weise einen Luftdruckausgleich zwischen beiden Orten
zu bewirken. (Ebd., S. 11-12).Zur Erklärung des Bénard-Effektes
und generell der Entstehung dissipativer Strukturen wurde die folgende Verallgemeinerung
des 2.
Hauptsatz der Thermodynamikk vorgeschlagen, die auch für Nichtgleichgewichtssysteme
gelten würde:»Sobald
man Systeme aus dem Gleichgewicht bringt, benutzen sie alle verfügbaren Wege,
um den angelegten Gradienten entgegenzuwirken. Wenn diese zunehmen, nimmt auch
die Fähigkeit des Systems zu, sich einer weiteren Entfernung vom Gleichgewichtszustand
zu widersetzen.« (Eric Schneider / James Kay,
Ordnung aus Unordnung, 1997, S. 188). | Der Grundgedanke
dabei ist, daß ein System gegen die Entfernung aus dem Gleichgewicht Widerstand
leistet. Das Maß, in dem ein System vom Gleichgewichtszustand entfernt wurde,
wird anhand der Gradienten (siehe das obige Beispiel aus der Meteorologie) abgeschätzt,
die an das System angelegt wurden. (Ebd., S. 12).Gemäß
dieser Vorstellung soll sich der Widerstand des Systems, aus dem thermodynamischen
Gleichgewicht gebracht zu werden, insbesondere in der Fähigkeit zur Herausbildung
selbstorganisierender Vorgänge (und damit dissipativer Strukturen) ausdrücken:»Thermodynamische
Systeme im Temperatur-, Druck- und chemischen Gleichgewicht leisten einer Entfernung
vom Gleichgewichtszustand Widerstand. Wenn die Systeme aus ihrem Gleichgewichtszustand
entfernt werden, verändern sie ihren Zustand auf eine Weise, daß sie
sich dem angelegten Gradienten entgegenstellen und versuchen, sich zum Gleichgewicht
als Anziehungspunkt zurückzubewegen. Je stärker der angelegte Gradient,
desto größer ist die Anziehungskraft des Gleichgewichtszustandes auf
das System. Je weiter ein System vom Gleichgewicht entfernt wurde, desto ausgefeilter
sind seine Mechanismen, um der Entfernung aus dem Gleichgewicht Widerstand zu
leisten. Wenn es die dynamischen und/oder kinetischen Bedingungen zulassen, treten
selbstorganisierende Vorgänge auf, die den Gradientenausgleich begünstigen.
.... So ist das Auftreten kohärenter selbstorganisierender Strukturen nicht
länger eine Überraschung, sondern vielmehr eine zu erwartende Antwort
eines Systems, denn es versucht, von außen angelegten Gradienten, die das
System aus den Gleichgewicht entfernen würden, Widerstand entgegenzusetzen
und sie auszugleichen. Folglich haben wir es bei der Bildung dissipativer Strukturen
mit Ordnung, die aus Unordnung entsteht, zu tun.« (Eric Schneider / James
Kay, Ordnung aus Unordnung, 1997, S. 188). | Der
Grundgedanke dabei ist, daß ein System gegen die Entfernung aus dem Gleichgewicht
Widerstand leistet. Das Maß, in dem ein System vom Gleichgewichtszustand
entfernt wurde, wird anhand der Gradienten (siehe das obige Beispiel aus der Meteorologie)
abgeschätzt, die an das System angelegt wurden. (Ebd., S. 12-13).Um
das Problem der Bildung von Ordnung aus Unordnung bei der Entstehung und Evolution
des Lebens ging es aber auch schon Ernst Schrödinger in dessen Buch Was
ist Leben?. Einige Wissenschaftler sind nun der Auffassung, die sich
unter bestimmten Verhältnissen im thermodynamischen Ungleichgewicht herausbildenden
dissipativen Strukturen lieferten die Antwort auf das genannte Ordnungsproblem,
immerhin führt ja die Sonne der Erde beständig Energie von außen
zu, ganz ähnlich wie dies im Bénard-Experiment durch das Erhitzen
der Unterseite eines energiehaltigen Behälters geschieht. Entsprechend folgern
sie:»Leben
existiert auf der Erde als ein weiteres Mittel, um den sonneninduzierten Gradienten
auszugleichen .... Lebende Systeme als dissipative Systeme fernab vom Gleichgewicht
haben ein großes Potenzlal, Strahlungsgradienten auf der Erde zu vermindern
....Der Ursprung
des Lebens ist die Entwicklung einer weiteren Route für den Ausgleich induzierter
Energiegradienten. Leben leistet Gewähr dafür, daß diese Ausgleichsvorgänge
weiter bestehen. Es hat Strategien entwickelt, diese dissipativen Strukturen trotz
einer sich ständig ändernden physikalischen Umgebung aufrechtzuerhalten.Biologisches
Wachstum findet statt, wenn im System noch mehr gleichartige Wege hinzugefügt
werden, angelegte Gradienten abzuflachen. Biologische Entwicklung findet dagegen
statt, wenn neue Wege im System auftauchen. Dieses Prinzip stellt ein Kriterium
für die Bewertung von Wachstum und Entwicklung lebender Systeme dar.Je
mehr Exergie zur Verteilung unter den Spezies zur Verfügung steht, desto
mehr Wege gibt es, um die Energie zu nutzen. Die Stufen der Nahrungsketten (Trophieebenen)
und die Nahrungsketten selbst bauen auf Stoffen auf, die durch die Photosynthese
fixiert wurden. In den Nahrungsketten werden diese Gradienten weiter ausgeglichen,
indem Strukturen höherer Ordnung gebildet werden. .... Die Artenvielfalt
und die Zahl der Trophieebenen sind am Äquator besonders hoch, wo fünf
Sechstel der Sonneneinstrahlung auf der Erde eintreffen. Hier ist ein größerer
Gradient zu vermindern.« (Eric Schneider / James Kay, Ordnung aus Unordnung,
1997, S. 190f.). | Ein Beleg für die Richtigkeit
der These soll sich aus den Oberflächentemperaturen von Ökosystemen
ergeben:»Wenn
mehrere Ökosysteme jeweils derselben Menge Energie ausgesetzt sind; so erwarten
wir, daß das ausgereifteste Ökosystem seine Energie mit dem niedrigsten
Exergiegehalt zurückstrahlt.« (Eric Schneider / James Kay, Ordnung
aus Unordnung, 1997, S. 192). | Untersuchungen an
verschiedenen Ökosystemen konnten die Prognose bestätigen. Auf dieser
Grundlage wird dann das folgende Fazit gezogen:»Man
versteht heute das Auftreten organisierten Verhaltens - das Wesen des Lebens -
durchaus so, daß es von der Thermodynamik vorhergesagt wird. Sobald Energie
höherer Qualität in ein Ökosystem hineingepumpt wird, entsteht
eine stärkere Organisation, um die Energie zu nutzen. Demnach haben wir Ordnung,
die aus Unordnung entsteht, allerdings im Dienst der Erzeugung von noch mehr Unordnung.«
(Eric Schneider / James Kay, Ordnung aus Unordnung, 1997, S. 193). | Ganz
ähnlich äußern sich diesbezüglich auch andere Autoren. Allerdings
lassen sich gegen die Vorstellung, beim Leben handele es sich um dissipative Strukturen,
die sich ausbilden, um energetischen Ungleichgewichten innerhalb von Systemen
außerhalb des thermodynamischen Gleichgewichts entgegenzuwirken, einige
Einwände vorbringen: | Der
im Bénard-Experiment beobachtete ordnende Materietransport ist zwar auch
für Wirbelstürme charakteristisch, findet aber bei Lebewesen eben gerade
nicht statt. | | Auch
in den Weltmeeren existiert eine umfangreicbe Artenvielfalt. Mehrheitlich wird
heute sogar angenommen, das erste Leben sei im Meer entstanden. Dies dürfte
sich aber kaum über den genannten Wirkmechanismus begründen lassen. | | Die
Theorie kann nicht erklären, warum Menschen fossile Brennstoffe verwenden
und Atomkraftwerke besitzen, und warum sie sich etwa zusätzlich darum bemühen,
mit den Fusionsreaktoren auch noch das Feuer der Sonne auf die Erde zu holen,
beziehungsweise, warum sie generell danach streben, den Energiezustrom zur Erde
nicht einfach nur zu nutzen (beziehungsweise den Energiegradienten abzuflachen),
sondern sogar noch deutlich zu steigern. | | Von
einem sehr allgemeinen, theoretischen Standpunkt aus betrachtet, könne man
auch menschliche Städte als entwickelte Ökosysteme betrachten. Deren
Oberflächentemperatur ist aber meist sogar deutlich höher als die sie
umgebende unbelebte Natur. | | Der
Mensch scheint mit seinem Tun mittlerweile einen globalen Temperaturanstieg bewirkt
zu haben. Dies dürfte sich aber kaum mit der thermodynamischen Theorie der
dissipativen Strukturen in Einklang bringen lassen. | Ferner: | Die
Theorie trägt wenig zur Klärung der Frage bei, worin sich ein lebendes
System von unbelebter Materie unterscheidet. Aus der Sicht der Thermodynamik ließe
sich vermutlich kein signifikanter Unterschied zwischen Wirbelstürmen, Ameisennestern
und einzelnen Ameisen ausmachen. Im allgemeinen würde man aber nur letztere
als Lebewesen bezeichnen. | Um nicht mißverstanden
zu werden: Ich möchte mit dem Gesagten keinesfalls infrage stellen, daß
ein selbstorganisatorischer Prozeß wie der des Lebens nur unter den Bedingungen
des thermodynamischen Nichtgleichgewichts entstehen kann. (Ebd., S. 13-15).Wir
können insgesamt festhalten: Die Theorie, Leben sei eine dissipative Struktur,
bestätigt wesentliche Ergebnisse des vorherigen Abschnittes (**),
nämlich daß die Evolution des Lebens mit einer zunehmenden Nutzung
von Energie und einer generellen Steigerung der Energieeffizienz einhergegangen
ist und vermutlich auch weiter einhergehen wird:»Biologische
Systeme entwickeln sich, damit sie ihre Energiedegrationsrate erhöhen; biologisches
Wachstum, die Ausbildung von Ökosystemen und die Evolution stellen die Entwicklung
neuer Ausgleichswege dar. Mit anderen Worten: Ökosysteme entwickeln sich
so, daß die Menge an Exergie, die sie erlangen und degradieren, sich beständig
erhöht. Folglich verringert sich die Exergie der abgegebenen Energie, während
sich Ökosysteme entwickeln. Mit der Formulierung Ökosysteme entwickeln
sehr viel Leistung ist also gemeint, daß sie die Exergie in der eintreffenden
Energie möglichst effektiv nutzen, während sie gleichzeitig die gewonnene
Energiemenge erhöhen.« (Eric Schneider / James Kay, Ordnung aus
Unordnung, 1997, S. 191f.). |
Das Leben selbst dürfte sich dagegen mittels einer solch eingeschränkten
thermodynamischen Sicht kaum erklären lassen. (Ebd., S.
15).
1.3) Leben und Fortpflanzung
Eine allgemeinverbindliche Definition
des Begriffes Leben existiert nicht. Was Leben ist, was sein Wesen ausmacht,
ist letztendlich auch für die Wissenschaften eine offene und vieldiskutierte
Frage. (Vgl. Abschnitt Was
ist Leben?). Üblicherweise wird aber angenommen, daß eine Entität
mindestens die folgenden Eigenschaften besitzen muß, um ein Lebewesen zu
sein: | Selbstregulierung
(Homöostase).Selbstregulierung
bezeichnet die Fähigkeit, sich mittels Rückkopplung selbst innerhalb
gewisser Grenzen in einem stabilen Zustand zu halten. | | Stoffwechsel
(Metabolismus).Lebewesen
sind entropiearme Systeme hoher Ordnung. Mit anderen Worten: Sie halten Energie
konzentriert vor. (Was sie für natürliche Feinde so interessant macht).
Damit dieser unwahrscheinliche Zustand aufrechterhalten werden kann, ist eine
ständige Zufuhr von Energie (Erwin Schrödinger spricht in diesem Zusammenhang
von einer Zufuhr von »negativer Entropie«; vgl. ebd, Was ist Leben
?, 1948, S. 124f.) bei gleichzeitiger Abgabe (Export) von Entropie
(Entropie ist ein Maß für die energetische Unordnung eines Systems)
erforderlich. Dies geschieht über den Stoffwechsel.Tiere
nehmen energiereiche Nährstoffe wie Fett oder Glukose auf und bauen sie in
energiearme Verbindungen wie Wasser und Kohlendioxid ab. Dabei wird sehr viel
Energie freigesetzt, welche zur Aufrechterhaltung des entropiearmen Zustandes
im Inneren des Lebewesens eingesetzt werden kann.Übersteigt
die innere Entropie des Lebewesens einen bestimmten Maximalwert, stirbt es. Sofort
nach dem Tod zerfällt es, und die Entropie strebt einem Maximum zu.Vereinfacht
könnte man sagen: Lebewesen erhalten ihre innere Ordnung auf Kosten einer
zunehmenden Unordnung in ihrer Umgebung. Je mehr Energie ein Lebewesen verbraucht,
desto mehr Unordnung schafft es. In Deutschland benötigt jeder Bürger
im Durchschnitt die 60-fache Energiemenge eines steinzeitlich lebenden Jägers.Eine
Sonderstellung nehmen in ieser Hinsicht die Viren ein: »Die einfachsten
biologischen Objekte, die wir kennen, sind Viren. Diese erfüllen, da sie
keinen autonomen Stoffwechsel besitzen, die Kriterien eines lebenden Systems nur
innerhalb ihrer Wirtszelle. Außerhalb ihrer Wirtszelle verhalten sie sich
dagegen ganz wie unbelebte Kristallstrukturen. Die Viren nehmen damit eine typische
zwitterstellung unter belebten und unbelebten Systemen ein, so daß die Vermutung
nahe liegt, daß der Übergang vom Unbelebten zum Belebten fließend
ist.« (Bernd-Olaf Küppers, Der Ursprung biologischer Information,
1990, S. 199).In dem im
Abschnitt Was
ist Leben? vorgestellten Ansatz zur Charakterisierung lebender Systeme
wird das Kriterium Metabolismus durch das allgemeinere Kriterium Selbsterhaltungsinteresse
ersetzt: Lebewesen »wollen« sich selbsterhalten. Ob sie dies mithilfe
eines autonomen Stoffwechsels tun oder auf ganz andere Weise, spielt dabei keine
Rolle. | | Fähigkeit
zur Selbstreproduktion (Fortpflanzung beziehungsweise Selbstreplikation).Präziser
müßte es heißen: Ein Lebewesen ist durch Selbstreproduktion aus
anderen Lebewesen hervorgegangen. Beschränkte man sich bei der Lebewesendefinition
stattdessen auf die Fortpflnazungsfähigkeit, wäre etwa ein biologisch
unfruchtbares Individuum kein Lebewesen. Dies entspräche jedoch nicht den
üblichen Vorstellungen von Leben.In
dem im Abschnitt Was
ist Leben? vorgestellten Ansatz zur Charakterisierung lebender Systeme
wird das Kriterium Fähigkeit zur Selbstproduktion durch das allgemeinere
Kriterium Reproduktionsinteresse ersetzt: Lebewesen »wollen«
sich fortpflanzen (gegebenenfalls indirekt, zum Beispiel im Rahmen der Verwandtenselekion).
Ein Reproduktionsinteresse besitzen aber sowohl Männchen wie Weibchen. Bei
den Männchen ist dies oftmals sogar deutlich stärker ausgeprägt
als beim anderen Geschlecht. | Ein Hurrikan ist also kein
Lebewesen, denn ihm fehlt allein schon die Fortpflanzung. (Ebd., S. 16-18).Die
meisten Lebewesen pflanzen sich geschlechtlich fort. Konkret heißt das:
Es gibt zwei Geschlechter - Männchen und Weibchen -, die gelegentlich Sex
miteinander haben. Wenn sie dabei erfolgreich waren, wird (üblicherweise)
das Weibchen schwanger, und es trägt dann nach einer mehr oder weniger langen
Zeit (und zwischen den verschiedenen Arten auf sehr unterschiedliche Weise) Nachwuchs
aus. In der Soziobiologie bezeichnet man den Nachwuchs auch als Reproduktionserfolg.
Seit der Erfindung der Pille und anderer sicherer Kontrazeptiva haben Menschen
jedoch in erster Linie Sex, um Spaß miteinander zu haben, nicht aber um
Kinder zu zeugen. Paarungserfolg und Reproduktionserfolg sind deshalb zu unterscheiden.
Hatte ein Mann in seinem Leben viele Sexualpartnerinnen und häufigen Sex,
dann war sein Paarungserfolg entsprechend groß. Entstanden aus diesen sexuellen
Vereinigungen aber keine oder nur sehr wenige Kinder, dann hatte er nur einen
geringen Reproduktionserfolg. Die Unterscheidung zwischen Paarungs- und Reproduktionserfolg
wird in der weiteren Diskussion noch eine wesentliche Rolle spielen. (Ebd.,
S. 18).Die Biologie teilt Lebewesen unter anderem in Arten beziehungsweise
Spezies ein; unsere Art ist der Mensch. Eine Population stellt demgegenüber
eine Gruppe von Individuen (Phänotypen) der gleichen Art dar, die
eine Fortpflanzungsgemeinschaft bilden und in einem einheitlichen Verbreitungsgebiet
leben. Auch wenn es beim Menschen praktisch keine abgeschlossenen Populationen
mehr gibt, könnte man in diesem Sinne dennoch grob vereinfacht sagen: Der
Mensch ist eine biologische Art, die deutsche Bevölkerung dagegen eine menschliche
Population, der einzelne Deutsche ein Individuum. Während ein einzelnes Individuum
im Glücksfall vielleicht hundert oder auch etwas mehr Jahre alt werden kann,
können Arten und Populationen viele Millionen oder im Extremfall gar einige
Milliarden Jahre existieren. Damit das geschehen kann, sind allerdings zwei Dinge
erforderlich: Die Population muß sich stets | ausreichend
fortpflanzen und | | an
die sich ständig verändernde Umwelt rechtzeitig und angemessen anpassen. | Doch
was ist nun eine ausreichende Fortpflanzung? Demographen verwenden dazu den Begriff
der Fertilitätsrate; dies ist die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau.
Damit die deutsche Bevölkerung auf Dauer ungefähr gleich groß
bleibt, müßte sie eine Fertilitätsrate von 2,1 haben (einige Kinder
sterben vor dem Erwachsenenalter oder sind unfruchtbar, deshalb benötigt
man etwas mehr als zwei). Seit vielen Jahren hat Deutschland aber nur eine Fertilitätsrate
von weniger als 1,4. Würde diese Zahl die nächsten 1000 Jahre unverändert
bleiben und würden stets etwa genauso viele Menschen zu- wie auswandern,
dann lebten im Jahr 3000 in Deutschland nur noch 128 Menschen. Würde die
deutsche Fertilitätsrate dagegen die nächsten 1000 Jahre konstant bei
2,3 liegen, dann gäbe es im Jahr 3000 fast 1,7 Milliarden Deutsche. Sich
ausreichend fortzupflanzen scheint also gar nicht so einfach zu sein (**).
(Ebd., S. 19).
Offenbar
besitzen Populationen nur eine sehr rudimentäre Fortpflanzungshomöostase.
So weist Dawkins etwa auf eine fehlende Gruppenselektion hin (vgl. Richard Dawkins,
Das egoistische Gen, 1976). Für moderne, menschliche Gesellschaften
läßt sich aber eine leistungsfähige Fortpflanzungshomöostase
implementeiren (vgl. Peter Mersch, Migräne,
2006, S. 135ff.; Peter Mersch, Hurra,
wir werden Unterschicht!, 2007, S. 207ff. **).
(Ebd.). |
Gemäß
der zweiten Bedingung müssen sich Populationen stets an ihre Umgebung anpassen,
wenn sie auf Dauer existieren wollen. Sollte zum Beispiel eine Löwenpopulation
im Laufe der Zeit immer schneller werden, dann werden die Antilopen aus dem gleichen
Lebensarum mit Gegenmaßnahmen (Anpassungen) reagieren müssen, wollen
sie nicht rsetlos ausgerottet werden. (Ebd., S. 19-20).Die
Frage ist nun: Wie gelingt diese Anpassung an eine sich verändernde Umgebung?
Wie schaffen es Populationen, sich über Millionen von Jahren an sich gleichfalls
verändernde Umweltbedingungen anzupassen? Die Antwort darauf gibt die Evolutionstheorie.
(Ebd., S. 20).
2) Selektionen (S. 21-32)
2.1) Systemtheoretischer Ansatz
Das
vorliegende Buch argumentiert im wesentlichen systemtheoretisch. Im Kapitel Evolution
werde ich sogar die biologische Evolution - und die kulturelle, soziale, wissenschaftliche
und technische gleich mit dazu - aus Systemeigenschaften der beteiligten Individuen
heraus erklären. Dabei werde ich unter anderem zeigen, daß Evolution
nicht etwa deswegem stattfindet, weil die jeweils Tauglichsten überleben,
sondern sich Individuen selbsterhalten und gegebenenfalls auch fortpflanzen (im
Falle der biologischen Evolution) wollen, das heißt, weil sie leben
und überleben wollen. (Ebd., S. 21).Evolution
ist folglich eine Eigenschaft des Lebens selbst. Im Grunde könnte man sagen:
Das Leben muß evolvieren, damit es überleben kann. (Ebd., S.
21).Charles Darwin lehnte sich bei seiner Formulierung des Prinzips
der »natürlichen Selektion« vorstellungsmäßig sehr
stark an die künstliche Zuchtwahl an. So wie Züchter einzelne Tiere
nach bestimmten Kriterien «selektieren«, so würde dies auch die
Natur im Laufe der Evolution tun. Das Kapitel Evolution
wird jedoch zeigen, daß dem nicht so ist. Der Begriff der Selektion wird
im vorliegenden Buch wieder vorrangig so verwendet, wie er auch dem üblichen
Sprachgebrauch entspricht. Selektion ist dementsprechend ein aktiver Vorgang (**),
bei dem aus verschiedenen Optionen eine oder mehrere ausgewählt werden. Ein
Selektionsinteresse steht dagegen für etwas Passives, nämlich dem Wunsch,
als eine von verschiedenen Alternativen gewählt (selektiert) zu werden.
(Ebd., S. 23).
Dies
allein zeigt schon die Problematik des Begriffs der »natürlichen Auslese«.
Die Natur an sich agiert niemals aktiv. (Ebd.). |
In
den folgenden Kapiteln wird noch von weiteren Interessen gesprochen, und zwar
insbesondere von Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen.
Die Lebewesen und Organisationssystemen geht es stets zunächst um den eigenen
Selbsterhalt (Selbsterhaltungsinteresse). Ist dieser dann ausreichend gesichert,
kann an die Reproduktion (bei Lebewesen: Fortpflanzung) gedacht werden (Reproduktionsinteresse).
In beiden Fällen spielen auch die Begriffe Selektion und Selektionsinteresse
eine Rolle. Nähert sich etwa ein Löwe einer Herde Gnus, dann wird er
zunächst ein Tier für seine Jagd selektieren. Der Löwe hat
Hunger, und als Folge seines Selbsterhaltungsinteresses sucht er nach geeigneter
Nahrung. Das ausgewählte Gnu wird dem Löwen gegenüber ein negatives
Selektionsinteresse besitzen, das heißt, es möchte aufkeinen Fall vom
Löwen selektiert und in der Folge dann auch erlegt und verspeist werden,
denn es hat ja ein eigenes natürliches Selbsterhaltungsinteresse. (Ebd.,
S. 23).Etwas komplexer wird die Situation, wenn es um Reproduktionsinteressen
geht. Beispielsweise könnte ein Löwenmännchen ein Weibchen selektieren,
und es - jeglichen Widerstand ignorierend - dann auch schwängern. Das Selektionsinteresse
des Weibchens kann in solchen Situationen negativ, neutral oder auch positiv sein.
(Ebd., S. 24).Daneben hat sich in der Natur die sogenannte sexuelle
Selektion durchgesetzt, auf deren enorme Bedeutung bereits Charles Darwin
hinwies. In diesem Fall entspricht der Begriff Selektion tatsächlich dem
allgemeinen Sprachgebrauch. Bei der sexuellen Selektion zeigen die Männchen
ein Selektionsinteresse an (sie wollen von einem oder mehreren Weibchen erhört
werden). Die eigentliche Selektion erfolgt dann auf Seiten der Weibchen.
(Ebd., S. 24).Kommunikation wird im Rahmen des vorliegenden Buches
stets als eine Interaktion verstanden, die vor allem dem Eigennutz dient, wobei
es insbesondere um die Erfüllung von Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen
geht. Die beiden auf den nächsten Seiten erläuterten Kommunikationsarten
unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht, sehr wohl aber in der Methode, das
angestrebte Ziel zu erreichen. (Ebd., S. 24).
2.2) Dominante Kommunikation
Im folgenden soll eine Kommunikation,
die keine Rücksicht auf die Selektionsinteressen der Kommunikationspartner
nimmt, als dominant bezeichnet werden.Beispiel
1: | |
Ein Löwe erblickt
ein Rudel Gnus und selektiert daraus ein Jungtier als seine mögliche
nächste Mahlzeit. Das Gnu hat gegenüber dem Löwen
ein negatives Selektionsinteresse (es möchte nicht selektiert
werden). Dies interessiert den Löwen aber nicht. Er entscheidet
ausschließlich gemäß seinen eigenen Selbsterhaltungsinteressen. |
Beispiel
2: | | Ein
Gorillamännchen übernimmt nach einer kämpferischen Auseinandersetzung
den Harem eines Rivalen. Die Selektionsinteressen der Weibchen des Harems (egal
ob positiv, negativ oder indifferent) sind für ihn ohne Belang. | Beispiel
3: | | Ein
Steinzeitmann hat seit einiger Zeit ein Auge auf eine Steinzeitfrau geworfen.
Bald erblickt er sie Pilze sammelnd im Wald. Er wirft sie über seine Schulter,
trägt sie in seine Höhle, und in den nächsten 20 Jahren ist sie
ihm eine treusorgende Frau und gebiert ihm 6 Kinder.Wie
schrecklich, werden Sie vielleicht sagen. Oder auch: wie romantisch! Denn immerhin
wäre es ja möglich, daß auch unsere Steinzeitfrau längst
ein Auge auf unseren Steinzeitmann geworfen hatte. Dies spielt aber für unsere
Überlegungen keine Rolle, denn seine Selektion erfolgte ohne Rücksicht
auf ihre Selektionsinteressen, und das ist letztlich entscheidend. | Beispiel
4: | | Eine
junge Frau passiert in recht knapper Kleidung eine Baustelle, woraufhin ihr einige
Bauarbeiter nachpfeifen und schmutzige Dinge zurufen.Das
beschriebene Verhalten der Männer gilt in unserer Gesellschaft allgemein
als unzivilisiert. Wie noch gezeigt wird, liegt das unter anderem an deren fehlender
Rücksichtnahme auf die Selektionsinteressen der jungen Frau. Allerdings würden
die Bauarbeiter vermutlich genau andersherum argumentieren: In ihren Augen signalisiert
die knappe Kleidung der Frau deren generelle Bereitschaft für die Entgegennahme
von Selektionsinteressen. Oder anders gesagt: Sie wollte es ja so.Das
letzte Beispiel macht deutlich, daß in unserer Gesellschaft auch schon das
Anzeigen von Selektionsinteressen als dominantes Verhalten eingestuft werden kann,
und zwar insbesondere dann, wenn nicht davon auszugehen ist, daß der Empfänger
aktuell an solchen Mitteilungen interessiert ist.Niklas
Luhmann hätte an dieser Stelle vermutlich darauf hingewiesen, beide Seiten
befänden sich zum gegebenen Zeitpunkt in unterschiedlichen Systemen mit ihren
jeweils eigenen Sinnzusammenhängen. Beispielsweise könnte sich die junge
Frau gerade auf dem Weg zu einer Party befinden. Dort möchte sie einige jüngere
Männer von sich beeindrucken und hat sich entsprechend zurechtgemacht. Während
der Party ist sie folglich für männliche Selektionsinteressen aufnahmebereit,
auf dem Weg dorthin jedoch nicht.Dies
erklärt für sich allein jedoch noch nicht, wodurch verschiedene Kommunikationsarten
in den jeweiligen Systemen als angemessen erscheinen oder nicht. | Beispiel
5: | | Sie
öffnen auf Ihrem PC Ihren Postkorb. Neben drei E-Mails von Geschäftspartnern
und Freunden finden sie 200 weitere Nachrichten, die Ihnen den Erwerb von Aktien,
Potenzmitteln, hübschen Bildern, Schlankheitspillen, Krediten oder Umschuldungspaketen
nahelegen.Im
Vergleich zur dominanten Selektion des Löwen ist dies sicherlich eine ganz
harmlose Geschichte, denn auf diese Weise signalisieren ihnen andere lediglich
ein Selektionsinteresse: »Bitte wählen Sie unsere Dienstleistungen!«.
Solche Anbieter wollen Sie nicht verspeisen, sondern Ihnen etwas verkaufen. Und
dennoch: Sie rauben Ihnen einen Teil Ihrer Aufmerksamkeit und damit auch Zeit
und Energie, und zwar ganz ohne Ihr Einverständnis. Schon das Signalisieren
von Selektionsinteressen kann also durchaus problematisch sein. | Das
ist in der Natur keineswegs anders. Bereits das sichtbare Auftreten eines Löwenrudels
dürfte eine friedlich an einer Wasserstelle weilende Herde, Gnus oder Zebras
in helle Aufregung versetzen. (Ebd., S. 24-26).
2.3) Gefallen-wollen-Kommunikation
Wie im Kapitel Evolution
noch gezeigt wird, gelang der Natur mit der Einführung der sexuellen Selektion
eine ganz entscheidende Neuerung: Sie erfand den Markt, und damit die sogenannte
Gefallen-wollen-Kommunikation. (Dem entspricht in der Informationstechnologie
die Service-orientierte Architektur (SOA), bei der sich Kompetenzen sichtbar machen,
um von denen genutzt werden zu können, die an ihnen interessiert sind).
(Ebd., S. 27).Denn aufgrund der bei der sexuellen Fortpflanzung
üblicherweise sehr unterschiedlichen potentiellen Fruchtbarkeit von männlich
versus weiblich und der damit verbundenen unterschiedlichen Aufteilung der Elterninvestments
zwischen den Geschlechtern, kam es auf Seiten der Männchen zu einer künstlichen
Ressourcenverknappung bei den Fortpflanzungspartnern. Die Männchen gerieten
hierdurch unter einen erheblichen zusätzlichen Selektionsdruck, und zwar
selbst dann, wenn sich der Lebensraum regelrecht als Schlaraffenland erwies.
(Ebd., S. 27).In der Folge konkurrierten die Männchen um die
»Ressource« Fortpflanzungspartner, während die Weibchen die Wahl
hatten. Bei vielen Arten etablierte sich daraufhin ein Paarungsverhalten, was
vorrangig darin besteht, daß die Männchen den Weibchen zu imponieren
versuchen, und letztere dann bevorzugt jene Exemplare wählen, die ganz besonders
ihren Gefallen finden. Mit anderen Worten, es kristallisierte sich ziemlich genau
das auf modemen Marktplätzen vorherrschende Verhältnis zwischen Verkäufern
(Männchen) und Käufern (Weibchen) heraus. (Ebd., S. 27).Wer
anderen etwas anzubieten hat, muß zunächst um deren Aufmerksamkeit
buhlen, wozu oft ausgesprochen verschwenderische Signale zur Bekundung von Selektionsinteressen
ausgesendet werden. (Ebd., S. 27).Betritt etwa ein potentieller
Käufer ein auf Unterhaltungselektronik spezialisiertes Geschäft, dann
wird er zunächst auf meist recht prachtvolle Weise mit den Angeboten des
Händlers konfrontiert. In allen diesen Fällen handelt. es sich um verbindliche
Selektionsinteressen, die allerdings an Bedingungen (insbesondere Preise) geknüpft
sind. Der Interessent kann sich nun über die Spezifikationen oder andere
Details der Ware informieren und sie sich gegebenenfalls sogar vorführen
lassen. Wenn er sich nicht entscheiden kann, wird er möglicherweise noch
weitere Geschäfte aufsuchen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Mit dem
Betreten des Geschäftes signalisiert der Käufer seine grundsätzliche
Bereitschaft ftir die Entgegennahme von Selektionsinteressen. Mit der Bekanntgabe
seiner Post- oder Emailadresse tut er dies dagegen noch nicht. (Ebd., S.
27-28).Ganz ähnlich verhält es sich bei einer jungen
Frau auf einer Party oder in der Diskothek: Erscheint sie ohne feste männliche
Begleitung, gibt sie indirekt ihr Einverständnis zu verstehen, angesprochen
oder zum Tanzen aufgefordert zu werden. Allerdings ist es ihr überlassen,
entsprechende Angebote anzunehmen oder abzulehnen, ungefähr so wie bei unserem
Käufer . Verläßt sie den Kontext Diskothek, erlischt ihre Bereitschaft
fur die Entgegennahme von Selektionsinteressen. Eine direkte »Anmache«
auf der Straße dürfte dann in der Regel genauso unwillkommen sein,
wie etwa ein ungebetener Telefonanruf eines Staubsaugervertreters nach Feierabend.
(Ebd., S. 28).Mit der sexuellen Selektion setzte sich in der Natur
- und später erst recht in menschlichen Gesellschaften - das sogenannte Hollywood-Prinzip
durch: »Don't call us, we'll call you!« Oder anders gesagt: »Bitte
stören Sie uns nicht ungefragt mit Ihren Selektionsinteressen. Wenn wir etwas
von Ihnen wollen, dann werden wir uns bei Ihnen schon melden. Oder auch nicht.«
Der Ablauf einer auf diesem Prinzip basierenden Kommunikation kann wie folgt beschrieben
werden: | Der
Empfänger (Ego, Kunde, Weibchen) signalisiert seine Bereitschaft für
die Entgegennahme von Selektionsinteressen. | | Verschiedene
Sender (Alter, Anbieter, Männchen) übermitteln ihre Selektionsinteressen
an Ego. | | Ego
entscheidet sich für einen Anbieter. | Im ersten
Schritt betritt der Empfänger (Ego, Kunde, Weibchen) also zunächst einen
bestimmten Kontext, der in der Folge dann eine sinnhafte Gefallen-wollen-Kommunikation
ermöglicht. Der Kontext kann durch diverse Parameter festgelegt sein, zum
Beispiel: | Wer
darf ein Selektionsinteresse äußern?Jeder,
oder nur Personen mit bestimmten Eigenschaften, Zulassungen (zum Beispiel Börsenhändler)
u.s.w.. | | Wo
darf ein Selektionsinteresse geäußert werden?Werbung,
Börse, Einkaufsstraße, Geschäft, u.s.w. | | Wie
ist ein Selektionsinteresse zu äußern?Mit
verbindlicher Preisangabe, schriftlich u.s.w.. | | Wann
darf ein Selektionsinteresse geäußert werden?Zu
den Ladenöffnungszeiten, Börsenzeiten u.s.w.. | | Wem
gegenüber darf ein Selektionsinteresse geäußert werden?Kunden,
Börsenhändlern u.s.w.. | | Für
was darf ein Selektionsinteresse geäußert werden (Sinnzusammenhang)?
Aktien, Angebot von Waren und Dienstleistungen, Sex u.s.w.. |
Im Grunde geht es hier um Fragen, die in der Luhmannschen Systemtheorie
in Bezug auf den Sinnzusammenhang oder in der Diskurs-Theorie Michel Foucaults
gestellt werden:
Wer darf in wessen
Namen und mit welchen Folgen was wie zu wem sagen? So schlicht und
so konkret lautet die Leitfrage der Diskurstheorie Michel Foucaults
(1926-1984).« (Jochen Hörisch, Theorie-Apotheke,
2005, S. 83). |
Der
obige Kommunikations-Ablauf kann nun auf Basis unserer Ausführungen zum Kommunikations-Kontext
wie folgt vereinfacht dargestellt werden: | Betreten
des Kontextes. | | Äußerung
von Selektionsinteressen. | | Selektion. |
Der in diesem Abschnitt beschriebene Kommunikationsstil ist primär
auf die individualistischen Interessen von »Ego« (des Kunden)
ausgelegt. Weil »Alter« dabei »Ego« überzeugen
und gefallen will, soll dieser Stil im folgenden Gefallen-wollen-Kommunikation
genannt werden. Im Laufe des vorliegenden Buches wird gezeigt, daß
die sukzessive Durchsetzung dieser Kornmunikationsweise in der sozialen
Interaktion maßgeblich für Prozesse wie technische Evolution,
Zivilisation, Individualisierung, aber eben auch Umweltverschmutzung und
Verschwendung verantwortlich sein dürfte. (Ebd., S. 29).
Es
läßt sich durchaus argumentieren, daß sich bei hohen Bevölkerungsdichten
ein genereller Trend zur Gefallen-wollen-Kommunikation im Vergleich zur dominanten
Kommunikationsweise herauskristallisieren wird, denn erstere dürfte mit viel
geringeren gesellschaftlichen Reibungsverlusten verbunden sein. (Ebd., S.
29-30).Im Abschnitt Systemische
Evolutionstheorie und Selektionen wird noch auf eine weitere wesentliche
Funktion der Gefallen-wollen-Kommunikation hingewiesen, der auch im Rahmen des
vorliegenden Buches eine herausragende Bedeutung zukommt: Sie erzeugt evolutive
Infrastrukturen, das heißt, Populationen und ihre dazugehörigen selektiven
primären Umwelten. Einmal auf den Weg gebracht, entwickelt sich dann in ihnen
alles gemäß den Prinzipien der noch darzustellenden Systemischen Evolutionstheorie
(siehe Abschnitt Systemische
Evolutionstheorie). (Ebd., S. 30).
Im Grunde genommen hat sich die Natur mit der
Erfindung der sexuellen Selektion beziehungsweise der Gefallen-wollen-Kommunikation
ein wenig aus sich selbst herausgelöst. Ging es bei der Evolution
des Lebens zunächst noch vorrangig um die optimale Anpassung an ein
Milieu und den möglichst effizienten dominanten Zugriff auf die Ressourcen
beziehungsweise das Überleben der Tauglichsten innerhalb einer wilden
Natur, so steht nun die Adaption an den Geschmack und die Bedürfnisse
einer Schar an Abnehmern (Selektierern) im Vordergrund (**).
Und deren Bedürfnisse sind alles andere als statisch: Mit viel Geschick
können sie geweckt oder vielleicht sogar ganz neu erzeugt werden.
Die Gefallen-wollen-Kommunikation war folglich die Voraussetzung dafür,
daß sich der Mensch die Erde untertan machen und seine eigene Welt
schaffen konnte. (Ebd., S. 30).
In diesem Zusammenhang
wird dann auch von einer »intraspezifischen Selektion«
gesprochen, da es nun vorrangig um den Wettbewerb innerhalb einer
Population (allgemein: zwischen verschiedenen Anbietern, in der Natur
meist: unter den Männchen) geht. (Ebd.). |
Und damit bin ich bei einem ganz entscheidenden
Punkt: Die Evolution läßt nicht nur Arten entstehen, sondern
auch (artenübergreifende) Kommunikationsweisen (**),
Selektionsmechanismen und Verhaltensmuster (zum Beispiel Egoismus, Kooperation,
Altruismus). So dürfte beispielsweise die Sexualität und hierbei
insbesondere das der sexuellen Selektion innewohnende Interaktionsmuster
der Gefallen-wollen-Kommunikation maßgeblich verantwortlich gewesen
sein für viele spätere evolutionäre Entwicklungen. Anders
gesagt: Ohne Sexualität, Getrenntgeschlechtlichkeit und Gefallen-wollen-Kommunikation
hätten Kultur, Altruismus, Zivilisation, Höflichkeit, Demokratie,
Marktwirtschaft, Werbung, Kunst, Wissenschaft und Technologie nicht entstehen
können. Die Welt wäre dann beim Fressen und Gefressen werden
geblieben (**). (Ebd.,
S. 30-31).
Es ist durchaus denkbar,
daß in der Natur längst weitere Kommunikationsweisen existieren,
die wir aber weder wahrnehmen noch uns mit unseren Gehirnen vorstellen
können. Auch könnten sich solche Interaktionsmuster erst
noch in einer viel späteren erdgeschichtlichen Ära herausbilden.
(Ebd.). |
Simone
de Beauvoir behauptete, »daß der eigentliche Sinn der Unterteilung
der Arten in zwei Geschlechter nicht klar« sei. (Vgl. ebd., Das andere
Geschlecht, S. 28). Der Sinn der Getrenntgeschlechtlichkeit ergibt sich aber
erst, wenn man Sexualität unter kommunikativen Gesichtspunkten betrachtet.
(Ebd.). |
Konrad Lorenz
stuft die durch die Gefallen-wollen-Kommunikation (intraspezifische Selektion)
bewirkten Selbstläufer- und Rückkopplungsprozesse dagegen als ausgesprochen
schädlich ein:»Ein
spezieller Fall positiver Rückkopplung tritt dann ein, wenn Individuen derselben
Art miteinander in einen Wettbewerb treten, der durch Selektion einen Einfluß
auf ihre Entwicklung ausübt. Im Gegensatz zu der von außerartlichen
Umweltfaktoren verursachten, bewirkt die intraspezifische Selektion Veränderungen
im Erbgut der betreffenden Art, die ihre Überlebensaussichten nicht nur nicht
vermehren, sondern ihnen in den meisten Fällen deutlich abträglich sind.Der
Wettbewerb des Menschen mit dem Menschen wirkt, wie kein biologischer Faktor es
vor ihm je getan hat, der ewig regen, der heilsam schaffenden Gewalt
direkt entgegen und zerstört so ziemlich alle Werte, die sie schuf: mit kalter
Teufelsfaust, deren Tun ausschließlich von wertblinden, kommerziellen Erwägungen
bestimmt ist.Was
für die Menschheit als Ganzes, ja selbst, was für den Einzelmenschen
gut und nützlich ist, wurde unter dem Druck zwischenmenschlichen Wettbewerbs
bereits völlig vergessen. Als Wert wird von der erdrückenden Mehrzahl
der heute lebenden Menschen nur mehr das empfunden, was in der mitleidslosen Konkurrenz
erfolgreich und geeignet ist, den Mitmenschen zu überflügeln.«
(Konrad Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 1973,
S. 32f.). | Dazu ist jedoch das Folgende anzumerken: | Wie
im Kapitel Evolution
noch gezeigt wird, ist die intraspezifische Selektion - die Konkurrenz zwischen
den Individuen innerhalb einer Art - eine zwangsläufige Begleiterscheinung
der sexuellen Fortpflanzung im Tierreich (**).
Sie mag - wie Konrad Lorenz behauptet - die Überlebensaussichten einzelner
Individuen mindern, für den Fortbestand einer biologischen Art dürfte
sie aber eher günstig sein, sonst könnte sie sich nicht auf solch dominante
Weise in der Natur durchgesetzt haben. | | In
vielen Populationen wird Evolution ganz entscheidend durch das Interesse von Individuen,
sich selbst und die eigenen Kompetenzen beziehungsweise Adaptionen in Relation
zur restlichen Population zu erhalten, bewirkt. Die jeweiligen Eigeninteressen
der Individuen führen dann ganz automatisch zu einem intraspezifischen Wettbewerb. | | Die
Evolutionsbiologie nimmt heute mehrheitlich an, daß die natürliche
Auslese das Resultat der Konkurrenz zwischen den Individuen einer Population um
begrenzte Ressourcen ist, daß sie also das Resultat einerintraspezifischen
Selektion ist. | | In
modernen Gesellschaften konkurrieren weniger die Menschen untereinander, um sich
gegenseitig zu überflügeln, sondern in erster Linie die Organisationssysteme
(Unternehmen, Konzerne u.s.w.), bei denen es sich um neuartige biologische Phänomene
und Systeme einer bislang unbekannten Größenordnung handelt, und in
denen Menschen praktisch nur noch die Rolle einzelner Zellen wahrnehmen. Wie ich
noch zeigen werde, hat der Mensch auf den intraspezifischen Wettbewerb der Organisationen
nur einen sehr begrenzten Einfluß. Konrad Lorenz verkennt, daß für
viele ungünstige Entwicklungen auf diesem Planeten längst nicht mehr
der Mensch an sich verantwortlich ist, sondern die Organisationssysteme, die sich
seiner bedienen. | In den folgenden Kapiteln sollen
nun die Grundlagen dieser Aussagen erarbeitet werden. Dabei stehen zunächst
Konzepte der Systemtheorie im Vordergrund. Darauf aufbauend wird dann ein »Systemische
Evolutionstheorie« genannter Mechanismus beschrieben, der die Selbsterhaltungs-
und Reproduktionsinteressen von Individuen zur eigentlichen Triebfeder
evolutiver Prozesse erklärt, und der vollständig ohne die bekannten
Darwinschen Konzepte des Kampfs ums Dasein, des Überlebens der
Tauglichsten und der natürlichen Auslese (Survival of the Fittest)
auskommt. Eine Kernaussage wird sein: Evolution findet statt, weil biologische
Phänomene existieren, die sich selbsterhalten und reproduzieren »wollen«.
(Ebd., S. 32-32).
Strenggenommen
ist sie sogar eine direkte Folge der Ausbildung von Intelligenzfunktionen in der
Natur, denn damit werden Individuen lernfähig und könnten dann gegebenenfalls
- im Wettbewerb um die Fortpflanzung - eine bisherige Unterlegenheit anderen gegentiber
in eine Überlegenheit wandeln. (Ebd.). |
3) Systeme (S. 33-73)
Im
Abschnitt Systemische
Evolutionstheorie wird dargelegt, daß nur Populationen, deren Individuen
autonome Systeme mit eigenständigen Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen
sind, aus sich selbst heraus evolvieren können, das heißt, nur solche
Populationen können sich fortlaufend weiterentwickeln, ohne auf den Eingriff
eines externen Schöpfers angewiesen zu sein. Im Klartext heißt das:
Äpfel, Nasen, Ohren, Gene, Meme, wissenschaftliche Theorien, Hypothesen,
Entscheidungen, Computersysteme, Software, Mobiltelefone u.s.w. können nicht
eigendynamisch evolvieren. Apfelbäume, Menschen, Gesellschaften und Unternehmen
dagegen sehr wohl. Dies ist vermutlich der entscheidende Paradigmenwechsel des
vorliegenden Buches. Denken Sie an Dinge, die Sie für selbständig halten,
die eine eigen Identität besitzen und sich selbsterhalten und erneuern wollen.
Nur um solche Objekte geht es im folgenden. (Ebd., S. 33).Systemtheorien
verfolgen meist einen strukturfunktionalen Ansatz. Dabei wird ein System als eine
sich in Elemente untergliedernde und eine bestimmte Struktur anweisende Einheit
verstanden. Die Funktionen sind der Struktur nachgelagert, da sie primär
deren Bestand sichern sollen. (Ebd., S. 33).Niklas Luhmann
definiert Systeme dagegen über deren Operationen. Für ihn ist nicht
die Systemstruktur entscheidend, sondern das Verhältnis zwischen einzelnen
Systemen und deren Funktionen. In seiner Systemtheorie ist folglich die Struktur
der Funktion nachgelagert, weswegen er den Begriff der funktional-strukturellen
Systemtheorie prägte. Während also in strukturfunktionalen Ansätzen
Systeme bereits Strukturen besitzen, geht Luhmann von der Annahme aus, das sich
soziale Systeme erst durch menschliche Kommunikation bilden. (Ebd., S. 33-34).
Im Grunde handelt es sich bei dieser Auseinandersetzung jedoch
um eine Henne-Ei-Problematik, die für die weiteren Ausführungen
des vorliegenden Buches ohne Relevanz sind. (Ebd., S. 33).
3.2) Leben als Prozeß des Erkennens
Was hat ein Tier,
was ein Sonnensystem nicht hat? (Ebd., S. 34).Vor etwa 65
Millionen Jahren schlug ein Meteor auf die Erde ein, der die Lebensgrundlage vieler
biologischer Arten - darunter auch die Dinosaurier - zerstörte. Vereinfacht
ausgedrückt könnte man sagen: Die Erde ließ das Ereignis passiv
über sich ergehen (**). Wäre
der Meteor knapp an ihr vorbeigeflogen, dann hätte sie das genauso unbeteiligt
hingenommen wie den damaligen Einschlag (**).
(Ebd., S. 34-35).
Wie
im Abschnitt Was
ist Leben? noch dargelegt wird, unterliegt jede Materie dem Impulserhaltungssatz:
Unbelebte Materie kann ihre Geschwindigkeit und Richtung nur ändern, wenn
sie von außen einen Impuls erhält. Lebewesen scheinen dies aber aus
sich heraus tun zu können. Man könnte regelrecht meinen, sie würden
dabei durch einen inneren »Lebensimpuls« angestoßen. (Ebd.). |
Sollten
sich die technischen Kompetenzen der Menschheit noch deutlich verbessern, dann
könnte sie irgendwann einmal in der Lage sein, einen ähnlichen Aufschlag
eines Meteors noch rechtzeitig zu verhindern, zum Beispiel, indem sie ihn vorher
aus seiner Bahn drängt. In diesem Fall könnte man die Erde als Gesamtsystem
schon fast als ein lebendes System auffassen. (Ebd.). |
Doch
nun werfen Sie einmal einen Stein in Richtung eines etwa zehn Meter vor Ihnen
hockendes Kaninchen und schauen Sie, was passiert.: Das Kaninchen wird versuchen,
Ihrem Stein aktiv auszuweichen. (Ebd., S. 35).
Leben scheint also vor allem etwas mit der Fähigkeit zu tun
zu haben, sich selbst als Subjekt gegenüber einer sich davon
abgrenzenden Umwelt (Objekt) zu erleben. Wir haben es in diesem
Falle nicht einfach nur mit einer System-Umwelt-Differenz zu tun,
sonder mit einem System, welches die Differenz erkennen beziehungsweise
definieren kann und hierdurch in die Lage versetzt wird, sich als Subjekt
aktiv selbstzuerhalten. Zum Leben kann insbesondere auch die Fähigkeit
gehören, sich selbst zu beobachten, das heißt, zu operieren
und zu beobachten, dasß man operiert (vgl. Margot Berghaus, Luhmann
leicht gemacht, 2003). (Ebd., S. 35).
Adolf Heschl faßt den Sachverhalt wie folgt zusammen:
»Sowohl die
Erhaltung wie auch die Weitergabe der eigenen physischen Struktur
- gemeit ist damit die Summe aller Lebensprozesse eines Lebewesens
- setzt ... eine Eigenschaft voraus, die sich als tatsächlich
neuartig in der Geschichte des Kosmos erweist: das Entstehen von
Information oder, anders formuliert, das aktive Wissen um das Wie
der Erhaltung der eigenen Existenz. Allein diese Eigenschaft kann
mit guten Gründen als das ganz besondere Novum des Phänomens
Leben angegeben werden, da sie in integrativer Weise alle anderen,
klar untergeordneten Eigenschaften mit umfaßt. Dies bedeutet,
daß erst so etwas wie ein materialistisches Wissen um die
eigene Existenz und deren Beziehungen zu einer ebenfalls erst entstehenden
Umwelt das Wesen von Leben ausmacht. Mit der Entstehung eines lebenden
Systems als erstes erkennendes Subjekt wird also gleichzeitig
auch das Objekt, das heißt also eine bestimmte
Umwelt, geschaffen und damit eine der vielleicht erstaunlichsten
Beziehungenl im Rahmen der gesamten kosmischen Entwicklung. War
zuvor nur ein identitätsloses und vollkommen passives Miterleiden
physikalische, Ausgleichsprozesse möglich, so zum Beispiel
wenn ein Stein einen Abhang hinunterkollerte, so ergibt sich nun
plötzlich die vollkommen neuartige Befähigung zum aktiven
Sein vor dem Hintergrund einer ebenso plötzlich wie durch ein
Wunder aus dem Nichts entstehenden Außenwelt.« (Adolf
Heschl, Das intelligente Genom, 1998, S. 55f.). |
Darauf aufbauend schließt Adolf Heschl, daß der Prozeß,
sich als Subjekt zu erleben, aktiv zu erhalten und gegenüber einer
objekthaften Umwelt abzugrenzen, generell mit dem Prozeß der Erkenntnis
gleichgesetzt werden kann:
»Der Prozeß
des Lebens kann nur als identisch mit dem Prozeß der Erkenntnis
richtig verstanden werden oder für den, der es kurz und bündig
liebt: L = E.« (Adolf Heschl, Das intelligente Genom,
1998, S. 61). |
Zusammenfassend können wir festhalten:
|
Lebewesen sind Systeme,
die sich gegenüber ihrer Umwelt als Subjekt wahrnehmen und
abgrenzen und in diesem Sinne eine Identität besitzen. |
|
Lebewesen wollen sich
aktiv selbsterhalten. |
Systeme mit diesen Eigenschaften werden im Laufe des Buches selbsterhaltende
Systeme genannt (siehe Abschnitt Selbsterhaltende
Systeme). Allerdings dürften die aufgeführten
Eigenschaften für sich allein noch nicht hinreichend sein, um Systeme
tatsächlich als Lebewesen zu charakter sieren, denn selbst Unternehmen
können mit den gleichen Merkmale aufwarten. Beispielsweise besitzt
Nokia ebenfalls eine eigene ldentität, grenzt sich gegenüber
seiner Umwelt und insbesondere seinen Konkurrente ab und versucht sich
aktiv auf den Märkten zu behaupten. Dennoch würde die meisten
Menschen Unternehmen nicht als Lebewesen bezeichnen. Im Sinne der Definitionen
von Maturana und Varela können sie aber als biologische Phänomene
aufgefaßt werden. Mit einer präzisen Abgrenzung von Lebewesen
gegenüber sonstigen biologischen Phänomenen wie etwa Unternehmen
beschäftigt sich der Abschnitt Was
ist Leben?. (Ebd., S. 35-36).
3.4) Luhmannsche Systemtheorie
Niklas Luhmann übertrug im Rahmen seiner Systemtheorie
den Begriff der Autopoiesis auf soziale Systeme und damit von der Biologie
in die Soziologie, wobei er sich gedanklich sehr weit an den Vorstellungen
Maturanas und Varelas orientierte:
»Als autopoietisch wollen wir
Systeme nennen, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch
die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren.«
(Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, 1970, S.
56). |
Und weiter:
»Autopoiesis heißt:
Selbstreproduktion des Systems auf der Basis seiner eigenen Elemente.«
(Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, 1970, S.
189). |
Darauf aufbauend definiert die Systemtheorie soziale Systeme als
autopoietische Systeme sinnhafter Kommunikation:
»Ein soziales System kommt zustande,
wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht
und sich durch Einschränkung der geeigneten Kommunikation gegen
eine Umwelt abgrenzt. »Soziale Systeme bestehen demnach nicht
aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen.«
(Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, 1970, S.
269). |
Die Luhmannsche Systemtheorie behauptet nun, Kommunikation operiere in
sozialen Systemen auf ganz ähnliche Weise wie die Selbstreproduktion
lebender Organismen: So wie Lebewesen nur Stoffe aus der Umwelt aufnehmen,
die fur ihre Selbstreproduktion relevant sind (und alles andere wieder
ausscheiden), nehmen auch Kommunikationssysteme in ihrer Umwelt nur das
wahr, was zu ihrem Thema »paßt« und damit »Sinn«
hat. Sinn ist somit ein Mechanismus zur Reduktion von Komplexität:
Aus der unendlich komplexen Umwelt wird nach bestimmten Kriterien nur
ein kleiner Teil herausgefiltert. Eine zentrale Funktion sozialer Systeme
ist folglich die Komplexitätsreduzierung, das heißt, die Einschränkung
der Gesamtheit der in der Welt (Umwelt) möglichen Zustände auf
einen Sinnzusammenhang. (Ebd., S. 41).
Die Kommunikation innerhalb eines sozialen Systems bezieht sich
gemäß dieser Auffassung nicht wirklich auf die Umwelt, sondern
stattdessen nur auf die von ihr nach ihren eigenen Gesetzen wahrgenommene
innere Abbildung der Umwelt, also letztlich auf sich selbst. Diese Selbstbezüglichkeit,
auch Selbstreferenzialität oder Autoreferenzialität
genannt, betrachtet die Systemtheorie als typisch für jede Konmunikation
und vergleichbar mit dem Phänomen der Autopoiesis in der Biologie.
Sie verwendet deshalb die Begriffe selbstreferenzielles beziehungsweise
autopoietisches System im gleichen Sinne. (Ebd., S. 41-42).
Kommunikationen sind gemäß der Systemtheorie stets
entweder Teil des sozialen Systems oder seiner Umwelt: Alle Komnmnikationen,
die sinnhaft aufeinander verweisen, gehören zum jeweiligen sozialen
System; alle übrigen Kommunikationen, die keine Beziehung zum relevanten
Sinnzusammenhang unterhalten, dagegen zur Umwelt. Hierdurch realisiert
sich die für die Systemtheorie so bedeutende Grenze zwischen System
und Umwelt. Die Grenze eines sozialen Systems markiert folglich eine Komplexitätsdifferenz
von außen nach innen. (Ebd., S. 42).
Ein wesentliches Merkmal autopoietischer Systeme ist die Selbsterhaltung.
Da sich soziale Systeme aus Kommunikation zusammensetzen, erfolgt die
Selbsterhaltung in diesem Falle durch Anschlußkommunikationen.
Mit anderen Worten: Soziale Systeme reproduzieren sich durch die fortlaufende
Aufrechterhaltung ihrer Kommunikation. In einem rekursiv-geschlossenen
Prozeß produzieren sie unentwegt sinnhafte Kommunikation aus sinnhafter
Kommunikation, oder anderes gesagt, sie erzeugen Kommunikation, die an
den Sinn der bisherigen Kommunikation anschlußfähig
ist. (Ebd., S. 42).
Die Systemtheorie unterscheidet generell drei Typen von sozialen
Systemen:
|
Interaktionssysteme
sind dadurch charakterisiert, daß sich Personen gegenseitig
wahrnehmen (Anwesende) und aufeinander beziehen. Sie kommen häufig
ganz spontan zusammen. Beispiele: Projektbesprechungen, Seminare
an der Universität. |
|
Organisationssysteme
zeichnen sich dadurch aus, daß die Mitgliedschaft an bestimmte
Bedingungen geknüpft ist. Beispiele: Unternehmen, Universitäten,
Sportvereine. |
|
Gesellschaftssysteme
sind allumfassende Sozialsysteme. Zu ihnen gehören unter anderem
alle Interaktions- und Organisationssysteme innerhalb der Gesellschaft.
Gesellschaftssysteme sind aber mehr als die Summe dieser Subsysteme. |
Wer sich das erste Mal mit der Luhmannschen Systemtheorie beschäftigt,
wird sich vermutlich mit der Vorstellung schwer tun, daß soziale
Systeme nicht aus Menschen, sondern nur aus Kommunikation bestehen sollen.
Allerdings hat die Definition solcher Systeme als autopoietische Systeme
eine entsprechende »Theorieentscheidung« regelrecht zwingend
zur Folge (**).
Denn wenn soziale Systeme tatsächlich Systeme sind, die
die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie
bestehen, selbst produzieren und reproduzieren (Niklas
Luhmann, Soziologische Aufklärung, 1970, S. 56),
dann müssen Menschen zwangsläufig außen vor bleiben, das
heißt, der Umwelt des Systems zugerechnet werden. (Ebd., S.
42-43).
Im Prinzip könnte
man sagen, daß die Systemtheorie den biologischen Begriff der
Autopoiesis mehr oder weniger gewaltsam in die Soziologie übertragen
hat. Das vorliegende Buch geht hier einen anderen Weg, indem es anerkennt,
daß soziale Systeme nicht alle Elemente, aus denen sie bestehen
(zum Beispiel die Akteure mit ihren Interessen), selbst produzieren
und reproduzieren. (Ebd.). |
Zwar könnte man bei Populationen und Gesellschaften noch
ansatzweise der Auffassung sein, die dazugehörigen Individuen reproduzierten
sich im Rahmen der Fortpflanzung selbst, bei anderen sozialen Systemen
wie zum Beispiel Unternehmen träfe dies dann aber definitiv nicht
mehr zu. Autopoietische soziale Systeme können folglich nur aus dem
bestehen, was sich in ihnen auch tatsächlich produzieren und reproduzieren
läßt, und das ist gemäß der Systemtheorie nun mal
nur die Kommunikation. Eine unmittelbare Folge davon ist: Nur Kommunikation
kommuniziert (vgl. Margot Berghaus, Luhmann leicht gemacht,
2003, S. 86). (Ebd., S. 41).
Nun wird aber bekanntlich in vielen Unternehmen ein immer größerer
Teil der menschlichen Kommunikation durch Computer oder Maschinen ersetzt.
Es stellt sich die Frage: Wäre ein Unternehmen, in welchem ausschließlich
Computer miteinander kommunizieren, im Sinne der Definitionen der Systemtheorie
noch immer ein soziales System? Dazu betrachten wir das folgende Beispiel:
Beispiel Computernetzwerk: |
Stellen wir uns ein fiktives Unternehmen
vor, welches insgesamt drei Standorte mit den folgenden Eigenschaften
betreibt: In allen Lokationen hat man jeweils ein lokales Netzwerk
und einen dazugehörigen Netzwerkcomputer installiert. In jedem
Raum befindet sich eine ausreichende Zahl an Steckdosen, an die
Mitarbeiter ihre Laptops anschließen können. |
Das Netzwerk dient ausschließlich
der Übermittlung von E-Mails. Möchte ein Mitarbeiter einem
anderen Mitarbeiter eine Nachricht zukommen lassen, so muß
er sich zunächst an seinen lokalen Netzwerkcomputer anmelden.
Sodann kann er seine Nachricht versenden. |
Stellen wir uns nun weiter vor,
das Unternehmen hätte das Computernetzwerk an einen ehemaligen
Werkstudenten (und damit ein eigenständiges Unternehmen) ausgelagert.
In der Regel wird dieser nur tätig, wenn es irgendein Problem
zu beheben gibt oder die Hardware zu erneuern ist. Normalerweise
läuft das Netzwerk aber vollständig autonom vor sich hin. |
Das Netzwerk hat eine klare System-Umwelt-Grenze,
und zwar die Steckdosen an der Wand. Man könnte sie auch als
die Augen des Systems bezeichnen. Innerhalb des Systems wird eine
permanente und somit anschlußfähige Kommunikation aufrechterhalten.
Die einzelnen Rechner würden sich nämlich pausenlos gegenseitig
wie folgt abfragen: |
- »Bist du noch da?« |
Wenn nein, dann würden E-Mails
für den Empfangsrechner entweder zunächst zurückgehalten,
das heißt, auf dem Senderechner im Rahmen eines Store-and-Forward-Verfahrens
zwischengespeichert, oder gemäß einer Routing-Tabelle
an einen anderen Netzwerkrechner weitergeleitet. |
Die Kommunikation ist also kontingent. |
- Sofern auf dem Senderechner E-Mails
für den Empfangsrechner bereitstehen: »Kannst du von
mir Daten entgegennehmen?« |
Wenn ja: Übertragung der Daten. |
Wenn nein: Ähnliche Reaktion
wie bei der ersten Frage. |
Nur diese Kommunikationen sind innerhalb des Gesamtsystems als sinnhaft
zu bezeichnen. Ferner ist das Computernetzwerk selbstreferenziell, operationell
geschlossen, strukturdeterminiert und es basiert ausschließlich
auf Kommunikation. Gemäß den Definitionen der Systemtheorie
könnte es also ohne weiteres als soziales System aufgefaßt
werden. (Ebd., S. 43-44).
Ein naheliegender Einwand gegen unser Denkmodell wäre: Die Kommunikation
innerhalb des Computernetzwerks ist maschinenbasiert, folglich kann nicht
wirklich von einem sozialen System gesprochen werden. Doch dieser Einwand
ist nicht stichhaltig, denn die Kommunikation zwischen den Netzwerkrechnern
ließe sich ja auch von Menschen abwickeln, beispielsweise, indem
diese Faxe untereinander austauschen. (Hier
wurde vergessen, daß Luhmann zufolge Menschen eben nicht zu den
sozialen Systemen gehören! HB.)
(Ebd., S. 44).
Könnte sich ein solches selbstreferenzielles, operationell
geschlossenes, strukturdeterminiertes und autopoietisches Kommunikationssystem
selbstständig weiterentwickeln und an neue Umweltgegebenheiten anpassen?
Geht es diesem System in erster Linie um die eigene Selbsterhaltung? Besitzt
es eine eigene Identität? Offenkundig nicht. (Ebd., S. 44-45).
Im Grunde haben wir es hier mit einer Variante des klassischen
Leib-Seele-Problems der Philosophie zu tun: Gemäß Niklas Luhmann
bestehen soziale Systeme nur aus Kommunikationen - sind also letztlich
immaterielle Entitäten -, während alles Physische (Menschen,
Gebäude, Maschinen etc.) zur Umwelt gehört. Niklas Luhmann nimmt
hier ähnlich Rene Descartes - eine dualistische Position mit einer
klaren Trennung von Seele und Körper ein. (Ebd., S. 45).
Ich werde in den nächsten Abschnitten
zeigen, daß der Luhmannschen Systemtheorie aufgrund der vollständigen
Auslagerung des Menschen aus den sozialen Systemen in deren Umwelten etwas
ganz Entscheidendes verlorengegangen ist. (Und
ich werde zeigen, daß durch diese Auslagerung etwas gewonnen worden ist! HB
[**].) (Ebd.,
S. 45).
3.5) Selbsterhaltende Systeme
Unter Ontogenese versteht
man die Geschichte des strukturellen Wandels einer Einheit ohne Verlust ihrer
Organisation. Beispielsweise entsteht ein neues Lebewesen zunächst aus einer
einzigen Zelle, um sich dann durch Zellteilung und -erneuerung schließlich
zu einem erwachsenen Individuum zu entwickeln. Hierbei handelt es sich also um
die Ontogenese eines einzelnen Lebewesens. (Ebd., S. 45).Die
Phylogenese bezeichnet dagegen die stammesgeschichtliche Entwicklung (biologische
Evolution) der Lebewesen im Verlauf der Erdgeschichte. Gemäß der biologischen
Evolutionstheorie (siehe Abschnitt Biologische
Evolutionstheorie) wird sie entscheidend durch den Fortpflanzungsprozeß
vorangetrieben. (Ebd., S. 45).Interessanterweise handelt
es sich hierbei nun aber genau um den gleichen Prozeß, der die Ontogenese
von Populationen bewirkt (vgl. Gerhard Vollmer, a.a.O., S. 63). Denn während
Lebewesen (Organismen) letztlich Aggregationen von Zellen sind (autopoietische
Systeme zweiter Ordnung), setzen sich Populationen aus Lebewesen der gleichen
biologischen Art zusammen (autopoietische Systeme dritter Ordnung). Lebewesen
reproduzieren ihre eigene Struktur (Strukturerhaltung) im wesentlichen
durch Zellteilung und -erneuerung, Populationen dagegen mittels der Fortpflanzung
(Reproduktion) ihrer Mitglieder. (Ebd., S. 45).Und damit
komme ich auf den wesentlichen Unterschied zwischen Organismen und Populationen
(ebenso: Gesellschaften, Organisationen) zu sprechen: Während es Lebewesen
primär um Selbsterhalt und Fortpflanzung geht, steht bei Populationen nur
noch der Selbsterhalt im Vordergrund, denn die Fortpflanzung ihrer Individuen
ist Teil der eigenen inneren Reproduktion (Strukturerhaltung). Populationen könnten
deshalb auch - anders als ihre Mitglieder - nahezu unbegrenzt lange fortbestehen,
denn sie sind ja in der Lage, sich innerlich permanent selbst zu reproduzieren.
(Ebd., S. 46).Gleiches gilt für soziale Systeme (siehe Abschnitt
Soziale
Systeme) und Populationen, die ihre Mitglieder nicht allesamt selbst »produzieren«,
sondern sie auf andere Weise »erneuern« (zum Beispiel durch Neueinstellungen,
[Früh-]Verrentungen, Mitarbeiterfluktuation, Zu- und Abwanderung u.s.w.).
Diese Systeme können zwar im strengen Sinne nicht mehr autopoietisch genannt
werden, trotzdem sind sie in der Lage, sich fortlaufend innerlich zu reproduzieren
und auf diese Weise ihren Selbsterhalt sicherzustellen. (Ebd., S. 46).Selbsterhalt
bedeutet aber auch die ständige Erneuerung der Kompetenzen in Relation zum
Lebensraum, das heißt, der Anpassung (Adaption) an die primäre
selekive Umwelt. Bei einem einzelnen Menschen gehören dazu etwa Erziehung,
Imitation, Training oder Bildung. Gemäß der Darwinschen Evolutionstheorie
wird die Kompetenzerneuerung von Populationen dur4 das Prinzip der natürlichen
Selektion (siehe Abschnitt Biologische
Evolutionstheorie) sichergestellt. Ich werde im Laufe des Kapitels Evolution
jedoch zeigen, daß dies so nicht ganz stimmt, und in der Folge dann auch
einen alternativen Mechanismus vorschlagen, der diesen Teil des permanenten Selbsterhaltes
nicht nur für Population, sondern auch für soziale Systeme erklären
kann. (Ebd., S. 46).Die klare Trennung von innerer
und äußerer Reproduktion (Selbsterhalt versus Fortpflanzung)
bei Lebewesen ist gewissermaßen ein Sonderfall, aus der kurzen Lebensdauer
der einzelnen Individuen resultiert (vgl. Gerhard Vollmer, a.a.O., S. 63). In
den meisten Fällen können wir jedoch die beiden Lebensfunktionen Selbsterhalt
und Reproduktion als eine Einheit betrachten und dann auch zusammenfallen lassen
(**|**).
(Ebd., S. 46-47).
Man
könnte das in der Unternehmenswelt etablierte »Franchising« in
manchen Aspekten mit der Fortpflanzung von Lebewesen vergleichen. Auch können
Unternehmen spontan »Tochterunternehmen« bilden. (Ebd.). |
Durch
eine künstliche Generationenbildung könnten Systeme mit innerer Reproduktion
annähenmgsweise in solche mit kurzer Lebensdauer und äußerer Reproduktion
überführt werden. Der erwähnte Unterschied zwischen den beiden
Systemtypen wäre dann aufgehoben. Dazu müßte lediglich die Zeit
in einzelne Zeitintervalle t (zum Beispiel einer Dauer von 30 Jahren) eingeteilt
werden. Sodann definierte man S(t) als das System S während des Zeitintervalls
t. S(t + 1) wäre folglich die Fortpflanzungskopie von S(t). (Ebd.). |
Ich
werde im Laufe des Buches für das Interesse von Systemen, sich selbstzuerhalten
beziehungsweise zu reproduzieren, je nach Kontext die beiden folgenden Begriffe
verwenden (**): | Selbsterhaltungsinteresse:
Das Interesse eines Systems oder Individuums, sich selbstzuerhalten und innerlich
zu reproduzieren.Bei sozialen
Systemen und Populationen wird der Begriff meist synonym mit dem Begriff Reproduktionsinteresse
verwendet. Zum Selbsterhalt gehört auch der Erhalt der Adaptionen an den
Lebensraum. | | Reproduktionsinteresse:
Das Interesse eines Systems oder Individuums, sich zu reproduzieren.Bei
Lebewesen ist dann meist ganz explizit die Fortpflanzung gemeint. Geht es dagegen
vorwiegend um die innere Reproduktion von Individu en, wird der Begriff Selbsterhaltungsinteresse
vorgezogen. Anders gesagt: Steht die Reproduktion der inneren Struktur und von
Kompetenzen in Relation zur Umwelt bei einem einzelnen Individuum im Vordergrund,
wird der Begriff Selbsterhaltungsinteresse verwendet, geht es um die Fortpflanzung
von Individuen, das heißt, die Reproduktion von Kompetenzen an die nachfolgende
Generation, wird der Begriff Reproduktionsinteresse vorgezogen. Das Selbsterhaltungsinteresse
eines Lebewesens hat also primär mit dessen Fähigkeit zu leben zu tun,
das Reproduktionsinteresse dagegen mit dessen (genetischem) Überleben. | Systeme,
die ihre Elemente zwar nicht allesamt selbst produzieren, trotzdem aber eine eigene
Identität und ein eigenständiges Selbsterhaltungsinteresse
besitzen, sollen im folgenden einfachheitshalber selbsterhaltend genannt
werden. (Ebd., S. 47-48).
Allgemeiner
könnte von »Eigennutz« beziehungsweise »Eigeninteressen«
gesprochen werden. Verschiedene theoretische Gründe lassen es aber als ratsam
erscheinen, sich auf die beiden ausgewählten Interessenarten zu beschränken
und alle anderen unspezifischen Interessen auszublenden. (Ebd.). |
Erinnern
wir uns noch einmal an die von Fritz B. Simon gegebene Beschreibung autopoietischer
Systeme. Beschreibung
autopoietischer Systeme: | Autopoietische
Systeme organisieren nicht nur ihre eigenen, internen Strukturen, sondern sie
produzieren auch die Elemente, aus denen die Strukturen gebildet werden«
Die kritische Variable, die sie konstant erhalten, ist ihre Organisationsform.
Die Elemente sterben ab und werden neu gebildet; die Strukturen, bestehend aus
Elementen und ihren Relationen zueinander, können sich wandeln; was konstant
bleibt, ist das (abstrakte) Muster der Prozesse, die dafür sorgen, daß
die Elemente reproduziert und in eine bestimmte Relation zueinander gebracht werden,
das heißt ihre Organisation. | Diese Definition
werde ich für die weiteren Überlegungen an einigen ganz entscheidenden
Stellen abändern:Beschreibung
selbsterhaltender Systeme: | Selbsterhaltende
Systeme organisieren ihre eigenen, internen Strukturen, aber sie produzieren nicht
zwingend auch die Elemente, aus denen sie bestehen. Die kritische Variable, die
sie konstant erhalten, ist ihre Organisationsform. Elemente, von denen stets einige
autopoietische (lebende) Systeme sind, können hinzugefügt, ausgetauscht
oder entfernt und diese Weise reproduziert werden; die Strukturen, bestehend aus
Elementen und ihren Relationen zueinander, können sich wandeln, was konstant
bleibt, ist das (abstrakte) Muster der Prozesse, die dafür sorgen, daß
die Elemente reproduziert und in eine bestimmte Relation zueinander gebracht werden,
das heißt ihre Organisation. | Die beiden
Definitionen mögen kompliziert klingen, besagen aber im Grunde etwas sehr
Einfaches: Ein menschlicher Organismus ist ein autopoietisches System,
welches nicht nur seine Organisation selbst erzeugen, sondern dazu auch noch alle
seine Elemente (Zellen). Ein Unternehmen, dagegen nur ein selbsterhaltendes
System, welches zwar ebenfalls seiOrganisation selbst kreiert, seine Elemente
(Mitarbeiter) dagegen nicht. Diese werden lediglich vertraglich an sich gebunden.
Beide Systemtypen sind autonom (sie operieren selbstbestimmt), haben eine Identität
und besitzen ein eigenständiges Selbsterhaltungsinteresse (sie wollen
fortbestehen). Ein autopoietisches System ist folglich immer auch ein selbsterhaltendes
System. (Ebd., S. 48-49).Einige Subelemente eines selbsterhaltenden
Systems müssen gemäß der obigen Definition lebende (autopoietische)
Systeme sein, denn die Autonomie und das daraus resultierende Selbsterhaltungsinteresse
des Systems bedürfen ja eines Fundaments. Beispielsweise müssen in einem
Unternehmen irgendwo noch immer Menschen sein, die ihre Intentionen einbringen
und sich für ihre Interessen stark machen, sonst wird das System stets ein
lebloser Maschinenpark bleiben. (Ebd., S. 49).Gemäß
Maturana und Varela handelt es sich bei selbsterhaltenden Systemen um biologische
Phänomene»Wenn
dem so ist, daß die autopoietische Organisation die biologische Phänomenologie
als Verwirklichung des Lebewesens als autonome Einheiten determiniert, dann ist
jedes Phänomen ein biologisches Phänomen, welches die Autopoiese mindestens
eines Lebewesens einbezieht.« (Humberto Maturana / Francisco Varela,
Der Bann der Erkenntnis, 1990, S. 60). | Dies hat
recht interessante Konsequenzen. Denn im weiteren Verlauf des vorliegenden Buches
werden Organisationssysteme und Gesellschaften als selbsterhaltende Systeme und
darauf aufbauend die technische Evolution als ein begleitender Aspekt der Evolution
von Organisationssystemen beschrieben. Mit anderen Worten: Auch Unternehmen, Technologien
und Gesellschaften lassen sich letztlich als biologische Erscheinungen interpretieren.
Demzufolge würde es sich bei der Soziologie um eine naturwissenschaftliche
Disziplin handeln. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll: Alles andere würde
mich auch überraschen, denn selbstverständlich haben sich menschliche
Gesellschaften und Technologien evolutionär aus der Natur heraus entwickelt,
sind also im strengen Sinne Teil der Natur. (»Naturwissenschaft«
wird aber anders definiert! HB). (Ebd., S. 49).In
vielen der noch folgenden Betrachtungen wird es sich als günstiger erweisen,
selbsterhaltende Systeme über bestimmte charakteristische Eigenschaften zu
beschreiben, anstatt darüber, wie sie innerlich operieren und sich konstruieren.
lm Vordergrund werden dabei die folgenden Merkmale stehen:Eigenschaften
selbsterhaltender Systeme: | | Ein
selbsterhaltendes System besitzt eine eigene Identität und damit ein eigenständiges
Selbsterhaltungsinteresse. | | Ein
selbsterhaltendes System grenzt sich gegenüber seiner Umwelt ab (System/Umwelt-Differenz
und besitzt ihr gegenüber eigenständige Kompetenzen (das heißt,
es ist gegenüber seinem Milieu in einer bestimmten Weise angepaßt.
Aufgrund seines Selbsterhaltungsinteresses ist es bestrebt, seine Kompetenzen
mindestens zu erhalten. Das Gleiche gilt für seine inneren Strukturen. | Abschließend
möchte ich noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, der leicht übersehen
werden kann. Es geht hierbei um die Frage, wie in Populationen aus lauter selbsterhaltenden
Systemen neue Variation entstehen kann. Dazu muß ich allerdings im Text
ein wenig vorgreifen, da Sie möglicherweise sonst bereits die Fragestellung
nicht verstehen. (Ebd., S. 49-50).Ich werde im Abschnitt
Systemische
Evolutionstheorie eine Evolutionstheorie vorstellen, die ohne das Prinzip
der natürlichen Auslese auskommt, und mit der sich biologische, kulturelle,
soziale, wissenschaftliche und technische Evolutionen einheitlich beschreiben
lassen. Allerdings wird diese Theorie Evolutionen auf Populationen, deren Individuen
allesamt selbsterhaltende Systeme sind, beschränken. Eine ihrer Kernaussagen
wird nämlich sein: Nur Populationen mit solchen Eigenschaften können
eigendynamisch evolvieren. (Ebd., S. 50).Nun haben wir aber
gerade eben von selbsterhaltenden Systemen gesprochen, die sich fortlaufend intern
erneuern, und somit den üblichen Zyklus des Lebens aus Wachstum, Fortpflanzung
und Tod nicht kennen. Rein theoretisch könnten sie fast ewig fortbestehen.
Warum sollte es etwa den FC Bayern München in 5000 Jahren nicht mehr geben?
Wenn sich der Verein stets rechtzeitig erneuert (Trainer, Spieler u.s.w.) und
sich die Menschen dann noch immer flir Fußball begeistern, könnte so
etwas durchaus sein. (Ebd., S. 50).Doch woher soll ein Verein
die Spieler nehmen, die er zu seiner regelmäßigen Erneuerung benötigt?
In der Vergangenheit haben sich hier im wesentlichen zwei unterschiedliche Strategien
durchgesetzt, die auch in Kombination miteinander angewendet werden können: | Ausbildung
eigener Nachwuchsspieler (Amateurmannschaften u.s.w.). | | Einkauf
von Profis und Talenten. | Im Profifußball präferiert
man heute in der Regel die zweite Strategie. Man nimmt also indirekt an, die erforderlichen
Talente würden schon irgendwo von selbst heranreifen, zum Beispiel auf südamerikanischen
oder afrikanischen Straßen und Bolzplätzen. Im Unternehmensbereich
sieht das nicht viel anders aus. Zwar bilden viele Unternehmen ihre Mitarbeiter
auch regelmäßig selbst aus, grundsätzlich gehen sie aber davon
aus, daß die Gesellschaft schon von ganz alleine für ausreichend qualifiziertes
Humankapital sorgen wird, das auch spätere unternehmerische Anforderungen
abdecken kann. (Ebd., S. 50-51).Im Abschnitt Evolution
im Sport wird gezeigt, daß es sich bei der Fußballbundesliga
um eine Population aus 18 selbsterhaltenden Systemen - den Bundesligavereinen
- handelt, die sich gemäß den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie
weiterentwickeln. (Ebd., S. 51).Die Frage nach der Entstehung
neuer Variation ist in diesem Falle recht einfach zu beantworten: Drei Mannschaften
steigen am Saisonende aus der 1. Liga ab, werden also sozusagen aus der Population
entfernt, und dafür steigen entsprechend viele Mannschaften aus der 2. Liga
auf, so daß es am Ende wieder genau 18 verschiedene Mannschaften (Individuen,
selbsterhaltende Systeme) sind. (Ebd., S. 51).Allerdings
ist damit das Variationsproblem noch nicht abschließend gelöst, denn
immerhin verschwinden die Vereine ja nicht wirklich oder entstehen wie durch ein
Wunder aus dem Nichts neu, sondern sie wechseln lediglich die Ligen, bleiben also
als Systeme erhalten. (Ebd., S. 51).
Doch es sind auch andere Fälle vorstellbar. Beispielsweise
könnte ein Verein in unüberwindbare wirtschaftliche Schwierigkeiten
geraten oder gegen sportliche Statuten verstoßen und in der Folge
dann tatsächlich den Spielbetrieb einstellen. In diesem Fall dürften
Sonderregelungen zum Einsatz kommen, wie etwa die Zahl der Aufsteiger
von drei auf vier zu erhöhen. Natürlich würde sich dies
dann auch in allen unteren Ligen bemerkbar machen. Irgendeine Liga müßte
schließlich mit einer Mannschaft weniger auskommen, weswegen erneut
die Frage zu stellen ist: Wie kann in solchen Populationen neue Variation
entstehen? Die Antwort lautet: Durch Gründung eines neuen Vereins.
(Ebd., S. 51).
Dies
muß nicht notwendigerweise in der untersten Liga geschehen. Beispielsweise
könnten sich Eintracht Frankfurt, der FSV Mainz 05 und die Offenbacher Kickers
zu einem neuen Fußballverein mit dem Namen I. FC Rhein-Main zusammenschließen
(**). Ein solcher Großverein
würde dann natürlich sofort in der Liga starten, in der der bislang
höchstplatzierteste Fusionspartner spielt. Aber auch bei diesem Vorgang würden
mehrere »Systeme« verschwinden, die durch neue Vereine in den jeweiligen
Ligen zu ersetzen wären. (Ebd., S. 51-52).
Sicherheitshalber
möchte ich an dieser Stelle anmerken, daß es sich hierbei um ein reines
Gedankenexperiment handelt. (Ebd.). |
Neue
Mannschaften bilden sich üblicherweise in der untersten Liga, was zeigt,
daß die Entstehung neuer Variation voraussetzungslos sein kann. Es ist zwar
auch dann noch immer vorstellbar, daß ein etwa in diesem Jahr neu entstandener
Kreisklassenverein »1. FC Champion« zehn Jahre später Deutscher
Fußballmeister wird, doch so etwas dürfte die absolute Ausnahme sein.
In den meisten etablierten evolutiven Populationen werden es Neuein. steiger ausgesprochen
schwer haben. (Ebd., S. 52).In vielen Umgebungen hat man
deshalb ganz bewußt variationsfördernde Maßnahmen implementiert,
die neuen Individuen reelle Chancen einräumen sollen. Im Unternehmensbereich
gehören dazu etwa diverse Finanzierungsmöglichkeiten über Banken
und Börsen oder die Bereitstellung von Venture Capital. Auch stehen
meist zahlreiche Berater unterstützend zur Verfügung. (Ebd., S.
52).Grundsätzlich können wir gemäß den bisherigen
Ausführungen die beiden folgenden Situationen unterscheiden: | Lebewesen
haben nur eine begrenzte Lebenszeit. Sie müssen sich deshalb regelmäßig
fortpflanzen, um ihre Strukturen und Kompetenzen weiterzugeben und für die
Population zu erhalten. Im Rahmen der Fortpflanzung entstehen Kopien ihrer Person
(Nachwuchs), die sich aber aufgrund von Mutationen und genetischen Rekombinationen
auch von ihnen unterscheiden. Im Sinne der Systemischen Evolutionstheorie (siehe
Abschnitt Systemische
Evolutionstheorie) besitzen Populationen aus lauter Lebewesen folglich
einen variationserhaltenden Reproduktionsprozeß, nämlich die Fortpflanzung
ihrer Individuen.Alternativ
dazu können solche Populationen auch Individuen mit anderen Populationen
tauschen, was in der Literatur unter den Begriff der Zu- und Abwanderung fällt.Insgesamt
kann man festhalten: In Populationen aus lauter Lebewesen entsteht neue Variation
durch Fortpflanzung und Zuwanderung. | | Populationen
aus lauter selbsterhaltenden Systemen, die sich im Grunde über einen beliebig
langen Zeitraum intern selbst erneuern können (zum Beispiel Populationen
aus Sportvereinen oder Unternehmen), kennen in der Regel so etwas wie die Fortpflanzung
(Replikation) nicht. Stattdessen erhalten sie ihre Variation meist durch Erzeugung
gänzlich neuer Individuen. Im Sinne der Systemischen Evolutionstheorie (siehe
Abschnitt Systemische
Evolutionstheorie) besitzen sie folglich einen variationserhaltenden Reproduktionsprozeß,
nämlich die interne Erneuerung ihrer Individuen und die Erzeugung neuer Populationsmitglieder.Alternativ
dazu können solche Populationen auch Individuen mit anderen Populationen
tauschen. Beispielsweise könnte ein ausländisches Unternehmen nun auch
seine Produkte auf dem deutschen Markt, auf dem es bislang noch nicht tätig
war, anbieten.Insgesamt
kann man festhalten: In Populationen aus lauter selbsterhaltenden Systemen, die
sich über einen beliebig langen Zeitraum intern selbst erneuern können,
entsteht neue Variation durch Erzeugung neuer Individuen und »Zuwanderung«. | Möglicherweise
werden Sie sich jetzt fragen, warum sich Organismen nicht wie Populationen oder
soziale Systeme (praktisch) zeitlich unbegrenzt innerlich reproduzieren können,
schließlich verfügen Sie ja über das Mittel der Zellerneuerung.
Der Grund dafür ist ein ganz einfacher: In Organismen haben alle Zellen den
gleichen Chromosomensatz, das heißt, sie basieren auf den gleichen Genen.
Eine zelluläre Funktionsverbesserung - im Sinne einer besseren Adaption an
den Lebensraum - ist im Grunde nur über die Fortpflanzung möglich, bei
der jeder Nachkomme einen vollständig neuen Chromosomensatz erhält,
der dann für alle Zellen gilt. Ein Unternehmen kann dagegen bei Bedarf neue
Mitarbeiter (mit neuen Chromosomensätzen) einstellen, deren Qualifikationen
und Berufserfahrungen den sich wandelnden Anforderungen der Märkte in optimaler
Weise genügen. Das setzt allerdings voraus, daß auch stets eine ausreichende
Zahl an Menschen mit den benötigten Qualifikationen nachkommt, was zwar Unternehmen
(und Fußballbundesligavereine) üblicherweise implizit annehmen, wovon
jedoch in modernen Gesellschaften zur Zeit nicht mehr unbedingt ausgegangen werden
kann. All das unterstreicht die enorme Bedeutung der Humanressourcen für
Unternehmen und des Humanvermögens für Gesellschaften. (Ebd.,
S. 52-53).Wir halten fest: Organismen müssen sterben und sich
fortpflanzen, um sich genetisch erneuern zu können, bei Organisationssystemen
(**|**|**|**)
reicht dafür bereits die regelmäßige Erneuerung der Humanressourcen.
(Ebd., S. 53).
3.6) Soziale Systeme
Moderne soziale
Systeme wie Unternehmen (Organisationssysteme)
sind das Ergebnis der enormen menschlichen Kooperationsfähigkeit, des Aufkommens
von Märkten mit Tauschäquivalenten als deren primäre selektive
Umwelt, des Zugriffs auf große Mengen an Energie und der allgemeinen rtechnologischen
Entwicklung. Bei Organisationssystemen handelt es sich um neuartige biologische
Phänomene von zum Teil geradezu ungeheuerlicher Potenz. Sie stellen mit ihrem
Ressourcenreichtum, ihren Kompetenzen und ihrer schieren Macht alles in den Schatten,
was an biologischen Phänomenen je auf der Erde existiert hat. Möglicherweise
sind sie dem Menschen längst entwachsen. (Ebd., S. 54).Dabei
handelt es sich bei ihnen um eine recht neue Entwicklung. Im Prinzip sind sie
das Charakteristikum der Moderne schlechthin. Sie sollen deshalb in diesem Abschnitt
etwas eingehender untersucht werden. (Ebd., S. 47).Gemäß
den Ausführungen im Abschnitt Leben
und Fortpflanzung sind Lebewesen entropiearme Systeme, die danach streben,
den unwahrscheinlichen Zustand hoher Ordnung in ihrem Inneren aufrecht zu erhalten.
Ferner wollen sie sich in der Regel reproduzieren - sie sind ja auch durch Fortpflanzung
entstanden. Anders gesagt: Lebewesen geht es primär um Selbsterhalt und Fortpflanzung:»Genau
so sind wir alle entstanden, ohne einem anderen Gesetz zu folgen, als dem der
Erhaltung einer Identität und der Fähigkeit zur Fortpflanzung.«
(Humberto Maturana / Francisco Varela, Der Bann der Erkenntnis, 1990, S.
17). | Oder noch etwas präziser formuliert (**):»Leben
läßt sich definieren als ein auf dem Prinzip Eigennutz
basierender Prozeß der Selbstorganisation. Alle Organismen ... verdanken
ihre Existenz dem eigennützigen Streben ihrer Vorfahren nach Vorteilen im
Kampf um Ressourcen und ... Fortpflanzungserfolg.« (Michael Schmidt-Salomon,
Auf dem Weg zur Einheit des Wissens, 2007, S. 17). | Nun
besitzt aber selbst das Sonnensystem eine spezifische innere Ordnung, das heißt,
es stellt gleichfalls - in Relation zu seiner Umgebung - einen entropiearmen Zustand
dar. Wie bereits im Abschnitt Leben
als Prozeß des Erkennens erläutert wurde, beruht die Aufrechterhaltung
der inneren Ordnung in diesem Falle jedoch - anders als bei Lebewesen - nicht
auf einem eigenen Subjektempfinden (Identität) und einem wie auch immer gearteten
Selbsterhaltungsinteresse (**),
sondern auf physikalischen Gesetzen, in deren Rahmen Störungen von außen
passiv ertragen werden, während Lebewesen auf Perturbationen üblicherweise
mit aktiven Gegensteuerungsmaßnahmen reagieren. Über vergleichbare,
aktive und intelligente Reaktionsmöglichkeiten verfügen Planetensysteme
nicht. (Ebd., S. 54-55).
Esoteriker
mögen das etwas anders sehen. (Ebd.). |
Im
letzten Abschnitt (**)
wurde gezeigt, daß bei Populationen - und sozialen Systemen generell - Selbsterhalt
und Reproduktion im wesentlichen das Gleiche meinen und somit funktional zusammenfallen.
Solchen Systemen geht es also nicht mehr um die Fortpflanzung, sondern nur noch
um den Selbsterhalt, das heißt um die fortlaufende Erhaltung der eigenen
Identität, Struktur und Kompetenzen. Alle anderen Zwecke sind demgegenüber
von untergeordneter Bedeutung. Dies gilt insbesondere auch für Organisationen,
zum Beispiel Unternehmen:»Überträgt
man dieses Bild auf Organisationen, so zeigt sich, daß irgendwelche sachlichen
Ziele gegenüber dem reinen Selbsterhalt des Systems sekundär sind. Das
macht die Organisation als Typus des sozialen Systems in den unterschiedlichen
gesellschaftlichen Subsystemen so vielfältig verwendbar. .... Hinzu kommt,
daß an ihrem Zustandekommen und Erhalt eine größere Zahl an Akteuren
beteiligt ist, die dies aufgrund ihrer eigenen, spezifischen Zwecke tun. Daher
ist die Idee eines gemeinsamen, alle Beteiligten vereinigenden Ziels illusorisch.«
(FRitz B. Simon, Einführung in die systemische Organisationstheorie, 2007,
S. 29f.). | Wir können somit festhalten: | Organisationssysteme
besitzen eine eigene Identität (und haben einen Namen). | | Organisationssystemen
geht es primär um den eigenen Selbsterhalt. | | Organisationssysteme
setzen sich aus irgendwelchen Akteuren zusammen, denen es wiederum vor allem um
den eigenen Selbsterhalt geht. | Stellt etwa ein Unternehmen
einen neuen Mitarbeiter ein, so interessiert es sich in aller Regel primär
für dessen Kompetenzen (Humankapital). Dementsprechend hat es an ihn bestimmte
Erwartungen. Umgekehrt bringt sich der Mitarbeiter in das Unternehmen mit seinen
Kompetenzen und zum Teil auch seinen (zeitlichen) Ressourcen ein. Daneben hat
er bestimmte Interessen (zum Beispiel viel Geld zu verdienen), die sich zu erheblichen
Anteilen auf sein Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteresse zurückfuhren
lassen. (Ebd., S. 55-56).Die meisten Unternehmen haben gleich
mehrere Selektionsmechanismen implementiert, um Mitarbeiterinteressen zu genügen,
und in der Regel sind diese den Mitarbeitern auch mehr oder weniger bekannt. Zu
nennen wären etwa: | Gehaltserhöhungen
(und sonstige geldwerte Vorteile/Vergünstigungen. | | Beförderungen
(innerhalb der Unternehmenshierarchie). | |
Eigenes Budget. | |
Übernahme von Projektleitungen. | Wie entsprechende
Selektionen erfolgen, kann von Fall zu Fall sehr unterschiedlich geregelt sein.
So könnte in einem Unternehmen die Zugehörigkeit zu einem bestimmten
Netzwerk (zum Beispiel einem »Männerbündnis«) eine wesentliche
Rolle spielen, während in einem anderen Fall grundsätzlich erst einmal
eine Quotenregelung zur Anwendung kommt. (Ebd., S. 56).In
den meisten Unternehmen wird ein nennenswerter Anteil der Mitarbeiter darum bemüht
sein, immer wieder »selektiert« zu werden, das heißt, mehr Geld
zu verdienen, in der Hierarchie aufzusteigen, die Position zu festigen, mit herausfordernden
Aufgaben betraut zu werden, mehr Stimmen zu erhalten oder mehr Verantwortung zu
bekommen. Auf diese Weise entfalten die Mitarbeiter ihren Ehrgeiz und ihre Kreativität
im Dienste des Unternehmens. In reinen Computersystemen gibt es so etwas dagegen
nicht. (Ebd., S. 56).Möglicherweise wird ein Mitarbeiter
erst in einem bestimmten Alter erkennen, daß er im Unternehmen nun nicht
mehr weiter aufsteigen kann und sich folglich auf eine Absicherung der bislang
erreichten Position konzentrieren. Ein anderer Mitarbeiter wird dagegen sein Gehalt
oder seine Position als nicht seiner Leistung entsprechend empfinden und sich
dann nach alternativen Tätigkeiten innerhalb und außerhalb des Unternehmens
umschauen. Dabei stehen in der Regel die jeweils eigenen Interessen im Vordergrund,
das heißt, die ganz privaten Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen,
nämlich viel Geld zu verdienen und sich damit seine Bedürfnisse befriedigen
und sich eventuell fortpflanzen zu können. Auch können Macht und Einfluß
selbst zu den wesentlichen persönlichen Zielen zählen. In den allermeisten
Fällen aber sind selbst solche Bedürfnisse keineswegs an das jeweilige
Unternehmen gebunden, denn gerade in leitenden Positionen ist die Mitarbeiterfluktuation
in der Regel recht groß. (Ebd., S. 56-57).Wissensarbeiter
wiederum sind häufig weniger an Managementpositionen, sondern primär
an fachlich herausfordernden Aufgaben interessiert, denn hierdurch qualifizieren
sie sich weiter. Dies macht sie innerhalb und außerhalb des Unternehmens
für ähnlich komplexe Problemstellungen interessant. Auch diese Strategie
dient also in erster Linie dem persönlichen Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteresse.
(Ebd., S. 57). Eliminierte man in einem Unternehmen alle Möglichkeiten
zur Entfaltung persönlicher Interessen, entfernte man damit letztlich auch
den eigentlichen Antrieb des Unternehmens, denn dessen Selbsterhaltungsinteresse
entwickelt sichja erst auf Basis der Interessen seiner Akteure. (Ebd., S.
57).Im Abschnitt Tragik
der Allmende wird ein solcher negativer Fall beschrieben. Bewirtschaftet
etwa eine größere Gruppe gemeinsam ein Feld (eine sogenannte Allmende),
und vereinbart sie, daß allen Individuen der gleiche Anteil am Gesamtertrag
zusteht, so dürfte es dabei auf lange Sicht zur sogenannten Tragik der Allmende
kommen, da nun besonders »faule« Ackerbauern den größten
Nutzen aus dem von allen erwirtschafteten Ertrag haben: Faulheit generiert zum
wirtschaftlichen Vorteil und setzt sich folglich immer stärker durch. Man
könnte es auch so sagen: Aus Sicht eines egoistischen Selbsterhaltungsinteresses
ist im sozialen System der Allmende die Faulheit die beste Strategie. (Ebd.,
S. 57).Wie bereits erwähnt wurde, fallen Selbsterhalt und
Reproduktion in sozialen Systemen zusammen. Aber auch für ganz normale Lebewesen
gilt: Zunächst muß die eigene Seinsentwicklung (?!
HB) abgeschlossen sein und der Lebensraum ausreichend beherrscht werden,
dann kann an das Abenteuer der Fortpflanzung gedacht werden. Erst die erfolgreiche
Ontogenese ermöglicht einen eigenen Beitrag zur Phylogenese, und damit zur
fortlaufenden Ontogenese der Population. (Ebd., S. 57).Einem
Mitarbeiter eines Unternehmens geht es aber bei der Realisierung von persönlichen
Selektionsinteressen stets noch um den ersten Schritt des gerade erwähnten
Prozesses. Und wenn eine solche Person dann den ganzen Tag darum bemüht ist,
ihre Position zu sichern oder gar zu verbessern, ihren Beitrag zum Erhalt des
Unternehmens zu leisten, dann kann sie nicht gleichzeitig noch in aufwendige Fortpflanzungsaktivitäten
verwickelt sein. Ein modernes Unternehmen belohnt nämlich Einsatz, Fleiß
und Kreativität und nicht Faulheit, wie im Falle der Allmende. Ich werde
auf dieses Dilemma moderner Gesellschaften, die sich um eine Angleichung der Lebensentwürfe
beider Geschlechter bemühen, noch mehrfach zurückkommen. (Ebd.,
S. 57-58).Nun könnte man die bisherigen Ausführungen
als unzulässige Vereinfachungen kritisieren, wie dies ja auch anderen theoretischen
Ansätzen der Soziologie vorgeworfen wird. Allerdings sind solche Abstraktionen
auch in den Naturwissenschaften üblich. Ich werde mich deshalb dieser Tradition
anschließen und die Definition der sozialen Systeme zunächst einmal
von allen unnötigen Details befreien (**).
(Ebd., S. 58).
So
hätte etwa angeführt werden können, daß sich Akteure mil
Ressourcen in das soziale System einbringen können, beispielsweise durch
einen Kredit oder eine Kapitalbeleiligung, oder daß sie bestimmte Rechte
und Pflichten besitzen. Allerdings könnte man die bereitgestellten Ressourcen
stark vereinfachend ebenfalls eingebrachle Kompetenzen verstehen. Von solchen
Delails soll hier jedoch abslrahiert werden. Infolgedessen beschränkt sich
die Definition auf Systeme, die sich 1. gegenüber ihrer Umwelt abgrenzen
(System/Umwell-Differenz), 2. an diese Umwelt in irgendeiner Weise angepaßt
sind (das ihr gegen heißt, ihr gegenüber Kompetenzen besitzen), 3,
eine Identität besitzen und sich 4. selbsterhalten wollrn. Wie sich solche
Systeme im Detail organisieren, islt nicht Gegensland der Definition. (Ebd.). |
Definition
(selbsterhaltendes) soziales System:Eigenschaften
selbsterhaltender Systeme: | | Ein
(selbsterhaltendes) soziales System ist ein (selbsterhatendes) System. | | Die
Elemente eines sozialen Systems sind soziale Systeme oder Menschen(**
[sogenannte Akteure]), die sich in das soziale Systeme mit eine Teil ihrer Kompetenzen,
Selbsterhaltungsinteressen und Reproduktionsinteressen
einbringen. | Anders
als Lebewesen können sich soziale Systeme spontan wandeln, in mehrere Teile
auseinander brechen oder wieder zusammenfügen. Die Biologie erklärt
die Entstehung der Arten auf ganz entsprechende Weise. Beispielsweise sind die
sogenannten Darwin-Finken aus einer gemeinsamen Population hervorgegangen, haben
sich dann aber in getrennten Lebensräumen unabhängig voneinander zu
separaten Arten weiterentwickelt. (Ebd., S. 58-59).
In vielen Kontexten
können verallgemeinernd auch einzelne Menschen als soziale Systeme
aufgefaßt werden. Günter Grass wäre dann als Künstler
genauso ein soziales System wie etwa die Pop-Gruppe »Take That«,
und der Mathematiker ... wäre als Wissenschaftler ein soziales
Systeme ähnlich einem Team aus Mathematikern oder gar einem ganzen
mathematischen Institut. Auf diese Weise kann dann nicht nur manche
Darstellung zur Evolution sozialer Systeme gestrafft werden, sondern
es dürfte dabei auch deutlicher werden, worum es etwa Wissenschaftlern
beim Selbsterhalt geht, nämlich vor allem um Prestige innerhalb
der Wissenschaftsgemeinschaft und nur indirekt um die Erlangung lebensnotwendiger
Ressourcen beziehungsweise ihre Fortpflanzung. (Ebd.). |
Da
soziale Systeme eine innere Ordnung besitzen, sind sie automatisch entropiearm.
Selbsterhaltende soziale Systeme werden stets darum bemüht sein, den entropiearmen
Zustand in ihrem Inneren möglichst lange aufrechtzuerhalten. (Ebd.,
S. 59).Menschen können aufgrund ihrer Gehirnleistung und ihrer
enonnen Kooperationsfähigkeit an nahezu unbegrenzt vielen sozialen Systemen
teilnehmen, wobei ein einzelner Mensch gleichzeitig Mitglied in sehr vielen unterschiedlichen
Organisationen sein kann. Eine Person könnte beispielsweise tagsüber
einem Unternehmen angehören, zweimal in der Woche abends in einer Bluesband
spielen, an zwei weiteren Abenden für eine politische Partei tätig werden
und am Wochenende den Vorsitz des lokalen Kaninchenzüchtervereins inne haben.
Die Zugehörigkeit zu einer Organisation ist dann quasi dauerhaft und doch
nur zeitweise. In der Regel erfolgt die konkrete Einbringung mittels Zeitallokation
(im Zeitscheiben-Verfahren). (Ebd., S. 59).Zum Schluß
dieses Abschnitts möchte ich noch der Frage nachgehen, ob und wie sich Populationen
beziehungsweise Gesellschaften von sonstigen sozialen Systemen wie Unternehmen
(Organisationen, Organisatio:nssystemen) unterscheiden und davon abgrenzen lassen.
(Ebd., S. 59).Gemäß Franz-Xaver Kaufmann
ist eine zentrale Aufgabe eines Sozialstaates die Reproduktion des Humanvermögens,
das heißt, den Nachwuchs oder die Rekrutierungspotentiale für die verschiedenen
Gesellschaftsbereiche sicherzustellen (Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft,
2005, S. 30 [**]).
In der Sprache des vorliegenden Kapitels hieße das: Eine zentrale Aufgabe
einer Gesellschaft ist es, den Nachwuchs für die verschiedenen sozialen systeme
bereitzustellen. (Ebd., S. 59-60).Wir können zusammenfassend
feststellen: | Organisationssysteme
(zum Beispiel Unternehmen) besitzen eine Identität und ein eigenständiges
Selbsterhaltungsinteresse. Sie müssen und wollen sich fortlaufend erneuern.
Die Reproduktion gliedert sich in eine innere Erneuerung (Verjüngung der
Mitarbeiter, Verbesserung der Abläufe, Modernisierung, analog der Zellerneuerung
bei Lebewesen: Strukturerhaltung) und die Erhaltung beziehungsweise Verbesserung
der Kompetenzen (Adaption). Wie im Abschnitt Technische
Evolution noch gezeigt wird, setzen sich die Kompetenzen von Organisationen
ganz entscheidend aus deren Produkten und Dienstleistungen zussammen. Leistungsfähige
Organisationssysteme achten meist sehr genau auf deren regelmäßige
und langfristige Erneuerung. Die Reproduktion (insbesondere Forschung & Entwicklung)
gehört in solchen Fällen zu den entscheidenden Kernprozessen der Organisation.Mitarbeiter
rekrutiert die Organisation aus der Gesellschaft. Auch wirdälteres oder nicht
mehr benötigtes Personal wieder an die Gesellschaft »zur weiteren Verwendung«
zurückgegeben. Organisationen »produzieren« die von ihnen benötigten
Mitarbeiter (Humanressourcen) also nicht selbst, sondern sie nutzen dafür
die Potentiale und Dienstleistungen der Gesellschaft. | | Menschliche
Gesellschaften besitzen ebenfalls eine Identität und auch ein rudimentäres
eigenständiges Selbsterhaltungsinteresse. Im Prinzip müssen sie sich
fortlaufend erneuern, wenn sie auch in Zukunft Bestand haben wollen. Bei ihren
Kompetenzen handelt es sich in erster Linie um die Kompetenzen ihrer Bürger,
die regelmäßig reproduziert werden müssen. Dazu dienen vor allem
die Fortpflanzungs- und Sozialisationsfunktion der Familie und die verschiedenen
Bildungsprozesse. Alternativ und additiv können auch Zuwanderer in die Gesellschaft
hineingeholt und dann integriert werden. Anders als bei den anderen sozialen Systemen
gehört zur Gesellschaft folglich auch die biologische Reproduktionsfunktion.
Diese stellt sogar regelrecht eine Kernfunktion der Gesellschaft dar. Da diese
aber zur Zeit nicht als solche wahrgenommen und ausgeübt wird (siehe dazu
die Ausführungen im Kapitel Demographischer
Wandel), können menschliche Gesellschaften üblicherweise
noch nicht wirklich als langfristig selbsterhaltend bezeichnet werden. | Man
könnte deshalb auch sagen: Gesellschaften unterscheiden sich von anderen
sozialen Systemen im Grad ihrer Autopoiesis und Selbsterhaltung. Organisationen
sind meist stärker auf ihren langfristigen Selbsterhalt ausgerichtet, Gesellschaften
dagegen mehr auf die Autopoiesis. (Ebd., S. 62-63).In
der folgenden Tabelle wird die gesellschaftliche Reproduktion der Bundesrepublik
Deutschland mit dem Reproduktionsprozeß (Forschung & Entwicklung) eines
Pharmakonzerns verglichen. Dabei offenbaren sich gravierende Unterschiede, und
zwar insbesondere bei der Organisation, Finanzierung und beim Systemtyp. Die zeitliche
Ausrichtung beider Prozesse ist zwar durchaus vergleichbar, allerdings ist die
Forschung & Entwicklung im Pharmakonzern auf die ]angfristige Selbsterhaltung
des Unternehmens ausgelegt, die gesellschaftliche Reproduktion Deutschlands dagegen
nicht, da bereits die dafür erforderliche übergeordnete Systemkoordination
fehlt. Anders gesagt: Der Pharmakonzern plant, steuert und finanziert seine Produkterneuerung
als zentralen unternehmerischen Kernprozeß für die nächsten zwanzig
Jahre, während die Gesellschaft diese Aufgabe weitestgehend der privaten
Initiative ihrer Bürger überläßt. (Ebd., S. 63). | Pharmakonzern | Bundesrepublik
Deutschland | Name | Forschung
& Entwicklung | Familie &
Schule | Organsiation | Marktwirtschaftlich | Sozialistisch | Finanzierung | Durch
Produktion | Privat | Produkte | Medikamente | Humankapital | Zeitspanne | 12-20
Jahre | 18-25 Jahre | Systemtyp | Langfristig
selbsterhaltend | Kurzfristig selbsterhaltend
|
3.7) Ausdifferenzierung
Im Abschnitt Systemische
Evolutionstheorie wird gezeigt, daß evolutionäre Prozesse maßgeblich
durch die Reproduktionsinteressen der Beteiligten angetrieben werden. Bei sozialen
Systemen (zum Beispiel Unternehmen) können aber die Begriffe Reproduktionsinteresse
und Selbsterhaltungsinteresse synonym verwendet werden: sie meinen im wesentlichen
das Gleiche (siehe Abschnitt Selbsterhaltende
Systeme). Soziale Systeme entwickeln sich folglich aufgrund ihrer Selbsterhaltungsinteressen
weiter. Beim Selbsterhaltungsinteresse wiederum geht es maßgeblich um den
Erhalt oder gar die Verbesserung der eigenen Kompetenzen in Relation zur Außenwelt
(Adaptionen). Auch zählen alle Maßnahmen zur Effizienzsteigerung, die
es erlauben, die eigenen Produkte preiswerter anzubieten (= Kompetenzverbesserung),
dazu. (Ebd., S. 64).Besteht in der Außenwelt
noch keine zu sehr einengende Ressourcenverknappung, kann eine weitere Effizienzsteigerung
oft allein schon durch Wachstum realisiert werden, weil dann sogenannte Skaleneffekte
entstehen. Dies gilt insbesondere im Unternehmensbereich, wo steigende Stückzahlen
üblicherweise mit sinkenden Stückkosten einhergehen. (**).
Viele evolutorische Systeme (auch biologische) tendieren deshalb zu Größenzuwachs
(siehe Abschnitt Wachstum).
Zunehmende Größe dürfte dann aber irgendwann auch eine stärkere
Ausdiffezierung des Systems zur Folge haben. Bei einer Zunahme der Zahl an Elementen
steigt nämlich der systemische Koordinierungsaufwand beträchtlich. Durch
die Gliederung in Subsysteme mit dedizierten Aufgaben kann die Gesamtkomplexität
des Systems entscheidend reduziert werden, da nun für die einzelnen Subsysteme
selbst weite Teile des Gesamtsystems zur Außenwelt gehören. Mit anderen
Worten: Eine zunehmende Ausdifferenzierung des Systems reduziert die Systemkomplexität.
(Ebd., S. 64-65).Im Rahmen der Gefallen-wollen-Kornmunikation hat
die Ausdifferenzierung meist auch eine Eingrenzung des Kontextes (das heißt,
des Sinnzusammenhangs) für die Äußerung von Selektionsinteressen
zur Folge (siehe dazu auch den Abschnitt Gefallen-wollen-Kommunikation).
(Ebd., S. 65).Auf der anderen Seite geht die Ausdifferenzierung
mit einer verstärkten Arbeitsteilung einher, in deren Rahmen es gemäß
Ricardos Theorem der komparativen Kostenvorteile und aufgrund von Veränderungen
in der Arbeitsorganisation (**)
zu einer weiteren Effizienzsteigerung des Gesamtsystems kornmen kann. Auch hierbei
handelt es sich letztlich um einen Beitrag zum Erhalt oder gar zur Verbesserung
von Kompetenzen. (Ebd., S. 65).
In
seinem Hauptwerk »Der Wohlsland der Nationen« rechnete Adam Smith
vor, daß ein Nagelmacher, der alles selbst ausführt, pro Tag höchstens
ein paar hundert Nägel herstellen kann, während er in einer Nagelfabrik,
in der die Arbeiten gemäß dem Prinzip der Arbeitsteilung in kleine
Einzelschritte zerlegt sind, umgerechnet mehr als 4800 Nägel pro Tag produzieren
kann. (Ebd.). |
Und
schließlich erzeugt die Gefallen-wollen-Kommunikation aus sich heraus ständig
neue Produkte, Dienstleistungen und damit auch Bedürfnisse auf der Abnehmerseite,
wodurch sich die Märkte und Gesellschaften weiter ausdifferenzieren (siehe
dazu die Ausführungen im Kapitel Verschwendung).
Auch ein Großteil der Artenvielfalt in der Natur dürfte auf die Wirkungen
der sexuellen Selektion beziehungsweise der natürlichen Gefallen-wollen-Kornmunikation
zurückzuführen sein. Anders gesagt: Die Gefallen-wollen-Kommunikation
differenziert Systeme aus. (Ebd., S. 65).
3.8) Systembindungen
Systeme binden ihre Elemente auf sehr
unterschiedliche Weise aneinander. Im Sonnensystem geschieht dies beispielsweise
durch die Gravitation. (Ebd., S. 65).Bei Organismen (Mehrzellern)
handelt es sich um Aggregationen aus Zellen, die sehr eng aneinander gekoppelt
sind. In Tieren dient als maßgebliches Bindeglied dafür die sogenannte
extrazelluläre Matrix, die die Gesamtheit der Makromoleküle, die sich
außerhalb der Plasmamembran von Gewebe- oder Organzellen befinden, darstellt.
Eine ihrer Hauptaufgaben ist die Fixierung der in ihr eingebetteten Zellen. Eine
Zelle kann die ihr einmal zugewiesene Lokation nicht mehr verlassen. (Ebd.,
S. 66).Wie bereits erwähnt wurde, bezeichnen Maturana und
Varela Organismen als autopoietische Systeme zweiter Ordnung (Zellen
= autopoeitische Systeme 1. Ordnung; Organismen = autopoeitische Systeme 2. Ordnung;
Organisationen i.S.v Populationen, Gesellschaften u.ä. = autopoeitische Systeme
3. Ordnung; HB), wobei sie gleichzeitig anmerken, daß die Komponenten
dieser Systeme - die Zellen - nur über eine sehr geringe Autonomie verfügen.
(Ebd., S. 66).Mit den Organisationssystemen
(**|**|**|**)
ist in der Natur ein neuer Systemtyp entstanden, den man auch als Superorganismus
bezeichnen könnte. Anders als Mehrzeller binden moderne Superorganismen einen
Großteil ihrer Elemente - Akteure wie Menschen und soziale Systeme (zum
Beispiel weitere Organisationssysteme) - jedoch nicht fest und unveränderlich
an sich, sondern in aller Regel recht locker über Verträge (Kontrakte).
Die Fähigkeit, Verträge einzugehen und einzuhalten, ist Teil der menschlichen
Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, die man - ähnlich der extrazellulären
Matrix in Organismen - als den Kitt für den Zusammenhalt von Organisationssystemen
bezeichnen könnte. Die Autonomie der Elemente ist in diesem Falle natürlich
vergleichsweise hoch. (Ebd., S. 66).Ein Vertrag koordiniert
und regelt das soziale Verhalten durch eine gegenseitige Selbstverpflichtung.
Er wird freiwillig zwischen zwei oder mehr Parteien geschlossen. Im Vertrag verspricht
jede Partei der anderen, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen und damit
eine von der anderen Partei gewünschte Leistung zu erbringen. Auf diese Weise
wird die Zukunft für die beteiligten Parteien berechenbarer. Die Vertragsfreiheit
gehört zu den Grundelementen der Marktwirtschaft. (Ebd., S. 66).Gemäß
Niklas Luhmann entstehen soziale Systeme durch Kommunikation. Das vorliegende
Buch vertritt in dieser Hinsicht jedoch eine andere Auffassung, beispielsweise
daß sich Organisationssysteme aus Akteuren (den Elementen) zusammensetzen,
die an das System durch Kontrakte gebunden sind. (Ebd., S. 66).
3.9) Systemflexibilität
In der Praxis kann sich die
konkrete Ausgestaltung der Organisationssystem-Elemente-Bindung jedoch recht unterschiedlich
darstellen. Dies wird umso deutlicher, wenn auch noch die historische Perspektive
in die Betrachtung mit einbezogen wird. So war bis etwa Ende des 18. Jahrhunderts
der Haushalt noch das Zentrum des Wirtschaftsgeschehens, in dem abhängig
Beschäftigte nicht nur arbeiteten, sondern auch schliefen und ihre Mahlzeiten
einnahmen. (Ebd., S. 67).Dies änderte sich schlagartig
mit der Industrialisierung und dem Aufkommen größerer Fabriken, die
in aller Regel keine Unterkunft mehr auf dem eigenen Fabrikgelände boten.
Gleichzeitig rekrutierten sie ihre Arbeiter in einem so weiten Radius, daß
diese nicht selten mit dem Pferd statt zu Fuß zur Arbeit kommen mußten.
(Ebd., S. 67).In der Folge entstanden immer größere
Fabriken und Unternehmen, denn Größe war gleichbedeutend mit Kosteneffizienz.
Wie wir im Abschnitt Ausdifferenzierung
gesehen haben, differenzieren sich solche Systeme dann nach innen aus, und zwar
aus Gründen der Komplexitätsreduzierung. Vielfach entstanden auf diese
Weise gigantische Unternehmen mit zahlreichen Hierarchieebenen und einer fast
militärischen Ordnung. (Ebd., S. 67).Heute spricht man
... von Flexibilität, Reengineering, Reorganisation, Teamarbeit, Projekten,
Arbeitsfeldern, Netzwerken und flachen Hierarchien, wodurch sich unmittelbar die
Frage stellt, was sich in modernen Unternehmen organisatorisch gegenüber
der ... industriellen Produktionsweise verändert hat. (Ebd., S. 67).Ein
wesentlicher Unterschied dürfte darin bestehen, daß sich klassische
Industrieunternehmen in Hierarchien und kleinere innere Einheiten - zum Beispiel
Abteilungen - untergliedern, die aber selbst noch keine selbsterhaltenden Systeme
und folglich auch nicht eigenständig lebensfähig sind, während
sich moderne Unternehmen zunehmend in autonome Systeme mit eigenständigen
Selbsterhaltungsinteressen (selbsterhaltende Systeme) ausdifferenzieren. Auf diese
Weise entstehen dann heute Netzwerke aus weitestgehend unabhängigen Geschäftsbereichen,
Gruppenunternehmen und Zulieferern, die seitens der übergeordneten Systeme
(Gesamtorganisationen) zwar durch Gewinn-, Produktions- und Kostenvorgaben gesteuert
werden, es den Subsystemen aber dennoch relativ freisteht, wie sie ihre jeweiligen
Vorgaben verwirklichen wollen. Eine klassische Befehlsstruktur kann dann praktisch
entfallen, und es kommt zu einer Abflachung von Hierarchien. (Ebd., S. 67-68).Moderne,
netzwerkartig operierende Unternehmen sind durch flexibleschwache Bindungen zwischen
ihren einzelnen Elementen gekennzeichnet: »Netzwerkartige Gliederungen
sind weniger schwerfällig als Befehlspyramiden, sagt der Soziologe
Walter Powell, sie lassen sich einfacher auflösen oder umorganisieren
als starre Hierarchien. Flexible Institutionen sind leichter zu verändern
oder abzuschaffen ....« (Richard Sennet, Der flexible Mensch, 2007,
S. 71). (Ebd., S. 68).Eine solche Organisationsweise macht
es relativ leicht, einen wenig profitablen Unternehmensbereich abzustoßen,
ein neues Geschäftsfeld hinzuzufügen oder einen internen Lieferanten
durch einen kostengünstigeren externen Anbieter zu ersetzen, und zwar ohne
dabei das Gesamtunternehmen in seinem Bestand zu gefährden. Auf diese Weise
ist eine wesentlich schnellere Anpassung an neue Markterfordernisse möglich.
Anders gesagt: Ein netzwerkartig operierendes Unternehmen besitzt eine größere
Systemflexibilität. (Ebd., S. 68).Im Grunde verbessert
ein solches Unternehmen vor allem den eigenen Selbsterhalt, allerdings vielfach
auch auf Kosten der Interessen seiner Mitarbeiter. Beispielsweise haben moderne
Unternehmen zahlreiche Aufgaben, die sie früher selbst erledigten, an kleine
Firmen oder Einzelpersonen mit kurzfristigen Verträgen ausgelagert. Gleichzeitig
wurden viele Stellen durch Projekte oder Arbeitsfelder ersetzt, bei denen sich
Teams mit wechselnder Zusammensetzung von Aufgabe zu Aufgabe bewegen. (Ebd.,
S. 68).Joseph Schumpeter stellte die These auf, jede ökonomische
Entwicklung baue auf dem Prozeß der schöpferischen beziehungsweise
kreativen Zerstörung auf. Durch die Zerstörung von alten Strukturen
würden die Produktionsfaktoren immer wieder neu geordnet. Sie sei folglich
notwendig, damit eine Neuordnung entstehen könne. Auslöser für
die schöpferische Zerstörung seien Innovationen, die von den Unternehmen
im Interesse des eigenen Selbsterhalts (ihre Durchsetzung auf den Märkten)
vorangetrieben werden (vgl. Joseph Alois Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus
und Demokratie, 1942). (Ebd., S. 68-69).Joseph Schumpeters
Vorstellung ähnelt also sehr der später von Thomas S. Kuhn formulierten
Auffassung, daß die wissenschaftliche Entwicklung vor allem eine Abfolge
von »Revolutionen« - gefolgt von Phasen verhältnismäßiger
Ruhe - ist (siehe dazu die Ausführungen im Abschnitt Evolution
des Wissens). (Ebd., S. 69).Betrachtet man
die Sache evolutionstheoretisch (siehe Kapitel Evolution),
dann sind beide Auffassung durchaus einleuchtend: Evolution findet keineswegs
nur langsam und geradlinig statt, sondern sie wird immer wieder von plötzlichen
Einbrüchen und Innovationen unterbrochen. Das ist auch in der Natur nicht
anders, immerhin hat sich ja sogar der Mensch binnen einer für Evolutionsprozesse
extrem kurzen Zeit ... über die gesamte Erde ausbreiten können.
(Ebd., S. 69).Die Thesen Schumpeters haben nun aber leider auch
dazu geführt, daß die gezielte Zerstörung vorhandener Unternehmensstrukturen
durch das Management gelegentlich mit einem natürlichen Innovationsprozeß
verwechselt wurde. Hierarchien flachen in Unternehmen aber üblicherweise
nur deshalb ab, weil die Technik dies nun auch ermöglicht. Reine Managemententscheidungen
ohne begleitende technologische Unterstützung dürften dagegen eher zu
einer Effizienzverschlechterung des Unternehmens führen. (Ebd., S.
69).Wie bereits gesagt wurde, handelt es sich
bei modernen Organisationssystemen
(**|**|**|**)
im wesentlichen um Netzwerke aus relativ schwach gebundenen Organisations- und
Interaktionssystemen, denen die jeweils erforderlichen Humankapitalressourcen
(menschliche Kompetenzen) je nach Bedarf zugewiesen werden. Solche Unternehmen
binden ihre internen und externen Mitarbeiter zwar noch immer vertraglich an sich,
ordnen ihnen dann aber häufig wechselnde Aufgaben in unterschiedlichen Interaktions-
und Suborganisationssystemen und nicht selten auch an variierenden Orten zu, ganz
anders als dies Organismen bei ihren Zellen tun, welche in ihren Wirten stets
die gleichen Aufgaben am gleichen Ort zu erledigen haben. (Ebd., S. 69).Moderne
Organisationssysteme erwarten von ihren Mitarbeitern ein Höchstmaß
an Flexibilität, und zwar - wie wir gesehen haben - aus egoistischen Motiven.
Es geht dabei primär um den eigenen Selbsterhalt. (**).
Das Problem dabei ist, daß solche unternehmerischen Interessen insbesondere
mit den natürlichen Reproduktionsinteressen ihrer Mitarbeiter kollidieren:
Das Aufziehen von eigenen Kindern setzt nämlich vor allem Verläßlichkeit
voraus, und diese ist in einer Welt der Flexibilität nur sehr schwer in der
dafür erforderlichen Weise zu gewährleisten. Nicht umsonst nannte die
Bundesregierung ihren siebten Familienbericht dann auch: »Familie zwischen
Flexibilität und Verläßlichkeit«. (Ebd., S. 69-70).
Häufig
wird gesagt, dies alles geschehe in erster Linie aus Gründen der Profitmaximierung.
Eine solche Vorstellung dürfte jedoch zu kurz greifen, zumal sie ganz wesentlich
auf mooralischen Kategorien wie Gut und Böse basiert
(Ebd.). |
3.10) Emergenz
Unter Emergenz versteht man die spontane
Herausbildung von Phänomenen oder Strukturen auf der Makrobeene eines Systems
auf der Grundlage des Zusammenspiels seiner Elemente. Wesentlich dabei ist, daß
sich die emergenten Eigenschaften des Gesamtsystems nicht auf Eigenschaften seiner
Systemelemente zurückführen beziehungsweise aus diesen vorhersagen lassen.
(Ebd., S. 70).Einige Theoretiker halten die Nichterklärbarkeit
emergenter Eigenschaften komplexer Systeme auf der Grundlage der Beschreibung
ihrer Elemente für lediglich vorläufig (schwache Emergenzthese), andere
sind dagegen der Auffassung, daß Systeme echte emergente Eiegnschaften besitzen
können die prinzipiell nicht auf die Eiegenschaften ihrer Systemkomponenten
zurückgeführt werden können (starke Emergenzthese). (Ebd.,
S. 70).In unmittelbarem Gegensatz zur Emergenz steht der
Begriff der Reduktion. Lange Zeit galt der Reduktionismus - speziell in
den Naturwissenschaften - als die allein akzeptierte wissenschaftliche Methode.
(Ebd., S. 70).Im vorliegenden Buch wird die These aufgestellt,
daß es sich bei den Selbsterhaltungs- und Rreproduktionsinteressen von Lebewesen
um emergente te Systemeigenschaften handelt (siehe Abschnitt Was
ist Leben?). Entsprechendes wird auch für andere evolutionsfähige
Individuentypen (zum Beispiel Superorganismen, Organisationssysteme
[**|**|**|**])
angenommen. (Ebd., S. 72-73).Damit soll nun aber nicht gesagt
werden, daß die genannten Eigenschaften in keiner Weise mit irgendwelchen
Teilkomponenten des Systems in Verbindung gebracht werden können, denn dies
wäre unzutreffend. Auch soll nicht behauptet werden, daß ein Reproduktionsinteresse
grundsätzlich und selbst bei einfachsten Lebensformen als emergente Eigenschaft
implementiert sein muß. Beispielsweise kann man sich durchaus lebende Systeme
vorstellen, die sich, wenn sie intern über genügende Ressourcen verfügen,
ganz automatisch replizieren. In diesem Falle dürfte es sogar schwerfallen,
von einem echten »Reproduktionsinteresse« zu sprechen. Dennoch soll
dies im Rahmen der vorliegenden Arbeit so gehandhabt werden. (Ebd., S. 73).
Allerdings würde ich vermuten, daß es sich bei den Reproduktionsinteressen
von höheren Tierarten (zum Beispiel Säugetieren) grundsätzlich
um ernergente Systemeigenschaften handelt, zumal sich solche Spezies in der Regel
getrenntgeschlechtlich fortpflanzen, was bedeutet, daß sie vor der Reproduktion
zunächst noch einen Fortpflanzungspartner suchen und auch für sich gewinnen
-sich also fortpflanzen »wollen« - müssen. (Ebd., S. 73).Beispielsweise
kann man über die konkrete Ausprägung des Selbsterhaltungs- oder Reproduktionsinteresses
eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt keine präzisen Vorhersagen machen.
Ob jemand abends noch für das Studium lernt, mit Freunden essen geht, früh
zu Bett geht, etwas Sport treibt oder in einer Diskothek auf Partnersuche geht,
kann man aufgrund der Komplexität des Gesamtsystems Mensch im Vorfeld nicht
sicher wissen und auch nicht auf Eigenschaften und Verhaltensweisen von Subsystemen
zurückführen. (Ebd., S. 73).Gleichfalls wird an
dieser Stelle nicht behauptet, daß die genannten emergenten Eigenschaften
vollständig quantifizierbar sind. Das ist die Intelligenz eines Menschen
auch nicht, obwohl IQ-Messungen immer wieder etwas anderes suggerieren möchten.
In beiden Fällen wird man quantitative Indikatoren finden oder entwickeln
können, mehr aber auch nicht. (Ebd., S. 73).
4) Evolution (S. 75-296)
In
diesem Kapitel wird ... versucht, die Gesamtheit der Entwicklungsprozesse durch
eine gemeinsame Evolutionstheorie (siehe Abschnitt Systemische
Evolutionstheorie) zu beschreiben. Dies hat dann allerdings zur Konsequenz,
daß die biologische Evolutionstheorie zunächst in entscheidenden Punkten
- und zwar insbesondere beim Selektionsprinzip - modifiziert beziehungsweise anders
interpretiert werden muß. (**).
(Ebd., S. 75).
Bezüglich
der Anwendbarkeit der Darwinschen Evolutionstheorie auf menschliche Gesellschaften
argumentiere ich in »Evolution, Zivilisation und Verschwendung«
- als Folge eines normalen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns - nun zum Teil
ganz anders als in meinen früheren Büchern (vgl. z.B. Hurra,
wir werden Unterschicht! und Die
Emanzipation - ein Irrtum!). (Ebd.). |
4.1) Biologische Evolutionstheorie
Die von Charles Darwin
entwickelte biologische Evolutionstheorie (im folgenden einfachheitshalber »Evolutionstheorie«
genannt) erklärt die Entwicklung des Lebens auf der Erde und die fortlaufende
Anpassung von Populationen an ihren Lebensraum. In ihr spielt der Fortpflanzungsmechanismus
eine entscheidende Rolle. Die Kernhypothesen der Evolutionstheorie sind: | ....
Variation .... | | ....
Selektion .... | | ....
Vererbung .... | Die Kernaussage der Evolutionstheorie
ist nun: Wenn die drei Voraussetzungen Variation, Selektion und Vererbung gegeben
sind, ist Evolution unvermeidlich die Folge. (Ebd., S. 77-78).Für
die ursprüngliche Darwinsche Evolutionstheorie spielt es keine Rolle, ob
die Vererbung über Gene oder etwa durch Erziehung (beziehungsweise
auch Imitation) oder einen sonstigen Mechanismus erfolgt. Auch akzeptierte Darwin
noch die als Lamarckismus bezeichnete Vererbung erworbene Eigenschaften.
(Ebd., S. 78).Für die moderne synthetische Evolutionstheorie
steht aber die Genetik im Vordergrund. Ihre Hauptaussagen sind: Die Individuen
einer Population unterscheiden sich durch erbliche Zufallsveränderungen in
ihrem genetischen Code (Variation), die durch Mutation und genetische Rekombination
(bei sexueller Reproduktion) im Rahmen der Fortpflanzung entstehen. Durch die
natürliche Selektion werden diejenigen Veränderungen, die ihren
Träger besser an eine gegebene Umwelt anpassen, häufiger an die nächste
Generation weitergegeben (Vererbung). Eine Vererbung erworbener Eigenschaften
ist dabei ausgeschlossen. Kleinere Veränderungen (Mikroevolution)
können sich über Jahrmillionen so sehr akkumulieren, daß sie dei
Entstehung neuer Baupläne des lebens (Gattungen, Ordnungen, Klassen von Organismen)
bewirken. Die Makroevolution läßt sich folglich auf mikroevolutive
Transformationen zurückführen. (Ebd., S. 78).Die
Darwinsche Evolutionstheorie ohne die Annahme einer Vererbbarkeit erworbener Eiegenschaften,
doch zuzüglich einiger einfacher genetischer Zusammenhänge, wird Neodarwinismus
genannt. (Ebd., S. 78).Man könnte das Evolutionsprinzip
auch als Optimierungsalgorithmus verstehen, der die fortlaufende Anpassung von
Populationen an sich gleichfalls verändernde Umgebungen sicherstellt, ein
von jeder Absichtlichkeit oder höherer Zweckmäßigkeit freies Verfahren.
(Vgl. Franz M. Wuketits, Evolution - Die Entwicklung des Lebens, 2005,
S. 25). Erst die natürliche Selektion verleiht der Evolution so etwas wie
eine Richtung. (Vgl. Franz M. Wuketits, ebd., 2005, S. 25). (Ebd.,
S. 78-79).Die Natur implementiert
über die Prinzipien der Evolutionstheorie so etwas wie Generationengerechtigkeit.
Generationengerechtigkeit bedeutet, daß die heutige Generation der nächsten
Generation die Möglichkeit gibt, sich ihre Bedürfnisse mindestens im
gleichen Ausmaß wie die heutige Generation zu erfüllen (Jög Tremmel,
Bevölkerungspolitik im Kontext ökologischer Generationenegerechtigkeit,
2005,S. 98). Oder anders ausgedrückt: Wenn Individuen gemäß der
natürlichen Selektion all das an ihre Nachkommen weiterreichen, was ihnen
beim Überleben behilflich war, dann müssen diese Nachkommen im Schnitt
gleich gut oder besser als ihre Eltern an diejenige Umwelt angepaßt sein,
in der die Selektion stattfand. Hat sich diese Umwelt in der Zwischenzeit kaum
verändert, dann kann sich die Folgegeneration ihre Bedürfnisse gleich
gut oder besser erfüllen als die vorangegangene. Das Prinzip der Generationengerechtigkeit
ist also gewahrt. (Ebd., S. 79).Strenggenommen ist die natürliche
Selektion kein Auswahlverfahren, sondern ein Eliminierungsverfahren in Hinblick
auf die Fortpflanzung. (Vgl. Ernst Mayr, Das ist Evolution, 2005, S. 150),
denn es scheiden die am wenigsten gut angepaßten Individuen aus, während
besser angepaßte (tauglichere) Individuen eine größere reproduktive
Überlebenschance besitzen. (Ebd., S. 80).
4.2) Fitneß
In der heutigen Evolutionsbiologie (Erweiterte
Synthetische Thoeire der biologischen Evolution) wird ein Begriff der Fitneß
verwendet, der leicht zu Mißverständnissen führen kann. So wird
als »Darwin-Fitneß«, relative Fitneß oder
auch einfach nur Fitneß eines Individuums der relative Lebenszeit-Fortpflanzungserfolg
(Lebenszeit-Fortpflanzung = Anzahl der fortpflanzungsfähigen Nachkommen im
Laufe des Lebesn eines Individuums) bezogen auf die Konkurrenten derselben Population
verstanden. .... Berücksichtigt man auch den Lebenszeit-Fortpflanzungserfolg
der nahen verwandten eines Individuums, deren gene folglich zu einem erheblichen
Teil mit denen des Individuums identisch sind, dann kommt man zum Begriff der
Gesamtfitneß. (Ebd., S. 80).Daneben existiert
auch noch der Begriff der Anpassung beziehungsweise des Grads der Angepaßtheit
an den Lebensraum (Umwelt, Milieu, Umweltfaktoren) des Individuums. (Ebd.,
S. 80).
Die heutige Evolutionsbiologie verwendet allerdings in ihren Formulierungen
des Selektionsprinzips ausschließlich den obigen Begriff der Fitneß.
(Ebd., S. 80).
Es überleben diejenigen,
die den höchsten Lebenszeit-Fortpflanzungserfolg haben. (Ebd., S. 81).Allerdings
degenerierte das Selktionsprinzip auf diese Weise zur bloßen Tatologie ....
(Ebd., S. 81).Das Problem des Fitneßbegriffs im Sinne eines
relativen Lebenszeit-Fortpflanzungserfolges ist, daß er etwas voraussetzt,
was Teil des Ergebnisses ist. (Ebd., S. 81).Das Problem ...
ist - und ich werde im Laufe des Buches noch mehrfach darauf zurückkommen
-, daß Biologen stets etwas implizit annehmen, was aber nicht gegeben sein
muß, nämlich das sich lebewesen möglichst oft fortpflanzen wollen.
Nur unter einem kompetanzneutralen Fortpflanzungsinteresse von Individuen kann
von wirklicher Evolution, die mit einer zunehmenden Anpassung der Lebewesen and
en Lebensraum einhergeht, gesprochen werden. Höhere Fortpflanzungserfolge
allein treiben die Evolution jedenfalls noch nicht an. Ich werde deshalb den Begriff
Fitneß in den weitern Ausführungen des Buches wieder - wie Darwin
- ausschließlich im Sinne von Anpassung verwenden. (Ebd., S.
84).Das vorliegende Buch ... vertritt die These, die entscheidende
Triebkraft der Evolution sei weniger die natürliche Selektion, sondern
die den Individuen innewohnenden Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen,
bei denen es sich um Systemeigenschaften des Lebens handelt. (Ebd.,
S. 86).
4.3) Sozialdarwinismus
Die Anwendung der Evolutionstheorie
auf menschliche Gesellschaften wird häufig als Sozialdarwinismus bezeichnet
und diskreditiert. Meist steckt hinter einer solchen Kritik ein unzutreffendes
Verständnis der Evolutionstheorie. Eine Diskussion des Verhältnisses
von Evolutionstheorie und Sozialdarwinismus findet sich zum Beispiel in: Christian
Vogel, Anthropologische Spuren - Zur Natur des Menschen [Hrsg.: Volker
Sommer], 2000, S. 179ff.. Der Brockhaus definiert Sozialdarwinismus wie folgt:
Sammelbegriff für alle sozialwissenschaftlichen Theorien, die Charles
Darwins Lehre von der natürlichen Auslese (Selektionstheorie) auf die Entwicklung
von menschlichen Gesellschaften übertragen. So wurde die wirtschaftliche
und soziale Entwicklung als vom Kampf der Individuen und Gruppen ums Dasein verursacht
gedacht und als Grundgesetz der Geschichte aufgefaßt (L. F. Ward, W G. Summer).
Der Sozialdarwinismus diente zeitweise als Rechtfertigung für bestehende
gesellschaftliche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten sowie rassistische Theorien.
(Vgl. Brockhaus in 18 Bänden, 2002, Band 13, S. 153). (Ebd., S. 87).Sozialdarwinismus
steht für die Anwendung des Darwinismus (bzw. der biologischen Evolutionstheorie
allgemein) auf menschliche Gesellschaften. Für den umgekehrten Fall, nämlich
die Anwendung von Evolutionstheorien, die ihren Ursprung in der Beschreibung technologischer
oder sozialer Entwicklungen haben, auf die Biologie, fehlt zur Zeit noch ein passender
»Ismus«-Begriff. (Ebd., S. 90).
4.4) Meme
Auch die menschliche Kultur
scheint sich evolutionär weiterzuentwickeln. Ein vielversprechender Versuch,
die dahinterstehenden Prozesse mittels der Darwinschen Evolutionstheorie zu beschreiben,
erfolgte mit der Mem-Theorie von Richard Dawkins, die im folgenden grob
und unkommentiert widergegeben werden soll. Allerdings werde ich im Laufe des
Buches noch zeigen, daß die Mem-Theorie nicht haltbar ist. (Ebd.,
S. 90).Kernbestandteil der Mem-Theorie ist die
Behauptung einer neben der Evolution der Gene existierenden zweiten, schnelleren
und unabhängig von den Genen verlaufenden Evolution: die kulturelle Evolution,
deren Einheiten die Meme sind. (Vgl. Richard Dawkins, Das egoistische
Gen, 1976; Susan Blackmore, Evolution und Meme, in: Alexander Becker
et al., Gene, Meme und Gehirne, 2003). (Ebd., S. 90-91).Gemäß
der Theorie der egoistischen Gene sind Lebewesen lediglich Überlebensmaschinen
ihrer Gene (vgl. Richard Dawkins, ebd., S. 52ff.; Matt Ridley, Eros
und Evolution, 1995, S. 20). Die Fortpflanzung erfolgte dementsprechend weniger
im Interesse der Individuen selbst, sondern in erster Linie im Dienste der sie
konstruierenden »egoistische Gene« (Richard Dawkins). Allerdings erklärt
sich damit noch nicht die Rolle der menschlichen Kultur, weswegen für Dawkins
das Konstrukt eines Kulturreplikators mit dem Namen Mem erforderlich
wurde (vgl. Richard Dawkins, ebd., S. 316ff.). (Ebd., S. 91-92).Meme
sind also etwas grundsätzlich anderes als Gene, sollen sich aber nach einem
ähnlichen Schema als Überlebensmechanismus deuten lassen. Auch für
die Meme gilt der evolutionstheoretische Dreiklang von Variation, Selektion und
Vererbung (Replikation). (Ebd., S. 92).Meme vermehren sich,
anders als Gene, nicht über die biologische Vererbung, sondern durch Imitation.
Wann immer jemand etwas per Nachahmung von jemand anderem übernimmt - zum
Beispiel Wörter und Wendungen, Theorien, Techniken, Moden und Melodien -,
wird ein Mem repliziert (Vererbung). Der genetischen Mutation entsprechen
dabei die Abwandlungen oder Neukombinationen von Memen, wie sie im Prozeß
der Imitation unweigerlich geschehen (Variation). Und schließlich
findet sich auch so etwas wie eine Selektion von Memen. Meme stehen nämlich
in Konkurrenz zueinander. Sie brauchen gemäß Mem-Theorie zur Replikation
den menschlichen Geist als Ressource. Es kommt dann zum Survival of the Fittest,
denn nur wenige Theorien, Geschichten oder Melodien werden sich über einen
längeren Zeitraum in viele Gehirne einnisten. (Ebd., S. 91).Was
die Gene für die Lebewesen sind, sind die Meme für die Kultur. Die Akteure
sind letztendlich die Meme, die Menschen als deren vermeintliche Autoren dagegen
bloß deren Transportvehikel. Bei Memen handelt es sich also um Einheiten,
die ähnlich wie Gene danach »streben«, sich zu verbreiten und
zu vermehren. »Wenn
jemand ein fruchtbares Mem in meinen Geist einpflanzt, so setzt er mir im wahrsten
Sinne des Wortes einen Parasiten ins Gehirn und macht es auf genau die gleiche
Weisde zu einem Vehikel für die Verbreitung des Mems, wie ein Virus dies
mit dem genetischen Mechanismus einer Wirtszelle tut ....« (Richard Dawkins,
Das egoistische Gen, 1976, S. 321) | Meme wetteifern
darum, in so viele Gehirne wie möglich zu gelangen und sich dort zu behaupten.
Diese Konkurrenz der Meme hat letztendlich unseren Geist und unsere Kultur geformt.
In diesem Sinne sind Menschen allesamt Mem-Maschinen. (Ebd., S. 91).
4.5) Systemische Evolutionstheorie **
Die
kontinuierliche Weiterentwicklung der Computerhardware entspricht der biologischen
Evolution, die der Software der kulturellen Evolution .... Moderne Software ist
nur deshalb so leistungsfähig an Funktionen, weil es die dazu passende, sie
unterstützende Hardware gibt. Und die menschlice Kultur ist nur deshalb so
weit entwickelt, weil sie von intelligenten Menschen getragen wird, deren IQ möglicherweise
durch Bildung und Schulung angehoben wurde, ganz wesentlich aber auch auf genetischen
Faktoren beruht (vgl. Peter Mersch, Die
Emanzipation - ein Irrtum!, 2007, S. 57-66 [Kapitel Intelligenz]).
(Ebd., S. 92-93).In der Biologie wird häufig der Ausdruck
Vererbung statt Reproduktion verwendet. Dies könnte suggerieren,
die Weitergabe von Merkmalen und Kompetenzen an die nächste Generation erfolge
ausschließlich über Gene. Beim Menschen ist das aber keineswegs der
Fall, denn hier spielen sowohl genetisch vermittelte Kompetenzen, als auch solche,
die über Imitation, Erziehung und Bildung vermittelt werden, eine tragende
Rolle. Gemäß der in der Biologie allgemein akzeptierten Weismann-Barriere
fließen Erfahrungen, die ein Individuum mit der Umwelt macht, nicht in den
Erbgang ein. Damit wären über die Fortpflanzung nur begrenzte Adaptionen
an den jeweiligen Lebensraum möglich. Beim Menschen (schon
bei Vögeln und Säugetieren [besonders bei den Primaten]!
HB) setzt nun aber zusätzlich eine zweite Reproduktion (Replikation)
ein, die in der Lage ist, auch alle erworbenen Kompetenzen der vorangegangenen
Generationen an die nächste weiterzugeben (siehe dazu auch die Abschnitte
Kulturelle
Evolution und Vererbungssysteme
und Replikatoren). Während die Gene ausschließlich von
den leiblichen Eltern stammen, beruht ein Großteil der erworbenen Kompetenzen
auch auf dem Lebenserfolg anderer (gegebenenfalls aller bisherigen Menschen).
(Ebd., S. 93-94).Bei der biologischen und kulturellen Evolution
handelt es sich folglich nicht um unabhängige und auf getrennten Mechanismen
(Gene versus Meme) beruhende Entwicklungen, sondern um einen gemeinsamen Prozeß
zur Erhaltung oder gar Verbesserung der Adaption von Individuen und Populationen
an ihren jeweiligen Lebensraum. Erlernbare Kompetenzen werden durch Imitation
und Vermittlung weitergegeben, andere Kompetenzen dagegen ausschließlich
über die Fortpflanzung (Gene). (Ebd., S. 94).Dies gilt
umso mehr, als sich moderne Menschen - anders als etwa Tiere - vorwiegend in einer
von ihnen selbst geschaffenen künstlichen Umgebung bewegen. Tierische Populationen
verändern ihre Umwelt zwar auch, doch nicht in dem Ausmaße, wie dies
menschliche Gesellschaften tun, die ihr eigenes Milieu weitestgehend selbst gestalten,
was zu beschleunigten Selbstläuferprozessen führen kann. Auch sind dann
viele, vormals besonders wichtige Kompetenzen nicht länger von Bedeutung
(**). Beispielsweise muß in
modernen menschlichen Gesellschaften niemand mehr schnell und ausdauernd rennen
können, da alle längeren Strecken viel effizienter mit dem Auto zurückgelegt
werden können. Folglich sind schwächliche Beine auch kein Ausschlußgrund
für sozialen und reproduktiven Erfolg mehr (**).
(Ebd., S. 94).
Steve
Jones fonnuliert dies wie folgt: »Alle Eigenschaften degenerieren, wenn
sie ihre Aufgabe erfüllt haben. Hört die Selektion auf, macht sich das
Chaos der Natur breit, und die Evolution verliert ihre Richtung.« (Steve
Jones, Wie der Wal zur Flosse kam, 2002, S. 415). (Ebd.). |
Eine
ähnliche Entwicklung hat auch im Rahmen der Technik stattgefunden. So sind
heutige CD-Player bezüglich der Wiedergabequalität viel leistungsfähiger,
als es die aufwendigsten Laufwerke für die herkömmliche Schallplatte
waren, trotzdem sind sie mechanisch simpler konstruiert nnd dementsprechend auch
deutlich preiswerter. (Ebd.). |
Eine
begrenzte Evolution in der Informationstechnologie wäre selbst dann möglich,
wenn die Hardwareentwicklung eingefroren und nur noch die Softwareseite voranschreiten
würde. Die Softwareentwickler müßten dann eben versuchen, die
nun immer gleiche Hardware besser zu nutzen. In ähnlicher Weise könnte
sich die Menschheit im begrenzten Umfang selbst dann an sich verändernde
Rahmenbedingungen anpassen, wenn sie sich zwar genetisch nicht mehr entwickelte,
dafür aber das gesammelte Wissen immer weiter zunähme (**).Wenn
weite Teile der Sozialwissenschaften behaupten, alle Menschen würden sich
von Natur aus genetisch so sehr ähneln, daß alle noch eventuell vorhandenen
genetischen Unterschiede durch Bildungsmaßnahmen wieder ausgeglichen werden
könnten, dann spekulieren sie insgeheim auf einen solchen Mechanismus (**).
Leider ist dieser so nicht existent, was allein schon der hohe genetische Anteil
an dem in modernen Gesellschaften so wichtigen »Merkmal« IQ (Intelligenzquotient)
zeigt (vgl. Peter Mersch, Die
Emanzipation - ein Irrtum!, 2007, S. 57-66 [Kapitel Intelligenz]).
Und auch in anderer Hinsicht entstehen hierbei Widersprüche. Beispielsweise
behauptet eine Mehrheit der Neurologen, bei Migräne handele es sich in erster
Linie um eine genetisch bedingte Erkrankung, die aus diesem Grunde dann auch unheilbar
sei, so daß Betroffene gegebenenfalls ihr Leben lang verschreibungspflichtige
Medikamente einnehmen müssen (vgl. Peter Mersch, Migräne,
2006). Kurz: Geht es um menschliche Kompetenzen, so sind diese angeblich in keinem
Fall einzigartig, sondern können allesamt erlernt und damit erworben werden,
geht es dagegen um Krankheiten, so sind die Menschen wiederum alle verschieden
und müssen in der Folge dann auch individuell behandelt werden. Ein »Verlernen«
einer Erkrankung wie Migräne wäre aufgrund der angeblichen genetischen
Einzigartigkeit der Menschen somit prinzipiell nicht möglich. Diese doch
sehr unterschiedliche Bewertung der gleichen Sachverhalte legt den Schluß
nahe, die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen legten diese gerade so aus, wie
sie ihnen optimal ins (ökonomische) Konzept passen. (Ebd., S. 94-95).
Es
ist der Evolution egal, ob ein Individuum im Vorteil ist, weil es die »besseren«
Gene besitzt oder nur mehr nutzbares Wissen akkumuliert hat und deshalb etwa technologisch
überlegen ist. Entscheidend ist die bessere Adaption. Auf welche Weise diese
zustande gekommen ist, spielt dabei keine Rolle. Eine genzentrische Sicht allein
wird die Evolution deshalb nicht schlüssig erklären können (siehe
dazu auch den Abschnitt Vererbungssysteme
und Replikatoren). (Ebd.). |
In
einigen Wissenschaftsdisziplinen wird mehrheitlich die Auffassung vertreten, das
menschliche Gehirn komme als unbeschriebenes Blatt zur Welt, und alle wesentlichen
nutzbaren Kompetenzen , könnten erworben werden, würden also durch eine
kulturelle Replikation entstehen. Genetisch vermittelte Merkmale und Kompetenzen
spielten dagegen kaum mehr eine Rolle. Ich persönlich halte diese Theorie
für ähnlich bedenklich wie die schlimmsten Formen des Sozialdarwinismus,
negiert sie doch das natürliche Recht von Menschen auf Einzigartigkeit. Im
Prinzip ist die Aussage die folgende: »Hat ein Individuum besondere Fähigkeiten,
dann beruhen diese auf einer zufälligen Privilegierung. Würden andere
Menschen unter vergleichbaren Bedingungen aufwachsen, verfügten sie allesamt
über die gleichen Kompetenzen.« Die Theorie geht direkt oder indirekt
von der Annahme aus, die biologische Evolution habe mit dem menschlichen Gehirn
ein Organ hervorgebracht, was nicht länger ihrer Kontrolle und Weiterentwicklung
unterliegt, sondern ausschließlich der kulturellen Evolution dient. Eine
solche Vorstellung ist jedoch unhaltbar, wie Steven Pinker überzeugend darlegen
konnte (vgl. Steven Pinker, Das unbeschriebene Blatt, 2003). (Ebd.). |
Wir
halten also fest: In der Natur findet - ähnlich wie in der Informationstechnologie
- eine doppelte Evolution statt (vgl. Gerhard Vollmer, a.a.O., S. 84): Einerseits
eine biologische auf Basis der Gene, bei der die Erfahrungen der Individuen mit
ihrem Lebensraum keinen Eingang finden, und andererseits eine kulturelle, die
durch Imitation und Wissensvermittlung vorangetrieben wird, und die gegebenenfalls
- wie beim Menschen - das gesamte Wissen aller bisherigen Individuen nutzt. Als
Statuserhaltungssysteme dienen bei letzterer die Gehirne der einzelnen Individuen,
beziehungsweise in menschlichen Gesellschaften auch alle sonstigen Speichermedien,
wie zum Beispiel Bibliotheken, Datenbanken oder das Internet. Keine der beiden
Evolutionen kann isoliert für sich betrachtet werden. Zwischen biologischen
und kulturellen Vorgängen besteht stets eine Rückkopplung. (Ebd.,
S. 95-96).In diesem Zusammenhang sind auch die Begriffe Phänotyp
und Genotyp von Bedeutung: | Phänotyp:
Die Gesamtheit aller erworbenen und ererbten Merkmale eines Individuums (sein
äußeres Erscheinungsbild). Zum Phänotyp eines Menschen gehören
auch dessen IQ und Bildung. Die erworbenen Eigenschaften werden nicht weitervererbt,
der Genotyp wird dadurch also nicht beeinflußt. | | Genotyp:
Der vollständige Satz von Genen, den ein Individuum geerbt hat. Im Grunde
handelt es sich dabei um das Genom des Individuums. | Gegenstand
einer »Selektion« im Sinne der klassischen Evolutionstheorie kann
eigentlich nur der Phänotyp sein, denn es ist ja dieser, der mehr oder weniger
an sein Milieu angepaßt ist. Seine Gene spielen möglicherweise eine
tragende Rolle, aber vielleicht nicht die alles Entscheidende (**).
Man handelt sich folglich eine ganze Menge theoretischer Probleme ein, wenn man
Evolution vor allem aus Sicht der Replikatoren beschreiben möchte. Auf diesen
wesentlichen Punkt soll noch einmal gesondert im Abschnitt Vererbungssysteme
und Replikatoren eingegangen werden. (Ebd., S. 96).
Beispielsweise
nahm Francisco Pizarro mit nur 184 Gefährten den Inka-König Atahualpa
gefang wobei er fast 5000 unbewaffnete Gefolgsleute des Königs niedermetzeln
ließ. Dies läßt sich sicherlich nicht mit einer besseren genetischen
Anpassung der spanischen Eroberer an den damalige südamerikanischen Lebensraum
erklären, sondern eher mit der Tatsache, daß die Spanier Schußwaffen
besaßen und die anderen eben nicht. (Ebd.). |
Wie
ich bereits erwähnte, gehen weite Teile der Sozialwissenschaften (fälschlicherweise!HB)
davon aus, daß der Einfluß der Gene in modernen menschlichen Gesellschaften
so gut wie vernachlässigbar ist (er ist es eindeutig
nicht!HB), und daß alle diesbezüglichen Unterschiede durch geeignete
staatliche Bildungsmaßnahmen wieder wettgemacht werden können (sie
können es nicht!HB). (Ebd., S. 96).Interessanterweise
dürfte nun aber in modernen, arbeitsteiligen und individualistischen Gesellschaften
dem genetischen Anteil an den Kompetenzen eines Menschen in aller Regel eine ganz
besonders starke Bedeutung zukommen. (Ebd., S. 97).Gemäß
Émile Durkheim basierte die gesellschaftliche Kooperation in Urgesellschaften
noch ganz wesentlich auf der Ähnlichkeit von Individuen, in modernen Gesellschaften
stützt sie sich dagegen auf deren Differenzierung. Differenzierung bedeutet
aber auch berufliche Spezialisierung. Und da ist nun einfach zu erwarten, daß
sich Menschen dann vor allem für solche Tätigkeiten entscheiden werden,
die ihnen besonders leicht fallen, und für die sie die entsprechenden genetischen
Voraussetzungen mitbringen. Niemand würde beispielsweise ernsthaft Pianist
oder Mathematikprofessor werden wollen, wenn er sich mit der angestrebten Tätigkeit
bereits in der Frühphase seiner Ausbildung sehr schwer täte. (Ebd.,
S. 97).Eventuell werden Sie sich aufgrund meines vorangegangenen
kleinen Abstechers in die Hard- und Softwarebranche noch fragen, wie sich denn
entsprechend den bisherigen Ausführungen die technologische Weiterentwicklung
erklären läßt. Konkret: Was hat die offenkundige Evolution der
Hard- und Software innerhalb der Informationstechnologie bewirkt? Oder noch konkreter:
Was hat aus einem Intel Pentium Prozessor einen Intel Core 2 Duo werden lassen?
(Ebd., S. 94).Ich werde im Rahmen des Buches zeigen (siehe insbesondere
Abschnitt Technische
Evolution), daß es sich bei Produkten (etwa Intel Prozessoren)
und Dienstleistungen um Kompetenzen (Adaptionen, Merkmalen) von Organisationssystemen
(Unternehmen) handelt, mit denen diese in ihren speziellen Umwelten - den Märkten
- um die Erlangung von Ressourcen (etwa durch Produktverkäufe) konkurrieren.
Da sich solche Organisationen fortlaufend selbsterhalten wollen, sind sie (normalerweise)
stets darum bemüht, ihre Kompetenzen und Adaptionen zu erhalten beziehungsweise
zu verbessern. Im Sinne der noch darzustellenden Systemischen Evolutionstheorie
evolvieren folglich nicht Mikroprozessoren oder Softwaremodule, sondern Unternehmen
beziehungsweise Organisationssysteme wie Intel oder Microsoft. Der relevante Replikator
dürfte dann dabei das jeweilige gesammelte und in den Mitarbeiterköpfen
und Firmen-Datenbanken vorhandene Untemehmens-Know-how sein. (Ebd., S.
97).Nach diesen vorbereitenden Bemerkungen möchte ich nun
zu einer Verallgemeinerung der Evolutionstheorie - im folgenden Systemische
Evolutionstheorie genannt (**)
- kommen. Dabei soll mit einer Erläuterung der Motivationen bei der Festlegung
der verschiedenen Evoltionsprinzipien begonnen werden. (Ebd., S. 97-98).
Die
Systemische Evolutionstheorie sollte nicht mit der »Systemtheorie
der Evolution« (vgl. Rupert Riedl, Die Ordnung des Lebendigen - Systembedingungen
der Evolution, 1975) verwechselt werden. Bei letzterer handelt es sich um
eine Weiterentwicklung der Synthetischen Evolutionstheorie, also um eine
biologische Evolutionstheorie. Die Systemische Evolutionstheorie erklärt
dagegen Evolution direkt aus bestimmten, recht allgemeinen Systemeigenschaften
heraus und kann deshalb auch nichtbiologische Evolutionen beschreiben. Allerdings
bestehen einige Übereinstimmungen in der systemtheoretischen Argumentation.
Gleiches gilt für die Evolutionäre Erkenntnistheorie (vgl. Rupert
Riedl / Delpos, Manuela [Hrsg.], Die Evolutionäre Erkenntnistheorie im
Spiegel der Wissenschaften, 1996; Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie,
1975). (Ebd.). |
In
der Softwareindustrie hat in den letzten Jahrzehnten ein Wandel hin zur sogenannten
objektorientierten Programmierung stattgefunden. Stand vorher stets die reine
Programmlogik im Vordergrund, so sind es nun die Objekte, die über ihre Eigenschaften
und die auf ihnen anwendbaren Methoden (Operationen) definiert werden. Wird beispielsweise
bei einem Objekt »Girokonto« festgelegt, daß es nur zweistellige
Zahlen beinhalten kann und auf seine Inhalte nur die Operationen Addition und
Subtraktion angewendet werden können, dann kann das Programm darauf nicht
unmittelbar multiplizieren oder exponenzieren oder ihm den Wert »Grün«
zuweisen. So etwas wäre dann ein Programmfehler, der bereits bei der Entwicklung
auffallen würde. (Ebd., S. 98).Evolutionstheorien beschäftigen
sich mit Evolutionen, die aus sich selbst heraus entstehen, ohne dabei so etwas
wie einen externen Schöpfer zu benötigen. Charles Darwin lieferte mit
der biologischen Evolutionstheorie ein erstes überzeugendes Modell, welches
die Entwicklung des Lebens auf der Erde ohne den Eingriff einer externen höheren
Intelligenz erklären konnte. Im Zentrum stand dabei das Prinzip der natürlichen
Auslese: Besser an ihre Umwelt angepaßte Individuen einer Population hinterlassen
mehr Nachkommen als weniger gut angepaßte. (Ebd., S. 98).Doch
was sind in diesem Zusammenhang eigentlich »Individuen«? Für
Charles Darwin wäre so etwas eine törichte Frage gewesen, denn seine
Evolutionstheorie beschäftigte sich ausschließlich mit dem Leben. Folglich
mußte es sich bei den Individuen um Lebewesen handeln. Für ihn standen
also die »Objekte« des Wandels von vornherein fest. (Ebd., S.
98).Dabei ist es jedoch nicht geblieben. Und so wird mittlerweile
fleißig über Gene, Meme, Entscheidungen, Theorien, Hypothesen, Mobiltelefone,
Gesellschaften, Kunstwerke, Augen, Ohren u.s.w. gesprochen, und alle sollen angeblich
evolvieren können. Womit wir wieder bei der Frage nach den Objekten wären:
Welche Klassen an Objekten können eigendynamisch (ohne externen Schöpfer)
evolvieren? (Ebd., S. 98-99).Schauen wir uns dazu noch
einmal die ursprüngliche Darwinsche Evolutionstheorie etwas genauer an. Entfernt
man aus dieser die Grundannahme, daß die darin vorkommenden Individuen Lebewesen
sind, wird sie plötzlich inhaltsleer. Warum sollte man ein Individuum nicht
etwa auch durch zwei dividieren oder mit ihm ins Internet gehen können? Was
hindert mich eigentlich daran? (Ebd., S. 99).Wir werden
deshalb nicht umhin kommen, zunächst einmal die Objekteigenschaften evolvierender
Individuen zu beschreiben. Glücklicherweise gibt die Darwinsche Evolutionstheorie
dazu eine ganze Reihe an Hilfestellungen: | Individuen
unterscheiden sich von ihrer Umwelt und sind an diese mehr oder weniger gut angepaßt.
Es existiert folglich eine System-Umwelt-Differenz. Anders gesagt: Individuen
sind Systeme. | | Individuen
benötigen eine Umwelt (den Lebensraum), und zwar insbesondere zur Erlangung
lebensnotwendiger Ressourcen. Verfügt der Lebensraum über weniger Ressourcen
als die gesamte Population zum Leben benötigt, kommt es unter den Individuen
zum »Kampf ums Dasein«.Mit anderen Worten: Individuen »wollen«
sich selbsterhalten. | | Individuen
produzieren mehr Nachkommen, als die Umwelt ernähren kann. (**).
Etwas abgeschwächt bedeutet dies: Individuen »wollen« sich
reproduzieren. | Dieses sich selbsterhalten und
reproduzieren »wollen« kann in der Stärke und Ausrichtung von
Individuum zu Individuum und natürlich auch im Laufe des Lebens eines Individuums
variieren. In der noch folgenden Theorie werden deshalb den Individuen (den Objekten)
die Eigenschaften Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteresse zugewiesen. Dies
sind Größen, die unterschiedliche Werte (und Richtungen) annehmen können
(insbesondere also auch Null), so ähnlich wie die Kontostände von Bankkonten.
Menschen sind beispielsweise unterschiedlich ehrgeizig (Selbsterhaltungsinteresse)
oder wollen mehr oder weniger viele Kinder haben (Reproduktionsinteresse). Allerdings
lassen sich die Größen - ähnlich wie bei der Intelligenz eines
Menschen (der Intelligenzquotient eines Menschen stellt lediglich einen quantitativen
Indikator für dessen Intelligenz dar) - nicht wirklich quantifizieren. Es
handelt sich also hier - wie bei vielen anderen emergenten Eigenschaften auch
- um komplexe Größen. (Ebd., S. 99-100).
So
nennt etwa Ulrich Kutschera unter der Überschrift »Evolution als Merkmal
des Lebens« fünf wesentliche Merkmale von Lebewesen ....: »Innerhalb
der Population erfolgt bei ausreichendem Nährstoffangebot eine kontinuierliche
Fortpflanzung bei drastischer Zunahme der Individuenzahlen (Vermehrung).«
(Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, 2008, S. 79). Anders gesagt: Lebewesen
besitzen ein Fortpflanzungsinteresse, wollen sich also reproduzieren. Da es sich
bei der Fortpflanzung aber um eine aus Sicht des Lebewesens altruistische Tätigkeit
handelt (vgl. ebd., S. 59), ist das Reproduktionsinteresse von Individuen im Rahmen
einer Evolutionstheorie explizit (und nicht nur implizit als ohnehin gegeben)
anzunehmen. Dies gilt umso mehr, als es dem Menschen in der Zwischenzeit gelungen
ist, das eigene Reproduktionsinteresse zu beherrschen. (Ebd.). |
Im
Rahmen der Fortpflanzung kommt es zu einer Duplizierung von Individuen.
Die auf Individuen anwendbare Operation (»Methode«) ist deshalb die
Reproduktion. Allerdings sind je nach Evolutionsumgebung dann ganz unterschiedliche
Reproduktionsprozesse möglich. Wir werden im Laufe des vorliegenden Buches
noch Reproduktionsprozesse kennenlernen, die nur auf den Erhalt der inneren Strukturen
und von Adaptionen abzielen, und die die in der Natur üblichen Kopiervorgänge
(aus den Eltern entstehen durch eine wie auch immer geartete Replikation neue
Individuen) überhaupt nicht kennen. (Ebd., S. 100).Auf
die gerade beschriebene Weise habe ich nun also die in der Darwinschen Evolutionstheorie
versteckte Logik in die eigentlichen Objekte der Evolution transferiert. Die ursprüngliche
Ablauflogik wurde folglich in eine objektorientierte Beschreibung umgewandelt.
(Ebd., S. 100).Die Kernaussage ist dann:
Eigendynamisch evolvieren können nur Systeme, die über einen Reproduktionsvorgang
verfügen, und die eigenständige Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen
besitzen. Da Gene, Meme, Entscheidungen, Hypothesen, Mobiltelefone, Kunstwerke,
Augen, Ohren u.s.w. entsprechende Eigenschaften nicht besitzen, scheiden sie als
Gegenstand der Evolution von vornherein aus, ganz im Gegensatz zu den Lebewesen
oder den Organisationssystemen wie etwa Unternehmen. Eine Diskussion über
die Evolution wissenschaftlicher Hypothesen erübrigt sich folglich von selbst.
Bei der versuchten Zuweisung einer »wissenschaftlichen Hypothese«
zum Evolutionsobjekt »Individuum« handelt es sich dann nämlich
- softwaretechnisch gesprochen - um einen Programmierfehler. (Ebd., S. 100).Im
Grunde handelt es sich hierbei um den entscheidenden Paradigmenwechsel gegenüber
anderen Evolutionstheorien, aber auch manchen Vorstellungen von dem, was das Leben
ausmacht: Lebewesen besitzen Intentionen. Sie verfolgen Eigeninteressen,
und dabei geht es ihnen in erster Linie um den eigenen Selbsterhalt und die Fortpflanzung.
Nicht ihre Gene sind egoistisch, sondern sie selbst, und das vor allem zeichnet
sie gegenüber unbelebter Materie aus (siehe dazu auch den Abschnitt Was
ist Leben?). (Ebd., S. 100-101).Und damit komme ich
nun wirklich zur schon lange angekündigten Formulierung der Systemischen
Evolutionstheorie. (Ebd., S. 100).Die
Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie sind: | Eine
Population besteht aus lauter selbsterhaltenden Systemen (Individuen), die sich
allesamt voneinander unterscheiden, und die unterschiedlich gut an den Lebensraum
(**) angepaßt sind beziehungsweise
die unterschiedliche Kompetenzen in bezug auf ihren Lebensraum besitzen (**). Dieses
Prinzip heißt Variation. | | Die
reproduktionsfähigen Individuen der Population besitzen (eventuell unterschiedlich
starke) Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen. Die Selbsterhaltungs-
und Reproduktionsinteressen korrelieren nicht negativ mit der relativen Fitneß
in bezug auf den Lebensraum. Anders gesagt: Die Individuen wollen »überleben«
(**), und zwar die fitteren im Durchschnitt
mindestens genauso stark wie die weniger fitten (**).
Der Begriff der Fitneß bezieht sich dabei auf den jeweiligen Lebensraum. Dieses
Prinzip heißt Reproduktionsinteresse (genauer:
Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteresse [**];
HB) oder auch natürliches Reproduktionsinteresse (**|**).
**
| | Es
existieren variationserhaltende Reproduktionsprozesse, die die Systemstrukturen
von Individuen (Strukturerhaltung) und deren Kompetenzen in Bezug auf den
Lebensraum (Adaption) neu erzeugen, modifizieren oder kopieren (replizieren) können,
wobei das Ergebnis von Modifikation und Kopie gegenüber dem Ausgangszustand
zwar irgendwie verändert ist, in der Regel aber auch erkennbare Ähnlichkeiten
(**) aufweist. Im allgemeinen gilt:
Individuen, die relativ gesehen mehr in ihre Reproduktion investieren, werden
ihre Strukturen und Kompetenzen im Mittel eher erhalten oder gar verbessern als
Individuen, die weniger investieren. Dieses
Prinzip heißt Reproduktion. | Die
Kernaussage der Systemischen Evolutionstheorie ist nun: Wenn die drei Prinzipien
Variation, Reproduktionsinteresse (genauer:
Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteresse [**];
HB) und Reproduktion gegeben sind, dann ist Evolution zwangsläufig
die Folge. (Ebd., S. 100).
Im
strengen systemischen Sinne kann nicht von einer gemeinsamen Umwelt gesprochen
werden, da aus Sicht eines Individuums alle anderen der Umwelt zugerechnet werden
müssen. Jedes Individuum besitzt folglich seinen eigenen Lebensraum. Von
solchen Feinheiten soll aber im vorliegenden Zusammenhang abstrahiert werden:
Wir haben es hier mit einer Population zu tun, die den gleichen Lebensraum zur
Befriedigung ihrer Bedürfnisse (zur Erlangung von Ressourcen) nutzt.
(Ebd.). |
Es
spielt für die weiteren Überlegungen keine Rolle, welche Faktoren (Gene,
Ausbildung u.s.w.) für die Anpassung an den Lebensraum entscheidend waren.
Der Begriff der Anpassung bezieht sich immer auf den Phänotyp, nicht nur
auf den Gelnotyp. (Ebd.). |
Diese
Bedingung wird von Evolutionsbiologen im Sinne des »egoistischen Gens«
(Richard Dawkins) meist implizit angenommen. Tatsächlich muß sie aber
nicht zwingend erfüllt sein, und in modernen menschlichen Gesellschaften
wird sie sogar in der Regel verletzt. (Ebd.). |
Allerdings
sollte sich das Reproduktionsinteresse grundsätzlich im normalen Rahmen bewegen
und auch bei den fittesten Individuen nicht zu hoch sein, damit weder die Reproduktionsergebnisse
noch der eigene Selbsterhalt gefährdet werden. Anders gesagt: Das Individuum
muß die Reproduktion auch finanzieren können. Siehe dazu aber auch
die Ausführungen im Abschnitt Wozu
gibt es Sexualität?, in welchem für getrenntgeschlechtliche
Populationen auf einen diesbezüglichen entscheidenden Unterschied zwischen
den Geschlechtern hingewiesen wird. (Ebd.). |
»Natürlich«
heißt hier: Die Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen korrelieren
nicht negativ mit der relativen Fitneß in Bezug auf den Lebensraum.
(Ebd.). |
Simulationen
der Darwinschen Selektion setzen nicht selten auf der sogenannten »differentiellen
Reproduktion« von Individuen, das heißt, auf deren unterschiedlichen
Reproduktionsgeschwindigkeiten (Reproduktionsinteressen) auf, während die
jeweiligen Anpassungsgrade der Individuen ignoriertwerden. Ganz entsprechend sind
etwa die Selektionsspiele in konzipiert. Es darf deshalb vermutet werden, daß
sich Evolutionsprozesse mittels der Systemischen Evolutionstheorie leichter simulieren
lassen als unter Zugrundelegung der Darwinschen Lehre. (Ebd.). |
Hier
wäre noch zu klären, wie groß die Ähnlichkeit zwischen Ausgangszustand
(Eltern) und Ergebnis (Kindern) im Mittel sein muß (beziehungsweise wie
groß die Mutagenität sein darf). damit Evolution tatsächlich stattfinden
kann. Auch bedarf der Begriff der Ähnlichkeit einer Präzisierung. Eine
mögliche erste Annäherung könnte sein: Kinder sind ihren Eltern
im Mittel »ähnlicher« als jedem anderen Individuum der Population.
(Ebd.). |
Anmerkungen: | Die
Systemische Evolutionstheorie kommt ohne die Begriffe natürliche Selektion
(natürliche Auslese) und Kampf ums Dasein (struggle for life)
aus. Im Vordergrund steht das jeweilige Reproduktionsinteresse (und nicht
der Reproduktionserfolg wie bei Darwin), also der Wille des Individuums,
zu überleben. Evolution ist folglich kein Ergebnis des Überlebens
der Tauglichsten, sondern sie wird durch Interessen vorangetrieben. Damit
wird dann auch ein stärkerer Bezug zu Systemeigenschaften des Lebens hergestellt.
Denn dem Begriff der natürlichen Selektion haftet zunächst etwas
Mechanisches an, zummal er nicht hinreichend deutlich macht, warum sich eine Selektion
auf Lebendes beschränken sollte.Einen
Selbsterhaltungs- und Überlebenswillen (ein Selbsterhaltungs-
und Reproduktionsinteresse) besitzen aber nur lebende Organismen und die
durch sie gebildeten sozialen Systeme (**).
Die Kriterien Variation und Reproduktionsinteresse grenzen selbstständige
Evolutionsprozesse folglich auf biologische Phänomene ein. Daraus
ergibt sich unmittelbar: Weder Gene, Meme, Entscheidungen, Handlungen, Praktiken,
Theorien, Hypothesen, Augen, Ohren, Mobiltelefone noch sonstige nichtbiologische
Phänomene können Gegenstand der Selektion sein.
Irenäus
Eibl-Eibesfeldt formuliert dies so: »Und Emotionen und Strebungen wie Selbstsucht
sind natürlich nur Organismen eigen und nicht den Genen.« (Irenäus
Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, 1984, S. 138).
(Ebd.). |
Wie
noch gezeigt wird, kann es in einem präzisen Sinne auch keine Evolution
der Technik geben (vgl. Jacques Neirynck, Der göttliche Ingenieur
- Die Evolution der Technik, 1994). Was in diesem Zusammenhang evolviert,
sind nicht wirklich Technologien, sondern die sie konstruierenden und nutzenden
Lebewesen beziehungsweise sozialen Systeme. Denn technologien sind Kompetenzen
(Adaptationen) sozialer Systeme, die sich mit ihnen zusammen ausbilden.Für
die Systemische Evolutionstheorie ist Evolution ein aktiver Vorgang, der unmittelbar
aus Systemeigenschaften der an ihr beteiligten Individuen entspringt. Die Individuen
erschaffen die Evolution folglich aus sich selbst heraus.Die natürliche
Selektion wendet Evolution dagegen in etwas Passives. Überspitzt könnte
man sagen: Bei der natürlichen Auslese wählt die Natur (oder gar ein
göttliches Wesen) die geeignetsten Individuen aus. | | Selbsterhaltende
Systeme wollen sich selbsterhalten (Selbsterhaltungsinteresse). Damit ist
aber insbesondere auch immer die Anpassung (Adaption) an ihren Lebensraum gemeint
(**), ferner umgekehrt die aktive
Veränderung und Erweiterung des Lebensraums (**).
Anders gesagt: Selbsterlhaltende Systeme sind bestrebt, ihre Kompetenzen im Umgang
mit ihrer primären selektiven Umwelt zu erhalten, und sei es durch Veränderung
oder Erweiterung des Milieus. In diesem Sinne ist Evolution ein aktiver, maßgeblich
von den Individuen selbst angetriebener Vorgang. Auf Dauer werden auf diese Weise
immer mehr ökologische (beziehungsweise ökonomische) Nischen besetzt.Zum
Erhalt ihrer Kompetenzen müssen die Individuen jedoch stets etwas tun, denn
sie konkurrieren ja um Ressourcen mit anderen Individuen innerhalb und gegebenenfalls
auch außerhalb ihrer Population. Stellen wir uns dazu eine Population aus
10 Individuen 1(1) bis 1(10) vor. Nehmen wir an, Individuum 1(1) sei etwas besser
an den Lebensraum angepaßt als 1(2) bis 1(10). Wenn nun 1(2) bis 1(10) mehr
in ihren Selbsterhalt investieren als 1(1) (zum Beispiel durch Muskeltraining,
Bildungsmaßnahmen, Karatekurse, Investitionen in die Forschung u.s.w.) und
auf diese Weise ihre Kompetenzen im Vergleich zu 1(1) deutlich verbessern, dann
könnte 1( 1) am Ende das am schlechtesten angepaßte Individuum der
Population sein. Möglicherweise hätte es nun größte Schwierigkeiten,
eine ausreichende Menge an Ressourcen zu erlangen. Es würde auf diese Weise
seinen Selbsterhalt gefährden.Vorhandene
Kompetenzen sind deshalb auch immer in Relation zu anderen Individuen zu sehen.
Hohe Kompetenzen im Umgang mit der primären selektiven Umwelt können
- ohne permanente Emeuerung und Verbesserung - morgen schon entwertet beziehungsweise
veraltet sein, denn die Konkurrenz schläft ja nicht (**).
Es ist dieser gegenseitige Zwang zur permanenten Erneuerung und zum Hochrüsten
in der Gruppe, der letztlich maßgeblich für Fortschritt und Evolution
sorgt. Evolution bedarf also nicht unbedingt der ständigen Veränderung
der primären selektiven Umwelt aller Individuen. Es reicht bereits, wenn
sich die individuelle Umwelt der Individuen, zu der auch alle anderen Mitglieder
der Population zählen, ändert.Manchmal
wird angemerkt, Individuen wollten sich schon von ganz allein verbessern. Dagegen
spricht, daß Monopolmärkte in der Regel wenig innovativ sind, Wettbewerbsmärkte
dagegen sehr wohl. Allerdings sind durchaus auch Szenarien vorstellbar, in denen
selbst ein Monopolist durch eine Wettbewerbssituation in seinem Inneren (zum Beispiel
unter seinen Mitarbeitem) zu innovativen Leistungen gebracht werden kann. Eine
gewisse »Evolution« ist deshalb unter bestimmten Voraussetzungen auch
bei Populationen mit genau einem Individuum (das heißt, ohne Variation)
denkbar, allerdings wohl kaum bei biologischen Populationen, die sich »blind«
durch genetische Mutationen und Rekombinationen an ihre jeweilige primäre
selektive Umwelt anzupassen versuchen, denn diese benötigen zwingend eine
genetische Vielfalt beziehungsweise eine Variation unter ihren Individuen, um
sich an ihrer Umwelt ausrichten zu können.In
der Regel dürften sich die Entwicklungsprozesse von Ein-Individuum-Populationen
aber auf die fortlaufende Adaption an ihren Lebensraum beschränken. Evolution
wäre dann nur noch gleichzusetzen mit Stillstand, und das entspräche
nicht ganz dem Evolutionsgedanken.Auf
der anderen Seite dürfen aber die durch den permanenten Wandel des Lebensraums
entstehenden gegenseitigen Anpassungszwänge in ihrer Bedeutung für die
Evolution auch nicht unterschätzt werden. Beispielsweise könnte eine
Population mit der Zeit gegen bestimmte ökologische Grenzen und Hindernisse
laufen, die eventuell durch neue Innovationen und damit evolutiv noch einmal überwunden
werden können. Denn die Umwelt kann sich verändern, und Ressourcen können
sich erschöpfen, woraus sich weitere Gründe für den Zwang zur fortlaufenden
Erneuerung eigener Kompetenzen beziehungsweise Adaptionen ergeben.Es
soll an dieser Stelle aber noch einmal betont werden, daß Evolution bereits
maßgeblich durch die Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen der Individuen
und dem sich daraus ergebenden Zwang zur permanenten Erneuerung von sich im Wettbewerb
mit anderen immer wieder entwertenden Lebensraum-Kompetenzen entsteht. Bei einfacheren
Lebewesen mag ein solcher Kompetenzerhalt ausschließlich durch Fortpflanzung
und Vererbung, beim Menschen dagegen durch die Weitergabe von Genen, Wissen und
Kultur und sonstige Lernprozesse und bei Untemehmen vielleicht vor allem durch
Forschung & Entwicklung erfolgen. Gemeinsam ist allen diesen Fällen der
in den Individuen verankerte Wille zu leben und zu überleben, nicht aber
ein Survival of the Fittest und schon gar nicht Mord und Totschlag. Evolution
findet statt, weil sich Individuen selbsterhalten und reproduzieren wollen.
Talcott
Parsons unterscheidet die beiden Erhaltungsfunktionen Adaption (A) und Strukturerhaltung
([Latent] Pattern Maintenance: L). .... Andere Autoren sprechen beim Selbsterhalt
auch von einer »Akkumulation von Reproduktionspotential«, wofür
ein »somatischer Aufwand« zu erbringen ist. (Ebd.). |
Es
ist beispielsweise keineswegs so, daß sich Unternehmen in erster Linie an
die Wünsche ihrer Kunden anpassen, denn oftmals werden die Kundenwünsche
erst durch neue Produkte geweckt. (Ebd.). |
Auch
in diesem Punkt unterscheidet sich die Systemische Evolutionstheorie ganz erheblich
von der Lehre Darwins, die Adaptionen und Kompetenzen im wesentlichen auf den
Lebensraum bezieht. Die Systemische Evolutionstheorie berücksichtigt dagegen
viel stärker, daß Individuen auch in Relation zu ihrer eigenen Gruppe
lernfähig (adaptionsfithig) sein können. (Ebd.). |
| | Das
Kriterium Reproduktionsinteresse hätte eigentlich präziser Selbsterhaltungs-
und Reproduktionsinteresse heißen müssen, denn die Selbsterhaltungsinteressen
sollten ja gleichfalls nicht negativ mit der relativen Fitneß der Individuen
in Bezug auf ihren Lebensraum korrelieren.Ein
moderner Mensch könnte beispielsweise eine sehr hohe Intelligenz besitzen,
dann aber nichts in seine Aus- und Weiterbildung investieren. Anders gesagt: Er
würde seine Kompetenzen nicht erneuern und sein Potential verkümmern
lassen. In der Folge könnte er vielleicht nicht so viele Ressourcen erlangen,
wie er für sein Überleben benötigt. Sein Selbsterhalt wäre
dann gefährdet. Vorhandene Kompetenzen bedürfen folglich der ständigen
Erneuerung, sonst sind sie irgendwann nichts mehr wert (**).Bei
Populationen, die etwa aus lauter sozialen Systemen bestehen, kennen die Individuen
aber - anders als bei den Lebewesen - keinen separaten Fortpflanzungsvorgang.
Wie bereits gezeigt wurde, fallen in solchen Fällen Selbsterhaltungs- und
Reproduktionsinteresse zusammen. Ich habe aus diesem Grunde auf eine eigenständige
Benennung und Hervorhebung eines Prinzips Selbsterhaltungsinteresse verzichtet
Auch vermute ich, daß sich in Populationen im Mittel immer ein kompetenzneutrales
Selbsterhaltungsinteresse durchsetzen wird (**|**).
Beim Reproduktionsinteresse von Lebewesen scheint das aber keineswegs der Fall
zu sein, wie moderne menschliche Gesellschaften zeigen. Denn offenbar hat die
Natur den Individuen ein Reproduktionsinteresse mitgegeben, welches sich unter
bestimmten Gegebenheiten auch wieder abschalten beziehungsweise deutlich mindern
läßt. Dies macht Sinn, denn der Selbsterhalt dient vor allem dem Individuum
selbst, die Reproduktion dagegen anderen (eventuell sogar in erster Linie der
Population insgesamt). Selbsterhalt ist vom Wesen her egoistisch, Fortpflanzung
dagegen altruistisch.Im
Grunde hätte man zu den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie auch
noch ein Kriterium der kompetenzneutralen Mutagenität aufnehmen können,
denn auch die unterschiedliche Mutagenität der Individuen kann einen erheblichen
Einfluß auf die spätere evolutionäre Entwicklung nehmen. Allerdings
dürfte die Mutagenität in biologischen Populationen zwar durchaus artspezifisch
und oftmals auch geschlechtsspezifisch sein (siehe dazu den Abschnitt Wozu
gibt es Sexualität?,dennoch ist nicht davon auszugehen, daß
sie innerhalb der gleichen Population (der gleichen Spezies) systematisch positiv
oder negativ mit der jeweiligen Adaption an den Lebensraum korreliert. In Populationen
aus lauter Organisationssystemen (siehe zum Beispiel den Abschnitt Technische
Evolution) oder sonstigen Systemen, die sich innerlich reproduzieren
(siehe den folgenden Punkt [**]),
mag das aber ganz anders aussehen. Hier ist durchaus vorstellbar, daß es
zu einem regelmäßigen Aufstieg und Fall von Individuen kommt, da einige
Individuen so komplex und unbeweglich geworden sind, daß sie sich selbst
kaum mehr verändern können. Dies könnte in der Unternehmenswelt
auch gerade die Unternehmen betreffen, die aktuell eine dominante Marktposition
innehaben, und von daher eigentlich besonders gut an die Marktverhältnisse
adaptiert sind.
In
»Alice hinter den Spiegeln« (Lewis Carroll, Alices Abenteuer -
Alice im Wunderland) meint die Rote Königin zu Alice: »Hierzulande
mußt du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben
willst.« Entsprechend schreitet Evolution bereits dann fort, wenn sich Individuen
lediglich nicht verschlechtern wollen. In der Evolutionsbiologie ist dieser Zusammenhang
als Red-Queen-Hypothese bekannt (cgl. Matt Ridley, Eros und Evolution,
1995). (Ebd.). |
Das
Selbsterhaltungsinteresse eines Individuums könnte - anders als das Reproduktionsinteresse
- auch der jeweiligen Adaption an den Lebensraum zugerechnet werden. Das Reproduktionsinteres
eines Individuums kann aber definitiv nicht auf dessen Fitneß reduziert
werden. (Ebd.). |
Robert
Ardrey macht darauf aufmerksam, daß sich das Selbsterhaltungsinteresse je
nach Situation recht unterschiedlich ausprägen kann. Beispielsweise manifestiert
es sich im Allgemeinen bei den Verteidigern eines Territoriums stilrker als bei
den Angreifern. (Vgl. Robert Ardrey, Der Gesellschaftsvertrag, 1970, S,
33). (Ebd.). |
| | Der
Begriff Reproduktionsprozeß ist bewußt sehr weit gefaßt und
bedarf möglicherweise einer zusätzlichen Erläuterung (siehe dazu
auch die Ausführungen im Abschnitt Selbsterhaltende
Systeme) und Spezifizierung.In
den einzelnen Lebewesen findet eine ständige interne Reproduktion als Teil
der Ontogenese statt, zum Beispiel in Form der regelmäßigen Zellerneuerung
(**). Beim Menschen können
auch Weiterbildungsmaßnahmen, regelmäßiges Muskeltraining, Entspannungsübungen
etc. dazu gezählt werden (**).
Ebenfalls läßt sich der Schlaf darunter einordnen.Alle
diese Maßnahmen dienen in erster Linie dem Selbst- und Kompetenzerhalt von
Individuen. Da einzelne Lebewesen bestenfalls wenige hundert Jahre alt werden,
in geologischen Zeiträumen betrachtet also nur für einen kurzen Augenblick
leben, ist durch eine solche individuuminterne Reproduktion noch nicht der langfristige
Wandel und Selbsterhalt von Populationen erklärbar. Hier kommt nun die Fortpflanzung
ins Spiel. Wenn Individuen altern und sterben, gehen mit ihnen ihre Strukturen
und ihre unmittelbaren Kompetenzen verloren (**).In
biologischen Populationen bedeutet reproduktive Strukturerhaltung zunächst
einmal: Jedes alternde beziehungsweise sterbende Lebewesen ist durch mindestens
ein neues (des gleichen Geschlechts) zu ersetzen.Da
Lebewesen nur eine begrenzte Lebensdauer besitzen, verfällt ihre Struktur
nach einer gewissen Zeit. Sie benötigen dann einen Nachfolger. Strukturerhaltung
setzt deshalb im wesentlichen eine mengenmäßig bestandserhaltende Reproduktion
voraus. In modernen menschlichen Gesellschaften ist dafür eine Fertilitätsrate
von 2,1 erforderlich.Bei
der Fortpflanzung handelt es sich um eine Möglichkeit, die Strukturen und
Kompetenzen in vergleichbarer Qualität zu erneuern, so daß die Ressourcen
des Lebensraumes wieder ähnlich gut verwertet werden können. Die Effizienz
(Adaption) der Population bleibt dann erhalten, und die Generationengerechtigkeit
wird gewahrt. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß sich die Individuen
auch anteilsmäßig entsprechend vermehren, und sich nicht etwa eine
Teilgruppe mit sehr ausgeprägten Kompetenzen überwiegend oder ganz aus
der Nachwuchsarbeit heraushält, denn das würde sogar das Prinzip der
Generationengerechtigkeit (vgl. Jörg Tremmel, Die Bevölkerungspolitik
im Kontext ökologischer Generationengerechtigkeit, 2005, S. 98) verletzen.
Die Bedingung eines nicht negativ mit der Fitneß der Individuen korrelierenden
Reproduktionsinteresses bei der überwiegenden Zahl der Individuen einer Population
dient also indirekt auch der Sicherstellung des Prinzips der Generationengerechtigkeit.Beim
Menschen erfolgt die Erneuerung der Kompetenzen nicht nur mittels Fortpflanzung,
sondern ganz entscheidend auch durch die sich daran anschließenden langjährigen
Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen. Die Kompetenzen des Nachwuchses basieren
deshalb sowohl auf genetischen als auch kulturellen Faktoren, wobei letztere nicht
allein durch staatliche Erziehungs- und Bildungseinrichtungen vermittelt werden«
sondern wesentlich auch durch den Sozialisationsprozeß in der Familie. Beim
Menschen umfaßt der Reproduktionsprozeß folglich sowohl die
Fortpflanzung als auch Sozialisation, Erziehung und Bildung.Auch
bei Organisationssystemen (zum Beispiel Unternehmen) steht der eigene Selbsterhalt
im Vordergrund, der sich in Strukturerhalt und Kornpetenzerhalt untergliedert.
Beispielsweise wird ein erfolgreicher Pharmakonzern auch in Zukunft mit einem
konkurrenzfähigen Angebot aufwarten wollen. Dazu ist aber die regelmäßige
Erneuerung der eigenen Kompetenzen, das heißt der Produktpalette (= Medikamente),
erforderlich. Dies geschieht in der Forschung & Entwicklung, bei der es sich
um die konzerninterne Reproduktion handelt.Erfolgreichere
und besser an die Märkte (Milieu) angepaßte Unternehmen (= höhere
Umsätze und Gewinne = mehr Ressourcen) können mehr in ihre Reproduktion
(Forschung & Entwicklung); Investitionen in Humanressourcen und Anlagen) investieren
als etwa ihre unmittelbaren Konkurrenten (**).
Es ist dann nicht unwahrscheinlich, daß sie ihren Marktvorsprung beziehungsweise
ihre relativen Kompetenzen bewahren. Eine Garantie dafür gibt es allerdings
nicht. Beispielsweise könnte einem Konkurrenten zufällig eine entscheidende
Innovation gelingen, so daß er den bisherigen Marktführer überflügeln
kann. Dies ist bei der biologischen Evolution jedoch nicht anders, denn auch dort
spielt der Zufall eine ganz entscheidende Rolle.Leistungsfähige
Marktwirtschaften erleichtern meist ganz gezielt den Markteintritt neuer Anbieter,
zum Beispiel durch Regelwerke oder Finanzierungsmöglichkeiten. Im Prinzip
sind solche Maßnahmen dem Reproduktionsprozeß zuzurechnen, da sie
variationsfordernde Eigenschaften besitzen (siehe Abschnitt Selbsterhaltende
Systeme).Wie
die Beispiele zeigen, können Reproduktionsprozesse und die sie tragenden
»Replikatoren« auf ganz unterschiedliche Weise realisiert werden,
in Lebewesen etwa als Zellerneuerung, in Populationen durch Fortpflanzung und
Elterninvestments und in Unternehmen durch Forschung & Entwicklung. Gemeinsam
ist aber allen diesen Fällen der Überlebenswille der Beteiligten, der
in erster Linie darauf zielt, vorhandene Strukturen und Kompetenzen zu erhalten,
zu erneuern oder gar zu verbessern. Damit Evolution tatsächlich geschehen
kann, darf aber der Überlebenswille mit zunehmender Anpassung an den aktuellen
Lebensraum nicht zurückgehen (wie dies in modemen menschlichen Gesellschaften
leider der Fall ist).
Strukturerhaltung
I [Latent] Pattern Maintenance (L) im Sinne Talcott Parsons. (Ebd.). |
Adaption
(A) im Sinne Talcott Parsons (Ebd.). |
Allerdings
tragen Menschen häufig auch einiges zur Verbesserung der Kompetenzen der
gesamten Menschheit bei, so daß Ihre Kompetenzen auch nach Ihrem Tod nicht
gänzlich verloren sind. (Ebd.). |
Sie
werden das aber nur dann tun, wenn sie ein entsprechend hohes Reproduktionsinteresse
besitzen, was nicht zwingend gegeben sein muß. Beispielsweise könnte
ein Unternehmen erst unängst von Spekulanten übernommen worden sein,
denen es in erster Linie um kurzfristige Gewinnmitnahmen geht. (Ebd.). |
| | Der
im Prinzip Reproduktion formulierte Struktur- und Kompetenzerhalt ist nur
dann gegeben, wenn Lebewesen im Mittel so viele Nachkommen haben möchten,
daß diese sie nach Ablauf ihres Lebens vollständig - das heißt
strukturell und adaptiv - »ersetzen« können. Dafür müssen
sie aber ein entsprechend hohes Reproduktionsinteresse besitzen, und zwar bei
der sexuellen Fortpflanzung für durchschnittlich mindestens zwei Nachkommen
pro Paar. Da stets einige Kinder/Jungen vor Erreichen des Fortpflanzungsalters
sterben oder aus sonstigen Gründen keine eigenen Nachkommen hinterlassen
werden, ist eine Sicherheitsreserve aus zusätzlichen Nachkommen erforderlich,
wodurch sich eine natürliche Tendenz zum Populationswachstum ergibt. Alles
in der Natur ist folglich auf Wachstum programmiert (siehe dazu auch die Ausführungen
im Abschnitt Wachstum).Unter
optimalen ökologischen Bedingungen sollte ein natürliches Reproduktionsinteresse
also mindestens auf eine Ersetzung der vorhandenen Individuen und ihrer Gene hinwirken
(Struktur- und Kompetenzerhalt). Der Mensch ist nun als erste biologische
Spezies in der Lage, die Entwicklung von Populationsstärken in ganz engen
Grenzen vorzugeben und damit regelrecht zu planen (vgl. Peter Mersch, Hurra,
wir werden Unterschicht!, 2007). Dann wären - im Kontrast zur restlichen
Natur - sogar kontrollierte Bevölkerungsschrumpfungen beziehungsweise geplante
Strukturveränderungen vorstellbar. | | Individuen
müssen nicht notwendigerweise die gleichen Reproduktionsinteressen besitzen
wie die in ihnen wirkenden Gene. Aus Sicht eines Individuums ist die Erbringung
der aufwendigen und kräftezehrenden Nachwuchsarbeit alles andere als selbstverständlich;
schließlich stirbt es irgendwann, und dann hat es von seinen Kindern nichts
mehr. Es könnte sich also stattdessen für ein Leben ohne eigenen Nachwuchs
entscheiden und seine zusätzlichen Freiheiten genießen. Die in ihm
operierenden Gene hätten dann das Nachsehen. Nüchtern betrachtet haben
also vor allem Gene und Populationen ein Interesse an der Reproduktion der Individuen
(Reproduktionsinteresse). Damit sich die Individuen als »Überlebensmaschinen«
der Gene oder als »Säulen« von Populationen trotzdem auf diese
für sie kostenintensive Aufgabe einlassen, muß ihr Reproduktionsinteresse
ein biologisches Fundament besitzen, welches für eine optimale Vertretung
der Interessen von Genen und Populationen sorgt.Offenbar
erfolgt dies zu erheblichen Anteilen über die sexuelle Lust, denn seitdem
es moderne Verhütungsmittel gibt, lassen sich Paarungs- und Reproduktionserfolg
präzise voneinander trennen: Das Reproduktionsinteresse wird dann zu einer
ökonomisch abschätzbaren Größe, die sich der Konkurrenz anderer
Interessen des Individuums stellen muß. Auch dieser Zusammenhang macht deutlich,
daß die Annahme eines populationsweiten einheitlichen Reproduktionsinteresses
keineswegs selbstverständlich ist und im Rahmen einer Systemischen Evolutionstheorie
explizit getroffen werden muß (**).
So
schreibt etwa Karl Gürs: »Wir gehen davon aus, daß der Wunsch
nach dem Weiterleben in unseren Kindern in den verschiedenen Menschen ungleich
stark angelegt ist. Bei schwacher Ausprägung werden die Leute entsprechend
früher aussterben. Übrig bleiben die Menschen mit einer größeren
Reproduktionsneigung, mit mehr Liebe zu Kindern.«(Karl Gürs, Evolution
und Zivilisation, 2005, S. 278). (Ebd.). |
| | Lebewesen
(entsprechendes gilt für soziale Systeme wie Gesellschaften, Unternehmen
oder Organisationen) geht es zunächst um den reinen Selbsterhalt. Irgendwelche
sachlichen Ziele sind demgegenüber sekundär.Individuen
(Systeme) befinden sich dabei mit ihren jeweiligen Umwelten in einer ständigen
Interaktion, wodurch sich auf beiden Seiten Strukturveränderungen ergeben
können. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer strukturellen Kopplung
zwischen System und Umwelt.Beispielsweise
lebte der Mensch über die längste Zeit seiner Geschichte als Jäger
und Sammler. Als es in einigen Regionen der Erde zu einer bedrohlichen Nahrungsverknappung
kam (Klimaveränderungen, Überjagung), erfanden die Menschen Ackerbau
und Viehzucht (Neolithische Revolution). Der dadurch bedingte Wechsel zu einer
vergleichsweise vitalstoffarmen Ernährung hatte zunächst erhebliche
gesundheitliche Beeinträchtigungen und die Entstehung eines Großteils
der heute bekannten Zivilisationserkrankungen zur Folge (siehe Abschnitt Leben
und Energie). Entscheidend aber war, daß die Menschheit auf
diese Weise weiter existieren konnte (Selbsterhaltung). Allerdings waren nun ganz
andere Kompetenzen als bei den Jägern und Sammlern gefragt. Diese Fähigkeiten
bildeten sich jedoch sukzessive von ganz alleine heraus, und zwar als Folge des
Überlebenswillens und Reproduktionsinteresses der Individuen. Anders gesagt:
Eine Population paßt sich nicht einseitig an eine ihr vorgegebene Umgebung
an, sondern sie konstruiert ihre Adaption im Zusammenspiel mit ihrer Umwelt, in
die sie gegebenenfalls massiv verändernd eingreift, selbst. | | Das
jeweilige Reproduktionsinteresse kann an Bedingungen geknüpft sein. Im Falle
der biologischen Fortpflanzung beginnt es meist erst ab einem bestimmten Alter
und läßt mit den Jahren wieder nach (**).
Eventull ist es nur unter bestimmten Gegebenheiten (zum Beispiel Jahreszeiten)
vorhanden, während es unter anderen Umständen reduziert ist oder dann
sogar ganz zurücktritt (beispielsweise bei der Verwandtenselektion oder bei
Nichterlangung eines bestimmten Rangs innerhalb der Population). Auch könnten
die Individuen über unterschiedliche Reproduktionskapazitäten (die Zahl
der von ihnen pro Zeiteinheit abwickelbaren Reproduktionen) verfügen. Schließlich
könnten die einzelnen Individuen generell unterschiedlich starke Reproduktionsinteressen
besitzen.Individuen mit
einem ungewöhnlich niedrigen Reproduktionsinteresse (zum Beispiel Vogelexemplare
mit einer besonders kleinen Gelegegröße) würden sich im Vergleich
zum Rest der Population nicht ausreichend vermehren. Das gleiche gilt für
Lebewesen, die mehr Nachwuchs in die Welt setzen als sie dann ernähren können
(= zu hohes Reproduktionssinteresse). (Vgl. Thomas P. Weber, Darwin und die
neuen Biowissenschaften, 2005, S. 183). In beiden Fällen dürften
solche Interessenabweichungen aber innerhalb der Population langfristig an Bedeutung
verlieren, so daß sich - sofern keine systematische Ursache vorliegt - ein
Gleichgewichtszustand einstellen würde.
In
modernen Gesellschaften werden Menschen im allgemeinen umso später Eltern,
je höher ihr Bildungsniveau ist. Ihr Reproduktionsinteresse ist dann bereits
aus biologischen Gründen reduziert, zumal ja mit zunehmendem Alter auch die
innere Reproduktionsfähigkeit (Regenerationsfähigkeit) des Körpers
nachläßt. (Ebd.). |
| | Ist
der Lebensraum begrenzt, dürfte es auf Dauer zu einer Konkurrenz unter den
Individuen um den Zugriff auf die Ressourcen kommen (**).Lebewesen
können sich nur dann fortpflanzen, wenn sie den entropiearmen Zustand in
ihrem Inneren permanent aufrechterhalten und zusätzlich noch die für
den Reproduktionsprozeß erforderlichen Ressourcen (Raum, Energie, Wasser
u.s.w..) beschaffen. Können die Individuen einer Population im vorhandenen
Lebensraum nicht allesamt die für eine vollständige Befriedigung ihrer
Reproduktionsinteressen benötigten Ressourcen erlangen, liegt eine Begrenzung
des Lebensraums vor. Die Population steht dann unter einem Selektionsdruck.Wie
bereits im Abschnitt Sozialdarwinismus
ausgeführt wurde, ließ sich Charles Darwin bei seiner ursprünglichen
Formulierung des Prinzips der natürlichen Auslese sehr stark von den Gedanken
Thomas Robert Malthus' leiten. Charles Darwin kam zu dem Schluß, daß
es in der Natur für beliebige Populationen immer zu einer Begrenzung des
Lebensraums kommen müsse. Dies ist jedoch nicht zwingend der Fall.Wie
später noch gezeigt wird, hat die Natur mit der Einführung der sexuellen
Fortpflanzung und dem damit üblicherweise einhergehenden ungleichen Reproduktionsinteresse
der beiden Geschlechter für eine künstliche Ressourcenverknappung (in
bezug auf die Erfüllung von Reproduktionsinteressen) und damit eine Erhöhung
des Selektionsdrucks gesorgt. Nun könnten die Lebewesen selbst wie im Schlaraffenland
leben und ihre Populationsgröße unverändert lassen, trotzdem würde
es durch die ungleiche Verteilung der Reproduktionsinteressen zu einem Selektionsdruck
kommen.Die Darwinsche
Evolutionstheorie macht eine klare Unterscheidung zwischen natürlicher
Selektion (siehe Abschnitt Biologische
Evolutionstheorie) und sexueller Selektion (siehe Abschnitt Sexuelle
Selektion). Für beide Evolutionsmechanismen geht sie sogar
von unterschiedlichen Prämissen aus, zum Beispiel bei der natürlichen
Selektion von dem »in der Natur zu beobachtenden Phänomen der Überproduktion«
von Nachkommen (vgl. Bernd-Olaf Küppers, Der Ursprung biologischer Information
- Zur Naturphilosophie der Lebensentstehung, 1990, S. 28), welches aber für
die sexuelle Selektion keine Rolle spielt. Die Systemische Evolutionstheorie kennt
demgegenüber keine uneinheitlichen Evolutionsmechanismen, höchstens
unterschiedliche Evolutionsumgebungen mit eigenständigen Kommunikationsmechanismen
(Dominanz versus Gefallen-wollen) und Anpassungszielen (Erlangung von natürlichen
Ressourcen wie Nahrung und Raum versus Erlangung von Fortpflanzungspartnern).
Die Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie sind - anders als bei
der Darwinschen Evolutionstheorie - für alle Evolutionen stets gleich:
Variation, Reproduktionsinteresse und Reproduktion. Eine
tiefergehende Diskussion des Themas findet sich im Abschnitt Systemische
Evolutionstheorie und Selektionen.
Bei
der sexuellen Fortpflanzung schließt dies auch die Gewinnung von Sexualpartnern
mit ein. (Ebd.). |
| Die
bisherigen Überlegungen sollen durch einige Beispiele weiter veranschaulicht
werden: (Ebd., S. 102-113).Beispiel
1: | | In
einer fiktiven Vogelpopulation selektieren die Weibchen die Männchen ausschließlich
über die Farbe ihres Kopfschmuckes, wobei sie ganz eindeutig Rot bevorzugen.
Nach einigen Generationen besitzt die überwiegende Zahl der Männchen
einen roten Kopfschmuck.Irgendwann
fliegt ein Männchen einer benachbarten Population mit einem tiefblauen Kopfschmuck
zu. Die Weibchen sind begeistert und wechseln ihre Präferenz umgehend in
Blau. Einige Generationen später besitzt die überwiegende Zahl der Männchen
einen blauen Kopfschmuck. (Ebd., S. 113). |
Dieses
Beispiel zeigt: Haben alle Männchen ein ähnlich gelagertes Reproduktionsinteresse,
dann werden sich evolutionär stets die Eigenschaften durchsetzen, die einer
hohen Fitneß in bezug auf ihren Lebensraum (in diesem Fall: die weiblichen
Partnerwahlpräferenzen) entsprechen. Zunächst war dies ein roter Kopfschmuck,
wenig später, als Folge eines spontanen weiblichen Stimmungswandels (einer
Laune der Natur sozusagen), dann eben ein blauer (**).
Während sich das Anpassungsziel für die Männchen irgendwann spontan
änderte, blieb ihr Reproduktionsinteresse stets konstant. (Ebd., S.
113-114).
Die
nächsten Abschnitte werden zeigen, daß Weibchen ihre Fortpflanzungspartner
üblicherweise gemäß Fitneßindikatoren selektieren, die Aufschluß
über die »wirkliche« Fitneß (in bezug auf den Lebensraum)
des Männchens geben. Die Wahl fällt dann beispielsweise vorzugsweise
auf Pfauenmännchen, die über einen besonders beeindruckenden Schweif
verfügen. Biologisch macht dies aber nur dann Sinn, wenn der Schweif gleichzeitig
auch Ausdruck einer sehr guten Anpassung des Männchens an sein Milieu ist,
weil die Anpassung der Population an ihren Lebensraum auf diese Weise möglichst
lange aufrechterhalten werden kann. Ganz ähnlich sieht es bei Konsumentscheidungen
aus. Technische Geräte werden von Kunden meist nicht nur nach Form und Farbe
gewählt (selektiert), sondern ganz entscheidend auch nach technischen Kriterien
(Fitneßindikatoren). Sie müssen dabei nicht notwendigerweise anderen
Geräten« überlegen sein, doch sollten sie die wesentlichen funktionalen
Kundenanfordernngen souverän erfüllen können, das heißt funktional
»fit« sein. (Ebd.). |
Würden
Männchen mit rotem Kopfschmuck ein ausgesprochen hohes Reproduktionsinteresse
besitzen, solche mit blauem dagegen ein sehr niedriges, würden sich in der
Population weiterhin die Rotköpfler durchsetzen, obwohl sie aktuell schlechter
an die weiblichen Partnerwahlpräferenzen (und damit den Lebensraum) angepaßt
sind. Es ist folglich das Reproduktionsinteresse, was die Evolution bewirkt.
(Ebd., S. 114).Beispiel
2: | | Eine
auf einer Insel lebende fiktive Landechsenpopulation ernährt sich fast ausschließlich
von einer bestimmten Käfersorte. Nach einem schweren Vulkanausbruch bricht
die Insel in zwei Teile auseinander. Die auf dem kleineren Inselteil verbleibenden
Echsen müssen sich nach einer neuen Nahrungsquelle umsehen, denn dort sind
alle Käfer ausgestorben. Einigen Exemplaren gelingt es, Fische zu fangen
und auf diese Weise zu überleben. Mit der Zeit fällt ihnen die Nahrungssuche
immer leichter. Im Rahmen der weiteren Adaption bilden sich bei ihnen Schwimmhäute
aus, womit ihnen dann sogar die Rückkehr zum anderen Inselteil gelingt.Nach
einem erneuten Vulkanausbruch sterben auch auf diesem Inselteil alle Käfer
aus. Die noch auf Käfer fixierte Echsenart muß sich nun ebenfalls nach
einer neuen Nahrungsquelle umsehen. Fische kommen nicht in Betracht, denn gegen
die bereits auf den Fischfang spezialisierten ehemaligen Artgenossen haben sie
in dieser Hinsicht keine Chance. Binnen weniger Generationen sterben sie am Ende
eines verzweifelten Überlebenskampfes endgültig aus. (Ebd.,
S. 113-114). |
Oberflächlich betrachtet
könnte man sagen: Die bereits an den Fischfang adaptierte Echsenart überlebte,
die Käfer-Echsenart dagegen nicht, denn sie war nicht ausreichend an den
Lebensraum angepaßt: Survival of the Fittest. (Ebd., S. 115).Dies
ist richtig, aber lediglich vom Ergebnis her. Tatsächlich trieb das ungebrochene
Reproduktionsinteresse der Individuen zu jedem Zeitpunkt die Entwicklung voran.
Für die Käfer-Echsen wurden die Lebensbedingungen dann aber am Ende
so schwierig, daß auch ihr Selbsterhaltungs- und Überlebenswille nicht
mehr reichte, woraufhin sie von der Erde verschwanden. (Ebd., S. 115).Beispiel
3: | | Zehn
fiktive Unternehmen teilen sich einen innovativen Markt. Sie alle haben ungefähr
die gleichen Marktanteile und erzielen ähnliche Gewinne und Umsätze.Neun
Unternehmen investieren mehr als 50 Prozent ihrer Gewinne in die Produkterneuerung,
das heißt, in Forschung und Entwicklung. Ein Unternehmen schüttet dagegen
mehr als 90 Prozent seiner Gewinne als Bonuszahlungen an seine Topmanager aus.
(Ebd., S. 115). |
Ein Unternehmen besitzt
also im Vergleich zu den restlichen neun ein deutlich reduziertes Reproduktionsinteresse.
Denn wenn es sicherstellen möchte, daß auch in Zukunft seine Produkte
(Kompetenzen) »selektiert« werden, dann sollte ihm vor allem die zukünftige
Konkurrenzfähigkeit seiner Produkte am Herzen liegen. Dies ist bei seinen
Konkurrenten der Fall, bei ihm jedoch nicht. (Ebd., S. 115).Das
vermutliche Ergebnis: Das Unternehmen wird Marktanteile verlieren und eventuell
sogar ganz vom Markt verschwinden. Man sagt dann: Es war nicht mehr ausreichend
an die Marktverhältnisse (an sein Milieu) angepaßt. (Ebd., S.
115).Beispiel
4: | | Giraffen
erlangen umso mehr Nahrung, je länger ihr Hals ist. Anders gesagt: Ihre Fitneß
korreliert mit ihrer Halslänge.Nehmen
wir nun an, eine Giraffenpopulation habe sich für eine »moderne«
Reproduktionsstrategie entschieden: Die Giraffen mit den längsten Hälsen
fressen das hohe Laub nur zum Teil selbst. Einen größeren Teil (»Laub-Steuer«)
lassen sie für ihre kurzhalsigen Artgenossen einfach zu Boden fallen. Als
Gegenleistung übernehmen diese dafür die Nachwuchsarbeit. Das Reproduktionsinteresse
der kurzhalsigen Giraffen ist also hoch, das der langhalsigen dafür niedrig.Mit
der Zeit wird die gesamte Giraffenpopulation auf diese Weise immer kurzhalsiger.
Der lange Hals stellt zwar prinzipiell einen Vorteil dar, allerdings führt
er aufgrund der Reproduktionsstrategie der Giraffenpopulation sehr bald zur evolutionären
Elimination.Daraus
ergeben sich für die Zukunft zwei Alternativen: | Die
Giraffenpopulation stirbt aus (Fehlanpassung aufgrund einer törichten Reproduktionsstrategie). | | Die
Giraffenpopulation ändert ihr Verhalten gegenüber ihrem Lebensraum und
konzentriert sich auf eine Nahrungssuche in Bodennähe. Irgendwann dürfte
das Reproduktionsinteresse wieder mit der Lebensraum-Fitneß der Individuen
im Einklang stehen und die Population könnte - nun allerdings körperlich
sehr stark verändert - weiter fortbestehen.
(Ebd., S. 115-116). |
|
Das
Beispiel zeigt: Temporäre evolutionäre Fehlsteuerungen müssen nicht
notwendigerweise zum Aussterben einer Art führen. Solange das Reproduktionsinteresse
in weiten Teilen einer Population ungebrochen ist, ist eine Rückkehr zu langfristig
stabilen Adaptionsprozessen noch möglich. Bei dauerhaft beschädigten
Reproduktionsinteressen kann Evolution dagegen nicht mehr stattfinden. (Ebd.,
S. 116).Fazit:Die obigen Beispiele
konnten deutlich machen, daß das Reproduktionsinteresse für das Nachwuchsverhalten
und die Evolution von Populationen von entscheidender Bedeutung ist.Im
Rahmen der Diskussion um den demographischen Wandel wird sich zeigen, daß
in modernen Gesellschaften zwar noch ein ungebrochenes Paarungsinteresse, aber
nur noch ein sehr stark vermindertes Reproduktionsinteresse besteht, und zwar
um so ausgeprägter, je qualifizierter eine Person ist. In Gesellschaften
mit Gleichberechtigung der Geschlechter und leistungsfahigen Methoden zur Familienplanung
lassen sich Entscheidungen für oder gegen Nachwuchs für das einzelne
Individuum regelrecht ökonomisch abwägen. Dieser Umstand sollte bei
allen familien- und bevölkerungspolitischen Maßnahmen eingehend berücksichtigt
werden.Auch dürfte sich bei generell niedrigen
Reproduktionsinteressen jeglicher Selektionsdruck schon sehr bald verflüchtigen.
Besteht wie in modemen Gesellschaften dann zusätzlich noch ein negativer
Zusammenhang zwischen gesellschaftlich nutzbaren Kompetenzen und Reproduktionsinteressen,
dann dürfte die langfristige Sicherstellung der Anpassungsfähigkeit
der Population an sich wandelnde Anforderungen mehr als fraglich sein. (Ebd.,
S. 116-117).
4.6) Alternative Fassungen der Darwinschen Theorie
Die Systemische
Evolutionstheorie umgeht die gerade dargestellte Problematik (vgl.
a.a.O.; HB), da sie im Kriterium Reproduktion einen struktur- und
kompetenzerhaltenden Reproduktionsprozeß fordert. Für biologische
Populationen heißt dies nichts anderes als: Nachkommen müssen ihren
Vorfahren ähneln. (Ebd., S. 119).Beachten wir ... einmal
die folgende Erläuterung der Darwinschen Motivationen bei der Formulierung
seines Prinzips der natürlichen Auslese:»Die
Lektüre von Malthus brachte ihn auf die Idee, die seine später veröffentlichte
Theorie ausmacht: Pflanzen und Tiere produzieren mehr Nachkommen, als die Umwelt
ernähren kann. Folglich werden sie zu Konkurrenten, von denen nur einige
überleben können. Welche überleben, hängt von den Eigenschaften
der Individuen ab. Diejenigen, die aufgrund ihrer Ausstattung besser mit ihrer
Umwelt zurechtkommen (besser angepaßt sind), werden überleben, die
anderen zugrunde gehen. Dieser Prozeß bewirkt, daß sich die Lebewesen
an ihre Umwelt anpassen. Verändert sich die Umwelt, werden sich dementsprechend
auch die Arten verändern.« (Manuela Lenzen, Evolutionstheorien in
den Natur- und Sozialwissenschaften, 2003, S. 49). (Ebd., S. 120). |
In
dieser Zusammenfassung taucht ein ganz entscheidender Satz auf, der aber sehr
leicht überlesen werden kann: »Folglich werden sie zu Konkurrenen«
(**). (Ebd., S. 120).
Anders
als es die Darstellung von Manuela Lenzen suggerieren könnte, werden die
Individuen aber nicht nur zu Konkurrenten um den Selbsterhalt, sondern vor allem
auch um die Fortpflanzung (Reproduktion). Denn sonst könnte sich ein sehr
gut angepaßtes Individuum ja auf den eigenen Selbsterhalt beschränken
und die Fortpflanzungsarbeit den anderen überlassen. Dann würden seine
spezifischen Kompetenzen aber gleichfalls aus dem Spiel der Evolution ausscheiden.
Konkurrenz beinhaltet somit immer beides, nämlich 1. den Wettbewerb um Nahrung
(beziehungsweise generell um Ressourcen) und 2. den um die Fortpflanzung.
(Ebd.). |
Übersetzt
heißt dies nichts anderes als: Evolution findet statt, weil die verschiedenen
Individuen einer Population im Wettbewerb miteinander stehen und ihr zukünftiges
Fortbestehen unter sich »ausfechten«. Sie schaffen den Prozeß
aus sich heraus (eigendynamisch) und sind dabei nicht auf externe Eingriffe
von Züchtern oder gar Schöpfern angewiesen. (Ebd., S. 121).
Wie wir gesehen haben, basiert Evolution »aus sich heraus« zwar
maßgeblich auf den konkurrierenden Eigeninteressen von Individuen, trotzdem
wird dieses wesentliche Kriterium in zahlreichen Fassungen der Evolutionstheorie
nicht einmal erwähnt. Doch wie könnte es formuliert werden? Etwa so,
wie es Darwin nach der Lektüre von Malthus Schriften tat?
(Ebd., S. 122).Die Systemische Evolutionstheorie hat diese Fragen
beantwortet (siehe dazu die Begründungen zur Objektorientierung im Abschnitt
Systemische
Evolutionstheorie): Es sind die den Individuen innewohnenden - aber nicht
notwendigerweise einheitlich vorhandenen - Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen,
die den Evolutionsprozeß in Gang bringen und auch am Leben erhalten. Sie
sind es, die den Evolutionsprinzipien ihr Leben einhauchen. Man könnte sie
auch als eine Übersetzung oder gar Formalisierung der Konkurrenzbedingung
im Darwinschen Prinzip der natürlichen Auslese auffassen (**),
zum Beispiel in der folgenden Art und Weise: | Pflanzen
und Tiere produzieren mehr Nachkommen, als die Umwelt ernähren kann.Übersetzung:
Lebewesen besitzen ein Fortpflanzungsinteresse: Sie wollen sich reproduzieren,
und zwar die besser an den Lebensraum angepaßten Individuen mindestens genauso
stark wie die weniger gut angepaßten (**). | | Folglich
werden sie zu Konkurrenten, von denen nur einige überleben können.Übersetzung:
Lebewesen werden in Mangelsituationen zu Konkurrenten, weil sie sich selbsterhalten
wollen; weil sie ein eigenständiges Selbsterhaltungsinteresse besitzen.(Ebd.,
S. 122). |
Es
könnte nun eingewendet werden, daß auch die Systemische Evolutionstheorie
künstliche Zuchtwahlen keineswegs ausschließt, denn ein Züchter
könnte ja die vorhandenen Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen der
Individuen ignorieren und nach eigenen Kriterien selektieren. Letztlich spielt
das für unsere Überlegungen jedoch keine Rolle. Entscheidend ist, daß
die Systemische Evolutionstheorie die Prinzipien beschreibt, mittels denen Evolution
eigendynamisch stattfinden kann .... (Ebd.). |
Manfred
Eigen nennt das entsprechend eine »inhärent autokatalytische Selbstvermehrung«.
(Ebd.). |
Und damit
komme ich zu einem grundsätzlichen Problem der Darwinschen Evolutionstheorie:
Die Theorie mag zwar - wie Dawkins behauptet - erstaunlich einfach sein, dennoch
gibt es für sie bis heute keine allgemein akzeptierte Formulierung
(**). (Ebd., S.
124).
Diese
Tatsache spricht eher für einen äußerst komplexen Sachverhalt
als für eine kindische Einfachheit«. (Ebd.). |
4.7) Wachstum
Es wurde bereits im Abschnitt
Ausdifferenzierung
darauf hingewiesen, daß Lebewesen und Unternehmen - selbsterhaltende Systeme
also - im allgemeinen zu Wachstum tendieren, da sie hierdurch ihre Energieeffizienz
- und damit ihren Selbsterhalt - oftmals signifikant verbessern können. Beispielsweise
sinken in der Produktion von Waren bei steigenden Stückzahlen üblicherweise
die Stückkosten, wodurch Unternehmen produktiver werden, und sie ihre Produkte
und Dienstleistungen günstiger beziehungsweise gewinnreicher anbieten können.
(**). (Ebd., S. 125).Bei
Lebewesen spielt in diesem Zusammenhang das sogenannte Maßstabsgesetz -
das sich mit der Größe verändernde Verhältnis von Oberfläche
zu Volumen beziehungsweise Gewicht - eine entscheidende Rolle (vgl. Chris Lavers,
Warum haben Elefanten so große Ohren?, 2003, S. 16f.): Die
Oberfläche eines Lebewesens nimmt nämlich mit der Größe nicht
genauso schnell zu wie das Volumen oder das Gewicht, was zur Folge hat, daß
sein relativer Wärmeverlust mit zunehmender Größe zurückgeht.
Speziell für Warmblüter wie Säugetiere oder Vögel dürfte
dieser Umstand von großer Bedeutung sein. (Ebd., S. 125).Tiere
haben deshalb im Laufe der Evolution hin zu größerer Gestalt ihre Stoffwechselrate
reduziert: Je größer das Tier, desto geringer der Umsatz pro Zelle.
Man könnte deshalb auch sagen: Größere Tiere wirtschaften relativ
gesehen energieeffizienter als kleinere Tiere. (Ebd., S. 125).Allerdings
werden solche Vorteile mit den Nachteilen einer verringerten Beweglichkeit und
Flexibilität erkauft: »Wenn das Körpergewicht sinkt, wird das
Skelett nicht nur absolut, sondern auch relativ leichter - die Tiere werden lebhafter
und beweglicher.« (Chris Lavers, Warum haben Elefanten so große
Ohren?, 2003, S. 37). (Ebd., S. 125).Wie schon
im Abschnitt Leben
und Energie erwähnt wurde, können jagende Fleischfresser aus
diesem Grund nicht die gleiche maximale Größe erreichen wie Pflanzenfresser
(vgl. GEOLino.de
2006; Chris Lavers, Warum haben Elefanten so große Ohren?,
2003, S 15ff.). Mit zunehmender Größe dürfte aber auch die Anpassungsfähigkeit
eines Systems an sich rasch verändernde Rahmenbedingungen zurückgehenein
Zusammenhang, der auch aus der Unternehmenswelt her bekannt ist. (Ebd.,
S. 125).Mit dem bisher Gesagten erklärt sich jedoch noch nicht,
warum auch biologische Populationen eine Tendenz zum zahlenmäßigen
Wachstum besitzen. Wir erinnern uns: Für Charles Darwin war die ständige
Überproduktion von Nachkommen eine unabdingbare Voraussetzung für Evolution.
Einen systemischen Grund dafür haben wir bereits im Abschnitt Systemische
Evolutionstheorie kennengelernt: Der Struktur- und Kompetenzerhalt evolutionsfähiger
Systeme. Das folgende Beispiel soll dies noch etwas präzisieren.Beispiel:
| | Stellen
wir uns zwei sich asexuell fortpflanzende biologische Arten (Populationen) vor,
die in einem gemeinsamen Lebensraum um die gleichen Ressourcen konkurrieren. Beide
Populationen bestehen zu Beginn aus genau 3000 Individuen, wobei jeweils 1000
Individuen über eine gute, mittlere oder ausreichende Adaption an die Umwelt
verfügen. Mengenmäßige Bestandserhaltung wird bei beiden Spezies
bei einer durchschnittlichen F ertilitätsrate von 1,0 erreicht.Es
sei einfachheitshalber angenommen, daß alle Nachkommen die gleichen Lebensraumadaptionen
(gut, mittel, ausreichend) wie ihre EItern besitzen.Der
wesentliche Unterschied zwischen den beiden Spezies besteht in ihrer , sozialen
Organisation: Während bei der ersten Spezies Individuen mit guter Adaption
noch zusätzliche soziale Aufgaben übernehmen (zum Beispiel Schutz -
wodurch sich ihr Reproduktionsinteresse reduziert), kennt die zweite Spezies etwas
Vergleichbares nicht. In der Folge haben bei der ersten Spezies Individuen mit
guter Anpassung durchschnittlich lediglich 1,0 Nachkommen, mit mittlerer 1,1 und
mit ausreichender Adaption 1,0. Bei der zweiten Spezies haben dagegen Individuen
mit guter Adaption durchschnittlich 1,2 Nachkommen, während sich die restlichen
Individuen mengenmäßig entsprechend der ersten Spezies fortpflanzen.Liegen
im Lebensraum keinerlei Ressourcenbeschränkungen vor, dann würde die
erste Population nach 50 Generationen auf ca. 120000 Individuen anwachsen, die
zweite Population sogar auf mehr als 9 Millionen. Über 98 Prozent der Summe
aller Individuen aus beiden Populationen gehörten dann der zweiten Spezies
an.Noch bedenklicher
sähe die Situation für die erste Spezies aus, wenn der Lebensraum beschränkt
wäre und beispielsweise nur Resourcen für maximal 6000 Individuen böte.
Denn dann würde die Population der ersten Spezies nach 50 Generationen auf
77 Individuen schrumpfen, während die zweite Population gleichzeitig auf
5923 Individuen und damit auf fast 99 Prozent der Summe aller Individuen aus beiden
Populationen angewachsen wäre. Anders als bei einer fehlenden Beschränkung
des Lebensraums stünde die erste Spezies in diesem Szenario unmittelbar vor
dem Aussterben. | Eine zurückhaltende Reproduktionsweise
kann deshalb langfristig keine evoalutionär stabile Strategie sein, weil
die Population nämlich sonst schon bald von sich anders verhaltenden Konkurrenten
verdrängt werden dürfte. (Ebd., S. 125-127).Allerdings
könnte sich die erste Spezies für eine der beiden folgenden Alternativen
entscheiden: | Sie
könnte einen Krieg gegen die zweite Spezies anzetteln, mit dem Ziel, deren
Populationszahlen zu reduzieren. Dies dürfte jedoch im obigen Beispiel wenig
erfolgversprechend sein, da die zweite Spezies schon nach wenigen Generationen
sowohl von den Kopfzahlen her als auch anteilsmäßig über sehr
viel mehr Individuen mit einer guten Anpassung an den Lebensraum verfügte.
Es ist deshalb wenig wahrscheinlich, daß die erste Spezies einen solchen
Krieg für sich entscheiden wird. | | Sie
könnte in ihrer Reproduktionsstrategie bewußt auf Qualität statt
Quantität setzen. Entsprechende »Ziele« verfolgen getrenntgeschlechtliche
Populationen (siehe Abschnitt Paarungsverhalten
als evolutionärer Vorteil und Unterabschnitt Die
Vorteile der Sexualität). Am Ende verfügte die erste Spezies dann
zwar vielleicht über weniger Individuen als die zweite Spezies, allerdings
wären diese durchschnittlich besser an den Lebensraum angepaßt, so
daß sie von der zweiten Population nicht einfach verdrängt werden könnten.
Jedoch würde auch hier gelten: Das Reproduktionspotential der Spezies muß
ausgenutzt werden, sonst werden dies konkurrierende Arten mit ähnlichen Fortpflanzungsweisen
tun. Eine denkbare Ausnahme stellt hier der Mensch dar, der unter den biologischen
Spezies mittlerweile keinen direkten Konkurrenten mehr besitzt, so daß er
sich selbst bei gewollt schrumpfenden Bevölkerungszahlen fortlaufend an sich
verändernde Rahmenbedingungen anpassen könnte (siehe Kapitel Demographischer
Wandel und Unterabschnitt Die
Vorteile der Sexualität). (Ebd., S. 127). |
4.8) Vererbungssysteme und Replikatoren
In vielen populären
Abhandlungen zur Evolutionstheorie stehen sogenannte Replikataren im Zentrum der
Betrachtungen, und zwar insbesondere dann, wenn es nicht nur um die biologische
Evolution, sondern auch um nichtbiologische Entwicklungsprozesse geht. Im Abschnitt
Meme auf wurde bereits dargelegt,
daß für Richard Dawkins das Gen der für die biologische Evolution
verantwortliche Replikator ist, für die kulturelle Evolution dagegen das
Mem. Ich hatte an dieser Stelle bereits angemerkt, daß ein solches theoretisches
Konzept dazu veranlassen könnte, die Analyse von Evolutionsprozessen stets
mit einer Suche nach geeigneten Replikatoren zu beginnen, was aber in den meisten
Fällen nicht zielführend sein dürfte. (Ebd., S. 127-128).Andere
Autoren präferieren dagegen den Begriff des Vererbungssystems, der in vieler
Hinsicht allgemeiner gefaßt ist als der des Replikators. Ich werde darauf
noch zurückkommen. (Ebd., S. 128).Richard Dawkins erläutert
die Hintergründe des Replikatorendenkens wie folgt:»Was
ist im Grunde so besonderes an den Genen? Die Antwort lautet: die Tatsache, daß
sie Replikatoren sind. Von den Gesetzen der Physik nimmt man an, daß sie
im gesamten bekannten Universum gelten. Gibt es irgendwelche Grundsätze der
Biologie, bei denen die Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie eine ähnlich
universelle Gültigkeit besitzen? Wenn Astronauten auf der Suche nach Leben
zu fernen Planeten reisen, so können sie erwarten, Lebewesen vorzufinden,
die zu fremd und zu unirdisch sind, als daß wir sie uns vorstellen könnten.
Aber gibt es nicht irgendetwas, das für alles Leben gelten muß, wo
immer es auch gefunden werden mag und was auch immer seine chemischen Grundbausteine
sein mögen ? Wenn Lebensformen bestehen, deren chemische Struktur auf
Silikon aufbaut und nicht auf Kohlenstoff, oder auf Ammoniak und nicht auf Wasser,
wenn Geschöpfe entdeckt werden, die bei minus 100 Grad Celsius zu Tode sieden,
wenn eine Form von Leben gefunden wird, die überhaupt nicht auf Chemie beruht,
sondern auf elektronischen Schwingkreisen, wird es dann immer noch irgendein allgemeines
Prinzip geben, das auf alles Leben zutrifft? Es ist offensichtlich, daß
ich das nicht wissen kann, doch wenn ich mich für etwas entscheiden müßte,
dann gibt es ein Grundprinzip, auf das ich setzen würde. Nämlich auf
das Gesetz, daß alles Leben sich durch den unterschiedlichen Überlebenserfolg
sich replizierender Einheiten entwickelt. Das Gen, das Stückchen DNA, ist
zufällig die Replikationseinheit, die auf unserem eigenen Planeten überwiegt.
Es mag andere geben. Wenn es andere gibt, so werden sie - vorausgesetzt bestimmte
zusätzliche Bedingungen sind erfüllt - fast unweigerlich zur Grundlage
für einen evolutionären Prozeß werden.Doch
müssen wir uns infremde Welten begeben, um andere Replikatortypen und andere,
daraus resultierende Arten von Evolutionen zu finden? Ich meine, daß auf
diesem unserem Planeten kürzlich eine neue Art von Replikator aufgetreten
ist. Zwar ist er noch jung, treibt noch unbeholfen in seiner Ursuppe herum, aber
er ruft bereits evolutionären Wandel hervor, und zwar mit einer Geschwindigkeit,
die das gute alte Gen weit in den Schatten stellt.« (Richard Dawkins, Das
egoistische Gen, 1976, S. 319f.). | Wenn ich mich
für ein Grundprinzip, das auf alles Leben zutrifft, entscheiden müßte,
dann würde ich auf den Willen von Lebewesen, sich selbstzuerhalten und zu
reproduzieren, setzen. Die Kernaussage Richard Dawkins ist dagegen: Replikatoren
und deren unterschiedlicher Fortpflanzungserfolg sind die Grundlage des Lebens
und der damit verbundenen evolutiven Prozesse (**).
Für ihn begann mit dem Aufkommen von Replikatoren die Evolution des Lebens:»Irgendwann
bildete sich zufällig ein besonders bemerkenswertes Molekül. Wir nennen
es R e p l i k a t o r .
Es war vielleicht nicht unbedingt das größte und komplizierteste Molekül
ringsumher, aber es besaß die außergewöhnliche Eigenschaft, Kopien
seiner selbst herstellen zu können.« (Richard Dawkins, Das egoistische
Gen, 1976, S. 56). | Lebewesen stellen für
Dawkins dagegen nur eine vergleichsweise sekundäre Erscheinung dar:»Die
Replikatoren fingen an, nicht mehr einfach zu existieren, sondern für sich
selbst Behälter zu konstruieren, Vehikel für ihr Fortbestehen. Es überlebten
diejenigen Replikatoren, die um sich herum Ü b e r l e b e n s m a s c h i n e n
bauten.« (Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, S. 63). | Bei
der biologischen Evolution sollen gemäß Dawkins die Replikatoren die
Gene sein, bei der kulturellen die Meme (siehe dazu auch die Ausführungen
im Abschnitt Meme). Konkurrenz
entsteht demgemäß vor allem auf der Ebene der »egoistischen«
Replikatoren, während sich das Verhalten von Individuen beziehungsweise von
Gen-Überlebensmaschinen sehr weit über die darin zum Ausdruck kommenden
Eigeninteressen der in ihnen wirkenden Replikatoren erklären läßt:»So
wie es sich als brauchbar erwiesen hat, daß wir uns die Gene als aktive
Handlungsträger vorstellten, die zielbewußt auf ihr eigenes Überleben
hinarbeiten, könnte es vielleicht nützlich sein, sich die Meme ebenfalls
so vorzustellen. .... Wir haben Bezeichnungen wie »eigennützig«
und »rücksichtslos » auf die Gene angewandt und waren uns dabei
völlig im klaren darüber, daß es sich lediglich um eine Sprachfigur
handelt (**). Können wir,
in genau dem gleichen Sinne, nach eigennützigen oder rücksichtslosen
Memen Ausschau halten?Hier
stellt sich nun ein Problem, das die Natur der Konkurrenz betrifft. Wo es geschlechtliche
Fortpflanzung gibt, konkurriert jedes Gen vor allem mit seinen eigenen Allelen-Rivalen
für dieselbe Stelle auf dem Chromosom. Bei den Memen scheint es nichts den
Chromosomen Entsprechendes zu geben und nichts, was den Allelen entspricht. ....
Sollen wir annehmen, daß sie »eigennützig« oder daß
sie » rücksichtslos « sind, wenn sie keine Allele haben? Tatsächlich
können wir dies erwarten, denn in gewissem Sinne müssen Meme sich auf
eine Art Konkurrenz miteinander einlassen.Jeder,
der einmal einen Großrechner benutzt hat, weiß, wie kostbar Rechenzeit
und Speicherkapazität sind. In vielen großen Rechenzentren muß
man dafür tatsächlich Geld bezahlen, oder man bekommt eine Laufzeit
zugeteilt, die in Sekunden gemessen wird. Die Computer, in denen die Meme leben,
sind die Gehirne der Menschen. Bei diesen ist die Zeit möglicherweise ein
wichtigerer Faktor als der Speicherplatz, und sie ist Gegenstand heftiger Konkurrenz.
Das menschliche Gehirn und der Körper, den es steuert, können nicht
mehr als eins oder einige wenige Dinge gleichzeitig tun. Wenn ein Mem die Aufmerksamkeit
eines menschlichen Gehirns in Anspruch nehmen will, so muß es dies auf Kosten
rivalisierender Meme tun.« (Richard Dawkins, Das egoistische
Gen, 1976, S. 327). | Mit anderen Worten: Gene konkurrieren
um den Platz auf Chromosomen, Meme um die Aufmerksamkeit menschlicher Gehirne.
(Ebd., S. 128-130).
Dies
ist eine äußerst problematische Aussage. Denn wenig später erklärt
Richard Dawkins, daß Meme genau die gleichen Eigenschaften besitzen, folglich
könnten auch sie dem Leben zugerechnet werden. (Ebd.). |
Nun
sind aber Phänomene wie Konkurrenz, Eigennutz und Rücksichtslosigkeit
in menscl1lich Gesellschaften und in der Natur nicht einfach nur Sprachfiguren,
sondern in höchstem Maße real. (Ebd.). |
Ich
muß gestehen, dies scheint mir sehr weit hergeholt bis fast absurd zu sein.
Auch ergeben sich aus einer solchen Vorstellung einige unmittelbare logische Probleme,
zum Beispiel bezüglich des Zusammenspiels von Phänotyp und Genotyp.
(Ebd., S. 130).Gemäß Richard Dawkins ist nämlich
in biologischen Populationen »die fundamentale Einheit für die Selektion
und damit für das Eigeninteresse nicht die Art, nicht die Gruppe und - streng
genommen - nicht einmal das Individuum .... Es ist das Gen, die Erbeinheit.«
(Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, S. 50f.).
(Ebd., S. 130-131).Folgt man dieser Argumentation, dann läge
das Reproduktionsinteresse also beim Replikator- Gen und nicht beim Individuum,
was recht problematische Folgerungen hat, denn schließlich kann ein Gen
ein eventuelles Reproduktionsinteresse nur über seine »Überlebensmaschine«
Individuum ausdrücken und realisieren. Hinzu kommt, daß Dawkins im
Rahmen seiner weiteren Ausführungen nicht hinreichend präzise erklären
kann, was Gene nun eigentlich sind, denn ganz egal wie klein er seine DNA-Sequenzen
dafur auch wählen mag, die Natur wird diese Einheiten während des Fortpflanzungsvorgangs
immer mal wieder auseinander schneiden (vgl. Richard Dawkins, Das egoistische
Gen, 1976, S. 64ff.). Das führt zu dem Dilemma, daß die von ihm
definierte Einheit der Selektion letztlich gar keine invariante Einheit
ist:»Ein
Gen ist definiert als jedes beliebige Stück Chromosomenmaterial, welches
potentiell so viele Generationen überdauert, daß es als eine Einheit
der natürlichen Auslese dienen kann.«
(Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, S. 75). | Und
weiter:»Wollte
man genau sein, so dürfte dieses Buch weder Das egoistische Cistron
noch Das egoistische Chromosom heißen, sondern eher Das
etwas egoistische große Stückchen Chromosom und das sogar noch egoistischere
kleine Stückchen Chromosom. Doch das ist ein -gelinde gesagt -nicht
gerade spannender Titel, daher definiere ich ein Gen als ein kleines Stückchen
Chromosom, das potentiell viele Generationen überdauert, und nenne das Buch
Das egoistische Gen.« (Richard Dawkins, Das egoistische
Gen, 1976, S. 82). | Die meisten anderen Autoren
betonen dagegen, daß nur der Phänotyp Gegenstand der Selektion sein
kann:»Die
Selektion setzt immer bei den Phänotypen an, bei den Individuen oder auch
Gruppen. Ausgelesen werden aber letztlich die Gene als die eigentlichen Replikatoren.«
(Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens,
1984, S. 547). | Oder noch etwas ausführlicher
ausgedrückt - und bereits mit einigen Fragezeichen versehen :»In
der Evolution wirkt die Selektion stets auf die Variation des Phänotyps,
der sämtliche beobachtbaren Eigenschaften und Funktionsmerkmale des Organismus
enthält. Das ist ein Lieblingsbegriff der Evolutionsbiologen, der auch in
Begriffskombinationen wie phänotypische Variation oderphänotypische
Veränderung auftritt. Die Selektion wirkt nicht direkt auf die DNA-Sequenz
(die auch als Genotyp bezeichnet wird). Auf den Genotyp wirkt sie nur indirekt
durch den Phänotyp, dessen Merkmale weitgehend vom Genotyp abhängen.
.... Da es der Phänotyp ist, der der Selektion unterliegt, aber der Genotyp
vererbt wird um den Phänotyp zu produzieren, ist es entscheidend, die Prozesse
zu verstehen, die beide miteinander verknüpfen.« (Marc W. Kirschner
/ John C. Gerhart, Die Lösung von Darwins Dilemma, 2007, S. 27f.). | Gemäß
der Dawkinschen Theorien der egoistischen Gene und Meme entwickelt sich die »Überlebensmaschine«
Mensch zunächst aus dessen Genen. Anschließend würde dieses noch
unfertige Individuum erzogen und ausgebildet und sein Gehirn dabei mit einer ganzen
Reihe unterschiedlichster Meme beladen. Erst jetzt hätte sich sein Phänotyp
voll entfaltet.Beispiel:
| | Ein
eineiiges Zwillingspaar (beides Jungen) wird bei der Geburt getrennt, so daß
die beiden Brüder in unterschiedlichen Bauernfamilien aufwachsen. Die erste
Familie unterrichtet ihr Kind intensiv in Lesen, Schreiben und Rechnen, während
sein Zwillingsbruder alle möglichen Feld- und Hausarbeiten verrichten muß.
Er bleibt Analphabet.Wenige
Jahre später verschlechtern sich die Verhältnisse auf dem Land und beide
Brüder müssen sich unabhängig voneinander um eine Arbeitsstelle
in der benachbarten Stadt bemühen. Der des Lesens mächtige Bruder findet
prompt eine geeignete Stelle bei einem einflußreichen Würdenträger
und macht schon bald Karriere. Er heiratet eine Tochter des Bürgermeisters
und hat mit ihr zusammen 9 Kinder. Sein Bruder findet dagegen keine Arbeit und
stirbt während eines sehr kalten Winters an Hunger und Unterkühlung. | Das
Beispiel macht deutlich, daß eine »Selektion« zwangsläufig
am Phänotyp ansetzen muß. Der Genotyp mag zwar in vielen Fällen
- insbesondere im Tierreich - eine ganz entscheidende Rolle spielen, er ist aber
sicherlich nicht der einzige Faktor, der bei einer Selektion zur Geltung kommt.
Zumindest in menschlichen Gesellschaften muß er dafür sogar nicht einmal
ausschlaggebend sein. (Ebd., S. 131-132).Ein Selektionsprinzip,
welches am Phänotyp ansetzt, dann aber nur den Genotyp ausliest, der für
die Selektion möglicherweise aber nicht einmal entscheidend war, dürfte
Evolution nicht wirklich plausibel erklären können. (Ebd., S.
132).Unabhängig davon mehren sich die Hinweise, daß
in der Natur neben der Vererbung genetischer Merkmale auch die Vererbung erworbener,
epigenetischer Eigenschaften eine wesentliche Rolle spielen könnte. Einige
Autoren sprechen deshalb bereits von unabhängigen Vererbungssystemen, die
im Rahmen der Evolution alle zu berücksichtigen seien, und in denen zum Teil
auch der Status der Umwelt oder die Erfahrungen der Eltern eine Rolle spielen
könnten. (Ebd., S. 133).Jablonka und Lamb unterscheiden
in gleich vier verschiedene solcher Systeme, und zwar ein genetisches, epigenetisches,
verhaltensspezifisches und zeichenbasiertes Vererbungssystem, wobei das letzte
der genannten Systeme ausschließlich dem Menschen zugesprochen wird (vgl.
Eva Jablonka / Marion J. Lamb, Evolution in 4 Dimensionen, 2006). Gemäß
ihrer Auffassung wäre sogar eine Evolution mit stark veränderten Phänotypen
möglich, wenn alle Individuen über den gleichen genetischen Code verfügten,
wenn sich also nur auf epigenetischer, verhaltensspezifischer und zeichenbasierter
Ebene etwas ändern würde. Sie behaupten, daß Individuen über
alle drei genannten Vererbungssysteme auch gewisse Erfahrungen mit ihrem Lebensraum
an ihre Nachkommen weitergeben könnten. Beispielsweise entwickelt sich Flachs
verzweigter und hat auch breitere Blätter, wenn er regeImäßig
gedüngt wird. Diese Merkmale können aber offenkundig auch über
den Samen epigenetisch an die nächste Generation weitergeben werden (vgl.
Manuela Lenzen, Evolutionstheorien in den Natur- und Sozialwissenschaften,
2003, S. 82). (Ebd., S. 133).Wie ich bereits erläutert
habe, ist in analoger Weise auch eine gewisse Evolution der Computertechnik selbst
dann noch vorstellbar, wenn sich nur die Softwareseite weiterentwickelt, die Hardware
dagegen immer gleich bleibt (siehe Abschnitt Systemische
Evolutionstheorie [**]).
(Ebd., S. 133).Ähnliche Ideen wie Jablonka und Lamb verfolgen
Sterelny und Griffiths mit ihrer Theorie der Entwicklungssysteme, bei der der
Phänotyp eines Organismus gesamthaft als ein sich entwickelndes System betrachtet
wird, in deren Rahmen die Gene nicht mehr die ausschließliche Rolle spielen,
sondern nur ein Faktor unter vielen sind. Den Vertretern dieses Ansatzes zufolge
kennt die Evolution keine privilegierten Replikatoren, die allein für die
stammesgeschichtliche Weiterentwicklung von Organismen verantwortlich wären.
So gäbe es insbesondere auch keinen in den Genen verankerten Plan, der präzise
festlegt, wie sich ein Individuum im Detail zu entwickeln hat (vgl. Manuela Lenzen,
Evolutionstheorien in den Natur- und Sozialwissenschaften, 2003, 83f.).
(Ebd., S. 133).lm Gegensatz zur Theorie der Entwicklungssysteme
gemäß Sterelny und Griffiths scheinen mir die davor genannten Ansätze,
und zwar ganz gleich ob nun eher Replikatoren oder Vererbungssysteme im Vordergrund
stehen, für die Analyse und Beschreibung evolutiver Prozesse nicht wirklich
zielführend zu sein. Replikatoren und Vererbungssysteme sind sicherlich wichtig
und unverzichtbar, wenn es um eine Erklärung der präzisen technischen
Abläufe evolutiver Prozesse geht, zum Beispiel um die Vererbung eines Merkmals
wie etwa die Augenfarbe. (Ebd., S. 133-134).Bei einer Erstanalyse
evolutiver Prozesse lenken sie jedoch das Augenmerk zu sehr auf die technischen
Aspekte und weniger auf den eigentlichen Gegenstand der Evolution. (Ebd.,
S. 134).Richard Dawkins empfiehlt, die Analyse evolutiver Prozesse
zunächst mit der Suche nach geeigneten Replikatoren zu beginnen (vgl. Richard
Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, S. 85). Von diesen erwartet er insbesondere,
daß sie die Eigenschaften Langlebigkeit, Fruchtbarkeit (Vermehrungsfähigkeit)
und Kopiergenauigkeit besitzen (vgl. ebd., S. 85). Ferner sollten sie untereinander
um den Zugang zu einer knappen Ressource konkurrieren, zum Beispiel dem Speicherplatz
auf Chromosomen im Falle der Gene oder der menschlichen Aufmerksamkeit bei den
Memen. (Ebd., S. 134).Doch wie will man auf diese Weise die
Evolution von Mobiltelefonen oder generell des menschlichen Wissens erklären?
Mobiltelefone etwa lassen sich in der Produktion sehr leicht vervielfältigen.
Aber evolvieren sie auch bereits durch diesen Reproduktionsvorgang? (Ebd.,
S. 134).Im vorliegenden Buch wird ein systemtheoretischer Ansatz
(Systemische Evolutionstheorie) zur Beschreibung von Evolutionen vorgeschlagen,
der den auf Replikatoren oder Vererbungssystem gestützten Ansätzen in
vieler Hinsicht überlegen ist. Denn dabei stehen nicht länger Populationen
aus nicht näher spezifizierten Individuen (wie in der Darwinschen Evolutionstheorie)
oder gar Replikatoren (wie bei Dawkins) im Vordergrund der Analyse, sondern Populationen
aus lauter autonomen Systemen mit eigenständigen Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen,
in denen es dann auf ganz natürliche Weise zu einem Wettbewerb unter den
Individuen und damit auch zu Evolution kommt. (Ebd., S. 134).Die
Systemische Evolutionstheorie interessiert sich folglich in erster Linie für
die autonomen Systeme, die sich selbsterhalten und reproduzieren wollen, denn
nur die können Gegenstand der Evolution sein. Sie fragt nicht nach Replikatoren,
sondern nach evolvierenden selbsterhaltenden Systemen. Dieser Auffassungsunterschied
hat weitreichende Konsequenzen. (Ebd., S. 134).Beispielsweise
kann es im Sinne der Systemischen Evolutionstheorie keine selbstständige
Evolution von Augen, Ohren oder Nasen geben. Evolvieren können immer nur
autonome Systeme mit eigenständigen Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen,
also zum Beispiel die Lebewesen einer Population. Indirekt können sich im
Laufe der Zeit auch deren Augen weiterentwickeln, aber dies wäre dann nur
ein Aspekt eines größeren Evolutionsprozesses, nämlich der Evolution
der betroffenen Spezies. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Evolution
der Technik: Mobiltelefone können nicht selbstständig evolvieren, lediglich
deren Hersteller. Die Evolution der Mobiltelefone wäre somit nur ein Aspekt
der Evolution der Mobilfunk-Branche. (Ebd., S. 134-135).In
dieser Weise könnte man nun fortschreiten: Bei der wissenschaftlichen Evolution
evolvieren Wissenschaftler und Forschungsinstitute, bei der Kunst Künstler
und beim Sport Sportler und deren Mannschaften. Ich werde auf diese Punkte im
Abschnitt Nichtbiologische
Evolution auf und den darauffolgenden Abschnitten noch im Detail eingehen.
(Ebd., S. 135).Gemäß der Systemischen Evolutionstheorie
können stets nur Lebewesen oder auf sie aufbauende biologische Phänomene
(zum Beispiel Organisatipnssysteme) evolvieren, denn nur diese sind im Besitz
der für evolutive Prozesse erforderlichen Systemeigenschaften. (Ebd.,
S. 135).Ohne eine solche theoretische Fundierung dürfte man
aber schon bei der Bestimmung des Gegenstands der Evolution in Schwierigkeiten
geraten. Merkmale, Kompetenzen, Gene, Meme, Kunstwerke, Gedichte, Opern, Wissenschaften,
Sportarten, Autos, Banken, Mobiltelefone: was genau evolviert denn eigentlich?
(Ebd., S. 135).Solange in einem Sachgebiet noch überhaupt
keine Klarheit über den Gegenstand der Evolution herrscht, solange können
darauf auch keine Evolutionsprinzipien angewendet beziehungsweise dahin übertragen
werden. Eine Beschreibung nichtbiologischer Evolutionen ist dann nicht möglich.
(Ebd., S. 135).Die Systemische Evolutionstheorie leistet in diesem
Zusammenhang nun vor allem eins: Sie erleichtert die Suche nach dem Gegenstand
der Evolution. Und sie präzisiert: Zunächst muss der Gegenstand der
Evolution festliegen; erst dann kann über Replikatoren nachgedacht werden.
(Ebd., S. 135).
4.9) Gültigkeit der Darwinschen Evolutionsprinzipien
Man
kann zeigen - und das möchte ich auf den nächsten Seiten tun -, daß
sich für biologische Populationen die Prinzipien der Darwinschen Evolutionstheorie
aus den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie ableiten lassen.
Mit anderen Worten: Sind in einer Population die Grundpinzipien der Systemischen
Evolutionstheorie erfüllt, dann evolviert diese auch im Darwinschen Sinne.
Die Kriterien der Systemischen Evolutionstheorie sind folglich hinreichend für
die Anwendbarkeit der Darwinschen Evolutionstheorie. (Ebd., S. 135-136).
4.9.1) Variation
Gemäß Maturana und Varela handelt
es sich bei Lebewesen um autopoietische Systeme, die dann natürlich auch
selbsterhaltend sind. Für biologische Populationen
sind die Formulierungen des Variationsprinzips der Systemischen und Darwinschen
Evolutionstheorie folglich deckungsgleich. (Ebd., S. 136).Hieraus
ergibt sich unmittelbar: | Genügt
eine biologische Population den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie,
dann genügt sie auch dem Variations-Prinzip der Darwinschen Evolutionstheorie. |
|
(Ebd., S. 136).
4.9.2) Vererbung
Der Reproduktionsprozeß biologischer
Populationen ist die »Fortpflanzung«, wozu beim Menschen allerdings
auch der aufwendige Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozeß zählt.
Die Fortpflanzung ist in der Lage, sowohl die Systemstrukturen der Eltern (Strukturerhaltung)
als auch deren Kompetenzen in Bezug auf den Lebensraum (Adaption) zu
erneuern (**). Die dabei aus den
Eltern erzeugten Replikate (Kopien, Nachkommen) sind zwar einerseits gegenüber
ihren Originalen verändert, weisen in der Regel aber auch erhebliche Ähnlichkeiten
auf. Ein Teil der Unterschiede betrifft bereits den Genotyp, und zwar aufgrund
von Mutationen und genetischen Rekornbinationen. Andere Abweichungen beziehen
sich dagegen ausschließlich auf den Phänotyp. (Ebd., S. 136).
In
der Natur besitzen die verschiedenen Spezies meist recht unterschiedliche Reproduktionsstrategien.
Allerdings können sie auch die Reproduktionsprozesse innerhalb einer Population
unterscheiden (siehe dazu auch die Ausführungen in den folgenden Abschnitten).
Eva Jablonka und Marion J. Lamb vermuten, daß sich diese ebenfalls evolutionär
herausbilden (vgl. Eva Jablonka / Marion J. Lamb, Evolution in 4 Dimensionen,
2006, S. 101). (Ebd.). |
Für
biologische Populationen sind folglich die Formulierungen des Prinzips Reproduktion
der Systemischen und des Prinzips Vererbung der Darwinschen Evolutionstheorie
deckungsgleich. (Ebd., S. 137).Wir können somit festhalten: | Genügt
eine biologische Population den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie,
dann genügt sie auch dem Vererbungs-Prinzip der Darwinschen Evolutionstheorie. |
|
(Ebd., S. 137)
4.9.3) Selektion
Damit sich ein Lebewesen fortpflanzen kann
(Darwin: damit ein Lebewesen selektiert werden kann), muß es sich
zunächst im Leben bewähren, ein reproduktionsfähiges Alter erreichen
und stets eine ausreichende Menge an Ressourcen zum Erhalt des eigenen Lebens
erlangen. Es muß also ausreichend an den Lebensraum angepaßt sein.
(Ebd., S. 137).Bei der sexuellen Fortpflanzung benötigt es
aber zusätzlich noch einen Fortpflanzungspartner. Für die Gewinnung
von Sexualpartnern haben sich in den verschiedenen Spezies zum Teil ganz unterschiedliche
Strategien durchgesetzt, die ansatzweise in den nächsten Abschnitten diskutiert
werden sollen. Dominiert in einer Spezies beim Paarungsverhalten etwa die weibliche
Selektion (Gefallen-wollen-Kommunikation),
dann muß ein Männchen wenigstens ein Weibchen von sich überzeugen
können. Anders gesagt: Es muß ausreichend an die Präferenzen des
anderen Geschlechts angepaßt sein. (Ebd., S. 137).Nun
ist aber durchaus vorstellbar, daß ein relativ schlecht an den Lebensraum
angepaßtes Männchen dennoch sehr viele Weibchen für sich gewinnen
kann, während ein besonders gut adaptiertes Männchen diesbezüglich
leer ausgeht. Bezogen auf die Darwinsche Evolutionstheorie könnte man sagen:
Im ersten Fall genügt das Individuum besonders gut den Bedingungen der sexuellen
Selektion und im zweiten Fall denjenigen der natürlichen Selektion.
Bei der sexuellen Fortpflanzung könnten also schlechter an den Lebensraum
angepaßte Männchen trotzdem besonders viele Nachkommen haben.
(Ebd., S. 137).Um genau das zu verhindern, selektieren die Weibchen
bei vielen sich sexuell reproduzierenden Arten ihre Fortpflanzungspartner anhand
sogenannter Fitneßindikatoren, die ihnen Aufschluß über den Grad
der Anpassung eines Männchens an den Lebensraum geben (siehe Abschnitt Fitneßindikatoren).
Die beiden Darwinschen Selektionen synchronisieren sich dann von ihrer Zielrichtung
her (**), weswegen wir uns bei
der weiteren Analyse einfachheitshalber auf den Grad der Anpassung an den Lebensraum
beschränken können. (Ebd., S. 137-138).
So
läßt sich praktisch in allen menschlichen Kulturen nachweisen: Nichts
steigert die Attraktivitäl eines Mannes gegenüber dem anderen Geschlecht
so sehr wie der soziale Erfolg (Thomas P. Weber, Soziobiologie, 2003, S.
77) und das hat ganz entscheidend etwas mit dem erhofften späteren Lebenserfolg
des eigenen Nacbwuchses zu tun, und nicht nur mit einer Versorgungsmentalität
auf Seiten der Frauen, wie man vorschnell annehmen könnte. (Ebd.). |
Dies
hat zur Folge: Korreliert das Reproduktionsinteresse in einer Population
nicht negativ mit der relativen Fitneß der Individuen in bezug auf den Lebensraum,
dann werden Individuen, die besser an ihre Umgebung angepaßt sind, im Mittel
einen größeren Reproduktionserfolg haben (häufiger selektiert
werden) als andere, und zwar unabhängig davon, ob sich die Spezies asexuell
oder sexuell fortpflanzt. Mit anderen Worten: Das Prinzip der natürlichen
Selektion setzt sich dann von ganz alleine durch. (Ebd., S. 138).Wir
können folglich festhalten: | Genügt
eine biologische Population den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie,
dann genügt sie auch dem Prinzip der natürlichen Selektion der Darwinschen
Evolutionstheorie. |
| Die
Triebfeder der Evolution ist also offenkundig nicht das Prinzip der natürlichen
Selektion, sondern das in den Individuen (gegebenenfalls unterschiedlich stark)
vorhandene Reproduktionsinteresse: Ohne Reproduktionsinteressen kann Evolution
nicht stattfinden. (Ebd., S. 138).Anders gesagt: Beim
Prinzip der natürlichen Selektion handelt es sich um kein Basisprinzip der
Evolution, sondern um eine zwangsläufige Konsequenz aus dem grundsätzlicheren
Prinzip der kompetenzneutralen Reproduktionsinteressen (**).
(Ebd., S. 138).
Auf
diese Weise lassen sich dann auch die im Abschnitt Fitneß
beschriebenen problematischen Zirkelschlüsse restlos vermeiden. (Ebd.). |
4.11) Sexualität
Der Sinn der sexuellen Fortpflanzung
und damit der Sexualität insgesamt galt in der Biologie lange Zeit als rätselhaft
(siehe dazu auch die ausführliche Diskussion des Themas im Abschnitt Wozu
gibt es Sexualität?). Biologen weisen heute meist auf die sehr große
genetische Vielfalt hin, die auf diese Weise entstehen kann:
»Der Vorteil
der sexuellen Reproduktion besteht höchstwahrscheinlich darin,
daß das genetische Material durch die zufällige Verteilung
väterlicher beziehungsweise mütterlicher Chromosomen auf
die Nachkommen sowie durch den genetischen Austausch zwischen (homologen)
Chromosomen (crossing-over) durchmischt wird. Dadurch haben die
Nachkommen jeweils neue, einzigartige Mischungen von Genen. Sexualität
ist wie eine genetische Lotterie, die in jeder Generation Gewinner
und Verlierer produziert, da durch die Rekombination gute von schlechten
Genen getrennt werden. Manche Individuen haben deshalb geringere
Überlebens- und Reproduktionschancen, wodurch schädliche
Mutationen entfernt werden. Andere Gen-Kombinationen weisen eine
höhere Fitneß auf und verbreiten sich. Und schließlich
bringt die Durchmischung eine höhere Flexibilität mit
sich, wodurch die Anpassung an neue Umweltbedingungen, Krankheitserreger
und Parasiten erleichtert wird. Bei asexueller Reproduktion erben
die Nachkommen dagegen alle - gute wie schlechte - Gene und zu Veränderungen
kommt es nur durch Mutationen.« (Thomas Junker, Die Evolution
des Menschen, 2006, S. 67). |
Manfred
Eigen betont, die Vielfalt des Lebens sei überhaupt erst durch die genetische
Rekombination möglich geworden:»Doch
so effizient die molekulare Maschinerie der (Mikro-)Organismen inzwischen geworden
war, so unflexibel erwies sie sich in bezug auf ihre weitere Evolution. Zum einen
nahm die hohe Reproduktionsgenauigkeit dem einzelnen Gen jegliche Flexibilität,
zum anderen wurden eingetretene Veränderungen ausschließlich vertikal,
das heißt, an die unmittelbare Nachkommenschaft weitervererbt. Das mag mit
ein Grund dafür gewesen sein, daß die Evolution für mehr als zwei
Milliarden Jahre auf der Stufe der Einzeller verharrte, obwohl diese innerhalb
von weniger als einer Milliarde Jahren voll entwickelt waren. Die reiche Vielfalt
des Lebens, die sich in unserer Zeit in Millionen verschiedener Spezies ausdrückt,
ist indes das Ergebnis einer Evolution, die nur (oder weniger als)
fünfhundert bis tausend Millionen Jahre in Anspruch nahm. Der Weg aus der
Sackgasse bedurfte eines neuen Organisationsprinzips, eines Prinzips, das einen
horizontalen Genaustausch möglich machte: genetische Rekombination und Transposition
von Genen. Genetische Rekombination ist die Grundlage der sexuellen Vererbung.«
(Manfred Eigen, Stufen zum Leben, 1987, S. 241). | Allerdings
kam mit der genetischen Rekombination und der sexuellen Fortpflanzung auch der
Tod:»Die
wichtigste Konsequenz dieser neuen Art von Fortpflanzung ist - abgesehen von der
großen Variabilität - die Verlagerung der Angriffsfläche der Evolution
von der einzelnen Zellinie auf die gesamte Population, deren Gen-Fundus auf diese
Weise jede Veränderung unmittelbar aufnimmt. Die Gene sind damit de facto
wieder von ihrer Zentralherrschaft des Genoms befreit. Ein selektiver Vorteil
kann sich zum einen rasch horizontal über die gesamte Population ausbreiten,
und zum anderen wird die Angriffsfläche für jede Mutation, die jetzt
nur in einem beliebigen der vielen miteinander kommunizierenden Individuen einer
Population zu erfolgen braucht, stark vergrößert. Indes dieser Fortschritt
hatte seinen Preis. Die Einprogrammierung des Todes wurde unumgänglich, oder
treffender formuliert: Das Altern und Sterben des Individuums stellte sich als
derart vorteilhaft für die Entwicklung der Art heraus, daß sie im evolutiven
Prozeß unausweichlich war. Bei Organismen mit vegetativer Zellteilung gibt
es kein Altern des Individuums. Es ist nicht zu entscheiden, welche der beiden
Zellen nach der Teilung die Tochterzelle und welche die Mutterzelle ist. So gibt
es auf dieser Ebene bloß den Unfalltod. Das heißt, die vegetativ sich
fortpflanzende Zelle ist im Prinzip unsterblich. Bei Organismen mit geschlechtlicher
Vermehrung hingegen sind die Nachkommen eindeutig definiert. Hier ist es vorteilhaft,
daß das Individuum, das seinen Beitrag für die Evolution geleistet
hat, stirbt. Tod bedeutet neues Leben für die Art.« (Manfred Eigen,
Stufen zum Leben, 1987, S. 112f.). | Die Begründung
der Vorteilhaftigkeit der sexuellen Fortpflanzung über die genetische Rekombination
erklärt für sich allein aber noch nicht, warum sich bei höheren
Tierarten keine Hermaphroditenpopulationen - das heißt, Populationen aus
zweigeschlechtlichen Lebewesen (Zwittern), bei denen sich jedes Individuum mit
jedem anderen aus der gleichen Population paaren kann - durchgesetzt haben. Ein
nicht gebärfähiges Männchen stellt ja zunächst einen enormen
Kostenfaktor dar, da stets doppelt so viele Individuen »produziert«
werden müssen, wie eigentlich erforderlich wären, und diese Männchen
den Weibchen dann auch noch Nahrung und Lebensraum streitig machen. Einhundert
Hermaphroditen könnten genauso viele Nachkommen erzeugen, wie eine aus jeweils
100 Männchen und Weibchen bestehende Population. Auch würde sich in
diesem Fall die Partnersuche deutlich vereinfachen, denn die Männchen müßten
ja nicht länger exklusiv nach passenden Weibchen Ausschau halten, sondern
jedes beliebige andere fortpflanzungsfahlge Individuum täte es auch.
(Ebd., S. 141-143).Ein entscheidender Vorteil der sexuellen Fortpflanzung
scheint in der sogenannten sexuellen Selektion zu bestehen, die zunächst
erläutert werden soll (siehe Abschnitt Sexuelle
Selektion). Denn auf diese Weise implementiert die Natur so etwas wie
einen Markt mit künstlicher Verknappung der Nachfrageseite (Angebotsmarkt),
wodurch selbst bei eher niedrigem Selektionsdruck erheblich beschleunigte Evolutionsprozesse
entstehen können. (Ebd., S. 143).Viele der in diesem
und den nächsten Abschnitten herausgearbeiteten Vorund Nachteile der sexuellen
Fortpflanzung werden im späteren Abschnitt Wozu
gibt es Sexualität? noch einmal zusammengefaßt. (Ebd.,
S. 143).
4.12) Sexuelle Selektion
Mit
Elterninvestment wird in der Soziobiologie die Gesamtheit der Maßnamhen
bezeichnet, die Lebewesen ergreifen, um Nachkommen zu zeugen und sie für
das Leben und ohne spätere eigene Fortpflanzung vorzubereiten und fit zu
machen. Dabei werden Brutpflege (= Gesamtheit der Verhaltensweisen, die
Lebewesen bei der Aufzucht ihrer Jungen entwickeln) und Brutfürsorge
(= alle Verhaltensweisen von Eltern, die ihrem Nachwuchs im voraus günstige
Entwicklungsmöglichkeiten bieten) unterscheiden. (Vgl. Franz M. Wuketits,
Was ist Soziobiologie?, 2002, S. 42f.) (Ebd., S. 143).Sexualpartner,
die den höheren elterlichen Aufwand treiben, stellen im allgemeinen für
das andere Geschlecht die knappere Ressource dar. Das Konzept des Elterninvestments
ist deshalb in der Lage, die Geschlechterrolle und die Intensität des Paarungswettbewerbs
vorherzusagen: | Das
Geschlecht, welches die geringeren Elterninvestments erbringt, konkurriert
untereinander um die Fortpflanzugspartner. | | Das
Geschlecht mit dem höheren elterlichen Aufwand wählt (selektiert)
die Fortpflanzungspartner unter den konkurrierenden Individuen nach bestimmten
Kriterien aus. | Bei vielen Tierarten und auch dem Menschen
belastet die Fortpflanzung die Weibchen ungleich stärker als die Männchen.
(Vgl. Franz M. Wuketits, Was ist Soziobiologie?, 2002, S. 45). Erstere
sind dann bei der Wahl der Sexualpartner selektiver, während letztere um
die Weibchen konkurrieren. Darwin entwickelte das Konzept der sexuellen Selektion
und versuchte damit zu verdeutlichen, daß die Auswahl der Männchen
seitens der Weibchen und die damit einhergehende Konkurrenz unter den Männchen
eine große Bedeutung in der Evolution hat. (Vgl. Franz M. Wuketits, ebd.,
S. 39). (Ebd., S. 143-144).
4.13) Fitneßindikatoren
Besonders ausgeprägte
Imponierorgane sind zwar häufig mit einem größeren Reproduktionserfolg
verbunden, nicht selten aber auch mit einer niedrigeren Lebenserwartung, denn
schließlich stellen sie eine zusätzliche Last (ein sogenanntes Handicap)
dar. (Ebd., S. 144-145).Je auffäliger ein Männchen
ist, umso mehr setzt es sich der Gefahr durch Freßfeinde und Nahrungskonkurrenten
aus. Ein Männchen, das sich solche Auffälligkeiten beziehungsweise ein
solches Imponiergehabe leisten kann, muß also in den Augen eines
Weibchens besonders leistungsfähig sein. Ein stark ausgeprägtes Imponierorgan
deutet dem Weibchen somit die genetische Stärke des Männchens an. Für
die Weibchen handelt es sich dabei um Fitneßindikatoren. (Ebd.,
S. 145).In der Regel wird sich ein Weibchen nicht einfach nur mit
schönem Schein oder »billigem Gerede« zufriedengeben, sondern
vom Männchen einen Beweis für dessen vermeintliche Fitneß verlangen.
Und der beste Beweis ist nun üblicherweise der, ein Signal hervorzubringen,
welches auch tatsächlich eine hohe Fitneß erfordert. In der Natur handelt
es sich dabei meist um irgendeine Art von Verschwendung: »Große
Verschwendung ist dem Handicap-Prinzip zufolge eine notwendige Eigenschaft sexueller
Werbung. .... In der Natur bietet nur protzige Verschwendung eine Garantie auf
ehrliche Information.« (Geoffrey F. Miller, Die sexuelle Evolution,
2001, S. 147). | So ähnlich sieht es auch in menschlichen
Gesellschaften aus:»Wo
niemand den tatsächlichen Reichtum des anderen wirklich kennt, ist demonstrativer
Konsum das einzig zuverlässige Signal von Wohlstand.« (Geoffrey F.
Miller, Die sexuelle Evolution, 2001, S. 145). | Die
Form des Aufwands spielt dabei keine große Rolle, allein die ungeheure Verschwendung
zählt. Als besonders überzeugend und romantisch gelten meist gerade
solche Taten, die für den Gebenden sehr kostspielig sind, für den Empfänger
aber kaum materielle Vorteile bringen. (Ebd., S. 145).Nüchtern
betrachtet haben wir es bei der sexuellen Selektion mit einer Käufer-Verkäufer-Interaktion
zu tun, bei der den Männchen die Rolle des Verkäufers und den Weibchen
die des Käufers zukommt (»Der Kunde ist König«). (Ebd.,
S. 146).Männchen wollen möglichst oft an möglichst
viele Weibchen verkaufen, während Weibchen nur hin und wieder an einem Kauf
interessiert sind und dann natürlich auf die Qualität achten. Entsprechend
investieren die beiden Geschlechter in Partnerwerbung und Elternschaft.
(Ebd., S. 146).Bei der sexuellen Selektion handelt es sich um eine
direkte Rückkopplung zwischen den geschlechtern: Weibchen wählen bevorzugt
Männchen mit bestimmten Eigenschaften, woraufhin besonders viele Nachkommen
gezeugt werden, bei denen die Männchen ebenfalls diese Eiegenschaften besitzen
und die Weibchen die gleichen Partnerwahl-Präferenzen haben. Dies ermöglicht
beschleunigte Selbstläuferprozesse, obwohl vielleicht gar kein hoher
Selektionsdruck seitens des Lebensraums besteht. Die sexuelle Selektion erlaubt
also deutlich schnellere Anpassungsprozesse, in deren Rahmen die Männchen
eine herausragende Rolle spielen. Es sollte an dieser Stelle aber noch einmal
betont werden, daß all dies nur bei asymmetrischer Verteilung der Elterninvestments
funktioniert. (Ebd., S. 146).Die auf der asymmetrischen Vertelung
der Elterninvestments beruhende sexuelle Selektion (siehe Abschnitt Sexuelle
Selektion) kann ... ganz erstaunliche Dinge vollbringen. Teilte man dagegen
die Elternivestments paritätisch zwischen den Geschlechtern auf, dann entledigte
man sich damit auch der sexuellen Selektion und vielen Vorteieln der sexuellen
Fortpflanzung insgesamt (siehe dazu auch die Ausführungen im Abschnitt Wozu
gibt es Sexualität?). (Ebd., S. 148).An dieser
Stelle möchte ich ... noch einmal drei Dinge verdeutlichen: | Die
natürliche Selektion ist eine unmittelbare Folge des Fortpflanzungsinteresses. | | Die
getrenntgeschlechtliche Fortpflanzun in Verbindung mit der unterschiedlichen Aufteilung
der Elterninvestments zwischen den Geschlechtern kann für eine beschleunigte
Evolution sorgen, und zwar selbst dann, wenn die Populationsgröße stets
unverändert bleibt oder sogar zurückgeht. Die sexuelle Fortpflanzung
erlaubt also Evolution, ohne daß ständig mehr Nachkommen in die Welt
gesetzt werden müssen, als der Lebensraum insgesamt ernähren kann (wie
es von darwin ursprünglich einmal für die natürliche Selektion
postuliert worden war). | | Auf
Dauer dürfte dies aber nur dann funktionieren, wenn die Partnerwahlpräferenzen
der wirklichen Fitneß der Fortpflanzungspartner entsprechen. (Dies ist
auch bei der technischen Evolution nicht anders. Eine technische Weiterentwicklung
im Sinne eines wirklichen Fortschritts wird nur dann stattfinden, wenn sich die
Käufer nicht nur von optischen Spielereien, sondern auch von technischen
Funktionen [der technischen Fitneß] leiten lassen.). (Ebd., S.
148). |
4.15) Menschliche Paarungssysteme
Der Mensch hebt sich in
der Natur durch besonders ausgeprägte Elterninvestments hervor (vgl. Thoams
P. Weber, Soziobiologie, 2003, S. 80), was eine direkte Folge der Entwicklung
des menschlichen Gehirns sein dürfte. Damit die Passage des im Laufe der
Menschwerdung immer größer werdenden Kopfes von Säuglingen während
der Geburt durch den Muttermund und die Beckenknochen der Frau noch möglich
war, bedurfte es seitens der Natur einer Doppelstrategie: Menschliche Säuglinge
kommen als hilflose Frühgeburten zur Welt, damit ihr Kopf nach der Geburt
noch weiter wachsen kann (vgl. Paul B. Hill / Johannes Kopp, Familiensoziologie,
2002, S. 27). Ein Kind muß deshalb unbedingt durch Erwachsene aufgezogen,
beschützt und über eine längere Zeit sogar getragen werden (vgl.
Jacques Neirynck, Der göttliche Ingenieur - Die Evolution der Technik,
1994, S. 88; Ernst Mayr, Das ist Evolution, 2005, S. 303ff.). (Ebd.,
S. 153).Damit verbunden waren eine ganze Reihe weiterer Veränderungen
(vgl. Thomas Junker, Die Evolution des Menschen, 2006, S. 74ff.): | Herausbildung
der menschlichen Familienstruktur und die damit einhergehende Arbeitsteilung der
Geschlechter: Der Mann sorgt für Fleisch und Schutz, die Frau zieht die Kinder
auf. Diese grundlegende Familienorganisation entwickelte sich beim Menschen vermutlich
bereits vor zwei Millionen Jahren (vgl. Thomas Junker, Die Evolution des Menschen,
2006, S. 75). Unter Primaten kommen dauerhafte Kernfamilien nur beim Menschen
vor (vgl. Thoams P. Weber, Soziobiologie, 2003, S. 74). | | Angleichung
des Körpergewichts zwischen den Geschlechtern als Ausdruck relativer Monogamie. | | Ständige
sexuelle Empfänglichkeit der Frauen, möglicherweise um das Interesse
und die Loyalität des zugehörigen monogamen Mannes auf rechtzuerhalten. | | Körperliche
Verdeckung des Eisprungzeitpunktes bei den Frauen. | Einige
Anthropologen sind der Ansicht, die spezifische menschliche Arbeitsteilung zwischen
den Geschlechtern habe einen entscheidenden evolutionären Vorteil dargestellt,
da es dem Homo Sapiens (Homo Sapiens Sapiens; HB)
auf diese Weise gelungen sei, mehr Nachwuchs durchzubringen. Bei den Neandertalern
soll eine ähnlich strikte sexuelle Arbeitsteilung nicht bestanden haben,
was entscheidend zu deren Aussterben beigetragen habe (Steven L. Kuhn / Mary C.
Stiner, What's a Mother to Do? The Division of Labor among Neandertals and
Modern Humans in Eurasia, in: Current Anthropology, 2006). (Ebd., S.
153).In diesem Zusammenhang sind auch die folgenden Fakten zu bedenken: | Der
enorme Größenzuwachs des menschlichen Gehirns während der Altsteinzeit
läßt sich nur mit einer fleischbetonten Ernährung erklären
(Vgl. Josef H. Reichholf, Das Rätsel der Menschwerdung - Die Entstehung
des Menschen im Wechselspiel mit der Natur, 1990, S. 115ff.; L. C. Aiello
/ P. Wheeler, The Expensive-Tissue Hypothesis, 1995; Peter Mersch, Migräne,
2006, S. 40ff.). | | Die
spezifische menschliche Nahrung in Verbindung mit der Hilflosigkeit menschlicher
Säuglinge machte die Frauen in der Altsteinzeit von der regelmäßigen
Nahrungsversorgung durch männliche Jäger abhängig. Auf sich allein
gestellte Frauen konnten als Sammlerinnen nur eine Notnahrung beschaffen. Dies
erklärt den reziproken Altruismus des menschlichen Familienmodells. | | Ohne
die Errungenschaften der Medizin und Hygiene und der damit verbundenen verringerten
Säuglings-, Kinder- und Müttersterblichkeit mußten Frauen für
eine bestandserhaltende Reproduktion stets eher durchschnittlich 5-6 Kinder in
die Welt setzen und aufziehen und nicht wie heute durchschnittlich 2,1. (Eine
Voraussetzung für die Gleichberechtigung der Geschlechter und insbesondere
die freie Berufswahl der Frauen war folglich der medizinische Fortschritt). Gleichzeitig
war ihre Lebenserwartung während der größten Zeit der Menschheit
deutlich geringer als heute. Frauen waren deshalb über weite Strecken ihres
Lebens mit dem Gebären und Aufziehen von Kindern beschäftigt und dabei
auf die männlichen Versorgungsleistungen angewiesen. (Ebd., S. 153-154). |
4.17) Paarungsverhalten als evolutionärer Vorteil
Ein
Paarungssystem einer Spezies hat - grob gesprochen - zwei Aufgaben: | Für
eine ausreichende Zahl an Nachkommen zu sorgen. | | Erfolgsmerkmale
der vorangegangenen Generation möglichst optimal an die nächste weiterzugeben,
oder anders ausgedrückt: vorhandene Kompetenzen zu erhalten. | Sind
beide Bedingunegn erfüllt, dann wahrt das Fortpflanzungsverhalten der Population
das Prinzip der Generationengerechtigkeit.
Auf diese Weise wird die Anpassungsfähigkeit an den Lebensraum möglichst
lange erhalten, so daß die Population eventuell sogar über viele Millionen
Jahre fortbestehen kann. (Ebd., S. 155-156).Die
Soziobiologie unterscheidet zwei grundsätzlich unterschiedliche Wege, wie
biologische Arten das genetische Überleben sichern: | Die
Produktion möglichts vieler Nachkommen, gleichsam nach der Devise: »Die
Menge soll es machen«. Dabei wird in jeden einzelnen Nachkommen wenig
oder nichts investiert. Aufgrund einer statistischen Wahrscheinlichkeit bleibt
der eine oder andere Nachkomme so lange am Leben, bis er sich selbst fortpflanzt.
Bei dieser Strategie steht also die Quantität der Nachkommen im Vordergrund.Diesen
Weg bezeichnet man in der Soziobiologie als R-Strategie, wobei »R«
für die Rate des Wachstums (Wachstumsrate) einer Population steht.R-Strategen
sind gewissermaßen Glückspieler, die nicht wissen, wo sich die Ressourcen
befinden, von denen sich die nächste Generation einmal ernähren soll.
(Vgl. Matthias Uhl / Eckart Voland, Angeber haben mehr vom Leben, 2002,
S. 32)Gelegentlich
wird in diesem Zusammenhang auch vom Expanisonswettbewerb gesprochen, und zwar
insbesondere dann, wenn hohe Wachstumsraten für eine schnelle Expansion der
Population sorgen, zum Beispiel, weil im Lebensraum noch keine Knappheit zu spüren
ist. (Vgl. Eckart Voland, Die Natur des Menschen, 2007, S.76f.). Es dominieren
dann quantitative Fortpflanzungsstrategien. | | Die
Zeugung sehr weniger Nachkommen, die aber optimal betreut werden, sozusagen nach
dem Motto: »Jeder ist ein kostbares Gut, das es zu schützen gilt«.
Die Wahrscheinlichkeit, daß wenige sehr gut betreute Nachkommen das Fortpflanzungsalter
erreichen, ist relativ hoch. Bei dieser Strategie steht also die Qualität
der Nachkommen im Vordergrund.Diesen
Weg bezeichnet man in der Soziobiologie als K-Strategie. »K«
steht für die Kapazität des Tragens (Tragekapazität) eines Lebensraums.K-Strategen
leben in der Regel in einem stabilen Ökosystem und können durch entsprechende
Betreuung sicherstellen, daß ihr Nachwuchs bis zur Geschlechtsreife heranwächst,
konkurrenzfähig wird und seinen Lebenmsraum zu beherrschen lernt. (Vgl. Matthias
Uhl / Eckart Voland, Angeber haben mehr vom Leben, 2002, S. 32)Manchmal
wird in diesem Zusammengang auch vom Verdrängungswettbewerb gesprochen, und
zwar insbesondere dann, wenn im Lebensraum die Grenzen des Wachstums erreicht
sind und ein weiteres Bevölkerungswachstum nicht mehr möglich ist, weil
im Lebensraum noch keine Knappheit zu spüren ist. (Vgl. Eckart Voland, Die
Natur des Menschen, 2007, S. 76f.). Es dominieren dann qualitative Fortpflanzungsstrategien. | ....
Grundsätzlich gilt: Höhere, komplexe Lebensformen bevorzugen K-Strategien.
(Ebd., S. 156-157). **
4.20) Nichtbiologische Evolution
Die bisherigen Ausführungen
konnten zeigen, daß die Schhwierigkeiten zum großen Teil in der Darwinschen
Evolutionstheorie selbst begründet sind: | Während
es sich bei den Kriterien Variation und Vererbung um Systemeigenschaften von Individuen
handelt, stellt die natürliche Selektiojn vor allem ein Produkt der Evolution
dar. Die Darwinsche Evolutionstheorie ist folglich bereits von der Konzeption
her uneinheitlich formuliert. | | Kernbestandteil
der Darwinschen Lehre sind Vererbung und Fortpflanzung. vergleichbare Vorgänge
gibt es aber bei anderen Evolutionen nicht. | | Die
Darwinsche Theorie macht keine Aussagen über den Typus der Objekte der Evolution. | In
den folgenden Abschnitten soll gezeigt werden, daß die Systemische Evolutionstheorie
auch nichtbiologische Entwicklungsprozesse erklären kann. (**)
. (Ebd., S. 164).
In
einem strengen Sinne ist diese Aussage nicht korrekt, denn das vorliegende Buch
behauptet ja ganz im Gegensatz dazu, daß ausschließlich biologische
Phänomene evolvieren können, und daß es sich bei der kulturellen,
sozialen, wissenschaftlichen und technischen Evolution letztlich um Begleiterscheinungen
(Symptome) der Evolution sozialer Systeme handelt. (Ebd.). |
4.21) Kulturelle Evolution
Wie wir gesehen haben, ist Innovation
weniger das Resultat fortlaufender Immitaionen beziehunsgweise Replikationen in
Verbindung mit kleinere Mutationen, sondern des unbedingten Willens, gefallen
zu wollen, das heißt, selektiert zu werden. Evolution ist vor allem das
Ergebnis konkurrierennder Selektionsinteressen und der sich dahinter verbergenden
Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen. Natürlich findet gleichzeitig
auch eine Weiterentwicklung auf der Empfängerseite beziehungsweise der »primären
selektiven Umwelt« (Milieu) statt, weil sich dort nun möglicherweise
die Präferenzen ändern. Aber diese Entwicklung dürfte vergleichsweie
nachgelagert sein. (Ebd., S. 167).Eine kulturelle Weiterentwicklung
findet weniger durch Imitationen mit darauffolgenden leichten Modifikationen auf
der Empfängerseite statt, sondern in erster Linie durch konkurrierende Selektionsinteressen
(und den dahinter stehenden Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen) auf
der Erzeugerseite. (**).
(Ebd., S. 168).
Entsprechend
dürfte die Mikroevolution getrenntgeschlechtlicher Populationen vor allem
das Ergebnis einer männlichen Konkurrenz um die knappen weiblichen Ressourcen
und deren Selektionen sein. Männchen können sich nicht selbst fortpflanzen
und stellen biologisch betrachtet einen erheblichen Kostenfaktor dar. Dennoch
machen sie Sinn, und zwar als Motor der Evolution. Es ist ihr Selektionsinteresse(Reproduktionsinteresse),
welches die ständige Weitzerentwicklung in Gang hält. (Ebd.). |
Gemäß
der Systemischen Evolutionstheorie können nur biologische Phänomene
evolvieren, das heißt, Systeme, bei denen wenigstens einige Elemente autopoietisch
(lebende Systeme) sind. Letztlich sind es deren , die den Prozeß in Gang
setzen und dann auch am Leben erhalten. Gene und Meme scheiden somit als Motoren
der Evolution aus, denn beiden mangelt es an entsprechenden Eigenschaften. Gene
und Meme sind einfach nicht autonom und selbsterhaltend genug, um die egoistischen
Interessen entwickeln zu können, die ihnen nachgesagt werden (vgl. Richard
Dawkins, Das egoistische Gen, 1976). Für Evolutionsprozesse sind solche
soliden Interessen jedoch unerläßlich. (Ebd., S. 169).Unter
Qualia versteht man den subjekiven Erlebnisgehalt mentaler Zustände,
das heißt, die besondere Qualität der subjektiven Wahrnehmung und des
Empfindens (vgl. Franz Josef Radermacher, Bewußtsein, Ressourcenknappheit,
Sprache - Überlegungen zur Evolution einiger leistungsfähiger Systeme
in Superorganismen, 2007, S. 136). (Ebd., S. 171).Bei
der Gefallen-wollen-Kommunikation
kommt es vor allem darauf an, mit eigenen Sektionsinteressen in fremde Gehirne
zu gelangen und dort positive Selektionsentscheidungen auszulösen, das heißt
Qualia zu erzeugen, die den dortigen Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen
entsprechen. Geht es bei der Dominanten
Kommunikation vor allem um die »Eroberung« der Natur, so steht
bei der Gefallen-wollen-Kommunikation die Überzeugung /eroberung) fremder
gehiren im Vordergrund. (Ebd., S. 171-172).Die gelingt nämlich
umso einfacher, je mehr die eigenen Selektionsinteressen gleichzeitig mit weiteren
Botschaften verknüpft sind, die auf der Empfängerseite schon für
sich allein für positive Qualia sorgen. (Ebd., S. 172).
4.22) Technische Evolution
Nicht die Technik evolviert, sondern
die sie konstruierenden Unternehmen, bei denen es sich um Organisationssysteme
(**|**|**|**)
und damit um selbsterhaltende Systeme handelt (siehe Abschnitt Selbsterhaltende
Systeme). Wer nämlich ein Handy erwirbt, entscheidet sich für
einen Teil der Kompetenzen des Herstellers. Kein einzelner Mensch kann ein solch
komplexes und innovatives Gerät entwickeln, ein Unternehmen kann das aber
sehr wohl. (Ebd., S. 173).Ist der Selektionsdruck auf einem
Markt sehr groß (das heißt, die verschiedenen Anbieter stehen im scharfen
Wettbewerb miteinander und könnten zusammen ein Vielfaches von dem absetzen,
was der Markt aufzunehmen in der Lage ist), dürfte es in der Regel zu einer
schnellen technischen Weiterentwicklung kommen, ganz anders als auf Märkten,
die fast vollständig von einem Anbieter dominiert werden. (Ebd., S.
176).Festzuhalten ist, daß für ein Unternehmen in erster
Linie sein Überleben (ausgedrückt im Selbsterhaltungsinteresse), das
heißt sein Selbsterhalt, von Bedeutung ist. Irgendwelche sachlichen Ziele
sind demgegenüber sekundär. Allerdings stellt sich die Frage, wie dieser
Selbsterhaltungsmechanismus innerhalb einer Organisation (eines Systems) implementiert
ist. Fritz B. Simon führt dazu aus:»Nicht
das gemeinsame Ziel der unterschiedlichen Interessengruppen ist es, was ihr Überleben
sichert, sondern die Tatsache, daß die Organisation in der Lage ist, als
gemeinsames Mittel für unterschiedliche Ziele zu dienen.« (Fritz B.
Simon, Einführung in die systemische Organisationstheorie, 2007, S.
31f.). | Anders gesagt: Die Organisation hat ein Selbsterhaltungsinteresse,
dessen Erfüllung indierekt auch den Selbsterhaltungsinteressen seiner Akteure
dient. (Ebd., S. 177).
4.23) Evolution des Wissens
Ein höheres Prestige innerhalb
der Wissensgemeinschaft kann der Erschließung zusätzlicher Einnahmequellen,
etwa in Form von externen Beratungs- oder Forschungsaufträgen, förderlich
sein. In besonders gelagerten Fällen könnte sich hierdurch die gesamte
Wissenschaftsdisziplin an fachfremden Interessen ausrichten, so daß entweder
nur noch das erforscht wird, was den Interessen der Auftraggeber dient, oder nur
noch Ergebnisse erzielt werden, die mit den Interessen der Geldgeber vereienbar
sind. (Ebd., S. 181).Es ist ... davon auszugehen, daß
viele Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft einer Durchsetzung eines
neuen Pradigmas ausgesprochen ablehnend gegenüberstehen werden, denn es geht
ja letztlich um ihr Prestige und damit ihren Selbsterhalt. (Ebd., S. 183).Im
Rahmen von Selbstläuferprozessen setzen sich ... zuweilen Theorien durch,
die erkennbar falsch sind, die aber von starken Interessengruppen am Leben erhalten
werden. Beispielhaft können hier die Fetthypothese der Ernährungswissenschaft
(**), die Vereinbarkeitshypothese
der Soziologie (**) und die Leere-Blatt-Hypothese
der Psychologie (**) genannt werden.
In vergangenen Epochen gerieten viele wissenschaftliche Erkenntnisse mit widersprechenden
religiösen Vorgaben in Konflikt. (Ebd., S. 191-192).
Die
Fetthypothese lautet: Die Menschen werden vor allem deshalb zu dick, weil
sie zu viel Fett zu sich nehmen und sich zu wenig bewegen.Die
Fetthypothese ist nachweislich falsch, wird aber nach wie vor von der Mehrheit
der Ernährungswissenschaftler vertreten. (Ebd.). |
Die
Vereinbarkeitshypothese besagt: In der Bundesrepublik werden deshalb so
wenige Kinder in die Welt gesetzt, weil die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
noch immer nicht gegeben ist. Auch würden sich die Männer noch nicht
ausreichend an der Familienarbeit beteiligen. Die Frauen wären deshalb praktisch
in einen Gebärstreik getreten (wer glaubt denn so einen
Quatsch? HB).Die Vereinbarkeitspothese
ist nachweislich falsch, wird aber dennch immer wieder behauptet. (Ebd.). |
Die
Leere-Blatt-Hypothese lautet: Jeder Mensch kommt als unbeschriebenes Blatt
zur Welt und kann durch Ausbildungsmaßnahmen und Erziehung beliebig geformt
werden. Dementsprechend ist es egal, wer die Kinder in die Welt setzt. Durch geeignete
Fördermaßnahmen könnten alle eventuellen Benachteiligungen wieder
ausgeglichen werden (wer glaubt denn so einen Quatsch?
HB).Die Leere-Blatt-Hypothese
ist nachweislich falsch, erfreut sich aber ... großer Beliebtheit.
(Ebd.). |
In nichtentscheidbaren
Wissenschaftsdisziplinen entstehen oft ganze Schulen, die ihre jeweils präferierten
Theorien durch immer neue Resultate reproduzieren und verfestigen (Selbsterhaltungsinteresse),
und dadurch alternativen - und möglicherweise zutreffenderen - Ansätzen
von vornherein keine Chance geben. Oft etablieren sich auf diese Weise gleich
mehrere konkurrierende und sich gegenseitig widersprechende Theorien und Schulen
nebeneinander. (Ebd., S. 192).Auf ein vergleichbares Problem
wurde bereits im Rahmen der Ausführungen zur sexuellen Selektion hingewiesen.
Auch hier könnten temporäre Selbstläuferprozesse in Gang gesetzt
werden, bei denen eher weniger gut an den aktuellen Lebensraum angepaßte
Fortpflanzungspartner im Vorteil sind. Auf lange Sicht würden sich solche
Fehlentwicklungen jedoch nicht halten können. Dies ist in den Wissenschaften
zumindest im Falle der Vereinbarkeitshypothese schon sehr bald zu erwarten, denn
deren gesellschaftliche Folgerungen sind dermaßen desaströs, daß
sich schon in naher Zukunft keine ausreichend starken, sie unterstützenden
Interessengruppen mehr finden dürften. (Ebd., S. 192).Wie
wir gesehen haben, können in sich sexuell fortpflanzenden Populationen ungünstige
Selbstläuferprozesse dann weitestgehend vermieden werden, wenn sich die Individuen
bei der sexuellen Selektion auf sogenannte teure Signale - zum Beispiel Handicaps
- verständigen. Denn in diesem Fall dürfte die von einem Individuum
angezeigte Fitneß auch dessen tatsächlicher Fitneß entsprechen,
da das Hervorbringen des geforderten Signals eine entsprechend hohe Leistungsfähigkeit
verlangt. Täuschungen sind dann praktisch ausgeschlossen. Auf diese Weise
wird ein Bezug zur Wirklichkeit hergestellt. (Ebd., S. 192).Im
Wissenschaftsprozeß steht dafür nonnalerweise die Empirie. So wird
beispielsweise in den Naturwissenschaften erwartet, daß aus einer guten
Hypothese möglichst viele empirisch überprüfbare Prognosen ableitbar
sind und sie somit auf vielfältige Weise falsifizierbar ist. Ein Wissenschaftler
muß sich folglich mit seiner Theorie (Hypothese, Paradigma) der Wirklichkeit
stellen. Je besser und vielfaltiger das möglich ist, desto größer
ist auch der empirische Gehalt seiner Theorie. Man könnte auch sagen: Je
umfassender sich eine Hypothese falsifizieren läßt, desto größer
ist ihr Handicap (beziehungsweise das des Wissenschaftlers). Bei einer umfassenden
Falsifizierbarkeit einer Theorie handelt es sich folglich um ein teures Signal.
(Ebd., S. 192).Allerdings gelten diese einfachen Prinzipien nicht
für alle Wissenschaftsdisziplinen. So werden etwa gelegentlich Evidenzen
mit Eminenzen verwechselt: Es kommt dann weniger darauf an, was gesagt wird, sondern
vor allen Dingen, wer es sagt. Dies gilt insbesondere für alle Gemeinschaften,
die ihre Resultate überwiegend im Diskurs verhandeln. Aber auch in sogenannten
echten empirischen Wissenschaften ist der Bezug zur Wirklichkeit nicht immer zweifelsfrei
herstellbar. Es kann dann vorkommen, daß das gleiche empirische Resultat
für eine Gruppe eine Bestätigung ihrer Theorie darstellt, für eine
andere Gruppe aber deren Falsifikation. (Ebd., S. 193).Berücksichtigt
man zusätzlich noch, daß wissenschaftliche Communities üblicherweise
keine externen Kontrollinstanzen zur Ergebnisüberwachung besitzen und sich
ausschließlich selbst organisieren, dann kann man erahnen, daß sich
Forschungsprozesse auch schon einmal weitestgehend verselbstständigen können.
(Ebd., S. 193).
4.24) Evolution im Sport
Auch die Entwicklung des Leistungssports
folgt den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie. (Ebd., S. 193).Dies
soll am Beispiel des Profifußballs verdeutlicht werden. Betrachten wir dazu
einmal die Fußball-Bundesliga als eine Population, die sich zu jedem Zeitpunkt
aus 18 Individuen zusammensetzt, und zwar den verschiedenen Bundesligamannschaften
(Variation). (Ebd., S. 193).Am Ende einer Fußballsaison
bleiben die erfolgreicheren Mannschaften der Fußball-Bundesliga erhalten,
während die drei Mannschaften mit den schwächsten Ergebnissen absteigen
müssen, was in der Regel mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden
ist. Die besten Mannschaften können zusätzlich noch am UEFA-Pokal-Wettbewerb
teilnehmen oder gar in der Champions League mitspielen. In beiden Fällen
dürfen sie dann mit erhebliehen zusätzlichen Einnahmen rechnen.
(Ebd., S. 193).Die zusätzlichen Anreize für das Erreichen
von Top-Positionen am Ende einer Saison, die Gefahren eines Abstiegs, das ständige
Bemühen um hohe Zuschauerzahlen und Fernsehquoten und die Glücksgefühle
nach den Siegen (»für Ehre, Selbstbewußtsein und Geld«)
sorgen nun dafür, daß sich die einzelnen Mannschaften in ihrem Status
(Tabellenrang) nicht verschlechtern wollen. Mehr noch: Die meisten werden bemüht
sein, sich in der nächsten Saison um einige Plätze zu verbessern, wenn
nicht sogar den Meistertitel zu erringen. (Ebd., S. 193-194).Im
Normalfall werden die verschiedenen Mannschaften ein ähnlich starkes und
damit nicht negativ mit ihrern aktuellen Tabellenplatz korrelierendes Selbsterhaltungs-
beziehungsweise Reproduktionsinteresse besitzen. Das Kriterium Reproduktionsinteresse
der Systemischen Evolutionstheorie wäre somit erfüllt. (Ebd.,
S. 194).Dies hat unter anderern die folgenden Konsequenzen: Besonders
erfolgreiche Mannschaften erzielen meist besonders hohe Einnahmen, können
deshalb teurere und bessere Spieler beziehungsweise Trainer verpflichten und aufwendigere
Trainingsprogramme durchführen als ihre direkten Widersacher und damit eventuell
ihren Vorsprung gegenüber ihrer Konkurrenz sichern oder sogar ausbauen (Prinzip
Reproduktion). Natürlich könnte eine andere Mannschaft mehr Glück
haben und sich ein außergewöhnliches, aber bislang noch nicht entdecktes
Talent sichern. Auch könnten sich einzelne neue Spieler in der Praxis als
Fehleinkäufe erweisen. Eine Garantie für die Richtigkeit von Investitionsentscheidungen
gibt es jedenfalls weder in der Unternehmenswelt noch im Profisport. Um entsprechende
Risiken zu minimieren, werden deshalb häufig die qualifiziertesten und erfahrensten
Personen mit den kritischen reproduktiven Aufgaben betraut (**):»Beckenbauer
muß - sagen wir es ruhig: wie eine Heuschrecke - die ganze Welt
bereisen, abgrasen, um Bayern-München zu Bayern-München
zu machen (**).« (Ulrich
Beck, Was zur Wahl steht, 2005, S. 109). | Alle
drei Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie - Variation, Reproduktionsinteresse
und Reproduktion - sind also erfüllt. Evolution ist dann unvermeidlich
die Folge. (Ebd., S. 194).
In
der Pharmaindustrie etwa findet man den höchsten Anteil an Wissensarbeitern
in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen (Reproduktion). Dies dürfte
in den meisten Branchen recht ähnlich aussehen. Lediglich Gesellschaften
haben sich in dieser Hinsicht für eine ganz andere Vorgehensweise entschieden
(vgl. Peter Mersch, Hurra,
wir werden Unterschicht!, 2007). (Ebd.). |
Man
beachte die auf die Autopoiesis (»sich selbst machen«) Bayern Münchens
hinweisende Wortwahl Ulrich Becks. (Ebd.). |
Bei
den Prinzipien Variation, Reproduktionsinteresse und Reproduktion handelt es sich
um die zentralen Mechanismen, die für die Spielentwicklung im Fußball
verantwortlich zeichnen. Beispielsweise hat sich das Fußballspiel im Laufe
der Zeit sowohl in Bezug auf Tempo, Taktik als auch Professionalität deutlich
verändert. Diese Veränderungen geschahen aber nicht absichtsvoll oder
waren gar von langer Hand geplant, sondern sind Ergebnis einer fortlaufenden Optimierung
auf Basis der Evolutionsprinzipien im Zusammenwirken mit gleichzeitigen Änderungen
der äußeren Rahmenbedingungen. Es muß sich dabei auch nicht zwingend
um »Verbesserungen« handeln, die das Fußballspiel »schöner«
oder »attraktiver« als noch vor 50 Jahren machen, allerdings um Optimierungen
in Bezug auf die jeweils aktuellen Rahmenbedingungen inklusive der Leistungsfähigkeit
der Konkurrenten. (Ebd., S. 194-195).
4.25) Soziale Evolution (Sozialer Wandel)
Soziale Systeme
sind mit ihren jeweiligen Umwelten strukturell gekoppelt. Auf der einen Seite
greifen sie verändernd in ihren Lebensraum ein, auf der anderen Seite streben
sie danach, sich selbst und damit ihre Kompetenzen (Adaptionen) in bezug auf ihr
sich gegebenenfalls unabhängig von ihnen veränderndes Milieu zu erhalten,
das heißt, sie unterliegen dem Wandel ihrer Umwelt. (Ebd., S. 195).
Im Abschnitt Technische
Evolution konnte gezeigt werden, daß im gleichen Lebensraum
(Markt) um die gleichen Ressourcen (Geld) konkurrierende und mit ähnlichen
Kompetenzen (technische Produkte) ausgestattete soziale Systeme (Unternehmen)
sogar so etwas Erstaunliches wie die technische Evolution als Folge ihrer eigenen
Evolution hervorbringen können. (Ebd., S. 195). Im Rahmen
der Globalisierung kommt es nun zu einer verstärkten Standortkonkurrenz unter
Territorialstaaten, und dabei ganz besonders um die so wichtige Kompetenz Humankapital,
so daß sich viele der bisherigen Überlegungen in bezug auf Unternehmen
auch unmittelbar auf ganze Gesellschaften übertragen (siehe dazu auch die
Ausführungen im Abschnitt Globalisierung).
(Ebd., S. 195).Allerdings standen bislang immer Anpassungsprozesse
an sich gleichfalls verändernde äußere Rahmenbedingungen im Vordergrund
der Analysen. Daneben stellt sich die Frage, wie sich soziale Systeme in ihrem
Inneren wandeln, das heißt, wie sozialer Wandel vonstatten geht. Auch diese
Entwicklung wurde bereits im Abschnitt Technische
Evolution am Beispiel von Entscheidungsprozessen in Unternehmen
skizziert. Eine Gesellschaft besitzt als soziales System eine eigene Identität
und damit ein eigenständiges Selbsterhaltungsinteresse. Gleichzeitig vereint
sie eine Vielfalt an Akteuren mitjeweils eigenen Interessen:»Eine
Gesellschaft ist eine Gruppe ungleicher Lebewesen, die sich zum Zwecke der Befriedigung
gemeinsamer Bedürfnisse zusammenfindet.« (Robert Ardrey, Der Gesellschaftsvertrag,
1970, S. 1). | Als System grenzt sich eine Gesellschaft
gegenüber ihrer Umwelt ab. Dazu muß sie ihre Grenzen definieren und
in der Folge auch verteidigen (**).
(Ebd., S. 195-196).
Die
dahinter stehende Kraft wird gelegentlichauch Territorialität genannt »Heute
wissen wir, daß auch viele andere Spezies ihr Territorium - jenes Stückchen
Welt, das ihnen gehört - gegen jeden Eindringling verteidigen und daß
sie damit wahrscheinlich auch dann Erfolg haben, wenn der Eindringling wesentlich
stärker ist. .... Ich habe behauptet, auch der Mensch sei eine territoriale
Spezies. Wir verteidigen unseren Besitz, oder unsere Heimat aus biologischen artinden
- nicht weil wir wollen, sondern weil wir müssen.« (Robert Ardrey,
Der Gesellschaftsvertrag, 1970, S. 33). (Ebd.). |
Aber auch in ihrem Inneren muß für Schutz gesorgt werden, und
zwar nicht nur für die Bürger, sondern auch und gerade für den
Lebensraum insgesamt (Ökologie), denn die Mitglieder einer Gesellschaft besitzen
ja eigenständige und sich häufig recht widerstrebende Interessen. Desweiteren
könnten unerwünschte Eindringlinge danach trachten, der Gesellschaft,
deren Bürgern oder den ökologischen Grundlagen Schaden zuzufügen.
(Ebd., S. 196).Mit anderen Worten: Eine komplexe Gesellschaft muß
regiert werden, und zwar in einer Weise, daß | »die
äußere und innere Sicherheit (inklusive einer lebensfähigen UmweIt)
gewährleistet sind (Sicherheitsziel); | | ein
symbolisches Bezugssystem geschaffen wird, in dem sich eine zivile kollektive
Identität entwickeln kann (Identitätsziel); | | die
politischen Entscheidungen als zustimmungsfähig anerkannt werden (Legitimationsziel); | | das
wirtschaftliche Wachstum so befördert wird und die sozialen Ungleichheiten
so eingedämmt werden, daß ein breiter materieller Wohlstand erreicht
wird (Wohlfahrtsziel).« (Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates,
1970, S. 41). | Unter all diesen Zielen kommt der Gewährleistung
der Sicherheit eine herausragende Bedeutung zu:»Unter
den vier allgemeinen Zielen des Regierens, die sich im demokratischen Wohlfahrtsstaat
herausgebildet haben, nimmt Sicherheit zweifellos eine herausragende Stelung ein.
Bereits der Ursprung des Territorialstaates ist ganz wesentlich daraufzurückzuführen.
.... Wird Sicherheit durch den Staat nicht mehr hinreichend gewährleistet,
so erübrigt sich selbst gemäß des Staatstheoretikers des Absolutismus,
Thomas Hobbes, für die Bevölkerung die Gehorsamspflicht: Die Verpflichtung
des Untertanen gegenüber dem Souverän dauert nur so lange, wie er sie
aufgrund seiner Macht schützen kann, und nicht länger.«
(Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, 1970, S. 95). | Hervorzuheben
ist aber auch das Identitätsziel, denn es trägt maßgeblich zum
selbsterhaltenden Charakter einer Gesellschaft bei. Erst wenn eine Gesellschaft
eine Identität besitzt, kann sie einen eigenständigen Selbsterhaltungswillen
entfalten und sich um Abgrenzung und Schutz bemühen. (Ebd., S. 196-197).
Ferner muß sie festlegen, welche Verhaltensweisen in ihr zulässig
sind und welche nicht, und mit welchen Sanktionen im Übertretungsfall zu
rechner ist. Politische Entscheidungen müssen akzeptiert werden beziehungsweis
durchgesetzt werden können, ansonsten verlöre die Gesellschaft schon
bald ihren selbsterhaltenden Charakter. (Ebd., S. 197).Zum
gesellschaftlichen Selbsterhalt gehört auch die gesellschaftlich Reproduktion.
Allgemein streben Männer deutlich stärker nach gesellschaftlichem Status
als Frauen. Dies läßt sich unter anderem mit der viel höherer
Variabilität des reproduktiven Erfolges auf Seiten der Männer erklären.
Während sich Frauen in nichtmodemen Gesellschaften meist relativ unabhängig
von ihrem gesellschaftlichen Status fortpflanzen konnten, traf dies für Männer
keineswegs zu. Grundsätzlich gilt: Je polygyner ein Paarungssystem ist, das
heißt, je mehr Varianz in Bezug auf den männlichen sexuellen Zugang
zu Frauen besteht, desto stärker ist der Selektionsdruck auf die Männer,
eine Fortpflanzungspartnerin für sich gewinnen zu können. (Ebd.,
S. 197).
4.27) Kooperation und Altruismus
Menschliche Gesellschaftssysteme
unterscheiden sich sehr stark in Bezug auf ihre Herrschaftsstrukturen, Dominanzhierarchien
und ihrem jeweiligen Anteil an dominanter beziehungsweise Gefallen-wollen-Kommunikation.
Beispielsweise könnte ein Teil der Bürger einer fiktiven Gesellschaft
vor dem Gesetz frei und gleich sein, während sich ein anderer als deren Sklaven
zu verdingen hätte. In der freien Oberschicht würde dann vermutlich
die Gefallen-wollen-Kommunikation vorherrschen, während es zwischen den Schichten
vorwiegend dominant zugehen würde. (Ebd., S. 201). In
modernen Gesellschaften ist die Sklaverei abgeschafft. Viele schwere, belastende
und monotone Arbeiten werden nun von Maschinen - den modemen Sklaven - erledigt,
deren Antrieb die fossilen Brennstoffe sind. Die Behauptung, die nahezu unbegrenzte
Verfügbarkeit fossiler Energiequellen sei die entscheidende Voraussetzung
für die Abschaffung der Sklaverei gewesen, läßt sich jedenfalls
nicht völlig von der Hand weisen. (Ebd., S. 201).
Da in modemen, individualistischen Gesellschaften alle Menschen
vor dem Gesetz gleich sind, und Kollektivaufgaben immer stärker institutionalisiert
werden, verliert auch die dominante Kommunikationsform zunehmend an Bedeutung.
Noch vorzufinden ist sie bei einigen wenigen Verpflichtungen, dem Wehrdienst,
bei Gesetzesüberschreitungen und vielen Maßnahmen zur Gewährleistung
der inneren und äußeren Sicherheit. Beispielsweise könnte
der Staat bei schweren Katastrophen (Überschwemmung, Erdbeben, Seuchen
u.s.w.) mobil machen und seine Bürger zur Hilfeleistung anweisen.
(Ebd., S. 201).
lm Kapitel Zivilisation
wird die These vertreten, daß der Prozeß der Zivilisierung mit einer
zunehmenden Durchsetzung der Gefallen-wollen-Kommunikation gegenüber der
dominanten Kommunikation einhergeht, ja daß es sich hierbei sogar um das
wesentliche Merkmal des Zivilisationsprozesses handelt. Damit soll aber keineswegs
suggeriert werden, bei der gesellschaftlichen Evolution handele es sich um eine
gerichtete Entwicklung, die das eine oder andere Ziel verfolgt oder einen besseren,
gleicheren oder höheren gesellschaftlichen Status anstrebt. (Ebd.,
S. 201).Grundsätzlich lassen sich aber die folgenden Dinge
festhalten: | Sozialer
Wandel ist nichts anderes als die Evolution sozialer Systeme (Gesellschaften),
bei denen es sich gemäß den bisherigen Ausführungen um biologische
Phänomene handelt. Sozialer Wandel kann deshalb als ein Teilaspekt der biologischen
Evolution verstanden werden. | | Sozialer
Wandel findet statt. Er hat keine Richtung und kein Ziel. Er läßt sich
nicht präzise vorhersagen und auch nur bedingt steuern. | | Gesellschaften
beruhen letztlich immer auf autonomen, selbsterhaltenden Elementen, und zwar den
Menschen, die sie beheimaten. Beide Evolutionen, die von Gesellschaften und die
ihrer Menschen, können folglich nicht isoliert voneinander betrachtet werden. | | Gesellschaften
sind mit ihren jeweiligen Umgebungen strukturell gekoppelt. Sozialer Wandel kann
deshalb nur im Zusammenhang mit dem Wandel der äußeren Rahmenbedingungen
verstanden werden. Eine Gesellschaft, die nahezu unbegrenzten Zugang zu preiswerten
Energiequellen hat, dürfte sich folglich ganz anders entwickeln, als eine,
bei der Energie knapp ist. | Der Prozeß des sozialen
Wandels läßt sich in vielen Fällen wie folgt beschreiben: | Bei
komplexen Gesellschaften - insbesondere bei Zunahme der Bevölkerungsdichte
beziehungsweise der sozialen Beziehungen - kommt es zu einer zunehmenden gesellschaftlichen
Ausdifferenzierung, und zwar vor allem zur Komplexitätsreduzierung. Denn
auf diese Weise können die internen Prozesse in den Subsystemen relativ überschaubar
gehalten werden, während alles andere der Umwelt zugerechnet wird. | | In
allen Gesellschaften wird es immer Menschen geben, die der Auffassung sind, ihre
Interessen würden nicht angemessen vertreten. Damit sich das ändern
kann, müssen sie sich zunächst organisieren, das heißt, ein eigenes
soziales System gründen, was sich ihrer Interessen annimmt. Einzelinteressen
sind dagegen meist ohne Belang (**). | | Die
weitere Vorgehensweise hängt nun stark von den in der Gesellschaft vorhandenen
Machtstrukturen und den in ihr etablierten Kommunikationsmechanismen ab. .... | | Größere
soziale Veränderungen dürften nicht immer dann entstehen, wenn die in
der Gesellschaft etablierten Machtstrukturen und Dominanzhierarchien durch entsprechend
starke Interessengruppen in Frage gestellt werden, denn dann steht die Eigenorganisation
der Gesellschaft selbst zur Disposition. Unter Umständen besitzt die Gesellschaft
nach Vollendung der Wandlungsprozesse eine andere Identität als vorher.
(Ebd., S. 201-202). |
Allein
schon aus diesem Zusammenhang lassen sich eine Reihe aktueller gesellschaftlich
Probleme ableiten. Einerseits kann die nächste Generation kein sie vertretendes
soziales System bilden, da es sie ja noch nicht gibt. Folglich läßt
sich so etwas wie Generalionengerechtigkeit schwer durchsetzen. Auf der anderen
Seile - und dies hängt sehr eng mit dem ersten Punkt zusammen - dürften
sich familienorientierte Frauen sehr schwer damit tun, für ihre Interessen
einzutreten, da sie dafür über keine ausreichenden, selbsterwirtschafteten
Ressourcen verfügen. Wollten sie ändern, müßten sie arbeiten
gehen, woraufhin sie keine familienorienlierten Frauen mehr wären.
(Ebd.). |
Bei der
Sterilität der Arbeiterinnen in Ameisenstaaten handelt es sich folglich in
erster Linie um eine organisatorische Notwendigkeit, und wenigerum eine
Konsequenz der Verwandtenselektion. (Ebd., S. 213). Wenn
man so will, dann haben Ameisenstaaten einen Weg aus dem Gleichberechtigungsdilemma
sozialer Gemeinschaften gefunden: Wie können Weibchen umfangreiche soziale
Aufgaben und das Aufziehen eigener Nachkommen miteinander vereinbaren? Ihre Antwort
lautet: Im Grunde gar nicht. Denn mit zunehmenden sozialen Aufgaben verbleibt
immer weniger Zeit für die eigene Nachwuchsarbeit. (Ebd., S. 213).
Die Lösung der Ameisen lautet: Spezialisierung und sexuelle
Arbeitsteilung (siehe Unterabschnitt
Die Vorteile der Sexualität). Bei ihnen übernehmen
die Arbeiterinnen praktisch alle sozialen Aufgaben, während sich die Königinnen
ganz auf die reproduktiven Tätigkeiten konzentrieren. Im übertragenen
Sinne könnte man sagen: Arbeiterinnen gehen einer Erwerbsarbeit nach, während
für Königinnen die Familienarbeit der Beruf ist (vgl. Peter Mersch,
Land
ohne Kinder, 2006, ders., Die
Familienmanagerin, 2006; ders., Hurra,
wir werden Unterschicht!, 2007; ders., Familie
als Beruf, 2008). Im Gegensatz zu dem in modemen menschlichen Gesellschaften
propagierten Vereinbarkeitsmodell (Familie und Beruf sind möglichst miteinander
zu vereinbaren) scheint es sich hierbei um ein evolutionär stabiles Konzept
zu handeln (siehe dazu auch die Ausführungen im Kapitel Demographischer
Wandel). (Ebd., S. 213).Beispiel: Eine
frühmenschliche Population durchlebt einen sehr harten Winter. Kurt gelingt
es, eine Hirschkuh zu erlegen. Mit letzter Kraft schleppt er seine Beute uns heimatliche
Lager, wo er das Fleisch mit allen anderen teilt. Am nächsten Tag zwinkern
ihm mehrere Frauen geheimnisvoll zu. Noch in der gleichen Nacht wird er auf jede
einzelne zurückkommen. Wir können festhalten: Kooperatives altruistisches
Verhalten kann sich im rahmen der sexuellen selektion wie jeder andere Fitneßindikator
durchsetzen. Solche Verhaltensweisen können speziell von der weiblichen Seite
als wünschenswert, angenehm, selektierbar und vor allem als positiv interpretierbares
Handicap gewertet werden: »Ein Mann, der sich so etwas leisten kann, muß
besonders fit sein.« Und wie wir eben erst gesehen haben, sind im Rang aufgestiegene
Individuen meist hilfsbereiter als andere. Hilfsbereitschaft scheint folglich
tatsächlich mit Fitneß zu korrelieren. (Ebd., S. 216-217). Beispiel:
Um das Jahr 338 war Martin als Soldat der Reiterei der Kaiserlichen Garde in
Ambainum stationiert. An einem Tag im Winter begegnete er am Stadttor von Ambianum
einem armen, unbekleideten Mann. Außer seinen Waffen und seinem Militärmantel
trug Martin nichts bei sich. In einer barmherzigen Tat teilte er seinen Mantel
mit dem Schwert und gab eine Hälfte dem Armen. Wir wissen von diesem
Ereignis heute nur, weil Sankt Martin offenbar schon damals den Wert guter Öffentlichkeitsarbeit
zu schätzen wußte. (Ebd., S. 218). Beispiel: Ein
Unternehmen kündigt in einer Presseerklärung an, 10 Millionen Euro für
die Tsunami-Opfer im indischen Ozean zu spenden. Altruismus und Kooperation
harmonieren besonders gut mit der Gefallenwollen-Kommunikation, die sich - wie
noch gezeigt wird - im Laufe des Prozesses der Zivilisation immer stärker
durchgesetzt hat, so daß auch entsprechende Verhaltensweisen an Bedeutung
gewannen. Spieltheoretische Begründungen für das Entstehen von Kooperation
oder Altruismus betrachten meist nur die direkte Interaktion zwischen Kommunikationspartnern.
Oft geht es aber in diesem Zusammenhang - und sei es nur ganz unbewußt -um
eine generelle Verbesserung des »Ansehens«, das heißt darum,
Dritten zu »gefallen«.. (Ebd., S. 218-219). Beispiel:
Eine etwas verwirrte ältere Dame sucht in einem größeren Gebäude
eine Arztpraxis, findet sich aber überhaupt nicht zurecht. Ein jüngerer
Mann bietet ihr an, sie dorthin zu geleiten. Im Fahrstuhl kommt er ins Gespräch
mit einer jüngeren Frau, der sein Verhalten imponiert hat. Vorleistungen
- scheinbarer Altruismus also - gehören heute zu den selbstverständlichen
Grundlagen einer erfolgreichen Geschäftstätigkeit. Beispielsweise lädt
ein Warenhaus potenzielle Kunden dazu ein, die wohlig warmen Verkaufsräume
zu betreten, in den Auslagen zu stöbern, kostenlos die Toilette zu benutzen
oder in einer angenehmen Umgebung eine Tasse Kaffee zu trinken. Der Kunde soll
sich zunächst wohlfühlen und das Ambiente genießen, denn man möchte
gefallen. Auch wenn der Gast nicht gleich beim ersten Mal etwas kauft, so wird
er dies vielleicht bei seinem nächsten Besuch tun. (Ebd., S. 219).
Haben sich kooperatives und altruistisches Verhalten in einer Population
insgesamt als vorteilhaft erwiesen, dann kann rücksichtsloses und übertriebenes
egoistisches Verhalten durch Normen (Rollenvorgaben) und Sanktionen sehr weit
zurückgedrängt werden. Es dürfte dann auch für nachbarliche
egoistische Gruppen kaum mehr möglich sein, sich (im Sinne des Beispiels
Richard Dawkins) in die Population einzuheiraten und altruistische Gene zu verdrängen.
Zu den üblichen Sanktionsmaßnahmen gehören: | Verstoßung. | | Gefängnis
(unter anderem: Hinderung an der Reproduktion). | | Todesstrafe
(Verhinderung eines weiteren Uberlebens). | | Geldstrafen. | Eine
sehr frühe Form menschlicher Kooperation stellt der reziproke Altruismus
des Familienmodells dar, welcher seine Wurzeln ebenfalls in der Getrenntgeschlechtlichkeit
der biologischen Art »Mensch« hat. Die damit einhergehende sexuelle
Arbeitsteilung stand Modell für alle später folgenden Arbeitsteilungen
und Ausdifferenzierungen: | Die
durch den Reifungsprozeß des großen Gehirns verursachte enormei Hilflosigkeit
und Schutzbedürftigkeit des menschlichen Säuglings machte die Frauen
selbst weitestgehend hilflos und schutzbedürftig. | | Das
wachsende Gehirn erforderte eine regelmäßige Zufuhr größerer
Mengen an hochwertigen Fetten und Proteinen. Dazu diente vor allem die Großwildjagd,
zu der die nun anderweitig gebundenen Frauen kaum mehr etwas beitragen konnten. | Mit
anderen Worten: Die «egoistischen Gene« der Männer konnten sich
ohne die enormen Elterninvestments der Frauen nicht fortpflanzen, während
die Frauen umgekehrt ohne die Jagdleistungen der Männer und das anschließende
Teilen der Beute nicht eigenständig lebensfähig waren. (Ebd.,
S. 219-220). Der Mensch zeichnet sich unter allen Lebewesen durch
seine ungeheure Kooperationsfähigkeit aus. Einige Autoren behaupten gar,
das menschliche Gehirn sei neurobiologisch auf Kooperation ausgelegt (vgl. Joachim
Bauer, Prinzip Menschlichkeit, 2006). In der Tat ist der Mensch in der
Lage, in beliebig vielen sozialen Systemen dauerhaft zu kooperieren. Dies stellt
eine entscheidende Neuerung im Rahmen der Geschichte des Lebens auf der Erde dar.
(Ebd., S. 220).
4.28) Arterhaltung versus Eigennutz
Die Evolution hat kein
Ziel und keine Richtung. Stattdessen setzt sich zu einem bestimmten Zeitpunkt
stets das durch, was aus irgendeinem Grunde von Vorteil ist. (Ebd., S. 222-223).
4.29) Central Theoretical Problem of Human Sociobiology
4.29.1) Das Dilemma des Problems
Folgte man der Darwinschen
Lehre, dann müßte man erwarten, das sozial erfolgreiche und damit an
den Lebensraum »soziales Umfeld« besser angepaßte Menschen größere
Familien gründen als weniger erfolgreiche. Tatsächlich sind die Verhältnisse
in den entwickelten Ländern aber genau umgekehrt. Dieser Sachverhalt wurde
... mit dem Namen Central Theoretical Problem of Human Sociobiology versehen.
Einge Autoren vermuteten daraufhin, das Prinzip der natürlichen Selektion
gelte für moderne menschliche Gesellschaften nicht mehr. (Ebd., S.
224-225). Entsprechend stellt der soziale Erfolg von Männern
einen Fitnessindikator dar, der das weibliche Partnerwahlverhalten bis heute dominiert
(vgl. Stefan Woinoff, Überlisten Sie ihr Beuteschema, 2008). Denn
auch in modernen Gesellschaften gilt noch immer:»Nichts
steigert die Attraktivität eines Mannes gegenüber dem anderen Geschlecht
so sehr wie der soziale Status beziehungsweise der berufliche Erfolg: Zahlreiche
Studien scheinen zu belegen, daß Frauen bei Männern Eigenschaften wie
finanziellen Wohlstand attraktiv finden, während Männer nach.jungen
- und damit fruchtbaren - Frauen Ausschau halten. « (Thomas P. Weber, Soziobiologie,
2003, S. 77). | Diese Präferenzen sind weltweit
in allen Kulturen so einheitlich anzutreffen, daß einige Autoren dafür
biologische Ursachen vermuten. (Ebd., S. 225). Obwohl die
Evolution kein explizites Ziel kennt, läßt die Körperstruktur
des Menschen aber klare Rückschlüsse a:uf die historischen Erfolgsmerkmale
zu: Der Mensch zeichnet sich gegenüber anderen Lebewesen in erster Linie
durch seine Gehirnleistung aus (vgl. Ernst Mayr, Das ist Evolution, 2005,
S. 307ff.). Das menschliche Erfolgskriterium hieß somit - vereinfacht ausgedrückt
- Verstand. Es kann deshalb angenonlffien werden, daß während des größten
Teils der menschlichen Geschichte der soziale und reproduktive Erfolg von Männern
stets mit deren geistiger Kompetenz korrelierte. (Ebd., S. 225).Betrachtet
man das Central Theoretical Problem of Human Sociology etwas genauer, dann
sticht zunächst die Schwere des Problems hervor, denn im Grunde verbleiben
zu seiner Lösung ja nur die folgenden Alternativen: | Moderne
menschliche Gesellschaften reproduzieren sich nicht so, wie es das Prinzip der
natürlichen Selektion vorhersagt, obwohl dieses gemäß Evolutionstheorie
für alle biologischen Populationen gilt. Die Darwinsche Evolutionstheorie
wäre somit falsifiziert. | | Mit
dem Menschen hat die Evolution eine Spezies hervorgebracht, für die die Evolutionsprinzipien
nicht mehr gelten. Der Mensch wäre also gewissermaßen aus der Evolution
herausgetreten. | | Das
Prinzip der natürlichen Selektion gilt für alle Spezies, folglich auch
für den Menschen. Moderne menschliche Gesellschaften verhalten sich aber
nicht entsprechend, weswegen sie sich nicht länger an die sich ständig
wandelnden Anforderungen und Rahmenbedingungen (zum Beispiel Computerisierung,
Globalisierung) anpassen können. Sie werden deshalb auf Dauer verarmen und/oder
zugrunde gehen. | Die erste Alternative kommt für
die meisten Biologen kaum in Betracht, denn dann gäbe es schlagartig keine
Erklärung mehr für die Evolution des Lebens, was aus ihrer Sicht natürlich
wenig wünschenswert ist. Folglich verbleiben nur die beiden anderen Optionen.
Und damit offenbart sich auch schon das eigentliche Dilemma des Problems: Man
kann kaumwissenschaftlich objektiv darüber sprechen. (Ebd., S. 225-226).
4.29.2) Genetisch bedingte Erfolgsmerkmale
Es kann heute
kein Zweifel mehr daran bestehen, daß ein nennenswerter Teil des menschlichen
Denkens, Fühlens und Verhaltens eine biologische Basis besitzt, die im Überlebenskampf
während der Menschwerdung entstanden ist (vgl- Irenäus Eibl-Eibesfeldt,
Die Biologie des menschlichen Verhaltens, 1984). Auch bei der Intelligenz
(präziser: beim Intelligenzquotienten) kann von einer erheblichen erblichen
Komponente ausgegangen werden, wie die Zwillings- und Adoptionsforschung belegt.
(Vgl. Peter Borkenau, Anlage und Umwelt, 1993; Rainer Riemann / Frank M.
Spinath, Genetik und Persönlichkeit, a.a.O. 2005, S. 616 ff.; Volkmar Weiss,
Die IQ-Falle, 2000; Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, 2003, S.
110ff.). (Ebd., S. 227-228).Im Abschnitt Wozu
gibt es Sexualität? werden eine Reihe weiterer Faktoren präsentiert,
die für eine starke Beteiligung der Gene an aktuellen menschlichen Erfolgsmerkmalen
sprechen, unter anderem: | Inselbegabte
(Savants) verfügen über außergewöhnliche geistige Fähigkeiten,
die nicht selten mit einem völlig anders strukturierten Gehirn einhergehen
(zum Beispiel bei Kim Peek). | | Sechs
von sieben Inselbegabten sind Männer. | | Die
Varianz der Intelligenzverteilung bei Männern ist deutlich höher als
bei Frauen. Beispielsweise ergab ein Test unter 2500 Geschwistern, daß sich
unter den »klügsten« und »dümmsten« zwei Prozent
einer Bevölkerung doppelt so viele Männer wie Frauen befinden. | Inselbegabte
wie Kim Peek oder Matt Savage demonstrieren in aller Deutlichkeit, daß das
menschliche Gehirn noch ein beträchtliches genetisches Entwicklungspotential
besitzt, und zwar nicht nur bezüglich bereits vorhandener Kompetenzen (zum
Beispiel Musikalität), sondern möglicherweise auch solchen, die zur
Zeit noch nicht einmal faßbar sind. Denn wie will man zum Beispiel ausschließen
können, daß irgendwann Menschen geboren werden, die sich vier Dimensionen
vorstellen, durch Hypnose Krebs heilen, Rohstoffe in 500 Meter Tiefe erspüren
oder die Gedanken anderer lesen beziehungsweise sogar manipulieren können?
Allerdings dürften sich solche Merkmale nur dann nennenswert in Populationen
ausbreiten können, wenn (siehe dazu die Ausführungen im Abschnitt Wozu
gibt es Sexualität?): | sie
auf der männlichen Seite auftreten, | | sie
sozialen Erfolg begünstigen, | | sie
männliche potenzielle Fruchtbarkeit größer ist als die weibliche
und | | sozialer
Erfolg bei Männern mit einem höheren Reproduktionserfolg verbunden ist. | Es
läßt sich argumentieren, daß dem genetischen Anteil an den menschlichen
Kompetenzen in modernen, arbeitsteiligen und individualistische Gesellschaften
in aller Regel eine größere Bedeutung zukommt, als dies in Urgesellschaften
der Fall war. (Ebd., S. 228-229).
4.29.3) Thesen zum Central Theoretical Problem
Nach diesen
»politischen« Vorbemerkungen, die ein wenig den gesellschaftlichen
Rahmen beleuchteten, möchte ich zu zwei eigenen Thesen zum Central Theoretical
Problems of Human Sociobiology kommen:These
1 | | In
modernen menschlichen Gesellschaften wird der Reproduktionserfolg aufgrund von
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (die in der zweiten These im Einzelnen aufgelistet
werden) viel stärker vom Reproduktionsinteresse als vom Grad der Anpassung
an den Lebensraum bestimmt. Beim Central Theoretical Problem of Human Sociobiology
handelt es sich folglich um eine Widerlegung des Darwinschen Prinzips der natürlichen
Auslese.Anders gesagt:
Die Darwinsche Evolutionstheorie ist nicht allgemein genug formuliert, um auch
für moderne menschliche Gesellschaften Anwendung zu finden. Sie gilt somit
nicht für alles Leben auf der Erde. |
These
2 | | In
modernen menschlichen Gesellschaften, in denen | beide
Geschlechter praktisch identische Lebensentwürfe besitzen und mit einer Erwerbsarbeit
Geld verdienen können, | | ein
Sozialstaat (ähnlich dem der Bundesrepublik Deutschland) besteht, | | sich
Familien vom Grundsatz her selbst zu finanzieren haben (Wirtschaftsfunktion der
Familie; Familienarbeit mit eigenen Kindern ist kostenlos zu erbringen), | | die
Entscheidung für oder gegen zusätzliche Kinder nach ökonomischen
Gesichtspunkten gefällt werden kann (Familienplanung), | wird
sich stets ein negativer Zusammenhang zwischen Fortpflanzungsinteresse und sozialem
Erfolg ausbilden. Es kommt dann zum Phänomen des Central Theoretical Problems
of Human Sociobiology. (Ebd., S. 230-231). |
4.29.4) Einige Erklärungsversuche des Central Problems
So
existieren ... negative Zusammenhänge etwa zwischen | sozioökonomischem
Status und Fertilität, | | Intelligenz
und Anzahl der Geschwister, | | Intelligenz
und Fertilität und | | Bildungsniveau
und Fertilität. (Ebd., S. 231). |
Eine Theorie besagt zum Beispiel, daß es im Rahmen der Modernisierung
zu einer drastischen Zunahme von sozialen Interaktionen komme, die zu einer Reduzierung
des Anteils der Verwandtenkontakte im Vergleich zu Nichtverwandten führe.
Die Nachwuchsarbeit verliere hierdurch an Bedeutung. Eine solche Begründung
ist nicht unplausibel, denn immerhin konnte ja in einigen Schwellenländern
beobachtet werden, daß offenbar bereits das regelmäßige Schauen
von Telenovelas fertilitätssenkend ist. Auch würde sich hierdurch die
durchschnittlich niedrigere Fertilität in Schichten mit einem höheren
sozioökonomischen Status erklären lassen, denn mit dem sozialen Erfolg
steigt üblicherweise auch der Anteil der Nichtverwandteninteraktionen an
der Gesamtkommunikation. (Ebd., S. 232).
4.29.5) Die Lösung des Central Theoretical Problems
In
diesem Abschnitt sollen schließlich die beiden Thesen zum Central Theoretical
Problem of Human Sociobiology begründet werden. (Ebd., S. 232).Ich
werde dabei aber nicht weiter untersuchen, wie es im einzelnen zum demographischen
Übergang gekommen ist, und welche gesellschaftlichen Veränderungen wann
und wie welchen Einfluß auf das Fertilitätsverhalten hatten, sondern
stattdessen vom Ist-Zustand ausgehen, das heißt, von modernen Gesellschaften,
die sich aktuell im demographischen Wandel befinden. Und da läßt sich
nun zeigen, daß hier gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen wurden,
die grundsätzlich zu einem Fertilitätsverhalten führen, welches
weder mit dem Prinzip der natürlichen Auslese noch mit den Grundprinzipien
der Systemischen Evolutionstheorie vereinbar ist. (Ebd., S. 232).Ich
möchte dies zunächst an einem Beispiel aus dem Tierreich erläutern.
(Ebd., S. 233).Pfauenmännchen können sich ihre imposanten
gefiederten Schweife nur deshalb leisten, weil sie im Vergleich zu den Weibchen
die viel geringeren Elterninvestments aufzubringen haben. Eine gleichzeitige Meisterschaft
in beiden Bereichen (Nachwuchsarbeit, imposanter Schweif) ist aber aus energetischen
Gründen nicht möglich. Wären Pfauen Hermaphroditen, dann müßte
sich ein Pfau mit einem besonders großen und schönen gefiederten Schweif
automatisch mit weniger Nachkommen begnügen, denn seine Energiebilanz ließe
nichts anderes zu. Mit jedem zusätzlichen Investment in sein Imponierorgan
reduzierte er folglich sein Reproduktionsinteresse. Würden sich die Pfauen-Hermaphroditen
ganz normal wie getrenntgeschlechtliche Lebewesen miteinander paaren (woraufhin
beide Partner Eier legten), dann entspräche ein großer Schweif zwar
weiterhin einer besonders hohen Fitneß in bezug auf den Lebensraum, wäre
aber gleichzeitig - und zwar aus energetischen Gründen - mit einer geringeren
Gelegegröße verbunden. Dies würde ihn für mögliche Sexualpartner
weniger attraktiv machen (siehe dazu die Ausführungen im Abschnitt Wozu
gibt es Sexualität?). (Ebd., S. 233).Stellen
wir uns für einen Moment vor, alle Menschen wären Hermaphroditen, die
sich gelegentlich miteinander paaren. (Ebd., S. 233). Das
Prinzip der natürlichen Auslese erklärt die biologische Evolution auf
der Erde damit, daß besser angepaßte Individuen einer Population durchschnittlich
mehr Nachkommen hinterlassen als andere. Konkret hieße das in unserer Situation:
Sozial erfolgreichere Hermaphroditen würden durchschnittlich mehr Kinder
haben als weniger erfolgreiche. (Ebd., S. 233).Wir befänden
uns also sofort in dem bekannten Dilemma der modernen, gleichberechtigten Frau:
Wie kann ich im Beruf »meinen Mann stehen« und daneben noch eine Familie
gründen? Oder anders gesagt: Wie kann ich beide Aufgaben miteinander vereinbaren?
Aber nicht nur das: Das Prinzip der natürlichen Auslese verlangt ja noch
viel mehr, und zwar das scheinbar Unmögliche: Ein beruflich ganz besonders
erfolgreicher Hermaphrodit sollte in der Regel auch ganz besonders viele Kinder
haben («Reproduktionserfolg korreliert mit sozialem/beruflichem Erfolg«),
denn dann würde er seine Erfolgsmerkmale überproportional häufig
an die nächste Generation weitergeben und damit zur Wahrung des Prinzips
der Generationengerechtigkeit
beitragen. (Ebd., S. 233-234).Soziobiologen gliedern den
Lebensaufwand eines Individuums in die beiden Unterbereiche somatischer Aufwand
und Reproduktionsaufwand, wobei ersterer primär dazu dient, Reproduktionspotenzial
zu akkumulieren und letzterer dazu, dieses dann wieder zu verausgaben (vgl. Eckart
Voland, Die Natur des Menschen, 2007, S. 84). Überträgt man dies
auf moderne menschliche Gesellschaften, dann ließe sich sagen: Der Lebensaufwand
eines Menschen gliedert sich in Beruf und Familie, wobei der Beruf primär
dazu dient, Reproduktionspotenzial zu akkumulieren und die Familie dazu, dieses
dann wieder zu verausgaben. Das Prinzip der natürlichen Auslese besagt dann
zusätzlich noch: Individuen, die mehr Reproduktionspotenzial erlangen (mehr
Einkommen erzielen, beruflich erfolgreicher sind u.s.w.), hinterlassen im Durchschnitt
mehr Nachkommen (haben im Mittel die größeren Familien). (Ebd.,
S. 233). Wir stellen somit fest:Das
Prinzip der natürlichen Auslese beinhaltet einen Konflikt, der darin besteht,
zwei völlig unterschiedliche und gegeneinander um die gleichen zeitlichen
Ressourcen konkurrierende Aufgaben gleichzeitig optimieren zu wollen. Die natürliche
Selektion fordert nicht nur die Vereinbarkeif von Familie und Beruf, sondern vielmehr
deren gleichzeitige Optimierung: Wenn der Beruf gegen ein Optimum strebt, dann
sollte Familie das - im sfafistischen Mittel - auch tun !
(Ebd., S. 234).Sind die beiden Aufgabenbereiche Produktion
und Reproduktion (somatischer Aufwand und Reproduktionsaufwand;
übersetzt: Beruf und Familie) gleichermaßen mit hohen
zeitlichen Aufwänden verbunden, so dürfte sich ein einziges Individuum
damit schwer tun, beiden in gleicher Weise gerecht zu werden. Es handelt sich
hierbei letztlich um einen Balanceakt zwischen zwei völlig unterschiedlichen,
zeitaufwändigen Aufgaben. Aus diesem Grund wird in familienpolitischen Publikationen
auch häufig von einer Balance zwischen Familie und Beruf (beziehungsweise
im Englischen von einer Work-Life-Balance) gesprochen, siehe zum Beispiel
(BMFSFJ, Familie und Arbeitswelt, 2007). Das Prinzip der natürlichen
Auslese kennt hier jedoch keine Balance, sondern es erwartet die gleichzeitige
Optimierung beider Aufgabenbereiche, jedenfalls im statistischen Mittel und aus
Sicht der gesamten Population. (Ebd., S. 234).Menschliche
Gesellschaften unterscheiden sich aber von anderen biologischen Populationen noch
in einigen wesentlichen Aspekten, die im vorliegenden Kontext bemerkenswerte Konsequenzen
haben: Ein besonders effizienter Hermaphrodit könnte ja in einer natürlichen
Umgebung pro Zeiteinheit mehr Nahrung erlangen und dann auch mehr Nachkommen hinterlassen.
Auf Dauer würde sich dabei ein Gleichgewichtszustand einstellen: Bekommt
er zuviel Nachwuchs, kann er diesen nicht mehr ausreichend ernähren, so daß
es einige oder alle Jungen nicht bis ins Fortpflanzungsalter schaffen. Seine Gene
würden folglich nicht ausreichend an die nächste Generation weitergegeben.
Bekommt er zu wenige Jungen, nutzt er sein Fortpflanzungspotenzial nicht aus,
und das Ergebnis wäre ebenfalls suboptimal. (Vgl. Richrad Dawkins, Das
egoistische Gen, 1976, S. 216). Grundsätzlich gilt aber unter solchen
Verhältnissen: Wer in einem bestimmten Zeitfenster mehr Nahrung beschafft
(bei der Nahrungssuche effizienter ist; besser an den Lebensraum angepaßt
ist), kann in der verbliebenen Zeit eine größere Zahl an Nachkommen
aufziehen. Exakt so lautet ja auch das Prinzip der natürlichen Auslese der
biologischen Evolutionstheorie. (Ebd., S. 234-235).Moderne,
arbeitsteilig organisierte menschliche Gesellschaften kennen aber einen entsprechenden
Effizienzbegriff nicht. Wer über besondere Kompetenzen verfügt und bestimmte
komplexe Aufgabenstellungen ganz besonders schnell und präzise erledigen
kann, der wird in der Folge nicht weniger, sondern mehr arbeiten, denn seine Kompetenzen
sind nun besonders gefragt. Arbeitsteilung heißt Spezialisierung, und Spezialisierung
setzt spezifische Kompetenzen voraus, die üblicherweise in langwierigen Ausbildungsprozessen
erworben werden müssen. Selbstverständlich besteht dann ein erhöhtes
lnteresse daran, solche Kompetenzen auch einzusetzen und weiterzuentwickeln. Die
Fähigkeit etwa, ein bestimmtes Computerprogramm in einer vergleichsweise
kurzen Zeit fehlerfrei schreiben zu können, bedeutet in modernen, arbeitsteiligen
Gesellschaften keineswegs, daß man deshalb zwei Stunden früher nach
Hause gehen kann. Im Gegenteil: Nun wird ein solcher Mitarbeiter noch mehr gefordert
werden, während sich das Unternehmen gegebenenfalls von anderen, weniger
effizienten Arbeitnehmern trennt. (Ebd., S. 235).Aus diesem
System kann auch nicht leicht ausgestiegen werden, zumal es international völlig
einheitlich implementiert ist. Wer es dennoch versucht, der dürfte sich schon
bald mit einer weniger qualifizierten und dann auch schlechter bezahlten Tätigkeit
zufriedengeben müssen. (Ebd., S. 235).Soziale Systeme
differenzieren sich mit zunehmender Komplexität immer weiter aus (siehe Abschnitt
Soziale
Evolution [Sozialer Wandel]). Im Unternehmensbereich ftihrt das unter
anderem zu einer stärkeren Untergliederung der Organisation in Dominanzhierarchien
(Leitungsebenen). Sozialer Erfolg, der mit einem erleichterten Zugang zu Ressourcen
und bei Männern auch zu Sexualpartnerinnen verbunden ist, ist dann ganz häufig
gleichzusetzen mit dem Erreichen einer entsprechend hohen Position in der Dominanzhierarchie
eines sozialen Systems, zum Beispiel eines namhaften Unternehmens. Dazu ist dann
aber wiederum ein besonders starkes persönliches Engagement erforderlich,
das heißt, das Einbringen umfangreicher zeitlicher Ressourcen, die dann
für andere soziale Aufgaben - zum Beispiel Familienarbeit - nicht mehr zur
Verfügung stehen. Letztlich ist das eine zwangsläufige Konsequenz unserer
modernen arbeitsteiligen Wirtschaftsweise. (Ebd., S. 235-236).Und
genau hier kommt nun das Problem der weiblichen Emanzipation ins Spiel: Wenn sowohl
die berufliche Karriere als auch die Familienarbeit mit hohen zeitlichen Aufwänden
(und damit mit hohen Opportunitätskosten) verbunden sind, und beide Geschlechter
beide Aufgaben anteilsmäßig gleich erfüllen sollen, dann wird
eine bessere Ausbildung und darauf aufbauend eine größere berufliche
Verantwortung im statistischen Mittel immer mit einer Reduzierung der für
Familienarbeit zur Verfügung stehenden Zeit einhergehen. Daran werden Maßnahmen
zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nichts Entscheidendes
ändern können. (Ebd., S. 236).Im Umkehrschluß
bedeutet das aber auch: Mit steigender Kinderzahl - das heißt, mit steigenden
zeitlichen Aufwänden für die Familienarbeit - verbleibt den Eltern immer
weniger Zeit für Beruf und Karriere, was zu folgendem, in patriarchalischen
Gesellschaften nicht bekannten Dilemma führt (siehe Abschnitt Gründe
für den demographischen Wandel): | Mit
zunehmender Kinderzahl steigen die Ausgaben für die Familie, während
gleichzeitig ihre Einkünfte sinken. | Und schließlich
ist auch noch der Sozialstaat zu berücksichtigen, dessen Wirkungen Richard
Dawkins in Bezug auf die natürliche Selektion mit den folgenden Worten zusammenfaßt:»Nun
ist, was den modernen, zivilisierten Menschen betrifft, folgendes geschehen: Die
Größe der Familie ist nicht mehr durch die begrenzten Mittel beschränkt,
die die einzelnen Eltern aufbringen können. Wenn ein Mann und seine Frau
mehr Kinder haben, als sie ernähren können, so greift einfach der Staat
ein, das heißt der Rest der Bevölkerung, und hält die überzähligen
Kinder am Leben und bei Gesundheit. Es gibt in der Tat nichts, was ein Ehepaar,
welches keinerlei materielle Mittel besitzt, daran hindern könnte, so viele
Kinder zu haben und aufzuziehen, wie die Frau physisch verkraften kann. Aber der
Wohlfahrtsstaat ist eine sehr unnatürliche Sache. In der Natur haben Eltern,
die mehr Kinder bekommen, als sie versorgen können, nicht viele Enkel, und
ihre Gene werden nicht an zukünftige Generationen vererbt.« (Richard
Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, S. 209f.). | Grundsätzlich
ist davon auszugehen, daß sich mit einem Fortschreiten der weiblichen Emanzipation
und insbesondere einer weiteren Steigerung der Frauenerwerbsquote die Situation
für Frauen und Männer immer weiter angleichen wird, da es dann selbst
für beruflich erfolgreiche Männer immer schwerer werden dürfte,
eine adäquate Lebensgefährtin zu finden, die bereit ist, für die
Gründung einer größeren Familie für eine längere Zeit
auf ihren Beruf zu verzichten. Dafür sprechen allein schon die festgestellte
Bildungshomogamie bei Paaren und IQ-Korrelation bei Ehepaaren. (Vgl. Bernd Eggen
/ Marina Rupp [Hrsg.], Kinderreiche Familien, 2006, S. 56). Auch scheint
eine generelle genetische Homogarnie bei der Partnerwahl eine nicht zu unterschätzende
Rolle zu spielen. (vgl. Eckart Voland, Die Natur des Menschen, 2007, S.
62). (Ebd., S. 236-237).Ferner übertragen sich die hohen
Opportunitätskosten von Kindern bei einer gesellschaftsweit angestrebten
paritätischen Aufteilung der Familienarbeit unmittelbar auch auf die Männer.
(Ebd., S. 237).In modernen menschlichen Gesellschaften spielen
- aufgrund der allgemeinen Verfügbarkeit leistungsfähiger Kontrazeptiva
- die unterschiedlichen Reproduktionsinteressen der Individuen eine entscheidende
Rolle. Ein Maß für das Reproduktionsinteresse eines Menschen könnte
dessen Kinderwunsch (Zahl an gewünschten Nachkommen) sein. Allerdings läßt
sich ein solcher Kinderwunsch nicht immer zweifelsfrei messen. Eine Frau, die
etwa eine Managernentkarriere in einern internationaloperierenden Konzern anstrebt
und gleichzeitig eine größere Familie mit vier oder mehr Kindern haben
möchte, hat in aller Regel einen unrealistischen Kinderwunsch. Haben ihre
beruflichen Ziele für sie oberste Priorität, dann hat sie faktisch ein
geringes Reproduktionsinteresse. (Ebd., S. 237).In den Industrienationen
besteht nun aber irn allgemeinen ein negativer Zusanunenhang zwischen Reproduktionsinteresse
und sozioökonomischern Status beziehungsweise Bildungsniveau (siehe dazu
den Abschnitt Reproduktionsinteresse),
was einer Verletzung des Prinzips Reproduktionsinteresse der Systemischen Evolutionstheorie
gleichkommt, denn dieses setzt ja ganz explizit voraus, daß das Reproduktionsinteresse
der Individuen einer Gesellschaft nicht negativ mit deren Anpassungsgrad an den
Lebensraum (in diesern Fall: das soziale Umfeld) korreliert. (Ebd., S. 237).Aber
damit nicht genug: In den Industrienationen ist nun das Reproduktionsinteresse
ihrer Mitglieder meist durchschnittlich so niedrig (siehe den Abschnitt Reproduktionsinteresse),
daß die gesellschaftliche Reproduktion nicht einmal mehr mengenmäßig
bestandserhaltend ist, und somit massive Alterungs- und in der Folge dann auch
Schrumpfungsprozesse zu verzeichnen sind (siehe dazu die Ausführungen im
Kapitel Demographischer
Wandel). Zuverlässige Kontrazeptiva, die Angleichung
der Lebensentwürfe beider Geschlechter, leistungsfähige Alterssicherungssysteme
und weitere soziale Maßnahmen haben die Reproduktionsinteressen der Individuen
von den biologischen Grundlagen abgetrennt und zu einer ökonomisch abschätzbaren
Größe werden lassen. Dabei ist dann das zum Vorschein gekommen, auf
das auch Biologen schon immer hingewiesen haben: Die Fortpflanzung ist ganz wesentlich
eine altruistische Tätigkeit. Sie hat in modernen Gesellschaften aus Sicht
eines »egoistischen« Individuums nicht mehr unbedingt Sinn. Sie ist
primär eine Sache der Population oder des Nachwuchses selbst (also originär
altruistisch), und folglich ein ständiges öffentliches Thema.
(Ebd., S. 237).An dieser Stelle sei noch einmal auf einen entscheidenden
Punkt hingewiesen. Für die Darwinsche Evolutionstheorie ist die natürliche
Auslese so etwas wie ein Naturprodukt, in das keinerlei künstliche Eingriffe
- wie sie der Sozialdarwinismus vorschlug - erforderlich sind. Die natürliche
Auslese ergibt sich für sie im Rahmen der Evolution ganz von selbst.
(Ebd., S. 237).Die vorliegende Arbeit konnte dagegen zeigen: Dies
gilt nur dann, wenn sich alle Individuen einer Population gleichermaßen
fortpflanzen wollen, präziser: wenn Fitneß und Fortpflanzungsinteresse
der Individuen nicht negativ korrelieren, wie es in der Systemischen Evolutionstheorie
dann auch entsprechend als Evolutionsprinzip formuliert ist. (Ebd., S. 237).Da
es dem Menschen jedoch gelungen ist, sein Fortpflanzungsinteresse zu beherrschen,
kann in modemen menschlichen Gesellschaften von einer solchen Grundannahme nicht
mehr ausgegangen werden, speziell dann, wenn weitere gesellschaftliche Rahmenbedingungen
in andere Richtungen weisen. Wie der vorliegende Abschnitt aufzeigen konnte, wird
das individuelle Reproduktionsinteresse nämlich maßgeblich durch die
Organisation des Paarungssystems - zu der auch der gesellschaftliche Konsens zur
Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zählt - und des Wirtschaftssystems
mitbestimmt. Anders gesagt: Der Überlebenserfolg eines Individuums hängt
nicht nur - im Sinne eines Survival of the Fittest - von dessen Tauglichkeit
ab, sondern ganz entscheidend auch von den in der Population geltenden organisatorischen
Rahmenbedingungen, die einen erheblichen Einfluß auf sein persönliches
Reproduktionsinteresse nehmen können. (Ebd., S. 237-238).Die
Darwinsche Evolutionstheorie ist folglich nicht allgemein genug formuliert, um
auf moderne menschliche Gesellschaften angewendet werden zu können. Das Central
Theoretical Problem of Human Sociobiology stellt letztlich eine Falsifizierung
des Prinzips der natürlichen Auslese (Survival of the Fittest) der
Darwinschen Evolutionstheorie dar. (Ebd., S. 237).Damit sind
die beiden Thesen zum Central Theoretical Problem of Human Sociobiology
begründet (**).
Der moderne Mensch hat indirekt auch Richard Dawkins' Theorie vom »egoistischen
Gen« widerlegt. Die Vorstellung, Individuen seien in erster Linie Überlebensmaschinen
ihrer Gene (vgl. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, s. 63), kann
nicht überzeugend erklären, warum Menschen, sobald Kinder gegenüber
Alternativen wie berufichem Erfolg, Automobilen oder Urlaubsreisen ökonomisch
aufrechenbar sind, sich ganz häufig für den Beruf, das Auto oder die
Urlaubsreise und gegen den eigenen Nachwuchs entscheiden. Unter dem Paradigma
des »egoistischen Gens« dürfte es das Central Theoretical
Problem of Human Sociobiology eigentlich überhaupt nicht geben, und zwar
ganz unabhängig davon, ob Menschen Zugriff auf leistungsfähige Mittel
zur Familienplanung besitzen oder nicht. (Ebd., S. 237).Richard
Dawkins entgegnet solchen Einwänden gegen seine Theorie mit den folgenden
Argumenten:»Wir
haben die Macht, den egoistischen Genen unserer Geburt und, wenn nötig, auch
den egoistischen Memen unserer Erziehung zu trotzen. Wir können sogar erörtern,
aufwelche Weise sich bewußt ein reiner selbstloser Altruismus kultivieren
und pflegen läßt - etwas, für das es in der Natur keinen Raum
gibt, etwas, das es in der gesamten Geschichte der Welt nie zuvor gegeben hat.
Wir sind als Genmaschinen gebaut und werden als Memmaschinen erzogen, aber wir
haben die Macht, uns unseren Schöpfern entgegenzustellen. Als einzige Lebewesen
auf der Erde können wir uns gegen die Tyrannei der egoistischen Replikatoren
auflehnen.« (Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, S. 334). | Und
an anderer Stelle:»Wir,
das heißt unser Gehirn, sind ausreichend getrennt und unabhängig von
unseren Genen, um gegen sie rebellieren zu können. Wie ich bereits sagte,
tun wir dies immer dann im kleinen, wenn wir Empfängnisverhütung betreiben.
Nichts spricht dagegen, uns auch im großen gegen unsere Gene aufzulehnen.«
(Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, S. 496). | Die
Argumentation Richard Dawkins' in dieser Sache ist leider alles andere als schlüssig.
Folgt man den Biologen, dann geht es Lebewesen primär um Selbsterhalt und
Fortpflanzung. Einige biologische Fachdisziplinen gehen noch weiter und fokussieren
primär auf den Fortpflanzungserfolg:»Tierisches
Verhalten von der Nahrungssuche bis zur Partnerwahl mit einem solchen Anpassungsdenken,
das den individuellen Fortpflanzungserfolg ins Zentrum stellt, zu erklären,
ist das Gebiet der Verhaltensökölogie. « (Thomas P. Weber, Darwin
und die neuen Biowissenschaften, 2005, S. 186). | Wie
ich bereits dargelegt habe, gibt es dabei jedoch ein Problem: Aus Sicht des Individuums
ist die Fortpflanzungstätigkeit (die Summe aller Reproduktionsaufwände)
hochgradig altruistisch, denn sie geschieht vor allem im Dienste anderer Individuen,
nämlich der eigenen Nachkommen, wodurch sie gegebenenfalls sogar dem eigenen
Selbsterhalt im Wege steht. Warum also sollte sich ein autonomes Lebewesen unbedingt
fortpflanzen wollen? Gemäß Richard Dawkins kommt dafür nur eine
Erklärung in Frage: Lebewesen sind Überlebensmaschinen der in ihnen
wirkenden egoistischen Gene. Bei dem scheinbaren Fortpflanzungsaltruismus von
Individuen handelt es sich folglich um den Egoismus von Genen, die möglichst
lange fortbestehen möchten. Anders gesagt: Der Lebensaufwand eines Lebewesens
mag sich zwar formal in Selbsterhalt und Reproduktionsaufwand und damit in einen
Teil für sich und einen zweiten Teil für andere Individuen gliedern,
doch dies täuscht lediglich, denn letztlich dient aller Reproduktionsaufwand
nur dem Fortbestand der eigenen Gene, ist also aus Sicht der egoistischen Gene
ebenfalls dem Selbsterhalt zuzurechnen. (Ebd., S. 240).Nun
behauptet aber Richard Dawkins, das Kulturwesen Mensch sei jetzt als erstes Lebewesen
in der Lage, sich auch »im großen« gegen seine eigenen Gene
aufzulehnen. Etwas verkürzt könnte man Richard Dawkins' Argumentation
wie folgt zusammenfassen: Egoistische Gene haben zum Zwecke ihres eigenen Überlebens
sogenannte Überlebensmaschinen gebaut, die sich nun aber »im großen«
über die Interessen ihrer Erbauer hinwegsetzen können, wodurch sie sie
am Überleben hindern. (Ebd., S. 240).Allerdings sieht
Richard Dawkins für den modernen Menschen zwei alternative Strategien vor,
sich in die Zukunft fortzupflanzen: | Kinder
in die Welt zu setzen (Vererbung über Gene). | | Kulturelle
Verewigung (Vererbung über Meme). | Dies begründet
er wie folgt:»Wenn
wir einmal sterben, so können wir zwei Dinge hinterlassen: Gene und Meme.
Wir sind als Genmaschinen konstruiert, dazu geschaffen, unsere Gene zu vererben.
Aber dieser Aspekt von uns wird in drei Generationen vergessen sein. Mein Kind,
sogar mein Enkel noch mag mir ähnlich sein, vielleicht in den Gesichtszügen,
in einer musikalischen Begabung oder in der Haarfarbe. Aber mit jeder Generation,
die vorbeigeht, wird der Beitrag der Gene halbiert. Es dauert nicht lange, und
er ist so klein geworden, daß man ihn vernachlässigen kann. Unsere
Gene mögen unsterblich sein, aber die Sammlung von Genen, die jeder Einzelne
von uns darstellt, muß zwangsläufig auseinanderbröckeln. ....Doch
wenn ich einen Beitrag zur Kultur der Welt leiste, wenn ich einen guten Gedanken
habe, eine Melodie komponiere, eine Zündkerze erfinde oder ein Gedicht schreibe,
so kann dieser Beitrag noch lange, nachdem meine Gene sich im gemeinsamen Genpool
aufgelöst haben, unversehrt weiterleben. Von Sokrates mögen heute ....
vielleicht noch ein oder zwei Gene auf der Welt leben oder auch nicht, aber wen
interessiert das schon? Die Memkomplexe von Sokrates, Leonardo da Vinci, Kopernikus
... sind immer noch ungeschwächt.« (Richard Dawkins, Das egoistische
Gen, 1976, S. 331f.). | Nun ist aber die Chance,
einmal ein neuer Kopernikus zu werden, denkbar gering. Die allermeisten Menschen
schlagen sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Schon bald nach ihrem Tod
wird niemand mehr wissen, daß es sie überhaupt gegeben hat, insbesondere
dann, wenn sie auch noch kinderlos geblieben sind, was heute aber - speziell in
gebildeten Kreisen - gar nicht mal so selten ist. (Ebd., S. 240-241).Man
kann es drehen und wenden wie man will, die Dawkinschen Begründungen ergeben
keinen Sinn: Unsere persönliche Sammlung an Genen verliert sich binnen ganz
weniger Generationen, und auch kulturell - und sei es als Bestandteil irgendeines
»Mems« - werden die meisten von uns ganz schnell vergessen sein.
(Ebd., S. 241). Der Ansatz der Systemischen Evolutionstheorie ist
demgegenüber viel plausibler: Lebewesen sind autonome Systeme mit eigenständigen
Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungsinteressen, die sich selbsterhalten und fortpflanzen
wollen. Entsprechende Verhaltensweisen haben sich evolutionär herausgebildet,
denn andernfalls gäbe es die jeweiligen Populationen und Spezies längst
nicht mehr. Dem Menschen ist als erstem Lebewesen die sichere Beherrschung des
eigenen Fortpflanzungsinteresses gelungen, und zwar ohne dabei auf die angenehmen
Gefühle beim Sex verzichten zu müssen. Prompt stellt sich für den
modernen Menschen das jahrzehntelange Aufziehen von Kindern als das heraus, was
es eigentlich ist: ein zusätzlicher Aufwand, der den eigenen Selbsterhalt
erschwert, und den viele Menschen heute nicht mehr so ohne weiteres zu leisten
bereit sind. (Ebd., S. 241-242).Die Resultate zum Central
Theoretical Problem of Human Sociobiology legen indirekt den folgenden Schluß
nahe: Möchte eine moderne Gesellschaft dem Trend zu Kinderlosigkeit und sehr
kleinen Familien entgegenwirken, dann dürfte eine Lastenreduzierung bei der
Familienarbeit (zum Beispiel durch Vereinbarkeitsmaßnahmen oder einem verbesserten
Familienlastenausgleich) für sich allein nicht ausreichen. Stattdessen sollten
die Maßnahmen am Fortpflanzungsinteresse ansetzen, indem das Aufziehen von
Kindern wieder so attraktiv gemacht wird, daß sich eine ausreichende Zahl
an Menschen eigene Kinder wünscht. Eine tiefergehende Diskussion dazu findet
sich in meinen Büchern »Land
ohne Kinder« (2006), »Die
Familienmanagerin« (2006), »Hurra,
wir werden Unterschicht!« (2007) und »Familie
als Beruf« (2008) und zum Teil auch im Kapitel Demographischer
Wandel. (Ebd., S. 242).
4.30) Wozu gibt es Sexualität?
Der
vorliegende Abschnitt stellt zunächst die - zum Teil bereits in anderen Abschnitten
herausgearbeiteten - Vor- und Nachteile der Sexualität im Vergleich zu alternativen
Fortpflanzungsmethoden dar. Auf dieser Basis wird dann gefolgert, daß der
eigentliche evolutionäre Vorteil der Sexualität vor allem in qualitativen
und kommunikativen Aspekten liegt. Bei der Sexualität geht es ganz wesentlich
um Kommunikation. (Ebd., S. 243).Im Rahmen der sexuellen
Fortpflanzung sind insbesondere zwei Populationstypen zu unterscheiden: | Getrenntgeschlechtliche
Populationen mit separaten Männchen und Weibchen, bei denen nur die Weibchen
Nachwuchs in die Welt setzen können. | | Hermaphroditenpopulationen,
bei denen sich alle geschlechtsreifen Individuen miteinander paaren können.
Anschließend können beide Fortpflanzungspartner Nachwuchs zur Welt
bringen.Hermaphroditismus
ist im Pflanzenreich weit verbreitet. Beispiele aus der Tierwelt sind: Regenwürmer,
Nesseltiere, manche Schnecken- und Fischarten. | Bei
Säugetieren und vielen anderen höheren Tierarten hat sich die getrennt
geschlechtliche Fortpflanzung durchgesetzt. Jede Begründung für die
Vorteilhaftigkeit der Sexualität muß deshalb unter anderem auch erklären
können, worin der Vorteil getrenntgeschlechtlicher Populationen gegenüber
Hermaphroditenpopulationen besteht. (Ebd., S. 243).
4.30.1) Die Nachteile der Sexualität
Sexualität
ist komplex, ineffizient und teuer.Die sexuelle
Fortpflanzung ist erheblich komplexer als die asexuelle Reproduktion, und zwar
unter anderem durch die folgenden Umstände, die zwar nicht für alle
sich sexuell fortpflanzenden Lebewesen zutreffen, jedoch fur die meisten höheren
Tierarten: | Frühzeitige
Aufteilung der Zellen in Geschlechtszellen (Keimzellen, Gameten) und Körperzellen. | | Aufteilung
der Gameten in zwei unterschiedliche Typen, die sich bereits von der Größe
her ganz erheblich unterscheiden (Anisogamie). Bei allen höheren tierischen
Lebewesen einschließlich des Menschen werden die Gameten der Weibchen Eizellen
(Eier) genannt, die der Männchen Spermatozoen oder SpermienDie
Anisogamie (Eier sind teuer, Spermien dagegen billig) ist die Basis für die
unterschiedlichen Elterninvestments der beiden Geschlechter und damit letztlich
auch für die sexuelle Selektion (siehe Abschnitt Sexuelle
Selektion). | | Bei
sogenannten diploiden Arten (zu denen auch der Mensch zählt) enthalten die
Gameten jeweils nur einen Satz Chromosomen, das heißt, sie sind haploid,
während die Körperzellen jeweils zwei Chromosomensätze beinhalten,
die folglich diploid sind. Bei solchen Arten kommt es während der Produktion
der Gameten zum komplexen Vorgang der Reduktionsteilung (Meiose), weshalb die
Gameten dann auch Meiogameten genannt werden. | | Bei
der Befruchtung kommt es zu einer komplexen Vereinigung von zwei haploiden Gameten
unterschiedlicher Paarungstypen zu einer diploiden Zygote, aus der sich dann durch
weitere Zellteilungen (Mitose) und die nachfolgende Spezialisierung der aus ihr
hervorgegangenen diploiden Zellen zunächst ein Embryo und später das
ausgewachsene Individuum entwickeln. | Daneben besteht
in sich sexuell reproduzierenden Populationen noch ein logistisches Problem, denn
die verschiedenen Individuen müssen - bevor sie sich fortpflanzen können
- zunächst einen geeigneten Sexualpartner finden. Das kann sich aber insbesondere
bei vergleichsweise kurzlebigen Spezies oder geringer Populationsdichte als ausgesprochen
schwierig erweisen. Die ausschließlich asexuelle Reproduktion dominiert
deshalb vor allem bei Spezies, die die Evolution erst vor noch nicht allzu langer
Zeit hervorgebracht hat. (Ebd., S. 243-244).Und schließlich
ist getrenntgeschlechtliche Sexualität teuer, da die Männchen keinen
eigenen Nachwuchs zur Welt bringen können, mit den Weibchen jedoch um die
Ressourcen des Lebensraums konkurrieren (siehe dazu den nächsten Punkt und
die Ausfuhrungen im Abschnitt Sexualität).
(Ebd., S. 244).Sexualität erzeugt eine geringere Zahl an
Nachkommen.Würden in einer getrenntgeschlechtlichen
Population weibliche, sich asexuell fortpflanzende Mutanten zur Welt kommen, die
lauter Nachkommen des gleichen Typs hätten (weiblich; fähig zur asexuellen
Fortpflanzung; Nachkommen ebenfalls weiblich), dann könnten sich diese sukzessive
in der Population durchsetzen, da sie doppelt so viele fortpflanzungsfähige
Nachkommen produzieren könnten wie die restlichen getrenntgeschlechtlichen
Individuen. Das gleiche würde für Hermaphroditen- Mutanten gelten.Die
getrenntgeschlechtlichen Individuen der Population benötigten zur eigenen
Bestandserhaltung mindestens eine Fertilitätsrate von 2,0 (mindestens zwei
Nachkommen pro Weibchen), die Mutanten (asexuell, Hermaphroditen) dagegen nur
eine von 1,0 (mindestens ein Nachkomme pro Individuum).Getrenntgeschlechtliche
Populationen sind folglich -gemessen an der Zahl ihrer potenziellen Nachkommen
- reproduktiv weniger leistungsfähig als Hennaphroditen oder sich asexuell
vermehrende Populationen.Allerdings wird bei
einer solchen Aussage implizit angenommen, daß männliche Individuen
nur ihre Gene zum Nachwuchs beisteuern. Das ist zwar bei vielen Arten tatsächlich
der Fall, bei anderen (insbesondere beim Menschen) jedoch nicht. Der reproduktive
Nachteil getrenntgeschlechtlicher Populationen gegenüber Hermaphroditen oder
sich asexuell fortpflanzenden Populationen könnte sich deshalb in der Praxis
auch als geringer erweisen, als es gemäß der obigen Rechnung den Anschein
hat. (Ebd., S. 245).Sexualität begünstigt egoistische
Gen-Kombinationen.Da bei der genetischen
Rekombination nicht alle Gene weitergegebenwerden, ist ein Aufkommen von Mutanten
vorstellbar, die sich auf die Verbreitung ihrer eigenen Gene auf Kosten alternativer
Allele spezialisiert haben (zum Beispiel durch Beeinflussung der Meiose). Solche
Gen-Kombinationen werden »egoistisch« genannt. (Ebd., S. 245).Rekombination
kann günstige Gen-Kombinationen zerstören.Bei
der genetischen Rekombination werden die Gene beider Elternteile durchmischt,
wodurch besonders günstige Gen-Kombinationen auch wieder zerstört werden
können. Etwas Vergleichbares ist bei der asexuellen Fortpflanzung nicht möglich,
denn dort kann es höchstens durch Mutationen zu einer »Verschlechterung«
des Genoms kommen. (Ebd., S. 245).
4.30.2) Die Vorteile der Sexualität
Rekombination
erzeugt eine enorme genetische Vielfalt.Auf
diesen Punkt wurde bereits im Abschnitt Sexualität
eingegangen: Sexualität erzeugt aufgrund der genetischen Rekombination eine
ungeheure genetische Vielfalt, die ihrerseits das »Grundmaterial«
fur die natürliche Auslese liefert. Es sind die genetischen Unterschiede,
die die Evolution in Gang setzen. Bei genetischer Gleichförmigkeit aller
Individuen einer Art wäre Evolution durch natürliche Auslese nicht möglich.
Daneben bringt die Durchmischung der Gene eine höhere Flexibilität mit
sich, wodurch die Anpassung an neue Umweltbedingungen, Krankheitserreger und Parasiten
erleichtert wird.
In diploiden Individuen (mit doppelten Chromosomensätzen) kann das
zweite Allel als Backup dienen, falls einmal ein Allel verlorengegangen
ist (beziehungsweise zerstört wurde). Aus den gleichen Gründen
können diploide Spezies höhere Mutationsraten verkraften, weswegen
sie sich besonders schnell an verändernde Rahmenbedingungen anpassen
können. Und schließlich codieren verschiedene Allele meist
für leicht unterschiedliche Merkmale, wodurch sich die Flexibilität
des Phänotyps gegenüber unterschiedlichen Umgebungsbedingungen
erhöhen kann (Heterozygotenvorteil).
Die Ausführungen
im Abschnitt Sexualität
machten aber bereits deutlich, daß die genetische Rekombination keineswegs
erklären kann, warum sich die Getrenntgeschlechtlichkeit bei höheren
Lebewesen gegenüber dem Hermaphroditismus durchgesetzt hat. (Ebd.,
S. 246).Sexualität kann ungünstige Mutationen entfernen.Die
Mindestzahl der ungünstigen Mutationen innerhalb einer Population kann bei
der asexuellen Reproduktion nicht mehr reduziert werden, höchstens durch
Rückmutationen, die aber extrem unwahrscheinlich und selten sind. Bei der
sexuellen Fortpflanzung könnten dagegen nachteilige Mutationen wieder durch
genetische Rekombinationen verloren gehen. Dies dürfte insbesondere dann
der Fall sein, wenn die Weibchen aus der Menge der Männchen diejenigen bevorzugen,
die besonders gut an den Lebensraum angepaßt sind und folglich nur über
sehr wenige nachteilige Mutationen verfügen.Der
genannte Vorteil dürfte sich besonders stark in getrenntgeschlechtlichen
Populationen (und weniger stark bei Hermaphroditen) bemerkbar machen, allerdings
auch nur dann, wenn die Männchen im Durchschnitt den deutlich geringeren
Anteil an den Elterninvestments tragen, so daß es zu einer verstärkten
Auslese unter den männlichen Individuen kommen kann.Das
gerade erzielte Ergebnis steht in einem direkten Bezug zum nächsten Punkt
»Sexualität kann günstige Mutationen beschleunigt verbreiten«
(**):
Die Sexualität ist sowohl in der Lage, ungünstige Mutationen aus dem
Gen-Pool einer Population effizient zu entfernen, als auch günstige Mutationen
beschleunigt zu verbreiten. Allerdings setzt dies voraus, daß in der Population
ein nennenswerter Unterschied in der potenziellen Fruchtbarkeit von männlich
versus weiblich besteht. (Ebd., S. 246-247).Sexualität
kann günstige Mutationen beschleunigt verbreiten.Im
Abschnitt Fitneßindikatoren
konnte bereits gezeigt werden: Die viel höhere potentielle Fruchtbarkeit
des männlichen Geschlechts (nur bei durchschnittlich signifikant verminderten
Elterninvestments) in Kombination mit dem weiblichen Partnerwahlverhalten (im
Tierreich meist anhand sogenannter Fitneßindikatoren) kann zu einer deutlich
beschleunigten Verbreitung von Erfolgsmerkmalen innerhalb einer Population führen.
Viele männliche Individuen werden dann nämlich keine oder nur sehr wenige
Nachkommen haben, andere dafür vergleichsweise viele. Getrenntgeschlechtliche
Populationen sind folglich Hermaphroditen gegenüber von der Fortpflanzung
her zwar quantitativ unterlegen, doch qualitativ überlegen:
dies ist einer ihrer entscheidenden Vorteile.In
diesem Zusammenhang ist zusätzlich zu beachten, daß Männer häufiger
von genetischen Mutationen betroffen sind als Frauen, was möglicherweise
auf die männliche XY-Chromosomen-Asymmetrie zurückzuführen ist.
(Bei den Ameisen etwa sind die Männchen haploid, die Weibchen
dagegen diploid. Anch dieser Umstand sorgt für eine schnellere Ausprägung
genetischer Mutationen auf der männlichen Seite.). Beispielsweise
sind sechs von sieben Inselbegabten Männer. Der bekannte Inselbegabte Kim
Peek verfügt zwar über außergewöhnliche geistige Fähigkeiten,
die sich auf ein gegenüber nichtautistischen Menschen völlig anders
strukturiertes Gehirn zurückführen lassen, gleichzeitig ist er aber
auch geistig behindert. Die meisten Mutationen dieser Art wirken sich nämlich
in der Summe eher ungünstig aus. Dennoch kann der Natur auf diese Weise gelegentlich
ein »Volltreffer« gelingen. So behauptet der Hirnforscher Michael
FitzgeraId etwa, selbst bei Genies wie Einstein, Newton, Beethoven oder Mozart
habe eine mehr oder weniger starke Ausprägung von Autismus vorgelegen. (Die
meisten Sozialwissenschaftler und auch einige Biologen sind der Auffassung, der
Mensch habe die genetische Evolution mehr oder weniger aufgehoben. Auch die sogenannte
Leere-Blatt-Hypothese
[**] geht von dieser Annahme aus.
Inselbegabte wie Kim Peek oder Matt Savage demonstrieren aber in aller Deutlichkeit,
daß dies nicht der Fall sein kann. Offenbar besitzt das menschliche Gehirn
ein für uns geradezu unvorstellbares genetisches Entwicklungspotenzial.).Auch
bei der Intelligenz scheint eine ähnlich asymmetrische GeschIechterverteilung
wie bei Inselbegabten vorzuliegen: die Varianz der Intelligenzverteilung bei Männern
ist deutlich höher als bei Frauen. Beispielsweise ergab ein Test unter 2.500
Geschwistern, daß sich unter den »klügsten« und »dümmsten«
zwei Prozent einer Bevölkerung doppelt so viele Männer wie Frauen befinden.Beispiel:
| | Stellen
wir uns nun in einem Gedankenexperiment vor, ein Mensch habe durch eine genetische
Mutation die Gabe erhalten, durch zehnmimltiges Handauflegen Krebs zu heilen.Wir
können drei Fälle unterscheiden: | Die
Person ist eine Frau.Vermutlich
würde die Frau ihre Bestimmung darin sehen, möglichst viele Krebskranke
zu heilen. Sie würde zwar viel Geld verdienen, aber kaum Zeitfür eigene
Kinder haben. Gegebenenfalls würde sie kinderlos bleiben. In der nächsten
Generation wäre die genetische Mutation wahrscheinlich Der
Mann würde ebenfalls seine Bestimmung darin sehen, möglichst viele Krebskranke
zu heilen. Er würde viel Geld verdienen, eine Ehefrau, viele Freundinnen
und viele Kinder haben. In der nächsten Generation gäbe es wahrscheinlich
bereits fünf oder mehr Menschen mit der gleichen genetischen Mutation. | | Die
Person ist ein Mann in einer Gesellschaft mit geschlechtsneutralen Lebensentwürfen.Der
Mann würde gleichfalls seine Bestimmung darin sehen, möglichst viele
Krebskranke zu heilen. Er würde zwar viel Geld verdienen, aber kaum Zeit
für eigene Kinder haben, da er für jedes Kind die Hälfte der Familienarbeit
leisten müßte. Gegebenenfalls würde er kinderlos bleiben. In der
nächsten Generation wäre die genetische Mutation wahrscheinlich bereits
wieder verschwunden. |
| Während
die Natur also dem weiblichen Geschlecht den Hauptteil der Fortpflanzungsarbeit
zugewiesen hat, kommt es dem männlichen Geschlecht zu, die Evolution zu beschleunigen
und für eine möglichst rasche Anpassung an den Lebensraum zu sorgen,
das heißt, die Evolutionsfähigkeit zu verbessern. (Vgl. Christoph von
der Malsburg, Ist die Evolution blind?, 1987, a.a.O.). Es ist folglich
von Vorteil, wenn das männliche Geschlecht stärker von Mutationen betroffen
ist, denn dann können ungünstige Mutationen leichter »eliminiert«
und günstige gefordert werden, und zwar alles auf ganz natürliche Weise.
Vermutlich ist ein Großteil des menschlichen Intellekts auf genau diese
Weise entstanden.Leider verkennen selbst ausgewiesene
Experten mitunter die wahre Dynamik der Fortpflanzung in getrenntgeschlechtlichen
Populationen .... (Ebd., S. 247-249).Sexualität fördert
die Entfaltung von Reproduktionsinteressen.Die
unterschiedlichen elterlichen Aufwände für die beiden Geschlechter haben
noch eine andere Konsequenz, die im Rahmen der Systemischen Evolutionstheorie
eine wesentliche Rolle spielt: Je geringer der männliche Anteil an den elterlichen
Investments ist, desto stärker kann sich das männliche Reproduktionsinteresse
entfalten.Denn im Grunde könnte ja die folgende
Kritik an der Systemischen Evolutionstheorie geäußert werden: | Das
Kriterium natürliches Reproduktionsinteresse fordert zwar, daß die
Reproduktionsinteressen der Individuen nicht negativ mit dem Grad ihrer Anpassung
an den Lebensraum korrelieren, sie könnten dann aber theoretisch so stark
positiv korrelieren, daß mit zunehmender Anpassung an den Lebensraum durchschnittlich
mehr Nachkommen in die Welt gesetzt werden als anschließend versorgt werden
können. Die Reproduktionsinteressen würden zwar in einem solchen Falle
nicht negativ mit dem Grad der Anpassung der Individuen an den Lebensraum korrelieren,
trotzdem würde der Reproduktionserfolg der Individuen mit zunehmender Anpassung
sinken. Dies wäre dann eine Verletzung des Prinzips der natürlichen
Auslese, welches aber angeblich aus den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie
ableitbar ist, wie der Abschnitt Gültigkeit
der Darwinschen Evolutionsprinzipien gezeigt haben will. | Zoologen
weisen beispielsweise darauf hin, daß sowohl zu geringe als auch zu hohe
Reproduktionsinteressen (etwa in Form zu kleiner beziehungsweise zu großer
Gelegegrößen bei Vögeln aus evolutionärer Sicht von Nachteil
sind. Sie prognostizieren aber, daß sich solche Interessenabweichungen innerhalb
einer Population - sofern keine systematische Ursache vorliegt - langfristig ausgleichen
werden.Allerdings haben solche Überlegungen
für das männliche Geschlecht eine umso geringere Bedeutung, je kleiner
deren Anteil an den Elterninvestments ist, wodurch eine umso größere
Varianz beim männlichen Reproduktionserfolg möglich wird. Unter solchen
Verhältnissen dürfte das männliche Reproduktionsinteresse allgemein
sehr hoch sein, und weitere Abweichungen nach oben werden - anders als beim weiblichen
Geschlecht - kaum negative Konsequenzen nach sich ziehen. Ist der männliche
Anteil an den Elterninvestments beispielsweise nahezu vernachlässigbar (die
Männchen steuern lediglich ihre Gene zum Nachwuchs bei), dann dürfte
das männliche Reproduktionsinteresse praktisch unlimitiert hoch sein, und
die Männchen werden jede erdenkliche Gelegenheit zur Fortpflanzung nutzen
wollen, schließlich entstehen für sie dabei keine zusätzlichen
Lasten.Aus evolutionärer Sicht ist die Höhe
des männlichen Reproduktionsinteresses von größerer Bedeutung
als die des weiblichen (vgl. Peter Mersch, Die
Emanzipation - ein Irrtum!, 2007, S. 94ff. [**]).
In familien- und bevölkerungspolitischen Überlegungen konzentriert man
sich dagegen fast ausschließlich auf die weiblichen Reproduktionsinteressen
(siehe dazu den Abschnitt Reproduktionsinteresse),
was dem Gesamtkomplex »Fortpflanzung« aber nicht gerecht wird.Die
bisherigen Aufzählungen der Nachteile und Vorteile der Sexualität lassen
weitere Zweifel an der Stichhaltigkeit der Theorie der egoistischen Gene (vgl.
Richard Dawkins, Das egoiustische Gen, 1976) aufkommen.Denn
aus Sicht der egoistischen Gene stellt die sexuelle Fortpflanzung zunächst
einmal ein Risiko dar, da dabei nicht sicher ist, welcher Anteil des eigenen Erbmaterials
bei den Nachkommen zur Geltung kommen wird. Bei der asexuellen Fortpflanzung wird
das gesamte eigene Erbgut an die nächste Generation weitergeben, bei der
sexuellen Fortpflanzung dagegen nur teilweise. Biologen sprechen deshalb auch
von den »zweifachen Kosten der Sexualität« für die Weibchen.Ferner
könnten viele der eigenen Allele rezessiv im Vergleich zum Erbmaterial des
Fortpflanzungspartners sein. Auch könnte die Kombination mit den Genen des
Sexualpartners zu einer geringeren Anpassung an den Lebensraum führen und
sich in der Folge als ausgesprochen ungünstig erweisen. Möglicherweise
könnten sich die eigenen Nachkommen dann nicht einmal mehr fortpflanzen,
so daß mit ihnen das genetische Aus käme (siehe Unterabschnitt Die
Nachteile der Sexualität).Trotz
all dieser offenkundigen Nachteile aus genzentrischer Sicht hat sich die sexuelle
Fortpflanzung evolutionär durchgesetzt.Wie
wir gesehen haben, spielt das männliche Geschlecht - aufgrund dessen größerer
Varianz beim Fortpflanzungserfolg - für die Verbreitung von Genen eine bedeutendere
Rolle als das weibliche. Auch ist es bei vielen biologischen Arten einer höheren
Mutationsrate (Mutagenität) ausgesetzt.Bei
den meisten sozialen Insekten etwa sind die Männchen haploid, weswegen sich
genetische Mutationen bei ihnen unmittelbar im Phänotyp bemerkbar machen
werden. Vor der Paarung unterliegen die Männchen jedoch zunächst noch
einer gesonderten (sexuellen) Selektion. Bei den Treiberameisen beispielsweise
entscheiden die Arbeiterinnen, welches zugeflogene und dann entflügelte Männchen
zur Königin darf. Bei anderen Ameisenarten kämpfen flügellose Männchen
solange gegeneinander, bis nur noch eins übriggeblieben ist, während
die geflügelten Exemplare einem weiteren Wettbewerb ausgesetzt sind. Gegebenenfalls
konkuuieren die siegreichen geflügelten und ungeflügelten Individuen
am Ende um den Zugang zur Königin, wobei sie sich mit allerlei Tricks gegenseitig
zu überlisten versuchen (zum Beispiel bei der tropischen Ameise Cardiocondyla
obscurior). Es ist deshalb von Vorteil, wenn sich bei ihnen günstige Mutationen
sofort in Merkmalen ausprägen können, denn nur dann können sie
einen Einfluß auf die sexuelle Selektion nehmen. Ein Merkmal, welches erst
bei den Enkeln zur Geltung käme, würde in diesem Zusammenhang nichts
nützen.Offenbar geht es bei der Evolution
also nicht nur um die Verbreitung der eigenen Gene, sondern ganz entscheidend
auch um deren Verbesserung. Die Reproduktion besitzt stets sowohl quantitative
als auch qualitative Aspekte, wobei letztere speziell bei höheren Lebewesen
von vorrangiger Bedeutung zu sein scheinen.Wenn
- wie bei vielen Ameisenarten - alle Arbeiterinnen Schwestern sind und sich genetisch
zu 75 Prozent gleichen, dann stellen ihre Gene kein Alleinstellungsmerkmal mehr
dar. Auch - und das ist ganz wichtig - besitzen Ameisenweibchen keine fälschungssicheren
Fitneßindikatoren. Solche Merkmale entfalten sich erst in der Konkurrenz,
wie sie nur unter den Männchen besteht.Erst
durch die sexuelle Auslese unter den Männchen und der dadurch bedingten überproportionalen
Ausbreitung der Gene der erfolgreicheren männlichen Exemplare entsteht so
etwas wie eine beschleunigte Evolution beziehungsweise Anpassung an den Lebensraum,
und erst hierdurch kommt ein ganz wesentlicher Vorteil getrenntgeschlechtlicher
Populationen zur Geltung.Aus Sicht ihrer Gene
verfolgen die beiden Geschlechter dabei recht unterschiedliche Strategien: Männchen
wollen, daß sich ihre Gene durchsetzen, während die Weibchen vor allem
an einer Verbesserung beziehungsweise Optimierung ihres genetischen Materials
interessiert sind, andernfalls wäre die Parthenogenese (Jungfernzeugung)
für sie die bessere Wahl. Daß dies tatsächlich so ist, läßt
sich selbst am weiblichen Partnerwahlverhalten in modernen menschlichen Gesellschaften
erkennen.Egoistisch im Sinne ihrer Gene verhalten
sich folglich in erster Linie männliche Individuen. Man könnte die Theorie
der egoistischen Gene deshalb gewissermaßen auch als male-centric
bezeichnen. (Ebd., S. 250-253).Sexuelle Arbeitsteilung
kann den Reproduktionserfolg erhöhen.Lebewesen
geht es vor allem um den eigenen Selbsterhalt und die Fortpflanzung. Aus diesem
Grund gliedern Soziobiologen - wie bereits im letzten Abschnitt (**)
erwähnt wurde - den Lebensaufwand eines Individuums in die beiden Unterbereiche
somatischer Aufwand und Reproduktionsaufwand, wobei ersterer primär
dazu dient, Reproduktionspotenzial zu akkumulieren und letzterer dazu, dieses
dann wieder zu verausgaben (vgl. Eckart Voland, Die Natur des Menschen,
2007, S. 84).Adam Smith rechnete in seinem Hauptwerk
»Der Wohlstand der Nationen« (1776) vor, daß ein Nagelmacher,
der alles selbst ausführt, pro Tag höchstens ein paar hundert Nägel
herstellen kann, während er in einer Nagelfabrik, in der die Arbeiten gemäß
dem Prinzip der Arbeitsteilung in kleine Einzelschritte zerlegt sind, umgerechnet
mehr als 4800 Nägel pro Tag produzieren kann. Eine arbeitsteilige Produktionsweise
kann folglich äußerst effizient sein.Aus
dem gleichen Grund kann es von Vorteil sein, die beiden zentralen Lebensaufgaben
zwischen den Geschlechtern aufzuteilen: Das männliche Geschlecht kümmert
sich dann vorwiegend um den Selbsterhalt und das weibliche um die Fortpflanzung.
Auch ist damit eine effizientere Erfüllung des Darwinschen Selektionsprinzips
möglich, welches von einer gleichzeitigen Optimierung der beiden Lebensaufgaben
Selbsterhalt und Fortpflanzung (übersetzt: »Individuen, die sich besser
selbsterhalten können, pflanzen sich häufiger fort«) spricht (siehe
dazu die Ausführungen im Abschnitt Central
Theoretical Problem of Human Sociobiology). Bei einer fehlenden Auftrennung
der genannten Lebensbereiche dürfte es dagegen immer zu Zielkonflikten kommen.Ist
der. Gesamtprozeß der Fortpflanzung (inklusive Erziehung, Bildu.ng und Sozialisation)
mit einem ähnlich hohen Aufwand verbunden wie die Ressourcenbeschaffung (Selbsterhalt),
könnte eine solch strikte sexuelle Arbeitsteilung gemäß den Berechnungen
Adam Smiths sogar reproduktiv leistungsfähiger sein als die Fortpflanzungsweise
von Hermaphroditen oder sich asexuell vermehrenden Populationen.Wie
im Abschnitt Menschliche
Paarungssysteme angemerkt wurde, sind die Anthropologen Kuhn und Stiner
der Ansicht, die spezifische menschliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtem
habe einen entscheidenden evolutionären Vorteil dargestellt, da es dem Homo
sapiens sapiens auf diese Weise gelungen sei, mehr Nachwuchs durchzubringen.
Bei den Homo sapiens neanderthalensis soll eine ähnlich strikte sexuelle
Arbeitsteilung nicht bestanden haben, was entscheidend zu deren Aussterben beigetragen
habe. Allerdings ging die menschliche sexuelle Arbeitsteilung mit einem Autonomieverlust
auf weiblicher Seite einher. (Ebd., S. 253-254).Sexualität
fördert die Entstehung sozialer Gemeinschaften.Die
Sexualität hatte maßgeblichen Anteil an der Entstehung sozialer Gemeinschaften.
Denn einerseits können sich in sexuell reproduzierenden Populationen die
Individuen nicht mehr selbstständig fortpflanzen, weswegen sie sich zunächst
um einen Sexualpartner bemühen müssen. Bei der anschließenden
Paarung handelt es sich dann um einen kooperativen Vorgang zum Zwecke der gemeinsamen
Fortpflanzung.Wenn die verschiedenen Individuen
einer Population ohnehin regelmäßig zusammenkommen müssen, damit
sie sich fortpflanzen können, dann erleichtert dies das Entstehen sozialer
Gemeinschaften, zumal die Mitglieder ihre Bedürfnisse (zum Beispiel Schutz)
darin oftmals in der Summe viel besser befriedigen können, als wenn sie auf
sich allein gestellt wären.Ein gewichtiges
Problem in sozialen Gemeinschaften stellt die soziale Arbeitsteilung dar (in Abgrenzung
zur sexuellen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern), denn dabei dienen die
verrichteten Arbeiten nicht mehr ausschließlich dem eigenen Selbsterhalt
(oder dem der eigenen Nachkommen), sondern ganz wesentlich auch dem Nutzen anderer.
In arbeitsteiligen sozialen Gemeinschaften haben besonders leistungsfähige
(fitte) Individuen oftmals besonders viel zu tun. Wenn sich beispielsweise ein
Individuum bei der Ressourcenbeschaffung oder der Feindbeobachtung sehr leicht
tut, dann dürfte es für die Gemeinschaft insgesamt von Vorteil sein,
dieses nun für solche Aufgaben verstärkt einzusetzen. Die restlichen
Individuen würden die verbliebenen Aufgaben dann unter sich aufteilen. Besonders
kompetente oder engagierte (beziehungsweise sozial eingestellte) Individuen hätten
dann aber weniger Zeit, sich um ihren eigenen Nachwuchs zu bemühen, wodurch
sich ihre Reproduktionschancen und damit auch ihr Reproduktionsinteresse reduzieren
dürften. Sie würden deshalb in der Folge weniger Nachkommen haben als
weniger gut angepaßte Individuen, was einer Verletzung des Prinzips der
natürlichen Selektion gleichkäme. In der Natur tritt die soziale Arbeitsteilung
deshalb stets in Kombination mit einer sexuellen Arbeitsteilung auf, weil sich
erst hierdurch soziale Arbeit und Evolutionsprinzipien miteinander vereinbaren
lassen.Dabei haben sich insbesondere zwei verschiedene
Modelle durchgesetzt: | Modell
MenschDie soziale
Arbeitsteilung beschränkt sich im wesentlichen auf die Männchen, die
im Gegenzug kaum etwas mit der Reproduktionsarbeit zu tun haben. Diese ist dann
in erster Linie die Aufgabe der Weibchen. | | Modell
InsektenDie soziale
Arbeitsteilung beschränkt sich im wesentlichen auf arbeitsame Weibchen (und
gegebenenfalls auch auf die Männchen), die im Gegenzug kaum etwas mit der
Reproduktionsarbeit zu tun haben. Die Fortpflanzung ist dann vor allem die Aufgabe
darauf spezialisierter Weibchen.Ein
entsprechendes Modell ist bei den Ameisen implementiert: Die verschiedenen sozialen
Arbeiten werden von unfruchtbaren Weibchen (Arbeiterinnen) ausgeübt, während
die Männchen lediglich der Befruchtung der Königinnen dienen, und wiederum
nur die können sich fortpflanzen. Vor dem Zugang zu den Königinnen müssen
sich die Männchen bewähren, und zwar entweder durch Ausscheidungskämpfe
oder durch sexuelle Selektion.In
meinen Büchern »Land
ohne Kinder« (2006), »Die
Familienmanagerin« (2006), »Hurra,
wir werden Unterschicht!« (2007) und »Familie
als Beruf« (2008) und zum Teil auch im Kapitel Demographischer
Wandel wird prognostiziert, daß sich das menschliche Modell unter
den Rahmenbedingungen der Gleichberechtigung der Geschlechter und der heute üblichen
niedrigen Sterblichkeit in manchen Aspekten strukturell an das Modell der sozialen
Insekten angleichen könnte (verstärkte reproduktive Arbeitsteilung unter
Frauen). | Soziale Gemeinschaften scheinen in der Natur
also bereits dann entstehen und sich auch halten zu können, wenn die darin
verrichteten sozialen Arbeiten nicht zu einer Reduzierung der persönlichen
Fortpflanzungschancen beziehungsweise Reproduktionsinteressen führen, die
Zusammenarbeit aber noch weitere Vorteile bietet. Die Ameisenarbeiterinnen stellen
sozusagen den Grenzfall dieser Regel dar: Ihr persönlicher potenzieller Fortpflanzungserfolg
ist nämlich gleich Null. Kooperative oder altruistische Handlungen können
ihre Fortpflanzungschancen folglich nicht weiter mindern. Allerdings können
die Arbeiterinnen auf diese Weise für eine stärkere Weitergabe ihrer
Gene an die nächste Generation sorgen, und zwar selbst dann, wenn sie - wie
etwa bei den Bienen - nur relativ schwach mit den anderen Töchtern der Königinnen
verwandt sind. Die folgenden Ausführungen zum Altruismus werden diesen Gesichtspunkt
noch weiter vertiefen. (Ebd., S. 255-256).Sexualität
erzeugt neue Interaktionsweisen.Bei vielen
biologischen Arten ist mit der Sexualität auch die Gefallenf wollen-Kommunikation
gekommen (siehe Abschnitt Gefallen-wollen-Kommunikation),
die nicht nur eine Vielfalt an neuen Lebensformen erzeugt hat, sondern auch ganz
neue Formen des gemeinsamen Zusammenlebens und der Interaktion ermöglichte.
Mit der Gefallen-wollen-Kommunikation ist der gegenseitige Respekt (die Zivilisation)
in die Welt gekommen. Davor ging es nur um fressen oder gefressen werden.
Ein Gefallen-wollen innerhalb der gleichen Population scheint ohne Sexualität
fund Getrenntgeschlechtlichkeit kaum vorstellbar zu sein. Allerdings kann dies
artenübergreifend im Einzelfall durchaus anders aussehen. Beispielsweise
könnte eine Baumsorte besonders schmackhafte Früchte entwickeln, damit
deren Kerne durch Nutznießer möglichst weit verstreut werden.Betrachten
wir zunächst eine Population aus lauter Hermaphroditen (Zwittern). Auch hier
könnten die einzelnen Individuen ihre potenziellen Fortpflanzungspartner
vor einer Paarung auf Fitneß testen, zum Beispiel, indem sie mit ihnen kämpfen
oder tanzen. Allerdings wäre ein solches Verfahren äußerst ineffizient,
da jeder Test die eigene Fitneß und die des potenziellen Partners reduziert.
Energetisch günstiger und auch unverbindlicher ist da schon die Begutachtung
fälschungssicherer Fitneßindikatoren. Fälschungssicher ist ein
Fitneßsignal aber nur, wenn zu seiner Hervorbringung tatsächlich eine
entsprechend hohe Fitneß erforderlich ist. Doch dann entsteht unmittelbar
das folgende Dilemma: Hat etwa ein hermaphroditischer Pfau enorme Energiemengen
in sein Fitneßsignal investiert, stünde ihm weniger Energie zur Aufzucht
seiner Nachkommen zur Verfügung, was ihn automatisch weniger attraktiv für
andere Fortpflanzungspartner macht, denn deren Gene würden durch ihn weniger
stark verbreitet. Sein Fitneßindikator würde sich folglich eher negativ
auf seinen Fortpflanzungserfolg auswirken. Also kämen vor allem Fitneßindikatoren
in Betracht, die nach der Befruchtung entweder wieder abgelegt oder idealerweise
sogar für die Nachwuchsarbeit genutzt werden können (zum Beispiel ein
besonders hoher Körperfettanteil). Die beiderseitige Fitneß wäre
auf diese Weise zwar durch die Fortpflanzungspartner testbar, jedoch nur auf eine
sehr limitierte Weise. Das eigentlich Charakteristische der Gefallen-wollen-Kommunikation,
nämlich das einseitige Sich-Anbieten und Gefallen-wollen (Altruismus; Bauen
einladender, luxuriöser Nester; Schenken von Blumen und Brillanten), das
sich aus der unterschiedlichen potenziellen Fruchtbarkeit und den unterschiedlichen
Reproduktionsaufwänden der beiden Geschlechter speist, könnte sich in
einer solchen Konstellation nicht ausbilden.Altruistische
Verhaltensweisen können sich in getrenntgeschlechtlichen Populationen
viel leichter als in sich auf andere Weise fortpflanzende Populationen durchsetzen,
da sie sich bei den Individuen, die die deutlich geringeren Reproduktionsaufwände
haben, nicht notwendigerweise nachteilig auf den Reproduktionserfolg auswirken
müssen, und zwar selbst dann nicht, wenn die einseitig erbrachten Leistungen
überhaupt nicht erwidert werden. Beim Menschen gilt das für die Männer,
bei den sozialen Insekten entsprechend für die unfruchtbaren Weibchen.Im
Abschnitt Kooperation
und Altruismus konnte darüberhinaus gezeigt werden, daß in
getrenntgeschlechtlichen Populationen altruistische Verhaltensweisen auf Seiten
der Männchen sogar eine Erhöhung des Reproduktionserfolges bewirken
können, da sie einem mit Fitneß assoziiertem Handicap (siehe Abschnitt
Fitneßindikatoren)
gleichkommen.Für fortpflanzungsfähige
und -willige Weibchen sieht die Situation dagegen ganz anders aus. Ein Weibchen,
welches einem anderen Weibchen bei der Aufzucht derer Jungen hilft, dabei aber
keine vergleichbaren Leistungen zurückerhält, beeinträchtigt möglicherweise
seinen eigenen Reproduktionserfolg, da ihm nun weniger Ressourcen für die
eigenen Jungen zur Verfügung stehen.Ganz
ähnlich sieht die Situation bei der asexuellen Fortpflanzung oder in Hermaphroditenpopulationen
aus. In allen diesen Fällen müssen kooperative oder altruistische Handlungen
vom Empfänger zeitnah und in vergleichbarer Stärke erwidert werden,
sonst sind sie für den Geber von Nachteil. Dies wurde in der Soziobiologie
anhand des Gefangenendilemmas aufgezeigt, welches nur unter ganz bestimmten Rahmenbedingungen
mittels Strategien wie TIT FOR TAT (»wie du mir, so
ich dir«, Fairneßprinzip) aufgelöst werden kann.Ein
entscheidender evolutionärer Vorteil getrenntgeschlechtlicher Populationen
scheint also zu sein, daß in ihnen eine Vielfalt an komplexen Interaktionsmustern
zwischen den Individuen entstehen kann, allen voran die Gefallen-wollen-Kommunikation,
aber auch der Altruismus.Kooperation könnte
sich allerdings auch bei asexueller Fortpflanzung und in Hermaphroditenpopulationen
ausbilden, und zwar insbesondere dann, wenn eine Gruppe auf diese Weise Aufgaben
bewältigen kann, denen ein einzelnes Individuum nicht gewachsen ist (etwa
das Erlegen eines sehr großen Beutetiers). Ein Beleg für die Möglichkeit
solcher Interaktionen wäre die Existenz kooperativen Verhaltens bei weiblichen
Tieren. Für gewöhnlich ist so etwas aber fast nur unter Verwandten zu
beobachten, wo eine Kooperation die Verbreitung der eigenen Gene fordert. So betreuen
bei Affen weibliche Familienangehörige die Nachkommen gemeinsam, und Löwinnen
eines Rudels - überwiegend Schwestern oder Mütter und Töchter -
unterstützen sich bei der Jagd.Simone de
Beauvoir meinte in ihrem Buch »Das andere Geschlecht« (1949) noch,
»daß der eigentliche Sinn der Unterteilung der Arten in zwei Geschlechter
nicht klar ist.« (Vgl. a.a.O., 1949, S. 28). Und weiter: »Die Phänomene
der ungeschlechtlichen Vermehrung und der Parthenogenese sind ebenso ursprünglich
wie die geschlechtliche Fortpflanzung. Diese ist, wie gesagt, nicht a priori bevorzugt,
doch weist keine Tatsache darauf hin, daß sie auf einen elementareren Mechanismus
zurückzuführen ist.« (Ebd., 1949, S. 33).Das
Kapitel Zivilisation
wird demgegenüber jedoch zeigen: Kultur, Zivilisation, Demokratie, Marktwirtschaft
und moderne Technik beruhen letztlich alle auf der Gefallen-wollen-Kommunikation
und sind ohne diese nicht vorstellbar. Die Grundlage jeglicher Kultur wurde bereits
gelegt, als die Männchen im Rahmen der Gefallen-wollen-Kommunikation lernen
mußten, ihre Triebe so lange zu beherrschen, bis ein Weibchen seine Einwilligung
zum Fortpflanzungsakt gab. Entsprechende Verhaltensmuster haben jedoch nur in
getrenntgeschlechtlichen Populationen Sinn. (Ebd., S. 257-259).Sexualität
kann Evolutionen ohne äußeren Selektionsdruck bewirken.Im
Abschnitt Fitneßindikatoren
konnten - anhand theoretischer Überlegungen und eines Beispiels - die folgenden
Zusammenhänge nachgewiesen werden: | Die
getrenntgeschlechtliche Fortpflanzung in Verbindung mit der unterschiedlichen
Fruchtbarkeit von männlich versus weiblich und den damit zusammenhängenden
geringeren Elterninvestments des männlichen Geschlechts kann für (eine
beschleunigte) Evolution sorgen, und zwar selbst dann, wenn die Reproduktion der
gesamten Population nicht einmal mengenmäßig bestandserhaltend ist.
Die in verschiedenen Fassungen der Darwinschen Evolutionstheorie genannte Fruchtbarkeitsvoraussetzung
für die natürliche Auslese, zum Beispiel»Alle
Populationen sind so fruchtbar, daß ihre Größe ohne Beschränkungen
exponentiell zunehmen würde.« (Ernst Mayr, Das ist Evolution,
2005, S. 148).oder | | »Pflanzen
und Tiere produzieren mehr Nachkommen, als die Umwelt ernähren kann.«
(Manuela Lenzen, Evolutionstheorien in den Natur- und Sozialwissenschaften,
2003, S. 49).kann
dann entfallen. Für eine Evolution genügt es bereits, wenn die Summe
der männlichen Reproduktionsinteressen größer ist als die Summe
der weiblichen Reproduktionsinteressen (beziehungsweise deren Reproduktionskapazitäten).
Im Vordergrund würde dann allerdings nicht mehr der Kampf ums Dasein (Konkurrenz
um natürliche Ressourcen wie Nahrung oder Raum) stehen, sondern der Wettbewerb
um Fortpflanzungspartner. All dies macht deutlich, daß die eigentliche Triebfeder
der Evolution das den Lebewesen innewohnende Eigeninteresse (Selbsterhaltungs-
und Reproduktionsinteresse) ist und nicht die natürliche Auslese beziehungsweise
Survival of the Fittest. | | Auf
Dauer wird der beschriebene Mechanismus der sexuellen Selektion aber nur dann
funktionieren, wenn die Partnerwahlpräferenzen der wirklichen Fitneß
der Fortpflanzungspartner (in Relation zum Lebensraum) entsprechen. Im Beispiel
war dies der Fall. | Mit anderen Worten: Befinden sich
bei einer biologischen Art die im Rahmen der sexuellen Selektion verwendeten
Fitneßindikatoren im Einklang mit der wirklichen Fitneß der Sexualpartner,
dann wird auf das Geschlecht, welches die durchschnittlich höhere potenzielle
Fruchtbarkeit aufweist (üblicherweise das männliche Geschlecht) ein
künstlicher Selektionsdruck ausgeübt, so daß für die weitere
Evolution der biologischen Art ein äußerer, durch den Lebensraum ausgeübter
Selektionsdruck (natürliche Selektion) nicht länger erforderlich
ist. Die Spezies könnte selbst dann evolvieren, wenn die Populationszahlen
zurückgehen.Das männliche Geschlecht
muß sich dabei aber - speziell im Zusammenwirken mit der Gefallen-wollen-Kommunikation
respektive sexuellen Selektion - nicht nur ganz intensiv fortpflanzen »wollen«,
sondern es muß auch Mitglieder des anderen Geschlechts von sich überzeugen
können, das heißt gefallen. Hierfür sind gegebenenfalls jede Menge
Energie, Einsatzwillen und manchmal eben auch Innovationen erforderlich.Insgesamt
kann festgehalten werden:Mit der getrenntgeschlechtlichen
Fortpflanzung kam die Gefallen-wollen-Kommunikation, und die ersetzt | Kampf
durch Wettbewerb, | | Dominanz
durch Gefallen-wollen, | | Fressen-und-Gefressen-werden
- und damit den Tod - durch Respekt, Kultur und Geschmack und | | Stärke
durch Innovation, | ohne dabei auf den ständigen
Überlebenskampf einer viel zu großen Schar an Nachkommen angewiesen
zu sein. Sie ermöglicht das Entstehen eigenständiger Evolutionsumgebungen,
in denen der Wettbewerb um den Geschmack und die Präferenzen einer Gruppe
von Selektierern im Vordergrund steht. (Ebd., S. 259-261).Sexualität
ist verschwenderisch.Die wesentlichen Gründe
dafür wurden bereits genannt: | In
getrenntgeschlechtlichen Populationen müssen gegenüber anderen Reproduktionsarten
doppelt so viele Individuen »produziert« werden. | | Die
in getrenntgeschlechtlichen Populationen häufig anzutreffende Gefallen-wollen-Kommuikation
ist per se verschwenderischer als die dominante Kommumkation (siehe Kapitel Verschwendung). | | Bei
der sexuellen Selektion (Gefallen-wollen-Kommunikation) kommen meist ausgesprochen
verschwenderische Fitneßindikatoren (Handicaps) und Werbemaßnahmen
(siehe Kapitel Verschwendung)
zum Einsatz. | Man könnte geneigt sein, die aufgelisteten
Punkte allesamt unter Die
Nachteile der Sexualität aufzuführen. Allerdings soll der Begriff
Vorteil hier im Sinne »evolutionärer Vorteil« verstanden werden,
und dann könnte man die Dinge auch genau anders herum betrachten.Einige
Wissenschaftler behaupten nun aber, beim Leben handele es sich um eine dissipative
Struktur, die sich im Nichtgleichgewichtssystem Erde zur Ausgleichung sonneninduzierter
Gradienten ausbildet, und dabei ihren lokalen Organisationsgrad um den Preis der
Entropieerzeugung in der Umgebung erhält (siehe Abschnitt Leben
als dissipative Struktur [**]).
Ihr Fazit ist, das Leben schaffe Ordnung aus Unordnung, allerdings im Dienst der
Erzeugung von noch mehr Unordnung.Ganz ähnlich
sieht dies Jacques Neiryncks in seinem 1994 veröffentlichten Buch »Der
göttliche Ingenieur« (siehe Abschnitt Globalisierung).
Argumentiert man in dieser Weise vor dem Hintergrund des 2.
Hauptsatzes der Thermodynamik (Entropiesatz), dann könnte man durchaus
folgern: Getrenntgeschlechtliche Sexualität ist verschwenderischer als andere
Fortpflanzungsweisen. Mithilfe der Gefallen-wollen-Kommunikation ist sie in der
Lage, die Ressourcen (inklusive Energie) der Natur und vorhandene Nischen stärker
auszunutzen, als dies andere Reproduktionsarten tun werden und können. Sie
dürfte sich deshalb allein schon aus energetischen Gründen durchsetzen.
(Ebd., S. 261-262).
4.30.3) Zusammenfassung
Die Vorteile der genetischen Rekombination
waren sicherlich von sehr großer Bedeutung für die Entstehung und Durchsetzung
der Sexualität, allerdings erklären sie noch nicht, warum sich die getrenntgeschlechtliche
Fortpflanzung bei höheren Lebewesen gegenüber dem Hermaphroditismus
durchgesetzt hat. Die auf den letzten Seiten dargelegten Analysen lassen dafür
nur einen Schluß zu: Der entscheidende evolutionäre Vorteil getrenntgeschlechtlicher
Populationen resultiert aus dem Unterschied in der patenziellen Fruchtbarkeit
von männlich versus weiblich (vgl. Eckart Voland, Die Natur des Menschen,
2007, S. 49) und den damit verbundenen geringeren Elterninvestments des männlichen
Geschlechts. Solche Populationen sind Hermaphroditen und sich asexuell fortpflanzenden
Populationen gegenüber zwar häufig quantitativ unterlegen, jedoch
bezüglich der qualitativen Verbesserung des Genpools (beschleunigte
Evolution) weit überlegen. Darüberhinaus können sich erst in ihnen
komplexere Interaktionsweisen wie Gefallen-wollen-Kommunikat.ion und Altruismus
ausbilden und durchsetzen. Bei der Sexualität geht es somit ganz wesentlich
auch um Kommunikation. (Ebd., S. 262).Mit der auf der sexuellen
Fortpflanzung beruhenden Gefallen-wollen-Kommunikation sind der gegenseitige Respekt
und die Kultur in die Welt gekommen. Davor drehte sich praktisch alles nur ums
Fressen-oder-Gefressen-Werden. Erst die Sexualität hat die moderne
Welt möglich gemacht. (Ebd., S. 262).
4.31) Systemische Evolutionstheorie und Selektionen
In den
Kapiteln Zivilisation
und Verschwendung
werden der Modernisierungsprozeß und einige damit verbundene günstige,
aber auch ungünstige Begleiterscheinungen ganz entscheidend auf die Verdrängung
dominanter Kommunikationsweisen durch die Gefallen-wollen-Kommunikation
zurückgeführt. Bei vielen Erklärungen wird gleichzeitig behauptet,
die zugrunde liegende Theorie sei die Systemische Evolutionstheorie. (Ebd.,
S. 262-263).Nun könnten Sie vielleicht argumentieren, dies
seien doch zwei verschiedene Paar Schuhe. Auf der einen Seite beinhalte das vorliegende
Buch eine Systemische Evolutionstheorie, und die könne man im entsprechenden
Abschnitt Systemische
Evolutionstheorie nachlesen, und auf der anderen Seite eine Theorie zur
gesellschaftlichen Selektions- und Kommunikationstechnik, und dafür stünde
das Kapitel Selektionen.
Beide Dinge hätten aber rein gar nichts miteinander zu tun. (Ebd.,
S. 263).Dem ist leider nicht so, auch wenn es vielleicht bislang
noch nicht ganz deutlich geworden ist. Die Darwinsche Evolutionstheorie setzt
sich aus zwei unabhängigen Teiltheorien zusammen, wobei es in beiden Fällen
ganz wesentlich um Selektionen geht: | Die
natürliche Selektion erklärt, wie Evolution im allgemeinen funktioniert.
Dabei steht die Anpassung an eine sich gleichfalls wandelnde Umwelt im Vordergrund. | | Die
sexuelle Selektion hat die geschlechtliche Fortpflanzung und den Adaptionsprozeß
an (weibliche) Partnerwahlpräferenzen zum Thema. | Im
vorliegenden Kapitel konnte gezeigt werden, daß der Natur mit Einführnng
der sexuellen Selektion ein entscheidender Durchbruch gelungen ist, da sie nun
selbst dann für knappe Ressourcen und damit für eine beschleunigte Evolution
sorgen kann, wenn der Lebensraum einer Population keine weiteren Einschränkungen
aufweist. Im Prinzip wurde hierdurch für das männliche Geschlecht eine
eigenständige »sekundäre« selektive Umwelt geschaffen: die
Weibchen, um deren begrenzten Zugang es nun ging. Und dies war dann oft mit deutlich
größeren Mühen verbunden, als die ausreichende Erlangung von Ressourcen
zum eigenen Lebensunterhalt. (Ebd., S. 263).Bei der sexuellen
Selektion handelt es sich somit quasi um einen Turbolader der Evolution. Sie steht
nicht im Widerspruch zur natürlichen Selektion, sondern ergänzt sie.
Allerdings - und auch darauf wurde mehrfach hingewiesen - kann es unter ihrer
Regie zu Selbstläuferprozessen kommen, bei den eigenständige Merkmale
und Phänomene hervorgebracht werden, die sich gelegentlich auch als ausgesprochen
ungünstig für die Überlebensfähigkeit einer Art erweisen können.
(Vgl. Konrad Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit,
1973, S. 32). (Ebd., S. 263-264).Was
die sexuelle Selektion für die Darwinsche Evolutionstheorie
ist, ist nun die Gefallen-wollen-Kommunikation für die Systemische
Evolutionstheorie: sie schafft eigenständige selektive Umwelten, in denen
dann autonome evolutive Prozesse ablaufen können. Anders gesagt: Die Gefallen-wollen-Kommunikation
erzeugt den Rahmen; sie erstellt die evolutive Infrastruktur. Anschließend
gestaltet sich darin alles gemäß den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie.
(Ebd., S. 264).
Dies hat erhebliche Konsequenzen. Denn offenbar
hat die Evolution bislang nicht nur verschiedene biologische Arten, sondern
auch noch unterschiedliche Interaktionsweisen - und damit dann auch neue
Evolutionsinfrastrukturen hervorgebracht. Anders gesagt: Die Evolution
hat es gelernt, sich selbst zu reproduzieren. Es gibt seitdem nicht mehr
nur eine Evolution, sondern derer viele. (Ebd., S. 264).
Kamen die Selektionsfaktoren zunächst
ausschließlich aus der Natur - weswegen es dafür dann folgerichtig
auch natürliche Selektion hieß -, so beziehen sie sich
nun mehrheitlich auf fremde Gehirne mit ihren subjektiven Erlebnisgehalten,
inneren Zuständen und Welten, wobei letztere gemäß den
Vorstellungen der Evolutionären Erkenntnistheorie mit der
realen Welt sehr weit in Passung sein dürften. (Vgl. Gerhard Vollmer,
Biophilosophie, 1995, S. 107ff.). In allen modernen Evolutionsinfrastrukturen
stehen nun also der Selektionsfaktor »persönlicher Geschmack«
und die Gefallen-wollen-Kommunikation im Vordergrund. (Ebd., S.
264).
4.32) Evolution und Systembildung
Die Evolution auf der Erde
kann gemäß den bislang erzielten Resultaten auch als ein Prozeß der Hierarchisierung von Systemen (Systemelemente strukturieren sich zu übergeordneten
Systemen) beschrieben werden: | Auf
der untersten Ebene entstanden zunächst die autopoietischen Systeme erster
Ordnung (Zellen, Einzeller) mit einem eigenständigen Selbsterhaltungs- und
Reproduktionsinteresse, die sich selbst reproduzieren konnten. Die Evolution beschränkte
sich zu Beginn auf diese Systemebene. | | Zu
einem späteren Zeitpunkt bildeten sich komplexere Systeme (Mehrzeller, Organismen,
autopoietische Systeme zweiter Ordnung), in denen oft viele Billionen Zellen eingepfercht
im Dienste übergeordneter Systeme zusammenarbeiten. Die neuen Einheiten besaßen
gleichfalls eigenständiges Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteresse und
konnten sich selbst reproduzieren. Der erstmalige Zeitpunkt der Organismusbildung
ist nicht bekannt. Die heute vorhandenen Baupläne entstanden aber wohl fast
alle im Kambrium (also: vor ungefähr 570 bis 495 Milliarden
Jahren; HB). Die Evolution der Organismen brachte die Artenvielfalt hervor. | | Auf
Basis der Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit des Menschen entstanden
schließlich die Superorganismen (soziale Systeme, Gemeinschaften, Gesellschaften,
Organisationssysteme). Diese binden Menschen über Kontrakte (siehe Abschnitt
Systembindungen)
und gegebenenfalls andere Mechanismen zu größeren Einheiten zusammen.
Die diese Weise gebildeten Systeme besitzen ebenfalls ein eigenständiges
Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteresse. Anders als die beiden lang genannten
Systemtypen reproduzieren sie sich jedoch nicht durch das Erstellen von Kopien,
sondern durch die interne Erneuerung ihrer Elemente, Strukturen und Kompetenzen.
Die Evolution der Superorganismen bringt maßgeblich das moderne Leben hervor
(technische, soziale, kulturelle, wissenschaftliche Evolution). Aus einer Makrosicht
dürfte diese Evolution nun alle anderen Entwicklungsebenen dominieren. | Im
Grunde kann der Prozeß der Systemhierarchisierung auch als eine Abfolge
von sich abwechselnden konkurrierenden und kooperativen Phasen verstanden werden: | Konkurrenzphase:
Zunächst konkurrieren Systeme in einem Lebensr. um Ressourcen. | | Kooperationsphase:
Verschiedene Systeme beginnen zum Zwecke Befriedigung gemeinsamer Bedürfnisse
miteinander zu kooperieren. Die verschiedenen Subsysteme (Elemente) der Kooperationsgemeinschaften
schließen sich immer enger zusammen, so daß Einzelsysteme ihnen genüber
nun erheblich im Nachteil sind. Die Kooperationen werden schließlich so
eng, daß sich die Elemente zu eigenständigen selbsterhaltenden Systemen
(einer neuen Systemebene) verbinden. | | Konkurrenzphase:
Nun konkurrieren die neu gebildeten Systeme (einer höheren Systemebene)
untereinander um die Ressourcen ihres Lebensraums. | Wie
bereits im Abschnitt Biologische
Evolutionstheorie erwähnt wurde, ist für Joachim Bauer (Prinzip
Menschlichkeit, 2006) der biologische Antrieb des Lebens nicht die Konkurrenz,
sondern die Kooperation, weshalb er weite Teile der Evolutionstheorie in Frage
stellt. Demgegenüber scheinen Konkurrenz und Kooperation jedoch keine sich
widersprechenden, sondern sich ergänzende Selbsterhaltungsstrategien zu sein.
Im gewissen Sinne ist nämlich Kooperation lediglich Konkurrenz auf einer
höheren Ebene. (Ebd., S. 264-266). Die biologische Evolution
beschränkt sich gemäß den obigen Ausführungen auf Ein- und
Mehrzeller, das heißt, auf die beiden unteren Systemebenen, während
die technische, soziale, kulturelle und wissenschaftliche Evolution primär
eine Sache der Superorganismen und damit der dritten Systemebene ist. Die Evolution
bringt also nicht nur immer komplexere Organismen, sondern auch zunehmend höhere
Systemebenen hervor, die dann natürlich ihren eigenen evolutiven Entwicklungen
unterliegen. (Ebd., S. 266). Der Prozeß der Evolution
auf der Erde könnte zusammenfassend annäherungsweise wie folgt dargestellt
werden: | Zunächst
evolvierten ausschließlich Einzeller und Organismen. Die vorherrschende
Interaktionsweise war zu dieser Zeit noch die dominante Kommunikation: Fressen
und gefressen werden. Alle Arten optimierten sich gemäß diesesParadigmas. | | Mit
der sexuellen Fortpflanzung kam dann die Gefallen-wollen-Kommunikation, auf deren
Basis eigenständige, marktmäßige Evolutionsumgebungen entstanden.
Nun bildeten sich bei den Lebewesen erstmalig Merkmale aus, die zwar den spezialisierten
Marktanforderungen genügten, einer optimalen Anpassung an den sonstigen Lebensraum
jedoch eher im Wege standen. Beispiele dafür sind die Pfauenschweife, aber
auch viele Funktionen des menschlichen Gehirns. | | Die
ungeheure Kooperationsfähigkeit des menschlichen Gehirns erlaubte dann das
flexible Entstehen von Superorganismen, die sich wiederum in eigenständigen
Evolutionsumgebungen - meist Märkten auf Basis der Gefallen-wollen-Kommunikation
- weiterentwickelten. Dabei brachten sie unter anderem die Evolution der Technik,
der Wissenschaften und der Kultur hervor. | Insgesamt
darf vermutet werden: Auf der Erde entsteht letztlich alles durch Evolution, also
nicht nur Bakterien, Pflanzen und Tiere, sondern Autos, Mobiltelefone, Zahnbürsten,
Organisationen wie Banken und Technologiekonzerne, Religionen, Moralvorstellungen,
Hypothesen, Wahrheiten und wissenschaftliche Arbeiten ebenso, und zwar gemäß
den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie. (Ebd.,
S. 266-267).
4.34) Was ist Leben?
4.34.2) Leben als Erkenntbisprozeß
Ein anderer Erklärungsansatz
des Lebens ist, daß Lebewesen die Fähigkeit besitzen, sich selbst als
Subjekt gegenüber einer sich von ihnen unterschi denden Umwelt (Objekt) zu
erleben (siehe dazu den Abschnitt Leben
als Prozeß des Erkennens). Für lebende Systeme besteht
somit nicht nur eine System-Umwelt-Differenz, sondern solche Systeme können
die Differenz erkennen beziehungsweise auch definieren, was es ihnen ermöglicht,
sich als Subjekt aktiv selbstzuerhalten. (Ebd., S. 280).Gemäß
Adolf Heschl besitzen Lebewesen ein aktives Wissen um das Wie der Erhaltung der
eigenen Existenz (vgl. Adolf Heschl, Das intelligente Genom, 1998, S. 55f.).
Die Evolution des Lebens wird infolgedessen mit dem Prozeß der Erkenntnisentstehung
gleichgesetzt (vgl. ebd., S. 61). (Ebd., S. 280).Grundlage
des Erkennens scheinen vor allem zwei Kompetenzen zu sein: | Die
Fähigkeit, Zufall und Notwendigkeit (Unordnung und Ordnung) unterscheiden
beziehungsweise Regelmäßigkeiten innerhalb der eigenen Umgebung erkennen
zu können. | | Die
Fähigkeit, zwei regelmäßig aufeinander folgende Ereignisse für
ursächlich verknüpft zu halten. | Beide Kompetenzen
stellen einen evolution ären Vorteil dar, da sie die Adaptionsfähigkeit
des Individuums an den Lebensraum - und damit dessen Selbsterhalt - verbessern.
Beispielsweise erlaubt das Erkennen von Ordnung innerhalb einer ansonsten ungeordneten
Welt das Entdecken von Systemen geringer Entropie. Solche Systeme können
einerseits eine Gefahr darstellen (Fressfeind), andererseits aber auch von Nutzen
sein (Nahrung, Fortpflanzung). (Ebd., S. 280).Die Fähigkeit
des Herstellens von Kausalitäten bei regelmäßig aufeinandl folgenden
Ereignissen ermöglicht es einem Individuum, sich schon dann auf ein bestimmtes
Ereignis vorzubereiten, wenn dieses noch gar nicht eingetreten ist. Statt von
Erkenntnisentstehung könnte man im Rahmen der Evolution abgeschwächter
auch von biologischer Informationsentstehung sprechen:»Information
entsteht aus Nicht-Information. Dabei darf es sich nicht lediglich um eine die
Information sichtbar machende Transformation handeln. Der Zustand des Systems
nach der Entstehung von Information ist ein völlig neuartiger. Der damit
verknüpfte Prozeß ist irreversibler Natur. Der vorherige - informationsärmere
- Zustand ist aufgrund der neuen Information instabil geworden und somit irreversibel
vergangen.So etwa
könnte eine physikalische Interpretation des Darwinschen Prinzips lauten.
Diesem Prinzip zufolge breitet sich das besser angepaßte Neue aus, nachdem
es einmal - wie auch immer - entstanden ist, und ersetzt das weniger angepaßte
Alte. So baut sich das Komplizierte aus dem Einfachen auf, in der Evolution vom
Einzeller bis hin zum Menschen. Evolution beschreibt die Entstehung von Information.
Fixiert ist diese Information in den Genen der Lebewesen.« (Manfred Eigen,
Stufen zum Leben, 1987, S. 55). | Die Semantik
(Bedeutung) der Information entsteht dabei allerdings erst im fortlaufenden Anpassungsprozeß
an den Lebensraum:»Die
Umwelt stellt quasi eine extern lokalisierte Information dar, an der die Semantik
der genetischen Information selektiv bewertet wird. Und zwar ist der semantische
Informationsgehalt eines Lebewesens umso häherwertig, je besser es an seine
Umweltbedingungen angepaßt ist, das heißt, je genauer und schneller
es bei gleichzeitig hoher Lebensdauer seinen Informationsgehalt reproduziert.«
(Bernd-Olaf Küppers, Leben = Physik + Chemie?, 1987, S. 30). | Die
Fixierung der Information in den Genen sorgt dafür, daß ein einmal
erreichter Ordnungsgrad generationenübergreifend konserviert wird. So kann
Ordnung aus Ordnung entstehen (vgl. Erwin Schrödinger, Was ist Leben?,
1948, S. 12Iff.). Allerdings stellten die Gene nur das erste Stadium dieses Informationserhaltungsprozesses
dar. (Ebd., S. 280-281).Informationstheoretisch könnte
man den Evolutionsprozeß nämlich stark vereinfacht wie folgt darstellen: | Zunächst
kann sich ein einfaches Lebewesen als Ordnungszustand gegenüber seiner Umwelt
erkennen. Diese Fähigkeit ermöglicht es ihm, sich selbstzuerhalten und
zu reproduzieren. | |
Einem Nachfolger in
einer späteren Generation gelingt es dann sogar, den einen
oder anderen Ordnungszustand beziehungsweise die eine oder andere
Regelmäßigkeit innerhalb seiner ansonsten ungeordneten
Umwelt wahrzunehmen und daraus einen Vorteil zu gewinnen (zum Beispiel
in der folgenden Weise: »Wenn ich gegen einen Widerstand stoße,
ist der in aller Regel größer als ich. Am besten komme
ich voran, wenn ich meine Fortbewegungsrichtung ändere.«).
Die
Wahrnehmungsfähigkeit von Regelmäßigkeiten und das an sie angepaßte
Verhalten stecken zu diesem Evolutionszeitpunkt noch ausschließlich in den
Genen der Lebewesen. Die Evolution verläuft rein darwinistisch. | | Später
kommen dann ausgefeilte Wahrnehmungsorgane und ein Nervensystem hinzu. Die Lebewesen
werden also lernfähig. Sie können selbstständig neue Regelmäßigkeiten
in ihrer Umgebung erkennen und ihr Verhalten daraufuin dynamisch anpassen. Sie
können ihre Strategien im Umgang mit Regelmäßigkeiten innerhalb
ihrer Umwelt in einem eingeschränkten Umfang ändern und hierdurch ihren
Selbsterhalt und ihren Reproduktionserfolg verbessern. | | Schließlich
erreicht das Nervensystem eine solche Reife, daß das Lebewesen Erfahrungen,
die von anderen Mitgliedern seiner Population gemacht wurden (etwa seinen Eltern),
übernehmen kann, zum Beispiel durch Imitation oder durch Lernen. Spätestens
ab hier verhält sich die Evolution nicht länger rein darwinistisch .... | | Der
moderne Mensch legt einen Großteil seines Wissens über seine Umgebung
zeichenbasiert ab. Nur ein Teil der von ihm nutzbaren Information über seinen
Lebensraum befindet sich in seinen Genen. Nun können Menschen von allen anderen
und gegebenenfalls längst verstorbenen Menschen profitieren. | Der
Erkenntnisprozeß-Ansatz ist in der Lage, einiges zur Klärung des Begriffs
des Lebens beizutragen, zumal er sowohl die Entstehung von individuellen Selbsterhaltungs-
und Reproduktionsinteressen verständlich macht, als auch einen Bezug zur
Evolution herstellt. (Ebd., S. 281-282).
4.34.3) Lebewesen als autopoietische Systeme
Mit den Begriffen
Autopoiesis und autopoietisches System schlugen die chilenischen Biologen Humberto
Maturana und Francisco Varela eine systemtheoretische Definition für das,
was lebende Systeme sind, vor. Vereinfacht ausgedrückt besagt ihr Ansatz:
Lebende Systeme machen sich selbst. Lebewesen zeichnen sich vor allem dadurch
aus, daß bei ihnen Produkt und Produzent zusammenfallen:»Das
gegenwärtige biochemische Wissen erlaubt es uns, lebende Systeme als sich
selbst erzeugende Systeme zu bezeichnen, die ihre eigenen Grenzen bestimmen und
aufbauen. .... Solche Systeme nenne ich autopoietische Systeme, und die Organisation
eines autopoietischen Systems nenne ich eine autopoietische Organisation. Ein
autopoietisches System, das durch physikalische Bestandteile verwirklicht wird,
ist ein lebendes System.« (Humberto Maturana, a.a.O., S. 280). | Der
autopoietische Ansatz vermeidet es, Lebewesen durch das Aufzählen von Eigenschaften
und Beziehungen zu beschreiben. Stattdessen definiert er sie über die Art
und Weise, wie sie sich konstruieren. (Ebd., S. 285).Gemäß
Maturana und Varela sind autopoietische Systeme strukturdeterminiert. Sie
interagieren zwar mit ihrer Umwelt (strukturelle Kopplung), werden durch
diese aber bestenfalls gestört (perturbiert), keineswegs determiniert. Ihre
konkreten Systemzustände werden somit nicht von der Umwelt, sondern vom System
selbst bestimmt (Strukturdeterminiertheit). In diesem Sinne operieren sie autonom.
Strukturdeterminierte Systeme können nur das wahrnehmen und ausführen,
was sich in ihren inneren Systemzuständen widerspiegelt. Sie können
nur das lernen, was sich ihrer inneren Struktur zufügen läßt.
Adolf Heschl behauptet deshalb, lebende Systeme könnten im Laufe ihres Lebens
zu keiner wirklich neuen Erkenntnis gelangen, sondern nur zu der, die bereits
in ihren Genen angelegt ist (vgl. Adolf Heschl, Das intelligente Genom,
1998). (Ebd., S. 285-286).Gegen die Definition von Lebewesen
als autopoietische Systeme lassen sich einige Einwände vorbringen: | Menschen
können lebende Systeme für gewöhnlich problemlos an deren Verhalten
erkennen. Sie müssen dafür nicht ungedingt etwas über die Art und
Weise, wie diese sich konstruieren, wissen. Auf der anderen Seite gehört
die Fähigkeit zum Wachstum - die durchaus etwas mit der Autopoiesis zu tun
hat - sicherlich zu den wichtigsten Eigenschaften, anhand derer Menschen Objekte
als Lebewesen charakterisieren. | | Das
Konzept der Autopoiesis liefert zwar ein systemtheoretisches Modell für die
Ontogenese lebender Systeme, kann aber nicht erklären, warum sich Lebewesen
fortpflanzen. Damit wird deren Phylogenese vollständig aus der autopoietischen
Lebensbeschreibung ausgeblendet. Ein Bezug zur Evolutionstheorie ist dann kaum
mehr herstellbar. | | Gleichfalls
kann aus der Autopoiesis nicht schlüssig abgeleitet werden, warum sich Lebewesen
selbsterhalten (und damit leben) wollen. (Ebd., S. 286). |
4.34.4) Leben als dissipative Struktur **
Eine
andere Theorie behauptet, Leben sei eine dissipative Struktur, die sich im Nichtgleichgewichtssystem
Erde zur Ausgleichung sonneninduzierter Gradienten ausbildet, und dabei ihren
lokalen Organisationsgrad um den Preis der Entropieerzeugung in der Umgebung erhält.
Eng damit verwandt sind auch Vorstellungen vom Leben als selbstorganisatorische
komplexe Systeme, die sich innerhalb gewisser Freiheitsgrade und aufgrund der
auf der Erde vorherrschenden energetischen Verhältnisse selbst koordinieren.
Eine eingehende Darstellung und Diskussion solcher Auffassungen findet sich im
Abschnitt Leben
als dissipative Struktur. Dort wurden allerdings auch einige Einwände
gegenüber den genannten Vorstellungen formuliert, zum Beispiel: |
Der im Bénard-Experiment
beobachtete Materietransport findet bei Lebewesen eben gerade nicht
statt. |
| Das
Konzept der Autopoiesis liefert zwar ein systemtheoretisches Modell für die
Ontogenese lebender Systeme, kann aber nicht erklären, warum sich Lebewesen
fortpflanzen. Damit wird deren Phylogenese vollständig aus der autopoietischen
Lebensbeschreibung ausgeblendet. Ein Bezug zur Evolutionstheorie ist dann kaum
mehr herstellbar. | | Die
umfangreiche Artenvielfalt in den Weltmeeren dürfte sich nur schwer mit einer
Theorie des Lebens als dissipative Struktur in Einklang bringen lassen. Es läßt
sich auf diese Weise nicht erklären, warum die Menschheit die von der Sonne
auf die Erde einströmende Energie nicht nur nutzt (beziehungsweise degradiert),
sondern auch noch künstlich zu steigern versucht (fossile Brennstoffe, Atomkraftwerke,
Fusionsreaktoren u.s.w.), so daß es mittlerweile (vielleicht!
HB) sogar zu einem globalen Temperaturanstieg auf der Erdoberfläche
gekommen ist. | Auch liefert die Theorie keinen Beitrag
zur Beantwortung der Frage, worin sich ein belebtes (lebendes) von einem unbelebten
System unterscheidet. (Ebd., S. 286-287).Die vorrangige Betrachtung
des Lebens aus energetischer beziehungsweise thermodynamischer Sicht ist unter
Naturwissenschaftlern sehr beliebt. Bereits Erwin Schrödinger beschritt in
Was ist Leben? (das Buch erschien 1948) maßgeblich diesen Weg, und
auch der größte Teil des Eingangskapitels Leben
argumentiert ganz in diesem Sinne. (Ebd., S. 287).Peter W.
Atkins faßt die dahinterstehende Idee in knappen Worten wie folgt zusammen:»Solange
wir unsere Zellen regenerieren können, indem wir uns in der Außenwelt
konzentrierte Energie von hoher Qualität beschaffen und einen Teil davon
unseren Zellen zugänglich machen, läßt sich unsere Komplexität
erhalten. Unter diesem wenig tröstlichen, aber realistischen Blickwinkel
betrachtet, erweist sich das Leben also als Kampf (als Kampf, der letztlich nicht
von Absicht, sondern von Ausbreitung bestimmt wird). Wir kämpfen darum, minderwertige
Energie an die Umgebung loszuwerden und Energie von hoher Qualität aus ihr
herauszuholen. Im gewissen Sinne mindern wir die Qualität der Außenwelt,
um die unseres Innenlebens zu steigern, Die Nahrungskette - Menschen essen Kühe,
Kühe essen Gras, Gras ißt Berge und lebt von Sonne - ist im Laufe der
Evolution als vielfältig verzahnter Ausbreitungsmechanismus entstanden. Es
besteht keine Notwendigkeit, nach einem verborgenen Zweck Ausschau zu halten:
Die Energie hat ihren Ausbreitungsprozeß fortgesetzt, und der hat zufällig
Elefanten und erhabene Ideen hervorgebracht.« (Peter W. Atkins, Schöpfung
ohne Schöpfer, 1984, S. 53ff.). | Die zitierte
Argumentation ist sicherlich elegant und in sich schlüssig, jedoch bleibt
sie an einer entscheidenden Stelle ungenau. Sie erklärt nämlich nicht,
warum sich das Leben mit all seiner hochkonzentrierten Energie unbedingt selbsterhalten
und darüber hinaus auch noch ausbreiten will. Anders gesagt: Sie blendet
die zentralen Eigenschaften des Lebens aus, wodurch sie natürlich auch keinen
Bezug zur Evolutionstheorie herstellen kann. (Ebd., S. 287-288).
Ein solcher Bezug wäre aber wesentlich, denn die Systemische
Evolutionstheorie erklärt ja nicht nur, warum auf der Erde Menschen,
Computer und erhabene Ideen entstanden sind, sondern vor allem auch, wie
das geschehen konnte. Und sie erklärt, wie diese Dinge dann auch
noch auf den unbelebten und lebensfeindlichen Mond gelangen konnten.
(Ebd., S. 288).
Die Unterschiede in den beiden Auffassungen sind grundsätzlicher
Art und könnten größer nicht sein. Auf eine Kurzformel
gebracht: Die Theorie der dissipativen Strukturen nimmt an, daß
sich der selbstorganisatorische Prozeß des Lebens aus einem thermodynamischen
Ungleichgewicht heraus erklären läßt, während die
Systemische Evolutionstheorie vermutet, die Selbstorganisation des Lebens
lasse sich primär auf Systemeigenschaften des Lebendigen zurückführen.
Zwar kann auch für sie Leben allein schon aus Ordnungsgründen
(Selbsterhaltungsinteresse des Lebendigen) nur im thermodynamischen Ungleichgewicht
entstehen und gedeihen, allerdings zweifelt sie an, daß sich damit
die Evolution des Lebens erklären läßt. Für die Theorie
der dissipativen Strukturen ist die Selbstorganisation des Lebens eine
unmittelbare Folge äußerer Energiezufuhr, für die Systemische
Evolutionstheorie organisiert sich das Leben - einmal auf den Weg gebracht
- aufgrund von inneren Systemeigenschaften des Lebendigen selbst: Das
Leben macht seine eigene Evolution selbst. (Ebd., S. 288).
In
den folgenden Unterabschnitten soll das Phänomen des Lebens deshalb vor allem
aus Sicht der Systemischen Evolutionstheorie betrachtet werden. (Ebd., S.
288).
4.34.5) Die biologischen Kräfte von Lebewesen
In der Quantenphysik besitzen Teilchen die Meßgrößen
(Observablen) Ort (Ortskoordinaten, Lage) und Impuls. (Ebd., S.
288).
Jeder bewegliche Körper
kann -wie etwa beim Zusammenstoß mehrerer Billardkugeln - Impuls auf andere
Körper übertragen oder von diesen übernehmen. Dabei bleibt der
Gesamtimpuls der am Ereignis beteiligten Körper unverändert. (Ebd.,
S. 288).Der Impulserhaltungssatz der Physik besagt nun, daß
Teilchen von Natur aus träge sind. Damit sich ihre Geschwindigkeit ändern
kann, müssen sie Impuls erhalten oder abgeben. Die dabei wirkende Kraft entspricht
dem pro Zeiteinheit übertragenen Impuls. (Ebd., S. 289).
Im Vergleich zu unbelebten Kötpern sind lebende Systeme alles
andere als träge. So können sich Tiere völlig autonom und
ohne einer externen Kraft ausgesetzt zu sein - beziehungsweise ohne Impulsübertragung
von außen - - frei in die eine oder andere Richtung bewegen oder
sich sonstwie verändern. (Ebd., S. 289).
Im Sinne der Definitionen des Konstruktivismus ist ein lebendes
System folglich strukturdeterminiert, das heißt, seine konkreten
Systemzustände werden nicht von der Umwelt, sondern vom System selbst
bestimmt. (Ebd., S. 289).
Nun könnte man einwenden,
das wären Roboter und Unternehmen auch. Allerdings wird der nächste
Unterabschnitt (**)
zeigen, daß solchen Systemen noch immer wesentliche Lebens-Eigenschaften
fehlen, weswegen sie nicht wirklich als Lebewesen bezeichnet werden können.
(Ebd., S. 289).Unabhängig davon möchte ich an dieser
Stelle die folgende These aufstellen:Lebewesen
besitzen biologische Kräfte (Lebenskräfte), die sich als emergente Eigenschaften
(siehe Abschnitt Emergenz)
in ihnen ausbilden, und zwar ihr | Selbsterhaltungs-
und | | Reproduktionsinteresse. |
Zwar werden Lebewesen auch durch äußere Kräfte und Ereignisse
beeinflußt, aber es sind maßgeblich diese inneren »Kräfte«,
die ihr Verhalten steuern. Damit soll nun aber nicht im Sinne eines Vitalismus
behauptet werden, daß Lebewesen originäre Lebenskräfte besitzen,
die sich nicht auf physikalische oder chemische Gesetze zurückführen
lassen, sondern lediglich, daß sie aufgrund ihrer systemischen Organisation
Eigenschaften entwickeln, die nach außen hin den Anschein erwecken, als
wirkte in ihnen tatsächlich eine innere Kraft. (Ebd., S. 289). |
Ich
möchte dies anhand einer bekannten physikalischen Kraft verdeutlichen: Es
ist nicht auszuschließen, daß es der Physik irgendwann einmal gelingt,
die Gravitation auf die anderen physikalischen Grundkräfte zurückzuführen.
Vielleicht stellte sich dabei heraus, daß sie eine Konsequenz materieller
Organisation ist. Ganz entsprechend möchte ich die obigen »Lebenskräfte«
verstanden wissen. (Ebd., S. 290).Selbstverständlich
mobilisieren Tiere ihre Muskeln mit Hilfe der in ihnen gespeicherten Energie.
Der physikalische Impuls zur Fortbewegung entspringt also letztlich diesem Mechanismus.
Darum geht es hier aber nicht. Gemeint ist der eigentliche Lebensimpuls, der zeitlich
noch vor der Mobilisierung des internen Energiekraftwerks und der Muskeln liegt,
und durch den sich ein lebendes System von lebloser Materie abhebt. (Ebd.,
S. 290).Doch es besteht in diesem Punkt noch ein weiterer signifikanter
Unterschied zum Unbelebten: Während sich in der Physik Phänomene meist
auf einige wenige Ursachen kausal zurückführen lassen, ist das bei Lebewesen
keineswegs der Fall, denn bei den lebensimpulsgebenden Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen
handelt es sich um emergente Systemeigenschaften, deren jeweilige Ausprägungen
praktisch nicht vorhersehbar sind:
»Anders als
in manchen allgemein bekannten Fällen physikalischer Kausalbeziehungen
hat das Verhalten, das man in komplexen Systemen erklären möchte,
mehr als nur eine einzige beherrschende Ursache. Daß eine
Billardkugel sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit in eine bestimmte
Richtung bewegt, liegt an dem Stoß, den ihr der Queue versetzt
hat. Natürlich gibt es im Vergleich zu dem Verlauf, den man
nach einem solchen einzelnen Stoß erwarten sollte, durch Drehung
und Reibung geringfügige Abweichungen, aber zum größten
Teil läßt sich das Verhalten der Kugel mit einer einzigen
beherrschenden Ursache erklären. In der Welt des Komplexen
ist das anders. Wie ich bereits erwähnt habe, gibt es mehrere
Arten von Komplexität. Manche davon stehen der
Billardkugel näher, wobei nur die Zahl der kausalen Einflüsse
größer ist. Eine größere Zahl von Faktoren
ist nicht sonderlich problematisch, insbesondere wenn
ihre Interaktionen sich addieren oder anderen einfachen Regeln unterliegen.
Die an einem Flugzeug angreifenden Kräfte (eine komplizierte
Version der Billardkugel) sind als Ursachen seiner Flugbahn zu erkennen,
und wenn man sie einfach summiert, kann man voraussagen, wohin die
Reise geht. An komplexen Systemen sind jedoch häufig auch Rückkopplungsmechanismen
beteiligt, die dazu führen, daß die Folgen nichtlinearen
chaotischen Verhaltens verstärkt oder abgeschwächt werden;
unter solchen Bedingungen versagt eine kausale Erklärung, die
sich auf Addition stützt.« (Sandra Mitchell, Komplexitäten,
2008, S. 50). (Ebd., S. 290-291). |
4.34.6) Lebende Systeme gemäß Systemischer Evolutionstheorie
.... | Lebewesen
besitzen ein Selbsterhaltungsinteresse. | Das wichtigste
Kritrium des Belebten ist, daß es am Leben bleiben möchte. Lebewesen
sind darum bemüht, ihren entropieramen Zustand möglichst lange aufrechtzuerhalten.
Anders gesagt: Lebewesen wollen sich selbsterhalten (Selbsterhaltungsinteresse).
.... | Lebewesen
besitzen ein Reproduktionsinteresse. | Das zweitwichtigste
Kriterium des Belebten ist, daß es »überleben« möchte.
Lebewesen möchten folglich nicht nur am Leben bleiben, sondern sich auch
reproduzieren. .... (Ebd., S. 292-294).Zusammenfassend kann
gesagt werden:
Lebewesen sind
offene, stofflich zusammenhängende, selbsterhaltende, sterbliche,
entwicklungsfähige, entropiearme Systeme, die durch Selbstreproduktion
aus anderen, ihnen ähnlichen Systemen hervorgegangen sind.
Sie »wollen« leben und überleben, das heißt,
sie besitzen eigenstädige Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen
(Eigeninteressen), bei denen es sich um (emergente) Systemeigenschaften
handelt. |
Einige
der genannten Eigenschaften sind redundant. So können die Eigenschaften offen
und entropieram auf das Merkmal der Selbsterhaltung und die Eigenschaften
sterblich und entwicklungsfähig auf den Mechanismus der Selbstproduktion
zurückgeführt werden. Vereinfachend können wir deshalb definieren:
Lebewesen sind
stofflich zusammenhängende, selbsterhaltende Systeme, die durch
Selbstreproduktion aus anderen, ihnen ähnlichen Systemen hervorgegangen
sind. Sie »wollen« leben und überleben, das heißt,
sie besitzen eigenstädige Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen
(Eigeninteressen), bei denen es sich um (emergente) Systemeigenschaften
handelt. |
In diesem Sinne sind
weder Roboter noch Unternehmen Lebewesen, denn: | Roboter
besitzen kein Reproduktionsinteresse. Auch sind sie (noch) nicht durch Selbstproduktion
aus anderen Robotern hervorgegangen. | | Unternehmen
sind weder stofflich zusammenhängend noch gehen sie stets durch Selbstproduktion
aus anderen, ihnen ähnlichen Unternehmen hervor. (Ebd., S. 295-296). |
5) Demographischer Wandel (S. 297-326)
Die fortgeschrittenen Industrienationen befinden sich auf dem
Weg hin zu Wissensgesellschaften: Nicht mehr die Ressourcen Arbeit, Kapital
und Rohstoffe spielen die entscheidende Rolle, sondern die geistigen Fähigkeiten
und das theoretische Wissen ihrer Menschen. Gleichzeitig entwickeln diese
Staaten ein demographisches Problem: Die Lebenserwartung steigt, während
die Geburtenrate sinkt. (Ebd., S. 298).
Dieses
als demographischer Wandel bezeichnete Problem drückt sich allgemein in drei
unabhängigen Teilaspekten aus: | Es
werden zu wenige Kinder geboren, oder wissenschaftlich ausgedrückt: die
gesellschaftliche Reproduktion ist insgesamt mengenmäßig nicht bestandserhaltend.Analysen
zeigen: Der Geburtenrückgang in Deutschland ist wie auch in den USA und in
den übrigen europäischen Ländern einschließlich der Länder
Nordeuropas in erster Line das Ergebnis des zunehmenden Verschwindens der Mehrkindfamilie
mit drei oder mehr Kindern (vgl. Hans Bertram / W. Rösler / N. Ehlert, Nachhaltige
Familienpolitik, 2005, S. 10) und weniger das Resultat einer zunehmenden Kinderlosigkeit.
Bliebe die deutsche Fertilitätsrate auch
in der Zukunft konstant bei den heutigen Werten (ca. 1,4), würde
die deutsche Bevölkerung nicht von 83 auf zum Beispiel 50 Millionen
schrumpfen, sondern langfristig auf Null. Bei einer angenommenen
Generationendauer von 30 Jahren würden bei ausgeglichenen Zuwanderungen
und Abwanderungen in Deutschland in 300 Jahren etwa nur noch ca.
1 Million Menschen leben. Ähnliches gilt für die meisten
anderen modernen Länder. Zur Zeit weiß niemand, wie eine
solche Entwicklung verhindert werden kann. |
|
In sozial schwachen
beziehungsweise bildungsfernen Schichten werden mehr Kinder geboren
als in Schichten mit hohem sozioökonomischen Status beziehungsweise
Bildungsniveau. Anders gesagt: Es besteht ein negativer Zusammenhang
zwischen Kinderzahl und sozialer Position beziehungsweise Bildungsniveau
(Johannes Kopp, Geburtenentwicklung und Fertilitätsverhalten,
2002, S. 89). Dieser Zusammenhang besteht in analoger Weise auch
länderübergreifend: In den entwickelten Industrienationen
werden pro Frau meist viel weniger Kinder geboren als in den Entwicklungsländern.
Man nennt dieses Phänomen das demographisch-ökonomische
Paradoxon (vgl. Herwig Birg,
Strategische Optionen der Familien- und Migrationspolitik in
Deutschland und Europa [**],
in: Christian Leipert
[Hrsg.], Demographie und Wohlstand, 2003, S. 30 [**]).
|**|**|
Auch diese Erscheinung könnte als fehlende
Bestandserhaltung bezeichnet werden, diesmal aber nicht bezüglich
der Zahl an Menschen, sondern def Kompetenzen und Qualifikationen. |
| Die
allgemeine Lebenserwartung steigt (die Menschen werden immer älter).
Dieser Aspekt wird im Rahmen des vorliegenden Buches jedoch als gegeben angenommen
und nicht weiter thematisiert. | Insgesamt kann also
von einer fehlenden quantitativen und qualitativen Bestandserhaltung
der Bevölkerung gesprochen werden. (Ebd., S. 298).Einige
Länder, wie etwa die USA, sind nur vom zweiten und dritten Teilaspekt betroffen,
die meisten entwickelten Länder allerdings von allen dreien.
(Ebd., S. 298).Wir können zusammenfassen: | Es
werden in Deutschland zu wenige Kinder geboren. |
|
Der Hauptgrund
dafür ist das zunehmende Verschwinden der Mehrkindfamilie mit
drei oder mehr Kindern. |
| Darüber
hinaus werden in sozial schwachen und bildungsfernen Schichichen mehr Kinder geboren
als in gebildeten Bevölkerungskreisen. | Sie werden
jetzt vielleicht einwenden, der letzte Punkt sei doch egal, alle Menschen seien
schließlich gleich. In Hurra,
wir werden Unterschicht! (2007) konnte jedoch gezeigt werden, daß
es sich bei diesem Befund um das eigentliche Hauptproblem des demographischen
Wandels handelt. (Ebd., S. 298).
5.1) Wie es dazu kam
Bevor ich mit der Analyse beginne, möchte
ich zunächst den demographischen Wandel, den die Fachliteratur manchmal auch
als die fünfte Phase des demographischen Übergangs bezeichnet, in einen
historischen Kontext stellen. (Ebd., S. 298).
Während der gesamten Geschichte der Menschheit mußten
Frauen eher durchschnittlich fünf bis acht Kinder in die Welt setzen,
damit sich eine Population mengenmäßig erhalten konnte. Der
Grund: Die Säuglings-, Kinder- und Müttersterblichkeit waren
hoch, und auch noch im Erwachsenenalter konnten Krankheiten, Seuchen,
Hunger, Kriege, Unfälle oder Verbrechen zu einem frühen Tod
bei nur sehr wenigen Nachkommen führen. (Ebd., S. 298-299).
Dies änderte sich schlagartig zu Beginn des 19. Jahrhunderts
aufgrund einiger Errungenschaften der Medizin - insbesondere der Hygiene
-, einer besseren Nahrungsversorgung der Bevölkerung und weiterer
Modernisierungsprozesse. In der Folge ging die Sterblichkeit zurück
und es entstand ein dramatischer Bevölkerungszuwachs: die zweite
Phase des demographischen Übergangs. (Ebd., S. 299).
Als demographischer
Übergang wird in der Demographie allgemein der Transformationsprozeß
von hohen Geburten- und Sterberaten zu niedrigen Geburten- und Sterberaten verstanden.
.... Viele Experten ordnen auch den heutigen demographischen Wandel mit seinen
extrem niedrigen Fertilitätsraten einer Spätphase (posttransformative
Phase) des demographischen Übergangs zu. Dies wird im vorliegenden Buch jedoch
nicht getan. Stattdessen wird der demographische Wandel als ein eigenständiges
Phänomen mit ganz anderen Ursachen verstanden. (Ebd., S. 299).Der
demographische Übergang gliedert sich in vier Phasen:Phase
1 | Stark schwankende
Geburten- und Sterberaten, die auf hohem Niveau dicht beieinander liegen. Es findet
kein gravierender Bevölkerungszuwachs statt. | Phase
2 | Die Sterberate
sinkt bei etwa gleichbleibender Geburtenrate. Es entsteht ein signifikanter Bevölkerungszuwachs. | Phase
3 | Die Geburtenrate
sinkt, und zwar sehr bald schneller als die Sterberate. Beide Werte gleichen sich
sukzessive an. Der Bevölkerungszuwachs nimmt laufend ab. | Phase
4 | Die Geburten-
und Sterberaten liegen auf tiefem Niveau eng beieinander. Es findet kein nennenswerter
Bevolkerungszuwachs statt. (Ebd., S. 299). |
Im
Jahr 1816 lebten auf dem Gebiet in den Grenzen des späteren Deutschen Reichs
25 Millionen Menschen, am Vorabend des Ersten Weltkriegs dagegen bereits 68 Millionen
(vgl. Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie
1800-2000 , 2004, S. 6f.). Weitere fünf Millionen waren - vor allem nach
Übersee - ausgewandert (vgl. ebd, 2004, S. 9). Zwischen 1900 und 1910 erreichte
die jährliche deutsche Bevölkerungszuwachsrate mit rund 1,5 Prozent
ihren Höhepunkt. Die Bevölkerung nahm in dieser Periode schneller zu
als jemals zuvor und jemals danach in der deutschen Geschichte (vgl. ebd., 2004,
S. 7). Der Zuwachs war auch stärker als in den meisten anderen europäischen
Ländern. (**).
(Ebd., S. 300).Auch heute lassen sich in vielen Krisenherden der
Welt zum Teil extreme Bevölkerungszuwachsraten nachweisen (Afghanistan, Somalia,
Ruanda, Palästina, Irak, Pakistan u.va.). Gunnar Heinsohn
sieht insbesondere einen sehr hohen Anteil junger Männer an der Gesamtbevölkerung
als kritisch für eine mögliche Kriegsentwicklung an (vgl. Gunnar Heinsohn,
Söhne und Weltmacht, 2003 [**]).
Die Zusammenhänge lassen sich auch unmittelbar aus der Systemischen
Evolutionstheorie ableiten. Wenn eine Bevölkerung aus lauter Individuen
besteht, die sich alle selbsterhalten und fortpflanzen wollen, dann wird es bei
hohen Bevölkerungszuwachsraten und einer dadurch bedingten deutlichen Zunahme
der Bevölkerungsdichte zwangsläufig zu einer verstärkten Konkurrenz
der Individuen um die knapper werdenden Ressourcen kommen. Charles Darwin nannte
dies den Kampf ums Dasein, der sich in extremen Fällen natürlich
auch in Kriegen, Rassismus, Völkermord und Völkerwanderung (Auswanderung)
ausdrücken kaun. All dies unterstreicht, daß es der Menschheit endlich
gelingen muß, die eigene Bevölkerungsentwicklung zu beherrschen. Ich
persönlich halte dies - trotz aller Tabuisierungen des Themas - für
das wichtigste globale Problem der Menschheit überhaupt. (Ebd.,
S. 300).Im 20. Jahrhundert paßten die europäischen Bevölkerungen
ihre Geburtenraten sukzessive an die niedrigen Sterberaten an, so daß der
starke Bevölkerungszuwachs ab etwa 1930 fast überall zum Erliegen kam.
(Ebd., S. 300).Ab etwa 1970 traten sehr viele moderne Gesellschaften
in den demographischen Wandel, mit dem sich das vorliegende Kapitel schwerpunktmäßig
beschäftigt. Als vermutliche Hauptgründe können angeführt
werden: | Zuverlässige
Kontrazeptiva (die Pille). | | Berufsorientierte
weibliche Emanzipation. | | Rentenversicherung. |
Heute reichen durchschnittlich ca. 2,1 Kinder pro Frau aus, damit sich
eine Bevölkerung mengenmäßig erhalten kann. Im 18. Jahrhundert
lag diese Zahl noch deutlich über 4. Man kann deshalb durchaus behaupten:
Der Rückgang der Sterblichkeit war die Voraussetzung für die
Emanzipation der Frauen. So würde eine sich abgeschlossene Gesellschaft
(das heißt, es existieren weder Zu- noch Abwanderungen) mit 83 Millionen
Einwohnern einer Fertilitätsrate von 1,4, einer Generationendauer
von 30 Jahren und einer Bestandserhaltungsrate von 2,1 (niedrige Sterblichkeit)
binnen 100 Jahren auf ca. 20 Millionen Einwohner schrumpfen, bei einer
Bestandserhaltungsrate von 4,2 (hohe Sterblichkeit) dagegen auf ca. 2
Millionen. Unter solchen Verhältnissen würde sich eine Gesellschaft
bereits innerhalb der Lebenszeit von Menschen erkennbar zu Tode schrumpfen,
was gesellschaftlich wohl kaum hingenommen werden würde. (Ebd.,
S. 300-301).
5.2) Fertiltitätstheorien
Demographen, Ökonomen
und Sozialwissenschaftler machen sich ... Gedanken darüber, wie das weltweit
und auch historisch sehr unterschiedliche Fortpflanzungsverhalten der Menschheit
zu erklären ist. (Ebd., S. 301).Die
ökonomische Theorie der Fertilität (vgl. Paul B. Hill / Johannes Kopp,
Familiensoziologie, 2002, S. 198ff.) von Harvey Leibenstein und Gary S.
Becker
gilt als eines der überzeugendsten theoretischen Modelle, um das global sehr
unterschiedliche Fertilitätsverhlaten von Bevölkerungen zu erklären.
Insbesondere die sehr niedrigen Fertilitätsraten in den entwickelten Staaten
ließen sich mit älteren Theorien nicht in Einklang bringen. (Ebd.,
S. 302).Gemäß der ökonomischen
Theorie lassen sich drei verschiedene Nutzenarten für Kinder unterscheiden
(vgl. Thomas Klein, Sozialstrukturanalyse, 2005, S. 81): | Konsumnutzen | | Einkommensnutzen | | Sicherheitsnutzen | Diesen
Nutzenarten stehen zwei Kostenarten gegenüber: | Opportunitätskosten | | Dierekte
Kosten | Wägt man die verschiedenen Nutzen-
und Kostenarten gegeneinander ab, dann läßt sich feststellen: -
Kinder haben einen Konsumnutzen (mehr
als früher! HB)
.... - Kinder
haben nur einen vergleichsweise geringen Einkommensnutzen (geringer
als früher! HB)
.... - Kinder
haben keinen Sicherheitsnutzen (sehr
viel anders als früher [denn früher war er sehr hoch]! HB)
.... - Kinder
sind mit hohen Opportunitätskosten verbunden (höher
als früher! HB)
.... - Kinder
kosten Geld (mehr als früher! HB)
.... | Fazit: Einzig der Konsumnutzen kann heute
Kinder noch ausreichend rechtfertigen. Dieser reicht aber bei den meisten Personen
nicht aus, um große Familienstärken zu bewirken. (Ebd., S. 302-306).Bei
der biographischen Fertilitätstheorie (vgl. Herwig, Birg / Ernst-Jürgen
Flöthmann / Iris Reiter, Biographische Theorie der demographischen Reproduktion,
1991) handelt es sich um die demographische Entsprechung der Individualisierungsthese
(vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft, 1986). Sie argumentiert ökonomisch,
konzentriert sich aber kostenseitig auf die biographischen Opportunitätskosten
der Familiengründung und klammert Nutzenaspekte und dierekte Kosten weitestgehend
aus. ([**|**|**]).
(Ebd., S. 307).Kernausassagen der Theorie sind (vgl. Herwig,
Birg / Ernst-Jürgen Flöthmann / Iris Reiter, Biographische Theorie
der demographischen Reproduktion, 1991): |
Die Größe
des biographischen Universums nimmt durch den Wegfall sozialer,
normativer und ökonomischer Beschränkungen permanent zu. |
| Je
größer das biographische Universum ist bzw. je vielfältiger die
Optionen für eine Biographie sind, desto größer ist die Zahl der
Alternativen, die mit einer biographischen Festlegung aus dem Möglichkeitsspielraum
ausscheiden. | | Bei
einer Expansion des biographischen Möglichkeitsspielraums steigt das Risiko
einer biographischen Festlegung. | | In
Gesellschaften mit Konkurrenzprinzip im Individualverhalten ist das Risiko biographischer
Festlegungen in der Familienbiographie größer als das Risiko von Festlegungen
in der Ausbildungs- und Erwerbsbiographie. | | Das
Risiko familialer Festlegungen läßt sich aufschieben oder vermeiden. | | Schlußfolgerung:
Die Wahrscheinlichkeit der demographisch relevanten biographischen Festlegungen
nimmt ab. |
Dies bedeutet: Durch die zunehmende Individualisierung (vgl. Ulrich
Beck, Risikogesellschaft, 1986) steigt die Anzahl der Lebenslaufalternativen
für eine konkrete Person. Bei einer Familiengründung erfolgt
aber eine sehr große biographische Festlegung für einen längeren
Zeitraum, und folglich scheiden sehr viele Lebenslaufalternativen aus
dem sogenannten biographischen Universum aus. Dies macht es wahrscheinlicher,
daß eine solche Festlegung zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht erfolgt,
zumal familiale Entscheidungen größere Risiken bergen können
als Ausbildungs- und Karriereentscheidungen. Die Konsequenz ist, daß
die Entscheidung für eine Familiengründung immer später
oder gegebenfalls gar nicht mehr getroffen wird. (Ebd., S. 307-308).
Die
biographische Fertilitätstheorie gilt allgemein als eine der schlüssigsten
Thesen für die Erklärung der niedrigen Fertilitätsraten in entwickelten
Gesellschaften. Denn immerhin konnten einzelne Folgerungen der Theorie empirisch
bestätigt werden. (Vgl. Herwig Birg,
Strategische Optionen der Familien- und Migrationspolitik in Deutschland und
Europa [**],
in: Christian Leipert
[Hrsg.], Demographie und Wohlstand, 2003, S. 27-56 [**]).
(Ebd., S. 308).
5.4) Reproduktionsinteresse
Im Abschnitt Systemische
Evolutionstheorie wurde gezeigt, daß sich das Prinzip der natürlichen
Selektion aus einem grundsätzlicheren Prinzip, nämlich der »natürlichen
Verteilung« der Reproduktionsinteressen unter den Individuen einer Population
herleiten läßt. Die biologische Evolution dürfte also ganz entscheidend
durch die den Individuen innewohnenden Reproduktionsinteressen vorangetrieben
werden. (Ebd., S. 312).
In menschlichen Populationen könnte das Reproduktionsinteresse
in einer ersten Annäherung mit der gewünschten Zahl an Kindern
(dem Kinderwunsch) gleichgesetzt werden. In der Regel wird es größer
als die dann tatsächlich realisierte Zahl an Nachkommen sein.
(Ebd., S. 312).
Eine Studie der Robert-Bosch-Stiftung und des Bundesinstituts
für Bevölkerungsforschung (BiB) offenbarte, daß sich Frauen
in Deutschland durchschnittlich nur noch 1,75 Kinder wünschen, Männer
sogar nur 1,59 (vgl. Robert-Bosch-Stiftung, Bosch-Studie, 2006
[**]).
Kinderlose ohne beruflichen Abschluß wünschen sich signifikant
häufiger Kinder als Kinderlose mit beruflichem Ausbildungsabschluß
beziehungsweise Hochschul-/Fachhochschulabschluß (vgl. D. Klein,
Zum Kinderwunsch von Kinderlosen, a.a.O., 2006, S. 76). (Ebd.,
S. 312).
Man
könnte die Ergebnisse auch so zusammenfassen: Das natürliche Reproduktionsinteresse
der Bürger der Bundesrepublik Deutschland ist beschädigt, und zwar bei
Männern mehr als bei Frauen und bei Menschen mit hoher Bildung und beruflichem
Ausbildungsabschluß mehr als bei Menschen ohne beruflichen Abschluß.
(Ebd., S. 312).In den Entwicklungsländern scheint der
Wunsch nach weniger Kindern eher bei Frauen ausgeprägt zu sein (vgl. Hans
Joas [Hrsg.], Lehrbuch der Soziologie, 2001, S. 497), was normalerweise
auch zu erwarten wäre, denn getrenntgeschlechtliche Populationen haben aus
evolutiven Gründen nur dann wirklich Sinn, wenn das männliche Geschlecht
ein durchschnittlich höheres Reproduktionsinteresse besitzt als das weibliche
(siehe dazu die Ausführungen im Abschnitt Wozu
gibt es Sexualität?). Daß dies in vielen modernen Industrienationen
genau umgekehrt ist, ist nicht nur äußerst alarmierend, sondern weist
vor allem darauf hin, daß eine sich vorwiegend an den Interessen und Anforderungen
von Frauen orientierende Familienpolitik am Kernproblem vorbeigeht (und
daß diese Politik genau jene Variante ist, die typisch ist für die
Zivilisation abendländischer [westliche] Kultur; HB).
(Ebd., S. 312).
5.5) Familie
Ich möchte nun auf die Institution Familie, die zentrale
gesellschaftliche Reproduktionseinheit, zu sprechen kommen. Dabei werden
die weiteren Ausführungen zeigen, daß die Familie in ihrer
bisherigen Form unter der Rahmenbedingung der Gleichberechtigung der Geschlechter
nicht mehr zu halten sein dürfte. (Ebd., S. 313).
5.5.1) Kernfamilie
Im westlichen Kulturkreis
wird heute unter Familie in der Regel die sogenannte Kernfamilie aus Vater,
Mutter und deren Kindern verstanden. (Ebd., S. 313).In
der Tat ist sie in modernen Gesellschaften die weiterhin häufigste Familienform.
Alternative Modelle wie Alleinerziehung, Wohngemeinschaften, das Zusammenleben
zweier Elternteile mit nichtgemeinsamen oder gar jeweils eigenen Kindern nehmen
zwar anteilsmäßig zu, bleiben aber vorläufig noch in der Minderheit.
(Ebd., S. 313).
Allerdings werden die Begriffe Familie und Kernfamilie in der
Soziologie nicht einheitlich verwendet. Für Rosemarie Nave-Herz ist
beispielsweise die Generationendifferenzierung (zum Beispiel: Mutter mit
Kindern) kennzeichnend für den Begriff der Familie, eine kinderlose
Ehe ist für sie noch keine Familie (vgl. Rosemarie Nave-Herz, Familie
heute, 2000, S. 15). (Ehe ist nicht gelichbedeutend
mit Familie! Wer das nicht versteht, hat gar nichts begriffen und sollte
beim Thema Ehe und Familie schweigen! HB).
Entsprechend dieser Auffassung ist eine Kernfamilie eine Familie mit einem
oder beiden Elternteilen und Kindern, jedoch ohne dritte Generation (zum
Beispiel Großmutter). Eine Wohngemeinschaft mit zehn jüngeren
Menschen, die sich selbst (fälschlicherweise!
HB)
»Familie« nennen, wäre in diesem Sinne dagegen noch keine
Familie, wenn darin ein Kind aufwächst, dann allerdings schon.
(Ebd., S. 313).
5.5.2) Ganzes Haus
Als Ganzes Haus wird die seit dem Mittelalter vor allem
in Westeuropa entstandene Familienform der Bauern und Stadtbürger
bezeichnet, in der neben der Kernfamilie noch Verwandte (zum Beispiel
Großeltern, Geschwister) und Gesinde wohnten. Einige Schätzungen
gehen davon aus, daß im Mittelalter zeitweise fünfzig Prozent
aller seßhaften Menschen in solchen Gemeinschaften lebten.
(Ebd., S. 313).
Im Ganzen Haus vereinbarte sich Familienarbeit und berufliche
Tätigkeit auf besonders einfache Weise, denn häufig wurden Kinder
bereits frühzeitig in ihre spätere Aufgabe eingearbeitet und
waren praktisch ständig unter der Aufsicht der Eltern, von Verwandten
oder des Personals. Allerdings blieb dabei nicht selten eine ausreichende
Bildung auf der Strecke, da dafür entweder die Kompetenzen fehlten
oder sie als nicht notwendig erachtet wurde. Dies galt in besonderem Maße
für Mädchen. (Ebd., S. 313-314).
Auch heute noch können in ländlichen
Gegenden, aber auch in manchen Berufen, ähnliche Konstellationen vorgefunden
werden. Dies ist insbesondere bei freiberuflichen und selbstständigen Tätigkeiten
der Fall, zum Beispiel bei einem Lebensmittelgeschäft mit angeschlossenem
Wohnbereich. Beide Elternteile stehen in diesem Fall über weite Strecken
des Tages als Ansprechpartner für die Kinder zur Verfügung. (Ebd.,
S. 314).
Einige Experten vermuten, in Wissensgesellschaften und aufgrund
von Fortschritten in der Telekommunikation könnten wieder vermehrt
Heimarbeitsplätze entstehen, so daß das Ganze Haus gleichfalls
eine Renaissance erleben würde. (Ebd., S. 314).
5.5.3) Ernährermodell
Die Industriegesellschaft
mit ihrem hohen Kapitaleinsatz und ihrer starken Verlagerung der Produktion aus
dem häuslichen Bereich heraus machte es erforderlich, daß ein Elternteil
- üblicherweise der Mann - das Haus verließ, um einer Erwerbsarbeit
nachzugehen. Diese wurde mit Geld und/oder Waren vergütet, womit der Familienvater
dann Frau und Kinder ernährte. (Ebd., S. 314).Als
Familienform setzte sich deshalb sukzessive das patriarchalische Ernährermodell
durch, bei dem der Vater als Ernährer der Familie fungierte, während
sich die Mutter als Hausfrau um Haus und Kinder kümmerte. (Ebd., S.
314).Zwischen beiden Geschlechtem etablierte sich erneut
die bereits biologisch vorgeprägte Arbeitsteilung, bei der der Mann primär
fur die produktiven, die Frau dagegen für die reproduktiven Aufgaben verantwortlich
war. Eine ähnliche Konstellation gab es bereits in der Altsteinzeit während
der Menschwerdung, als die Männer zur Jagd aufbrachen und die Frauen die
Kinder aufzogen und gegebenenfalls in der Umgebung Pflanzen sammelten. (Ebd.,
S. 314).Allerdings besteht zwischen den aktuellen und historischen
Familienkonstellationen noch ein entscheidender Unterschied, der gern übersehen
wird: In der Altsteinzeit gingen in der Regel die Männer gemeinsam zur Jagd,
um dann später ihre Beute mit ihren Frauen zu teilen. Ganz im Gegensatz dazu
ist die moderne Familie als ökonomisch autarke Einheit angelegt, das heißt,
sie hat sich selbst zu versorgen. Übertragen auf die Altsteinzeit hieße
das: Alle Männer gehen einzeln zur Jagd, haben alle für sich einen individuellen
Jagderfolg, der dann ausschließlich ihren jeweiligen Familien zur Verfügung
steht. (Ebd., S. 314-315).Im Rahmen einer Wertedebatte
könnte deshalb auch durchaus angemerkt werden, daß das patriarchalische
Ernährermodell vom Kern her individualistisch angelegt ist. Naturvölker
würden möglicherweise sogar einen beträchtlichen Werteverlust reklamieren.
(Ebd., S. 315).Beim Ernährermodell besteht eine Hierarchie
an sozialen Funktionen: Der Mann ernährt und schützt die Frau, diese
wiederum die Kinder. (Ebd., S. 315).Häufig wird
das patriarchalische Familienmodell (Ernährermodell) wie folgt beschrieben: | Der
Mann geht arbeiten, und die Frau zieht die Kinder auf. | Wie
der Ausdruck Ernährermodell bereits sagt, ist diese Beschreibung jedoch unvollständig.
Präziser müßte es heißen: |
Der Mann geht arbeiten
und verdient dafür Geld, die Frau zieht die Kinder auf und
verdient dafür kein Geld. |
Das patriarchalische
Ernährermodell erwies sich in der Praxis als äußerst erfolgreich,
zumal es ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Produktion und Reproduktion etablierte,
was es dem Staat erlaubte, sich weitestgehend aus der gesellschaftlichen Reproduktion
herauszuhalten und diese als ausschließliche Angelegenheit seiner Individuen
zu betrachten. (Ebd., S. 315).
Allerdings hatte das Modell einen entscheidenden Nachteil:
Die Frauen verblieben dabei in ökonomischer Abhängigkeit von
ihren Männern, eine Tatsache, die mit modernen Gleichheitsgrundsätzen
nicht mehr zu vereinbaren war. (Nachteil für
die Frauen? Damals? Nein! Ihre Männer waren [und sind] doch selbst
ökonomisch abhängig, nämlich von ihrem jeweiligen Arbeitgeber!
Nun sind es deren Frauen ebenfalls! Folglich haben nun beide einen entscheidenden
Nachteil! Also können die Frauen damals keinen entscheidenden Nachteil
gehabt haben, sondern haben einen entscheidenden Nachteil heute [dem der
Männer angeglichen, gleichgestellt {das bedeutet »Emanzipation
der Frau« in Wirklichkeit: eine weitere, noch fatalere Abhängigkeit}]!
HB).
Auf der anderen Seite stellte es sich auch für die Männer nicht
nur als vorteilhaft dar, denn deren Arbeitswelt war häufig gefährlich,
schmutzig und erschöpfend, also alles andere als selbstbestimmt.
Diese Anstrengungen wurden aber mit einem Einkommen entlohnt, was die
Männer gleichzeitig - als Teil des Lohns - zum Oberhaupt der Familie
machte.(Ebd., S. 315).
Erst das verstärkte Aufkommen von angenehmerer Arbeit,
bei denen in erster Linie intellektuelle und von Frauen in gleicher Weise
erbringbare Leistungen gefordert waren, ließ die klassische Rollenaufteilung
als eher günstig für den männlichen Teil der Bevölkerung
erscheinen. (Ebd., S. 316).
5.5.4) Familienmodell bei weiblicher Emanzipation
Die Frauenbewegung (nein; denn es war
die Wirtschaft; HB)
hat das patriarchalische Ernährermodell erfolgreich bekämpft
und ein anderes Familienmodell (Vereinbarkeitsmodell)
dagegen gestellt, welches in unserer Gesellschaft mittlerweile auf breiteste
Akzeptanz stößt. Es basiert auf der Annahme einer grundsätzlichen
Vereinbarkeit von Familie und Beruf (**).
|
Mann und Frau gehen
beide arbeiten und verdienen dafür Geld. Außerdem teilen
sie sich die Familienarbeit und verdienen dafür beide kein
Geld. |
Vielen Familien erscheint die prinzipielle Vereinbarkeit dieser völlig
unterschiedlichen und zeitaufwendigen Aufgaben jedoch als Mythos; sie
erleben beides als Addition (vgl. Iris Radisch, Die Schule der Frauen,
2007, S. 139ff.). Auch scheint die Reduzierung der Arbeitszeiten bei beiden
Ehepartnern zwecks einer gerechteren Aufteilung der Familienarbeit aus
ökonomischer Sicht für die betroffenen Familien häufig
die schlechteste Lösung zu sein, da dann beide Ehepartner auf eine
Karrieremöglichkeit und somit zusätzliche Verdienstmöglichkeiten
verzichten müssen. Auch schließen zahlreiche Berufe - und hier
insbesondere typische Männerberufe (Pilot, Lokführer, Matrose,
Dachdecker, Fernfahrer etc.) - Vereinbarkeitsszenarien von vornherein
weitestgehend aus (**).
(Ebd., S. 316).
Die bisherigen Ausführungen konnten
deutlich machen: Der Geburtenrückgang in den entwickelten Ländern ist
in erster Linie auf das Verschwinden der Mehrkindfamilie mit drei oder mehr Kindern
zurückzuführen. (Ebd., S. 316).
Bei einer größeren Familie mit vier oder fünf
Kindern (mit drei Kindern auch schon
[siehe oben: »drei oder mehr Kindern«]; HB)
nimmt die Familienarbeit eine solche Größenordnung an, daß
ein Elternteil (in der Regel die Mutter) über einen Zeitraum von
zehn oder mehr Jahren keiner oder nur einer geringfügigen gleichzeitigen
Erwerbsarbeit nachgehen kann und sollte (Ausnahmen bestätigen die
Regel). Damit verfügt die Familie fast ausschließlich über
das Einkommen des Ehemannes und damit über deutlich geringere Einkünfte
bei gleichzeitig wesentlich höheren Kosten gegenüber berufstätigen
Kleinfamilien beziehungsweise Kinderlosen. (Ebd., S. 316).
Ferner
sind solche Familien, die - wie gesagt - für die Bestandserhaltung der Bevölkerung
unbedingt erforderlich sind, dazu gezwungen, für einen längeren Zeitraum
zu einer modernen Abwandlung des patriarchalischen Ernährermodells zurückzukehren,
was aber eigentlich nicht mehr dem Zeitgeist entspricht. Dieses Familienmodell
trägt den Namen Phasenmodell. |
Mann und Frau gehen
beide arbeiten und verdienen dafür Geld. Die Frau unterbricht
ihre berufliche Tätigkeit für eine längere Familienphase
und verdient in dieser Zeit kein Geld. |
Konkret heißt
das: Während der Familienphase kommt das patriarchalische Ernährermodell
zur Anwendung. Die Frau verzichtet dann auf nennenswerte Rentenansprüche,
vor allem aber auf ein eigenes nennenswertes Einkommen und damit auf eine Kernerrungenschaft
der weiblichen Emanzipation, nämlich Berufstätigkeit und ökonomische
Selbstständigkeit. Die Alternativen lauten jetzt: Ökonomische Abhängigkeit
vom Ehemann oder von der Sozialhilfe. Daneben besitzt das Modell weitere Nachteile.
Speziell für gut ausgebildete Frauen dürfte es wenig attraktiv sein.
(Ebd., S. 317).Das klassische Ernährermodell
inklusive seiner modernen Variante Phasenmodell hat in diesem Sinne also
auch für größere Familien längst ausgedient. An die Stelle
des Ehemanns als Ernährer der Familie tritt mehr und mehr der Staat (vgl.
Norbert Bolz, Die Helden der Familie, 2006; S. 35f. [**]).
(Ebd., S. 317).Dieser Tatbestand gilt in der Bundesrepublik
längst für einen nennenswerten Anteil kinderreicher Familien. Ca. 60
Prozent aller Alleinerziehenden mit zwei oder mehr Kindern gelten als arm. Bei
Paaren öffnet sich die Schere ab drei Kindern (vgl. Frank Schirrmacher, Das
Methusalem-Komplott, 2004, S. 71). Man könnte auch sagen: Basierte im
Patriarchat die Familie noch auf Vereinbarungen zwischen Privatpersonen, so wird
sie unter der Rahmenbedingung der Gleichberechtigung der Geschlechter mehr und
mehr zu einer öffentlichen Angelegenheit, bei der der Staat zunehmend in
die Rolle des vormals männlichen Ernährers schlüpft. (Ebd.,
S. 317).
Dies ist auch aus anderen Gründen naheliegend: Individualisierungsprozesse
- wie sie im Rahmen der weiblichen Emanzipation auf Seiten der Frauen
stattgefunden haben - gehen üblicherweise mit einer Auslagerung von
Kollektivaufgaben, die ja einen Teil der vormaligen gesellschaftlichen
Rolle ausgemacht haben, an Dritte, häufig an den Wohlfahrtsstaat,
einher (vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 109f.; Stefan
Lange / Dietmar Braun, Politische Steuerung zwischen System und Akteur,
2000, S. 20). Es ist also nur folgerichtig, wenn der Wohlfahrtsstaat nun
die Finanzierung größerer Familien in seine Verantwortung übernimmt:
Frauen und Männer als Individuen sind unter den heutigen Verhältnissen
dazu offenkundig nicht mehr in der Lage. Das Prinzip der ökonomisch
autarken Familie war eine Eigenart des Patriarchats, welches unter
der Gleichberechtigung der Geschlechter in der bisherigen Form nicht mehr
bestehen bleiben kann. (Ebd., S. 317-318).
In
meinen Büchern »Land
ohne Kinder« (2006), »Die
Familienmanagerin« (2006), »Hurra,
wir werden Unterschicht!« (2007) und »Familie
als Beruf« (2008) wurde deshalb eine alternative Familienfinanzierung
vorgeschlagen: Jeder Bürger müßte für ein Kind Unterhalt
zahlen. Allerdings könnte er sich von dieser Verpflichtung durch das Aufziehen
eines eigenen Kindes befreien. Additiv oder alternativ zu den Unterhaltszahlungen
könnte auch eine (Teil-)Finanzierung über die Renten- und Pensionsansprüche
von Kinderlosen mit entsprechend hohen Leistungsbezügen erfolgen. (Ebd.,
S. 318).Der eingenommene Unterhalt könnte wie folgt
verwendet werden: Wenn viele Menschen kinderlos bleiben, kommen insgesamt zu wenig
Kinder auf die Welt. Die Differenz zu einer bestandserhaltenden Geburtenrate könnte
dann von staatlich beschäftigten Familienmanagerinnen abgedeckt werden, die
in aller Regel größere Familien mit drei oder mehr Kindern gründen.
Da die Familienarbeit dabei zum Vollzeitjob generiert, würden solche Familienfrauen
(oder auch -männer) vom Staat bezahlt. Allerdings benötigten sie entsprechende
Qualifikationen, da sie einen Beruf mit sehr hoher Verantwortung ausüben.
Auch müßten sie sich regelmäßig fortbilden (**).
(Ebd., S. 318).
Das
Familienmanager-Konzept kann im vorliegenden Buch nur kurz angerissen werden.
Die Grundidee ist: Kinderlose zahlen Unterhalt, mit dem dann staatlich beschäftigte
Familienmanagerinnen ihre eigenen Kinder aufziehen (**|**).
Alles andere ist dagegen diskutabel. (Ebd.). |
Dabei
würde das folgende ergänzende Familienmodell zum Einsatz kommen: | Der
Mann geht arbeiten und verdient Geld, die Frau zieht die Kinder auf und verdient
dafür ebenfalls Geld. | Dieses Familienmodell
trägt den Namen Familienmanagermodell. Es dürfte das einzige Familienmodell
sein, welches einen nennenswerten Anteil gut ausgebildeter Frauen unter der Rahmenbedingung
der Gleichberechtigung der Geschlechter zur Gründung einer Mehrkindfamilie
bewegen könnte. (Ebd., S. 318).
Natürlich würde auch die umgekehrte Variante (Die
Frau geht arbeiten und verdient Geld, der Mann zieht die Kinder auf und
verdient dafür ebenfalls Geld) funktionieren, allerdings dürften
solche Konstellationen eher selten sein. Ferner würde das Modell
Alleinerziehung (Die Frau zieht die Kinder auf und verdient dafür
Geld) - gegebenenfalls im Zusammenleben mit unterschiedlichen Partnern
- unterstützen, was für moderne Gesellschaften unerläßlich
zu sein scheint. Es umgeht die Problematik der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf (**),
indem es Familie zum Beruf macht. (Ebd., S. 318-319).
Grundlage
des Familienmanagermodells könnte die folgende »Norm« beziehungsweise
modifizierte verantwortete Elternschaft sein, die die Nachwuchsarbeit als eine
gesellschaftliche Kollektivaufgabe versteht, die prinzipiell von allen Bürgern
anteilsmäßig in direkter oder indirekter Form zu erbringen ist: | Jedem
steht es in unserer Gesellschaft frei, Kinder in die Welt zu setzen. Doch bitte
beachten Sie: .... Ein unkontrollierter Bevölkerungszuwachs sollte ... unbedingt
vermieden werden. Beschränken Sie sich nach Möglichkeit auf maximal
zwei Kinder pro Paar. Der Staat wird Maßnahmen ergreifen und fördern,
die für eine möglichst optimale Vereinbarkeit einer kleineren Familie
mit bis zu zwei Kindern mit einem Beruf und für einen relativ fairen Familienlastenausgleich
sorgen werden. | | Allerdings
ist die Gesellschaft auf eine insgesamt bestandserhaltende Reproduktion angewiesen.
Wenn viele Menschen kinderlos bleiben, kann eine solche nicht gewährleistet
werden. Deshalb ist es in unserer Gesellschaft zusätzlich Ihre Aufgabe, als
Paar zwei Kinder aufzuziehen, als Einzelperson ein Kind. Damit leisten Sie Ihren
Beitrag zu einer bestandserhaltenden gesellschaftlichen Reproduktion. Sie müssen
das aber nicht selbst tun, sondern Sie können die Aufgabe zum Teil oder in
Gänze anderen Fachleuten überlassen. Dafür müssen Sie dann
aber regelmäßig einen bestimmten Betrag abführen, damit diese
das auch in der entsprechenden Qualität für Sie tun können. | Wenn
es laut Präferenzmodell Frauen jedes Qualifikationsniveaus gibt, die lieber
eine größere Familie gründen würden aIs einer Erwerbsarbeit
nachzugehen ((vgl. Hans Bertram / W. Rösler / N. Ehlert, Nachhaltige
Familienpolitik, 2005, S. 27ff.; Catherine Hakim, Work-Lifestyle
in the 21st Century, 2005), dann ist die grundsätzliche Nichtkommerzialisierbarkeit
dieser für unsere Gesellschaft so eminent wichtigen Familienarbeit nicht
mit den Prinzipien der Geschlechtergleichberechtigung vereinbar, weil sonst solche
Frauen in ihrer Lebensplanung massiv benachteiligt werden. (Ebd., S. 319).Im
Abschnitt Systemflexibilität
wurde darauf hingewiesen, daß moderne Organisationssysteme
(**|**|**|**)
ihre Systemstrukturen bereits aus ihrem Selbsterhaltungsinteresse heraus immer
weiter flexibilisieren werden, denn hierdurch können sie ihre Anpassungsfähigkeit
an die Markterfordernisse und damit ihre Überlebensfähigkeit signifikant
erhöhen. Sie operieren in dieser Hinsicht aus einem Eigeninteresse heraus.
Allerdings wirkt sich dieser Prozeß auch unmittelbar auf die Mitarbeiter
der Unternehmen aus, denn nun müssen auch diese in ihrer Lebensplanung immer
flexibler werden (vgl. Richard Sennett, Der flexible Mensch, 2006), was
aber mit deren natürlichen Reproduktionsinteressen kollidiert, da beim Aufziehen
von Nachwuchs nicht Flexibilität, sondern ganz im Gegenteil dazu vor allem
Verläßlichkeit verlangt wird. Auch aus diesem Grund dürfte die
zukünftige Erweiterung der vorhandenen Familienmodelle um ein Familienmanagermodell
für Mehrkindfamilien geradezu unerläßlich sein. (Ebd., S.
320).
5.6) Gründe für den demographischen Wandel
Die
Ursachen des demographischen Wandels werden in meinen Büchern »Land
ohne Kinder« (2006), »Die
Familienmanagerin« (2006), »Hurra,
wir werden Unterschicht!« (2007) und »Familie
als Beruf« (2008) im Detail erörtert. Ich möchte an dieser
Stelle zwei Gründe exemplarisch herausgreifen und damit dann auch die wichtigsten
Ergebnisse des vorliegenden Kapitels noch einmal zusammenfassen. (Ebd.,
S. 320).
5.6.1) Geringes und ungleiches Reproduktionsinteresse
Seit
der allgemeinen Verfügbarkeit moderner Kontrazeptiva lassen sich Paarung
und Fortpflanzung präzise voneinander trennen. In der Folge hat sich das
menschliche Reproduktionsinteresse von einem machtvollen biologischen Trieb in
eine ökonomisch abschätzbare Größe gewandelt. (Ebd.,
S. 320).Gleichzeitig wurde damit die berufsorientierte weibliche
Emanzipation ermöglicht. In unserer Gesellschaft gilt nun die Norm, daß
sowohl Frauen als auch Männer einer Erwerbsarbeit nachgehen und sich eventuelle
Familienarbeiten dann paritätisch teilen. (Ebd., S. 320).Dies
hat eine ganze Reihe bemerkenswerter Konsequenzen: | Kinder
haben in modernen Gesellschaften fast ausschließlich nur noch einen Konsumnutzen.
Dieser wächst aber mit zunehmender Kinderzahl nicht schnell genug, um oberhalb
der gleichzeitig linear ansteigenden Familienkosten zu bleiben, weswegen sich
moderne Familien in der Regel auf kleine Familiengrößen beschränken.
Ihr Reproduktionsinteresse ist folglich gering, und zwar im Durchschnitt geringer,
als es für eine bestandserhaltende gesellschaftliche Reproduktion erforderlich
wäre. | | Sind
beide Elternteile berufstätig (was in unserer Gesellschaft allgemein angestrebt
wird), ergeben sich für Kinder nennenswerte Opportunitätskosten, und
zwar für beide Elternteile. Kinder werden dann potenziell umso teurer, je
mehr die Eltern verdienen, beziehungsweise je qualifizierter und verantwortungsvoller
ihre berufliche Tätigkeit ist. | Ferner
gilt: Je höher die beruflichen Qualifikationen sind, desto größer
ist meist auch der zeitliche Arbeitseinsatz, weswegen die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf dann selbst bei optimaler Vereinbarkeitsinfrastruktur besonders schwer
zu realisieren ist (**).
(Ebd., S. 320-321).
Beruflich
erfolgreiche und gutverdienende Paare sind auf keine öffentlichen Vereinbarkeitsinfrarstrukturen
angewiesen, da sie sich entsprechende Betreuungsleistungen privat kaufen köjnnten
(Studentinnen, Aupairmädchen, Kindermädchen, Haushälterin u.s.w.).
Trotzdem haben gerade solche Paare sehr wenige Kinder. Dies allein demonstriert
in aller Deutlichkeit, daß die Vereinbarkeitsthese
(»Paare bekommen deshalb so wenige Kinder, weil die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf noch nicht gegeben ist.«) nicht korrekt sein kann (**).
(Ebd.). |
In der
Folge sinkt das Reproduktionsinteresse mit steigenden Qualifikationen beziehungsweise
mit dem sozialen Erfolg. Es bildet sich dann ein Dilemma heraus, welches der Kernaussage
des »Central Theoretical Problems of Human Sociobiology« (siehe Abschnitt
Central
Theoretical Problem of Human Sociobiology) entspricht. Anders gesagt:
Die gesellschaftliche Reproduktion verletzt das Prinzip Reproduktionsinteresse
der Systemischen Evolutionstheorie. Es ist deshalb davon auszugehen, daß
sich moderne Gesellschaften mit solchen Eigenschaften nicht weiterentwickeln können
(**). (Ebd., S. 321).
In der Tat ist in
den meisten entwickelten Ländern seit Ende der 1990er Jahre ein
Absinken des durchschnittlichen IQs der Bevölkerung feststellbar
(vgl. Wissenschaft.de,
2005 [**]).
Gleichzeitig steigt in Deutschland seit Jahren der Anteil der Studierenden
mit mindestens einem akademischen Elternteil kontinuierlich an, und
zwar von 29 Prozent in 1985 auf 44 Prozent in 2000 (vgl. E. Schnitzer
/ W. Isserstedt / E. Middendorff, Die wirtschaftliche und soziale
Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland, 2001,
S. 119). Meist wird behauptet, dies sei ein deutliches Anzeichen dafür,
daß es in der Bundesrepublik noch immer keine gleichen Bildungschancen
für Kinder aus bildungsfernen und sozial schwachen Schichten
gebe. Dies übersieht allerdings, daß sich dieser Effekt
erst recht herausstellen würde, wenn absolute Chancengleichheit
bei der Bildung bestehen würde, weil dann der hohe erbliche Anteil
bei der Intelligenz zwangsläufig zum Ausdruck kommen müßte.
Eltern mit hoher Intelligenz würden daun nämlich mit höherer
Wahrscheinlichkeit einen Hochschulabschluß erreichen und gleichfalls
mit höherer Wahrscheinlichkeit Kinder mit hoher Intelligenz haben,
die nun wiederum mit einer höheren Wahrscheinlichkeit studieren
werden. (Ebd.). |
Separat
zu analysieren und zu diskutieren ist in diesem Zusammenhang aber auch das männliche
Reproduktionsinteresse, welches gemäß Untersuchungsergebnissen speziell
in der Bundesrepublik Deutschland unterhalb der weiblichen liegt, was aus biologischen
Gründen nicht sein dürfte (siehe Abschnitt Wozu
gibt es Sexualität?). Dies deutet darauf hin, daß insbesondere
für Männer nun gesellschaftliche Verhältnisse in Kraft sind, die
mit ihrem natürlichen Reproduktionsinteresse nicht mehr in Einklang zu bringen
sind. (Ebd., S. 322).Ich möchte das Thema an
dieser Stelle nicht weiter vertiefen, lediglich auf zwei Punkte hinweisen: |
Die
öffentliche Debatte zur prekären Nachwuchssituation in
den Industrienationen analysiert die Problematik vorwiegend aus
weiblicher Sicht, dabei scheint die Situation bei den Männern
noch verfahrener zu sein. |
| Das
in meinen Büchern »Land
ohne Kinder« (2006), »Die
Familienmanagerin« (2006), »Hurra,
wir werden Unterschicht!« (2007) und »Familie
als Beruf« (2008) vorgestellte Familienmanager-Konzept würde ganz
wesentlich auch den natürlichen männlichen Interessen entgegenkommen,
nämlich durchschnittlich weiterhin die deutlich geringeren Fortpflanzungsaufwände
zu haben. (Ebd., S. 322). |
5.6.2) Selbstfinanzierte Familie
Familien sind in
unserer Gesellschaft ökonomisch autarke Einheiten, die sich vom Grundsatz
her selbst zu ernähren haben. Anders gesagt: Familien besitzen eine Wirtschaftsfunktion.
Eine solche gesellschaftliche Vorgabe ist aber alles andere als selbstverständlich,
denn viele Naturvölker kennen etwas Vergleichbares nicht. (Ebd., S.
322).Im Patriarchat galt unter dem Paradigma der familialen
Wirtschaftsfunktion noch die einfache Regel: Familien, die mehr Ressourcen (Geld)
erlangten, konnten sich mehr Kinder »leisten«, sofern sie nur wollten.
Eine solche Regelung steht noch nicht im Widerspruch zu den Prinzipien der Darwinschen
Lehre. (Ebd., S. 322).Im Rahmen der Gleichberechtigung
der Geschlechter wurde die Wirtschaftsfunktion der Familie unbesehen beibehalten.
Nun sollen also im Rahmen des gesellschaftlich präferierten Vereinbarkeitsmodells
beide Elternteile gleichermaßen die erforderlichen Ressourcen beschaffen,
während sie sich gleichzeitig die Familienarbeit paritätisch teilen.
(Ebd., S. 322).Allerdings ist ein solches Modell - wenn
überhaupt - nur für kleinere Familien sinnvoll. Denn spätestens
ab dem dritten oder vierten Kind nimmt die Familienarbeit ein solches Ausmaß
an, daß entweder ein Elternteil oder gar beide ihre Arbeitszeiten signifikant
reduzieren müssen, und zwar selbst dann, wenn sie auf eine optimale Vereinbarkeitsinfrastruktur
zurückgreifen können. (Ebd., S. 323).Mit
jedem weiteren Kind dürfte sich die Situation weiter verschärfen. Dies
führt dann zu dem folgenden bemerkenswerten - in patriarchalischen Gesellschaften
nicht bekannten - Dilemma: | Mit
zunehmender Kinderzahl steigen die Ausgaben für die Familie, während
gleichzeitig ihre Einkünfte sinken (**|**). | Ich
möchte das an einem - allerdings stark vereinfachenden - Beispiel deutlich
machen: |
Ehepaar Müller
ist beruflich qualifiziert und erfolgreich. Die beiden Ehepartner
verdienen monatlich jeweils 3000 Euro nach Steuern. Mit jedem Kind
würden ihnen 500 Euro an zusätzlichen Kosten entstehen,
bei vier Kindern also 2000 Euro. Gleichzeitig entstünde dann
soviel Familienarbeit, daß beide nur noch halbtags arbeiten
gehen könnten. In der Folge reduzierten sich ihre Einkünfte
auf jeweils 1500 Euro pro Monat, das heißt, auf insgesamt
3000 Euro. Verdienten sie also vorher zusammen 6000 Euro im Monat,
die ihnen allein zur Verfügung standen, hätten sie mit
ihren vier Kindern noch 3000 Euro, während ihre Kosten gleichzeitig
um 2000 Euro angestiegen wären. Im Endeffekt würden sich
ihre persönlichen Einkünfte durch die Familiengründung
von 6000 Euro auf 1000 Euro pro Monat reduzieren. |
Das gerade geschilderte Dilemma ist mit den bislang öffentlich
diskutierten familienpolitischen Maßnahmen auch nicht einmal ansatzweise
behebbar. In der Folge verschwinden die größeren Familien,
oder sie werden systematisch in die Sozialhilfe abgedrängt, wo das
Selbsternährerdogma nicht mehr gilt, denn dort versorgt ja der Staat.
(Ebd., S. 323).
Auf
die Unternehmenswelt übertragen könnte das Dilemma wie folgt lauten:
»Mit zunehmenden Investitionen in die Zukunft des Unternehmens sinken die
Umsätze.« Unternehmen würden unter solchen Gegebenheiten ihre
Investitionen in die Forschung einstellen. Offenbar handeln moderne Paare ganz
entsprechend. (Ebd.). |
Dies
wäre alles noch hinnehmbar, wenn die gesellschaftliche Reproduktion auch
ohne größere Familien funktionieren könnte. Diverse Analysen konnten
jedoch zeigen: Dies ist nicht möglich. Und so wies denn auch der 7. Familienbericht
der Bundesregierung erneut darauf hin, daß der Geburtenrückgang in
Deutschland, aber auch in vielen anderen entwickelten Ländern, in erster
Linie auf das Verschwinden der Mehrkindfamilie zurückzuführen ist (Hans
Bertram / W. Rösler / N. Ehlert, Nachhaltige Familienpolitik, 2005,
S. 10). (Ebd., S. 323).Eine Konsequenz aus den obigen
Ausführungen ist: |
Die Familie, wie
wir sie kennen, ist mit der Gleichberechtigung der Geschlechter
nicht kompatibel. Unter den aktuellen Rahmenbedingungen muß
das System Familie neu überdacht werden. (Ebd., S.
324). |
5.7) Vereinbarkeit von Familie und Beruf **
Zum
Abschluß des Kapitels möchte ich noch einmal ein Thema aufgreifen,
welches im Laufe der bisherigen Ausführungen schon häufiger angesprochen
wurde, da es in einem unmittelbaren Zusammenhang zur Systemischen Evolutionstheorie
steht: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (**).
(Ebd., S. 324).Wie wir gesehen haben, sind die beiden zentralen
Lebensaufgaben der eigene Selbsterhalt und die Fortpflanzung. In
modernen menschlichen Gesellschaften erfolgt die Sicherung des Selbsterhalts im
allgemeinen durch eine berufliche Tätigkeit, während die Fortpflanzung
primär eine Sache der Familie ist. Man könnte deshalb auch sagen: Die
zentralen menschlichen Lebensaufgaben sind Beruf und Familie. (Ebd.,
S. 324).Gemäß dem Prinzip der natürlichen
Reproduktionsinteressen der Systemischen Evolutionstheorie sollten die Selbsterhaltungs-
und Reproduktionsinteressen innerhalb einer Population nicht negativ mit der relativen
Fitneß der Individuen in Bezug auf den Lebensraum korrelieren (siehe Abschnitt
Systemische Evolutionstheorie). In unserem konkreten Fall bedeutet das:
Das Fortpflanzungsinteresse (der Kinderwunsch) sollte nicht systematisch und statistisch
signifikant mit dem sozialen Erfolg (Karriere, Einkommen u.s.w.) der Bürger
zurückgehen. Im Abschnitt Gültigkeit
der Darwinschen Evolutionsprinzipien konnte gezeigt werden, daß
sich dann auch das Prinzip der natürlichen Auslese einstellen würde.
(Ebd., S. 324).Tatsächlich sind die Verhältnisse
in modernen menschlichen Gesellschaften aber genau umgekehrt (siehe die einleitenden
Bemerkungen zu diesem Kapitel [**]),
denn dort besteht im allgemeinen ein negativer Zusammenhang zwischen Kinderzahl
und sozialer Position beziehungsweise Bildungsniveau (vgl. Johannes Kopp, Geburtenentwicklung
und Fertilitätsverhalten, 2002, S. 89). Der Grund für dieses Dilemma
ist das in modernen menschlichen Gesellschaften mit zunehmendem beruflichen Erfolg
zurückgehende Reproduktionsinteresse, wie der Abschnitt Central
Theoretical Problem of Human Sociobiology aufzeigen konnte. Empirische
Untersuchungen bestätigen diesen Zusammenhang (siehe Abschnitt Reproduktionsinteresse).
(Ebd., S. 324-325).In der öffentlichen Debatte zum
demographischen Wandel und zur Familiensituation wird meist behauptet, die genannten
Probleme resultierten aus der noch immer nicht gegebenen Vereinbarkeit von
Familie und Beruf (**).
Allerdings verkennt eine solche Argumentation die enorme Wirkmacht der Opportunitätskosten.
(Ebd., S. 325).Wenn sich in einem Restaurant die zeitlichen
Aufwände für Kochen und Bedienen ungefähr die Waage halten, dann
ist die Vereinbarkeit von Kochen und Bedienen (alle Mitarbeiter machen beide Arbeiten
gleichermaßen) eine ineffiziente Lösung, eine Arbeitsteilung zwischen
Kellnern und Köchen dagegen vergleichsweise effizient. Spätestens seit
den Arbeiten von Adam Smith und David Ricardo (Ricardos Theorem der komparativen
Kostenvorteile) gehört dies zu den gesicherten Erkenntnissen der Wirtschaftswissenschaften.
Ganz ähnlich sieht es beim Verhältnis von Familie und Beruf aus, und
zwar insbesondere in Mehrkindfamilien, wo die Familienarbeit ein solches Ausmaß
annimmt, daß sie zum Vollzeit-Job generiert. (Ebd., S. 325).Grundsätzlich
handelt es sich bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf (**)
um einen Balanceakt zwischen zwei völlig unterschiedlichen, zeitaufwändigen
Tätigkeiten. Man hat sich dann individuell zu entscheiden, wo die Trennlinie
zwischen den beiden zentralen Lebensaufgaben gezogen werden soll: mehr auf der
Seite des Berufs oder eher auf der Familienseite. Entscheidet sich beispielsweise
ein Paar beiderseitig für eine berufliche Karriere, bleibt ihm zwangsläufig
weniger Zeit für die Familie. Es hätte zwar dann die ökonomischen
Mittel, eine größere Familie zu finanzieren, allerdings fehlte es ihm
an Zeit. Mit der beruflichen Beanspruchung dürfte sein Fortpflanzungsinteresse
somit zurückgehen. Daraus folgt aber unmittelbar: Als generelles Konzept
zur Lösung der Familienproblematik steht die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf im Widerspruch zur Systemischen Evolutionstheorie. Eine menschliche Gesellschaft
mit einem auf solchen Prinzipien basierenden Fortpflanzungsverhalten könnte
sich nicht weiter an sich veränderode Rahmenbedingungen anpassen. Sie könnte
also nicht weiter evolvieren. (Ebd., S. 325-326).
Unsere komplexe Wirtschaftswelt hat eine ganze Reihe an Berufen
hervorgebracht, bei denen man zum Teil ganze Tage oder sogar Wochen außer
Haus verbringen muß. Ganz so neu ist die Situation eigentlich nicht,
denn für die Seefahrt gilt das schon seit vielen tausend Jahren.
Auch heute kann man nicht einerseits auf einem Fracht- oder Kreuzfahrtschiff
anheuern und gleichzeitig noch einen angemessenen Beitrag zur Familienarbeit
leisten. Familie und Beruf lassen sich in solchen Fällen nur arbeitsteilig
vereinbaren. Eine gesellschaftsweite Vorgabe, die davon ausgeht, daß
Frauen und Männer ähnliche Lebensentwürfe besitzen und
folglich gleichermaßen einer Erwerbsarbeit nachgehen und sich eventuelle
Familienarbeiten dann paritätisch teilen, würde Menschen mit
solchen Berufen aber regelrecht zur Kinderlosigkeit verdammen, da die
jeweiligen Ehepartner dann die gesamte Familienarbeit - ähnlich Alleinerziehenden
- zu leisten hätten, wodurch sich für sie eine gleichzeitige
Berufstätigkeit und damit Verdienstmöglichkeit praktisch ausschließt.
Selbst kleinere Familien wären unter solchen Verhältnissen kaum
noch zu finanzieren. (Ebd., S. 326).
Im Abschnitt Systemflexibilität
wurde aufgezeigt, daß die moderne Wirtschaftsweise immer höhere Flexibilitätsanforderungen
an die Beschäftigten stellt, die aber mit deren Reproduktionsinteressen kollidieren,
da beim Aufziehen von Nachwuchs nicht Flexibilität, sondern in erster Linie
Verläßlichkeit verlangt wird. Auch aus diesem Grunde dürfte eine
Vereinbarkeit von Familie und Beruf (**)
in der Praxis auf erhebliche systemimmanente Schwierigkeiten stoßen.
(Ebd., S. 326).Und schließlich steht die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf (**)
als generelles gesellschaftliches Konzept im Widerspruch zur Individualisierungsthese
(vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft, 1986; Peter Mersch, Hurra,
wir werden Unterschicht!, 2007, S. 136ff. [**];
Peter Mersch, Die
Emanzipation - ein Irrtum!, 2007, S. 74ff. [**]),
die eine sich verstärkende Arbeitsteilung, keineswegs aber das Zusammenführen
völlig unterschiedlicher und vorher bereits arbeitsteilig verrichteter Tätigkeiten
prognostiziert (siehe dazu auch die Ausführungen im Kapitel Zivilisation).
(Ebd., S. 326).Fazit: Das Konzept der grundsätzlichen
Vereinbarkeit von Familie und Beruf (**)
steht in Verbindung mit der generellen Angleichung der Lebensentwürfe
beider Geschlechter und dem Konzept der Familie als ökonomisch autarke
Einheit (Wirtschaftsfunktion der Familie) sowohl im Widerspruch zur soziologischen
Individualisierungsthese als auch zur Systemischen Evolutionstheorie.
(Ebd., S. 326)
6) Zivilisation **
(S. 327-378)
Peter
Mersch definiert den Begriff Zivilisation zum Teil anders
als ich (HB)!
** |
6.1) Soziologische Theorien.
6.1.1) Karl Marx (S. 327-331)
6.1.2) Herbert Spencer (S. 331-333)
6.1.3) Emile Durkheim (S. 333-335)
6.1.4) Max Weber (S. 335-336)
6.1.5) Systemtheorie
(Parsons/Luhmann) (S. 336-341)
6.1.6) Kritische Theorie (S. 341)
6.1.7) Handlungstheorie (S. 342-343)
6.1.8) Norbert Elias (S. 344-348)
6.1.9) James S. Coleman (S. 348-349)
6.1.10) Walter G. Runciman (S. 350-352) |
6.1.5) Systemtheorie (Parons/Luhmann)
Luhmann.
Talcott Parsons Systemtheorie kann als eine strukturfunktionale
Theorie bezeichnet werden, denn gemäß ihr ist ein System eine
sich in Elemente untergliedernde und eine bestimmte Struktur aufweisende
Einheit. Die Funktionen sind der Struktur nachgelagert, da sie primär
den Bestand der Struktur sichern sollen. (Ebd., S. 339).
Niklas Luhmann ging es umgekehrt um die Fragestellung, wie soziale
Systeme entstehen und wie sie entsprechende Funktionen ausbilden (vgl.
Hermann Korte, Soziologie, 2004, S. 75). Seine Antwort darauf war:
Ein soziales System entsteht erst in der Abgrenzung gegenüber seiner
Umwelt, und zwar durch die Wahrnehmung bestimmter Funktionen, die sich
aus sinnhaftem menschlichen Handeln zusammensetzen. Für ihn ist nicht
die Systemstruktur entscheidend, sondern das Verhältnis zwischen
einzelnen Systemen und deren Funktionen. In seiner Systemtheorie ist folglich
die Funktion der Struktur vorgelagert, weswegen er den Begriff der funktional-strukturellen
Systemtheorie prägte (vgl. Hermann Korte, Soziologie, 2004,
S. 76). (Und weswegen er besonderen Wert auf
die Funktionssysteme des Gesamtsystems Gesellschaft legte; diese
moderne Weltgesellschaft ist für ihn eine funktional [aus]differenzierte!
HB)
(Ebd., S. 339).
Während also soziale Systeme bei Parsons bereits Strukturen
besitzen, die sich gemäß dem AGIL-Schema erhalten oder auch
verändern, geht Luhmann von der Annahme aus, daß sich soziale
Systeme durch die Handlungen beziehungsweise Kommunikationen von Menschen
erst bilden (vgl. Hermann Korte, Soziologie, 2004, S. 76).
(Ebd., S. 339).
Eine Kernaufgabe sozialer Systeme ist gemäß Luhmann
die Reduktion von Komplexität. Soziale Systeme bilden also Inseln
geringerer Komplexität in einer ansonsten komplexeren Umwelt. Im
Verlaufe der Moderne findet nun eine fortschreitende funktionale Differenzierung
in immer mehr gesellschaftliche Subsysteme statt, die wechselseitig voneinander
abhängig sind. Je stärker sich eine Gesellschaft ausdifferenziert,
desto entwickelter und komplexer ist sie. Man könnte folglich die
Fortgeschrittenheit einer Gesellschaft über den Grad ihrer Ausdifferenziertheit
bestimmen (vgl. Hermann Korte, Soziologie, 2004, S. 77).
(Ebd., S. 339-340).
In einer späteren Phase übertrug Luhmann den aus der
Biologie stammenden Begriff der Autopoiesis auf soziale Systeme. Ähnlich
wie sich lebende Zellen eigenständig reproduzieren, organisieren
sich soziale Systeme gemäß seinen Vorstellungen fortlaufend
aus sich selbst heraus, und zwar durch sinnhafte, auf sich selbst bezogene
(selbstreferenzielle ) Kommunikation, inklusive entsprechender Anschlußkommunikationen.
Die Konsequenz daraus ist: Menschen können nicht den sozialen Systemen
angehören, sondern müssen deren jeweiligen Umwelten zugerechnet
werden. (Ebd., S. 340).
Aufgrund ihrer systemspezifischen Kommunikationsweise werden die
verschiedenen Subsysteme mit der Zeit immer geschlossener, so daß
zwischen ihnen dann prinzipiell keine Kommunikation mehr möglich
ist (vgl. Hermann Korte, Soziologie, 2004, S. 79) (**).
(Ebd., S. 340).
Niklas Luhmann folgert
deshalb etwa, man könne Unternehmen zwar mit ökonomischen
Argumenten auf etwaige ungünstige soziale oder ökologische
Folgewirkungen ihres Tuns hinweisen, nicht aber mit moralischen Argumenten.
(Ebd.). |
Um die Weiterentwicklung von Gesellschaften und sozialen Systemen
erklären zu können, entwarf Luhmann ein sich an Darwin anlehnendes
Evolutionsmodell, welches sich aus dem Dreiklang Variation, Selektion
und Restabilisierung zusammensetzt. Die Variation wird dabei den Elementen
eines Systems, die Selektion der Struktur und die Restabilisierung dem
System selbst zugeordnet (vgl. Christian Schmidt-Wellenburg, Evolution
und sozialer Wandel - Neodarwinistische Mechanismen bei W. G. Runciman
und N. Luhmann, 2005, S. 119). (Ebd., S. 340).
Die Funktion der Restabilisierung wurde erforderlich, da die Luhmannsche
Systemtheorie keine stabilen Umwelten kennt. Einmal getroffene Selektionen
müssen also nicht unbedingt zu stabilen Systemzuständen führen,
da ja die Umwelt variabel ist. Folglich müssen die Systeme, um weiterhin
an der Evolution teilnehmen zu können, selbst für die erforderliche
Stabilität sorgen. Dazu dient die Restabilisierung (gl. Christian
Schmidt-Wellenburg, Evolution und sozialer Wandel, 2005, S. 118).
(Ebd., S. 340).
Zusätzliche Informationen zur Luhmannschen Systemtheorie
finden sich in den Abschnitten Luhmannsche
Systemheorie und Autopoietische Systeme. (Ebd.,
S. 340).
Die Luhmannsche Systemtheorie weist
einige Ähnlichkeiten zur Systemischen Evolutionstheorie auf,
da es sich bei beiden Ansätzen letztlich um Systemtheorien handelt.
Allerdings bestehen in einigen entscheidenden Punkten (Begriff der Autopoiesis,
Evolutionsprinzip, Zugehörigkeit von Menschen zu sozialen Systemen
etc.) so große Differenzen, daß die beiden Ansätze als
nicht miteinander kompatibel bezeichnet werden müssen. (Ebd.,
S. 340-341).
6.2) Evolutionismus und Neoevolutionismus
Während
ältere Theorien (Evolutionismus) häufig noch davon ausgingen,
daß sich menschliche Gesellschaften auf unterschiedlichen Stufen der sozialen
Entwicklung befinden, die bei »primitiven« Urgesellschaften beginnt
und sich dann immer mehr in Richtung »Zivilisation« bewegt, um dann
etwa bei den westlichen Gesellschaften und ihrer Kultur zu kulminieren (die soziokulturtellen
Evolutionstheorien von Auguste Comte, Herbert Spencer, Lewis Henry Morgan und
gewissermaßen auch die von Karl Marx fallen in diese Kategorie), lehnen
die meisten jüngeren Theorien (Neoevolutionismus) - ähnlich der
Systemischen Evolutionstheorie - die Vorstellung einer zielgerichteten gesellschaftlichen
Änderung oder gar eines sozialen Fortschritts ab. (Ebd., S. 352).
6.3) Zivilisierungsthese
Beim Prozeß der Zivilisation
handelt es sich um die sukzessive gesellschaftsweite Umstellung von dominanten
Kommunikationsweisen (Zwangsselektionen) auf die Gefallen-wollen-Kommunikation
(das heißt aber: der Beginn der Sexualität bzw.
Gefallen-wollen-Kommunikation ist auch der Beginn der Zivilisation [??]
! HB), bei
der die Selektionsinteressen der Kommunikationspartner wahr- und ernstgenommen
werden. (Ebd., S. 354).Indirekt wird damit auch definiert,
was im vorliegenden Kapitel unter Zivilisation verstanden werden soll:
Eine Gesellschaft, in der die Selektionsinteressen aller Mitglieder üblicherweise
respektiert werden - und zwar sowohl von Bürgern, sonstigen Akteuren und
gesellschaftlichen Organen -, wäre in diesem Sinne zivilisierter als ein
anderes Sozialsystem, in dem es für die menschen zu häufigen dominanten
Übergriffen und belästigungen kommt. Dies würde ganz unbahängig
davon gelten, ob man in der Gesellschaft nur von Jagd und Fischfang lebt, oder
auch Atomkraftwerke, Internet und Autobahnen besitzt. (Ebd., S. 354).
6.4) Die Tragik der Allmende
Unter der Tragik der
Allmende versteht man in der Volkswirtschaftslehre die Beobachtung, daß
Menschen unter bestimmten Bedingungen bei einer gemeinschaftlichen Tätigkeit,
bei der der individuelle Ertrag den Personen nicht zurechenbar ist, weniger leisten.
Dieses Problem tritt häufig bei Gemeinschaftseigentum, so genannten Allmenden,
auf. Dies sei an einem Beispiel erläutert:Angenommen,
eine Gruppe von 80 Personen bewirtschaftet gemeinsam ein Feld. Alle Gruppenmitglieder
haben bei voller Arbeitsleistung einen Aufwand von 50 Einheiten, ziehen jedoch
dann einen Ertrag von 100 Einheiten aus der Ernte, die sie ja in gleichen Teilen
erwirtschaften. Die Tragik der Allmende besteht nun darin, daß bei genügend
großer Gruppengröße die Faulheit eines einzelnen Mitglieds die
Ernte pro Gruppenmitglied nur unwesentlich verringert, der Aufwand für das
faule Gruppenmitglied aber stark abnimmt, wodurch sein Nutzen insgesamt steigt. Wenn
alle 80 Gruppenmitglieder voll arbeiten, dann erwirtschaften sie gemeinsam einen
Ertrag von 80 100 = 8000 Einheiten. Jedem Gruppenmitglied steht am Ende
ein Ertragsanteil von 100 Einheiten zu. Zieht er davon seinen Aufwand von 50 Einheiten
ab, dann hat er einen eigenen Nutzen von 50 Einheiten erwirtschaftet. Angenommen,
ein Mitglied arbeitet nur halb so viel wie die anderen Gruppenangehörigen.
Dann hat es nur noch einen Aufwand von 25 Einheiten. Für die Gesamtgruppe
ergibt sich nun ein Ertrag von 79 100 + 100 1/2 = 7950 Einheiten.
Jedem Gruppenmitglied steht unter diesen Umständen ein individueller Ertrag
von 99,375 Einheiten zu. Für die voll arbeitenden Mitglieder ergibt dies
einen Nutzen von 99,375 - 50 = 49,375 Einheiten. Günstiger sieht der
Ertrag für das etwas faulere Gruppenmitglied aus, denn dieses erwirtschaftet
einen Nutzen von 99,375 - 25 = 74,375 Einheiten. Obwohl ein Gruppenmitglied
also nur die Hälfte geleistet hat, erzielt es mit 74,375 Einheiten einen
deutlich größeren Nutzen als vorher (50 Einheiten) beziehungsweise
als die anderen Gruppenmitglieder aktuell erzielen (49,375 Einheiten). | Es
lohnt sich also in einer Allmende, faul zu sein, sofern eine gewisse Anzahl an
Mitgliedern es nicht ist. Es ist nun aber zu erwarten, daß sich immer mehr
Gruppenmitglieder faul verhalten werden und der Gruppenertrag noch weiter sinken
wird. Die Tragik der Allmende schaukelt sich dann weiter hoch, und die
gesamte Gruppe gerät in eine Rationalitätenfalle, bei welcher
Kollektivrationalität und Individualrationalität im Konflikt miteinander
stehen. (Ebd., S. 355-356).»Es geht - moralisch
gesprochen - gar nicht um die Maximierung des eigenen Vorteils, sondern darum,
nicht selbst in eine schlechte Position zu geraten (**).«
(Frank Schirrmacher, Minimum - Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft,
2006, S. 67). (Ebd., S. 356).
Es
geht also primär um den eigenen Selbsterhalt und nicht um die Übervorteilung
anderer. (Ebd.). |
Die
Tragik der Allmende schaukelt sich dann weiter hoch, und die gesamte Gruppe
gerät in eine Rationalitätenfalle, bei welcher Kollektivrationalität
und Individualrationalität im Konflikt miteinander stehen. (Ebd., S.
356).
6.5) Individualisierung
Die in der Soziologie
sehr weit akzeptierte Individualisierungsthese besagt nun, daß sich der
Einzelne in modernen Gesellschaften immer stärker aus übergeordneten
Vorgaben bezüglich Geschlecht, Alter beziehungsweise sozialer oder regionaler
Herkunft löst, so daß es zu einer drastischen Zunahme der individuellen
Entscheidungsspielräume und einer Reduzierung des Grads der Außensteuerung
kommt. Das Individuum wird zentraler Bezugspunkt für sich selbst und die
Gesellschaft. (Vgl. Matthias Junge, Individualisierung, 2002, S. 7).
(Ebd., S. 356).Individualisierung bewirkt nicht nur eine
stärkere Abhängigkeit des Einzelnen von Leistungen Dritter und dabei
zum Teil auch von (wohlfahrts)staatlichen Funktionen (Bildungseinrichtungen, innere
Sicherheit, Rechtsprechung, Altersversorgung u.s.w.; vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft,
1986, S. 109f.), sondern setzt diese geradezu voraus. Dies hat aber umgekehrt
zur Konsequenz, daß der Wohlfahrtsstaat immer mehr Funktionen übernehmen
und garantieren muß, die gemeinhin dem Kollektivverhalten zuzurechnen sind.
(Vgl. Stefan Lange / Dietmar Braun, Politische Steuerung zwischen System und
Akteur, 2000, S. 20). (Ebd., S. 357).Wird
dem Individuum also zugestanden, sich zeitlich möglichst vollständig
auf eine am Arbeitsmarkt angeforderte Leistung zu konzentrieren und seinen individuellen
Lebenslauf frei zu wählen, dann müssen bei sich einstellenden Defiziten
alle anderen Leistungen, die üblicherweise Teil seiner zu erbringenden Kollektivleistung
sind (zum Beispiel Herstellen von Sicherheit, Weitergabe von Wissen, Aufziehen
von Nachwuchs, Versorgung Älterer, Unterstützung von Notleidenden) von
Dritten und damit unter Umständen vom Wohlfahrtsstaat übernommen werden.
Dieser wird sich dabei häufig selbst des Arbeitsmarktes bedienen, beispielsweise
um dort geeignete Lehrer für das Unterrichten von Kindern zu rekrutieren.
(Ebd., S. 357).Zusammenfassend könnte man sagen: | In
traditionellen Gesellschaften hatten die Menschen neben ihren individuellen Aufgaben
auch kollektive Pflichten zu erfüllen. Zur Sicherstellung der Erfüllung
der Gemeinschaftsaufgaben dienten gesellschaftliche Rollenvorgaben. | | Im
Rahmen der Individualisierung verselbständigt sich der Einzelne nun
immer mehr gegenüber der Gemeinschaft. Dabei löst er sich von den traditionalen
Rollenvorgaben. Als Handelnder sucht er seinen individuellen Erfolg zum Beispiel
bei einer Erwerbsarbeit, wo er um so mehr Einkommen erzielen kann, je geringer
seine Aufwände (inklusive Opportunitätskosten) bei den Gemeinschaftsaufgaben
sind, denn er hat ja dann mehr Zeit für die Erwerbsarbeit. Für ihn lohnt
es sich also ganz besonders, bei den »sozialistischen« Gemeinschaftsaufgaben
»faul« zu sein, weswegen es dort zwangsläufig zur Tragik der
Allmende kommen wird. | | Die
verbindliche Ausführung von notwendigen Gemeinschaftsaufgaben muß nun
also auf andere Weise gewährleistet werden. Dazu dient die Institutionalisierung.
Statt die Kollektivaufgaben weiterhin dem Einzelnen anteilsmäßig aufzubürden,
werden sie an Dritte ausgelagert, und zwar ganz häufig an den Wohlfahrtsstaat.
Dieser erwartet dann aber von seinen Bürgern einen Obolus, üblicherweise
in Form von Steuern oder eines so genannten Parafiskus. Diese Steuern müssen
wiederum verpflichtend erhoben werden, andernfalls dürfte es bei der Steuerzahlung
selbst zur Tragik der Allmende kommen. Steuern stellen somit ein Äquivalent
für die Summe aller Kollektivaufgaben des Individuums dar. Wenigstens dieser
Punkt muß verpflichtend bleiben (**). | | Der
Wohlfahrtsstaat wird dann neue Institutionen schaffen, die die freigesetzten Gemeinschaftsaufgaben
in seinem Sinne und Auftrag erfüllen. | | Finanziert
werden die Institutionen durch die Steuerzahlungen der Bürger. Die Mitarbeiter
der neu erschaffenen Organe rekrutiert der Staat wie jedes andere Unternehmen
über den Arbeitsmarkt, so daß auch diese von den Vorteilen der Individualisierung
profitieren können. (Ebd., S. 358). |
Neuerdings
versucht man mit dem bedingungslosen Grundeinkommen (**|**|**|**|**|**)
auch diesen letzten Rest an verbindlichen Kollektivaufgaben in Frage zu stellen
(vgl. Götz W. Werner, Einkommen für alle, 2007), was aber aus
den bereits genannten Gründen nicht möglich sein dürfte (vgl. Peter
Mersch, Irrweg
Bürgergeld, 2007). Siehe dazu auch die Ausführungne im Abschnitt
Grundeinkommen.
(Ebd.). |
6.6) Moderne **
Peter
Mersch definiert den Begriff Moderne zum Teil anders als ich (HB)!
** |
Der
Begriff der Moderne bezeichnet einen Umbruch in allen Bereichen des individuellen,
gesellschaftlichen und politischen Lebens gegenüber traditionellen Lebensformen,
und zwar kulturell schon beginnend mit der Aufklärung ab dem 17. Jahrhundert,
ökonomisch mit der Industrialisierung ab Mitte des 18. Jahrhunderts
und politisch mit der französischen Revolution. (Ebd., S. 358).Voraussetzung
für die Entstehung der Moderne waren unter anderem einige entscheidende Entdeckungen,
Erfindungen und Innovationen (siehe dazu auch die Ausführungen im Abschnitt
Leben und
Energie). Zu nennen sind insbesondere: | Entdeckung
und Nutzbarmachung fossiler Brennstoffe.Hierdurch
verfugten die Menschen über Energie in einer bislang unbekannten Größenordnung.
Viele Arbeiten konnten nun von Maschinen erledigt werden. | | Erfindung
des Buchdrucks.Der
Buchdruck war die Voraussetzung für die schnelle Verbreitung und Akkumulation
des menschlichen Wissens und damit für viele spätere wissenschaftliche
Entdeckungen. | | Neue
wissenschaftliche Erkenntnisse.In
zahlreichen Naturwissenschaften gelangen bahnbrechende neue wissenschaftliche
Erkenntnisse. Die wissenschaftliche Vorgehensweise setzte sich mehr und mehr als
allgemeingültige Methode des Erkenntnisgewinns durch. | | Geldverkehr,
Märkte, Finanzwirtschaft.Das
Geld wurde allgemein anerkanntes Tauschäquivalent. Im gleichen Zuge entstanden
Börsen (Finanzmärkte), Banken und Märkte aller Art. | Ein
ganz entscheidendes Merkmal der Moderne dürfte aber das massenhafte Entstehen
größerer Organisationen (Unternehmen) sein, bei denen es sich quasi
um neuartige biologische Phänomene mit eigenen Identitäten und eigenständigen
Selbsterhaltungsinteressen handelt. Anfanglich befanden sich diese noch überwiegend
im Besitz von einigen wenigen Personen (»der Kapitalist«). Auch begrenzten
sie ihr Tätigkeitsfeld aufgrund vorhandener Kommunikationslimitationen meist
auf eingeschränkte lokale Regionen. (Ebd., S. 359).Organisationssysteme
besitzen in aller Regel einen im Vergleich zu Menschen ungeheuren Energie- und
Ressourcenbedarf (Kapitalbedarf). Beiden Anforderungen wurde die beginnende Moderne
mit der Nutzbarmachung fossiler Brennstoffe und dem Aufkommen leistungsfahiger
Banken und Finanzmärkte gerecht. Erst damit waren die Voraussetzungen geschaffen,
um biologische Phänomene dieser Größenordnung entstehen zu lassen.
(Ebd., S. 359-360). Mit zunehmender Größe können
Unternehmen kostengünstiger produzieren (aufgrund der Nutzung von Skaleneffekten)
und sich somit gegenüber Konkurrenten einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.
Mit dem Wachstum differenzieren sie sich dann intern immer weiter aus, und zwar
zur Komplexitätsreduzierung. (Ebd., S. 360).Ein
ganz ähnlicher Effekt ist mit Beginn der Neuzeit auch gesellschaftsweit zu
verzeichnen. Aufgrund des in diesem Zeitraum einsetzenden starken Bevölkerungswachstums
und der dadurch bedingten höheren Bevölkerungsdichte kam es gemäß
Émile Durkheim zunächst zu einer Verstärkung der Arbeitsteilung
und dann auch zu einer zunehmenden funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft,
und zwar auch hier zur Komplexitätsreduzierung. (Ebd., S. 360).Eine
hohe Bevölkerungsdichte hat aber noch ganz andere Konsequenzen. Beispielsweise
ist es dann viel schwieriger, individuell für den eigenen Schutz oder den
der Familie zu sorgen, und zwar insbesondere dann, wenn Menschen im allgemeinen
noch bewaffnet sind und sich auf unmittelbare körperliche Auseinandersetzungen
eingestellt haben. Unter solchen Verhältnissen bietet es sich geradezu an,
sich in Konfliktsituationen etwas zurückzunehmen, die Interessen anderer
wahrzunehmen und zu wahren und vor allen Dingen auch jederzeit »cool«
zu bleiben. Mit anderen Worten: Eine deutliche Erhöhung der Bevölkerungsdichte
hat nicht nur veränderte Anforderungen bei den Schutzmaßnahmen zur
Folge, sondern auf der anderen Seite auch eine verstärkte Affektkontrolle
auf Seiten der Individuen. Auf diese beiden wichtigen Aspekte soll in den folgenden
Abschnitten (**|**)
noch einmal gesondert eingegangen werden. (Ebd., S. 360).Hohe
Bevölkerungsdichten dürften auch in der Natur mit einem Rückgang
ausgeprägter Dominanzhierarchien einhergehen, denn ansonsten würden
durch die dann alsbald zu erwartenden permanenten Auseinandersetzungen um Rangpositionen
viel zu viele Reibungsverluste entstehen. Beispielsweise wäre ein einzelnes
Männchen unter solchen Gegebenheiten wohl kaum noch in der Lage, seinen Harem
aus mehreren Weibchen gegen eine Übermacht aus partnerlosen Männchen
zu verteidigen. In solchen Konstellationen scheint also die sexuelle Selektion
mit der Auswahl geeigneter Männchen durch die Weibchen die bessere und friedlichere
Strategie zu sein. Mit anderen Worten: Allein schon die Zunahme der Bevölkerungsdichte
dürfte einen Trend zur Gefallen-wollen-Kommunikation
zur Folge haben. (Ebd., S. 360).Eine verstärkte
Arbeitsteilung und gesellschaftliche Ausdifferenzierung geht Hand in Hand mit
einer zunehmenden beruflichen Spezialisierung. Im Rahmen der sich ausdifferenzierenden
Arbeitswelt entstehen dann immer mehr Jobs mit ganz spezifischen Anforderungen,
auch was die dafür erforderlichen Kompetenzen angeht. Die Menschen sind nun
allgemein dazu gezwungen, sich mit ihren jeweiligen Kompetenzen auf den Arbeitsmärkten
anzubieten, das heißt, mit ihren Fähigkeiten »gefallen«
zu wollen. Auch hier wäre also ein genereller Trend zur Gefallen-wollen-Kommunikation
festzustellen. (Ebd., S. 361).
Umgekehrt erfolgt die gesellschaftliche Ausdifferenzierung
aber nicht nur zur Komplexitätsreduzierung, sondern sie dürfte
zum Teil eine direkte Konsequenz der zunehmenden Bedeutung der Gefallen-wollen-Kommunikation
sein. Gefallen-wollen bedeutet nämlich auch, sich immer wieder -
und ganz besonders nach Mißerfolgen - auf die Suche nach neuen Möglichkeiten,
Nischen oder Geschäftsoptionen zu machen. Die hierdurch entstehende
weitere Ausdifferenzierung schafft dann gegebenenfalls ganz neue Bedürfnisse
und Erwartungen. Jeder Einzelne ist nun gefordert, seinen eigenen Weg
zu finden und einzuschlagen, spezifische Fähigkeiten zu entwickeln
und Qualifikationen zu erwerben und dann auch damit zu werben. Anders
gesagt: Es kommt zu einem Wandel von der Ähnlichkeit zur Differenz
und damit auch zu einer zunehmenden Individualisierung, bei der die Menschen
aus ihren traditionalen Bindungen gerissen und verstärkt auf sich
selbst und ihr individuelles Arbeitsmarktsrisiko verwiesen werden (vgl.
Rüdiger Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, 2000,
S. 363f.). Die durch gesellschaftliche Rollenvorgaben vermittelten Fremdzwänge
werden im Rahmen dieser Entwicklung dann mehr und mehr durch Selbstzwänge
ersetzt. (Ebd., S. 361).
Gefallen-wollen-Kommunikation
und gesellschaftliche Ausdifferenzierung bewirken sich folglich gegenseitig.
(Ebd., S. 361).Es wurde bereits erwähnt, daß
ein wesentliches Merkmal der Moderne das massenhafte Entstehen größerer
Organisationssysteme ist. Karl Marx bezeichnete die Wirtschaftsform dieser Epoche
sogar als Kapitalismus. (Ebd., S. 361).Nun bilden
aber Organisationen ihre eigenen Organisationsstrukturen und Dominanzhierarchien
aus, wobei sie die jeweiligen Rechte und Pflichten der einzelnen Ebenen untereinander
meist präzise festlegen und beschreiben. (Ebd., S. 361).In
modernen Marktwirtschaften halten sich die Staaten aus dem eigentlichen Marktgeschehen
weitestgehend heraus. Der Grundgedanke dabei ist, den Wettbewerb unter den verschiedenen
Marktteilnehmern anzuregen und so für mehr Leistung und Innovation im Vergleich
zu staatlichen Monopolbetrieben zu sorgen. Die Unternehmen sind nun aber wiederum
aus Wettbewerbsgründen vor allem an hohen menschlichen Kompetenzen interessiert.
Solange Energie in ausreichender Menge und dabei auch noch preiswert zur Verfügung
steht, werden Unternehmen es immer vorziehen, Maschinen statt Menschen für
die Verichtung monotoner und körperlich schwerer Tätigkeiten einzusetzen.
Die an qualifiziertem Humankapital interessierten Organisationen dürften
deshalb eher Gesellschaftsstrukturen präferieren, in denen sich ihnen alle
Bürger frei und gleich mit ihren Qualifikationen anbieten können, die
Gesellschaft selbst also möglichst wenige Dominanzhierarchien und Klassen-,
Rassen- beziehungsweise Geschlechterunterschiede aufweist (**).
(Ebd., S. 361-362).
Allerdings
müssen sich die Gesellschaften vor einem solch universellen Zugriffsanspruch
der Organisationen auf ihr Humankapital auch ausreichend schützen, weil sie
dieses sonst nicht mehr angemessen reproduzieren können. Eine entsprechende
Fehlentwicklung ist in den Industrienationen längst festzustellen.
(Ebd.). |
In Gesellschaften,
in denen fast alle wesentlichen produktiven Aufgaben von Organisationssystemen
erledigt werden, haben gesellschaftliche Dominanzhierarchien (einschließlich
denen zwischen den Geschlechtem) keinen wirklichen Sinn mehr. Es reicht, wenn
die Organisationen selbst über solche verfügen. Das verstärkte
Aufkommen größerer Organisationen mit Beginn der Neuzeit dürfte
deshalb ebenfalls einen beschleunigenden Effekt auf die allgemeine gesellschaftliche
Durchsetzung der Gefallen-wollen-Kommunikation gehabt haben. (Ebd., S. 362).
Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung
und der damit einhergehende Wandel von der Ähnlichkeit zur Differenz
hat eine immer stärkere Konzentration des Einzelnen auf eng umrissene
Aufgaben (Spezialisierung) zur Folge, die sich dann aber ganz häufig
nicht mehr mit anderen Tätigkeiten vereinbaren lassen (**).
Ferner besitzt die Spezialisierung gemäß Ricardos Theorem in
der Regel zusätzliche komparative Kostenvorteile, aber eben auch
nur dann, wenn es zu einer echten Spezialisierung kommt, und die Aufgaben
nicht doch wieder mit irgendwelchen anderen Tätigkeiten zu vereinbaren
sind. All dies bewirkt letztlich, daß sich das Individuum immer
stärker von gesellschaftlichen Rollenvorgaben inklusive den durch
sie vermittelten Gemeinschaftsaufgaben löst. Es kommt dann zum Prozeß
der Individualisierung und - sofern keine Gegenmaßnahmen erfolgen
- bald darauf bei den davon betroffenen Gemeinschaftsaufgaben zur Tragik
der Allmende. Dies wurde bereits in den Abschnitten Tragik
der Allmende und Individualisierung
näher erläutert. (Ebd., S. 362-363).
Eine
Vereinbarkeitsproblematik bezüglich Beruf und Gemeinschaftsaufgaben hat folglich
während der gesamten Geschichte der Individualisierung bestanden. Interessanterweise
wird im Rahmen der Individualisierung auf Seiten der Frauen (Emanzipation der
Frauen) und der damit verbundenen Loslösung der Frauen von der ihnen per
gesellschaftlicher Rollenvorgabe aufgebürdeten Gemeinschaftsaufgabe Nachwuchsarbeit
nun so getan, als handele es sich hierbei um ein neues Phänomen, welches
völlig neue Lösungsansätze erforderlich mache. (**).
(Ebd.). |
6.6.1) Affektkontrolle
Eine starke Zunahme der Bevölkerungsdichte
erzwingt zunächst einmal die weitestgehende Beherrschung von Affekten, denn
jedes auffällige Verhalten (zum Beispiel lautes Schreien) könnte von
einem Anwesenden als eine Warnung oder gar Attacke verstanden werden und dann
eventuell sogar zu einem unnötigen Blutvergießen führen. Um die
hierdurch entstehenden Gefahren zu minimieren und auch sonstige Gewaltverbrechen
zu erschweren, wurde dem Staat dann schließlich das Gewaltmonopol übertragen.
Auf diesen entscheidenden Schritt im Prozeß der Zivilisation soll ... näher
eingegangen werden. (Ebd., S. 363).Wie wir bereits
gesehen haben, gehen der Bevölkerungszuwachs und der damit in Zusammenhang
stehende Trend zur gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, Individualisierung,
Arbeitsteilung und Spezialisierung mit einer sukzessiven Umstellung von dominanten
Kommunikationsweisen auf die Gefallen-wollen-Kommunikation einher. Denn nun kommt
es ja vor allem darauf an, sich zu qualifizieren, sich mit seinen Kompetenzen
anzubieten und andere von sich zu überzeugen, das heißt, zu gefallen.
(Ebd., S. 363).Dies gilt im Grunde für alle gesellschaftlichen
Interaktionen, denn schließlich könnte es sich ja bei jeder Begegnung
um einen möglichen späteren Sexualpartner, Kunden oder Arbeitgeber handeln.
Und wenn nicht, dann könnte man noch immer von einer solchen Person in der
Kommunikation mit anderen beobachtet werden. Allein schon deshalb sollte man stets
darum bemüht sein, einen guten Eindruck zu hinterlassen. (Ebd., S.
363).Dies hat weitreichende Konsequenzen. Denn wie wir im
Abschnitt Gefallen-wollen-Kommunikation
gesehen haben, handelt es sich selbst bei der ungefragten Bekundung von Selektionsinteressen
um eine Form der dominanten Kommunikation. Es wäre deshalb beispielsweise
völlig undenkbar, wenn man einem Mann in einer Alltagssituation seine sexuelle
Erregung ansehen könnte. Und umgekehrt hat es eine Frau dann natürlich
auch tunlichst zu vermeiden, einen Mann in dieser Hinsicht zu provozieren. Die
Körper sind folglich zu bedecken. (Ebd., S. 363-364).Generell
gilt nun, daß Triebregungen und Gefühle zu kontrollieren und eventuell
auch sehr weit zurückzustellen sind. Aber dies war ja ohnehin eine der Grundvoraussetzungen
bei der Ernführung der sexuellen Selektion in der Natur: Ein an einem Weibchen
interessiertes Männchen hatte sich zu beherrschen, mußte versuchen
es zu überzeugen, und wenn dies nicht heute gelang, dann vielleicht ein anderes
Mal. Es mußte lernen, sich so lange zu kontrollieren, bis es von der weiblichen
Seite erhört wurde, ganz anders etwa als bei einem Haremsbesitzer, der auf
die Interessen der Gegenseite nur wenig Rücksicht nehmen muß. Mit der
sexuellen Selektion kam die Kultur in die Welt. (Ebd., S. 364).Von
da ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, bis auch die Beherrschung , aller
anderen Gefühle und Triebregungen gelingt. An vorderster Stelle steht hier
sicherlich die Nahrungsaufnahme, die so lange zurückzustellen ist, bis die
Tischzeit gekommen, oder man auch nur einfach an der Reihe ist. Und selbst dann
sollte man sich vorzugsweise maßvoll verhalten und Speisen und Getränke
nur jeweils in kleinen Portionen zu sich nehmen, schluckweise und durch Messer
und Gabel entsprechend portioniert. (Ebd., S. 364).Auch
sonst ist alles zurückzunehmen, was andere irritieren oder gar belästigen
könnte, wie unvermittelte Laute, unangenehme Gerüche, Rülpsen u.s.w..
Die Speisen sind mit Messer und Gabel zu verzehren, um nicht die eigenen Finger
zu beschmutzen, was sich in darauffolgenden Kornmunikationen als nachteilig erweisen
könnte. (Allerdings könnten dabei auch hygienische Gründe eine
Rolle spielen.) Die Kleidung hat attraktiv zu sein, man sollte gewaschen sein,
einen angenehmen Körpergeruch haben, sich elegant bewegen und auch sonst
ständig darum bemüht sein, einen positiven Eindruck zu hinterlassen
und - im wahrsten Sinne des Wortes - bei niemandem ins Fettnäpfchen zu treten.
Damit dies nicht zu häufig geschieht, ist man gut beraten, sich pennanent
selbst zu kontrollieren: Selbststeuerung statt Fremdsteuerung also. (Ebd., S.
364).Generell sollten nun die Umgangsformen höflich
sein, denn damit erweist man anderen seine Wertschätzung, die Grundregel
Nummer eins bei der Gefallen-wollen-Kommunikation. So werden den Frauen die Türen
aufgehalten oder ihnen in den Mantel geholfen, und zwar als generelles Zeichen
der Wertschätzung, aber auch der Werbung um sie. (Ebd., S. 364).Wer
all dies bis zur Perfektion beherrscht, demonstriert damit seine Kultiviertheit,
aber auch, daß er bereits ganz in der Moderne angekommen ist. Denn in einer
komplexen, arbeitsteiligen Welt müssen Arbeitsabläufe präzise kalkulierbar
sein, und dies setzt die Verläßlichkeit der daran beteiligten Personen
voraus, die folglich in der Lage sein müssen, ihre elementaren Gefühle
und Triebregungen entsprechend den Anforderungen der Produktion zurückzustellen.
Wer auf diese Weise verläßlich ist, der gefällt. (Ebd.,
S. 365).Eine weitere Facette der Moderne ist die Individualisierung,
die mit einer Verbesserung der Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen und
der zunehmenden Wahrnehmung von dessen Rechten - einschließlich des Rechts,
nicht gestört zu werden - einhergeht. Im Grunde ist nun jedes Individuum
(Ego) so zu behandeln, als wäre es ein König. Allein schon die deutlich
zugenommene Bevölkerungsdichte macht so etwas zu einer Notwendigkeit. Der
Grundgedanke dabei ist: | Ego
hat das Recht, nicht gestört zu werden. | | Wenn
Ego Selektionsinteressen entgegennehmen möchte, betritt es den dazu
passenden Kontext (ähnlich wie bei einer königlichen Audienz). | Aus
Sicht des Systems Ego gehört Alter zu dessen Umwelt. Ein Selektionsinteresse
seitens Alter könnte Ego stören (perturbieren). Also tritt
Alter zunächst zurück und wartet so lange, bis Ego einen
Kontext betritt, bei dem das Äußern von Selektionsinteressen zulässig
ist. (Ebd., S. 365).Allerdings sind bei sehr dringenden
und wichtigen Anliegen auch Ausnahmen erlaubt, die jedoch angemessen höflich
vorzutragen sind: Entschuldigen Sie, kennen Sie sich hier aus? Die versteckte
Botschaft dahinter lautet: Ich habe ein wichtiges Anliegen, nämlich Sie nach
dem Weg zu fragen. Sind Sie dazu bereit? Würden Sie mich als Ihren Kommunikationspartner
akzeptieren? Würden Sie mich selektieren? (Ebd., S. 365).Im
Rahmen des Prozesses der Zivilisation hat die Gefallen-wollen-Kommunikation fast
die gesamte gesellschaftliche Interaktion durchdrungen. (Ebd., S. 365).Im
Abschnitt
Systemische Evolutionstheorie wurde deutlich gemacht, daß die biologische
und die kulturelle Evolution nicht gänzlich unabhängig voneinander betrachtet
werden können, sondern daß zwischen beiden eine enge Wechselwirkung
besteht. (Ebd., S. 365).In unserer Gesellschaft wird
davon abweichend jedoch meist die Auffassung vertreten, die mit dem Prozeß
der Zivilisation einhergehenden langfristigen psychogenen Veränderungen von
Menschen hätten keinerlei biologische Grundlagen, sondern wären das
ausschließliche Produkt des gesellschaftlichen Wandels und einer sich daran
anpassenden Sozialisation. Dies dürfte wenig wahrscheinlich sein. Stattdessen
ist davon auszugehen, daß der Veränderungsprozeß der Zivilisation
alle Evolutionsebenen betrifft. (Ebd., S. 366).
6.6.2) Schutz
Das Gefühl der Sicherheit gehört
zu den wichtigsten Errungenschaften der Zivilisation. Dieses stellt sich in vielen
entwickelten Ländern selbst dann ein, wenn man abends noch ganz alleine einen
Spaziergang macht: Kein Wolf greift an, und auch niemand sonst trachtet einem
nach dem Leben, mißachtet das Recht auf körperliche Unversehrtheit
oder verlangt die Herausgabe der Brieftasche. Sicherheit bedeutet letztlich nichts
anderes als: Gefährliche und belästigende dominante Kommunikationsweisen
(insbesondere der Natur) sind sehr weit zurückgedrängt (**).
(Ebd., S. 366).
Im Sinne der Zivilisation
ist es ein Unterschied, ob jemand bei einem Autounfall ums Leben kommt
(Unfall), oder von einem streunenden Bär gerissen wird.
(Ebd.). |
Damit
all dies möglich wurde, mußte dem Staat das Gewaltmonopol übertragen
werden. In der Tat ist sogar die Herausbildung der Territorialstaaten ganz wesentlich
auf diesen Akt zurückzuführen. Interessanterweise gehören Schutzleistungen
zu den ganz wenigen, wenn nicht sogar einzig verbliebenen Kollektivaufgaben, zu
deren Zielerfüllung in den entwickelten Ländern selbst heute noch vereinzelt
dominante Kommunikationsweisen angewendet werden. Beispielsweise besteht in der
Bundesrepublik Deutschland für junge Männer nach wie vor die allgemeine
Wehrpflicht. Ferner könnte der Staat in Verteidigungssituationen, aber auch
bei schweren Katastrophen, mobil machen und Menschen zu bestimmten Aufgaben bindend
verpflichten. (Ebd., S. 366).Die Übertragung
des Gewaltmonopols an den Staat ging mit einer Erhöhung der Affektkontrolle
bei den Individuen einher: Auseinandersetzungen werden seitdem nicht mehr spontan
unter Streitenden geregelt, sondern neutralen staatlichen Instanzen überlassen.
Dies hat maßgeblich zu einer Verbesserung des persönlichen Sicherheitsstatus
geführt. Da nun die Menschen in der Regel keine Waffen mehr tragen und im
großen und ganzen auch gar nicht mehr verteidigungsbereit beziehungsweise
-willig sind, reduzierte sich gleichzeitig die Gefahr spontaner Überfälle.
Was in den frühen Gesellschaften noch die Aufgabe jedes gesunden Mannes war,
erledigen in modernen Gesellschaften Polizei und andere staatliche Organe.
(Ebd., S. 366-367).Die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols
stellte eine entscheidende Voraussetzung für den Übergang in die Industrialisierung
und den Beginn der Moderne dar, denn sie machte das Leben kalkulierbar. Wer ständig
kämpfen und sich, seine Angehörigen und sein Eigentum verteidigen muß,
der kann nicht langfristig planen. Das staatliche Gewaltmonopol wird allgemein
als so substanziell für den Prozeß der Zivilisation angesehen, daß
es selbst dann nicht mehr in Frage gestellt wurde, als es zu einem späteren
Zeitpunkt von despotischen Machthabern für ihre Interessen ausgenutzt wurde.
(Ebd., S. 367).
6.6.3) Demokratisierung
Individualisierung, Arbeitsteilung,
gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Gefallen-wollen-Kommunikation machen
die prinzipielle Gleichstellung aller Menschen bei gleichzeitiger Respektierung
ihrer sonstigen Verschiedenheiten erforderlich (**).
Hierdurch kommt es zum Verschwinden von sozialen Dominanzhierarchien, Rassen-
und Geschlechterdiskriminierungen und von Klassenunterschieden als dem entscheidenden
Kriterium für die gesellschaftliche Rangordnung von Individuen, denn die
soziale Interaktion basiert ja nun auf der Arbeitsteilung, das heißt, ...
auf der Differenz und nicht mehr der Ähnlichkeit von Individuen. (Ebd.,
S. 367).
Gemäß
Theodor W. Adorno ist der Äquivalententausch der Bann, der nicht
nur die Gesellschaft, sondern auch die Welt, das Denken, die Liebe,
das Leben und die Theorien verhext - der also dafur verantwortlich
ist, daß es »kein richtiges Leben im falschen gibt«
(Jochen Hörisch, Es gibt [k]ein richtiges Leben im falschen,
2003, S. 46f.). Tatsächlich dürfte er aber wohl auch die
unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung moderner Demokratien,
die eine Gleichstellung von eigentlich Differentem verlangen, gewesen
sein. (Ebd.). |
Zivilisierung
und Individualisierung bewirken also einerseits einen Wandel von der Ähnlichkeit
zur Differenz, allerdings damit gleichzeitig auch eine zunehmende Gleichheit der
Menschen vor dem Gesetz, weil sich ja sonst Differenz als gesellschaftliches Prinzip
kaum rechtfertigen ließe. Damit verschwinden dann sukzessive auch alle durch
die Geburt oder die Zugehörigkeit zu einer Klasse, Rasse oder einem Geschlecht
legitimierte Rechteunterschiede. Die Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder
vor dem Gesetz dürfte dann irgendwann das zwangsläufige Resultat dieser
Entwicklung sein. (Ebd., S. 367).Es liegt im unmittelbaren
Interesse der Unternehmen, menschliche Leistungen tauschbar und gemäß
den tatsächlich erbrachten Leistungen bewertbar zu machen. Sonstige menschliche
Merkmale wie Klassenzugehörigkeiten beziehungsweise Rassen- oder Geschlechterunterschiede
dürften solchen Äquivalenzbestrebungen eher im Wege stehen. Dominanzhierarchien
sind daher eher eine Sache der Unternehmen selbst; und zwar auf Basis von Verantwortungen,
Kompetenzen und Leistungen. (Ebd., S. 368).Weil Differenz,
Arbeitsteilung, Spezialisierung und Individualität nun die gesellschaftlichen
Prinzipien sind, muß Ähnlichkeit wieder künstlich hergestellt
werden. Dies geschieht über Interessengruppen oder andere Organisationen
(Gewerkschaften, Parteien u.s.w.), die Menschen mit vergleichbaren Interessen
zu größeren Verbänden bündeln, und die deren und vielleicht
auch ihre eigenen Anliegen mittels der Gefallen-wollen-Kommunikation - das heißt,
auf demokratische Weise - einer breiteren Öffentlichkeit vortragen, beziehungsweise
sich damit zur Wahl stellen. (Ebd., S. 368).Die Demokratie
ist dann die sich fast zwangsläufig ergebende Staatsform. Basiert auch noch
die Wirtschaft auf der Gefallen-wollen-Kommunikation, dann haben wir es mit einem
marktwirtschaftlich organisierten demokratischen Rechtsstaat zu tun (**).
(Ebd., S. 368).
Wenn
sich auf der Erde nun mehr oder weniger alles - selbst die jeweilige Staatsform
- auf evolutive Weise entwickelt, könnte sich der Eindruck aufdrängen,
ich legitimierte mit der hier vorgetragenen Theorie irgendwelche spezifischen
gesellschaftlichen Verhältnisse. Tatsächlich stellt sich Evolution aber
gerade eben dadurch ein, daß sich einzelne Menschen oder ganze Interessengruppen
mit ihren persönlichen Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen bemerkbar
machen (und sei es in Form des vorliegenden Buches), um Einfluß zu nehmen
und die weitere Entwicklung in die eine oder andere Richtung zu lenken. Dies können
sie natürlich auf unterschiedliche Weise tun. In Demokratien sind die dafür
zulässigen Wege aber relativ klar umrissen: Sie müssen mit ihren Anliegen
einer ausreichenden Zahl an Menschen gefallen und nach Möglichkeit auf dominante
Interaktionsweisen, die grundlegende Rechte anderer verletzten, verzichten. (Aber
genau dieser Verzicht auf dominante Interaktionsweisen wird ja gerade in der Bundesrepublik
kaum, jedenfalls immer seltener praktiziert! Dies zeigt - wie vieles andere auch
-, daß die Bundesrepublik zu wenig demokratisch ist! HB).
(Ebd.). |
Ein individualisiertes
Gesellschaftsmitglied dürfte für sich allein betrachtet kaum lebensfähig
sein. Es benötigt im Allgemeinen eine voll funktionierende Gesellschaft.
Gleichzeitig hat die Individualisierung eine beträchtliche Zunahme individueller
Lebensrisiken zur Folge, die sozialisiert werden müssen, will man dem Individuum
nicht zu hohe und gegebenenfalls untragbare Lasten aufbürden. Der Wohlfahrtsstaat
dürfte somit eine unmittelbare Konsequenz der bislang beschriebenen Prozesse
der Moderne sein, womit wir schließlich insgesamt beim marktwirtschaftlich
organisierten, demokratischen Wohlfahrtsstaat heutiger Ausprägung (soziale
Marktwirtschaft) angekommen wären. (Ebd., S. 368).Ein
bislang ungelöstes Problem solcher Staatsformen ist die angemessene Vertretung
von Interessengruppen, die sich kaum oder überhaupt nicht selbst vertreten
können. Individuen und sonstige Akteure besitzen zwar ein eigenständiges
Selbsterhaltungsinteresse, oft aber nur eine recht begrenzte Wahrnehmung für
die Interessen anderer, beispielsweise die der nächsten Generation, die ja
noch gar nicht geboren ist, und somit auch kein Stimmrecht besitzt. So verfügen
die meisten modernen Länder zwar über hochentwickelte Alterssicherungssysteme,
aber kaum über Mechanismen zur Sicherstellung des Prinzips der Generationengerechtigkeit.
das heißt, einer angemessenen Vertretung der kommenden Generationen. Ein
ähnliches Problem gilt für den Bereich der gesellschaftlichen Reproduktion
insgesamt. (Ebd., S. 369).Auch können in Demokratien
ungünstige Selbstläuferprozesse entstehen. Beispielsweise ist denkbar,
daß in einer alternden Gesellschaft aus wahltaktischen Gründen zunehmend
Gesetze zum Nutzen des älteren Teils der Bevölkerung verabschiedet werden.
Hierdurch könnte es zu einem weiteren Rückgang der Geburtenraten und
damit zu einer Beschleunigung des gesellschaftlichen Alterungsprozesses kommen.
In der Folge entstünde dann eine Gerontokratie, in der für notwendige
gesellschaftliche Reformprozesse keine Mehrheiten mehr erzielbar wären. Ähnliche
Entwicklungen sind auch bei anderen sozialstaatlichen Maßnahmen vorstellbar.
(Ebd., S. 369).Und schließlich haben Interessengruppen
vor allem ihren eigenen Selbsterhalt und die durch sie vertretenen Interessen
im Sinn. So möchte beispielsweise eine politische Partei zunächst einmal
die nächste Wahl gewinnen. Sie wird folglich eher politische Maßnahmen
präferieren, die für eine möglichst große Zahl aktueller
Wähler von Vorteil sind, statt solchen, die der Gesellschaft langfristig
von Nutzen sind. Der Selbsterhalt der politischen Parteien kann deshalb dem Selbsterhalt
der Gesellschaft auch im Wege stehen. (Ebd., S. 369).
6.6.4) Säkularisierung
Säkularisierung bedeutet
die Abschaffung von Staatsreligionen. In der Regel ist sie mit einem erheblichen
Machtverlust der religiösen Institutionen, vor allem der Kirchen, zugunsten
des Staates verbunden. (Ebd., S. 369).Religionen vermitteln
meist nicht nur den Glauben an Gott oder die Vision eines Lebens nach dem Tod,
sondern auch Werte und Moralvorstellungen, auf denen das Zusammenleben und die
Zusammenarbeit in ... nichtindividualistischen Gesellschaften beruhen. Ganz häufig
wurden Werte und Moral über gesellschaftliche Rollenvorgaben vermittelt,
die aus Sicht des Individuums aber einen dominanten Charakter besitzen, da sie
ihm klare Vorgaben machen. In modernen, individualistischen Gesellschaften lösen
sich diese Rollen nun aber sukzessive auf. (Diese sogenannten
»individualistischen Gesellschaften« sind übrigens insgesamt
eine ungefähr 20% umfassende Minderheit [= westliche + westlich-orientierte
»Gesellschaft«], deren Anzahl ausgerechnet auch noch schrumpft!
So gesehen ist es wahrscheinlicher, daß sich die »individualistischen
Gesellschaften« mit ihren Rollen sukzessive auflösen! HB).
Das einzelne Individuum konzentriert sich auf seinen individuellen Lebenslauf
und sein jeweiliges Arbeitsmarktrisiko, während die vormaligen Gemeinschaftsaufgaben
nun weitestgehend professionalisiert und institutionalisiert sind, und dann nicht
selten unter der Regie des Wohlfahrtsstaates abgewickelt werden. (Ebd.,
S. 369-370).In einer individualistischen, ausdifferenzierten,
arbeitsteiligen und auf der Gefallen-wollen-Kommunikation beruhenden Gesellschaft
haben Staatsreligionen folglich keinen Sinn mehr. Die neuen Religionen heißen
Arbeitsteilung und Individualismus (jedenfalls bis
zu deren Untergang bzw. Ablösung durch Religionen nichtindividualistischer
Gemeinschaften; HB
[**|**]).
(Ebd., S. 370).
6.6.6) Zusammenfassung
Zusammenfassend kann festgestellt
werden, daß der Prozeß der Zivilisation unter anderem mit den folgenden
gesellschaftlichen Veränderungen und Prozessen Hand in Hand geht: | Individualisierung; | | Institutionalisierung
und Professionalisierung von Kollektivaufgaben; | | Ausdifferenzierung,
zunehmende Arbeitsteilung, Spezialisierung; | | Staatenbildung; | | Staatliches
Gewaltmonopol; | | Demokratisierung; | | Säkularisierung; | | Wohlfahrtsstaatliche
Entwicklungen; | | Aufkommen
von Märkten und Unternehmen; | | Abbau
gesellschaftlicher Dominanzhierarchien und Klassen; | | Gleichberechtigung
der Geschlechter; | | Generelle
Umstellung auf die Gefallen-wollen-Kommunikation; | | Zurückdrängung
aller gefährlichen/bedrohlichen/belästigenden dominanten Kommunikationsweisen; | | Psychogene
Veränderungen wie zunehmende Affektkontrolle, Anhebung der Peinlichkeitsstandards,
Schamgefühle. (Ebd., S. 370). |
6.7) Globalisierung **
Peter
Mersch definiert den Begriff Globalisierung zum Teil anders als ich
(HB)! ** |
Die
sogenannte Globalisierung ist untrennbar mit einigen bahnbrechenden technologischen
Neuerungen im Bereich der Informationstechnologie (Hardware- und Softwaretechnologie,
Internet, Telekommunikation, Glasfaserkabel, geostationäre Satelliten u.s.w.),
aber auch sonstigen physischen Kommunikationsverbesserungen (z.B. bezüglich
Flugzeug, Schiffahrt, Containertechnologie) verbunden. Daneben waren die Verbindung
der Finanzmärkte (der Handel in allen Zeitzonen), verschiedene internationale
Standardisierungen, Handelserleichterungen, aber auch der Zusammenbruch des Kommunismus
von entscheidender Bedeutung. (Ebd., S. 371).All das
gab den Organisationssystemen nun die Möglichkeit, sich von nationalen Beschränkungen
zu befreien und über die Grenzen ihrer vormaligen Heimatmärkte hinaus
zu wachsen. (Ebd., S. 371).
Aufgrund der riesigen Erdölförderkapazitäten
konnte jetzt auch ihr enormer Energiebedarf gedeckt werden. Gleichzeitig
stand an den Finanzmärkten ausreichend Kapital zur Verfügung,
um selbst die größten Vorhaben finanzieren zu können.
(Ebd., S. 371).
Man
könnte sagen: Mit der Entdeckung des Erdöls öffnete der Mensch
Pandoras Büchse: Der Handel mit Erdöl wird (noch!
HB) hauptsächlich
in US-Dollar - in diesem Zusammenhang Petrodollar genannt - abgerechnet. Das dabei
von den Erdölförderländern eingenommene Geld fließt anschließend
wieder zu erheblichen Anteilen in die Finanzmärkte zurück, wo es dazu
beiträgt, Organisationssysteme
(**|**|**|**)
mit einem hohen Energiebedarf (meist auf Basis fossiler Brennstoffe) entstehen
oder wachsen zu lassen. Den Organisationen stehen nun also effiziente Möglichkeiten
zur Verfügung, sehr rasch große Mengen an Kapital und Energie aufzunehmen
und zu wachsen. Anders gesagt: Jedes zusätzliche geförderte Barrel Erdöl
trägt mit dazu bei, Systeme zu erzeugen, die es verbrauchen und anschließend
noch mehr davon haben wollen. (Ebd., S. 371).Dies
soll an einem einfachen Beispiel erläutert werden:Nehmen
wir an, Bauer Anton stößt auf seinem Grund und Boden bei der Anlegung
eines neuen Brunnens auf einen riesigen Ölvorrat.Nun
könnte Bauer Bert für 10000 Euro Landwirtschaftsmaschinen erwerben,
die pro Jahr 10000 Euro an Treibstoffen (Öl) verschlingen. Dabei könnte
er mindestens 5 Landarbeiter einsparen, die zusammen 30000 Euro pro Jahr gekostet
hätten. Für Bauer Bert stellt sich die Umstellung auf die Maschinen
also als ein günstiges Geschäft dar.Am
Ende des Jahres hat Bauer Anton durch seine Ölquelle 10000 Euro verdient.
Dieses Geld stellt er Bauer Christoph als Kredit zum Kauf von Landwirtschaftsmaschinen
zur Verfügung. Anschließend kauft auch Bauer Christoph filr 10000 Euro
Öl pro Jahr bei Bauer Anton.Ein
Jahr später erhalten die Bauern Dieter und Eberhard von Bauer Anton jeweils
einen Kredit über 10000 Euro zum Erwerb von Landwirtschaftsmaschinen, die
nun gleichfalls 10000 Euro an Treibstoff pro Jahr und Bauer verbrauchen.Auf
diese Weise schafft sich die Ölquelle ihre Abnehmer selbst. | Organisationen
wollen wachsen, und zwar einerseits zwecks Erschließung neuer Märkte
und Ressourcen, andererseits zur Realisierung von Skaleneffekten und den damit
verbundenen Wettbewerbsvorteilen. (Ebd., S. 371-372).Im
Rahmen der Globalisierung lassen die Organisationssysteme nun massenhaft ihre
nationalen Beschränkungen hinter sich, wobei sie die jeweiligen Nationalstaaten
regelrecht zu ihren Lieferanten für Humankapital, Ressourcen (Rohstoffe,
Entsorgung, Endlagerung u.s.w.) und Infrastrukturen degradieren, während
sie sich selbst zu eigenständigen, international operierenden Systemen von
geradezu ungeheuerlicher Macht und Größe aufbauen, die nun durch praktisch
niemanden mehr kontrollierbar sind. (Ebd., S. 372).Basierte
der Wohlstand eines Landes bislang maßgeblich auf der Leistungsfähigkeit
seiner Unternehmen (»der Wirtschaft«), so dürfte er in Zukunft
eher auf dem Reichtum seiner Ressourcen (Rohstoffe wie Erdöl, Humankapital)
und der Ausgereiftheit von Regelwerken und Infrastrukturen beruhen. (Ebd.,
S. 372).Bei Organisationssystemen
(**|**|**|**)
handelt es sich um neuartige biologische Phänomene einer bislang unbekannten
Größenordnung und mit einem gigantischen Energie- und Kapitalbedarf.
Einmal auf den Weg gebracht, verhalten sie sich wie Lebewesen (**)
mit einer eigenen Identität und einem eigenständigen Selbsterhaltungsinteresse,
wobei sie eine beträchtliche Eigendynamik entwickeln können (**).
Ihre primäre selektive Umwelt sind vor allem die Märkte, auf denen sie
bestehen wollen und müssen. Sie werden also weniger durch einzelne Menschen
gesteuert, sondern in erster Linie durch Marktgeschehnisse und sonstige Wirtschaftsfaktoren
(**). (Ebd., S. 372-373).
Im
übertragenen Sinne könnte man sagen: Die Früchte eines Apfelbaumes
sind Äpfel, die von Nokia dagegen Mobiltelefone, die ganz ähnlich darauf
warten, geerntet zu werden. (Ebd.). |
Auch
bilden sie mit ihren Rechenzentren zum Teil gewaltige eigene Gehirne aus. Robert
B. Laughlin weist daneben noch auf eine andere Entwicklung hin (vgl. Robert B.
Laughlin, Das Verbrechen der Vernunft - Betrug an der Wissensgesellschaft,
2008): Unternehmen sammeln immer mehr proprietäres Wissen - das Teil ihres
Wettbewerbvorteils ist - an, auf das Menschen nur dann Zugriff haben, wenn sie
in diesem Unternehmen in den entsprechenden Positionen arbeiten. Die von den Mitarbeitern
erbrachten neuen Erkenntnisse gehören ganz automatisch wieder dem Unternehmen.
Auf diese Weise entsteht zunehmend unternehmerisches Geheimwissen, was der Menschheit
nur indirekt (über die Produkte und Dienstleistungen des Unternehmens) zur
Verfügung steht. Auch dieser Zusammenhang offenbart, daß die biologische
Spezies Mensch (beziehungsweise menschliche Gesellschaften) und die durch Menschen
gebildeten Organisationssysteme
als voneinander unabhängig betrachtet werden müssen. Beide Seiten verfolgen
zum Teil ganz unterschiedliche Interessen. (Ebd.). |
Die
Entstehung von Mehrzellern (Organismen, autopoietischen Systemen zweiter Ordnung)
war ein entscheidender Durchbruch in der Evolution des Lebens. Seitdem dominierten
diese biologischen Phänomene das Leben auf der Erde. Mit
der Herausbildung von Organisationssystemen
scheint der Evolution ein weiterer Komplexitätssprung gelungen zu sein.
(Ebd.). Anmerkung zur Anmerkung: Man
beachte die Vergangenheitsform (dominierten) - ein weiterer
Hinweis darauf, daß Peter Mersch tatsächlich davon ausgeht, daß
nicht mehr die Mehrzeller (Organismen, autopoietische Systeme zweiter Ordnung)
das Leben der Erde beherrschen, sondern die sie über Verträge an sich
bindenden Mehrorganismen, d.h. Unternehmen (Organisationssysteme,
autopoietische Systeme dritter Ordnung). HB |
Wie
wir gesehen haben, sind Märkte evolutive Infrastrukturen: Kaum eingerichtet,
findet auf ihnen bereits Evolution statt, denn die Marktteilnehmer wollen sich
ja selbst erhalten und damit vor allem auch ihre Adaptionen in Relation zur Konkurrenz,
weswegen sie ihre Produkte und Dienstleistungen permanent aktualisieren und verbessern
müssen. (Ebd., S. 373). Eine Marktwirtschaft
ist dann die Plattform, auf der solche evolutiven Infrastrukturen - und mit ihnen
die Organisationssysteme - auf leichte Weise entstehen können, was sicherlich
einerseits Innovation zur Folge hat, ohne weitere Gegenmaßnahmen aber auf
der anderen Seite auch - dank Gefallen-wollen-Kommunikation - eine ungeheure Verschwendung
und damit eine beschleunigte Entropie (siehe dazu das Kapitel Verschwendung).
Mit der Globalisierung haben sich diese Plattformen nun internationalisiert.
(Ebd., S. 373).Gemäß Maturana und Varela handelt
es sich bei Organismen (Mehrzellern) um autopoietische Systeme zweiter Ordnung,
in denen zum Teil mehrere Milliarden Zellen zur Erfüllung einer gemeinsamen
Aufgabe kooperativ zusammengeschaltet sind. In solchen Strukturen kann sich die
einzelne Zelle nicht mehr selbst ernähren. Stattdessen wird sie nun vom Organismus
mitversorgt, der die erforderlichen Ressourcen - insbesondere Energie - für
alle seine Elemente beschafft. (Ebd., S. 373).Bei
Organisationssystemen, die ihre Zellen zwar nicht fest an sich schweißen,
sondern nur vertraglich binden (siehe dazu den Abschnitt Systembindungen),
sieht das letztlich nicht viel anders aus. So wird beispielsweise in vielen Arbeitsverträgen
explizit festgelegt, daß ein Mitarbeiter seine Arbeitskraft ganz dem Unternehmen
zur Verfügung zu stellen hat und nicht gleichzeitig noch für andere
Arbeitgeber tätig werden kann. (Ebd., S. 373-374).In
der Folge hängt der Selbsterhalt des Arbeitnehmers - der einzelnen Zelle
des Organisationssystems - entscheidend vom wirtschaftlichen Erfolg seines Arbeitgebers
ab, weshalb er sich schon bald dessen Geschäftsziele und damit insbesondere
dessen Selbsterhaltungsinteressen zu eigen machen wird, ein durchaus erwünschter
Effekt, denn nun wird der Mitarbeiter ja ein unmittelbares eigenes Interesse daran
haben, seine Kreativität im Dienste des Arbeitgebers zu entfalten. Bei Zulieferern
und externen Mitarbeitern, die häufig recht ähnlich am Erfolg ihres
Auftraggebers partizipieren, wird das nicht viel anders sein. (Ebd., S.
374).Verursacht ein Unternehmen beispielsweise gravierende
ökologische Belastungen, weswegen ihm zusätzliche Auflagen erteilt werden
sollen, die seinen wirtschaftlichen Erfolg ganz erheblich beeinträchtigen
könnten, dann wird man gerade bei dessen Mitarbeitern mit Widerstand gegen
die geplanten Maßnahmen zu rechnen haben, denn diese sind ja davon ebenfalls
betroffen. Wenn ein Unternehmen mit 50000 Mitarbeitern Konkurs anmelden muß,
dann verlieren gegebenenfalls alle 50000 Arbeitnehmer ihren Job. Entsprechend
machtvoll sind die gebündelten Interessen, die das Unternehmen von innen
heraus vorantreiben, ganz ähnlich wie dies Zellen bei einem Organismus tun.
(Ebd., S. 374).Allerdings besteht zwischen einer Zelle und
ihrem Organismus eine viel engere Bindung als zwischen einem Mitarbeiter und seinem
Organisationssystem. Eine Zelle könnte sich nie von ihrem Organismus trennen,
sie ist ihm auf Gedeih oder Verderb ausgeliefert. Bei einem Unternehmen und seinen
Mitarbeitern sieht das ganz anders aus, denn hier hat die gegenseitige Bindung
ja nur vertraglichen Charakter. (Ebd., S. 374).Doch
genau dieser Umstand wird nun im Rahmen der Globalisierung zunehmend als Problem
oder gar als Bedrohung empfunden. War ein Unternehmen vor noch nicht allzu langer
Zeit an einen bestimmten Standort und damit weitestgehend an das dort verfügbare
Humankapital gebunden, so kann es heute seine Standorte dahin verlegen, wo es
die günstigsten Bedingungen und die »besten Gehirne« (Franz Josef
Radermacher, Die Brasilianisierung der Welt, 2006 [**|**])
zur Erfüllung seiner eigenen Selbsterhaltungsinteressen vorfindet. Dies führt
automatisch zu einer Schwächung der Stellung von Arbeitnehmern und Nationalstaaten
gegenüber den global operierenden Organisationssystemen. Mit einer hohen
Sensibilität der Unternehmen gegenüber den reproduktiven Interessen
von Arbeitnehmern darf unter solchen Umständen nicht gerechnet werden.
(Ebd., S. 374-375).Im Abschnitt Leben
und Fortpflanzung wurde gezeigt, daß es sich auch bei der biologischen
Evolution ganz wesentlich um Entwicklungsprozesse bezüglich der Nutzung von
Energie handelt. Ist irgendwo Energie in konnzentrierter Form vorhanden, dann
dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch ein geeigneter Nutzer
dafür auftaucht (siehe dazu auch die Ausführungen im Abschnitt Leben
als dissipative Struktur [**]).
Fressen und gefressen werden, lautet die Devise. Aus diesem Grunde ist auch davon
auszugehen, daß die Organisationssysteme jegliche zur Verfügung stehende
Energie - egal ob aus Kohle, Öl, Gas, Atom oder der Sonne - nutzen werden.
Gleichzeitig werden sie immer mehr Energie für sich nutzbar machen. Ihre
Selbsterhaltungsinteressen werden alle Energien ansaugen, die sie nur bekommen
können. Franz Josef Radermacher interpretiert entsprechende, vom Entropiesatz
geleitete Äußerungen Jacques Neiryncks in einem Geleitwort zu dessen
Buch »Der göttliche Ingenieur« (2006) denn auch wie folgt:»Dies
gipfelt in der These, daß die Erfindung von biochemischen Strukturmechanismen
bis hin zur Erfindung des Lebens beziehungsweise denkender Wesen, ein besonders
effizienter Weg der Natur sein könnte, den Weg in die totale Unordnung immer
noch mehr zu beschleunigen.« | Einige Autoren
sehen in der Menschheit selbst etwas wie einen Superorganismus. Darwin faßte
sogar Ameisen- und Bienenkolonien als solche auf. Im vorliegenden Buch wird eine
davon abweichende Auffassung vertreten: Die Organisationssysteme
sind Superorganismen (**). Die
Menschheit selbst besitzt dagegen diesen Status zur Zeit noch nicht. Im Gegenteil:
Die Menschheit als Ganzes ist noch weitestgehend unorganisiert. (Ebd., S.
375).
Ein
wesentliches Merkmal menschlicher Organisationssysteme wie etwa Unternehmen ist,
daß sie sich von ihrer Humanbasis lösen können. Beispielsweise
könnte Nokia seine Produktionsstätten in Bochum schließen und
nach Rumänien verlegen. Dort würde es nun aber ganz andere Mitarbeiter
haben. Eine Ameisenkolonie kann sich dagegen nicht selbstständig von einem
Ort zu einem anderen bewegen, sie ist stets untrennbar mit ihren Mitgliedern verbunden.
Gleiches gilt für menschliche Gesellschaften. Obwohl Organisationssysteme
weniger autopoietisch sind als menschliche Gesellschaften (sie produzieren ihre
autopoietischen Elemente nicht selbst), sind sie auf der anderen Seite doch auch
deutlich autonomer als letztere. Der Begriff »Superorganismus« dürfte
wohl deshalb auch in Zukunft eher den Organisationssystemen vorbehalten sein.
(Ebd.). ** |
Jacques
Neirynck beschreibt in »Der göttliche Ingenieur« (2006) die Geschichte
der Menschheit als eine Abfolge unterschiedlicher »technischer Systeme«,
die nach einiger Zeit stets an ökologische Grenzen gestoßen sind. Nach
Überwindung der jeweiligen Scheidelinien - durch technische oder organisatorische
Innovationen - sei dann das nächste System gefolgt. Seiner Meinung nach wurde
in Europa um das Jahr 1300 die äußerste Spitze dessen erreicht, was
mit einem auf erneuerbaren Ressourcen beruhenden technischen System möglich
ist. (Ebd., S. 376).Ich bin dagegen der Auffassung,
daß es ab etwa der Moderne nicht mehr primär die menschlichen Gesellschaften
und ihre jeweiligen technischen Systeme sind, die den Gang der Geschichte bestimmen,
sondern die Organisationssysteme - Aggregationen von Menschen also - mit ihren
spezifischen Anforderungen und Interessen. (Ebd., S. 376)
6.8) Grundeinkommen
Zum Schluß dieses Kapitels
möchte ich noch kurz ein Thema diskutieren, welches auf den ersten Blick
kaum etwas mit den bisherigen Ausführungen zu tun hat, an dem man aber viele
der bislang angesprochenen Punkte noch einmal verdeutlichen kann: Das bedingungslose
Grundeinkommen (**|**|**|**|**|**)
. (Ebd., S. 376).Soziale Solidarität entsteht
durch die Anerkennung einer gemeinsamen Moral, die darin mündet, daß
jeder auf jeden angewiesen ist und folglich umgekehrt auch die eigenen Fähigkeiten
zur Förderung des Ganzen einzusetzen hat (vgl. Hermann Korte, Soziologie,
2004, S. 46). Man könnte dies als die Moral der Arbeitsteilung bezeichnen.
(Ebd., S. 376).Wichtig hierbei sind vor allem zwei Punkte: | Jeder
ist auf jeden angewiesen. | | Jeder
Einzelne muß sich mit seinen Kompetenzen zur Förderung des Ganzen einsetzen.
Oder anders gesagt: Man muß arbeiten. | Im
vorliegenden Buch wurde die These aufgestellt, daß der Prozeß der
Zivilisation weitestgehend mit der sukzessiven Umstellung aller dominanten Kommunikationsweisen
auf die Gefallen-wollen-Kommunikation gleichzusetzen ist. Eine wesentliche Voraussetzung
dafür ist aber die Loslösung des Individuums von allen verpflichtenden
Kollektivaufgaben, und zwar unabhängig davon, ob diese über direkten
Zwang (zum Beispiel Wehrpflicht) oder gesellschaftliche Rollenvorgaben (zum Beispiel
Hausfrau und Mutter) vermittelt werden. (Ebd., S. 376-377).Weil
die Gemeinschaftsaufgaben nach einer solchen Loslösung nicht mehr zufriedenstellend
erledigt werden (siehe dazu den Abschnitt Tragik
der Allmende), ist die Maßnahme der Institutionalisierung erforderlich,
wofür es fallweise recht unterschiedliche Ausprägungen gibt. Nicht selten
wird die Aufgabe dann professionalisiert und unter der Verantwortung des Staates
ausgeübt (Schulen, Polizei, Berufsheer u.s.w.). (Ebd., S. 377).Die
einzige Verpflichtung (Dominanz), die dem Bürger nun noch gegenüber
dem Ganzen bleibt, ist: Er muß arbeiten und Steuern zahlen, damit der Staat
seine Institutionen auch finanzieren kann. Genau das steckt letztlich hinter Émile
Durkheims Moral-These zur sozialen Solidarität. (Ebd., S. 377).Götz
W. Werner zweifelt im Rahmen seiner Argumentation für das Bürgergeld
selbst diese noch verbliebene letzte Verpflichtung innerhalb einer ansonsten individualistischen
und arbeitsteiligen Gesellschaft an. Gemäß seiner Auffassung handelt
es sich beim bedingungslosen Grundeinkommen um ein Grundrecht, welches sich angeblich
sogar regelrecht aus der deutschen Verfassung ableiten läßt:»Die
Würde und das Lebensrecht des Menschen sind in jeder Beziehung unantastbar.
Auf ihnen gründet alles übrige. Niemand darf in diese Rechte eingreifen.Was
aber bedeutet das in Hinblick auf den Zusammenhang von Arbeit und Einkommen? Im
Grunde ist es ganz einfach. Wer leben, und zwar in menschlicher Würde und
in Freiheit leben will, der braucht etwas zu essen, er muß sich kleiden,
er benötigt ein Dach über den Kopf - und er muß in einem angemessenen
Rahmen am politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilnehmen können.Nirgendwo
in unserem Grundgesetz aber steht, daß der Mensch dafür arbeiten muß.
.... Dieses - unserer
Verfassung völlig angemessene - Verständnis der Grundrechte hat eine
simple Konsequenz: Wenn das Recht, in Würde und in Freiheit zu leben, bedingungslos
ist, dann muß auch das Recht auf Essen, Trinken, Kleidung, Wohnung und auf
grundlegende gesellschaftliche Teilhabe bedingungslos sein.« (Götz
W. Werner, Einkommen für alle, 2007, S. 59ff.). | Und
weiter:»Die
Freiheit, nein zu sagen, hat aber nur der, dessen Existenzminimum gesichert ist.
Das allein wäre Grund genug für die Einführung eines bedingungslosen
Grundeinkommens.« (Götz W. Werner, Einkommen für alle,
2007, S. 62). | Götz W. Werner attackiert hier
etwas, was aber gemäß Émile Durkheim die Grundlage für
das Entstehen von sozialer Solidarität in einer insgesamt individualistischen
und arbeitsteiligen Gesellschaft ist. Denn wem bereits der Staat ein ausreichendes
bedingungsloses Grundeinkommen garantiert, der ist nicht länger dazu verpflichtet,
seinen Beitrag zum Gemeinwohl beizutragen, der muß nicht einmal mehr »gefallen
wollen«, geschweige denn zu anderen höflich sein. (Ebd., S. 377-378).Eine
vollständig individualistische und arbeitsteilige Gesellschaft, in der es
keinerlei gegenseitige Verpflichtungen mehr gäbe, weder eigene Kinder zu
haben, noch Ältere zu versorgen, morgens aufzustehen, arbeiten zu gehen,
Schutz zu leisten, Steuern zu zahlen oder sich an irgendwelchen sonstigen Gemeinschaftsaufgaben
zu beteiligen (da letztlich alles freiwillig ist), wäre überhaupt kerne
Gesellschaft mehr. (Ebd., S. 378).Nun könnte
ich mich täuschen, und auch die These Durkheims muß nicht unbedingt
stimmen, wenngleich sie mir recht plausibel erscheint. Ich möchte an dieser
Stelle jedoch darauf hinweisen, daß es bei Vorschlägen dieser Art mehr
zu bedenken gibt (**) als die Dinge,
die in den einschlägigen Büchern zum Thema bislang diskutiert werden.
Wer ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Bürger des Staates vorschlägt,
sollte - im Vorfeld - plausibel erklären können, wie unter solchen Verhältnissen
gesellschaftliche Solidarität entstehen kann. (Ebd., S. 378).
Dazu
gehören auch die zur Zeit nicht abschätzbaren Auswirkungen eines bedingungslosen
Grundeinkommens auf das generative Verhalten der Bevölkerung (vgl. Peter
Mersch, Irrweg
Bürgergeld, 2007). (Ebd.). |
7) Verschwendung (S. 379-396)
Die
Einführung der »Gefallen-wollen-Kommunikation« im Rahmen der
sexuellen Selektion stellte einen entscheidenden Durchbruch für die Evolution
des Lebens auf diesem Planeten dar, bewirkte sie doch unter anderem erheblich
beschleunigte Evolutionsprozesse und in der Folge auch die menschliche Intelligenz.
Aufgrund des durch sie ermöglichten fairen Wettbewerbs unter Gleichen wurde
sie zum Modell für viele spätere menschliche kulturelle Entwicklungen.
Sie ist die Basis heutiger Marktwirtschaften und wohl auch des Zivilisationsprozesses
insgesamt. Auch war sie die Voraussetzung für das Entstehen moderner Organisationen
wie etwa Unternehmen. Allerdings ist sie alles andere als nebenwirkungsfrei, denn
sie führt unter anderem zu einer sehr weiten Ausnutzung der Ressourcen eines
Lebensraums und vor allem zu einer beträchtlichen Verschwendung. Dieser letzte
Punkt soll im vorliegenden Kapitel näher untersucht werden. (Ebd.,
S. 379).
7.1) Verschwendung durch Gefallen-wollen
7.1.1) Werbung
Auf die Bedeutung der Verschwendung
im Rahmen der Partnerwerbung wurde bereits im Abschnitt Fitneßindikatoren
eingegangen. Ich möchte dazu Geoffrey F. Miller noch einmal etwas ausführlicher
zu Wort kommen lassen:»Das
Handicap-Prinzip betont, daß sexualspezifischer Schmuck und Werbungsverhalten
aufwendig sein müssen, um zuverlässige Fitneßindikatoren zu sein.
Ihre Kosten können fast jede Form annehmen. Vielleicht erhöhen sie das
Risiko, von Raubfeinden entdeckt zu werden, indem sie das Tier durch leuchtende
Farben auffälliger machen. Vielleicht erhöhen sie das Risiko einer Infektion,
indem sie das Immunsystem des Tieres beeinflussen (wie viele Geschlechtshormone).
Vielleicht verschlingen sie, wie der Vogelgesang, enorme Mengen an Zeit und Energie.
Vielleicht verlangen sie, wie bei der Jagd in menschlichen Stammesgesellschaften,
gewaltigen Aufwand für ein kleines Stückchen Fleisch.Nach
Veblens Prinzip des demonstrativen Konsums spielt die Form des Aufwands keine
große Rolle. Allein die ungeheure Verschwendung zählt. Nur sie sorgt
für die Aufrichtigkeit der Fitneßindikatoren und macht Partnerwerbung
erst romantisch: das verschwenderische Tanzen, das verschwenderische Schenken,
die verschwenderische Konversation, das verschwenderische Lachen, das verschwenderische
Vorspiel, die verschwenderischen Abenteuer. Vom Standpunkt des Überlebens
des am besten Angepaßten aus erscheint dies verrückt und sinnlos
und nicht zur Anpassung geeignet. Die menschliche Partnerwerbung scheint sogar
vom Standpunkt der sexuellen Selektion auf nichtgenetische Vorteile verschwenderisch
zu sein, weil, wie wir noch erfahren werden, die als besonders romantisch geltenden
Liebestaten für den Gebenden oft am kostspieligsten sind, dem Empfänger
aber die geringsten Vorteile bringen. Nach der Theorie der Fitneßindikatoren
ist diese Verschwendung jedoch der effektivste und zuverlässigste Weg, etwas
über jemandes Fitneß zu erfahren. Wenn man in der Natur offensichtliche
Verschwendung beobachtet, ist die sexuelle Selektion am Werk.Jeder
sexualspezifische Schmuck bei jeder sich sexuell fortpflanzenden Art ließe
sich als eine eigene Form der Verschwendung betrachten. Männliche Buckelwale
verschwenden ihre Energie mit 30-minütigen, 100e von Dezibel lauten Gesängen,
die sie während der Paarungssaison den ganzen Tag über wiederholen.
Männliche Webervögel verschwenden ihre Zeit mit dem Bau kunstvoller
Nester. Männliche Hirschkäfer verschwenden Materie und Energie aus ihrer
Nahrung für gewaltige Mandibeln (Oberkiefer). Männliche Seelefanten
verschwenden in jeder Paarungssaison 500 Kilogramm ihres Körperfettes auf
den Kampf mit männlichen Artgenossen. Männliche Löwen verschwenden
unzählige Kalorien darauf 30-mal am Tag mit Löwinnen zu kopulieren,
bis die Weibchen endlich empfangen. Männliche Menschen verschwenden ihre
Zeit und Energie darauf, akademische Titel zu erlangen, Bücher zu schreiben,
Sport zu treiben, andere Männer zu bekämpfen, Bilder zu malen, Jazz
zu spielen und religiöse Kulte zu begründen. Dies mögen keine bewußten
sexuellen Strategien sein, aber die hinter Leistung und Status
steckenden Motivationen - selbst deren Bevorzugung vor materiellen Quellen - wurden
wahrscheinlich durch sexuelle Selektion geprägt. Allerdings wird das während
der Partnerwerbung attraktiv erscheinende verschwenderische Gebaren möglicherweise
nicht mehr gewürdigt, wenn die Nachkommen da sind - elterliche Pflichten
und sichtbares Werbungsverhalten vertragen sich nicht.Dem
Handicap-Prinzip zufolge interessiert sich die sexuelle Selektion in jedem Falle
mehr für die ungeheuren Ausmaße der Verschwendung als für ihre
exakte Form. Haben die zur Entscheidung führenden Mechanismen der sexuellen
Auswahl einem sexuellen Signal erst einmal die nötige hiformation über
die Fitneß entnommen, ist alles andere an diesem Signal reine Geschmackssache.
Dieses Zusammenspiel von Geschmack und Verschwendung läßt der Evolution
viel Freiheit. Man könnte sogar jede Spezies mit sexualspezifischem Schmuck
als eine Spielart sexuell selektierter Verschwendung betrachten. Ohne diese vielfältigen
Formen sexueller Verschwendung wäre unser Planet nicht von so vielen Spezies
bevölkert.« (Geoffrey F. Miller, Die sexuelle Evolution, 2001,
S. 150ff.). | Ganz ähnlich sieht es in der Unternehmenswelt
aus. Auf speziellen Messen präsentieren die jeweiligen Hersteller und Marken
ihre Produkte, als handele es sich um einmalige Sehenswürdigkeiten. Im Einzelhandel
oder eleganten Einkaufszentren liegt die Ware dann - lichtbestrahlt und mit einem
auffälligen Design (produktspezifischem Schmuck) versehen - in einladenden
Regalen aus. Gleichzeitig weisen aufwendige Werbekampagnen auf die angeblichen
Vorzüge der Produkte hin, wobei nicht selten ein sexueller Bezug hergestellt
wird (das heißt, es werden vorgeblich reproduktive Vorteile reklamiert).
Die Hauptverwaltungen der Unternehmen selbst residieren in protzigen Bürogebauden,
die Macht, Starke und Kompetenz signalisieren sollen:»Pracht
entsteht folgerichtig umso wahrscheinlicher, je drückender die Konkurrenz
ist. Die größten und teuersten Bankenhochhäuser werden dort gebaut,
wo schon die der Konkurrenz stehen.« (Eckart Voland, Die Natur des Menschen,
2007, S. 133). | Im Rahmen der Gefallen-wollen-Kommunikation
geht es zunächst um die Erlangung von Aufmerksamkeit. Dabei spielt der Preis
oftmals nur eine untergeordnete Rolle. Im Gegenteil: Je teurer ein Signal ist,
desto zweifelsfreier belegt es die Qualität des Absenders. Auf dieses Bemühen,
Aufmerksamkeit zu erlangen und gefallen zu wollen, das heißt, selektiert
zu werden, dürfte auch ein Großteil der menschlichen Kulturleistung
zurückzuführen sein:»Die
menschliche Kulturgeschichte ist nicht zuletzt eine grandiose Geschichte der Übertreibung
durch teure Signale. Man besinne sich für einen Moment auf all das, was die
Geschichte und die Leistungen der menschlichen Kultur symbolisiert, auf die materiellen,
künstlerischen und philosophischen Hinterlassenschaften. Was erklärt
eigentlich die Unesco zum Weltkulturerbe? Alles in allem kann man sich
dem Schluß nicht entziehen, daß hier durchweg Dinge unter Schutz gestellt
werden, deren hervorragendste Eigenschaft es war, zwar unpraktisch, aber unglaublich
, teuer gewesen zu sein. .... Kulturgeschichte ist nicht zuletzt Ausfluß
eines ewigen Wettstreits um Aufmerksamkeit.« (Eckart Voland, Die Natur
des Menschen, 2007, S. 133). (Ebd., S. 379-382). |
7.1.2) Wirtschaft
Stellen Sie sich vor, Sie seien
Hausfrau und Mutter einer sechsköpfigen Familie und wollten für Ihre
Lieben etwas zum Abendessen kochen. Sie entscheiden sich für Königsberger
Klopse mit Kartoffeln. Doch Ihre Kinder machen Ihnen deutlich, daß sie lieber
Hamburger essen würden und stellen Ihnen die Frage, warum es nicht auch McDonalds
sein könne. Sie sind enttäuscht. Schließlich geht Ihr Ehemann
dazwischen und spricht ein Machtwort: »Schluß jetzt Kinder. Es wird
gegessen was auf den Tisch kommt! Und wehe ich sehe hier noch irgendwo ein langes
Gesicht!« (Ebd., S. 382).Und nun stellen
Sie sich vor, Ihre Familie würde an Ihrem Geburtstag abends zu einem guten
Italiener (?? HB)
gehen. Sie bestellen Dorade Royal, Ihr Mann ein Steak, Ihre Jüngste Spaghetti
mit Tomatenketchup (auf Wunsch statt der sonst üblichen, aus frischen Tomaten
hergestellten Sauce, Ihre beiden Söhne Scaloppine Milanese und Ihre Älteste
ein fettarmes, vegetarisches Gericht. (Ebd., S. 382).Was
unterscheidet die beiden Situationen? Möglicherweise werden Sie jetzt sagen:
Einmal koche ich, ein anderes Mal lasse ich kochen. Dies ist einerseits richtig,
aber es gibt noch einen viel wesentlicheren Unterschied: Im ersten Fall handelt
es sich um eine dominante, im zweiten um eine Gefallen-wollen-Kommunikation. Denn
wenn Sie kochen, bestimmen Sie, was auf den Tisch kommt, und vor allem auch, wieviel.
Sie kennen ungefähr den Appetit Ihrer Familie und können dementsprechend
einkaufen. Meist kochen Sie etwas mehr als notwendig wäre, aber im Grunde
bleibt nie viel übrig. Beim Restaurant sieht das ganz anders aus. Zunächst
wählen Sie als Gäste das Lokal. Vielleicht wird es das am Ende Ihrer
Straße sein, vielleicht aber auch ein ganz anderes. Es soll ja nicht nur
gut schmecken, sondern auch das Ambiente sollte stimmen. (Ebd., S. 382).Im
Lokal legt man Ihnen zunächst eine Karte vor, aus der Sie wählen: die
klassische Gefallen-wollen-Kommunikation. (Ebd., S. 383).Das
Problem hierbei ist nun: Der Gastwirt weiß nie, wie viele Gäste am
Abend kommen werden. Und er kennt natürlich auch nicht deren Präferenzen.
Beispielsweise könnte er heute besonders viel frischen Fisch eingekauft haben,
und wenn Sie dann die einzige Person sind, die sich am Abend für Fisch entscheidet,
dann wird er möglicherweise sogar einen Großteil der Ware entsorgen
müssen. (Ebd., S. 383).Dieses Problem kennt praktisch
jeder Händler. Einerseits möchte er, daß die Kunden sofort kaufen
und nicht seinen Laden aufgrund von Lieferzeiten gleich wieder verlassen, andererseits
möchte er aber auch nicht unnötig lange auf seiner Ware sitzen bleiben.
(Ebd., S. 383).Auch kann es eine ganze Menge Unwägbarkeiten
geben. Wenn Sie beispielsweise auf einem Markt Äpfel und Birnen anbieten,
jeweils ungefähr 50 Prozent Ihres Angebots, und am Morgen wird bekannt, daß
irgendwo in der Umgebung ein Kind ins Krankenhaus eingeliefert wurde, weil es
einen Apfel einer bestimmte Sorte gegessen hat - genau die, die Sie vorzugsweise
anbieten -, dann kann es Ihnen passieren, daß Sie an dem Tag keinen einzigen
Apfel verkaufen und an den Folgetagen ebensowenig, woraufhin Sie ihre gesamtes
Apfelsortiment entsorgen müssen. (Ebd., S. 383).Eine
präzise Kapazitätsplanung ist also bei der Gefallen-wollen-Kommunikation
nicht immer möglich. Stattdessen führt sie häufig zu Überkapazitäten
und damit zu Verschwendung (**).
(Ebd., S. 383).
In
manchen Industriezweigen versucht man die Problematik durch eine sogenannte »Just-in-Time«-Produktion
zu entschärfen. Dies gilt zunehmend auch filr das Verlagswesen. Beispielsweise
wurde das vorliegende Buch »On Demand« hergestellt. (Ebd.). |
Ähnlich
sieht es in der Natur bei der Dimensionierung männlicher Sexualorgane aus.
Bei Arten mit Haremsbildung können die Männchen die Häufigkeit
zukünftiger Kopulationen relativ präzise abschätzen. Auch kann
es dann zu keiner Spermienkonkurrenz kommen, weswegen sie sich eher kleine, an
den recht genau abschätzbaren Bedarf angepaßte Hoden leisten können.
Verhalten sich die Weibchen dagegen promisk, sollte ein Männchen möglichst
allzeit bereit sein, denn mit etwas Glück könnte es an einem Tag vielleicht
sogar dreißig oder mehr Kopulationen mit verschiedenen Weibchen haben. In
solchen Konstellationen ist die Leistungsfähigkeit der männlichen Hoden
eher am maximalen Bedarf auszurichten. Auch ist dabei die nun stets mögliche
Spermienkonkurrenz zu berücksichtigen. (Ebd., S. 383-384).Bei
technischen Produkten gibt es weitere Formen der Verschwendung, zum Beispiel der
Einbau möglichst vieler, manchmal kaum genutzter Funktionen. Im Prinzip ist
die Situation mit der des Gastwirts vergleichbar: Da der Anbieter meist nicht
weiß, welche Funktionen der Anwender nutzen möchte - und dieser ja
vielleicht anfänglich selber nicht -, baut er lieber gleich möglichst
viele ein. (Ebd., S. 384).Auch kann ein besonders
cooles und aufwendiges Design (so etwas wie »Pfauenschweife« also)
manchmal für höhere Marktanteile, aber eben auch für eine zusätzliche
Verschwendung sorgen. (Ebd., S. 384).Und schließlich
gibt es noch die Entwicklung unbenötigter Funktionen und Produkte, sogenannter
Flops. Denn im Rahmen der Gefallen-wollen-Kommunikation ist Kreativität gefragt,
das heißt, das ständige Suchen nach neuen Geschäftsoptionen und
gegebenenfalls nicht besetzten Nischen. Und natürlich dürfte dann auch
mancher Fehlgriff darunter sein. (Ebd., S. 384).Auf
der anderen Seite werden auf diese Weise viele Bedürfnisse erst geschaffen:
Die Märkte reagieren auf Erwartungen von Konsumenten, differenzieren sich
durch neue Produkte und Dienstleistungen aus und schaffen hierdurch wiederum neue
Erwartungen. So erfinden die Märkte - beziehungsweise die auf ihnen anbietenden
Organisationssysteme - das moderne Leben mit all seinen Annehmlichkeiten und Verschwendungen
ganz allein aus sich heraus. (Ebd., S. 384).Konrad
Lorenz kommentiert diese Entwicklung wie folgt:»Selbst
wenn man die unberechtigt optimistische Annahme macht, daß die Überbevölkerung
der Erde nicht in dem heute drohenden Maße weiter zunähme, muß
man den wirtschaftlichen Wettlauf der Menschheit mit sich selbst für allein
hinreichend betrachten, um sie völlig zugrunde zu richten. Jeder Kreisprozeß
mit positiver Rückkopplung führt früher oder später zur Katastrophe,
und der hier in Rede stehende Vorgang enthält deren mehrere. Außer
der kommerziellen intraspezifischen Selektion auf ein ständig sich verschnellerndes
Arbeitstempo, ist noch ein zweiter gefährlicher Kreisprozeß am Werke,
auf den Vance Packard in mehreren seiner Bücher aufmerksam gemacht hat, und
der eine progressive Steigerung der Bedürfnisse der Menschen im Gefolge hat.
Aus naheliegenden Gründen sucht jeder Produzent das Bedürfnis der Konsumenten
nach den von ihm erzeugten Waren nach Möglichkeit in die Höhe zu treiben.
Viele wissenschaftliche Forschungsinstitute beschäftigen sich
ausschließlich mit der Untersuchung der Frage, welche Mittel zur Erreichung
dieses durchaus verwerflichen Zieles am besten geeignet seien.« (Konrad
Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 1973, S.
37). (Ebd., S. 384-385). |
7.1.3) Dominanter Zugriff auf die Natur
Wenn ein Pfau
einen großen gefiederten Schweif hinter sich herträgt, muß er
sich permanent mit ausreichender Energie versorgen können. Auch dürfte
er dann dem anderen Geschlecht besonders gut gefallen, das heißt, er hat
einen weiteren Bedarf an Energie, die ihm möglichst regeImäßig
zur Verfügung stehen sollte. (Ebd., S. 385).Und
wenn ein Händler auf einem Marktplatz einen Obststand betreibt, benötigt
er zunächst einmal eine verläßliche Quelle für die unterschiedlichsten
Sorten an wohlschmeckenden und appetitlich aussehenden Äpfeln, ansonsten
dürfte er seine Kunden schon bald an seine Konkurrenten verlieren (**).
Sofern
diese liefern können, aber damit muss ein Händler im Rahmen der Gefallen-wollen-Kommunikation
rechnen. (Ebd.). |
Aus
diesem Grunde wird sich unser Händler auch nicht mit Lieferantenaussagen
wie »Äpfel sind zur Zeit nicht; die mir bekannten Apfelbäume wurden
in der letzten Zeit von Ungeziefer befallen« zufrieden geben. In einer Welt
der Märkte, des Gefallen-wollens, müssen die erforderlichen Waren zuverlässig
lieferbar sein, und bei Lebensmitteln geht das nun einmal nur mit Ackerbau und
Viehzucht. (Ebd., S. 385).Mit anderen Worten: Gefallen-wollen-Kommunikationen
haben einen verstärkten dominanten Zugriff auf die Ressourcen dieser Welt
zur Folge. (Ebd., S. 385).
7.1.4) Organisationen
Ein Charakteristikum der Moderne
ist das massenhafte Entstehen und Auftreten sozialer Systeme wie etwa Unternehmen.
Heute besitzen einige dieser Organisationen einen größeren Jahresumsatz
als die Bruttosozialprodukte mancher Schwellenländer. Und einige große
Unternehmen haben einen größeren Energiebedarf als viele Millionenstädte.
Die Voraussetzungen für dieses Phänomen waren unter anderem die Entwicklung
allgemeiner Tauschäquivalente (zum Beispiel Geld) und entsprechender Lebensräume,
in denen die sozialen Systeme auf friedliche Weise miteinander konkurrieren können,
nämlich die Märkte. (Ebd., S. 385-386).Organisationen
(zum Beispiel Unternehmen) sind selbsterhaltende Systeme mit einer eigenen Identität
und einem eigenständigen Selbsterhaltungsinteresse (**),
die auf Märkten - ihren primären selektiven Umwelten - um den Zugang
zu Ressourcen konkurrieren. Dabei bringen sie Produkte und Dienstleistungen hervor,
nach denen vorher kaum jemand gefragt hat, ohne die man sich aber schon bald darauf
kaum mehr ein lebenswertes Leben vorstellen kann. (Ebd., S. 386).
Also
fast so etwas wie ein neuer Typus von Leben, nur in einer ganz anderen Größenordnung.
Jedenfalls entwickeln diese Gebilde eine Eigendynamik, ein Eigenleben sozusagen.
(Ebd.). |
Unternehmen
produzieren fortlaufend neue und bislang unbekannte Bedürfnisse, damit sie
sich selbst erhalten können. Die Folge ist eine Verschwendung - und ein damit
einhergehender Raubbau, an der Umwelt - in bislang unbekannter Größenordnung.
Denn Unternehmen geht es ja vor allem um eins: Sie wollen und müssen gefallen,
damit sie fortbestehen können. Und dazu müssen sie sich permanent erneuern
und auch immer weiter wachsen, denn dann können sie von Skaleneffekten profitieren,
die ihnen einen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz verschaffen. Gegenüber
heutigen internationalen Konzernen wirken Menschen wie kleine Ameisen, die man
versehentlich auf dem Weg zur Arbeit überläuft (**).
(Ebd., S. 386).
Wie
die Größenverhältnisse sind, könnte man an folgendem Beispiel
verdeutlichen: Wören die etwa 1,5 Millionen Einwohner der Amazonas-Stadt
Manaus in der Lage, den gesamten brasilianischen Regenwald abzuholzen? Wohl kaum.
Könnte dies General Electric mit seinen ungefähr 130000 Mitarbeitern
tun? Ich persönlich möchte das jedenfalls nicht ausschließen.
(Ebd.). |
Die
Gefallen-wollen-Kommunikation bewirkt eine beschleunigte Evolution, da sie zu
immer neueren, ausgefalleneren und besseren Angeboten zwingt, zu etwas, was die
Konkurrenz nicht oder nicht in ausreichender Menge beziehungsweise Qualität
hat, was sozusagen sensationell oder noch nie dagewesen ist. Auf der Ressourcenseite
hat das dann aber eine ungeheure Verschwendung und den rigorosen Zugriff auf die
Natur zur Folge. Während die Welt des Marktes Dinge wie 300 Stundenkilometer
schnelle Sportwagen, das Internet oder ultraflache Mobiltelefone hervorbringt,
entsteht auf der Ressourcenseite (der Umwelt) eine verheerende Unordnung. Ähnlich
wie sich die Sonne verbraucht, damit auf der Erde Leben entstehen kann, so verbrauchen
sich die natürlichen Ressourcen der Erde, damit Automobilkonzerne wachsen
können. (Ebd., S. 386).Erschwerend kommen heute
die Wirkungen der Finanzmärkte hinzu. Denn moderne Technologie ist häufig
so komplex und in der Entwicklung und Herstellung so kapitalintensiv, daß
neue Geschäftsideen meist nur mit einem Gang an die Börse realisiert
werden können. In diesem Fall gehört das Unternehmen aber - wie die
meisten heutigen größeren Konzerne - nicht mehr sich selbst, sondern
Investoren. Es wird dann auch nicht mehr ausschließlich durch die Entwicklungen
auf den Produktmärkten vorangetrieben, sondern maßgeblich durch die
Bewegungen auf den Finanzmärkten und die Interessen seiner Investoren. Und
erfahrungsgemäß steht der ressourcenschonende Umgang mit der Umwelt
nicht unbedingt an vorderster Stelle auf deren Prioritätenliste. (Ebd.,
S. 387).Die größten Organisationen operieren
heute global und damit nationenüberspannend, so daß sie national auch
kaum mehr zu kontrollieren sind. Die Deutsche Bank, Siemens oder Volkswagen sind
längst keine nationalen Unternehmen mehr, auch wenn es vom Namen her noch
den Anschein hat. Wie jedem anderen Lebewesen auch geht es ihnen in erster Linie
um ihren Selbsterhalt und Eigennutz und nicht um irgendwelche nationalen Interessen.
Und wenn dann etwa ein Konkurrent seine Gewinne auf den Cayman Islands versteuert,
werden alle anderen folgen müssen, weil sie sonst im Nachteil wären.
Hier greift die gleiche Trittbrettfahrerproblematik wie auch in vergleichbaren
menschlichen Kontexten. (Ebd., S. 387).Mit ethisch-moralischen
Argumenten wird man auf die beschriebenen Verhaltensweisen keinen Einfluß
nehmen können, höchstens mit Maßnahmen, die dem gleichen System
(Wirtschaft) zurechenbar sind, wie auch schon Niklas Luhmann (in seinem Buch Ökologische
Kommunikation, 1986) anmerkte (**).
Wirkungsvoll könnte möglicherweise die internationale Besteuerung globaler
Finanztransaktionen sein (vgl. Franz Josef Radermacher / Bert Beyers, Welt
mit Zukunft, 2007, S. 176ff.). (Ebd., S. 387).
Dies
gilt im Grunde für alle Lebensbereiche: Selbsterhaltende Systeme wollen sich
selbsterhalten, sie handeln also vom Kern her egoistisch. Wenn in einer Gemeinschaft
aus lauter selbsterhaltenden Systemen Möglichkeiten bestehen, den Egoismus
auf Kosten anderer auszuleben (weil man dann Vorteile hat und sich besser selbsterhalten
kann), dann werden dies einzelne Individuen über kurz oder lang auch tun.
Dagegen helfen keine Vorwürfe, sondern höchstens Maßnahmen, die
solchen Verhaltensweisen die entscheidenden Vorteile nehmen. (Ebd.). |
7.1.5) Reccourcenverknappung und Dominanz
Wie wir
gesehen haben, ist die Gefallen-wollen-Kommunikation viel verschwenderischer als
die dominante Kommunikation. Gleichzeitig setzt sie einen zuverlässigen Zugang
zu den natürlichen Ressourcen voraus. Kommt es irgendwann einmal zu einer
Ressourcenverknappung, dann dürfte die elegante, herrschaftsfreie Gefallen-wollen-Kommunikation
schon bald wieder zur Disposition stehen. Die Folgen könnten Krieg, Dominanzhierarchien
(zum Beispiel Klassenstrukturen), Zwangsmaßnahmen beim Zugriff auf die Ressourcen
und vieles andere mehr sein. Da die dominante Kommunikation insgesamt ressourcenschonender
operiert, dürfte sie die Gefallen-wollen-Kommunikation schon bald wieder
in weiten Teilen ersetzen. (Ebd., S. 387-388).Nehmen
Sie beispielsweise an, sie verdienten ausreichend gut, um mit Ihrer Familie jeden
Abend essen gehen zu können (Gefallen-wollen-Kommunikation). Insgesamt käme
Sie das wesentlich teurer als wenn zu Hause gekocht würde, denn nun müssen
Sie ja für die Anfahrt und die Speisen und Getränke, in deren Preis
auch die Kosten für die Räumlichkeiten, das Personal, Trinkgeld, die
Energie und möglicherweise auch nicht gewünschte und alsbald entsorgte
Speisen enthalten sind, aufkommen. Wenn Sie ihren gutbezahlten Job verlieren,
könnten Sie sich so etwas nicht mehr leisten. Es würde dann wieder zu
Hause gegessen, zum Beispiel Königsberger Klopse für alle (dominante
Kommunikation). (Ebd., S. 388).Es gehört deshalb
auch nicht viel Vorstellungskraft dazu, sich die Folgen einer kritischen globalen
Ressourcenverknappung auszumalen: An vielen Stellen würden Kriege ausbrechen,
und Demokratien, Marktwirtschaften und die Freiheit und Gleichheit der Menschen
gäbe es dann wohl schon bald nicht mehr. (Ebd., S. 388).
7.2) Evolution und Verschwendung
Im letzten Kapitel
(**) und im Kapitel Leben
wurde darauf hingewiesen, daß es sich bei der biologischen Evolution ganz
wesentlich um Entwicklungsprozesse bezüglich der Nutzung von Energie handelt.
Ich hatte daraus gefolgert: Ist irgendwo Energie in konzentrierter Form vorhanden,
dann dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch ein geeigneter
Nutzer dafür auftaucht. (Ebd., S. 388).Eine Ursache
dafür liegt tief im Inneren der Evolutionsprinzipien verborgen: Wie wir gesehen
haben, dürfte sich bei einem kompetenzneutralen Reproduktionsinteresse im
Regelfall dann auch das Prinzip der natürlichen Selektion einstellen. Für
dieses gilt: Wer besser an den Lebensraum angepaßt ist und mehr Ressourcen
erlangt, hinterläßt im Mittel auch mehr Nachkommen. (Ebd., S.
388).Übertragen auf unsere Verschwendungsproblematik
bedeutet das: Wer in der Lage ist, mehr Energie zu verbrauchen und Unordnung zu
schaffen, wird mehr Nachkommen als andere haben, und diese Nachkommen werden dann
im Mittel ebenfalls mehr Energie verbrauchen und Unordnung schaffen als andere.
Eine Population optimiert sich auf diese Weise gewissermaßen wie von selbst
in Richtung eines möglichst hohen Energieverbrauchs beziehungsweise der Schaffung
von größtmöglicher Unordnung. (Ebd., S. 389).Natürlich
wird sie dabei immer wieder an Grenzen stoßen, etwa aufgrund des Widerstands
anderer Lebewesen oder einer generellen Begrenztheit der Ressourcen. Eine Löwenpopulation
kann beispielsweise nicht mehr Zebras fressen als in ihrem Lebensraum tatsächlich
vorhanden sind. (Ebd., S. 389).Der Mensch jedenfalls
hat historisch betrachtet alle neu entstandenen Ressourcenerschöpfungen irgendwann
technologisch überwinden können (vgl. Jacques Neirynck, Der göttliche
Ingeniuer, 1994). In einem originär endlichen Lebensraum (die Erde) dürfte
dies jedoch nicht beliebig fortsetzbar sein: Früher oder später wird
die Menschheit dann doch ihre Grenzen des Wachstums erreichen. (Ebd., S.
389).Franz Josef Radermacher äußert sich im Geleitwort
von »Der göttliche Ingenieur« (von Jacques Neirynck, 1994) zu
der dort vertretenen Sichtweise:»Der
Mensch ist in dieser Sicht ein Lebewesen, das immer effizienter dazu beiträgt,
in einem globalen Sinne Ordnung zu zerstören und Energien zu verbrauchen,
und zwar als Folge seines - in einer längerfristigen Perspektive hoffnungslosen
- Bemühens, für sich lokal kurzfristig das zu ermöglichen, was
wir jeweils als ein erfülltes menschliches Leben bezeichnen.« | Sozialer
Erfolg ist in menschlichen Gesellschaften üblicherweise mit einem höheren
Einkommen verbunden und damit mit höheren Verfügungsrechten über
Ressourcen und auch Energie. Wer mehr verdient, kann sich beispielsweise all die
neuen technologischen Errungenschaften leisten, die das modeme Leben für
uns bereithält. (Ebd., S. 389).Genügt das
Reprouktionsverhalten einer Gesellschaft also den Evolutionsprinzipien, dann wird
hoherer Ressourcen- und Energieverbrauch mit einer höheren Zahl an (mehr
Ressourcen verbrauchenden) Nachkommen belohnt, ganz so wie es in der Natur auch
ist. Genügt das Reproduktionsverhalten aber nicht diesen Prinzipien, dann
kann die Gesellschaft nicht weiter evolvieren. Aus ökologischer Sicht befinden
wir uns folglich in einer Zwickmühle. (Ebd., S. 389).Es
stellt sich somit die Frage, ob sich auch Belohnungssysteme vorstellen lassen,
die für Menschen tatsächliche Anreize liefern, aber dennoch nicht zu
einem stetig höheren Energie- und Ressourcenverbrauch führen. Letztlich
ist dies ein noch ungelöstes Problem. (Ebd., S. 390).Im
Abschnitt Wachstum
wurde gezeigt, daß evolutionsfähige (selbsterhaltende und selbstreproduktive)
Systeme generell zu Wachstum tendieren, und zwar sowohl bezüglich ihrer individuellen
Größe als auch den Populationszahlen. Auch dies demonstriert die generelle
Neigung evolutiver Prozesse, vorhandene Ressourcen zu nutzen und langfristig restlos
zu verbrauchen. (Ebd., S. 390).
7.3) Klimakiller Internet
Bislang herrschte
allgemein die Vorstellung vor, die Computertechnologie könnte in ein ressourcenschonendes
Zeitalter führen, da die Menschen dann irgendwann nicht mehr täglich
zu ihren Arbeitsplätzen fahren oder auf kostspielige Geschäftsreisen
gehen müßten, sondern die meisten Tätigkeiten gleich von zu Hause
aus abwickeln könnten, also ganz ähnlich so, wie man sich auch vorstellte,
die elektronische Datenverarbeitung führe schlußendlich zum papierlosen
Büro. Das genaue Gegenteil trat ein. (Ebd., S. 390).So
wird dann auch längst behauptet, die durch das Internet verursachte Belastung
entspräche bereits heute dem des gesamten weltweiten Flugverkehrs (vgl. Welt.de,
2007). (Ebd., S. 390).Andere Berechnungen ergaben,
daß bereits im Jahr 2005 rechnerisch weltweit rund zwanzig Eintausend-Megawatt-Großkraftwerke
ausschließlich zur Deckung des Strombedarfs des Internets und der zugehörigen
Datenzentren benötigt wurden. Ferner habe sich der Stromverbrauch des World
Wide Webs zwischen 2000 und 2005 verdoppelt. Dies dürfte kaum überraschen,
denn aktuell verdoppelt sich die vom Internet transportierte Datenmenge etwa alle
vier Monate. Allein das Video-Portal You Tube soll im Jahr 2007 so viel Datenverkehr
produziert haben, wie das gesamte Internet zwei Jahre zuvor (vgl. Welt.de,
2007). (Ebd., S. 390).Ich möchte an dieser Stelle
keine abschließende Antwort darauf geben, ob die Computertechnologie auf
lange Sicht einen nennenswerten Beitrag zur Entschärfung der Energieproblematik
des Menschen liefern kann oder diese umgekehrt verstärken wird, jedoch zu
bedenken geben, daß das Gehirn des Menschen ebenfalls schon bis zu 25 Prozent
seiner gesamten Ruheenergie verschlingt (**).
Es ließe sich deshalb durchaus argumentieren, daß die geballten Datenverarbeitungskapazitäten
von Unternehmen, Privatpersonen und der gemeinsam genutzten Infrastruktur (Internet,
World Wide Web) auf Dauer gleichfalls einen erheblichen Anteil am gesamten weltweiten
Energieverbrauch der Menschheit haben werden, und zwar Tag und Nacht, das heißt,
auch »in Ruhe«. (Ebd., S. 390-391).
Im
Rahmen der Menschwerdung waren dafür die Umstellung auf eine energetisch
hochkonzentrierte Nahrung und der rudimentäre Anschluß des Gehirns
an den Fettstoffwechsel erforderlich (vgl. Peter Mersch, Migräne,
2006, S. 40ff.). Unter den Ernährungsverhältnissen ab dem Neolithikum
haben diese Umstellungsmaßnahmen beim Menschen aber für einen insgesamt
asymmetrischen Stoffwechsel gesorgt, der maßgeblich für die weltweite
Adipositaswelle verantwortlich sein dürfte (vgl. Peter Mersch, Migräne,
2006, S. 55ff.). (Ebd.). |
7.4) Tragic of the Commons
Abschließend soll
nun noch ein weiteres Problem beleuchtet werden: Die systematische Erschöpfung
von Ressourcen durch den Menschen, sofern es sich um niemandem gehörende
Gemeinschaftsgüter handelt. (Ebd., S. 391).Stellen
Sie sich vor, Sie seien Dagobert Duck und badeten täglich im Geld. Wenn Sie
dabei auf jeglichen Schutz verzichten, geben Sie anderen (zum Beispiel der Panzerknackerbande)
die Gelegenheit, Ihr Eigentum als Gemeinschaftsgut zu deklarieren, um es Ihnen
dann zu entwenden. Schon bald wären Sie arm, das heißt, man hätte
Sie aller Ihrer Ressourcen beraubt. Ganz ähnlich sieht es mit natürlichen
Ressourcen aus, sofern diese keinen ausreichenden Schutz genießen.
(Ebd., S. 391).Die Tragic of the Commons ... entspricht
- mit umgekehrten Vorzeichen - genau der Tragik der Allmende (siehe Abschnitt
Tragik
der Allmende), die sich allerdings mit Problemen bei der Bewältigung
von Gemeinschaftsaufgaben statt der Allokation von Gemeinschaftsgütern auseinandersetzt:Angenommen,
eine Gruppe von 80 Schafhirten bestellt gemeinsam ein Feld, welches maximal 4000
Tieren Nahrung geben kann. Nehmen wir ferner an, alle Gruppenmitglieder haben
jeweils 50 Schafe, insgesamt also 80 50 = 4000. Die maximale Auslastung
des Feldes ist also bereits erreicht.Für
die Pachtung, Betreuung und Regeneration des Feldes fallen jährlich 160000
Euro an Kosten an, an denen sich die Gruppenmitglieder anteilsmäßig
beteiligen. Jeder einzelne Schafhirte muß also 160000 : 80 = 2000 Euro an
Kosten tragen.Mit jedem satten Tier kann
er einen Ertrag von 60 Euro erzielen, insgesamt also 50 60 = 3000 Euro.
Zieht er seinen Aufwand vom Ertrag ab, dann hat er zum Jahresende einen Nutzen
von 3000 - 2000 = 1000 Euro erwirtschaftet.Die
Tragic of the Commons besteht nun darin, daß bei genügend großer
Gruppengröße der Egoismus eines einzelnen Mitglieds den Nutzen pro
Gruppenmitglied nur unwesentlich verringert, der Nutzen des Egoisten aber deutlich
steigt.Angenommen, ein egoistisches Mitglied
stellt noch 50 weitere Schafe auf die Weide. Dann ist aus jedem Schaf nur noch
ein Ertrag von (4000 : 4050) 60 = 59,259 Euro erzielbar, eine zunächst
kaum spürbare Differenz pro Tier. Alle Gruppenmitglieder würden folglich
zum Jahresende einen Nutzen von 50 59,259 - 2000 = 2963 - 2000 = 963 Euro
erwirtschaften.Günstiger sieht es
für unseren Egoisten aus, denn er erwirtschaftet einen Nutzen von 100
59,259 - 2000 = 5926 - 2000 = 3926 Euro.Im
vorliegenden Fall lohnt es sich also, egoistisch zu sein, sofern eine hinreichend
große Anzahl an Mitgliedern es nicht ist. Es ist nun aber zu erwarten, daß
sich immer mehr Gruppenmitglieder egoistisch verhalten werden, und der Ertrag
für die nichtegoistischen Gruppenmitglieder noch weiter sinken wird.Die
Tragic of the Commons schaukelt sich dann weiter hoch, und die gesamte
Gruppe gerät in eine Rationalitätenfalle, bei welcher Kollektivrationalität
und Individualrationalität im Konflikt miteinander stehen. | Am
Ende wird das gesamte Feld so sehr mit Schafen vollstehen, daß es sich
nicht mehr regenerieren kann. Die Schafe können sich dann nicht mehr ausreichend
ernähren und die ökologische und wirtschaftliche Katastrophe nimmt ihren
Lauf. (Ebd., S. 391-392).
7.5) Schutz von Gemeinschaftsgütern
Der
letzte Abschnitt (**)
hat gezeigt: Stehen Gemeinschaftsgüter ungeschützt allen zur Verfügung,
unterliegen sie der Gefahr, restlos ausgebeutet und erschöpft zu werden.
Dies gilt insbesondere im Zusammenhang mit der verschwenderischen Gefallen-wollen-Kommunikation,
die in modernen Marktwirtschaften die alles bestimmende Kommunikationsform ist.
(Ebd., S. 392-393). Im folgenden sollen - ohne Anspruch
auf Vollständigkeit - einige naheliegende Schutzmaßnahmen kurz erläutert
werden. (Ebd., S. 393).
7.5.1) Steuern
Zu den mildesten Schutzmaßnahmen
gehört die Erhebung von Steuern: Die freie Nutzung des Gemeinschaftsgutes
ist zwar dann weiterhin möglich, allerdings wird sie nun umso teurer, je
intensiver die Nutzung ist. (Ebd., S. 393). In vielen
Staaten etwa stellen die Verkehrsstraßen ein Gemeinschaftsgut dar: Sie stehen
jedem Verkehrsteilnehmer zur freien Nutzung zur Verfügung. Allerdings werden
in diesem Falle Benzin und Diesel besteuert, um mit den erzielten Einnahmen die
Verkehrsinfrastruktur zu warten beziehungsweise zu erweitern. (Ebd., S.
393). Steuern, die in erster Linie der gezielten Verhaltenslenkung
von Bürgern oder Unternehmen und nicht der staatlichen Einnahmeverbesserung
dienen, werden allgemein Pigou-Steuern genannt. Beispielsweise könnte
der Staat für unerwünschte Emissionen eine Steuer in einer bestimmten
Höhe pro Emissionseinheit erheben. Der potenzielle Verschmutzer hätte
dann die Wahl, entweder die Emission und damit auch die Steuerzahlung zu vermeiden,
oder zu emittieren und die Steuer zu entrichten. (Ebd., S. 393). Zu
den steuerlichen Maßnahmen kann auch der Emissionsrechtehandel gezählt
werden .... Bei dem Konzept handelt es sich um eine Weiterentwicklung des Coase-Theorems,
welches davon ausgeht, daß Märkte Probleme, die durch externe Effekte
entstehen (zum Beispiel Umweltverschmutzungen), unter bestimmten Voraussetzungen
selbst lösen können. Das Konzept des Emissionsrechtehandels sieht dagegen
vor, einen Markt für Verschmutzungsrechte einzurichten, um unerwünschte
Emissionen in die Umwelt zu begrenzen. Neu an der Idee war, daß die Politik
auf diese Weise die Möglichkeit erhält, konkrete Obergrenzen
der Gesamtemission als Umweltziel direkt vorzugeben. (Ebd., S. 393). Dazu
muß sie zunächst Obergrenzen für bestimmte Emissionen (zum Beispiel
CO2) innerhalb eines festgelegten Gebietes und Zeitraums festlegen.
Anschließend werden - entsprechend den vorgegebenen Obergrenzen sogenannte
Umweltzertifikate ausgegeben, die zur Emission einer bestimmten Menge Schadstoff
berechtigen. Wird etwa für eine bestimmte Region eine Obergrenze von 100
Millionen Tonnen CO2 innerhalb eines Jahres festgelegt, so können
Umweltzertifikate, die insgesamt zur Emission von 100 Millionen Tonnen CO2
in einem Jahr berechtigen, ausgegeben werden. Die Obergrenzen könnten in
den Folgejahren aus umweltpolitischen Gründen schrittweise gesenkt werden.
Da die Umweltzertifikate frei handelbar sind, wird ihr Preis durch Angebot und
Nachfrage bestimmt. Emissionen, die ohne ein durch entsprechende Umweltzertifikate
erkauftes Emissionsrecht erfolgen, würden mit einer Strafe belegt.
(Ebd., S. 393-394).
7.5.2) Zwangsmaßnahmen
In bestimmten Fällen
muß aber der Zugang zu Gemeinschaftsgütern durch Zwangsmaßnahmen
(zum Beispiel Verbote) regelrecht verhindert werden. Darauf wies auch schon Garrit
Hardin in seinem Artikel über die Tragic of the Commons (1968) hin.
Interessanterweise schloß er in seine Aussage auch das Recht auf eigenen
Nachwuchs ein, indem er prognostizierte, daß man dafür schon in naher
Zukunft eine staatliche Erlaubnis benötige. (Ebd., S. 394).
7.5.3) Institutionalisierung
Wie wir gesehen haben,
besteht zwischen der Tragik der Allmende (siehe Abschnitt Tragik
der Allmende) und der Tragic of the Commons (siehe Abschnitt Tragic
of the Commons) eine gewisse Symmetrie. Die Tragik der Allmende
handelt von Problemen im Umgang mit Gemeinschaftsaufgaben und die Tragic of
the Commons mit Gemeinschaftsgütern. (Ebd., S. 394).
Eine Tragik der Allmende läßt sich in vielen Fällen durch
Institutionalisierung vermeiden, wie dies auch meist im Rahmen von Individualisierungsprozessen
geschieht (siehe Abschnitt Individualisierung).
Entsprechend könnten auch die Strategien zur Verhinderung einer Tragic of
the Commons aussehen. (Ebd., S. 394). In unserem Schafhirtenbeispiel
(**) etwa könnte das zu bestellende
Feld einer Institution übergeben werden, die den weiteren Zugang regelt.
Ein egoistisches Gruppenmitglied wäre dann nicht länger in der Lage,
ungefragt weitere 50 Schafe auf die Weide zu stellen. Es wäre die Aufgabe
der Institution, darauf zu achten, daß das Feld nicht überwirtschaftet
wird und sich auch regelmäßig regenerieren kann. (Ebd., S. 394-395).
Ganz ähnlich ließen sich auch andere Umweltressourcen verwalten.
Beispielsweise könnte man die Gesamtverantwortung für den Rhein oder
auch den brasilianischen Regenwald staatlich oder international kontrollierten
Institutionen übertragen, die deren wirtschaftliche Nutzung und Reproduktion
verantworten. (Ebd., S. 395). Grundsätzlich sollte
stets die folgende Regel eingehalten werden: Nicht erneuerbare Ressourcen sind
- sofern möglich - zu schonen beziehungsweise durch erneuerbare Ressourcen
zu ersetzen. Erneuerbare Ressourcen sollten nur so stark genutzt werden, wie es
ihre Reproduktionskapazitäten erlauben, das heißt, sie sollten sich
regelmäßig regenerieren können. (Ebd., S. 394).
7.5.4) Grenzwerte
Bei technischen Geräten lassen
sich häufig bereits erhebliche Wirkungen durch Vereinbarung verpflichtender
Grenzwerte erzielen. Ein Gerät erhielte unter solchen Voraussetzungen folglich
nur dann eine Betriebserlaubnis, wenn es bezüglich bestimmter kritischer
Werte innerhalb der festgesetzten Grenzen liegt. (Ebd., S. 395).
7.5.5) Verursacherprinzip
In anderen Fällen könnte
sich ein Verursacherprinzip als nützlich erweisen. Beispielsweise könnten
Unternehmen dazu verpflichtet werden, vom Kunden ausrangierte Geräte zurückzunehmen
und gemäß dem aktuellen Stand der Technik zu entsorgen. (Ebd.,
S. 395).
7.6) Ökosoziale Marktwirtschaft
Als Gegenreaktion
auf die immer offener zu Tage tretenden globalen ökologischen und sozialen
Probleme wurde eine weltweite ökosoziale Marktwirtschaft vorgeschlagen (vgl.
Franz Josef Radermacher, 2002; Frans Josef Radermacher / Bert Beyers, 2007, S.
l35ff). Dabei soll insbesondere eine Balance zwischen drei sehr unterschiedlichen
Zielvorgaben angestrebt werden, nämlich (**): | einer
wettbewerbsstarken, auf Innovation und technologischer Spitzenleistung beruhenden
Wirtschaft; | | einer
Ökologie im Sinne des nachhaltigen Schutzes unseres Lebensraumes für
die Menschheit heute und für alle künftigen Generationen; | | einem
Bemühen um soziale Fairneß im kleinen und im großen als Voraussetzung
für Frieden und ein stabiles Gemeinwesen. | Einige
Ergebnisse des vorliegenden Buches lassen ahnen, daß ein Ausbalancieren
der drei genannten unterschiedlichen Ziele in der Praxis auf äußerste
Schwierigkeiten stoßen dürfte. (Ebd., S. 395-396).
Auffällig
ist, daß in der Liste keine Ziele bezüglich der gesellschaftlichen
Reproduktion aufgeführt sind. (Ebd.). |
Insbesondere die ersten beiden Ziele scheinen in einem unmittelbaren
Widerspruch zueinander zu stehen. Eine Wirtschaft aus lauter innovativen Märkten
- evolutiven Infrastrukturen auf Basis der Gefallen-wollen-Kommunikation also
- dürfte ganz automatisch zu Verschwendung und einer Ausnutzung aller frei
oder zumindest leicht zugänglichen erneuerbaren beziehungsweise nichterneuerbaren
Ressourcen tendieren. Es bedarf deshalb unbedingt weiterer Konzeptionierungen,
wie die angestrebte Balance - auch vor dem Hintergrund der immer mächtiger
werdenden Organisationssysteme - dann tatsächlich dauerhaft erreicht werden
kann. (Ebd., S. 396).Zitate:
Hubert Brune, 2008 (zuletzt aktualisiert: 2009). Anmerkungen
Peter
Mersch definiert die Begriffe Kultur, Zivilisation und
Moderne zum Teil anders als ich (**).
In meiner Theorie ist eine Kultur erst dann auch Zivilisation, wenn
sie erwachsen bzw. modern geworden ist. Kultur ist hier
stets als Oberbegriff gemeint. Genauer: Kultur als Hyperonym (Superordination)
umfaßt auch Zivilisation als Hyponym (Subordination), auch Moderne
als Hyponym (Subordination). Ähnlich wie Peter Mersch Organisationssysteme
definiert, so definiere ich Kultur(en), wobei auch ich davon ausgehe, daß
derartige Organisationsysteme als Superorganismen
seit der Moderne sogar dabei sind, auch biologisch einen ähnlich großen
evolutionären Sprung (Komplexitätssprung,
so Peter Mersch, ebd., S. 373) zu vollziehen wie vor ihnen die erfolgreichen
Organismen. Organisationssysteme beinhalten Organismen, die Zellen beinhalten.
(Zellen [Einzeller] sind autopoietische Systeme erster Ordnung; Vielzeller
[Organismen] sind autopoietische Systeme zweiter Ordnung; Organisationssysteme
sind autopoietische Systeme dritter Ordnung.) Mersch begründet
seine sympathische Theorie vor allem mit biologisch-evolutionstheoretischen, ökonomischen
und demographischen Argumenten, ich meine Theorie vor allem mit biologisch-evolutionstheoretischen,
ökologischen, ökonomischen, demographischen und kulturgeschichtlichen.
Unsere Theorien treffen sich also argumentativ in nicht wenigen Bereichen.
Mersch vernachlässigt, wie ich finde, die Kulturgeschichte zu sehr. Kultur
ist gemäß meiner Theorie vor allem als eine G e m e i n s c h a f t s f o r m
- in etwa so wie ein K u l t u r k r e i s
- zu verstehen, und zwar bezogen auf zwei Erscheinungen:(1.)
Menschen-Kultur (Evolution bzw. Geschichte der Menschheit) als ein
bis heute doch ziemlich abstrakt gebliebener Kulturkreis, da die Kultur
dieser einen Menschheit ja konkret kaum existiert. |
|
(2.)
Historien-Kultur als die aus bislang acht unterschiedlichen Historien-Kulturen
bestehende Historiographie-Kultur, und das heißt: die Moderne
der Moderne der Menschen-Kultur bzw. die Historiographie-Kultur der
Historisierung der Menschen-Kultur oder aber sogar die Zivilisation
der Zivilisation der Menschen-Kultur. |
| Man
kann die Entwicklung der Menschheit evolutiv und/oder histori(ographi)sch beschreiben,
aber sie blieb so lange nur evolutiv, so lange ihr die Schrift fehlte - also ist
sie erst seit Beginn der Schrift zusätzlich auch historiographisch. Gemäß
meiner Theorie ist die Schriftlichkeit - zusätzlich zu der ihr vorausgegangenen
Seßhaftigkeit, der Neolithischen Revolution, den ersten Städten
u.ä. - der Grund für die Notwendigkeit der Aufteilung einer Erscheinung
in zwei Erscheinungen: Menschen-Kultur (Evolution bzw. Geschichte
der Menschheit) und die in ihr enthaltene Historiographie-Kultur (Historien-Kultur)
mit den unterschiedlichen Historien-Kulturen. Die Aufteilung in diese
beiden menschlichen Kulturphänomene ist auch aus folgendem Grund sehr sinnvoll:
Die Menschen-Kultur hat bis heute keine wirkliche Einheit bzw. kein
wirkliches Organisationssystem werden können, ihre einzelnen Historien-Kulturen
dagegen sehr wohl. Die Menschen-Kultur ist also bis heute sehr blaß
und abstrakt geblieben - ganz im Gegenteil zu ihren Historien-Kulturen.(1.)
Die Menschen-Kultur umfaßt die Evolution bzw. die Geschichte
der Menschheit - das heißt: die Prähominisierung, Hominisierung,
Sapientisierung, Historisierung. Mit ihrer Moderne
als ihrer Historisierung beginnt auch ihre Zivilisation,
obwohl Moderne und Zivilisation nicht genau dasselbe bedeuten.Die
Menschwerdung ist noch lange nicht beendet! Sie wird definitiv erst mit dem Tod
des letzten Menschen beendet sein. Das letztmalige echte Gefühl der
Zusammengehörigkeit der Menschen als eine Menschheit war vielleicht
die Mondlandung (1969). Aber Einrichtungen wie die UNO, die ein historienkulturelles
- nämlich ein abendländisches (und innerhalb des Abendlandes ein angelsächsisches
und also ein genuin sehr wikingerhaftes [Motto: Nimm dir, was du haben willst],
zu individuelles und deshalb unbrauchbares) - Konstrukt ist,
oder der IWF, die Weltbank, die WTO o.ä. dienen nur der Minderheit (0,0001-0,01%) einer Minderheit (20%) aller Menschen
(100%). UNO, IWF, Weltbank, WTO u.ä. sind also eher Beispiele dafür, daß
ein Zusammengehörigkeitsgefühl aller Menschen eben gerade nicht entstehen
soll und wird. Die echten Gefühle dafür müssen aus der kulturellen
Seele selbst kommen.(2.)
Die Historien-Kultur ist die aus den 8 Historienkulturen bestehende
Moderne der Menschen-Moderne - das heißt: Moderne
der Moderne der Menschen-Kultur bzw. Historiographie-Kultur
der Historisierung der Menschen-Kultur oder eben sogar Zivilisation
der Zivilisation der Menschen-Kultur.Historien-Kultur
bedeutet somit einerseits die Moderne der Moderne der Menschen-Kultur
und andererseits die eigenartigen und sich unterschiedlich beeinflussenden Historien-Kulturen
(in der Fachliteratur oft Hochkulturen oder auch einfach nur Kulturen
genannt), für die gilt: je näher, desto mehr Berührungen, gegenseitiger
Einfluß und also Beziehungen, aber auch entschiedene Abgrenzung voneinander
(vgl. folgende Abbildung):In
meiner Theorie sind Kulturen im allgemeinen und im besonderen als den Lebewesen
sehr ähnlich aufzufassen. Außerdem sind alle Historienkulturen
als Abweichungen (besonders in der künstlerischen Art bzw. Form) von der
Menschenkultur zu verstehen, in die sie über ihre Modernen bzw. Zivilisationen
allmählich wieder einmünden - allerdings auf jeweils andere, nämlich
kulturspezifische Art und Weise. Insofern und auch aufgrund anderer Hypothesen,
z.B. auch der über die vorgeburtliche Existenz einer jeden Kultur,
unterscheidet sich meine Kulturtheorie auch sehr von allen bisherigen mir bekannten
Kulturtheorien.Die abendländische Kultur
ist übrigens die einzige Kultur, die es tatsächlich geschafft hat, den
Globus zu erobern und also ihre Globalisierung - sie ist grundsätzlich Absicht,
Ziel bzw. Finalität jeder Kultur (ähnlich dem Motto: Ausdehnung
ist alles) - in eine Wirklichkeit umzusetzen. Um das zu können, muß
man aber zunächst noch nicht so wirtschaften wie heute, sondern zuvor (!)
eine kulturelle Gemeinschaft gebildet haben. Kulturelle Gemeinschaft -
vor allem als Gefühl (!) - ist die Voraussetzung dafür, nicht ihre Wirtschaft,
die lediglich eine Folge davon ist, wenn auch bald so stark, daß sie gerade
das historienkulturelle Gemeinschaftsgefühl fast ganz in den Schatten zu
stellen vermag und als ein Motor für die oben erwähnte Einmündung
der Historienkulturen in die Menschenkultur fungiert, obwohl diese Einmündung
bisher noch nie so richtig geklappt hat, weil die Menschenkultur ein zu sehr abstraktes
und also zu wenig konkretes Gebilde ist. Die abendländische Kultur hat also
wegen ihrer tatsächlich realisierten Eroberung des Planeten Erde die Möglichkeit
zum Beweis, ob ihr eine solche Einmündung gelingt (dafür müßte
sie alle anderen Menschen und damit alle anderen noch existierenden Kulturen integrieren
[ich persönlich glaube, daß sie gerade das nicht kann]). Die
Wirtschaft hat sich im Abendland bereits viel zu sehr von der Kultur als der Gemeinschaft
getrennt, und die Kulturgemeinschaft selbst ist offensichtlich nicht mehr fähig,
die Wirtschaft zu zähmen. Die abendländische Wirtschaft hat sich von
der abendländischen Kultur so sehr emanzipiert, daß sie
neben anderen abendländischen Erscheinungen eine ziemlich hohe Beschleunigung für den Untergang des Abendlandes bedeutet.Als
ich feststellte, daß Mersch offenbar ebenfalls davon ausgeht, daß
die Schrift ... die Grundvoraussetzung für das Entstehen moderner menschlicher
Superorganismen (**)
war, war ich über diese Aussage zunächst fast wie verblüfft, denn
gemäß meiner Kulturtheorie (die ich übrigens 11 Jahre eher
veröffentlichte als Mersch seine Systemische Evolutionstheorie) war für
das Entstehen der Historienkulturen die Schrift die GrundVoraussetzung, so daß
man hier die Schlußfolgerung ziehen könnte, daß das, was Mersch
Superorganismen nennt, fast deckungsgleich ist mit dem, was ich Historienkulturen
nenne.Peter
Mersch definiert auch den Begriff Globalisierung zum Teil anders als
ich (**).
Gemäß meiner Theorie ist Globalisierung die Geschichte einer jeden
Historienkultur, besonders die des Abendlandes. Die Kulturgeschichte des Abendlandes
ist eine Geschichte der Globalisierung. Nachdem die drei für das Abendland
unentbehrlichen Faktoren aufeinander getroffen waren - Germanentum, Römerreich,
Christenheit -, wurde sie mittels einer zunächst noch wenig konkrete Formen
annehmende Mythomotorik des jungen Abendlandes möglich. Der Gedanke
an ein Reich spielte also von Beginn an eine ganz besonders wichtige, weil kulturgenetisch
bedingte Rolle, nämlich reichshistorisch
(römisch), reichsreligiös (christlich)
und reichskybernetisch (germanisch), denn
eine Kultur kann nur dann Kultur werden, wenn sie auch sich selbst
steuern kann. Ohne die Germanen gäbe es keine Abendland-Kultur, kein Europa.
Ohne die Germanen hätte sich das Abendland nicht zu einer selbständigen
Kultur entwickeln können. Die Germanen sind die Gründer Europas.Wer
von Globalisierung spricht, kann dreierlei meinen: (a) Globalisierung
als Kulturgeschichte, (b) Globalisierung als eine kulturgeschichtliche Phase (Globalismus,
Cäsarismus, Zeusiokratie u.ä.), (c) Globalisierung als eine absolute
Dominanz der globalen Wirtschaft (Weltwirtschaft, Globalwirtschaft, Globalkapitalismus
u.ä.). Zwei (b und c) dieser drei Definitionen kann man zusammenfassen, weil
das von der heutigen Öffentlichkeit Globalisierung genannte Phänomen
sowohl ein Ausdruck des Zeigeistes im Sinne der erwähnten abendländischen
Kulturphase (vgl. b) ist als auch die Dominanz der ja vom Abendland hervorgebrachten
und dominierten Globalwirtschaft (vgl. c) bezeichnet. Aber das, was Globalisierung
dem Ursprung nach bedeutet, ist den meisten Menschen gar nicht mehr bewußt.Der
Globalismus ist eine Kulturphase, nicht aber die Globalisierung, denn diese wird
häufig lediglich als ein wirtschaftliches Phänomen begriffen, also im
Sinne einer Welt- bzw. Globalwirtschaft, eines Globalkapitalismus.Globalismus
als Kulturphase bedeutet auch Befruchtung und, daß diese Phase allen Akteuren
alle Möglichkeiten schenkt. Doch deren Auswirkungen können positiv,
aber auch negativ sein. Diese Phase ist so offen wie keine andere Phase; in ihr
sind alle Chancen gegeben; in ihr werden die Karten neu gemischt (und verteilt
!); es wird gewürfelt, und wer kein Glück hat oder die Gelegenheiten
verpaßt, ist erst einmal draußen - vielleicht auch für immer.
Das Abendland steht erst am Anfang dieser Phase und sollte sich nicht von ihren
Verlockungen des Allen-alles-Versprechens leiten lassen oder sich etwa
darauf verlassen oder gar berufen, daß die anderen 7 Kulturen diese Phase
glücklich erlebt oder überlebt haben. Keine der anderen 7 Kulturen war
eine so extreme Globalisierungskultur wie das Abendland! Eine sehr interessante Frage, ob das für die Zukunft der abendändischen Menschen, ja sogar
für die Zukunft aller Menschen (mehr) positive oder (mehr) negative Auswirkungen
haben wird!Organisationen wollen wachsen
.... (**).
Ganz besonders seit der oben beschriebenen Zeit degradieren Organisationssysteme
die jeweiligen Nationalstaaten regelrecht zu ihren Lieferanten für
Humankapital, Ressourcen (Rohstoffe, Entsorgung, Endlagerung u.s.w.) und Infrastrukturen
..., während sie sich selbst zu eigenständigen, international operierenden
Systemen von geradezu ungeheuerlicher Macht und Größe aufbauen, die
nun durch praktisch niemanden mehr kontrollierbar sind. (**).
Dies geschieht - wie gesagt - in ganz besonders hohem Ausmaß seit der oben
beschriebenen Zeit. Basierte der Wohlstand eines Landes bislang maßgeblich
auf der Leistungsfähigkeit seiner Unternehmen (»der Wirtschaft«),
so dürfte er in Zukunft eher auf dem Reichtum seiner Ressourcen (Rohstoffe
wie Erdöl, Humankapital) und der Ausgereiftheit von Regelwerken und Infrastrukturen
beruhen. (**).
Schlechte Zeiten besonders für diejenigen Nationen und Imperien, die darüber
nicht (mehr) oder kaum (mehr) verfügen.Es
ist durchaus möglich, daß die von Peter Mersch beschriebenen Organisationssysteme
(**) der Moderne
einen bedeutenden, vielleicht sogar den bedeutendsten Beitrag (er ist seit Beginn
der abendländischen Moderne exponentiell gestiegen), zur weiteren Entwicklung
leisten, aber ob dieser positiv oder negativ zu bewerten ist, wird erst die Zukunft
zeigen können, denn der Globalismus als Kulturphase (Befruchtung oder
Cäsarismus) hat gerade erst begonnen, muß aber beendet sein, um
sich darüber ein Urteil bilden zu können. Hier wäre eine Prognose
angebracht. Ich verweise diesbezüglich auf die vielen um dieses Thema kreisenden
Seiten meiner Webpräsenz (**).Hubert
Brune |

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