-
Auszüge -l | | Vorwort
| Theoretische Voraussetzungen | l | | Die
Natur der Kultur (Alfred K. Treml) | |
l | | Die
Evolution entläßt ihre Kinder - geht das überhaupt? (Gerhard Vollmer)
| |
l | | Systemische
Evolutionstheorie und Gefallen-wollen-Kommunkation (Peter Mersch) | l | | Lebenslanges
Lernen - warum Menschen es immer schon konnten, aber erst in der modernen Gesellschaft
auch dürfen und sollen (Klaus Gilgenmann) | |
Methodenprobleme | l | | Einfachheit
und Wahrheit. Kritische Anmerkungen zum Gebrauch des Extremalprinzips in der Evolutionären
Pädagogik (Holger Wille) | |
l | | Evolutionäre
Pädagogik und Memtheorie (Lothar Frank) | |
l | | Sind
Archetypen Meme? (Bettina Gerlitz) | l | | Gibt
es drei Welten? Knappe Bemerkungen zu einer Ontologie der Evolutionären
Pädagogik (Roland Bätz) | Anwendungsbezüge | l | | Evolution
und Ontogenese des Geistes. Wie Kinder es schaffen, 100000 Jahre auf 10 Jahre
zu verkürzen (Rolf Oerter) | l | | Kooperation
im Gruppenunterricht. Soziale Arbeitsformen und evolutionäre Theorien der
Didaktik (Daniel Scholl) | l | | Weglaufen,
Erstarren oder Aufgreifen? Evolutionäre Strategien von Lehramtstudierenden
bei Fällen im Sportunterricht (Rolf Schwarz) |
Die Natur der Kultur (Alfred K. Treml)
Durch
unser Denken zieht sich eine merkwürdige und folgenreiche dichotomische Unterscheidung:
Natur- Kultur. Entweder ist etwas Natur oder es ist Kultur. Deshalb können
wir heute noch selbst in wissenschaftlichen Standardwerken lesen »So ist
alles Kultur, was nicht Natur ist« (Reinhart Maurer, Kultur, in:
Handbuch philosophsicher Grundbegriffe, Hrsg.: Hermann Krings / Hans M.
Baumgartner / Christoph Wild, 1973, S. 823). Diese Gegenüberstellung ist
in ihrer radikalen disjunktiven Logik sowohl zeitlich als auch räumlich gesehen
keineswegs universell. In anderen Kulturbereichen - etwa im ostasiatischen Raum
- läßt sich diese Form des binären Denkens nicht entdecken. Und
auch im europäischen Denken lassen sich, wenn wir nur weit genug zurückgehen,
durchaus Spuren eines anderen Denkens finden. Noch in der Antike wurde differenzierter
gedacht (auch deshalb sind Antike als apollinische
Kultur mit dem Seelenbild »Einzelkörper« und Abendland als faustische
Kultur mit dem Seelenbild »Unendlicher Raum« zu unterscheiden; HB): Für Aristoteles z.B. hat der Mensch mit Pflanzen und Tieren die
Fähigkeit gemeinsam, sich zu ernähren und sich fortzupflanzen, mit den
Tieren teilt er die Fähigkeiten der Sinneswahrnehmung und der Beweglichkeit.
Eigentümlich ist dem Menschen nur das geistige Denkvermögen. Parallel
dazu ist die andere Spur eines zweiwertigen Denkens unübersehbar; sie läßt
sich von Platon über Augustinus und Luther bis zu Descartes verfolgen, der
diese Differenzierung folgenreich in eine Dichotomisierung überführte
und mit seiner Zweisubstanzenlehre auf die radikale Gegenüberstellung von
Materie und Geist reduzierte. (Ebd., S. 11).Seit dieser Zeit
hat man große Probleme damit, diese strikt getrennten Bereiche wieder zusammen
zu führen und zu erklären, wie beides zusammenwirkt. Idealtypisch könnte
man die Lösungsversuche auf zwei reduzieren und je nachdem, ob man sich bei
der Seite des Geistes oder der Natur einklinkt, unterscheiden: Entweder ist die
Verbindung das Ergebnis eines geistigen oder eines natürlichen Prozesses.
Die erste Variante ist vor allem mit dem Namen »Leibniz« verbunden.
Seine Antwort heißt: »prästabilisierte Harmonie«, und er
versteht darunter eine Übereinstimmung zwischen Geistigem und Körperlichem
durch die vorstellende Tätigkeit eines absoluten Geistes (also Gottes). Weil
die binär codierte - Welt als eine Gewordene aus einer Einheit - der Geistmonade
Gott - entstanden ist, könnte man dieses theologische Argument als schöpfungstheoretische
Hypothese bezeichnen. (Ebd., S. 11).Die andere Möglichkeit,
die Unterschiede zwischen Geistigem und Körperlichem, zwischen Natur und
Kultur, zu erklären, ist vor allem mit dem Namen Darwin verbunden und könnte
als evolutionstheoretische Hypothese bezeichnet werden. Sie erklärt die Unterschiede
zwischen Geistigem und Körperlichem, zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen
und auch zwischen Natur und Kultur - letztlich als Ausdruck der »poststabilisierten
Harmonie« eines natürlichen Entwicklungsprozesses. Die Welt, so wie
sie ist, wird wohl auch als ein Gewordenes interpretiert, aber nun nicht mehr
als Produkt des Schöpfungsaktes eines singulären Geistes, sondern als
Folge eines natürlichen Evolutionsprozesses, der nicht gesteuert verläuft,
sondern durch Selektionen vererbbarer Varianten nach Maßgabe der Überlebensnützlichkeit
als Anpassung erklärt werden kann (und damit immer nur eine Art »poststabilisierte«
Ordnung m jederzeit änderbaren Zwischenstadium ist). (Ebd., S. 12).Die
evolutionstheoretische Erklärung überwindet die traditionelle Dichotomisierung
insofern, als sie in der Lage ist, eine Vielzahl von Emergenzniveaus zu erklären
und dementsprechend die Differenz von Natur und Geist als nur eine, wenngleich
wichtige, Stufe des Lebendigen zu begreifen. Aus naturalistischer Sicht sind alle
diese Stufen als unterscheidbare emergente Systemebenen Produkte einer natürlichen
Entwicklung (**). Auch Kultur. Die traditionelle
Engführung auf die Alternative »Kultur versus Natur« wird damit
überführt in die Perspektive »Kultur und Natur«. (Ebd.,
S. 12).
Ich
vertrete hier also keinen monistischen, sondern einen differenztheoretischen Ansatz
im Rahmen einer Allgemeinen Evolutionstheorie. (Vgl. Alfred K. Treml, Evolutionäre
Pädagogik, 2004, S. 56ff.). Dieser geht von einer Vielzahl von Emergenzebenen
der Evolution aus, die alle nach Maßgabe der gleichen (darwinistischen)
Logik entstanden sind: Variation, Selektion und Stabilisierung erfolgreicher Anpassungsmuster.
Im Rahmen der Soziobiologie findet man gelegentlich einen monistischen Ansatz,
der auch nicht mehr zwischen Natur und Kultur zu unterscheiden erlaubt und beides
- grau in grau - zu einer Einheit verschmilzt (Eckart Voland, Natur oder Kultur?, in:
Kultur, Hrsg.: Siegfried Fröhlich, 2000, S. 42-53). (Ebd.). |
Diese
konjunktive Sichtweise ersetzt die disjunktive Unterscheidung von Natur und Kultur
und überwindet damit unsere Neigung, binär zu denken und asymmetrisch
zu bewerten. Bei Vergleichen neigen wir nämlich dazu, entweder die Unterschiede
oder die Gemeinsamkeiten hervorzuheben und sind nicht (oder nur mühsam) in
der Lage, beide Seiten der Unterscheidung gleichermaßen zu beobachten und
zu behandeln. Vermutlich handelt es sich hier um eine evolutionär erworbene
denk- und sprachökonomische Disposition, die Erkenntnisse und ikre Kommunikation
durch Kontrstverschärfungen erleichtert und optimiert. Wir können Kontraste
einfach besser sehen und tendieren bei Birfurkationen dazu, uns der Einfachheit
halber auf eine Seite zu schlagen. (Ebd., S. 12-13).Weil
evolutonistheoretisch gesehen aber auch Erkenntnis im Dienste des Überlebens
steht, neigen wir nicht nur zum binären Denken, sondern auch zum asymmetrischen
Bewerten: Natur ist besser als Kultur ... oder ... Kultur ist besser
als Natur .... (Ebd., S. 13).Selbst wenn wir
uns die gesamte menschliche Kulturgeschichte vor Augen halten - und wer tut das
heute noch? (ICH!HB) -, ist das nur ein winziger
Bruchteik unserer Naturgeschichte. Die historische Zeit menschlicher Kulturgeschichte
ist ein Zwei- bis Dreimillionstel der kosmischen und nur etwas mehr als
ein Einmillionstel der biologischen Evolution, deren Teil wir sind. (Vgl. Albrecht
Unsöld, Evolution kosmischer, biologischer und geistiger Strukturen,
1981, S. 65). Jedoch gilt hier Goethes Wort: »Das Abwesende wirkt auf uns
durch Überlieferung« in einem doppelten Sinne, denn das Abwesende,
das da wirkt, kann genetisch oder kulturell überliefert sein. (Ebd.,
S. 13).Die gentische Verwandtschaft zu Affen ist inzwischen
präzise nachgewiesen, so daß Zoologen inzwischen dazu übergegangen
sind, Mensch und Schimpanse taxonomisch zu einer Art zurechnen, denn schließlich
läßt sich beim Vergelich der Kern-DNS zwischen Mensch und Schimpanse
eine stärkere Übereinstimmung nachweisen als etwa zwischen Gorilla und
Schimpanse. (Vgl. Eberhard May, Zum Kulturbegriff und seinem Stellenwert in
der Humanbiologie, in: Kultur, Hrsg.: Siegfried Fröhlich,
2000, S. 29-40). (Ebd., S. 14).Aus dieser Perspektive
ist die verwegene Hypothese durchaus legitim, daß der Mensch auch in seinem
Verhalten von seiner Naturgeschichte geprägt ist und angeborene Programme
besitzt, die sensitiv nur für bestimmte Milieueigenschaften sind. Sein genetisches
Entwicklungsprogramm - sagen wir es vorsichtig - schlägt ihm vor, sich in
bestimmten Situationen so und nicht anders zu verhalten und begrenzt die Bandbreite
möglicher Reaktionsformen. Auch kulturelles Verhalten ist - trotz seiner
großen Varianz - im Durchschnitt an der Leine biologischer Fitneßimperative,
oder mit Darwins Worten: »Der Mensch ist keine Ausnahme!«. (Ebd.,
S. 14).Diese Hypothese ist deshalb legitim, weil alle Lebewesen
vor einer Vielzahl gleicher Probleme stehen und deshalb analoge Lösungsmuster
wahrscheinlich sind. So stehen z.B. alle Säugetiere vor dem Problem, Nahrung
zu beschaffen, Raubfeinden zu entgehen, Parasiten zu trotzen, sozialer Konkurrenz
standzuhalten, Geschlechtspartner zu werben und Nachkommen großzuziehen.
Deshalb lassen sich eine Vielzahl von menschlichen Verhaltensweisen entdecken,
die homologe und analoge Funktionen bei Tieren erfüllen, wie z. B. Autorität,
Hierarchie, Bindungsverhalten, Territorialität, Partnerwerbung, Paarbildung,
Nepotismus, Kooperation, Spiel und Brutpflege resp. Nachwuchserziehung. (Vgl.
Peter A. Corning, Biologische Grundlagen des sozialen Verhaltens, 1974;
Bernhard Hassenstein, Verhaltensbiologie des Kindes, 1973; Irenäus
Eibl-Eibesfeldt, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung,
1987). Der Mensch ist hier - trotz deutlicher Unterschiede zu seinen tierlichen
Verwandten -e in »kulturelles Tier« (Robert Fox). Er wäre ja
auch geradezu dumm, wenn er hier alles neu erfinden hätte wollen, wenn es
in der Evolution der Lebewesen doch schon eine ganze Reihe erprobter und erfolgreicher
Programme gibt. (Ebd., S. 14).Das wäre vor allem
deshalb dumm, weil die Evolution hier durch natürliche Selektion Effizienz
belohnt und Nachlässigkeit - auf längere Sicht - mit Aussterben bestraft.
Wer aber nicht von andern lernt, arbeitet nicht effizient, denn er muß alle
Umwege des Lernens noch einmal gehen und alle Fehler noch einmal machen. Natur
und Kultur unterscheiden sich hierbei nicht beim Prinzip, sondern nur bei der
Form des Erwerbs und der Speicherung nützlicher Informationen. Die natürliche
Evolution ermöglicht durch genetische Veränderungen und Stabilisierung
jene arteigene Anpassungsoptimierung, die häufig mit dem - etwas unglücklichen
- Schlagwort des »survival of the fittest« bezeichnet wird. Kulturelle
Evolution ermöglicht zerebrale Lernprozesse in der Form von Anpassungsleistungen
an spezifische Umweltbedingungen insbesondere durch Imitation. Am Anfang der Kulturgeschichte
stand phylogenetisch gesehen deshalb der heimliche Imperativ: Beobachte die Erfolgreichen
und lerne von ihnen! Das »survival ofthe fittest« wird damit ergänzt
und optimiert durch ein »imitation ofthe fittest« (Eckart Voland,
Natur oder Kultur?, in: Kultur, Hrsg.: Siegfried Fröhlich,
2000, S. 42-53). (**). (Ebd.,
S. 14-15).
Die
große Bedeutung der Imitation für die Evolution einer »kulturellen
Intelligenz« des Menschen (in Abgrenzung zum Affen) wird in der empirischen
Anthropologie inzwischen auch experimentell bestätigt: Bei einem Test versuchen
Kleinkinder ein Gefaß, in dem eine Belohnung ist, so zu öffnen, wie
es ein Experimentator vorgemacht hat (d.h. sie imitieren!). Der Affe hingegen
versucht auf eigene Faust, das Gefäß aufzubrechen (Science, Bd. 317,
S. 1360). (Ebd.). |
Die
Nützlichkeit dieses Prinzips ist unmittelbar einsichtig und deshalb nur schwer
begreiflich, daß es immer noch viele - in Wissenschaft und Politik -g ibt,
die schon den Blick auf die natürlichen, angeborenen Verhaltensprogramme
scheuen, ja leugnen (so als ob dies etwas Unanständiges wäre), geschweige
denn, aktiv mit ihnen zu arbeiten. Selbst und gerade dann, wenn man sie ablehnt
und/oder die These von der Sonderstellung des Menschen vertritt, sollte man sie
kennen, um nicht umsonst zu arbeiten, und wenn man in die gleiche Richtung will,
ist es nützlich, mit ihnen zu rechnen und gewissermaßen auf dem »Schlitten«
dieser natürlichen Neigungen zu fahren. In Anlehnung an Roger Bacon würde
die Kultur sich der Natur dadurch bemächtigen, daß sie diese kennt
und ihr nachgibt. (Ebd., S. 15).Ich will dies an den
beiden Kulturbegriffen veranschaulichen, die derzeit gebräuchlich sind: dem
Kulturbegriff im weiteren Sinne und im engeren Sinne (sprich: Hochkultur). Ich
habe den Eindruck, daß derzeit - auch in vielen Wissenschaften - unisono
der weite Kulturbegriff en vogue ist und Hochkultur, und nebenbei bemerkt: damit
auch die Hochsprache des Deutschen und ihre Schrift, einen dramatischen Statusverlust
erleidet. Wieder finden wir hier nicht nur eine Unterscheidung vor, sondern auch
eine (asymmetrische ) Bewertung. Wenn man unter Kultur i.w.S. alle Glaubens-,
Wissens-, Kommunikations-und Handlungsformen des einfachen Volkes versteht, also
z.B. die populären Sitten und Gebräuche, religiöse Riten, Moralvorstellungen,
Alltagsgewohnheiten, Dialekte und Erstsprache u.s.w., dann wird klar, daß
jeder Mensch eine Kultur besitzt. Der weite Kulturbegriff,
wie er etwa in der Volkskunde, der Empirischen Kulturwissenschaft (Bernd Jürgen
Warneken, Zum Kulturbegriff der Empirschen Kulturwissenschaft, in: Kultur,
Hrsg.: Siegfried Fröhlich, 2000, S. 207-214), der Interkulturellen Pädagogik
(Clemens Niekrawitz, Interkulturelle Pädagogik im Überblick,
1990, S. 34ff.), üblich ist, betont also in den Unterschieden das Gemeinsame.
Wahrscheinlich ist er deshalb so beliebt, ja geradezu »politisch korrekt«
(**),
beschwört man doch damit in einer multikulturell heterogenen Gesellschaft
die Affiliation in eine fiktive Gemeinschaft (die im Zeitalter der Globalisierung
ein einheitliches anglizistisches «Globalesisch« spricht). (Ebd.,
S. 15-16).Dagegen betont der Begriff der Hochkultur in den
Unterschieden das Trennende, denn hier geht es um einzigartige und unvergleichliche
kulturelle Hochleistungen. Jede Hochkultur hat ihre eigene Hochsprache und ein
eigenes unverwechselbares kulturelles Gedächtnis. Beides ist nicht einfach
sich anzueignen. Vielleicht wird deshalb dieser Begriff ganz im Gegensatz zu früheren
Zeiten -als »enger und bildungsbürgerlicher Kulturbegriff« abgewertet,
ja denunziert, so daß Bildungspolitik und Kulturpolitik Mühe haben,
nicht nur das nötige Geld, sondern auch die nötige Motivation dafür
aufzubringen, so daß es fast einer Apologie der Hochkultur gleichkommt,
wenn man deren Funktion herausarbeitet. (Ebd., S. 16).In
der Tat lassen sich aus naturalistischer Sicht beide Kulturformen funktionalistisch
begründen. Kultur i.w.S. bezeichnet Formen - und es ist deshalb besser von
»Kulturen« im Plural zu sprechen - erprobter und bewährter Voranpassungen
an sachliche, geographische oder historische Umweltbedingungen. Schon Hippokrates
hatte einen ähnlichen Verdacht, als er in einer teilweise erhaltenen Schrift
aus der Zeit kurz vor Jdem Peloponnesischen Krieg (also etwa um 450 v.Chr .) die
auffälligsten Unterschiede zwischen Asien und Europa, insbesondere die Verschiedenheit
der Völker sowohl in ihrer körperlichen Gestalt als auch in: ihren Charaktereigenschaften,
Sitten und Gebräuchen durch unterschiedliche natürliche Umweltbedingungen
erklärte und damit »nomos« zu einer von »physis«
abhängigen Variablen machte. Nicht nur an sachliche, soziale, räumliche
oder gar geographische, sondern auch an zeitliche, historische Formen der Umweltbedingungen
passen sich Kulturen i.w.S. an und reduzieren dadurch Komplexität. In Anbetracht
der natürlichen Bandbreite von Anpassungskontingenz erleichtert diese Reduktion
das Leben der Menschen und macht es für den Einzelnen einfacher. (**).
(Ebd., S. 16-17).
Viele
(philosophische) Anthropologen, wie z.B. Martin Heidegger, Helmuth Plessner und
Amold Gehlen, haben diesen Vorgang als Kompensation eines grundlegenden anthropogenen
Defizits interpretiert - als ob der Mensch nicht auf eine spezielle Umwelt hin
von Natur aus angepaßt wäre. Er müsse deshalb den »Lastcharakter
seines Daseins« mit und durch Kultur »entlasten«. Evolutionsbiologen
interpretieren inzwischen überwiegend dies nicht mehr als Defizit, sondern
- im Gegenteil - als eine dem Menschen spezifische (Sonder-)Ausstattung. Der Mensch
ist von Natur aus ein Kulturwesen. (Ebd.). |
Einfacher
wird es vor allem durch die Form der Vermittlung dieser Kontingenzregulierung.
Sie verläuft i.a. latent durch Sozialisation bzw. Enkulturation und das heißt:
ganz nebenbei ohne besonderen Aufwand gewissermaßen qua Prägung. Das
neugeborene Kind wächst in seine Kultur i.w.S. durch funktionale Erziehung
hinein. Das ist aus Sicht der Evolutionstheorie »billig«, weil es
dem ökonomischen Sparprinzip der natürlichen Selektion entspricht. Es
bedarf keiner zusätzlichen Lehrer, keiner Schulen, keiner Behörden,
keiner vorbereitenden oder gar evoluierenden Gremien. Enkulturation spart Ressourcen,
weil sie keine teuren Ressourcen verschlingt, und das ist es, was natürliche
Selektion prämiert. Der Nachteil dieser kulturellen Prägungsprozesse
ist allerdings ihre Veränderungsresistenz. Spätestens irn unmittelbaren
Kontakt mit anderen, fremden oder gar exotischen kulturellen Entwürfen in
einer multikulturellen Gesellschaft kann das (wie wir alle wissen) zum Problem
werden. (Ebd., S. 17).Nun gibt es allerdings auch
teure, ja sehr teure, Formen der Kultur, und wir nennen diese dann Hochkultur.
Diese kann man nicht latent durch Sozialisation erwerben, sondern sie bedarf einer
aufwendigen (intentionalen) Erziehung. Man kann die Hochkultur deshalb auch nicht
mit der natürlichen Selektion erklären. Welchen Nutzen haben wohl riesige
Pyramiden, kostbare Brillanten, viersätzige Sinfonien, fünfstündige
Opern, sündhaft teure Armbanduhren, unbezahlbare Gemälde, filigrane
Streichquartette, abstrakte Kunstwerke, dicke philosophische Bücher und aufwendige
wissenschaftspolitische Tagungen wie diese? Ihre Herstellung ist ungemein teuer,
verschlingt nicht nur viel Geld, sondern auch viel Lebenszeit. Um z.B. in einem
Orchester mitspielen zu können, muß man nicht nur ein Instrument kaufen
und viele Jahre des Lebens Tausende von Unterrichtsstunden nehmen und teuer bezahlen,
sondern vor allem auch viele, unendlich viele, Stunden üben und üben
(und damit einer der kostbarsten Ressourcen, nämlich Zeit, opfern), bis man
auch nur die technischen Voraussetzungen dafür beherrscht. Die Aufführung
selbst verlangt wiederum viele Proben u.s.w.. Oder ein anderes Beispiel: Um ein
philosophisches Buch schreiben zu können, das vielleicht kaum jemand liest
und wenn, dann nicht versteht, bedarf es vieler Jahre Schule und viele Tausende
Stunden einsamer Studien, teuer von der begrenzten Lebenszeit erkauft und auf
Kosten der Befriedigung anderer, ursprünglicher Bedürfnisse. (Ebd.,
S. 17-18).Wir sehen an diesen Beispielen: Hochkultur ist
teuer, und es ist nicht zu erkennen, welche Überlebensfunktion sie - etwa
in Form von Kunst und Musik - hat. Sie ist deshalb aus Sicht der natürlichen
Selektion völlig , nutzlos, nicht nur überflüssig, sondern geradezu
schädlich, weil sie Ressourcen verschleudert, die dann an anderer Stelle
fehlen. Mit natürlicher Selektion kann man diese Verschwendung nicht erklären.
Weil jedoch in jeder Kultur, wenngleich in sehr unterschiedlicher Ausprägung,
Formen hochkultureller Verschwendung nachweisbar sind, muß es eine tiefsitzende
Funktion erfüllen. Aus naturalistischer Sicht muß man hier die zweite,
schon von Darwin bei seinen Tierforschungen aufgefallene Form evolutionärer
Selektion in Betracht ziehen: Sexuelle Selektion. (Ebd., S. 18).Darwin
hat schon (in einem kleinen Kapitel) seines Hauptwerkes Ȇber die Entstehung
der Arten« eine zweite Selektionsform der Natur erwähnt, die sexuelle
Selektion (»geschlechtliche Zuchtwahl«), und das Prinzip in Abgrenzung
zu dem der natürlichen Selektion so beschrieben: »Diese Form der Zuchtwahl
hängt nicht von einem Kampf ums Dasein mit anderen Lebewesen oder äußeren
Umständen ab, sondern vom Kampf zwischen den Individuen eines Geschlechts,
gewöhnlich des männlichen, um den Besitz des anderen (**).
Das Schlußergebnis für den erfolglosen Mitbewerber ist nicht dessen
Tod, sondern eine geringe oder gar keine Nachkommenschaft« (Charles Darwin,
Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, 1859,
S. 131). Inzwischen ist die Theorie der sexuellen Selektion theoretisch ausgebaut
und vielfach empirisch bestätigt und mit einer Theorie des Handicap-Prinzips
angereichert worden. (Ebd., S. 18-19).
Die
sexuelle Selektion wird von Darwin ausführlicher und erstaunlich differenziert
in seinem (später erschienenen) Werk »Die Abstammung des Menschen«
behandelt (Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche
Zuchtwahl, 1871, 2. Teil, S. 282ff.). Hier heißt es z. B.: die »geschlechtliche
Zuchtwahl ...hängt von dem Vortheile ab, welchen gewisse Individuen über
andere Individuen desselben Geschlechts und derselben Species erlangen in ausschließlicher
Beziehung auf die Reproduction« (ebenda, S. 273). (Ebd.). |
Sexuelle
Selektion erklärt zwei zunächst sehr unterschiedlich erscheinende Dinge
bei zweigeschlechtlichen Lebewesen, nämlich einmal den harten und oft nicht
ungefährlichen Konkurrenzkampf zwischen den Männchen um die Weibchen
zwecks Abschreckung anderer Männchen und zum andern verschiedene Formen eines
aufwendigen Leistungs- und Imponierverhaltens zwecks Anziehung der Weibchen. Beides
ist funktional bezogen auf die Lösung des Grundproblems, das sich für
Männchen in die Frage kleiden läßt: Wie erhalte ich unter Bedingungen
der Knappheit der Ressourcen und der vielen Mitkonkurrenten Zugang zu befruchtungsfähigen
Eizellen? Und für Weibchen: Wie erkenne ich den potenziell guten Vater meiner
künftigen Kinder? (Ebd., S. 19).Weil für
Weibchen aufgrund ihrer biologischen Ausstattung, insbesondere der Begrenztheit
ihrer Eizellen und ihrer hohen Investition in Schwangerschaft und Geburt mehr
auf dem Spiel steht, verwalten sie das knappere Gut und entscheiden letzten Endes
über die gelingende sexuelle Selektion. Deshalb beobachten sie Männchen
hinsichtlich bestimmter Kriterien, die inzwischen gut erforscht sind. Ein entscheidendes
Kriterium ist die Fähigkeit des Männchens, großartigen Schmuck
zu erzeugen, z. B. in Form bunter Schmuckgefieder mit aufwendiger Prachtfärbung,
lautstarker Gesänge oder komplizierter Tanzrituale. Das Paradoxe dabei ist:
Dieser auffällige und luxuriöse Schmuck muß bei der Herstellung
und beim Gebrauch energetisch teuer und nutzlos, ja am besten möglichst hinderlich
sein (**), denn nur dann signalisiert
er im Rahmen der Signalselektion die ehrliche, weil teure Botschaft: Ich bin überdurchschnittlich
fit! Ich kann mir diesen Überflüssigen und hinderlichen Schmuck leisten!
(Ebd., S. 19-20).
Und
das ist er in der Regel, denn all diese Signale sind nicht nur bei der Herstellung
energisch teuer, sondern bei der Ausführung im Rahmen der Signalselektion
auch getahrlich, denn sie ziehen Feinde an und sind deshalb objektiv schädlich.
(Ebd.). |
Es bedarf keines großen Analogieschlusses,
um die Vermutung zu äußern, daß Kultur qua Hochkultur homolog
wahrscheinlich in der sexuellen Selektion gründet. Hochkulturelle Formen
sind eine Art großartiger Schmuck; sie sind vergleichbar mit aufwendigen
Balzkleidern und ritualen, großartigen Gesängen und anderen Formen
der Luxurierung bei Tieren. Kunst, Musik, Philosophie, Oper, Lyrik, Gesänge,
Museen, Orchester, Tanz u.s.w.-all das ist aus naturalistischer Sicht nichts anderes
als eine Ansammlung von Fitneßindikatoren, die gerade dadurch, daß
sie nutzlos (**), aber teuer
sind und gelegentlich geradezu Formen des freiwilligen Selbsthandicaps annehmen,
ihren Nutzen in der sexuellen selektion haben, denn sie signalisieren nicht nur
die überlegene Leistungsfähigkeit, sondern auch die Ehrlichkeit der
Signale ( denn schließlich ist das, was sehr teuer ist, schwer zu fälschen
[**]). (Ebd., S. 20).
Bei
seinem Versuch, im Kontext der Frage »Was ist ein Bild?« die
menschliche Fähigkeit des (Ab-)Bildens evolutionär zu bestimmen, arbeitet
auch Hans Jonas die Nutzlosigkeit als zentrales Unterscheidungskriterium heraus,
ohne allerdings dessen Funktion in der Sexuellen Selektion zu erkennen: »Was
für Vermögen und Haltungen sind im Bildmachen am Werke? Für unsere
spontane Überzeugung, daß kein bloßes Tier ein Bild hervorbringen
würde und könnte, genügt zunächst die biologische Nutzlosigkeit
jeder bloßen Repräsentation. Tierische Artefakte haben direkte physische
Verwendung in der Verfolgung vitaler Zwecke, wie Ernährung, Fortpflanzung,
Versteck, Überwinterung. Sie sind selber etwas im Bewirkungszusammenhang
von etwas. Die Darstellung von etwas verändert aber weder die Umwelt noch
den Zustand des Organismus selbst. Ein bildmachendes Wesen ist daher eines, das
entweder dem Herstellen nutzloser Dinge frönt, oder Zwecke außer den
biologischen hat ...« (Hans Jonas, Homo Pictor, in: Was ist ein
Bild?, Hrsg.: Gottfried Boehm, S. 107). (Ebd.). |
Am
Anfang der Kultur war also nicht die Kunst - wie der SPIEGEL in seiner Ausgabe
vom 02.07.2007 (Nr. 27) verkündete (»Am Anfang war die Kunst«)
-, sondern die Sexualität. Die Produktion von Dingen, die biologisch -d.h.
im Sinne der natürlichen Selektion -nutzlos sind, wie etwa die bildende Kunst,
ist eine (Neben- )Folge davon. (Ebd.). |
Wenn
diese Hypothese richtig ist, müßten eindeutige Indikatoren empirisch
nachweisbar sein. Es müßte also bei der Produktion und bei der Konsumtion
hochkultureller Güter eine deutliche geschlechtsspezifische Ungleichheit
nachweisbar sein, und das heißt: Es müßte im statistischen Durchschnitt
bei der kulturellen Produktion ein deutliches männliches Übergewicht
und beim kulturellen Konsum ein deutliches weibliches Übergewicht nachweisbar
sein, denn schließlich sind es letztlich die Frauen, die bei der sexuellen
Selektion die letzte Entscheidung treffen (**).
Die bisher gesammelten empirischen Daten bestätigen diese Vermutung. Ich
will nur zwei Beispiele aufführen; das Erste bezieht sich auf die Produktion,
das Zweite auf die Rezeption von Kultur: | Untersucht
man ein großes Konversationslexikon, dann ergibt sich, daß etwa 85,5%
der dort aufgeführten Kulturgrößen (Dichter, Philosophen, Erfinder,
Komponisten, Künstler u.s.w.) männlich und 14,5% weiblich sind. (Untersucht
wurde das Bertelsmann Konversationslexikon [Das Wissen unserer Zeit von A-Z],
2001. Die Stichprobe umfaßt die Buchstaben A-D = 203 Seiten = 20%. Das Ergebnis:
männlich 765 Nennungen = 85,5%, weiblich 130 Nennungen = 14,5%. [im
Bereich der Technik und {Natur-}Wissenschaft u.s.w. dürfte das Verhältnis
sogar 99,9% {männlich} zu 0,1% {weiblich} sein! HB]). | | Dagegen
gibt es Anzeichen dafür, daß es bei der Kulturrezeption also bei den
Beobachtern kultureller Produktionen ein deutliches weibliches Übergewicht
gibt: »Es gehen in der Regel mehr Frauen in die kulturellen Veranstaltungen.
Da müssen wir uns nichts vormachen. Die Männer werden höchstens
mitgezogen« (**). | Wir
sehen hier eine deutliche geschlechtsspezifische Asymmetrie, die den Schluß
zuläßt: Die Produktion von Hochkultur ist primär männlich;
Männer sind in allen Kulturen »kulturell produktiver« (G. Miller,
Die sexuelle Evolution, 2001, S. 78f.) und das nicht deshalb, weil sie
die Frauen dauerhaft unterdrückt haben, und auch nicht, weil sie klüger
als die Frauen sind (**), sondern »weil
sie zum größten Teil der Partnerwerbung dient (!), denn alle männlichen
Säugetiere investieren mehr Energie in die Partnerwerbung. Männer malen
mehr Bilder, nehmen mehr Jazzalben auf, schreiben mehr Bücher ... und vollbringen
mehr ungewöhnliche Leistungen (**)
....« (G. Miller, Die sexuelle Evolution, 2001, S. 99).
(Ebd., S. 20-22).
Evolutionsbiologisch
formuliert: »Es sind nämlich die Weibchen, welche die Männchen
als Partner wählen. Als Auswahlkriterium gilt sicherlich die Vitalität
der Männchen, die über solche Statussymbole indirekt sichtbar
wird. Denn diese Balzkleider, ausgiebige Gesänge oder andere Luxusmerkmale
verursachen Kosten und nur ein gesundes und vitales Männchen ist in der Lage,
solche Merkmale auszubilden. Kommen Tiere mit solchen Statussymbolen
vermehrt zur Fortpflanzung, dann werden sich auch die zugehörigen Merkmale
(vorausgesetzt, daß sie genetisch vererbt werden) bevorzugt durchsetzen.«
(Volker Storch / Ulrich Welsch / Michael Wink, Evolutionsbiologie, 2001, S. 312).
(Ebd.). |
So
der Intendant eines Hamburger Theaters in einem Interview (Kulturblatt für
Bergedorf und Umgebung, Nr. 5, 2007, S. 4). (Ebd.). |
Mit
Einschränkung! Empirisch nachweisbar ist eine deutliche männliche Dominanz
bei überdurchschnittlich hoher Intelligenz: Bei einer schottischen Studie
(an der Universität Edinburgh) zeigte sich, daß unter den intelligentesten
zwei Prozent der Bevölkerung doppelt so viele Männer wie Frauen sind,
während sich der Frauenanteil im Mittelfeld bewegt (vgl. Die Welt, 26.09.2007).
Allerdings sind auch bei den 2% dümmsten Probanden mehr als doppelt so viel
männlichen Geschlechts! Die Autoren der Studie vermuten, daß Männer
im Verlaufe der Evolution einem Selektionsdruck in Richtung höherer Intelligenz
ausgesetzt sind, weil diese Eigenschaft sie für das andere Geschlecht attraktiver
macht. Es gibt deshalb mehr hochintelligente Männer als Frauen, und Männer
überwiegen im produktiven, Frauen im reproduktiven Teil. Offen bleibt allerdings
dann die Frage, warum der männliche Anteil auch bei den am wenigsten Intelligenten
überwiegt. Eine Erklärung wäre m.E.: Weil Männer insgesamt
riskanter leben, um in der sexuellen Selektion auffälliger zu sein; dies
kann durch positive, aber auch durch negative Abweichung vom Mittelwert der Verteilung
erreicht werden. Weil Männer riskanter leben, nutzen sie eine größere
Bandbreite von Verhaltensweisen aus als Frauen. Das kann glücken, aber auch
daneben gehen. (Ebd.). |
Baumeister
weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die heute lebenden Menschen
von doppelt so viel Frauen wie Männem abstammen, sich demnach etwa 80% der
Frauen, aber nur etwa 40% der Männer fortgepflanzt haben und deshalb auf
die Männer im Rahmen der sexuellen Selektion ein starker Selektionsdruck
vorhanden war/ist, der zu einer hochriskanten und hochproduktiven Kulturleistung
animiert (Roy F. Baumeister, Wie Kultur Männer benutzt, 2008, a.a.O.,
S. 10-13). (Ebd.). |
Aus
naturalistischer Sicht ist der Kulturbetrieb eine riesige, kostspielige, Energie
verschlingende Spielwiese rur unwahrscheinliche, teure Signale im Rahmen der sexuellen
Selektion - zumindest ist das ihre homologe, d.h. ursprüngliche Funktion,
die Kultur stabilisierte und wahrscheinlich auch heute noch proximat bestimmt.
Das heißt natürlich nicht, daß sie immer und überall auch
heute noch diese Funktion gar bewußt und absichtlich bedient. Das Programm
wirkt unabhängig davon, ob dadurch im konkreten Fall eine größere
Fitneß oder ein Fortpflanzungserfolg tatsächlich erreicht wird: »Menschen
sind lebende Fossilien -Ansammlungen von Mechanismen, die durch den Selektionsdruck
hervorgebracht worden sind, der auf eine lange und ununterbrochene Reihe von Vorfahren
gewirkt hat. Heute aktivieren wir diese spezifischen Mechanismen und führen
sie aus, doch wir folgen dabei weder bewußt noch unbewußt dem ...
Ziel, die Vertretung unserer Gene im Verhältnis zu jener der Gene anderer
zu maximieren« (David M. Buss, Evolutionspsychologie, 2003, in: Gene,
Meme und Gehirne, Hrsg.: Alexander Becker, S. 166f.). (Ebd., S. 22).Möglicherweise
bedient Hochkultur ultimat auch heute noch die Funktion, unwahrscheinliche Hochleistungen
zu produzieren und damit nicht nur Selektionsvorteile im Rahmen der natürlichen
Selektion zu erwerben, sondern auch im Rahmen der sexuellen Selektion wichtige
Signale auszusenden. Wenn diese Vermutung richtig sein sollte, kann man daraus
eine weitere interessante Schlußfolgerung ziehen: Hochkulturelle Leistungen
im Rahmen der Signalselektion werden nicht produziert, um zu belehren, sondern
um beobachtet zu werden. Deshalb ist Kultur qua Hochkultur Beobachtungskultur
und braucht Konzertsäle, Museen, Theater, Klassenräume, Hörsäle
und Fernsehkanäle u.s.w.. (Ebd., S. 22-23).Gleichzeitig
kann man mit der Theorie der sexuellen Selektion auch eine weitere geschlechtsspezifische
Asymmetrie erklären, nämlich die der männlichen Dominanz in Politik
und im produzierenden Bereich. Diese Dominanz ist in allen Kulturen nachweisbar,
Ausnahmen wurden m.W. bisher nicht gefunden: Die »Suche nach Gesellschaften,
in denen Frauen den öffentlich politischen Bereich dominieren« war
»bislang ergebnislos« (Christoph Antweiler, Was ist den Menschen
gemeinsam?, 2007, S. 9) oder in anderen Worten: »... männliche
Dominanz ... ziemlich flächendeckend...: Patriarchat allüberall«
(Volker Sommer, Von der Natur in der Kultur, 2000, in: Kultur,
Hrsg.: Siegfried Fröhlich, 2000, S. S. 36 [**]).
Ein riskanter Wettkampf um Hochleistung, um Macht und Einfluß kann homolog
als Konkurrenzkampf zwischen den Männem erklärt werden. Nur auf den
ersten Blick scheint er glücklicherweise nicht mehr - wie bei vielen Tierarten
oft - tödlich zu verlaufen (nämlich weil kulturelle Muster, etwa der
Signale bei der einheitlichen grauen Kleidung unserer Politiker, eine aggressionsdämpfende
Wirkung entfalten). Auf den zweiten Blick wird erkennbar, daß gleichwohl
die Folgen dramatisch sind: Männer leben im statistischen Durchschnitt riskanter
und damit stressiger, sie begehen mehr Morde und Selbstmorde, werden jedoch auch
mehr Opfer von Gewaltverbrechen, und sie haben insgesamt gesehen eine deutlich
kürzere Lebenserwartung als Frauen. (Ebd., S. 23).
Allerdings
konstruiert der Autor dann eine obskure, empirisch kaum nachweisbare Erklärung
dafür, wenn er fortfährt: »Möglich war das nicht zuletzt,
weil Männer den Frauen systematisch ihre stärkste Waffen entwanden:
die Verwaltung der Götterwelt« (Volker Sommer, Von der Natur in
der Kultur, 2000, in: Kultur, Hrsg.: Siegfried Fröhlich,
2000, S.36). (Ebd.). |
Wenn
man sich an diesen Beispielen vor Augen fuhrt, daß das, was wir wie selbstverständlich
zur Kultur des Menschen rechnen, in Wirklichkeit durchwoben ist von proximaten
und ultimaten Funktionen der Natur des Menschen, kann man auch deutlich die Verwerfungen
entdecken, die dort entstehen, wo kulturelle Entwicklungen die vererbten Imperative
der Natur unterlaufen oder konterkarieren. Wenn es beispielsweise unsere Gleichstellungspolitik
- eine kulturelle Errungenschaft der »Postmoderne« (Spätmoderne
[die »Postmoderne« ist lediglich eine sich nur so nennende, »künstlerische«
Begleiterscheinung der Spätmoderne, also {noch} nicht wirklich eine Postmoderne];
HB) - fertigbringen sollte, Gleichheit am Anfang (qua Chancengleichheit)
flächendeckend tatsächlich zu realisieren und das heißt: alle
familialen und gesellschaftlichen Effekte vollständig auszuschließen,
dann verstärkt sie paradoxerweise gerade die Unterschiede und biologisiert
sie, denn auf der Basis von gesellschaftlicher Gleichheit können nun die
biologischen Unterschiede um so deutlicher hervortreten. Wenn sie gar die Gleichheit
am Anfang mit der Gleichheit am Ende verwechseit und eine Gleichheit der Lebensbedingungen
durchsetzt, nimmt sie den Frauen jene entscheidende Distinktionen, an denen diese
sich bisher (über Jahrmillionen hinweg) bei ihrer sexuellen Selektion orientieren
konnten. (Ebd., S. 23-24).Man würde dabei wahrscheinlich
etwas Wichtiges übersehen, nämlich daß Kultur Natur nicht steuern
kann, sondern nur immer wieder die Bandbreite möglicher Reaktionsnormen austestet,
ohne sich von der mal kürzeren, mal längeren Leine evolutionärer
Fitneßprogramme letztlich befreien zu können. Gerade wenn man sich
der vielen flüchtigen Moden unseres Kulturbetriebs, der »politischen
Korrektheit« (**)
und der Schnelligkeit, mit der sich Reformprogramme (insbesondere in der Bildungspolitik)
abwechseln, vor Augen führt, ist es gelegentlich angebracht, auf eine theoretisch
kontrollierte Distanz zu gehen und sich der großen natürlichen Zusammenhänge
zu erinnern, in denen all unsere Wünsche und Anstrengungen eingebettet sind.
Man wird dann möglicherweise zu einer Einsicht kommen, die Darwin ... so
formulierte: »Wie unbestimmt sind die Wünsche und Anstrengungen des
Menschen, wie knapp bemessen ist seine Zeit. Und wie armselig sind seine Erfolge
im Vergleich zu denen, die die Natur im Laufe ganzer geologischer Perioden hervorgebracht
hat« (Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche
Zuchtwahl, 1859, S. 125). (Ebd., S. 24).Im Bemühen,
das Nächstliegende zu tun, neigen auch wir Pädagogen dazu, diese »Dunkelseite
des Mondes« zu übersehen, also das, was der Situation nicht nur kulturell,
sondern auch natural vorgegeben ist. Eine Aufklärung dieser im Dunkel liegenden
Seite natürlicher Vorselektionen muß die im Hellen sichtbare Seite
kultureller und individueller Bindungen nicht beleidigen. Im Gegenteil! »Ist
auch der Mond nur halb zu sehen, ist er doch rund und schön« (Matthias
Claudius). (Ebd., S. 24).
Die Evolution entläßt ihre Kinder - geht das überhaupt? (Gerhard
Vollmer)
Unsere kognitive Nische - der Mesokosmos
Die
Evolutionäre Erkenntnistheorie betrachtet das menschliche Erkenntnisvermögen
als eine Fähigkeit, die wir im Laufe der Evolution erworben haben. Auch mit
diesem Vermögen haben wir uns an unsere Umwelt angepaßt. Den Ausschnitt
der realen Welt, an den wir kognitiv angepaßt sind, nennen wir Mesokosmos.
Er ist -in Analogie zur ökologischen Nische - die kognitive Nische
des Menschen. Er ist räumlich dreidimensional; bei Entfernungen reicht er
von Millimetern (»Haaresbreite«) zu Kilometern (Tagesmarsch), zeitlich
vom subjektiven Zeitquant (etwa 1/20 Sekunde) zum eigenen Lebensalter, von Gramm
zu Tonnen, von Stillstand zur Geschwindigkeit eines geworfenen Steins, von gleichförmiger
Bewegung (Beschleunigung Null) zur Sprinter- oder Erdbeschleunigung, vom Gefrier-
bis zum Siedepunkt des Wassers, von Komplexität Null (unzusammenhängender
Staub) bis zu linearen Systemen und damit auch zu linearer Kausalität. Dagegen
gehören elektrische und magnetische Felder nicht zum Mesokosmos: Sie
sind zwar, wie das Erdmagnetfeld zeigt, makroskopisch; wir haben jedoch kein Sinnesorgan
für sie und können sie deshalb nicht »unmittelbar« wahrnehmen.
(Ebd., S. 35).Auf diesen Mesokosmos sind wir genetisch vorbereitet;
auf ihn werden wir zusätzlich geprägt; dort finden wir uns leicht zurecht;
hier können wir uns auf unsere Intuition verlassen. Außerhalb des Mesokosmos
kann uns die Intuition leicht in die Irre führen. Zwar meint Rene Descartes
(1596-1650): »Kein
vernünftiger Mensch wird bestreiten, daß es besser ist, nach dem Muster
der in den großen Körpern durch unsere Sinne wahrgenommenen Vorgänge
über die zu urteilen, die an den kleinen Körpern geschehen, aber wegen
ihrer Kleinheit nicht wahrgenommen werden können, als zu ihrer Erkenntnis
neue Dinge, ich weiß nicht welche, auszudenken, welche mit en wahrgenommenen
keine Ähnlichkeit haben. (René Descartes 1644, Die Prinzipien der
Philosophie, § 201). | Es mag eine vernünftige
Maxime sein, zunächst einmal anzunehmen, die Welt sei überall
so beschaffen wie im Mesokosmos. Doch wissen wir längst, daß diese
Annahme oft genug falsch ist. Und sie ist desto häufiger falsch, je weiter
die Systeme von unserem Mesokosmos entfernt sind. (Ebd., S. 35-36).Über
die Rolle der Intuition wird in letzter Zeit viel diskutiert und zum Glück
auch geforscht - oft mit Ergebnissen, die der Intuition widersprechen. Auf der
einen Seite stellt sich heraus, daß unsere Intuition - unser »Bauchgefühl«,
wie man heute gern sagt - oft eine gute Richtschnur bietet. (Ebd., S. 36).Auf
der anderen Seite wird unsere Intuition viel kritisiert. So gibt es ganze Bücher
über die Fehlleistungen unserer Intuition. Besonders leicht irren wir uns,
wenn es um Wahrscheinlichkeit und Statistik geht. Mehrere Autoren versuchen, solche
Fehlleistungen nicht nur darzustellen, sondern auch zu erklären. Einige von
ihnen machen deutlich, daß wir viele unserer Fehler und Irrtümer der
Evolution zu verdanken haben. Und natürlich gibt es auch Ratschläge,
wie man solche Irrtümer vermeiden kann. (Ebd., S. 36).Allerdings
sind einige Autoren der Meinung, daß solche Fehlleistungen, gerade wenn
und weil sie evolutiv bedingt sind, nahezu ufivermeidlich seien. Tatsächlich
ist es manchmal erschreckend, wie dieselben Fehler immer wieder gemacht werden.
Dazu bieten gerade die Bücher von Frey viele eindrucksvolle Fallstudien.
Auch die Pädagogik wird sich klugerweise nicht das (unerreichbare) Ziel setzen,
alle üblichen Fehler, insbesondere die hartnäckigen, zu verhindern oder
wenigstens abzufedern. Sie wird zufrieden sein müssen, wenn es ihr gelingtwenigstens
einige Fehler und Fehlleistungen zu vermeiden. (Vgl. U. Frey, Der blinde Fleck,
2007; ders., Fallstricke, 2009). (Ebd., S. 36).
Der soziale Mesokosmos
Neben dem Mesokosmos, also unserer
kognitiven Nische, kann man auch einen sozialen Mesokosmos ins Auge fassen.
Das ist dann jener Ausschnitt der sozialen Welt, an den wir als evolutionär
entstandene Wesen angepaßt sind. Zwar läßt auch er sich aus fossilen
Funden kaum rekonstruieren. Doch sind Verhaltensuniversalien gute Kandidaten für
genetische Wurzeln. Vor allem können wir an menschlichem Fehlverhalten studieren,
wo wir unseren sozialen Mesokosmos überfordern. Außerdem können
wir hier vergleichende Forschung betreiben und uns mit Stammeskulturen (früher:
Naturvölkern) einerseits, mit anderen Primaten andererseits vergleichen.
Der soziale Mesokosmos besteht aus etwa 100 Stammesgenossen, die man alle persönlich
kennt und mit denen man in der Regel auch näher verwandt ist. Mit ihnen hat
man weit mehr soziale Kontakte als mit fremden Individuen. Mit ihnen zu koopefieren,
begünstigt in der Regel auch die eigenen Gene: Entweder ich nütze meinen
Verwandten und damit meinen Genen, soweit sie in ihnen stecken; oder ich nütze
anderen Stammesgenossen, die dann über reziproken Altruismus wieder mir oder
meinen Verwandten und damit ebenfalls meinen Genen nützen. (Ebd., S.
36-37).Unsere soziale Umwelt wird dem sozialen Mesokosmos il'nmer
unähnlicher. Der Anthropologe Hans Zeier hat zahlreiche Situationen skizziert,
die in unserer stammesgeschichtlichen Vergangenheit nicht vorgekommen, heute aber
häufig sind. (Vgl. Hans Zeier, Evolution von Gehirn, Verhalten und Gesellschaft,
1978, a.a.O.). Wir stellen einige solche Bedingungen zusammen: | Die
Gruppen, in und mit denen wir leben, umfassen mehr als hundert Individuen. | | Wir
haben mehr Kontakte mit fremden als mit vertrauten Individuen. | | Wir
haben mehr indirekte Kontakte über (technische) Hilfsmittel als persönliche
Kontakte. | | Der
Anteil neuartiger Tätigkeiten ist vergleichsweise hoch. | | Wir
machen mehr passive Erfahrungen (Berichte, Lektüre, Medien, Computer) als
aktive | | Soziale
und technische Veränderungen lassen die Erfahrungen einer Generation für
die nächste unbrauchbar werden. | | Wir
lernen mit und an Maschinen statt an Menschen und entwickeln entsprechende Gewohnheiten
und Denkmodelle. | | Wir
erleben weder unsere ökologischen Lebensvoraussetzungen noch die Folgen unserer
Handlungen direkt genug, um individuell daraus zu lernen. | | Viele
Kinder wachsen mit nur einem Elternteil auf, lernen also das jeweils andere Geschlecht
und die andere Hälfte der Familie kaum kennen. | | Bei
Einzelkindern über mehrere Generationen gibt es keine Großfamilie mehr:
keine Onkel und Tanten, keine Kusinen und Vettern, keine Geschwister, keine Neffen
und Nichten. Verwandt ist man nur noch mit Eltern und Kindern. | Offenbar
gibt uns unser stammesgeschichtliches Erbe zwei verschiedene Verhaltensweisen
mit: Verhalten gegenüber Stammesgenossen (in-group) und gegenüber Außenstehenden
(out-group). Nach den Erkenntnissen der Soziobiologie hat uns die Evolution also
mit einer Art »doppelter Moral« ausgestattet. Es leuchtet ein, daß
das Modell des sozialen Mesokosmos große Bedeutung für die Ethik hat,
insbesondere aber für eine Evolutionäre Ethik; denn jede einigermaßen
anspruchsvolle Ethik legt Wert auf die Verallgemeinerbarkeit moralischer
Normen. Ähnliches gilt für Psychologie, Psychiatrie und Pädagogik.
So ist es kein Wunder, daß es inzwischen eine Evolutionäre Psychologie,
eine Evolutionärei Psychiatrie und eben auch eine Evolutionäre Pädagogik
gibt. Im folgenden befassen wir uns allerdings nur mit Pädagogik und nur
mit unserer kognitiven Nische, also mit dem Mesokosmos. Was kann - angesichts
unseres evolution ären Erbes - eine Erzieherin tun, um ihre Aufgabe zu erfüllen?
(Ebd., S. 37-38).
Können wir unseren Mesokosmos erweitern?
Wir wollen
die Antwort vorwegnehmen: Ja, wir können unseren Mesokosmos erweitern, und
zwar sowohl unseren kognitiven als auch unse. ren sozialen Mesokosmos. Die Grenzen
des Mesokosmos liegen nicht genau fest. Sie sind nicht nur von Person zu Person
verschieden, sondern können sich auch im Laufe eines Lebens verschieben.
Das kann völlig unbeabsichtigt geschehen oder aber auch ganz gezielt angestrebt
werden. (Ebd., S. 38).Wir erleben, wie Ärzte Aufnahmen
mit Röntgenapparat, ultraschallgerät oder Mikroskop deuten, auf denen
wir nur Chaos sehen. Wir beobachten LKW-Fahrer, die einen Lastzug mit Anhänger
rückwärts lenken und auf 10 Zentimeter genau wissen, wie weit die äußersten
Fahrzeugteile von einer Mauer entfernt sind. Wir bewundem Baggerfahrer, die mit
Hand- und Fußhebeln einen Ausleger mit Schaufel steuern, als ob es ihre
eigene Hand wäre. Wir können uns in Geräte, Hilfsmittel, Werkzeuge
»hineinversetzen«, als ob sie eigene Gliedmaßen wären.
Ich habe einen originellen Cartoon von Gerhard Glück, auf dem Arbeitselefanten
Mikado spielen! Darin steckt eine große Bewunderung für die Feinfühligkeit
dieser Urwaldriesen, der größten Landsäugetiere überhaupt.
Man könnte den Cartoon aber auch als Anspielung deuten, daß wir Menschen
für manche Aufgaben, die wir uns selbst stellen, eigentlich zu grob gebaut
sind und uns regeImäßig überfordern. (Ebd., S. 39).Leider
kann keiner von uns alles lernen. Auch vererben können wir diese Fähigkeiten
nicht. Die Aufgabe, seinen Mesokosmos zu erweitem, stellt sich also für jedes
Individuum immer wieder neu. Aber das war, evolutiv gesehen, »schon immer«
so. Jeder Mensch bringt Lernfähigkeit mit, die er für ganz unterschiedliche
Aufgaben einsetzen kann. Der Jäger wird sein Auge schärfen; die Musikerin
ihr Gehör. Tabaksortiererinnen lernen, viele Tabakfarben zuverlässig
zu unterscheiden, und die Inuit (Plural von »Inuk«, der Selbstbezeichnung
der Eskimos (wenn die sich selbst so bezeichnen, müssen
wir die aber nicht auch so bezeichnen - außerdem nennen die uns ja auch
nicht »Deutsche«! HB) können mehr Arten von Schnee
unterscheiden und benennen als Europäer. Ich erinnere mich gern an eine Alpenwanderung
mit einem Eingeborenen aus Neuguinea, einem Trobriander. Lange vor uns sah er
ein Reh oder eine Gams; sein Auge (oder besser: sein Gehirn) war geschulter im
Wahrnehmen von Bewegung als unseres. Sein Mesokosmos war in dieser Richtung merklich
weiter als unserer. Auch wenn wir eine Sportart einüben oder den Führerschein
machen, werden unsere Sinne und unsere Motorik geschult, und die Kontrolle unserer
Wahrnehmung und unserer Bewegungen werden zunehmend ins Unbewußte verlagert.
Was unwillkürlich, spontan, intuitiv, automatisch passiert, geschieht dann
viel schneller als unter bewußter Kontrolle; allerdings kann diese Intuition
nicht auch schon allen Grenzsituationen gewachsen sein. (Ebd., S. 39).Daß
wir unseren Mesokosmos erweitern können, liegt durchaus im Rahmen unserer
genetischen Ausstattung. Wir sind gerade deshalb lernfähig, weil es sich
im Laufe dei Evolution gelohnt hat, lernfähig zu sein. In diesem Sinne können
wir den Mesokosmos erweitem; er wird dann unser persönlicher Mesokosmos -
der allerdings nicht vererbt wird. Hierfür braucht die Evolution uns nicht
zu entlassen; auch mit einem erweiterten Mesokosmos bleiben wir ihre Kinder. Und
hier hat die Pädagogik eine dankbare und übersichtliche Aufgabe. Nun
kommen wir aber zu einer schwierigeren Frage. (Ebd., S. 39-40).
Können wir unseren Mesokosmos verlassen?
Manche
halten das für unmöglich. So meint Hoimar von Ditfurth in seiner einprägsamen
Sprache, es sei sicher, »daß die Gesamtheit dessen, was real existiert,
unser Vorstellungsvermögen unermeßlich übersteigt« (Hoimar
von Ditfurth, Wir sind nicht nur von dieser Welt, 1981, S. 224). Und zwar
nach Ditfurth nicht nur unser Vorstellungsvermögen, sondern auch unser Erkenntnisvermögen.
So wie der Mensch viel mehr von der Welt erkannt habe als die Ameise, so könne
auch die tatsächliche Welt noch um Größenordnungen reicher sein
als die Welt, wie wir sie zu kennen glauben. (Ebd., S. 40).Eines
ist daran richtig: Unser Wissen ist vorläufig und fehlbar; unser Wissen über
unser Nichtwissen erst recht. Wir können nicht wissen, was uns alles entgeht,
erst recht nicht, was uns auch noch in naher oder ferner Zukunft entgehen wird.
Diese Einsicht mag uns enttäuschen. Wir können sie aber auch positiv
wenden: Da wir die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens nicht kennen, dürfen
wir auch mit dem Gedanken spielen, daß es solche Grenzen gar nicht gibt.
(Ebd., S. 40).Immerhin können wir den Mesokosmos verlassen.
Das entscheidende Hilfsmittel dafür ist die menschliche Sprache. Wir können
sie ein Denkzeug nennen. Wie ein Werkzeug uns hilft, etwas zu bewirken, so hilft
uns ein Denkzeug beim Denken. In der Sprache können wir Sachverhalte formulieren,
die wir uns nicht vorstellen können. Auch können wir einen Satz, der
uns wahr erscheint, verneinen, also das Gegenteil formulieren, obwohl es uns falsch
erscheint. Und ganz gleich, ob wir einen Satz nun für wahr oder für
falsch halten -in beiden Fällen können wir Folgerungen ziehen und in
der Erfahrung überprüfen. Dabei kann es geschehen, daß sich die
Folgerungen aus dem vermeintlich wahren Satz als falsch, die Folgerungen aus dem
vermeintlich falschen Satz als wahr herausstellen. So können wir Sätze,
die uns wahr erschienen, fiber den Modus tollens als falsch erkennen. Auf diese
Weise gewinnen wir Erkenntnis über die Welt jenseits des Mesokosmos, obwohl
diese Bereiche unserer Vorstellung nicht zugänglich sind, obwohl sie für
uns unanschaulich sind, obwohl sie unseren mesokosmischen Erwartungen widersprechen.
(Ebd., S. 40-41).Die Sprache also ist die Leiter, auf der wir die
Grenzen des Mesokosmos übersteigen. Das kann und muß sich die Wissenschaft,
die Pädagogik, die Didaktik zunutze machen. Ob die Sprache ihrerseits wieder
Grenzen setzt, ist schwer auszumachen. »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten
die Grenzen meiner Welt«, meint Ludwig Wittgenstein (1889-1951) in seinem
Tractatus logico-philosophicus (vgl. ebd., 1921, § 5.6). Das klingt,
wenn er recht hat, nach einer starken Beschränkung. (Ebd., S. 41).Aber
ist nicht auch unsere Sprache veränderbar? Können wir nicht in der Sprache
mit der Sprache spielen, können wir nicht Erweiterungen erfinden und ausprobieren?
Offenbar ist die Grenze, von der Wirtgenstein spricht, keine absolute Grenze.
Er sagt eigentlich nur: »Die Grenze meinerjetzigen Sprache ist die Grenze
meinerjetzigen Welt.« und damit mag er recht haben. Über meine und
vor allem über unsere zukünftige Sprache sagt er nichts und kann er
auch nichts sagen. Aber offensichtlich unterschätzt er das kreative Potential
der Sprache. (Ebd., S. 41).Mathematiker wie Gauß
(er war der Erste! HB) ... und Riemann formulieren
nichteuklidische Geometrien; Physiker wie Einstein verwenden diese Geometrien
zur Beschreibung und Erklärung der Welt und sind damit erfolgreich; daraufhin
fühlen wir uns berechtigt, der Welt eine nichteuklidische Struktur zuzuschreiben.
Andere Mathematiker erweitem den herkömmlichen dreidimensionalen Raumbegriff
auf mehr als drei Dimensionen; Physiker versuchen, den physikalischen Raum mit
solch mehrdimensionaler Geometrie zu beschreiben, sind dabei jedoch - wenigstens
im makroskopischen Bereich - nicht erfolgreicher als mit drei Dimensionen, finden
sogar Gründe, warum Planetenbahnen nur in einem dreidimensionalen Raum stabil
sind; daraufhin sind wir erst recht überzeugt, daß unsere Welt räumlich
dreidimensional ist. Nichteuklidische und mehrdimensionale Räume können
wir uns beim besten Willen nicht vorstellen; aber wir können sie entwerfen,
versuchsweise zur Beschreibung der Welt ver:yvenden und zu dem Ergebnis kommen,
daß unsere Welt tatsächlich nichteuklidisch und dreidimensional ist.
Im ersteren Falle haben wir unsere mesokosmische Raumvorstellung deutlich überschritten.
Das verdanken wir der Mathematik, die ihrerseits auf der Sprache beruht; letztlich
verdanken wir es also dem kreativen Charakter und Gebrauch unserer Sprache.
(Ebd., S. 41-42).Ebenso unterschätzt Wittgenstein das kreative
Potential der Evolution. »Die Darwinsche Theorie hat mit der Philosophie
nicht mehr zu schaffen als irgendeine andere Hypothese der Naturwissenschaft.«
(Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1921, § 4.1122).
Auch hier irrt Wittgenstein. Die beiden Irrtümer hängen offenbar eng
zusammen: Er übersieht, daß die Zukunft der Evolution und die Zukunft
der Sprache offen sind. Daß wir nicht mehr denken können, als wir denken
können (§ 5.61), das ist immer wahr, und daß wir -noch allgemeiner
- nicht mehr können, als wir können, das bleibt ebenfalls wahr. Es ist
aber durchaus möglich, daß wir in Zukunft mehr sagen können als
jetzt, mehr denken können als jetzt, mehr können als jetzt. (Ebd.,
S. 42).Es gibt noch mehr Denkzeuge. Viele Kulturtechniken sind
Denkzeuge: das Schreiben, das Rechnen, die Mathematik, Algorithmen aller Art.
Aber auch Geräte: Rechenmaschinen, Computer (also programmierbare
Rechen- und Denkmaschinen), Computersprachen, Computerprogramme. Sie alle helfen
uns, den Mesokosmos zu verlassen. Dieser Schritt mag schwierig sein; er ist möglich
und in vielfacher Weise nützlich. Deshalb pflegen wir unsere Denkzeuge und
machen siei uns weiterhin zunutze. (Ebd., S. 42).Wenn wir
den Mesokosmos verlassen, dann können wir sagen, daß uns die Evolution
entläßt. Sie hat uns all die Fähigkeiten mitgegeben, die wir beim
Verlassen des Mesokosmos nützen: Wir können verallgemeinern, abstrahieren,
Begriffe bilden, sprechen, schließen, Erfahrungen machen, uns etwas merken,
von Erfahrungen in der Vergangenheit übergehen zu Erwartungen an die Zukunft.
Auf all diesen elementaren Fähigkeiten lagen evolutive Prämien. Sie
waren nützlich; deshalb wurden sie, einmal entstanden, auch beibehalten.
In diesem Sinne bleibeff wir natürlich immer »Kinder der Evolution«.
(Ebd., S. 42).Aber in ihrer Gesamtheit, also im Verbund,
dienen diese Fähigkeiten zu viel mehr, als in der Evolution zunächst
gebraucht wurde. Wenn wir uns die eingängige teleologische Redeweise noch
einmal erlauben, dann können wir auch sagen, diese Fähigkeiten dienten
zu mehr, als von der Evolution »vorgesehen« war. Wir sehen das sofort,
wenn wir uns vor Augen halten, daß alle oben genannten Kulturtechniken höchstens
einige Jahrtausende alt sind. In dieser Zeit kann sich unser genetisches Erbe
nicht wesentlich verändert haben. Die Erfindung der Schrift, die Entstehung
und Weiterentwicklung weiterer Kulturtechniken, letztlich die gesamte kulturelle
Evolution haben immer mehr Information angesammelt und gespeichert, immer mehr
Fähigkeiten miteinander verbunden, immer mehr Möglichkeiten eröffnet.
In diesem Sinne können wir tatsächlich sagen, die Evolution habe ihre
Kinder in die Kultur »entlassen« - was natürlich wieder eine
anthropomorphe Redeweise ist. (Ebd., S. 42-43).
Geht die Evolution des Menschen weiter ?
An Wittgenstein
haben wir kritisiert, daß er sowohl die Kreativität der Evolution als
auch die Kreativität der Sprache unterschätzt. Wir haben dort aber nur
festgestellt, daß sich unsere Sprache und unser Denken verändern könnten.
Wir haben jedoch nichts darüber gesagt, ob das tatsächlich so sein wird.
Dieser Frage wenden wir uns zuletzt zu. Dabei stehen wir vor einem Dilemma.
(Ebd., S. 43).Einerseits können wir mit vollem Recht
sagen: »Natürlich geht die Evolution weiter; sie geht immer weiter.
Wir wissen nur nicht, wohin sie uns bringt.« Wie viele andere hält
auch Hoimar von Ditfurth es für möglich, daß unsere Abkömmlinge
in einer femen Zukunft ein besseres Erkenntnisvermögen entwickeln. Habe die
Evolution beim Menschen zur Entwicklung der Großhirnrinde und damit zu einem
stark verbesserten Erkenntnisvermögen geführt, so dürften wir auch
»an die Möglichkeit denken, daß ein gleichartiger evolutionärer
Schritt sich in Zukunft wiederholen könnte. .... Der neuen und unvorstellbaren
Fähigkeit des Gehirns würde sich ... eine neue, uns ebenfalls unvorstellbare
Eigenschaft der Welt offenbaren. Und so fort bei beliebig häufigen Wiederholungen
eines solchen Schritts.« (Hoimar von Ditfurth, Der Geist fiel nicht vom
Himmel,1976, S. 312f.) Die Evolution geht dann also weiter, auch die Evolution
unseres Gehirns und der menschlichen kognitiven Fähigkeiten. (Ebd.,
S. 43).Andererseits schreitet die biologische Evolution
sehr langsam voran. So wichtig die evolutive Vergangenheit des Menschen für
Pädagogen auch sein mag, so unerheblich ist der künftige Verlauf der
Evolution; denn sie und wir wollen jetzt etwas erreichen und nicht erst im Verlauf
der nächsten 1000, 10 000 oder gar 100 000 Jahre! Aber selbst wenn wir Jahrhunderte
oder gar Jahrtausende ins Auge fassen könnten, so hätte das doch kaum
praktische Konsequenzen: Weder die natürliche noch die künstliche Evolution
wird die genetisch bedingte Lernfähigkeit merklich erhöhen. Dazu müßten
ja Leute mit höherer (genetisch bedingter!) Lernfähigkeit auch
mehr Kinder bekommen, und danach sieht es im Augenblick eben einfach nicht aus.
Ob allerdings durch genetische Manipulation Gene für höhere erbliche
Lernfähigkeit oder gar entsprechende Neurochips implantiert werden könnten,
wollen wir hier offenlassen. (Ebd., S. 43-44).Für die
Evolutionäre Pädagogik spielt unsere evolutiv entstandene tatsächliche
Lernfähigkeit die größte Rolle, nicht jedoch die denkbare
erweiterte Lernfähigkeit künftiger Generationen. Was wir erreichen können,
hängt davon ab, wie gut wir unsere genetisch bedingte Lernfähigkeit
nützen, nicht davon, wie groß unsere Lernfähigkeit in ferner Zukunft
einmal sein wird. Einer möglichen Veränderung unseres Erbguts braucht
die Pädagogik also nicht Rechnung zu tragen, einer Veränderung unserer
gesellschaftlichen und ökologischen Bedingungen dagegen schon. (Ebd.,
S. 44).
Systemische Evolutionstheorie und Gefallen-wollen-Kommunkation (Peter Mersch)
**
1) Einführung
Der Artikel
befaßt sich zunächst mit dem klassischen Darwinschen Evolutionsmodell
und zeigt dafür verschiedene Defizite auf. Im Anschluß daran werden
die Prämissen für ein alternatives, akteurbasiertes Evolutionsmodell
herausgearbeitet. Dazu zählen: | Die
Natur hat zwei grundlegend unterschiedliche Selektionsweisen zur Erlangung von
Ressourcen hervorgebracht: Dominanz und Gefallen-Wollen (Push
und Pull). | | Im
Rahmen der Evolution erfolgt eine Hierarchisierung »lebender« Systeme:
einzellige Organismen (Einzeller), vielzellige Organismen (Vielzeller) und Superorganismen. | | Lebende
Systeme zeichnen sich vor allen Dingen durch ihr Reproduktionsinteresse aus, das
heißt durch ihr Bestreben, ihre Kompetenzen in bezug auf ihre Umwelt fortwährend
zu erhalten. | Es wird eine auf der allgemeinen Systemtheorie
fußende Systemische Evolutionstheorie formuliert und begründet,
in deren Zentrum nicht mehr die natürliche Selektion, sondern der Evolutionsakteur
mit seinen Reproduktionsinteressen steht. (Ebd., S. 47).Auf
dieser Grundlage werden die folgenden Resultate erzielt beziehungsweise skizziert: | Erfüllt
eine biologische Population die Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie,
dann evolviert sie auch im Darwinschen Sinne. | | Die
natürliche und sexuelle Selektion lassen sich auf die gleichen Evolutionsprinzipien
zurückführen. | | Die
Systemische Evolutionstheorie kann neben der biologischen auch die technische,
wissenschaftliche und kulturelle Evolution beschreiben. | Abschließend
wird die Vermutung geäußert, daß sich auf der Erde alle Evolutionen
gemäß den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie ereignen. Eine
besondere Bedeutung kommt dabei der Gefallen-wollen-Kommunikation zu, auf deren
Basis fortwährend neue evolutive Lebensräume entstehen können.
(Ebd., S. 47-48).
2) Darwinsche Evolutionstheorie
Die von Charles Darwin
entwickelte biologische Evolutionstheorie - im folgenden Darwinsche Evolutionstheorie
genannt - erklärt die eigendynamische Entwicklung des Lebens auf der Erde
und die fortlaufende Anpassung von biologischen Populationen an ihren Lebensraum
aus einigen wenigen Evolutionsprinzipien heraus. In ihrem Zentrum steht - neben
den Prinzipien Variation und Vererbung - das Prinzip der natürlichen
Selektion (natürliche Auslese) und damit der Fortpflanzungserfolg:
Individuen, die aufgrund ihrer Erbanlagen besser an ihre Umgebung angepaßt
(fitter) sind, hinterlassen durchschnittlich mehr Nachkommen als weniger
gut angepaßte. Hierdurch sind ihre Erbanlagen in der Folgegeneration anteilsmäßig
stärker vertreten als in der Parentalgeneration. Das hat zur Folge, daß
Individuen mit in ihrer aktuellen Umwelt ungünstigeren Merkmalen in der Folgegeneration
weniger häufig vertreten sind. Das Prinzip ist auch unter den Namen Selektionsprinzip,
Survival of the Fittest beziehungsweise Überleben der Tauglichsten
bekannt. (Ebd., S. 48).Man könnte die Darwinschen Evolutionsprinzipien
als einen Optimierungsalgorithmus verstehen, der die fortlaufende Anpassung von
biologischen Populationen an sich gleichfalls verändernde Umgebungen sicherstellt,
ein von jeder Absichtlichkeit oder höheren Zweckmäßigkei freies
Verfahren. Erst die natürliche Selektion verleiht der Evolution so etwas
wie eine Richtung. (Ebd., S. 48).Für getrenntgeschlechtliche
Populationen kennt die Darwinsche Evolutionstheorie neben der natürlichen
Selektion einen zweiten Selektionsmechanismus, nämlich die sexuelle Selektion.
Sie erklärt das evolutive Entstehen von Sexualdimorphismen (zum Beispiel
die Schweife der Pfauenmännchen), bei denen zwar manche Ausprägungen
einer optimalen Anpassung an den Lebensraum eher im Wege stehen, dennoch einer
Erhöhung des Fortpflanzungserfolges führen. Die Darwinsche Evolutionstheorie
benötigt folglich zwei unterschiedliche Selektionsmechanismen zur vollständigen
Beschreibung des eigendynamischen Prozesses der biologischen Evolution.
(Ebd., S. 48-49).Bis heute existiert keine allgemein akzeptierte
Lehrbuchformulierung der Darwinschen Evolutionstheorie. Selbst der Begriff der
Fitneß wird von verschiedenen Autoren unterschiedlich interpretiert
und verwendet, und zwar einmal im Sinne der Anpassung an den Lebensraum,
ein anderes Mal als relativer Lebenszeit-Fortpflanzungserfolg. Bei einer
Gleichsetzung von Fitneß mit relativem Lebenszeit-Fortpflanzungserfolg würde
das Selektionsprinzip jedoch zu einer Tautologie degenerieren. Ein weiteres Problem
einer solchen Vorgehensweise ist: Der relative Fortpflanzungserfolg ist für
Populationen, die sich auf andere Weise als per Fortpflanzung reproduzieren, nicht
definiert und somit nicht verwendbar. (Ebd., S. 49).Eine
kompakte Formulierung des Darwinschen Evolutionsgedankens ist etwa die folgende:Pflanzen
und Tiere produzieren mehr Nachkommen, als die Umwelt ernähren kann. Folglich
werden sie zu Konkurrenten, von denen nur einige überleben können. Welche
überleben, hängt von den Eigenschaften der Individuen ab. Diejenigen,
die aufgrund ihrer Ausstattung besser mit ihrer Umwelt zurechtkommen (besser angepaßt
sind), werden überleben, die anderen zugrunde gehen. Dieser Prozeß
bewirkt, daß sich die Lebewesen an ihre Umwelt anpassen. Verändert
sich die Umwelt, werden sich dementsprechend auch die Arten verändern.
(Manuela Lenzen, Evolutionstheorie in den Natur- und Sozialwissenschaften,
2003, S. 49). | Die Darstellung läßt jedoch unberücksichtigt,
daß der individuelle Überlebenserfolg in sozialen Gemeinschaften maßgeblich
von der sozialen Organisation und nicht nur den Eigenschaften der Individuen abhängen
kann, wie bereits das in der Natur häufig anzutreffende Phänomen der
Eusozialität zeigt. Dies soll an einem Beispiel mit einer fiktiven Population
verdeutlicht werden, die sich rur eine arbeitsteilige Reproduktionsorganisation
entschieden hat:Die
fitteren (besser an den Lebensraum angepaßten) Individuen übernehmen
den überwiegenden Teil aller sozialen Aufgaben (Nahrungsbeschaffung, Feindabwehr
u.s.w.), während die weniger fitten im Gegenzug den größten Teil
der Nachwuchsarbeit leisten. »Fitneß« stellt also gegenüber
der Umwelt einen unmittelbaren Anpassungsvorteil dar, aufgrund der arbeitsteiligen
Organisation der fiktiven Population reduziert sie jedoch den Reproduktionserfolg. | Die
beschriebene fiktive Population erfüllt gemäß Ernst Mayr (vgl.
ders., Das ist Evolution, 2005, S. 148) alle Voraussetzungen (»Tatsachen«)
der Darwinschen Evolutionstheorie; dennoch evolviert sie nicht (es stellt sich
keine natürliche Selektion ein), und zwar aufgrund des mit der Fitneß
zurückgehenden Reproduktionsinteresses der Individuen. Die Darwinschen
Evolutionsprinzipien sind folglich - insbesondere wenn soziale Gemeinschaften
im Spiel sind - für Evolution nicht hinreichend. Damit soll nun aber keineswegs
behauptet werden, das Reproduktionsverhalten sozialer Gemeinschaften würde
grundsätzlich nicht der Darwinschen Evolutionstheorie genügen, sondern
lediglich, daß es entsprechende - der Theorie widersprechende - Gemeinschaften
geben kann, für die so etwas gilt. Ein reales Beispiel dafür sind moderne
menschliche Gesellschaften, in denen es zum Central Theoretical Problem of
Human Sociobiology (**)
kommt. (Ebd., S. 49-50).Der Begriff Reproduktionsinteresse
(Fortpflanzungsinteresse) ist ein in der Soziobiologie häufig verwendetes
Konzept (vgl. Eckart Voland, Grundriß der Soziobiologie, 1993), welches
in der noch darzustellenden Systemischen Evolutionstheorie eine zentrale Rolle
einnimmt. Der Ausdruck [nteresse sollte dabei jedoch keineswegs im Sinne bewußter
Absichten mißverstanden werden:Nur
durch die Fortpflanzung wird sichergestellt, daß Individuen auch in der
nächsten Generation genetisch repräsentiert sind. Ihre Fortpflanzungsinteressen
bestimmen daher das (soziale) Verhalten von Tieren und Menschen in ganz erheblichem
Maße. (Franz M. Wuketits, Was ist Soziobiologie?, 2002,
S. 35f.). | Der Ausdruck »Interesse« darf nicht
mißverstanden werden. Er wird in der Soziobiologie in einem sehr allgemeinen
Sinn verwendet. Niemand denkt dabei daran, daß ein Elefant oder gar eine
Auster bewußte Interessen entwickeln und ihre Fortpflanzungsstrategien bewußt
anwenden. Das gilt im übrigen auch für andere Ausdrücke, wie etwa
»Egoismus« oder »egoistisch«, die vielfach als Metaphern
verwendet werden. In der Natur folgt nichts, auch keine Verhaltensweise, einer
bestimmten Absicht. Wichtig ist nur, daß die Reproduktion gewährleistet
wird. Es ist aber nicht möglich, dafür Begriffe außerhalb unserer
Sprachkonvention zu finden. Der Begriff des Reproduktionsinteresses ist folglich
teleonomisch und nicht teleologisch zu verstehen. Vor dem Hintergrund
einer zunehmend auch für den Menschen bestrittenen Willensfreiheit werden
aber von einigen Autoren auch scheinbar »bewußte« menschliche
Willensentscheidungen als dynamische, umweltangepaßte Selbstregulierungen
lebender Systeme (Homöostase) aufgefaßt. (Ebd., S. 50-51).Die
Darwinsche Evolutionstheorie geht -anders als die Systemische Evolutionstheorie
-implizit von einem populationsweit einheitlichen Reproduktionsinteresse aus:
Alle Individuen sind fortwährend bestrebt, sich (direkt oder indirekt) möglichst
oft zu reproduzieren. (Ebd., S. 51).Die
Soziobiologie nimmt an, daß die individuellen Reproduktionsinteressen das
soziale Verhalten von Tieren und Menschen ganz wesentlich bestimmen, die Systemische
Evolutionstheorie darüber hinaus, daß die individuellen Reproduktionsinteressen
ganz erheblich durch die soziale Organisation beeinflußt werden (und nicht
zwingend genetischer Natur sind). (Ebd., S. 51).
Weitere Defizite der Darwinschen Evolutionstheorie
stellen die darin enthaltenen Grundprämissen der Überproduktion
von Nachkommen und des Kampfes ums Dasein dar. Getrenntgeschlechtliche
Populationen können jedoch selbst bei unterbestandserhaltender Reproduktion
evolvieren. (Vgl. Peter Mersch, Evolution,
Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 259ff. [**]).
Die Überproduktion von Nachkommen ist folglich keine notwendige Evolutionsbedingung.
Des weiteren erfolgt die Selektion bei der sexuellen Selektion nicht durch
Dominanz (Push, Kampf ums Dasein), sondern per Gefallen-wollen-Kommunikation
(Pull). Zwischen der natürlichen und sexuellen Selektion besteht
somit ein Unterschied in der Art und Weise, wie die Selektion knapper
Ressourcen zwischen den lndividuen verhandelt wird. Die Nichtberücksichtigung
dieser Tatsache hat in der Vergangenheit zu zahlreichen Mißverständnissen
(bis hin zum Sozialdarwinismus) bei der Interpretation und Anwendung der
Darwinschen Evolutionstheorie geführt. (Ebd., S. 51).
3) Systeme
Grundlage der Systemischen Evolutionstheorie ist
die allgemeine Systemtheorie. Allerdings werden nur sehr wenige ihrer Grundannahmen
verwendet, und zwar vor allem: | Systeme
setzen sich aus Elementen zusammen. | | Systeme
grenzen sich gegenüber ihrer Umwelt ab (System-Umwelt-Differenz). | | Systeme
können auf ihrer Makroebene spontan Eigenschaften ausbilden, die sich nicht
(offensichtlich) auf Eigenschaften ihrer Elemente zurückführen lassen
(Emergenz). | Unter einem System soll im folgenden eine
relativ stabile, geordnete Menge aus Elementen und Beziehungen verstanden werden,
die als Einheit begriffen wird, und die sich gegenüber ihrer Außenwelt
(Umwelt) abgrenzt (System-Umwelt-Differenz). Beispiele für Systeme sind:
Sonnensystem, Lebewesen (lebende Systeme), Unternehmen, technische Geräte.
(Ebd., S. 52).
4) Selbstreproduktive Systeme
Gemäß dem 2.
Hauptsatz der Thermodynamik kann in einem abgeschlossenen System die Entropie
nicht abnehmen, sondern bestenfalls zunehmen. Anders gesagt: Ein abgeschlossenes
System verliert bei Veränderungen kontinuierlich an Information (populärwissenschaftlich:
an Ordnung). Zur Verringerung seiner Entropie benötigt ein offenes System
deshalb eine Umwelt, die mit ihm zusammen ein abgeschlossenes System bildet.
In diesem Fall ist eine Verringerung der Entropie des Systems möglich, jedoch
auf Kosten einer Erhöhung der Entropie in der Umwelt (einer Belastung der
Umwelt). Umgekehrt gilt: Ein System mit niedriger Entropie kann sich stärker
selbst verändern, ohne seine Umwelt belasten zu müssen. (Ebd.,
S. 52).Lebende Systeme (Lebewesen) sind entropiearme Systeme
(mit hohem Informationsgehalt). Sie halten Energie konzentriert vor, wodurch sie
als Freßfeinde interessant werden. Damit der unwahrscheinliche entropiearme
Zustand aufrechterhalten werden kann, ist eine ständige Zufuhr von Energie
(allgemeiner: Ressourcen) beziehungsweise negativer Entropie (Negentropie;
vgl. Erwin R. J. A. Schrödinger, Was ist Leben?, 1989) bei gleichzeitiger
Abgabe (Export) von Entropie erforderlich. Dies geschieht über den Stoffwechsel
(Metabolismus). Lebende Systeme sind daher im thermodynamischen (**)
Sinn offene Systeme. (Vgl. Bernd-Olaf Küppers, Der Ursprung biologischer
Information, 1987, S. 197). (Ebd., S. 52-53).Populärwissenschaftlich
könnte man sagen: Lebende Systeme erhalten ihre innere Ordnung auf Kosten
einer zunehmenden Unordnung in ihrer Umgebung (Umwelt, Lebensraum) aufrecht. Je
mehr Energie ein lebendes System verbraucht (beziehungsweise aus seiner Umwelt
bezieht), desto mehr Unordnung schafft es in seiner Umgebung. (Vgl. Jacques Neirynck,
Der göttliche Ingenieur, 1994). (Ebd., S. 53).Um
aus ihrer Umwelt fortlaufend Ressourcen beziehen zu können, müssen lebende
Systeme an ihren Lebensraum ausreichend angepaßt (fit) sein, beziehungsweise
ausreichende Kompetenzen in bezug auf ihre Umwelt besitzen. Sie müssen
also nicht nur entropiearm (veränderungsfähig) sein, sondern zusätzlich
über Kompetenzen in bezug auf ihre Umwelt verfügen, mit deren Hilfe
sie ihre Entropie stets ausreichend niedrig halten können. Verliert ein lebendes
System seine Kompetenzen gegenüber seiner Umwelt (wozu auch alle Wettbewerber
zählen), so verliert es auch seine Fähigkeit, sich selbst (seine Informationen)
zu erhalten. Umgekehrt setzen Kompetenzen innere Strukturen voraus, auf denen
sie sich ausbilden können. Strukturverbesserungen können durchaus Kompetenzverbesserungen
zur Folge haben. In diesem Sinne wäre ein Individuum, welches die gleichen
Fähigkeiten in der Erlangung knapper Ressourcen wie ein anderes besitzt,
die Ressourcen jedoch intem sparsamer verwendet, als kompetenter zu bezeichnen.
(Ebd., S. 53).Kompetenzen (Fitneß, Anpassung) beziehen sich
immer auf den jeweiligen Lebensraum. Ist ein Individuum im aktuellen Lebensraum
nicht ausreichend lebens- und überlebensfähig, wird es möglicherweise
in andere Lebensräume vorzudringen versuchen. Unter Umständen kommt
es dabei zur Nischenbildung. (Ebd., S. 53).Anders als der
allgemeine Begriff der Information besitzt der Begriff der Kompetenz eine unmittelbar
wettbewerbsorientierte Bedeutung. Vorhandene Kompetenzen müssen nämlich
auch immer in Relation zu anderen Individuen gesehen werden. Hohe Kompetenzen
im Umgang mit dem Lebensraum können -ohne permanente Erneuerung und Verbesserung
-morgen schon entwertet beziehungsweise veraltet sein, denn die Konkurrenz schläft
nicht (Red-Queen-Hypothese). Es ist dieser gegenseitige Zwang zur permanenten
Erneuerung und zum Hochrüsten in der Gruppe, der letztlich maßgeblich
fur Evolution sorgt. Evolution bedarf also nicht unbedingt der ständigen
Veränderung der Umwelt aller Individuen; es reicht bereits, wenn sich die
individuelle Umwelt der Individuen, zu der auch alle anderen Mitglieder der Population
zählen, ändert. (Ebd., S. 53-54).In einem abstrakten
Sinne könnte man sagen: Ein lebendes System beinhaltet biologische Informationen,
deren Semantik seine Kompetenzen gegenüber der Umwelt sind. (Vgl. Bernd-Olaf
Küppers, Der Ursprung biologischer Information, 1990, S. 30). Die
Begriffe Informationen und Kompetenzen werden deshalb im folgenden überwiegend
synonym verwendet. (Ebd., S. 54).Ein lebendes System weiß
gewissermaßen etwas über seine Umwelt (es verfügt über Wissen,
Kompetenzen). Bei der Evolution handelt es sich dementsprechend um den Prozeß
des Entstehens biologischer Information. (Vgl. Manfred Eigen, Stufen zum Leben,
1987, S. 55; Bernd-Olaf Küppers, Der Ursprung biologischer Information,
1990). In bezug auf einen solchen Informationsgewinnungsprozeß haben
einige Autoren drei essenzielle (notwendige) Eigenschaften lebender Systeme hervorgehoben: | Selbstreproduktion:
Ohne Selbstreproduktion ginge die Information nach jeder Generation verloren. | | Mutagenese:
Ohne Mutagenese wäre die Information nicht abwandelbar und somit erst gar
nicht entstanden. | | Metabolismus:
Ohne Metabolismus könnte eine Information nicht über einen längeren
Zeitraum erhalten bleiben. | Allerdings wurde eingewendet,
daß es nicht möglich ist, die genannten Eigenschaften zu einer vollständigen,
alle notwendigen und hinreichenden Kriterien umfassenden Definition lebender Systeme
zu erweitem (Vgl. Berd-Olaf Küppers, Leben = Physik + Chemie?,
1987, S. 13; ders., Der Ursprung biologischer Information, 1990, S. 200).
(Ebd., S. 54).Biologen sind mehrheitlich der Auffassung, daß
lebende Systeme die beiden Grundaufgaben Selbsterhalt und Fortpflanzung verfolgen.
Dafür sind einerseits entsprechende Fähigkeiten (Kompetenzen, Fitneß)
erforderlich, andererseits aber auch Interessen (ein wie auch immer geartet Streben
danach, zum Beispiel mittels Homöostase), im Dienste der Aufgaben tätig
zu werden. (Ebd., S. 54-55).Gemäß
dem bisher Gesagten könnten die beiden Grundaufgaben des Lebens wie folgt
zusammengeführt werden: Selbsterhalt = Kompetenzerhalt während des aktuellen
Lebens; Fortpflanzung = Kompetenzerhalt über das eigene Leben hinaus.
(Ebd., S. 55).Anders gesagt: Lebende Systeme verfolgen die Grundaufgabe
des Kompetenzerhalts, und zwar während ihres Lebens (Selbsterhalt)
und über ihr Leben hinaus (Fortpflanzung). Sie sind Akteure, die aus
ihrer Umwelt Ressourcen (inklusive Informationen) aufnehmen und daraus Verhaltensweisen
ableiten, die dem Erhalt (und gegebenenfalls der Steigerung) der vorhandenen Kompetenzen
(Fitneß, Anpassung) gegenüber dem Lebensraum dienen sollen, das heißt,
die im Interesse am Erhalt der Kompetenzen wirksam werden. (Ebd.,
S. 55).Für den Begriff Kompetenzerhalt soll im folgenden
auch synonym der Begriff Reproduktion verwendet werden. Wir können
dermieren: Ein selbstreproduktives System ist ein gegenüber seiner
Umwelt energetisch offenes System, das1.) | in
bezug auf seine Umwelt Kompetenzen (Fitneß, Anpassung) zur Erlangung
von Ressourcen besitzt ( die für die Reproduktion benötigt werden), | 2.) | über
Verfahren zur Reproduktion seiner Kompetenzen (zum Beispiel: interner/externer
Metabolismus; interne/externe Fortpflanzungsfunktionalität) verfügt, | 3.) | ein
Reproduktionsinteresse besitzt. | Die Punkte 1 und
2 repräsentierenFähigkeiten, der Punkt 3 steht für das dazugehörige
Interesse, die Fähigkeiten in einem bestimmten Sinne zu nutzen.Beispiele:
| | | Peter
und Paul sind beide 25 Jahre alt. Peter hat vor einem Jahr seine Liebe zum Klavierspiel
entdeckt. Jede freie Minute setzt er sich ans Piano und übt. Paul erhielt
dagegen schon mit vier Jahren Klavierunterricht und beherrscht die Mondscheinsonate
wie im Schlaf. Allerdings hat ihm der frühe Drill das Instrument verleidet.
Nun spielt er nur noch, um Frauen zu beeindrucken. Peter hat folglich das deutlich
höhere Reproduktionsinteresse in bezug auf die vorhandenen Klavierspielkompetenzen
als Paul, der jedoch die größeren Klavi erspieIkompetenzen. | | Die
beiden Unternehmen »Big Headache« und »Stop Headache«
teilen sich den Markt der Kopfschmerzmittel. »Big Headache« hat einen
Marktanteil von 70 Prozent und erzielt einen jährlichen Gewinn von 5 Milliarden
Euro vor Steuern. In die Forschung & Entwicklung investiert es jährlich
200 Millionen Euro. »Stop Headache« hat dagegen einen Marktanteil
von lediglich 30 Prozent. Sein Gewinn vor Steuern beträgt 500 Millionen Euro.
In die Forschung & Entwicklung investiert es jährlich 1,2 Milliarden
Euro. »Stop Headache« besitzt folglich die deutlich höheren Reproduktionsinteressen
als »Big Headache«, dieses jedoch die aktuell größeren
Marktkompetenzen. | Selbstreproduktive Systeme werden
im Laufe der Arbeit auch synonym als Evolutionsakteure bezeichnet. Die
emergente Eigenschaft Reproduktionsinteresse spezifiziert selbstreproduktive
Systeme als Akteure, das heißt als Systeme, die ihre Evolution aktiv und
eigendynamisch selbst betreiben. Lebende Systeme sind selbstreproduktive Systeme.
(Ebd., S. 55-56).In der Natur sind bislang
(mindestens) drei Hierarchieebenen an selbstreproduktiven Systemen (Evolutionsakteuren)
entstanden: | Einzellige
Organismen (Einzeller- zum Beispiel Bakterien) | | Vielzellige
Organismen (Vielzeller -Pflanzen und Tiere) | | Superorganismen
(soziale Systeme, Gesellschaften, Organisationssysteme) | Neue
Systemhierarchieebenen entstehen in aller Regel durch Kooperation von Systemen
der darunterliegenden Hierarchieebenen. Ist die Kooperation eng genug, kann hieraus
ein neuer Systemtypus entstehen, der ebenfalls wieder selbstreproduktiv ist.
(Ebd., S. 56).
5) Systemhierarchien
Zu den Superorganismen zählen
insbesondere die Organisationssysteme, zum Beispiel moderne Unternehmen. Anders
als vielzellige Org anismen binden Organisationssysteme einen Großteil ihrer
Elemente Akteure wie Menschen und soziale Systeme (zum Beispiel weitere Organisationssysteme)
-nicht fest und unveränderlich an sich, sondern . aller Regel locker über
Kontrakte oder vergleichbare Mechanismen. (Ebd., S. 56).Wie
noch gezeigt wird, ist eine entscheidende Voraussetzung für das flexible
Entstehen von Organisationssystemen (das heißt von menschlichen Superorganismen)
die externe Informationsspeicherungsfähigkeit des Menschen, die in der Natur
ohneBeispiel ist. (Ebd., S.57).Gemäß Niklas Luhmann
bestehen soziale Systeme ausschließlich aus Kommunikation. (Vgl. Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984). Der vorliegende Artikel vertritt in der
Hinsicht jedoch eine davon abweichende und sich eher an Maturana und Varela anlehnende
Auffassung. (Vgl. Humberto Maturana / Francisco Varela, Der Baum der Erkenntnis,
1987). Demgemäß bestehen Organisationssysteme aus Akteuren (als ihren
Elementen). Akteure bringen sich in eine Organisation unter anderem durch Eigeninteressen,
Ressourcen und Kompetenzen, und nicht nur durch Kommunikationen ein. (Ebd.,
S. 57).Während vielzellige Organismen letztlich Aggregationen
von Zellen sind, setzen sich Superorganismen aus lebenden Systemen der gleichen
biologischen Art (und gegebenenfalls weiteren Sub-Superorganismen) zusammen. Lebewesen
reproduzieren ihre eigene Struktur durch Zellteilung und -erneuerung, Superorganismen
dagegen durch das Ersetzen ihrer Elemente. Superorganismen könnten deshalb
rein theoretisch - und anders als Lebewesen - nahezu unbegrenzt lange fortbestehen,
denn sie sind in der Lage, sich innerlich permanent selbst zu erneuern. Beispielsweise
können Unternehmen neue Mitarbeiter mit anderen Genomen und Kenntnissen,
das heißt, mit möglicherweise höheren Kompetenzen (verbesserten
Adaptionen), einstellen. Vielzellige Organismen können ihre Genome dagegen
nur mittels der Fortpflanzung variieren, denn ihre Zellen basieren alle auf dem
gleichen Genom. Vielzellige Organismen sind deshalb auf das gleichzeitige Ersetzen
aller Zellen angewiesen, und das geschieht bei der Fortpflanzung. Mit anderen
Worten: Vielzellige Organismen müssen - anders als Superorganismen - regelmäßig
sterben (und sich fortpflanzen), um genetisch evolvieren zu können. Die rigorose
Aufteilung des Kompetenzerhalts in Selbsterhalt (Kompetenzerhalt während
des aktuellen Lebens) und Fortpflanzung (Kompetenzerhalt über das eigene
Leben hinaus) bei vielzelligen Organismen ist gewissermaßen ein Sonderfall,
der aus der kurzen Lebensdauer der einzelnen Individuen resultiert. (Vgl. Gerhard
Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 1975, S. 63). Die begrenzte
Lebensdauer der Individuen stellt einen evolution ären Vorteil im Rahmen
der Organismenbildung dar. (Vgl. Manfred Eigen, Stufen zum Leben, 1987,
S. 112f.). (Ebd., S. 57).
Im Sinne der Definitionen von Maturana und Varela und gemäß
den obigen Festlegungen sind vielzellige Organismen autopoietisch, Superorganismen
dagegen nicht notwendigerweise. Auch in diesem Punkt besteht ein beträchtlicher
Auffassungsunterschied zu Luhmann. (Ebd., S. 58).
6) Methoden des Kompetenzerhalts
Damit biologische Informationen
(Kompetenzen gegenüber der Umwelt) entstehen und dauerhaft erhalten werden
können, müssen sie in igendeiner Form speicherbar sein. Mit anderen
Worten: Es müssen Möglichkeiten zum Kompetenzerhalt bestehen.
(Ebd., S. 58).Bei lebenden Systemen ist in diesem Zusammenhang
zunächst ein Zielkonflikt zwischen dem Kompetenzerhalt während des aktuellen
Lebens (Selbsterhalt) und dem über das eigene Leben hinaus (Fortpflanzung)
auszumachen. Jedes Lebewesen steht beständig vor der Frage, ob es eher in
Selbsterhalt oder Fortpflanzung investieren soll. Aus Sicht des Inlividuums ist
der Selbsterhalt vorrangig egoistisch, die Fortpflanzung jedoch altruistisch,
denn sie geschieht im Dienste anderer (den Nachkommen). Das Bestreben, dieses
offenkundige Dilemma aufzulösen, hat letztlich zur Theorie der egoistischen
Gene geführt. (Vgl. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976).
(Ebd., S. 58).Neben dem bereits genannten Zielkonflikt besteht
ein weiterer, nämlich zwischen den verschiedenen Ebenen des Kompetenzerhalts.
Jablonka und Lamb sprechen in diesem Zusammenhang von einer Evolution in vier
Dimensionen: »Genetic, Epigenetic, Behavioral, and Symbolic Variation in
the History of Life« (Eva Jablonka / Marion J. Lamb, Evolution in Four
Dimensions, 2006). Biologische Informationen sind solchen Vorstellungen gemäß
in einem Bootstrap-Verfahren entstanden: | Genetische
Vererbung | |
Dies ist die unterste
Ebene der biologischen Informationsgewinnung (das heißt, der
Bootstrap selbst). Die Speicherung der Kompetenzen geschieht in
der DNS (in den Genen), und deren Weitergabe erfolgt im Rahmen der
Fortpflanzung ausschließlich zwischen Eltern und Kindern.
Eine Vererbung erworbener Kompetenzen ist ausgeschlossen. Der Informationsgewinnungsprozeß
ist somit darwinistisch. |
| Epigenetische
Vererbung | |
Hierbei handelt es
sich um die nächsthöhere Ebene der biologischen Informationsgewinnung.
Die Speicherung der Kompetenzen geschieht vermutlich durch Methylierung
der DNS und deren Weitergabe erfolgt im Rahmen der Fortpflanzung
ausschließlich zwischen Eltern und Kindern. Dabei können
auch erworbene Kompetenzen vererbt werden. In diesem Sinne ist der
Informationsgewinnungsprozeß lamarckistisch. |
| Kompetenzspeicherung
in Gehirnen | |
Die Speicherung der
Kompetenzen erfolgt in den Gehirnen (statt wie zuvor ausschließlich
in den Genen). Eine Weitergabe der Kompetenzen ist zwischen beliebigen
Individuen einer Population möglich (und nicht nur zwischen
Eltern und Kindern) und zwar mittels Imitar tion, Lernen, Erziehung,
Sozialisation u.s.w.. Dabei werden ausschließlich erworbene
Kompetenzen vererbt. Der Informationsgewinnungsprozeß ist
folglich lamarckistisch. Man könnte gewissermaßen
sagen, daß die Natur mit dem Gehirn ein die DNS ergänzendes
Medium zur schnellen und flexiblen Speicherung komplexer erworbener
Kompetenzen erfunden hat. Das Verhältnis von Genom und Gehirn
dürfte dabei in etwa vergleichbar mit dem Verhältnis von
Hardware und Software im Computerbereich sein.
Die
wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Erforschung der Weitergabe solcherkomplexen
erworbenen Kompetenzen (das heißt, mit der Theorie und Praxis von Bildung
und Erziehung) beschäftigt, ist die Pädagogik beziehungsweise die Erziehungswissenschaft.
Ihr kommt die Aufgabe zu, als Reflexionswissenschaft Bildungs- und Erziehungszusammenhänge
zu erforschen, und als Handlungswissenschaft Vorschläge zu machen, wie Bildungs-
und Erziehungspraxis gestaltet und verbessert werden kann. | | Externe
Kompetenzspeicherung | | Die
Speicherung der Kompetenzen geschieht in symbolischer Form (Schrift, Datenbanken,
Youtube-Video u.s.w.) und außerhalb der Körper von Lebewesen, was eine
raum- und zeitübergreifende Weitergabe der Kompetenzenermöglicht (zum
Beispiel an Menschen, die in 10000 km Entfernung leben oder erst in 100 Jahren
geboren werden). Auch hier erfolgt die Kompetenzvennittlung mittels Imitation,
Lernen, Erziehung, Sozialisation u.s.w. Es werden ausschließlich erworbene
Kompetenzen vererbt. In diesem Sinne ist der Infonnationsgewinnungsprozeß
lamarckistisch.Der Mensch ist das bislang
einzige Lebewesen, dem eine teilweise externe Kompetenzspeicherung gelungen ist.
Insoweit ist er in der Natur einzigartig. Die externe Kompetenzspeicherungsfähigkeit
des Menschen war die Grundvoraussetzung für das flexible Entstehen von Organisationssystemen,
denn hierdurch können diese ihre Elemente (zum Beispiel Mitarbeiter) jederzeit
austauschen, ohne ihre Kompetenzen in Gänze zu verlieren, da diese teilweise
in Datenbanken, Arbeitsanweisungen, Dokumenten u.s.w. extern vorgehalten werden.
Superorganismen sind letztlich selbstreproduktive Systeme mit eigenständigen
Informationsgewinnungsprozessen.Allerdings besitzen
solchermaßen gespeicherte Kompetenzen kein Eigenleben, wie es im Grunde
den Memen im Rahmen der Memetik zugesprochen wird. (Vgl. Richard Dawkins,
Das egoistische Gen, 1976). Ihre begriffliche Existenz besteht in der Möglichkeit,
in den Gehirnen lebender Wesen gedacht zu werden. Der Pädagogik kommt die
Aufgabe zu, die für die Umwandlung von extern gespeicherten Kompetenzen in
gedachte Objekte erforderlichen Transformationsprozesse zu gestalten und zu verbessern. | Die
verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen beschäftigen sich meist nur mit einigen
wenigen der oben aufgeführten Kompetenzerhaltungsebenen. Üblicherweise
beschränkt sich die Biologie auf die genetische und epigenetische Vererbung,
das heißt, auf die niedrigeren Ebenen, wäh. rend sich die Humanwissenschaften
auf die beiden höheren Ebenen konzentrieren. Ausnahmen stellen etwa die Soziobiologie,
die Verhaltensgenetik oder die Evolutionäre Pädagogik dar. (Ebd.,
S. 58-60).Leider hat das zu einem gegenseitigen Ausschluß
von Erkenntnissen und zum Teil auch zu widersprüchlichen Ergebnissen geführt.
Beispielsweise erklärt die Biologie die gesamte Evolution vorwiegend aus
den Genen heraus (Vgl. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976). Gemäß
solchen Auffassungen hat sich das Leben auf der Erde per natürlicher Selektion
entwickelt. In modernen menschlichen Gesellschaften besteht jedoch in aller Regel
eine negative Korrelation zwischen sozialem Erfolg und Kinderzahl, das heißt,
eine zur natürlichen Auslese umgekehrte Relation, die in der Soziobiologie
den Namen Central Theoretical Problem of Human Sociobiology (**)
trägt. In den Humanwissenschaften vertritt man dagegen mehrheitlich die Auffassung,
daß die Gene für den sozialen Erfolg von Menschen praktisch keine Rolle
mehr spielen. In diesem Sinne wird dann behauptet, jeder Mensch sei mit geeigneten
Bildungsmaßnahmen beliebig lern- und bildungsfähig, eine Aussage, die
allerdings im Widerspruch zu zahlreichen Untersuchungen zur Erblichkeit der Intelligenz
steht. (Vgl. Peter Borkenau, Anlage und Umwelt, 1993; Rainer Riemann /
Frank M. Spinath, Genetik und Persönlichkeit, a.a.O. 2005, S. 616 ff.; David
Shaffer / Katherine Kipp, Developmental Psychology, 2007, S. 105ff.; Volkmar
Weiss, Die IQ-Falle, 2000; Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns,
2003, S. 110ff.). Für die meisten Sozialwissenschaftler stellt das Central
Theoretical Problem of Human Sociobiology deshalb kein ernsthaftes Problem
dar, da gemäß ihrer Auffassung menschliche Evolutionsprozesse fast
ausschließlich auf den beiden höchsten Kompetenzerhaltungsebenen stattfinden.
Dieser Sichtweise scheinen sich in der Zwischenzeit auch viele Soziobiologen angeschlossen
zu haben, denn dort ist man mehrheitlich der Auffassung (vgl. Eckart Voland, Die
Natur des Menschen, 2007, S. 41 ), daß alle Mitglieder einer Population
eine »genetische Äquipotenz« aufweisen, und der soziale und damit
letztlich reproduktive Wettbewerb ohne evolutionsgenetische Folgen ist. Der Anthropologe
C. van Schaik resümiert ganz in diesem Sinne, daß wir Menschen die
genetische Evolution mehr oder weniger aufgehoben haben. (Vgl. C. van Schaik,
Kultur ist der Motor der Evolution, 2005, a.a.O., S. 35). Darüber
hinaus erwartet er beim Menschen keine großen biologischen Veränderungen
mehr. So gesehen hätte sich das biologische Evolutionsgeschehen mit dem Menschen
selbst ausmanövriert, ein Gedanke, der von Eckart Voland jedoch als nicht
wirklich befriedigend bezeichnet wird. (Vgl. Eckart Voland, Die Natur des Menschen,
2007, S. 12). (Ebd., S. 60-61).Eine noch offene wissenschaftliche
Frage ist, ob und inwieweit Evolutionen auf den höheren Kompetenzerhaltungsebenen
unabhängig von und gegebenenfalls sogar konträr zu den Entwicklungen
auf den niedrigeren Ebenen möglich sind. (Ebd., S. 61).
7) Komuinkationsarten
Kommunikation
wird im folgenden als eine Interaktion zwischen Systemen aufgefaßt, die
primär der Verhandlung von Interessen (zum Beispiel bei der Erlangung von
Ressourcen) dient. Oie beiden in diesem Abschnitt erläuterten Kommunikationsarten
unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht, sehr wohl aber in der Methode, das
angestrebte Ziel zu erreichen. Damit soll nun aber keineswegs behauptet werden,
daß dies die beiden einzigen Interaktionsmuster zwischen Individuen sind,
sehr wohl aber, daß es sich hierbei um die wichtigsten Kommunikationsarten
handelt, mit denen die Verteilung knapper Ressourcen unter konkurrierenden Individuen
verhandelt werden kann und die Ressourcengewinner »selektiert«
werden können. Und darauf kommt es bei Evolution an. Auch die Selektion
im Darwinschen Sinne basiert letztlich auf dem häufigen : Erfolg beim Wettbewerb
um die knappen Ressourcen des Lebensraums. (Ebd., S. 61-62).Unter
Selektion wird im Rahmen der Arbeit - und in Abweichung zu j den üblichen
Auffassungen der Evolutionsbiologie - die Auswahl von Kommunikationspartnern verstanden.
Auch eine Ressource, die es zu erlangen gilt, kann in einem abstrakten
Sinn als Kommunikationspartner aufgefaßt werden, der selektierbar ist. Oft
ist es jedoch so, daß der Kommunikationspartner nicht selbst die Ressource
ist, sondern lediglich eine Ressource besitzt, an der ein Interesse besteht. Oer
Kommunikationspartner wäre dann ein Ressourceninhaber. (Ebd.,
S. 62).Bevor ein System mit einem zweiten auf direkte Weise interagieren
kann, muß es dieses als Kommunikationspartner selektieren. Oas ausgewählte
System kann dabei ein positives, negatives oder auch neutrales Selektionsinteresse
besitzen. (Ebd., S. 62).Charles Darwin lehnte sich bei seiner
Formulierung des Prinzips der natürlichen Selektion vorstellungsmäßig
an die künstliche Zuchtwahl an: So wie Züchter einzelne Tiere nach bestimmten
Kriterien selektieren, so würde dies auch die Natur im Laufe der Evolution
tun. Der Begriff der Selektion wird im vorliegenden Artikel dagegen wieder so
verwendet, wie er auch dem üblichen Sprachgebrauch entspricht. Selektion
ist dementsprechend ein von Akteuren ausgelöster aktiver Vorgang, bei dem
aus verschiedenen Optionen eine oder mehrere ausgewählt werden. Der Selektion
ist somit immer ein selektierendes Subjekt inne. Ein Selektionsinteresse steht
dagegen für etwas Passives, nämlich dem Wunsch, als eine von verschiedenen
Alternativen gewählt (selektiert) zu werden oder auch nicht. (Ebd.,
S. 62).Ganz entsprechend werden die beiden in diesem Abschnitt
diskutierten Verfahren zur Verteilung knapper Ressourcen unter konkurrierenden
Individuen nicht Selektionen, sondern Kornmunikationen genannt. Auch wenn sie
im Darwinschen Sinne letztlich beide eine »Selektion« von Ressourcengewinnern
unter den im Wettbewerb um die Ressourcen stehenden Individuen bewirken, so wird
eine solche passive Verwendung des Begriffs der Selektion im Zusarnmenhang mit
der Systemischen Evolutionstheorie in aller Regel vermieden. (Ebd., S. 63).
7.1) Dominante Kommunikation (Push)
Im folgenden soll eine
Kommunikation, die keine Rücksicht auf die Selektionsinteressen der Kommunikationspartner
nimmt, als dominant (Push-Kommunikation) bezeichnet werden. Beispiele für
dominante Interaktionen sind die Nahrungswahl in der Natur (Fressen-oder-Gefressen-Werden)
und die Haremsbildung im Tierreich (Recht des Stärkeren). Beispiel aus der
Pädagogik:Eine
Lehrerin (= knappe Ressource) stellt ihrer Klasse die Frage »Wer ist der
Vater der Evolutionstheorie?« Ein Schüler ruft spontan
in die Klasse: »Darwin!« Dies ist Dominanz. | Die
dominante Kommunikation bewirkt beim Wettbewerb um knappe Ressourcen eine
»Selektion« des Ressourcengewinners mittels des Rechts des
Stärkeren. (Ebd., S. 63).
7.2) Gefallen-wollen-Kommunikation (Pull)
Mit der Einführung
der sexuellen Selektion gelang der Natur eine ganz entscheidende Neuerung: Sie
erfand den Markt und damit die sogenannte Gefallen-wollen-Kommunikation
(Pull-Kommunikation). Denn aufgrund der bei der sexuellen Fortpflanzung üblicherweise
sehr unterschiedlichen potenziellen Fruchtbarkeit von männlich versus
weiblich (vgl. Eckart Voland, Die Natur des Menschen, 2007, S. 49) und
der damit verbundenen unterschiedlichen Aufteilung der Elterninvestments zwischen
den Geschlechtern, kam es auf seiten der Männchen zu einer künstlichen
Ressourcenverknappung bei den Fortpflanzungspartnern. Die Männchen gerieten
hierdurch unter einen erheblichen zusätzlichen Selektionsdruck, und zwar
selbst dann, wenn sich der Lebensraum regelrecht als Schlaraffenland erwies.
(Ebd., S. 63).In der Folge konkurrierten die Männchen um die
Ressource Fortpflanzungspartner, während die Weibchen die Wahl hatten.
Bei vielen Arten etablierte sich daraufhin ein Paarungsverhalten, was vorrangig
darin besteht, daß die Männchen den Weibchen zu imponieren versuchen,
und letztere dann bevorzugt jene Exemplare wählen, die ganz besonders ihren
Gefallen finden. Mit anderen Worten, es kristallisierte sich ziemlich genau das
auf modernen Marktplätzen vorherrschende Verhältnis zwischen Verkäufern
und Käufern heraus. Bei anderen Arten erfolgte die Selektion im männlichen
Geschlecht allerdings nicht durch sexuelle Selektion, sondern durch dominante
Haremsbildung. Die dominante Entsprechung zur sexuellen Selektion ist deshalb
nicht die natürliche Selektion - wie man vermuten könnte -, sondern
die Haremsbildung. (Ebd., S. 64).Insgesamt kann der Ablauf
einer Gefallen-wollen-Kommunikation wie folgt beschrieben werden:1. | Der
Empfänger (Käufer, Weibchen, Ressourceninhaber) signalisiert seine Bereitschaft
zur Entgegennahme von Selektionsinteressen. | 2. | Verschiedene
Sender (Verkäufer, Männchen, Ressourceninteressenten) übermitteln
ihre Selektionsinteressen an den Empfänger. | 3. | Der
Empfänger (Käufer, Weibchen, Ressourceninhaber) selektiert einen Sender
(Verkäufer, Männchen, Ressourcengewinner). | Im
ersten Schritt betritt der Empfänger zunächst einen bestimmten Kontext,
der in der Folge eine sinnhafte Gefallen-wollen-Kommunikation ermöglicht.Beispiel
aus der Pädagogik:1. | Eine
Lehrerin (= knappe Ressource) stellt ihrer Klasse die Frage »Wer ist der
Vater der Evolutionstheorie?« und signalisiert damit ihre Bereitschaft zur
Entgegennahme von Selektionsinteressen. | 2. | Einige
Schüler heben ihre Hände und bekunden hierdurch ihr Selektionsinteresse
(sie wollen der Lehrerin gefallen). | 3. | Die
Lehrerin wählt einen Schüler aus. | Die Gefallen-wollen-Kommunikation
bewirkt beim Wettbewerb um knappe Ressourcen eine »Selektion« des
Ressourcengewinners mittels des Rechts des Besitzenden. (Ebd.,
S. 64).Die Gefallen-wollen-Kommunikation hat neben der Selektion
von Kommunikationspartnern beziehungsweise -auf indirekte Weise -der Ressourcengewinner
noch eine weitere wesentliche Funktion: Sie kann evolutive Lebensräume erzeugen,
das heißt, Populationen und ihre dazugehörigen Umwelten entstehen lassen,
in denen ganz ohne Dominanz (Kampf ums Dasein) selektiert wird. In ihnen
gilt das Recht des Besitzenden und nicht des Stärkeren. Einmal auf den Weg
gebracht, entwickelt sich in ihnen alles gemäß den Prinzipien der noch
darzustellenden Systemischen Evolutionstheorie. Daß auf diese Weise tatsächlich
neue evolutive Lebensräume geschaffen werden, zeigt sich unmittelbar bei
einer Betrachtung der System-Umwelt-Differenzen: Bei der natürlichen Selektion
ist die Umwelt die Natur, bei der sexuellen Selektion dagegen die Population.
Wir haben es also bei der natürlichen und sexuellen Selektion mit völlig
unterschiedlichen Evolutionen in verschiedenen Lebensräumen zu tun, die sich
zwar anhand von Fitneßindikatoren synchronisieren mögen, jedoch ansonsten
nichts miteinander zu tun haben. (Ebd., S. 65).Während
es bei der natürlichen Selektion vorrangig um die optimale Anpassung an ein
Milieu und den möglichst effizienten dominanten Zugriff auf die Ressourcen
(»fressen und gefressen werden«) beziehungsweise das Überleben
der Tauglichsten innerhalb einer wilden Natur geht, so steht bei der sexuellen
Selektion und ihrer Gefallen-wollen-Kommunikation die Adaption an den Geschmack
und die Bedürfnisse einer Schar von Abnehmern (Selektierern) im Vordergrund.
Und deren Bedürfnisse sind alles andere als statisch: Mit viel Geschick können
sie geweckt oder vielleicht sogar ganz neu erzeugt werden. (Ebd., S. 65).Die
Evolution hat folglich nicht nur Arten, sondern auch (die Arten übergreifende)
Kommunikationsweisen, Selektionsmechanismen und Verhaltensmuster (zum Beispiel
Kooperation und Altruismus) hervorgebracht. Das dei sexuellen Selektion innewohnende
Interaktionsmuster der Gefallen-wollen-Kommunikation war die Voraussetzung für
viele spätere evolutionäre Entwicklungen. Auf der Gefallen-wollen-Kommunikation
beruhen unter anderem die modernen Märkte, die Wissenschaften, und die Demokratie.
Es läßt sich argumentieren, daß der Prozeß der Zivilisation
im Sinne von Norbert Elias im Grunde nichts anderes als die sukzessive Umstellung
(fast) aller dominanten Kommunikationen in die Gefallen-wollen-Kommunikation ist.
(Vgl. Peter Mersch, Evolution,
Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 353ff. [**]).
Eine Gesellschaft kann dementsprechend als umso zivilisierter bezeichnet werden,
je höher der Anteil der Gefallenwollen-Kommunikation bei der Verteilung knapper
Ressourcen unter konkurrierenden Individuen ist. (Ebd., S. 65-66).Im
Rahmen der sexuellen Selektion mußten die Männchen erstmalig ihre Triebe
beherrschen können, und zwar so lange, bis sie ein Weibchen von sich überzeugt
hatten. Mit der sexuellen Selektion und damit der Gefallen-wollen-Kommunikation
kam die Zivilisation in die Welt. Nun waren die Rechte eines Kommunikationspartners
(Selektionsinteresse, Ressourcenbesitz, Leben u.s.w. ) zu respektieren und den
eigenen quasi gleichzustellen. Davor gab es nur das egoistische Fressen-und-Gefressen-werden
beziehungsweise das Recht des Stärkeren. (Ebd., S. 66).Dies
soll an einem Beispiel verdeutlicht werden:Eine
Frau hat in einem Wäldchen mehrere Stunden lang Früchte gesammelt und
befindet sich nun mit einem ganzen Korb reifer Beeren auf dem Weg nach Hause.
In der Wildnis könnte sie dabei einem stärkeren Bären (oder Menschen)
begegnen, der die gesammelte Nahrung nicht als ihr Eigentum akzeptiert, sondern
von seinem Recht des Stärkeren Gebrauch macht (Dominanz). In Zivilisationen
ist ein solches Verhalten nicht erlaubt. Allerdings könnte hier ein Entgegenkommender
der Sammlerin ein attraktives Angebot machen (zum Beispiel 10 Euro), um aufdiese
Weise doch noch in den Besitz der Früchte zu gelangen (Gefallen-wollen; Recht
des Besitzenden). | Sozialdarwinismus steht für
die Übertragung von Charles Darwins Lehre der natürlichen Auslese (Selektionstheorie)
auf die Entwicklung menschlicher Gesellschaften (vgl. Brockhaus, 2002, S. 13/153).
Eine solche Übertragung ist auf Zivilisationen jedoch nicht möglich
(doch! HB), da in ihnen praktisch alle Selektionen
mittels der Gefallen-wollen-Kommunikation und nicht der dominanten natürlichen
Auslese erfolgen. (Nein! Das
das so nicht stimmt, ist auch leicht zu belegen! HB). Die unmittelbare
Anwendung von Dominanz und Gewalt gilt in Zivilisationen sogar generell als unzivilisiert
und unzulässig. (Das gilt nur gemäß Papier!
Die Wirklichkeit sieht genau umgekehrt aus! HB). Es existiert dort
kein Recht des Stärkeren. (Doch!
HB). Aus dem gleichen Grund kann man die dominante natürliche
Selektion auch nicht auf Pfauenpopulationen übertragen, um damit deren Erscheinungsbild
und Sozialverhalten zu erklären. Dies erkannte bereits Charles Darwin, was
ihm - gemäß seinen eigenen Worten Kopfzerbrechen bereitete. Infolgedessen
fand er die sexuelle Selektion beziehungsweise die Gefallen-wollen-Kommunikation
als Erklärung der von ihm beobachteten Phänomene im Tierreich.
(Ebd., S. 66).
8) Objektorientierung
Wie bereits erwähnt wurde, handelt
es sich bei den Evolutionsprinzipien letztlich um einen Optimierungsalgorithmus,
der für fortlaufende Anpassungen von Populationen an ihren Lebensraum sorgt.
(Ebd., S. 67).In der Softwareindustrie hat in den letzten Jahrzehnten
ein Wandel hin zur sogenannten objektorientierten Programmierung stattgefunden.
Stand zuvor die Programmlogik im Vordergrund, so sind es nun die Objekte, die
über ihre Eigenschaften und die auf ihnen anwendbaren Methoden (Operationen)
definiert werden. Wird beispielsweise bei einem Objekt Girokonto festgelegt, daß
es nur zweistellige Zahen beinhalten kann, und auf seine Inhalte nur die Operationen
Addition und Subtraktion angewendet werden können, dann kann das Programm
darauf nicht unmittelbar multiplizieren oder ihm den Wert (die Farbe) »Grün«
zuweisen. So etwas wäre ein Programmfehler, der bereits bei der Entwicklung
(Übersetzung) auffallen würde. Ein weiterer Vorteil dabei ist: Es ist
jederzeit klar, wovon das Programm handelt, denn ein Girokonto ist etwas anderes
als ein Auto. (Ebd., S. 67).Evolutionstheorien beschäftigen
sich mit eigendynamischen, selbstorganisatorischen Entwicklungen, die keinen externen
Schöpfer benötigen. Charles Darwin lieferte mit der biologischen Evolutionstheorie
ein erstes überzeugendes Modell, welches die Entwicklung des Lebens auf der
Erde ohne den Eingriff einer externen höheren Intelligenz erklären konnte.
Im Zentrum stand das Prinzip der natürlichen Auslese: Besser an ihre Umwelt
angepaßte Individuen einer Population hinterlassen mehr Nachkommen als andere.
(Ebd., S. 67).Doch was sind in diesem Zusammenhang Individuen ?
Für Charles Darwin wäre eine solche Fräge töricht gewesen,
denn er beschäftigte sich ausschließlich mit dem Leben. Für ihn
standen die Objekte des Wandels von vornherein fest: Es waren lebende Systeme.
(Ebd., S. 67-68).Dabei ist es jedoch nicht geblieben. Längst
wird im Rahmen von Evolutionstheorien über Gene, Meme, Entscheidungen, Theorien,
Hypothesen, technische Geräte, Gesellschaften, Kunstwerke, Melodien, Kulturen,
Augen u.s.w. gesprochen, und alle sollen angeblich evolvieren können.
(Ebd., S. 68).Entfernt man aus der Darwinschen Evolutionstheorie
die Grundannahme, daß die darin vorkommenden Individuen Lebewesen sind,
wird sie unmittelbar inhaltsleer. Für Mobiltelefone treffen ihre Prinzipien
jedenfalls nicht zu. Man wird deshalb nicht umhin kommen, zunächst einmal
die Objekteigenschaften evolvierender Individuen zu beschreiben. Glücklicherweise
gibt die Darwinsche Evolutionstheorie dazu eine ganze Reihe an Hilfestellungen: | Individuen
sind mehr oder weniger gut an ihre Umwelt angepaßt. Es existiert folglich
eine System-Umwelt-Differenz. Anders gesagt: Individuen sind Systeme. | | Individuen
sind regelmäßig auf die Zufuhr von Energie und anderen lebensnotwendigen
Ressourcen angewiesen, damit sie am Leben bleiben können. Individuen sind
also offene Systeme. Verfügt ihre Umwelt über weniger Ressourcen, als
die gesamte Population zum Leben benötigt, kommt es unter den Individuen
zum Kampf ums Dasein. Mit anderen Worten: Individuen »wollen« sich
selbst erhalten: Sie sind bestrebt, ihre Kompetenzen während ihrer Lebenszeit
zu erhalten. | | Individuen
produzieren mehr Nachkommen, als die Umwelt ernähren kann. Anders gesagt:
Individuen »wollen« sich fortpflanzen: Sie sind bestrebt, ihre
Kompetenzen über ihr Leben hinaus zu erhalten. | Dieses
Bestreben, die vorhandenen Kompetenzen fortwährend zu erhalten, kann in der
Stärke von Individuum zu Individuum und natürlich auch im Laufe des
Lebens eines Individuums variieren. In der noch darzustellenden Systemischen
Evolutionstheorie wird deshalb den Individuen (den Objekten) die Eigenschaft
Reproduktionsinteresse zugewiesen. Hierbei handelt es sich um eine Variable,
die unterschiedliche Werte annehmen kann, ähnlich wie etwa der Kontostand
eines Bankkontos. Menschen sind beispielsweise unterschiedlich ehrgeizig (Selbsterhalt)
oder wollen mehr oder weniger viele Kinder haben (Fortpflanzung). (Ebd.,
S. 68-69).Damit soll nun aber nicht behauptet werden, daß
die genannten Eigenschaften vollstän~ig quantifizierbar sind. Das ist die
Intelligenz eines Menschen auch nicht, obwohl IQ-Messungen manchmal etwas anderes
suggerieren. In beiden Fällen wird man quantitative Indikatoren finden oder
entwickeln können, mehr jedoch nicht. Beim Menschen läßt sich
beispielsweise das Reproduktionsinteresse in einer ersten Annäherung recht
gut über den aktuellen Kinderwunsch erfragen. (Ebd., S. 69).Im
Rahmen der Fortpflanzung kommt es zu einer Duplizierung von Individuen. Die auf
Individuen anwendbare Operation (Methode) ist deshalb die Reproduktion. Allerdings
sind je nach Evolutionsumgebung ganz unterschiedliche Reproduktionsprozesse denkbar.
Ich werde im Laufe der weiteren Ausführungen Reproduktionsprozesse vorstellen,
die nur auf den Erhalt der inneren Strukturen und Kompetenzen abzielen, und die
die in der Natur üblichen Duplikationen nicht kennen. (Ebd., S. 68).Auf
die gerade beschriebene Weise habe ich die in der Darwinschen Evolutionstheorie
versteckte Logik in die eigentlichen Evolutionsobjekte transferiert. Die ursprüngliche
Ablauflogik wurde hierdurch in eine objektorientierte Beschreibung umgewandelt.
(Ebd., S. 69).Die Kernaussage ist dann: Eigendynamisch evolvieren
können nur Populationen, deren Individuen allesamt offene Systeme sind, die
(1.) Kompetenzen gegenüber ihrer Umwelt zur Erlangung von Ressourcen besitzen,
(2.) auf einen Reproduktionsvorgang Zugriff haben, (3.) eigenständige
Reproduktionsinteressen besitzen, mit anderen Worten, deren Individuen
allesamt selbstreproduktive Systeme sind. Solche Populationen werden im Laufe
der Arbeit gelegentlich auch als evolutionsfähig bezeichnet. Da Gene, Meme,
Entscheidungen, Hypothesen, technische Geräte, Kunstwerke, Äpfel u.s.w.
die genannten Eigenschaften nicht besitzen, scheiden sie als Gegenstand der Evolution
von vornherein aus, ganz im Gegensatz zu den Lebewesen oder den Superorganismen
(Organisationssysteme, Unternehmen). Eine Diskussion über die Evolution wissenschaftlicher
Hypothesen erübrigt sich folglich von selbst. Bei der versuchten Zuweisung
einer wissenschaftlichen Hypothese zum Evolutionsobjekt Individuum
handelt es sich dann nämlich - softwaretechnisch gesprochen - um einen Programmierfehler.
(Ebd., S. 69-70).
9) Die Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie
Und
damit komme ich zur Formulierung der Systemischen Evolutionstheorie. (Ebd.,
S. 70).Die Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie
sind: | Eine
Population besteht aus lauter selbstreproduktiven Systemen (Individuen), die sich
allesamt voneinander unterscheiden, und die unterschiedliche Kompetenzen in bezug
auf ihre Umwelt besitzen. Das Prinzip heißt Variation. | | Die
Individuen der Population besitzen (eventuell unterschiedlich starke) Reproduktionsinteressen.
Die Reproduktionsinteressen korrelieren nicht negativ mit den Kompetenzen der
Individuen in bezug auf ihre Umwelt. Aufgrund ihrer Reproduktionsinteressen konkurrieren
die Individuen um den Zugriff auf die zumindest teilweise knappen Ressourcen der
Umwelt. Die Verteilung der Ressourcen erfolgt dabei dominant (Push) und/oder per
Gefallen-wollen-Kommunikation (Pull). Das Prinzip heißt Reproduktionsinteresse. | | Es
existieren variationserhaltende Reproduktionsprozesse, die die Kompetenzen der
Individuen in bezug auf ihre Umwelt aufbauen, modifizieren oder replizieren können,
wobei das Ergebnis von Modifikation oder Replikation gegenüber dem Ausgangszustand
zwar verändert ist, in der Regel aber auch erkennbare Ähnlichkeiten
aufweist. Für die Reproduktion werden Ressourcen aus der Umwelt benötigt.
Das Prinzip heißt Reproduktion. (Ebd., S. 70). |
Anmerkungen:
| Bei
der Darwinschen Evolutionstheorie steht der Reproduktionserfolg im Vordergrund,
bei der Systemischen Evolutionstheorie dagegen das Reproduktionsinteresse.
Reproduktionsinteresse ist eine Systemeigenschaft, deren Status gegebenenfalls
abgefragt werden kann, was für den Reproduktionserfolg nicht gilt. Man kann
zum Beispiel jüngere erwachsene Personen befragen, wie viele Kinder sie sich
in ihrem Leben wünschen, nicht jedoch, wie viele Kinder sie in ihrem Leben
haben werden. | | Die
moderne Synthetische Evolutionstheorie nimmt an, daß Individuen, die aufgrund
ihres Genotyps besonders gut an ihre Umwelt angepaßt sind (eine hohe Fitneß
besitzen; über hohe Kompetenzen in bezug auf den Lebensraum verfügen),
ihre Gene in größerem Maße an die Folgegeneration vererben, als
Individuen, die im Vergleich dazu schlechter angepaßt sind. Ihre Gene erfahren
demzufolge im Laufe der Zeit eine Steigerung ihrer anteilsmäßigen Vertretung
im Genpool der Population.Das
Problem an dieser Auffassung ist, daß in sozialen Gemeinschaften das individuelle
Reproduktionsinteresse - trotz seiner außerordentlichen Bedeutung für
den individuellen Reproduktionserfolg - keineswegs auf genetischen Faktoren beruhen
muß, sondern maßgeblich durch die sozialen Verhältnisse oder
die soziale Organisation bestimmt sein kann. Es muß dann nicht einmal auf
nichtgenetische Weise (Imitation, Erziehung, Bildung, Sozialisation u.s.w.) »vererbt«
werden, wie moderne menschliche Gesellschaften demonstrieren. Gemäß
der ökonomischen Theorie der Fertilität der modernen Demografie (vgl.
Peter Mersch, Evolution,
Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 302ff. [**])
fallen Fertilitätsentscheidungen heute primär auf Basis von Kosten/Nutzen-Abwägungen
der potenziellen Eltern. Das individuelle Reproduktionsinteresse (der Kinderwunsch)
richtet sich dabei sehr stark an den Opportunitätskosten von Kindern aus.Das
Reproduktionsinteresse kann also nicht einfach der Fitneß zugerechnet werden.
Fitneß und Kompetenzen besagen etwas über das dem Individuum in Hinblick
auf den Lebensraum zur Verfügung stehende Wissen, das Reproduktionsinteresse
dagegen nicht unbedingt. | | In
modernen menschlichen Wohlfahrtsstaaten hängt der Reproduktionserfolg fast
ausschließlich vom individuellen Reproduktionsinteresse (Kinderwunsch) und
kaum mehr von der Fitneß beziehungsweise der genetischen Ausstattung des
Individuums ab. Richard Dawkins drückt dies wie folgt aus:»Nun
ist, was den modernen, zivilisierten Menschen betrifft, folgendes geschehen: Die
Größe der Familie ist nicht mehr durch die begrenzten Mittel beschränkt,
die die einzelnen Eltern aufbringen können. Wenn ein Mann und seine Frau
mehr Kinder haben, als sie ernähren können, so greift einfach der Staat
ein, das heißt der Rest der Bevölkerung, und hält die überzähligen
Kinder am Leben und bei Gesundheit. Es gibt in der Tat nichts, was ein Ehepaar,
welches keinerlei materielle Mittel besitzt, daran hindern könnte, so viele
Kinder zu haben und aufzuziehen, wie die Frau physisch verkraften kann. (Richard
Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, S. 309f.). | In
der die natürliche Selektion repräsentierenden Price-Gleichung könnte
man deshalb für moderne Wohlfahrtsstaaten den Reproduktionserfolg durch das
Reproduktionsinteresse ersetzen. Aus der Price-Gleichung läßt sich
dann folgern, daß solche sozialstaatlichen Populationen (bei wenig veränderten
Umweltbedingungen) ihre Lebensraumkompetenzen konservieren oder gar steigern können
(evolvieren können), wenn Cov(r,f) >= O ist (r = Reproduktionsinteresse,
f = Fitneß, Cov = Kovarianz), das heißt, wenn eine nicht negative
Korrelation zwischen Fitneß und Reproduktionsinteresse besteht. Dies ist
exakt eine der zentralen Bedingungen der Systemischen Evolutionstheorie, die sich
somit auch über die Price-Gleichung begründen läßt. | | Die
Evolutionsbiologie definiert Altruismus als ein Verhalten, welches den Reproduktionserfolg
anderer auf Kosten des eigenen Reproduktionserfolges erhöht. In der Terminologie
der Systemischen Evolutionstheorie übersetzt sich das in: Altruismus ist
ein Verhalten, welches das Reproduktionsinteresse anderer auf Kosten des eigenen
Reproduktionsinteresses erhöht. Ein Absenken des eigenen Reproduktionsinteresses
unterhalb Größen, die der individuellen Fitneß entsprechen, setzt
dann in arbeitsteiliger Weise Kräfte und Ressourcen frei, die anderen zur
Erhöhung derer Reproduktionsinteressen und damit gegebenenfalls auch derer
Reproduktionserfolge zur Verfügung gestellt werden können. | | Bei
der Variable Reproduktionsinteresse der Systemischen Evolutionstheorie geht es
deshalb letztlich auch darum, auf welche Weise soziale Gemeinschaften in bezug
auf die Fortpflanzung arbeitsteilig ( eusozial) organisiert werden können,
ohne ihre Evolutionsflihigkeit zu verlieren. Anders gesagt: Welches Verhältnis
muß zwischen Altruisten (sie sind weniger stark an der eigenen Fortpflanzung
interessiert) und Egoisten (sie sind stärker an der eigenen Fortpflanzung
interessiert) bestehen, damit die Population noch immer evolvieren kann?Die
aus der Price-Gleichung beziehungsweise dem Kriterium Reproduktionsinteresse der
Systemischen Evolutionstheorie ableitbare Antwort lautet: Cov(r,t) >= 0. Evolutionär
stabile soziale Gemeinschaften sollten folglich so organisiert sein, daß
in ihnen der Fortpflanzungsaltruismus nicht systematisch mit der Fitneß
zunimmt. Dies ist eine Bedingung, die in den meisten modernen menschlichen Gesellschaften
aufgrund diverser organisatorischer Entscheidungen (vgl.
Peter Mersch, Evolution,
Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 297ff. [**])
nicht erfüllt ist (vgl. D. Klein, Zum Kinderwunsch von Kinderlsoen in
Ost- und Westdeutschland, 2006, S. 76). Hierdurch läßt sich das
Central Theoretical Problem of Human Sociobiology (**)
erklären. Das Gleiche gilt für die eusoziale Organisation der Insektensozialstaaten,
die sich sehr leicht ökonomisch und damit soziologisch begründen läßt,
ohne dabei auf die biologische Hamilton-Regel Bezug nehmen zu müssen. Wären
nämlich alle Arbeiterinnen darum bemüht, einen möglichst hohen
eigenen Reproduktionserfolg zu erzielen (Egoismus, hohes Reproduktionsinteresse),
würde der Sozialstaat schon bald in eine Opportumtätskostenfalle laufen und
daran zugrunde gehen.Mit der Systemischen Evolutionstheorie
klärt sich also gewissennaßen die aus darwinistischer Sicht völlig
unterschiedliche Situation in der Natur bzw. in Sozialstaaten auf: In der Natur
hängt der individuelle Reproduktionserfolg - gemäß Darwinismus
- primär von den genetischen Merkmalen eines Individuums (Variable Fitneß)
ab, in einem Sozialstaat dagegen von dessen (nichtgenetischen) sozialen Rolle
und der sozialen Organisation des Staates (Variable Reproduktionsinteresse).Ein
Sozialstaat könnte folglich die eigene Weiterentwicklung durch geeignete
organisatorische Maßnahmen unmittelbar selbst beeinflussen. Demzufolge könnte
man sagen: Bei der natürlichen Selektion ist die Natur der «Züchter«,
bei der sexuellen Selektion sind es die Weibchen und in Sozialstaaten der
Sozialstaat selbst (soziale Selekttion).Zusammenfassend
läßt sich sagen: Anders als die individualistische Darwinsche Evolutionstheorie
besitzt die Systemische Evolutionstheorie ein integriertes soziobiologisches Konzept. | | Der
Begriff Reproduktionsprozeß ist bewußt sehr weit gefaßt und
bedarf möglicherweise einer zusätzlichen Erläuterung und Spezifizlerung.Bei
der Fortpflanzung vielzelliger Organismen handelt es sich um eine Möglichkeit,
die vorhandenen (genetischen/epigenetischen) Kompetenzen in vergleichbarer Qualität
zu erneuern, so daß die Ressourcen des Lebensraumes durch die Nachkommen
wieder ähnlich gut verwertet werden können. Die Effizienz der Population
bleibt dann erhalten. Beim Menschen erfolgt die Reproduktion der Kompetenzenjedoch
nicht nur mittels der Fortpflanzung, sondern auch ganz entscheidend durch die
sich daran anschließenden langjährigen Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen.
Die Kompetenzen des Nachwuchses besitzen dann sowohl genetische als auch kulturelle
Anteile, die in unterschiedlichen Reproduktionsprozessen vermittelt werden, und
die einmal das Genom und das andere Mal das Gehirn adressieren.Unternehmen
reproduzieren ihre Kompetenzen durch Forschung & Entwicklung, Personalentwicklung,
Investitionen u.s.w.. Eine der Fortpflanzung von vielzelligen Organismen entsprechende
Replikation kennen sie dagegen üblicherweise nicht. | | Aus
Sicht eines Individuums ist die Erbringung der aufwendigen und kräftezehrenden
Nachwuchsarbeit alles andere als selbstverständlich; schließlich stirbt
es irgendwann, und dann hat es von seinen Kindern nichts mehr. Damit sich die
Individuen dennoch auf diese für sie kostenintensive Aufgabe einlassen, muß
ihr Reproduktionsinteresse ein biologisches Fundament besitzen.Offenbar
drückt sich dieses bei vielen Arten zu erheblichen Anteilen in der sexuellen
Lust aus, denn seitdem es moderne Verhütungsmittel gibt, lassen sich für
den Menschen Paarungs- und Fortpflanzungsinteressen präzise voneinander trennen:
Das Reproduktionsinteresse wird dann zu einer ökonomisch abschätzbaren
Größe, die sich der Konkurrenz anderer Interessen des Individuums stellen
muß. (Vgl. Peter Mersch, Evolution,
Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 297ff. [**]).
Der Zusammenhang macht deutlich, daß in biologischen Populationen keineswegs
einheitliche Reproduktionsinteressen bestehen müssen. Evolutionsbiologen
gehen aber meist implizit von einer solchen Annahme aus. (Vgl. Ulrich Kutschera,
Evolutionsbiologie, 2008, S. 254f.) | | Die
Darwinsche Evolutionstheorie macht eine Unterscheidung zwischen natürlicher
und sexueller Selektion. Für beide Evolutionsmechanismen geht sie sogar von
unterschiedlichen Prämissen aus. Die Systemische Evolutionstheorie
kennt demgegenüber keine uneinheitlichen Evolutionsmechanismen, höchstens
unterschiedliche Evolutionsräume mit eigenständigen Kommunikationsmechanismen
(Dominanz versus Gefallen-Wollen). Die Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie
sind - anders als bei der Darwinschen Evolutionstheorie - für alle
Evolutionen gleich: Variation, Reproduktionsinteresse und Reproduktion.
(Ebd., S. 70-75). |
10) Gültigkeit der Darwinschen Evolutionsprinzipien
Für
biologische Populationen lassen sich die Prinzipien der Darwinschen Evolutionstheorie
aus den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie ableiten. Mit anderen Worten:
Sind in einer biologischen Population die Grundprinzipien der Systemischen Evolutionstheorie
erfüllt, dann evolviert sie auch im Darwinschen Sinne.Variation |
| | Lebewesen
sind selbstreproduktive Systeme. Für biologische Populatio nen sind die Formulierungen
des Variationsprinzips der Systemischen und Darwinschen Evolutionstheorie folglich
deckungsgleich. | Vererbung | | | Der
Reproduktionsprozeß biologischer Populationen ist die Fortpflanzung, zu
der beim Menschen noch der aufwendige Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozeß
hinzukommt. Die Fortpflanzung ist in der Lage, die Kompetenzen der Eltern in bezug
auf den Lebensraum (Adaptionen) in den Nachkommen zu erneuern. Die aus den Eltern
er zeugten Replikate (Nachkommen) sind zwar einerseits gegenüber i.~en Originalen
verändert, weisen in der Regel aber auch erhebliche Ahnlichkeiten auf. Ein
Teil der Unterschiede betrifft den Genotyp, ein anderer ausschließlich den
Phänotyp.Für biologische Populationen
sind folglich die Prinzipien Reproduktion der Systemischen Evolutionstheorie und
Vererbung der Darwinschen Evolutionstheorie deckungsgleich. | Selektion | | | Damit
sich ein Lebewesen fortpflanzen kann, muß es ein reproduktionsfahiges Alter
erreichen und in der Lage kin, eine ausreichende Menge an Ressourcen zum Erhalt
des eigenen Lebens und seiner Nachkommen zu erlangen. Es muß also ausreichende
Kompetenzen in bezug auf den Lebensraum besitzen.Bei
sexueller Fortpflanzung benötigt es zusätzlich noch einen Fortpflanzungspartner.
Für die Gewinnung von Sexualpartnern haben sich in den verschiedenen Spezies
zum Teil ganz unterschiedliche Strategien durchgesetzt. Dominiert in einer Spezies
beim Paarungsverhalten die sexuelle Selektion (Gefallen-wollen-Kommunikation),
muß ein Männchen wenigstens ein Weibchen zu einer Paarung mit ihm überzeugen
können. Anders gesagt: Es muß ausreichende Kompetenzen zur Erlangung
von Weibchen besitzen.Lebewesen können sowohl
in bezug auf die Ressourcen des Lebensraums als auch die Erlangung von Fortpflanzungspartnern
unterschiedliche Kompetenzen aufweisen: Beispielsweise könnte ein Individuum
länger leben, mehr Nahrung erlangen und mit natürlichen Feindenbesser
fertig werden als ein anderes und somit höhere Kompetenzen in bezug auf den
Lebensraum besitzen. Ein weiteres könnte den weiblichen Partnerwahlpräferenzen
deutlich mehr genügen als das in bezug auf den Lebensraum besonders kompetente
Individuum. In Hinblick auf die Darwinsche Evolutionstheorie könnte man dann
sagen: Im ersten Fall genügt das erstgenannte Individuum besonders gut den
Bedingungen der natürlichen Selektion und im zweiten Fall der sexuellen
Selektion.Bei vielen biologischen Arten selektieren
die Weibchen geeignete Fortpflanzungspartner anhand sogenannter Fitneßindikatoren,
die ihnen Aufschluß über die Kompetenzen der Männchen in bezug
auf den Lebensraum geben. Die beiden Darwinschen Selektionen synchronisieren sich
dann von ihrer Zielrichtung her, weswegen ich mich in den weiteren Ausführungen
einfachheitshalber auf die Kompetenzen in bezug auf den Lebensraum beschränken
kann (natürliche Selektion).Dann
läßt sich aber folgern: Korreliert das Reproduktionsinteresse in einer
Population nicht negativ mit den Kompetenzen der Individuen in bezug auf den Lebensraum,
werden Individuen, die mehr Kompetenzen besitzen (besser an ihre Umgebung angepaßt
sind), im Mittel einen größeren Reproduktionserfolg haben als andere.
Mit anderen Worten: Die natürliche Selektion setzt sich von ganz alleine
durch. (Ebd., S. 75-77). |
Wir
können somit insgesamt folgern: | Evolviert
eine biologische Population gemäß der Systemischen Evolutionstheorie,
dann evolviert sie auch gemäß Darwin. Die systemische Evolutionstheorie
kann die biologische Evolution erklären. | Das
Prinzip der natürlichen Selektion war sicherlich die entscheidende Idee zur
Erklärung der auf einem Vererbungsmechanismus beruhenden biologischen Evolution
als fortschrittsblinden Prozeß. Die Erkenntnis war für die Evolutionsbiologie
und das Selbstverständnis des Menschen von solch fundamentaler Bedeutung,
daß Zweifel an der ausschließlichen Fortschrittsblindheit evolutiver
Prozesse heute meist umgehend als Lamarckismus und damit als Verrat an der Darwinschen
Lehre diskreditiert werden. Dabei mehren sich längst die Hinweise, daß
sowohl die nichtbiologischen Evolutionen als auch ein Teil der biologischen Evolution
lamarckistische Züge tragen. (Vgl. Eva Jablonka / Marion J. Lamb, Evolution
in Four Dimensions, 2006; Peter Mersch, Evolution,
Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 203ff.). Darüber hinaus
kennen die meisten nichtbiologischen Evolutionen keine natürliche Selektion.
Beispielsweise stehen bei der technischen Evolution - wie noch gezeigt wird -
ganz andere Reproduktionsprozesse als die der Fortpflanzung im Vordergrund. All
dies läßt vermuten, daß es sich bei der natürlichen Auslese
keineswegs um ein grundlegendes Evolutionsprinzip handelt, sondern um einen spezifischen
Mechanismus der biologischen Evolution zur Konservierung biologischer Informationen
(mittels der Ausbreitung gut angepaßter Gene innerhalb der Population).
(Ebd., S. 77-78).Gemäß der Systemischen Evolutionstheorie
ist die Triebfeder der Evolution nicht die natürliche Selektion
(vgl. Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, 2008, S.
66), sondern es sind die (gegebenenfalls unterschiedlich starken) Reproduktionsinteressen
(Eigeninteressen) der Individuen, die sie zu Akteuren im selbstorganisatorischen
Prozeß der Evolution machen. Wenn es schon keinen externen Schöpfer
gibt, dann muß die Evolution durch etwas anderes vorangetrieben werden.
Die Systemische Evolutionstheorie behauptet: Die selbstreproduktiven Systeme treiben
mit ihren Reproduktionsinteressen die Evolution eigendynamisch an. Sie folgt damit
Vorstellungen, die auch im Rahmen der Komplexitätstheorie (zum Beispiel im
Zusammenhang mit komplexen adaptiven Systemen) vertreten werden. (Ebd.,
S. 78).Eine Konsequenz daraus ist: Will man eine evolutionäre
Entwicklung (zum Beispiel die technische Evolution) verstehen und beschreiben,
sollte man sich zunächst auf'die Suche nach den die Evolution antreibenden
selbstreproduktiven Systeme machen. Evolutionsreplikatoren sind demgegenüber
von nachrangiger Bedeutung. (Ebd., S. 78).
11) Nichtbiologische Evolutionen
Es
hat zahlreiche Versuche gegeben, die Darwinsche Lehre auf nichtbiologische Evolutionen
(Technik, Wissenschaft, Kultur, Soziales) anzuwenden, die aber bislang allesamt
entweder gescheitert oder auf erhebliche Einwände gestoßen sind. Die
Anwendung der Darwinschen Evolutionstheorie auf gesellschaftliche Phänomene
mündete gar in den Sozialdarwinismus. (Ebd., S. 78).Die
Systemische Evolutionstheorie ist in der Lage, sowohl die biologische, technische,
wissenschaftliche, kulturelle als auch soziale Evolution einheitlich aus den gleichen
Prinzipien heraus zu beschreiben (Peter Mersch, Evolution,
Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 163ff. [**]).
Dies soll beispielhaft an der Evolution der Technik veranschaulicht werden. Im
Anschluß daran erfolgt eine Abgrenzung zur Memetik. (Ebd., S. 78).
11.1) Technische Evolution
Um die technische Evolution beschreiben
und erklären zu können, sollte man sich zunächst auf die Suche
nach den sie vorantreibenden selbstreproduktiven Systemen machen. Dies sind jedoch
nicht die technischen Geräte selbst, sondern die sie entwickelnden Unternehmen.
Mit anderen Worten: Nicht die Technik evolviert, sondern die sie konstruierenden
Unternehmen, bei denen es sich um Organisationssysteme und damit um selbstreproduktive
Systeme handelt. Die technischen Geräte sind im Grunde nur deren Kompetenzen.
(Ebd., S. 78-79).Es ergibt sich das folgende Bild: | Umwelt | | Umwelt
Unternehmen bieten ihre Waren und Dienstleistungen auf Märkten an, wo sie
auf Konkurrenten, aber auch auf potenzielle Käufer treffen.Der
Markt stellt den Lebensraum (die Umwelt) der Marktanbieter (Individuen) dar. Mit
ihren Kompetenzen (insbesondere Produkte und Dienstleistungen) sind sie mehr oder
weniger gut an dessen Anforderungen angepaßt.Als
Beispiel wird im folgenden der Markt der Mobiltelefone gewählt, wobei aus
Einfachheitsgründen Zwischenhandel, Finanzdienstleister, Anteilseigner u.s.w.
ausgeblendet werden. Im Lebensraum Markt treffen also die Hersteller (Nokia, Motorola,
Samsung, Sony Ericsson, ...) als Marktanbieter direkt auf die Kunden (Käufer,
Endverbraucher). Mit anderen Worten: Ein Kunde ersteht sein neues Nokia-Handy
direkt bei Nokia. | | Population | | Evolutionstheoretisch
gesprochen könnte man sagen: Die Population besteht aus einer Menge sich
unterscheidender Individuen, nämlich den verschiedenen Marktanbietern (Herstellern).
Dominiert ein einzelner Wettbewerber den Markt (Monopol), wird das Kriterium der
Variation verletzt. Eine Evolution der Marktanbieter (Individuen) ist dann kaum
mehr möglich.In
unserem Beispiel gehören zur Population die Marktanbieter Nokia, Motorola,
Samsung, Sony Ericsson u.s.w.. Die Kunden sind Teil der Umwelt. | | Ressourcen | | Unternehmen
(Marktanbieter) sind selbstreproduktive Systeme: Sie sind bestrebt, ihre Kompetenzen
(und damit sich selbst) permanent zu erhalten. Irgendwelche sachlichen Ziele sind
demgegenüber sekundär. Die Erfüllung des unternehmerischen Reproduktionsinteresses
dient indirekt den Eigeninteressen seiner Akteure.Zur
Finanzierung des Kompetenzerhalts werden fortwährend Ressourcen benötigt,
und zwar Geld. Die Ressourcen, um die die verschiedenen Individuen (Marktanbieter)
der Population (Nokia, Motorola, Samsung, Sony Ericsson, ...) in ihrem Lebensraum
(Mobiltelelefonmarkt) konkurrieren, ist das Geld der Kunden. | | Wettbewerbskommunikation | | Auf
den Märkten herrscht eine Gefallen-wollen-Kommunikation vor: Die Anbieter
preisen ihre Produkte an, und die Abnehmer treffen ihre Wahl, ganz so, wie in
der Natur die Partnerwahl im Rahmen der sexuellen Selektion vonstattengeht (dem
Modell aller späteren Märkte). Viele Kunden wählen Produkte gemäß
echten Fitneßindikatoren. Dazu vergleichen sie zum Beispiel die Spezifikationen
verschiedener infrage kommender Geräte oder lassen sich von Testberichten
leiten. Oft spielt aber bereits die Marke bei der Kaufentscheidung eine ausschlaggebende
Rolle, denn schließlich erwirbt der Kunde einen Teil der Kompetenzen eines
konkreten Unternehmens. In vielen Fällen wird die Marke aufgrund eines positiven
Images auf der Konsumentenseite gewählt.
Damit die potenziellen Käufer von den Produkten und ihren vermeintlich phänomenalen
Eigenschaften auch erfahren, versuchen die Hersteller und sonstigen Marktanbieter
mittels Werbung (Gefallenwollen-Kommunikation) auf sich aufmerksam zu machen,
ganz so, ) wie dies in der Natur bei der Partnerwerbung (zum Beispiel Brunftgeschrei,
Vogelgesang) auch geschieht. | | Variation | | Leistungsfähige
Marktwirtschaften implementieren üblicherweise Verfahren zur Erleichterung
des Markteintritts neuer Anbieter. Dazu gehören Regelwerke und leistungsfahige
FinanzierungsmÖglichkeiten, zum Beispiel über die Börse. Da immer
wieder einzelne Unternehmen aus Wettbewerbsgründen aus dem Marktgeschehen
ausscheiden, sollte der Reproduktionsprozeß auch über variationserneuemde
Komponenten verfügen. Ferner wird in Marktwirtschaften üblicherweise
verhindert, daß einzelne Anbieter marktbeherrschende .Stellungen erlangen
können (Verbot von Monopolen, Oligopolen, Preisabsprachen u.s.w.). | | Kompetenzen | | Auf
den Märkten (Umwelt) versuchen die Unternehmen Ressourcen (Geld) zu erlangen,
indem sie ihre Kompetenzen zur Geltung bringen, das heißt ihre Produkte
und Dienstleistungen anbieten. Die Kompetenzen der Individuen (Marktanbieter)
in bezug auf den Lebensraum (Markt) sind also in erster Linie ihre Produkte und
Dienstleistungen. Zu den Kompetenzen können auch das Marktverständnis,
die Marktdurchdringung und gegebenenfalls der Markenname gezählt werden.
Wer etwa ein Nokia-Handy erwirbt, entscheidet sich für einen Teil der Kompetenzen des Herstellers. Kein einzelner Mensch könnte ein solch komplexes und innovatives
Gerät entwickeln, ein Unternehmen kann das aber sehr wohl. | | Reproduktionsinteresse | | Die
verschiedenen anbietenden Marktteilnehmer werden normalerweise versuchen, einen
möglichst hohen Marktanteil zu erzielen, das heißt, möglichst
oft von den Kunden gewählt zu werden.Mit
jedem Verkauf erzielt der Anbieter Einnahmen, das heißt, er gewinnt Ressourcen
(Geld). Wer mehr Produkte oder Dienstleistungen gewinnbringend verkauft, erlangt
folglich mehr Ressourcen (Geld). Wenn die Einnahmen pro Verkauf größer
sind als die dafür getätigten Ausgaben, macht das Unternehmen bei jeder
Transaktion Gewinn. Die Gewinne können aufsummiert und für verschiedene
andere Aufgaben verwendet werden.
Hat das Unternehmen ein ernsthaftes Reproduktionsinteresse, wird es einen mehr
oder weniger großen Teil des Gewinns in die Forschung & Entwicklung
und in sonstige Erneuerungsmaßnahmen (Investitionen) stecken. Ähnlich
wie bei Lebewesen wird ihm das auf Dauer aber nur gelingen, wenn es einen entsprechend
großen Überschuß erwirtschaftet, aus dem die Reproduktion finanziert
werden kann.Haben
alle anbietenden Marktteilnehmer ein ähnlich gelagertes Reproduktionsinteresse,
welches sich etwa darin ausdrückt, daß sie einen relativeinheitlichen
Prozentsatz ihres Gewinnes in die Forschung & Entwicklung stecken, können
Unternehmen mit höheren Gewinnen auch mehr Mittel in ihre zukünftigen
Produkte und Kompetenzen investieren. Sie dürften dann recht gute Chancen
besitzen, auch in Zukunft am Markt zu bestehen. Eine Garantie dafür gibt
es allerdings - ähnlich wie in der Natur - nicht. | | Reproduktion | | Da
auf dem Markt Konkurrenz vorherrscht, entwerten sich die unter- nehmerischen Kompetenzen
mit der Zeit. Anders gesagt: Sie veralten und damit das Unternehmen auch. Es müßte
sich also regelmäßig erneuern (reproduzieren). Dazu dient in erster
Linie die Produkt-Reproduktion, die in der Unternehmenswelt den Namen Forschung
& Entwicklung (F&E) trägt. Allerdings müßte das Unternehmen
auch regelmäßig seine Anlagen und Humanressourcen erneuern und an die
Markterfordernisse anpassen, sich also gleichfalls strukturell reproduzieren.
Bei beiden Aktivitäten handelt es sich um reproduktive Tätigkeiten,
die dem Kompetenzerhalt dienen.
Gelingt die Reproduktion, ist das Unternehmen weiterhin konkurrenzfähig und
kann am Markt bestehen (es tritt dann mit verbesserten Produkten und Dienstleistungen
an), andernfalls wird es Marktanteile verlieren.
Erlischt das Reproduktionsinteresse des Unternehmens, werden die Gewinne möglicherweise
eher für Konsumzwecke (zum Beispiel repräsentative Verwaltungsgebäude
oder Firmenwagen) verwendet oder an Investoren ausgeschüttet. Ein solches
Unternehmen dürfte aber über kurz oder lang seine Wettbewerbsfähigkeit
verlieren und dann auch sehr bald für immer seine Tore schließen. Es
wäre im Laufe der Evolution ausgeschieden, und zwar primär durch sein
unzureichendes Reproduktionsinteresse. | | Evolution | | Ist
der Selektionsdruck auf einem Markt groß (das heißt, die verschiedenen
Anbieter stehen im scharfen Wettbewerb miteinander und könnten zusammen ein
Vielfaches von dem absetzen, was der Markt aufzunehmen in der Lage ist), dürfte
es in der Regel zu einer schnellen technischen Weiterentwicklung kommen, ganz
anders als auf Märkten, die fast vollständig von einem Anbieter dominiert
werden.Ist
der Selektionsdruck für einen Anbieter zu groß, so daß er auf
dem Markt keine Gewinne mehr erzielen kann, könnte er sich auch für
alternative Strategien entscheiden, zum Beispiel das Ausweiten des Geschäftsfeldes
auf andere, lukrativere beziehungsweise weniger umkämpfte Märkte, das
Wecken neuer Bedürfnisse bei den Abnehmern oder das Besetzen einer Marktnische.Hat
beispielsweise der Marktanbieter Nokia mit seinen Mobiltelefonen einen sehr hohen
Marktanteil, könnte er seine Produkte aufgrund der höheren Stückzahlen
preisgünstiger anbieten als die Konkurrenz (Skaleneffekte). Der Wettbewerber
Motorola sähe nun keine Chancen, mit Nokia über den Preis zu konkurrieren.
Also müßte er sich etwas anderes einfallen lassen, zum Beispiel die
Integration einer neuen Funktionalität, wie die eines Rundfunkempfängers.
Damit könnte er vielleicht einen nennenswerten Anteil der Kunden für
sich gewinnen, obwohl sein Angebot preislich über dem der Konkurrenz liegt.
Es ist dann aber zu erwarten, daß Nokia sehr bald ebenfalls Mobiltelefone
mit integriertem Rundfunkempfänger anbieten wird, möglicherweise nun
wieder etwas preisgünstiger als Motorola, und zusätzlich etwas flacher
und mit einer Videokamera ausgestattet. Auf diese Weise wird modernes Leben auf
evolutive Weise erzeugt. Es werden Bedürfnisse geweckt, die es vorher nicht
gab, und es werden Funktionalitäten bereitgestellt, die kein Kunde verlangt
hatte, die kurze Zeit später jedoch unverzichtbar sind.
Die Ausführungen zeigen, daß die Evolution der Technik (zum Beispiel
der Mobiltelefone) lediglich ein Nebeneffekt der überlagernden eigendynamischen
Evolution der selbstreproduktiven Technikhersteller (Marktanbieter) ist. Die Situation
ist vergleichbar mit dem Verhältnis von Äpfeln und Apfelbäumen.
Selbstreproduktiv sind nur die Apfelbäume, die in der Natur eigendynamisch
evolvieren. Auch bei den Äpfeln wird man über längere Zeiträume
hinweg Veränderungen in Form, Farbe und Geschmack feststellen können.
Solche Entwicklungen sind jedoch nicht das Ergebnis einer eigendynamischen Evolution
der Äpfel, songern eine Begleiterscheinung der eigendynamischen Evolution
der Apfelbäume, deren Produkte die Äpfel sind. (Ebd., S. 79-83). |

11.2) Meme
Richard Dawkins erläutert die von ihm konzipierte
Memetik anhand der Melodienevolution bei den Neuseeland-Lappenstaren. (Vgl. Richard
Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, S. 316f.). Die Vorstellung ist in etwa
die: Hin und wieder erfindet ein Lappenstar-Männchen eine neue Melodie, die
eventuell von anderen Männchen imitiert und gegebenenfalls leicht modifiziert
wird. Auf diese Weise ändert und erweitert sich mit der Zeit der Melodienpool
der Population. In der Vorstellung der Memetik sind Melodien Meme.
(Ebd., S. 84).Meme sind zwar etwas grundsätzlich anderes als
Gene, sollen sich aber dennoch nach einem ähnlichen Schema als Überlebensmechanismus
deuten lassen. Auch für die Meme gilt gemäß Memetik der evolutionstheoretische
Dreiklang aus Variation, Selektion und Vererbung. (Ebd., S. 84).Meme
vermehren sich - anders als Gene - nicht über die biologische Vererbung,
sondern durch Imitation. Wann immer jemand etwas per Nachahmung von jemand
anderem übernimmt - zum Beispiel Wörter und Wendungen, Theorien, Techniken,
Moden und Melodien -, wird ein Mem repliziert (Vererbung). Der genetischen
Mutation entsprechen dabei die Abwandlungen oder Neukombinationen von Memen, wie
sie im Prozeß der Imitation unweigerlich geschehen (Variation). Und
schließlich findet sich auch so etwas wie eine Selektion von Memen.
Meme stehen nämlich in Konkurrenz zueinander. Sie brauchen gemäß
Mem-Theorie zur Replikation das Gehirn als Ressource. Es kommt dann zum Survival
of the Fittest, denn nur wenige Theorien, Geschichten oder Melodien werden
sich über einen längeren Zeitraum in viele Gehirne einnisten können.
(Ebd., S. 84).Was die Gene für die Lebewesen sind, sind gemäß
Memetik die Meme für die Kultur. Die eigentlichen Evolutionsakteure sind
die Meme, während die Lebewesen als deren vermeintliche Autoren bloß
Transportvehikel sind. Bei Memen handelt es sich also um Einheiten, die ähnlich
wie Gene danach streben, sich zu verbreiten und zu vermehren. (Vgl. Richard
Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, S. 321). (Ebd., S. 84).Die
Systemische Evolutionstheorie erklärt die kulturelle Evolution auf eine ganz
ähnliche Weise, wie es bei der Evolution der Technik geschah. Dies soll am
Beispiel der Melodienevolution bei den Neuseeland-Lappenstaren verdeutlicht werden:Die
Umwelt ist die Gesamtheit der in einer bestimmten natürlichen Umgebung
zusammenlebenden Lappenstarmännchen und -weibchen. Die Population
(aus Evolutionsakteuren) besteht dagegen nur aus den (singenden) Männchen,
die die weiblichen Fortpflanzungsressourcen (Ressourcen) zum Zwecke des
genetischen Kompetenzerhalts erlangen möchten (das heißt, die Männchen
besitzen ein Fortpflanzungsinteresse). Die Wettbewerbskommunikation ist
die Gefallen-wollen-Kommunkation: Die Männchen werben mit ihrem Gesang um
das Gefallen der Weibchen. Die Variation unter den Männchen besteht
einerseits aufgrund einer genetischen Variation, andererseits ist sie aber auch
nichtgenetischer, phänotypischer Art (unterschiedlicher Melodienpool). Die
Kompetenzen der Männchen gegenüber ihrer Umwelt (primär
den Weibchen) sind in erster Linie ihr Gesang, der zwar eine genetische Komponente
besitzt (Lautstärke, Ausdauer, Modulationsfähigkeit u.s.w.), zu einem
großen Teil aber auch erworben ist (Melodienimitation). Das Reproduktionsinteresse
der Männchen umfaßt sowohl ihr Fortpflanzungsinteresse, als auch ihr
Interesse am Erhalt der Gesangskompetenzen. Ein an der Fortpflanzung interessiertes
Männchen wird deshalb beständig darum bestrebt sein, seine Gesangskompetenzen
zu erhalten und zu erneuern (imitieren und üben). Die Reproduktion setzt
sich folglich einerseits aus dem Fortpflanzungsvorgang (zwecks genetischem Kompetenzerhalt)
und andererseits aus der Imitation bzw. dem Ausprobieren neuer Melodien (zwecks
kulturellem Kompetenzerhalt) zusammen.Hat
ein Männchen eine Melodie gefunden, die bei den Weibchen großen Anklang
findet, werden die anderen Männchen aus dem eigenen Fortpflanzungsinteresse
(Reproduktionsinteresse) heraus nichts Eiligeres zu tun haben, als die Erfolgsmelodie
zu imitieren und gegebenenfalls noch um den einen oder anderen Schlenker zu ergänzen.
Dies bringt die Evolution der Melodien bei den Neuseeland-Lappenstaren hervor,
und zwar als eine Begleiterscheinung de! eigendynamischen Evolution der ihren
Reproduktionsinteressen folgenden Lappenstare. | Analog
läßt sich die wissenschaftliche Evolution erklären. Die Evolutionsakteure
sind in diesem Fall die sozialen Systeme Wissenschaftler, die sich in ihren
Lebensräumen (den wissenschaftlichen Disziplinen) im Wettbewerb um soziale
(Reputation, Titel, Preise u.s.w.) und ökonomische Ressourcen (Geld) befinden.
Ihre Wettbewerbskommunikation ist die Gefallen-wollen-Kommunikation, allerdings
in diesem Fall in einer einzigartigen Ausprägung: Wissenschaftler präsentieren
ihre Kompetenzen (zum Beispiel ihre Publikationen) nicht einer neutralen Selektionsinstanz
(Weibchen, Kunden u.s.w.), sondern untereinander. Wähler und Gewählte
fallen dabei zusammen. Dies dürfte in den Wissenschaften den Aufbau von Dominanzhierarchien
erforderlich machen. (Vgl. Eckart Voland, Die Natur des Menschen, 2007,
S. 39). Die Reproduktion in den Wissenschaften setzt sich einerseits aus der Forschung
(aufgrund der Kompetenzerhaltungsinteressen der Wissenschaftler), andererseits
aus den Ausbildungsprozessen (Erzeugung neuer Variation) zusammen. (Ebd.,
S. 85-86).
Evolution und Systembildung
Die Evolution auf der Erde kann
gemäß der im Artikel dargelegten Theorie als ein Prozeß der Hierarchisierung
von Systemen (Systemelemente strukturieren sich zu übergeordneten Systemen)
beschrieben werden: | Auf
der untersten Ebene entstanden zunächst reproduktionsfähige und über
Reproduktionsinteressen verfügende einzellige Organismen. Die Evolution beschränkte
sich zu Beginn auf diese Systemebene. | | Zu
einem späteren Zeitpunkt bildeten sich mit den vielzelligen Organismen komplexere
Systeme, in denen oftmals viele Billionen Zellen zusammenarbeiten. Solche Systeme
besitzen gleichfalls eigenständige Reproduktionsinteressen und sind in der
Lage, sich selbst zu reproduzieren. Die Evolution der vielzelligen Organismen
brachte die Artenvielfalt hervor. | | Auf
Basis der Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit des Menschen und seiner
externen Kompetenzspeicherungsfähigkeiten entstanden schließlich die
Superorganismen (soziale Systeme, Organisationssysteme, Unternehmen). Sie binden
Menschen per Kontrakte oder anderen Mechanismen zu größeren Einheiten
zusammen. Die auf diese Weise gebildeten Systeme entwickeln bei entsprechender
Ausreifung ebenfalls eigenständige Reproduktionsinteressen. Anders als die
beiden bislang genannten Systemtypen reproduzieren sie sich jedoch nicht durch
das Erstellen von Kopien, sondern durch die interne Erneuerung ihrer Elemente,
Strukturen und Kompetenzen. Die Evolution der Superorganismen bringt maßgeblich
das moderne Leben hervor (technische, soziale, kulturelle, wissenschaftliche Evolution).
Aus einer Makrosicht betrachtet dürfte diese Evolution nun alle anderen evolutiven
Entwicklungen dominieren. Anders gesagt: Der Mensch ist nicht mehr die Krone der
Schöpfung, die Superorganismen sind es jetzt. | Die
biologische Evolution beschränkt sich auf ein- und vielzellige Organismen,
das heißt auf die beiden unteren Systemebenen, während die technische,
soziale, kulturelle und wissenschaftliche Evolution primär eine Sache der
Superorganismen und damit der dritten Systemebene ist. Die Evolution bringt folglich
nicht nur immer komplexere Organismen (Arten) hervor, sondern auch zunehmend höhere
Systemebenen, die in eigenständigen Lebensräumen evolvieren. (Ebd.,
S. 86-87).Im Grunde kann der Prozeß der Systemhierarchisierung
auch als eine Abfolge von sich abwechselnden konkurrierenden und kooperativen
Phasen verstanden werden: | Konkurrenzphase:
Zunächst konkurrieren Systeme in einem Lebensraum um Ressourcen. | | Kooperationsphase:
Verschiedene Systeme beginnen zum Zwecke der Erfüllung gemeinsamer Bedürfnisse
miteinander zu kooperieren. Die verschiedenen Subsysteme (Elemente) der Kooperationsgemeinschaften
schließen sich in der Folge immer enger zusammen, so daß Einzelsysteme
ihnen gegenüber erheblich im Nachteil sind. Die Kooperationen werden schließlich
so eng, daß sich die Elemente zu eigenständigen, selbstreproduktiven
Systemen ( einer neuen Systemebene) verbinden. | | Konkurrenzphase:
Nun konkurrieren die neu gebildeten Systeme (einer höheren Systemebene) untereinander
um die Ressourcen ihres Lebensraums. (Ebd., S. 87). |
Der
Prozeß der Evolution auf der Erde könnte zusammenfassend annäherungsweis
wie folgt dargestellt werden: | Der
Prozeß der Evolution auf der Erde könnte zusammenfassend annäherungsweis
wie folgt dargestellt werden: Zunächst evolvierten ausschließlich ein-
und vielzellige Organismen. Das vorherrschende Selektionsprinzip war die dominante
Kommunikation: Fressen und gefressen werden. Alle Arten optimierten sich gemäß
dieses Paradigmas. | | Mit
der sexuellen Fortpflanzung kam die Gefallen-wollen-Kommunikation, auf deren Basis
eigenständige, marktmäßige Evolutionsräume entstanden. Nun
bildeten sich bei den Lebewesen erstmalig Merkmale aus, die zwar den spezialisierten
Marktanforderungen genügten, einer optimalen Anpassung an den sonstigen Lebensraum
jedoch eher im Wege standen. Beispiele dafür sind die Pfauenschweife, aber
auch viele Funktionen des menschlichen Gehirns. | | Die
ungeheure Kooperationsfähigkeit des menschlichen Gehirns und die externe
Kompetenzspeicherungsfähigkeit des Menschen erlaubte dann das flexible Entstehen
von Superorganismen, die sich wiederum in eigenständigen Evolutionsumgebungen
- meist Märkten auf Basis der Gefallen-wollen-Kommunikation - weiterentwickelten.
Dabei brachten sie unter anderem die Evolution der Technik, der Wissenschaften
und der Kultur hervor. (Ebd., S. 87-88). |
Insgesamt
darf vennutet werden: Auf der Erde entsteht letztlich alles durch Evolution, also
nicht nur Bakterien, Pflanzen und Tiere, sondern Autos, Mobiltelefone, Banken,
Technologiekonzerne, Religionen, Moralvorstellungen, Hypothesen, Wahrheiten und
erhabene Ideen ebenso, und zwar gemäß den Prinzipien der Systemischen
Evolutionstheorie. Angetrieben werden die verschiedenen Evolutionen aber stets
von selbstreproduktiven Systemen, das heißt von Evolutionsakteuren mit eigenständigen
Reproduktionsinteressen. Während ihre Populationen eigendynamisch evolvieren,
entwickeln sich auch ihre Merkmale und Produkte weiter, als wenn sie ebenfalls
einer eigenständigen Evolution unterlägen. (Ebd., S. 88). Zitate:
Hubert Brune, Februar 2010 (zuletzt aktualisiert: März 2010). |

|