Systemische Evolutionstheorie. Eine systemtheoretische Verallgemeinerung
der Darwinschen Evolutionstheorie (2012) **Die
... Überschußbedingung (Nachkommenüberschuß
als Bedingung; HB) ist beim modernen Menschen, aber auch bei einigen anderen
Arten nicht gegeben. (Ebd., S. 2).Die von der Bevölkerungslehre
von Thomas Malthus inspirierte Darwinsche Evolutionstheorie geht davon aus, daß
sich die Individuen aller Spezies um so schneller vermehren, je mehr Mittel ihnen
zur Verfügung stehen (es wird nämlich angenommen, daß alle Individuen
nach einer Optimierung ihres Fortpflanzungserfolges streben). .... Beim modernen
Menschen besteht dagegen eine negative Korrelation zwische Reproduktion und sozialem
Erfolg (Verfügbarkeit von Mitteln). Dieses im direkten Widerspruch zu den
Annahmen der Darwinschen Evolutionstheorie stehende menschliche Verhalten hat
Vining ... das Central Theoretical Problem of Human Sociobiology (**)
genannt. In der Demographie trägt es den Namen Demographisch-Ökonomisches
Paradoxon (**).
Das Problem ist bis heute ungelöst .... (Ebd., S. 2).In
modernen Industriestaaten besteht im allgemeinen einerseits eine negative Korrelation
zwischen dem teilweise geentsich bedingten Merkmal Intelligenz (IQ) - beziehungsweise
dem Bildungsniveau - und dem Fortpflanzungserfolg (Fitneß), andererseits
aber auch eine positive Korrelation zwischen Einkommen und Intelligenz. .... Das
Fortpflanzungsverhalten in den Industrienationen steht folglich im Widerspruch
zum Prinzip der natürlichen Selektion der Synthetischen Evolutionstheorie.
(Ebd., S. 3-4).Beim modernen Menschen basiert der individuelle
Reproduktionserfolg keineswegs (ursächlich) auf individuellen (genetisch
bedingten) Eigenschaften, wie es das Prinzip der natürlichen Auslese in der
Fassung der Synthetischen Evolutionstheorie postuliert. (Ebd., S.
5).Das eigentliche Problem in den aktuellen Lehrbuchformulierungen
der natürlichen Selektion ist, daß darin Korrelation mit Kausalität
verwechselt wird. (Ebd., S. 5).Historisch gesehen hat man
bislang fast jegliche biologische Abweichung von den bereits vorhandenen Selektionsprinzipien
der Evolutionstheorie durch ein zusätzliches Selektionsprinzip zu lösen
verucht: | Problem:
Die natürliche Selektion ist nicht in der Lage, die Entstehung von Sexualdimorphismen
zu erklären, die für den Merkmalsträger in seiner Umwelt eigentlich
von Nachteil sind (z.B, Pfauenschweif). Lösung: sexuelle Selektion. | | Problem:
Die natürliche und sexuelle Selektion sind nicht in der Lage, die eusozial
Organisation von Insektensozialstaaten zu erklären. Lösung: Verwandtenselektion
(Theorie der egoistischen Gene). | | Problem:
Natürliche, sexuelle und Verwandtenselektion sind nicht in der Lage, die
bei einigen Arten bestehenden, sich über mehrere Ebenen erstreckenden komplexen
(teilweise altruistischen) Reproduktionsstrategien zu erklären. Lösung:
Multilevel-Selektion. | | Problem:
Natürliche, sexuelle, Verwandtenselektion und Multilevel-Selektion sind nicht
in der Lage, das Reproduktionsverhalten moderner Menschen zu erklären. Lösung:
das Kultur- und Sozialwesen Mensch hat sich aus der Evolution verabschiedet.
(Ebd., S. 6). |
Und schließlich
eignet sich die Darwinsche Evolutionstheorie grundsätzlich nicht zur Beschreibung
der soziokulturellen Evolution, zumal sie keine Differenzierungen im Hinblick
auf die im sozialen Gemeinschaften vereinbarten Wettbewersbkommunikationen macht,
sondern lediglich das Recht des Stärkeren zu kennen scheint.
(Ebd., S. 7).Ziel der Systemischen Evolutionstheorie
ist es deshalb, die biologische und soziokulturelle Evolution aus einheitlichen
Evolutiosnprinzipien heraus zu beschreiben., und zwar auf Basis einer Ontologie,
die mit den Grundannahmen des systemischen Materialsimus vereinbar ist. (**).
(Ebd., S. 7).
Hierzu
hat Peter Mersch auf einer Internetseite von Klaus Rohde ( )
einen Kommentar hinterlassen: »Systemischer Materialismus Peter
Mersch bezieht sich auf den ontologischen Materialismus als einer
der Grundlagen seiner Theorie.« (**).
Die entsprechenden Passagen sind in der aktuellen Variante des Textes etwas schwächer
formuliert. Für mich ist der Materialismus keine Grundlage der Systemischen
Evolutionstheorie. Ich halte ihn aber ihm Rahmen von Naturwissenschaften für
eine ontologische Minimalposition. Damit will ich sagen: Eine naturwissenschaftliche
Theorie sollte meines Erachtens mit ihren Begriffen und Konstruktionen auch mit
einem ontologischen Materialismus kompatibel sein. Wenn zusätzlich auch noch
andere Ontologien mit ihr kein Problem haben, dann ist das um so besser. Aber
wenn bereits die Materialisten bei zentralen Aspekten der Theorie die Hand heben,
dann hat sie nach meiner Auffassung ein gehöriges Problem. Und das ist z.
B. bei der Memetik der Fall, die ja in vieler Hinsicht ein Konkurrenzmodell zur
Systemischen Evolutionstheorie darstellt, zumindest, was die Beschreibung der
soziokulturellen Evolution angeht. Bei ihr haben sich Hauptvertreter des Materialismus
(Bunge/Mahner) dahingehend geäußert: Sorry, das verträgt sich
mit unserer Ontologie leider nicht. **Übrigens
findet sich in Rohdes Text auch eine Stelle, die meine Annahme, daß eher
Schopenhauer statt Darwin als Begründer der Evolutionstheorie zu gelten hat:
Schon Nietzsche hat darauf hingewiesen, daß der von Darwin angenommene
Kampf ums Dasein eher die Ausnahme als die Regel darstellt, weil in der Natur
weitgehend Überfluß und nicht Mangel herrscht. Aus diesem Grunde betonte
Nietzsche die aktive Natur der Evolution (»Evolutionsakteure« der
Systemischen Evolutionstheorie), die im allgemeinen nicht als Ergebnis des Kampfes
um begrenzte Ressourcen zu verstehen ist. Auch Schopenhauer betonte schon vor
(lange vor! HB) Nietzsche die aktive Rolle
der Evolution. Nietzsche wies auch darauf hin, daß beim modernen Menschen
die (im weitesten Sinne) begabtesten oft weniger Nachkommen erzeugen als die weniger
begabten, d.h. er erkannte das demographisch-ökonomische Pardoxon.
**Arthur
Schopenhauer vertrat lange vor Charles Darwin selbst dessen Evolutionstheorie,
die später leider trotzdem den Namen Darwinsche Evolutionstehorie
erhielt. Schopenhauers System ist antizipierter Darwinismus, dem
die Sprache Kants und die Begriffe der Inder nur zur Verkleidung dienten. In seinem
Buche »Über den Willen in der Natur« (1835) finden wir schon
den Kampf um die Selbstbehauptung in der Natur, den menschlichen Intellekt als
die wirksamste Waffe in ihm, die Geschlechtsliebe als die unbewußte Wahl
aus biologischem Interesse. (Im Kapitel »Zur Metaphysik der Geschlechtsliebe«
[in: Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, Band II, Kapitel 44] ist
der Gedanke der Zuchtwahl als des Mittels zur Erhaltung der Gattung in vollem
Umfang vorweggenommen.). Es ist die Ansicht, welche Darwin auf dem Umweg über
Malthus mit unwiderstehlichem Erfolg in das Bild der Tierwelt hineingedeutet hat.
(**).
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 474 **).
|
Die jeweiligen
Reproduktionsinteressen, die in biologischen Populationen dem Grad an Fortpflanzungsegoismus
bzw. -altruismus entsprechen können, müssen ... nicht notwendigerweise
fixe, auf inneren Eigenschaften beruhende Merkmale der Individuen (das heißt,
individuelle, genetisch bedingte Verhaltenspräferenzen) sein, sondern können
maßgeblich durch deren soziale Rollen im Populationsverband bestimmt sein.
Für sie Systemische Evolutionstheorie leitet sich somit das soziale Verhalten
von Lebewesen (inklusive Konkurrenz, Kooperation und Altruismus) micht zwingend
aus Gen-Egoismen bzw. den zugrunde liegenden genetischen Verwandtschaftsverhältnissen
ab, sondern es kann sich auch - den jeweiligen Gegebenheiten entsprechend - auf
eigenständige Weise im Zusammenspiel mit anderen entwickeln. Die Systemische
Evolutionstheorie besitzt - anders als die Darwinsche Theorie - in diesem Sinne
ein integriertes soziales Konzept. (Ebd., S. 17).Die
Evolution (Entwicklung) der unbelebten Natur begann mit dem Urknall. Ihr
vorherrschendes Grundprinzip ist die Selbstorganisation. Selbstorganisaton
ist ein irreversibler Prozeß, der durch das kooperative Wirken von Teilsystemen
(auf der Grundlage von im Universum geltenden Gestzesmäßigkeiten) zu
den komplexen Strukturen des Gesamtsystems führt. Die formgebenden, gestaltenden
und beschränkenden Einflüsse auf die Systementwicklung gehen dabei von
den Elementen(Teilsystemen) des sich organsierenden Systems selbst aus. (**).
(Ebd., S. 28).
Für
Robert B. Laughlin organisiert sich die gesamte reale (»Newtonsche«)
Welt mitsamt ihren Gesetzmäßigkeiten »ernergent« auf einer
darunterliegenden unbestimmten Quantenwelt. Siehe Robert B.Laughlin, Abschied
von der Weltformel. Die Neuerfindung der Physik. 2009, S. 305: »Der
Mythos, kollektives Verhalten folge aus der Gesetzmäßigkeit, geht in
der Praxis genau in die falsche Richtung. stattdessen folgt Gesetzmäßigkeit
aus kollektivem Verhalten, ebenso wie andere daraus hervorgehende Dinge wie etwa
Logik und Mathematik. Unser Geist kann das, was die physische Welt macht, nicht
deshalb antizipieren und meistern, weil wir Genies sind, sondern weil die Natur
das Verständnis erleichtert, indem sie sich selbst organisiert und Gesetzmäßigkeit
hervorbringt.« Das herrschende Paradigma ist deshalb fiir ihn die Organisation
(ebenda, S. 304). Und weiter (ebenda, S. 75): »Der bei weitem wichtigste
Effekt der Phasenorganisation besteht darin, daß sie Objekte dazu bringt,
zu existieren. Dieser Punkt erschließt sich schwer und wird leicht übersehen,
weil wir gewohnt sind, uns die Herausbildung fester Substanzen als Zusammenschluß
Newtonscher Kugeln vorzustellen. Atome sind jedoch keine Newtonschen Kugeln, sondern
flüchtige quantenmechanische Wesen, denen die wichtigste aller Eigenschaften
eines Objekts fehlt - eine feststellbare Position.« Und ( ebenda): »Wächst
die Probe aber auf makroskopisch viele Atome an, so wird die Unterscheidung zwischen
inneren Bewegungen des ganzen Körpers qualitativ - und letzterer gewinnt
Newtonsche Realität. Man kann sich nur deshalb weiterhin Atome als Newtonsche
Objekte vorstellen, weil ein emergentes Phänomen den Irrtum unerheblich werden
läßt. Das tut es jedoch nur fiir die Bewegung des Körpers als
eines Ganzen. Die inneren Vibrationsbewegungen bleiben hingegen vollständig
im Quantenbereich.« Schließlich (ebenda, S. l26f.): »Vom reduktionistischen
Standpunkt aus ist physikalische Gesetzmäßigkeit der Impuls, der das
Universum antreibt. Sie kommt nirgendwoher und schließt alles mit ein. Aus
der Sicht der Emergenztheorie stellt physikalische Gesetzmäßigkeit
eine Regel kollektiven Verhaltens dar. Sie ist eine Folge ursprünglicher,
darunterliegender Verhaltensregeln (obwohl sie das nicht hätte sein müssen),
und sie gibt einem die Möglichkeit, innerhalb eines beschränkten Rahmens
von Bedingungen Vorhersagen zu treffen. Außerhalb dieses Rahmens wird sie
bedeutungslos und durch andere Regeln ersetzt, die innerhalb einer Hierarchie
der Abstammung entweder ihre Kinder oder ihre Eltern sind. Keine dieser Sichtweisen
kann aufgrund von Fakten die Oberhand über die andere gewinnen, weil beide
aufTatsachen gegründet und beide im herkömmlichen wissenschaftlichen
Sinn des Begriffs wahr sind.« .... Die Systemische Evolutionstheorie folgt
vom Grundsatz her solchen Vorstellungen. (Ebd.). |
In
einem energetisch zerfallenden Universum können auf diese Weise (ohne Kompetenz
bewahrende evolutionäre Prozesse) vermutlich nur begrenzte Komplexitäten
entstehen. (Ebd., S. 29).Charakteristisch für die Evolution
des Lebens und aller darauf aufbauenden Evolutionen (Kultur, Gesellschaft, Technik
u.s.w.) ist aus Sicht der Systemischen Evolutionstheorie die Selbstreproduktivität
der sie vorantreibenden Systeme. Selbstreproduktive Systeme sind Informationssysteme.
Sie können ihre Lebensraumkompetenzen speichern, verändern und gegebenenfalls
replizieren und auf diese Weise aufbauen, erweitern und anpassen. Der evolutive
Wissensaufbau ermöglichte das Entstehen sehr großer Komplexitäten.
(Ebd., S. 29).Wenn im Folgenden von Evolution die Rede ist, dann
sind ausschließlich solche höheren, auf Selbstreproduktivität
basierenden Evolutionsformen gemeint. (Ebd., S. 29).Ein Sprichwort
sagr: »Drei Dinge machen den Meister: Wissen, Können und Wollen.«
Kompetenz steht im allgemeinen für (etwas mehr als) die Kombination
aus Wissen und Können. Um etwa ein Bergmassiv überqueren zu können,
muß man nicht nur die geeigneten Wege kennen (siehe: Wissen), sondern
auch eine ausreichende Trittsicherheit, Kraft und Ausdauer besitzen und geeignet
ausgerüstet sein (siehe: Können). Mit anderen Worten: Man muß
die Kompetenz zur Überquerung des Bergmassivs besitzen. Die Kompetenz allein
führt jedoch noch nicht zur tatsächlichen Handlung (in diesem Fall:
der Überquerung des Bergmassivs). Dazu wird noch ein entsprechendes Interesse
(Intention, Wollen, Bestreben, Ziel) benötigt. (Ebd., S. 45).In
der Vorstellung der Systemischen Evolutionstheorie geht es bei Evolution letztlich
um den Erhalt von Kompetenzen. (Ebd., S. 63).Ein Verlust
hat aus Sicht des Lebens immer etwas Bedrohliches an sich, da er - je nach Ausmaß
und Charakter - die weitere Lebens- und Überlebensfähigkeit (das heißt,
die Reproduktionsfähigkeit) bneeinträchtigen kann.. Gemäß
dem 2. Hauptsatz der Thermodynanamik »verlieren« Systeme an Kompetenzen
(ihre thermodynamische Entropie nimmt zu; das heißt, sie deqaulifizieren),
wenn sie nichts tun, wobei Umweltveränderungen (auh durch Komepetenzzuwäche
auf seiten anderer Evolutionsakteure) einen beschleunigenden Effekt auf die Entwicklung
haben können. Also müssen sie etwas tun, um »am Leben« zu
bleiben. (Ebd., S. 63).Jedes Lebewesen steht beständig
vor der Frage, ob es eher in Selbsterhalt (hohe Zeitpräferenz), Weiterentwicklung
(mittlere Zeitpräferenz) oder Fortpflanzung (niedrige Zeitpräferenz)
investiertem soll. (Ebd., S. 66).Aus Sicht des Individuums
sind Selbsterhalt und Weiterentwicklung vorrangig egoistisch, Fortpflanzung hingegen
altruistisch, denn sie geschieht im Dienste anderer (der Nachkommen). Allerdings
behauptet die Theorie der egoistischen Gene, daß die Fortpflanzung
primär aus Sicht der Gene betrachtet werden müsse. Unter dem Gesichtspunkt
der Bewahrung der eigenen Gene ist sie dann gleichfalls als egoistisch einzustufen.
(Ebd., S. 67).Auch Superorganismen (z.B. Unternehmen, Honigbienenkolonien)
kennen den Zielkonflikt zwischen Kompetenzreproduktion unterscheidlicher Zeitpräferenzen
(Kompetenzerhaltungsphasen). (Ebd., S. 67).Durch Kompetenzzuwachs
bzw. Wissensanreicherung läßt sich die Entropie eines Lebensraums ...
subjektiv senken. Man ist dann sozusagen an die Umwelt besser angepaßt
(sie wirkt sozusagen geordneter), was zur Folge hat, daß man
darus (vermutlich) leichter Ressourcen zur Reproduktion der Kompetenzen erlangen
kann. Allerdings wäre aufgrunde des Kompetenzzuwachses gleichzeitig der Ressourcenbedarf
zur Reproduktion der umfangreicheren Kompetenzen gestiegen, speziell dann, wenn
sich die Verhältnisse im Lebensarum schnell und gegebenenfalls grundlegend
ändern. Unabdingbare Voraussetzungen für die langfristige (Höher-)Entwicklung
von Kompetenzen sind deshalb eine nahezu unerschöpfliche Energiequelle und
relativ stabile Lebensraumbedingungen. Anders gesagt: Verbrauchte Ressourcen sollten
sich im Lebensraum stets wieder hinreichend schnell erneuern, zum Beispiel, indem
verspeiste Pflanzen und Tiere regelmäßig und ausreichend rasch nachwachsen,
damit Lebensraumwissen sukzessive akkumuliert werden kann. (Ebd., S. 75-76).Zu
Beginn der biologischen Evolution war das ganze Wissen der Lebewesen noch in den
Genen gespeichert. Die Wissensreproduktion (Informationsverarbeitung) erfolgte
ausschließlich während der Fortpflanzung. Dabei ging es um den Erhalt
des in den Genen gespeicherten Wissens. Eine Spezialisierung auf betsimmte Kernkompetenzen
gab es zu dem Zeitpunkt nicht, Fortpflanzung bedeutete stets die Reproduktion
des gesamten individuellem Wissens (das heißt, aller Kompetenzen).
(Ebd., S. 78).Die Frage, ob es sich bei Information
um eine eigenständige physikalische Größe handelt, die so konkret
wie Temperatur, Masse oder Energie und damit auch ohne Semantik (gibt
es überhaupt etwas ohne Semantik? HB) existent ist, wird in den
Wissenschaften konträr diskutiert. Eine eher spekulative These lautet, das
Universum könnte eine nicht-materielle Grundlage besitzen und sich aus Daten
zusammensetzen (»It from Bit«) oder gar ein Computer sein. Einige
Autoren stellen eine enge Beziehung zwischen Entropie und Information her oder
setzen sie schlußendlich gleich. Ferner wird angemerkt, daß bei der
Informationsverarbeitung Energie verbraucht wird und sogar verbraucht werden muß
(bis hin zu der recht präzisen Aussage des Landauer-Prinzips, daß bei
der Verarbeitung von n Bit Information mindestens eine Energie von E
= n k T ln (2) verbraucht wird, beziehungsweise - noch
etwas präziser -, daß das Löschen eines Bits an Information zwangsläufig
die Abgabe von Energie in Form von Wärme gemäß W = k
T ln (2), wobei k = Boltzmann-Konstante, T = absolute
Temperatur der Umgebung, zur Folge hat), wodurch gewissermaßen eine Verbindung
zwischen den Begriffen Energie und Information nachgewiesen sei. Dies sei - so
wird ergänzt - bemerkenswert, da die Begriffe Entropie und Energie physikalische
Begriffe sind. Und schließlich hat sich längst der Begriff der Quanteninformation
(und darauf aufbauend auch der Begriff der Quanteninformatik) etabliert Andere
Autoren betonen dem gegenüber, daß die Daten des Lebensraums erst durch
die Interpretation und Bedeutungszuordnung eines sich an Interessen orientierenden
(lebenden) Systems zu Informationen werden, die es ihnen erlauben, aus kleineren
Teilen größere Zusammenhänge zu konstruieren, Prognosen zu erstellen
und hierdurch Überlebensvorteile zu erlangen. (Ebd., S. 80-81).Darwinistische
Anpassungsprozesse erfolgen stets in die Richtung, in die auch der thermodynamische
Zeitpfeil weist. (Ebd., S. 88).Kosmologen gehen heute mehrheitlich
davon aus, daß das Universum als relativ glatter, regelmäßiger
(geordneter, entropiearmer) Punkt (eventuell als Singularität) in der Raumzeit
begann und sich dann sehr schnell ( exponentiell; 'linflationär") ausdehnte.
Es hat also in einem gleichmäßigen und geordneten Zustand begonnen
und ist mit der Zeit klumpig (Galaxien, Sterne etc.) und ungeordnet geworden218.
Letzteres folgt bereits aus dem Umstand, dass es stets mehr ungeordnete Zustände
als geordnete gibt, Während der Expansion des Universums nahm und nimmt die
Entropie somit kontinuierlich zu (zweiter Hauptsatz der Thermodynamik; thermodynamischer
Zeitpfeil). Solange während dieser Phase noch ausreichend Energie von hoher
Qualität zur Verfügung steht, sind Evolution und intelligentes Leben
möglich. (Ebd., S. 88).Für Peter W. Atkins ist
jegliche Veränderung in unserem Universum Ausdruck seines energetischen Zerfalls:
»Alle Veränderung ... erwächst im Grunde aus einem Zerfall in
Chaos. Als letztlich grund- und zweckloser Zerfall wird sich erweisen, was uns
als Beweggrund und Zweck erscheinen mag. Absichten und ihre Erfüllung leben
vom Zerfall. Die Tiefenstruktur von Veränderung ist Zerfall.
Dabei zerfällt nicht die Quantität, sondern die Qualität der Energie.
.... Resultate des Zerfalls sind nicht nur Hochkulturen, sondern
alle Ereignisse auf unserem Planeten und im Universum.« (Ders., Schöpfung
ohne Schöpfer, 1984, S. 33). Und an anderer Stelle: »Die Einfachheit,
die aller Veränderungstendenz letztlich zugrunde liegt, ist in manchen Prozessen
tiefer verborgen als in anderen. Während sich Abkühlung leicht als natürliche,
durch Atomgedränge bewirkte Ausbreitung erklären läßt, ist
die ursprüngliche Einfachheit in Prozessen wie Evolution, Willensfreiheit,
politischem Ehrgeiz und Kriegsführung nicht so leicht zu entdecken. Indes,
mag sie auch noch so verborgen sein, die Triebfeder aller Schöpfung ist der
Zerfall, und jede Handlung ist die mehr oder weniger unmittelbare Folge der natürlichen
Auflösungstendenz.« (Ebd., S. 39). (Ebd., S. 88).Die
erneute Kontraktion des Universums wird von Kosmologen (wenn: überhaupt)
erst ab dann erwartet, wenn es sich bereits in einem Zustand fast vollständiger
Unordnung befindet. Da die Unordnung unter solchen Voraussetzungen kaum mehr weiter
zunehmen kann, gäbe es dann keinen ausgeprägten thermodynamischen Zeitpfeil
mehr, der jedoch Vorbedinigung für Evolution und intelligentes Leben ist.
Denn, wie gezeigt wurde, benötigen Lebewesen fortwährend Energie in
geordneter (hochwertiger) Form, um ihre Kompetenzen reproduzieren zu können.
Im Gegenzug versetzen sie das Universum in weitere Unordnung (Entropie).
(Ebd., S. 88-89).Die Überlegungen zeigen einmal mehr, daß
Evolution letztlich eine Folge des fortwäbrenden Bestrebens selbstreproduktiver
Systeme ist, den Zeitpfeilen des Universums (für eine gewisse Zeit) zu entrinnen
und nutzbare vorhandene Kompetenzen und damit Ordnungen zu bewahren. Anders gesagt:
Evolution entspringt den Grundbedingungen unseres Universums. (Ebd., S.
89).Die Evolutionäre Erkenntnistheorie
(vgl. Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 1994) geht
in ihrer realistischen Variante davon aus, daß es eine reale Welt gibt,
deren Objekte zunächst auf die Sinnesorgane projiziert werden. Im Erkenntnisprozeß
wird dann versucht, die Objekte aus ihren Projektionen zu rekonstruieren. Diese
Rekonstruktion bleibt jedoch stets hypothetisch. Mit anderen Worten: Alles Tatsachenwissen
ist hypothetisch. Daß dennoch eine gute Passung der Erkenntnisstrukturen
zur Realität besteht, ist gemäß der Evolutionären Erkenntnistheorie
eine Folge von Evolution: »Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der
biologischen Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt,
weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese Welt herausgebildet
haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil
nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte. Sie
sind individuell angeboren und somit ontogenetisch a priori, aber stammesgeschichtlich
erworben, also phylogenetisch a posteriori. .... Die Evolutionäre
Erkenntnistheorie deutet die Passung unserer kognitiven Strukturen als Ergebnis
eines Selektionsprozesses, einer evolutiven Anpassung. Nicht nur Sinnesorgane,
Zentralnervensystem und Gehirn sind Evolutionsprodukte, sondern ebenso ihre Funktionen:
Sehen, Wahrnehmen, Urteilen, Erkennen, Schließen.« (Gerhard Vollmer,
Biophilosophie, 1995, S. 120 f.). (Ebd., S. 89).Der
Ansatz der Systemischen Evolutionstheorie unterscheidet sich in der genannten
Fragestellung nur unwesentlich von der Evolutionären Erkenntnistheorie.
Beispielsweise ist für sie der menschliche Erkenntnisapparat ein Ergebnis
der biologischen und der soziokulturellen Evolution. Ferner entstanden
in ihrer Auffassung die Erkenntnisstrukturen nicht nur durch Anpassungen an die
reale Welt und im Rahmen eines Selektionsprozesses, sondern vor allem in Übereinstimmung
mit den Reproduktionsinteressen .... Anders gesagt: Erkenntnis ist immer auch
interessengeleitet. (Ebd., S. 90).Bei der natürlichen
Selektion ist die Umwelt die Natur, bei der sexuellen Selktion hingegen die Population.
(Ebd., S. 106).Das Besondere an der sexuellen Auslese ist
nicht die Selektion, sondern die Akzeptanz von Besitzrechten. (Ebd., S.
107).Auch sollte man nicht vorschnell schlußfolgern, das
Recht des Besitzenden sorge - anders als das brachiale Recht des Stärkeren
- ganz automatisch für eine wie auch immer geartete »Gerechtigkeit«
oder »Humanität« in sozialen Systemen. Das ist keineswegs der
Fall. Unter ungleichen Machtverhältnissen oder bei einseitigem Besitz an
kritischen Produktionsmitteln und Ressourcen können sich auch hier Abhängigkeiten
ausbilden, die den Verhältnissen des REct des Stärkeren in nichts nachstehen.
(Ebd., S. 110).Der wesentliche Unterschied zwischen Gruppe (Population,
Herde u.s.w.) und einem Superorganismus ...: Im Zentrum eines Superorganismus
steht die gesamthafte Kompetenz- und Ressourcenkoordination, auf deren Grundlage
sich eigenständige Kompetenzen und Reproduktionsinteressen ausbilden können.
(Ebd., S. 112).Die Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie
...: | Eine
Population besteht aus lauter selbstreproduktiven Systemen (Individuen), die sich
allesamt voneinander unterscheiden, und die unterschiedliche Kompetenzen in bezug
auf ihre Umwelt besitzen. Das Prinzip heißt Variation. | | Die
Individuen der Population besitzen (eventuell unterschiedlich starke) Reproduktionsinteressen.
Die - poulationsweit ausreichend stark ausgeprägten - Reproduktionsinteressen
korrelieren für alle Zeitpräferenzen nicht negativ mit den informativen
Kompetenzen der Individuen in bezug auf ihre Umwelt. Aufgrund ihrer Reproduktionsinteressen
konkurrieren die Individuen um den Zugriff auf die zumindest teilweise knappen
Ressourcen der Umwelt. Die Verteilung der Ressourcen erfolgt dabei auf der Grundlage
des Rechts des Stärkeren (Push; Dominanz) und/oder des Rechts des Beitzenden
(Pull; Gefallen-wollen). Das Prinzip heißt Reproduktionsinteresse. | | Es
existieren variationserhaltende Reproduktionsprozesse, die die Kompetenzen der
Individuen in bezug auf ihre Umwelt aufbauen, modifizieren oder replizieren können,
wobei das Ergebnis von Modifikation oder Replikation gegenüber dem Ausgangszustand
zwar verändert ist, in der Regel aber auch erkennbare Ähnlichkeiten
aufweist (**|**).
Für die Reproduktion werden Ressourcen aus der Umwelt benötigt. Das
Prinzip heißt Reproduktion. | Die
Kernaussage der Systemischen Evolutionstheorie ist nun: Wenn für eine
Population die drei Prinzipien Variation, Reproduktionsinteresse und Reproduktion
gegeben sind, dann ist deren Evolution die Folge. (Ebd., S. 115).
Zur
Frage des Grades der Ähnlichkeit führt Karl Olsberg (Karl-Ludwig
Freiherrr von Wendt) aus: »Man kann den Zusammenhang zwischen Mutationsrate
und Evolutionsfortschritt mathematisch analysieren. Dies haben Ingo Rechenberg
... und seine Mitarbeiter schon in den 1970er Jahren getan .... In vielen Fällen
ist die Mutationsrate optimal, wenn 20 Prozent der Nachkommen besser an die Umwelt
angepaßt sind als ihre Eltern, 80 Prozent jedoch schlechter .... Der Grund
liegt darin, daß es einen mathematischen Zusammenhang zwischen der Schrittweite
der Mutationen aun dem Anteil schlechter Mutationen gibt. Man kann
also die Schrittweite nur vergrößern, wenn man einen höheren Anteil
nachteiliger Mutationen in Kauf nimmt« (Karl-Ludwig Freiherrr von Wendt
alias Karl Olsberg, Schöpfung außer Kontrolle, 2010, S. 56f.).
Eine optimierte Lösung in der Hinsicht stellt offenkundig die Getrenntgeschlechtlichkeit
dar: Männlich = hohe Mutationsschrittweite + Selektion; weiblich = niedrige
Schrittweite. (Ebd.). Generell
stellt sich in diesem Zusammenhang und in Verbindung mit dem Prinzip Variation
die Frage nach den Mechanismen für das Entstehen neuer Variation, Diese Frage
kann jedoch im Rahmen einer allgemeinen Evolutionstheorie nicht beantwortet werden,
sondern nur durch die zuständigen Fachdisziplinen, Ganz entsprechend schrei
ben Bunge und Mahner zu den möglichen Emergenzmechanismen. »Welches
sind die Emergenzmechanismen? Hierauf gibt es keine allgemeine Antwort: Die Antwort
hängt von der Natur der Dinge ab, d.h. es gibt unzählige Emergenzmechanismen,
die außer dem Auftreten neuer Eigenschaften kaum etwas gemeinsam haben.
....Emergenzprozesse können daher nur allgemein als Prozesse der Selbstzusammensetzung
und der Selbstorganisation beschrieben werden, als Prozesse der inneren Restrukturierung,
als Interaktionsprozesse mit Dingen aus der Umgebung oder eine Kombination dieser
Prozesse.« (Mario Bunge / Martin Mahner, Über die Natur der Dinge,
2004, S. 81). Man vergleiche dazu aber auch: Mario Bunge / Martin Mahner, Philosophische
Grundlagen der Biologie, 2000, S. 301ff..' (Ebd.). |
Die
Prinzipien Variation (**)
und Reproduktion (**)
der systemischen Evolutionstheorie sind im Grunde lediglich systemtheoretische
Verallgemeinerungen der namensgleichen Prinzipien der Darwinschen Evolutionstheorie
(**).
(Ebd., S. 115).
Man
vergleiche jedoch dazu die Verwendung des Fitneßbegriffs innerhalb der moder
nen Evolutionsbiologie. Ferner ist zu beachten, daß es sich bei den Prinzipien
Variation, Reproduktionsinteresse und Reproduktion der Systemischen
Evolutionstheorie lediglich um hinreichende Bedingungen für Evolution handelt.
Es sind nämlich Populationen vorstellbar, die selbst unter geringfügig
schwächeren Bedingungen evolvieren können (zum Beispiel wenn das Reproduktionsinteresse
zwarmit zunehmender Fitneß sinkt, jedoch nicht so schnell wie die Fitneß
dabei ansteigt, oder wenn es zu einem regelmäßigen ungehinderten horizontalen
Kompetenztransfer zwischen den Evolutionsakteuren - per Imitation, Bildung, Mitarbeiterwechsel
u.s.w. - kommt). Die genannten Bedingungen sind deshalb nicht unbedingt notwendig
für Evolution. Es ist fraglich, ob jemals allgemeine hinreichende und notwendige
Kriterien für Evolution formuliert werden können. (Ebd.). |
Zu
beobachten ist: Die Darwinsche Evolutionstheorie basiert (so wie die Theorie der
egoistischen Gene) in Kernelementen auf der Bevölkerungslehre von Malthus.
Sie nimmt an, daß alle Individuen einer Population bestrebt sind, sich (bzw.
ihre Gene) möglichst oft zu reproduzieren. Davon geht die Systemische Evolutionstheorie
nicht mehr aus. Statt dessen führt sdie als zusätzliche Variable die
individuellen Reproduktionsinteressen ein. Sie genügt damit den auch moderen
Fertilitätstrheorien für menschliche Gesellschaften. Individuen können
sich also von vornherein oder entsprechend der ihnen zugewiesenen sozialen Rolle
in bezug auf die Fortpflanzung unterschiedlich altrusitisch verhalten und dementsprechend
unterschiedlich stark ausgeprägte Reproduktionsinteressen besitzen.
(Ebd., S. 116).Bei der Darwinschen Evolutionstheorie steht der
Reproduktionserfolg im Vordergrund, bei der Systemeischen Evolutionstheorie hingegen
das Reproduktionsinteresse. (Ebd., S. 121).Die einfache Variante
der Price-Gleichung, bei der Merkmale identisch vererbt werden, kann ... wie folgt
niedergeschreiben werden:D(r)
(D(m')
D(m))
= Cov(r, m), wobei | | r
für den durchschnittlichen Reproduktionserfolg in der jeweiligen Gruppe, | | D(r)
für den durchschnittlichen Reproduktionserfolg der Gruppenpopulation, | | m
für das Fitneßmerkmal in der Gruppe, | | D(m)
für das durchschnittliche Fitneßmerkmal in der Population in der
aktuellen Generation, | | D(m')
für das durchschnittliche Fitneßmerkmal in der Population in der
nächsten Generation, | | Cov(r,
m) für die Kovarianz zwischen Reproduktionserfolg und Merkmal | steht. | Der
Fitneßbegriff wird daebi im ursprünglichen Darwinschen Sinne bzw. dem
der Systemischen Evolutionstheorie verwendet, und zwar als Tauglichkeit, Anpassung
oder als Kompetenzen gegenüber dem Lebensraum, nicht jedoch als relativer
Lebenszeitfortpflanzungserfolg, wie dieys in der Populationsgenetik und zum Teil
auch in der Evolutionsbiologie üblich ist. (Ebd., S. 129-130).In
der die natürliche Selektion repräsentierenden Price-Gleichung könnte
man ... für moderne Wohlfahrtsstaaten den Reproduktionserfolg r durch
das Reproduktionsinteresse i ersetzen. Die Price-Gleichung würde
dann die folgende Form annehmen:D(i)
D(m')
D(m)
= Cov(i, m) | Die
rechte Seite stellt dabei exakt die Beziehung dar, die die Systemische Evolutionstheorie
zum Prinzip erhoben hat, nämlich die nichtnegative Korrelation zwischen Reproduktionsinteresse
und den Lebensraumkompetenzen (der Fitneß). Die Korrelationsbeziehung der
Systemischen Evolutionstheorie entspricht damit gewisermaßen der Price-Gleichung.
Allerdigs beziehen sich ihre Aussagen nicht mehr auf den Reproduktionserfolg,
sondern auf dessen wohl wesentlichste Einflußgröße, das Reproduktionsinteresse.
(Ebd., S. 129-130).Je geringer der Selektionsdruck auf eine Population
ist, desto stärker wird der Anteil des Reproduktionsinteresses am individuellen
Reproduktionserfolg sein. Menschliche Wohlfahrtstaaten haben es sich praktisch
zum Ziel gemacht, ihren Mitgliedern jeglichen Selktionsdruck zu nehmen, so daß
in ihnen der individuelle Reproduktionserfolg ... praktisch nur noch vom individuellen
Reproduktionsinteresse abhängt. (Ebd., S. 131).Fragte
man sich nach dem Sinn des Lebens, dann besteht der aus Sicht der Systemischen
Evolutionstheorie vor allem in dem Erwerb, dem Erhalt und der Entfaltung von Lebensraumkompetenzen,
das heißt, letztlich im Leben und Überleben selbst. Aufgrund der Sterblichkeit
von Lebewesen ist damit auch immer eine (teilweise) Weitergabe vorhandener Kompetenzen
an andere verbunden. Dies kann auf biologische und/oder kulturelle Weise erfolgen.
(Ebd., S. 137).In menschlichen Gesellschaften haben sich in der
Regel recht einheitliche Reproduktionsstrategien etabliert, da die jeweils vorherrschende
Strategie einen Großteil der Kultur ausmacht. Die Hauptunterschiede im reproduktiven
Verhalten der einzelnen Gesellschaftsmitglieder bestehen dann üblicherweise
beim Anteil des reproduktiven Aufwands am Lebensaufwand, das heißt in der
Ausprägung des individuellen Reproduktionsinteresses. (Ebd., S. 142).Es
läßt sich ... leicht zeigen, daß das Erstellen von möglichst
vielen eigenen Kopien nur eine (allerdings sehr grundsätzliche) Evolutionsstrategie
unter vielen ist. Replikation auf der Grundlage von Replikatoren plus natürliche
Selektion ist keineswegs das einzige evolutive Verfahren zur Kompetenzreproduktion,
sondern lediglich die dümmste. Es ist dort zwingend erforderlich, wo jegliche
Intelligenz noch fehlt. .... Ist ... Intelligenz ... aber schließlich vorhanden,
können auch andere Reproduktionsverfahren zur Anwendung kommen. (Ebd.,
S. 145).Ricardos Theorie läßt sich ... wie folgt formulieren:
| Arbeitsteilig
zusammenarbeitende Evolutionsakteure sollten solche Kompetenzen zu ihren Kernkompetenzen
machen, für die sie komparative Kompetenzvorteile (Kostenvorteile)
besitzen. | Es kann
gezeigt werden, daß in diesem Fall auch die kritische Korrelationsbeziehung
des Prinzips Reproduktionsinteressen der Systemischen Evolutionstheorie - und
damit eine wesentliche Grundvoraussetzung für Evolution - erfüllt ist
(**).
(Ebd., S. 151).
Allerdings
gilt dies zunächst nur für die soziale Arbeitsteilung (bzw. für
soziale Kompetenzen). Im Zusammenspiel mit der Reproduktion genetischer Kompetenzen
sind weitere Faktoren zu beachten (Ebd.). |
Eng mit dem Konzept des Kompetenzerhalts steht der Begriff des Risikos
in Verbindung. Risiken unterscheiden sich von Unsicherheiten dadurch, daß
letztere grundsätzlich unkalkulierbar sind, erstere jedoch nicht. (Ebd.,
S. 151).In einer Welt, in der das Streben nach Kompetenzerhalt
von zentraler (evolutionärer) Bedeutung ist, wird es zwangsläufig zu
immer ausgefeilteren Verfahren der Risikobewertung kommen, denn man kann vorhandene
Kompetenzen um so leichter bewahren beziehungsweise neue um so gezielter aufbauen,
je präziser erkennbare Risiken abschätzbar sind. (Ebd., S. 151).Risikobewertung
macht heute einen Großteil des Geschäfts der Finanzindustrie aus. Gemäß
Jakob Arnoldi konnten bestimmte Finanzprodukte beziehungsweise Risiken erst dann
unter den Finanzinstituten effizient gehandelt werden, als es gelang, ihnen einen
Preis zuzuweisen. Dabei mußten allerdings bestimmte (unkalkulierbare) Unsicherheiten
naturgemäß noch ausgeblendet werden (das wird Framing genannt). Von
zentraler Bedeutung für die finanztechnischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte
beziehungsweise der Evolution der Finanzindustrie war in diesem Zusammenhang die
Black-Scholes-Formel. Weitere finanztechnische Innovationen erlaubten schließlich
das präzisere Bewerten von Risiken und in der Folge auch den Handel mit ihnen.
Es lässt sich deshalb durchaus die Ansicht vertreten, daß erst die
mathematischen Verfahren zur Bewertung von Risiken die entsprechenden Märkte
für den Handel mit Risiken hervorgebracht haben. (Ebd., S. 151).Da
die mathematischen Risikomodelle jedoch zwangsläufig (noch) unkal. . kulierbare
Unsicherheiten ausklammern müssen ( der Fachterminus dazu lautet Framing),
können sie in Situationen, in denen sich die Unsicherheiten unvermittelt
doch realisieren, versagen beziehungsweise regelrecht in sich zusammenbrechen
und in der Folge dann auch erhebliche Finanzmarktstörungen bis hin zu globalen
Krisen auslösen (das heißt, selbst zum Risiko werden). Dies gilt in
gleicher Weise für sonstige Risiken (außerhalb des Verantwortungsbereichs
der Finanzindustrie), die in modernen menschlichen Gesellschaften durch Menschen
oder menschliche Superorganismen beziehungsweise deren Erzeugnisse - das heißt,
letztlich vom Menschen selbst - produziert werden. (Ebd., S. 152).Die
soziologischen Arbeiten zur Risiko- beziehungsweise Weltrisikogesellschaft können
aufgrund solcher Überlegungen durchaus als natürliche Erweiterungen
und Vertiefungen zur Systemischen Evolutionstheorie verstanden werden: Einerseits
machen sie auf besonders eingehende Weise deutlich, daß es beim modernen
Leben primär um den Kompetenzerhalt von Superorganismen (insbesondere von
Unternehmen) und weniger um den von Menschen geht, andererseits zeigen sie sehr
prägnant, daß das kollektive Bemühen, die eigenen Kompetenzen
in der Zukunft zu bewahren (und Kompetenzverluste zu vermeiden) dazugehörige
Technologien und Maßnahmen von der Wahrscheinlichkeitsrechnung und den sozialstaatlichen
Einrichtungen bis hin zu Risikobewertungsformeln und den Handel mit Risiken hervorgebracht
hat und weiter hervorbringt. (Ebd., S. 152).Die Evolution
auf der Erde kann in der Sichtweise der Systemischen Evolutionstheorie als ein
selbstorganisatorischer Prozeß der Hierarchisierung von Systemen beschrieben
werden. Während sich die biologische Evolution auf ein- und vielzellige Organismen
(und Viren) beschränkt, das heißt, auf die beiden unteren Ebenen selbstreproduktiver
Systeme, ist die soziokulturelle Evolution primär eine Sache der Superorganismen
und damit der dritten Systemebene. Die Evolution bringt in diesem Sinne nicht
nur immer komplexere Organismen (Arten) hervor, sondern auch zunehmend höhere
Systemebenen, die in eigenständigen Lebensräumen evolvieren. (Ebd.,
S. 191). Im Grunde kann der Prozeß der Systemhierarchisierung
auch als eine Abfolge von sich abwechselnden konkurrierenden und kooperativen
Phasen verstanden werden:Konkurrenzphase:
| Zunächst konkurrieren
Systeme in einem Lebensraum um Ressourcen. Dabei können unterschiedliche
Wettbewerbskornmunikationen (Recht des Stärkeren; Recht des Besitzenden)
zum Einsatz kommen. Gegebenenfalls kann es zur Nischenbildung und Konstruktion
neuer Evolutionsräume kommen. | Kooperationsphase: |
Verschiedene Systeme beginnen zum Zwecke der Erfiillung gemeinsamer Bedürfnisse
miteinander zu kooperieren. Die verschiedenen Subsysteme (Elemente) der Kooperationsgemeinschaften
schließen sich in der Folge immer enger zusammen, so daß Einzelsysteme
ihnen gegenüber erheblich im Nachteil sind. Die Kooperationen werden schließlich
so eng, daß sich die Elemente per Selbstorganisation zu eigenständigen,
selbstreproduktiven Systemen ( einer neuen Systemebene) verbinden. | Konkurrenzphase:
| Nun
konkurrieren die neu gebildeten Systeme ( einer höheren Systemebene) untereinander
um die Ressourcen ihres Lebensraums. Erneut können unterschiedliche Wettbewerbskornmunikationen
(Recht des Stärkeren; Recht des Besitzenden) zum Einsatz kommen. Gleichfalls
kann es zur Nischenbildung und Konstruktion von Evolutionsräumen kommen.
(Ebd., S. 191). |
Mit den ... dargelegten
Prinzipien lassen sich auf einheitliche Weise sowohl die Evolutionen von biologischen
Phänomenen, Gesellschaften, Kulturen, ökonomischen Systemen als auch
Technologien beschreiben. Dabei werden alle evolutionären Prozesse letztlich
auf grundsätzliche Naturgesetze zurückgeführt, weswegen das zugrunde
liegende Evolutionsmodell auch mit den modernen naturwissenschaftlichen Vorstellungen
zur menschlichen Willensfreiheit als Illusion kompatibel ist. Eine Sonderstellung
des Menschen wird im Modell an keiner Stelle vorausgesetzt. Auch läßt
sich auf diese Weise beschreiben, wie Menschenrechte per Evolution entstehen und
welchen evolutionären Sinn sie haben. Ferner kann erklärt werden, wie
Informationen per Evolution zu ihrer Bedeutung (Semantik) gelangen. (Ebd.,
S. 193). Der weltanschauliche Hintergrund der Systemischen Evolutionstheorie
deckt sich mit den Vorstellungen der modernen Kosmologie und Physik zur Entstehung
des Universums, der Atome, Galaxien, Sterne, Planeten und Monde und zum Wes'en
der Zeit und der Evolution. Peter W. Atkins faßt ganz in diesem Sinne zusammen:
»Wir kämpfen darum, minderwertige Energie an die Umgebung loszuwerden
und Energie von hoher Qualität aus ihr herauszuholen. Im gewissen Sinne mindern
wir die Qualität der Außenwelt, um die unseres Innenlebens zu steigern.«
(Ders., Schöpfung ohne Schöpfer, 1984, S. 55).
(Ebd., S. 193). |