Anmerkungen: Metamorphose
bedeutet: 1) in der Geologie die Umgestaltung oder
Umwandlung eines Gesteins in ein anderes Gestein (vgl. Gesteinsmetamorphose);
2) in der Botanik die Wandlung eines Organs aus einer
andersartigen Anlage, zum Beispiel Dorn aus Laubblattanlage oder die Gestaltsumbildung
der drei Hauptorgane höherer Pflanzen (Wurzel, Sproßachse, Blatt)
infolge einer Funktionsveränderung; 3) in der
Zoologie die indirekte Entwicklung vom Ei zum geschlechtsreifen oder zum erwachsenen
Tier durch Einschaltung gesondert gestalteter (metamorphosierter) selbständiger
Larvenstadien (zu lat. larva = Geist, Maske, Gespenst), etwa die Wandlung
des jungen Tieres durch verschiedene äußere Stadien, ehe es die Form
des erwachsenen Tieres annimmt, besonders auffällig bei Bandwürmern
(als Larve: Blasenwürmer), Krebsen, Insekten und Lurchen (zum Beispiel: Ei,
Kaulquappe, Frosch). Man unterteilt die Metamorphose (Umgestaltung, Verwandlung
der Gestalt), die auch Metabolie (Umwurf, Verwurf) genannt wird, in verschiede
Typen: die vollkomene Verwandlung (Holometabolie), die unvollkommene oder halbe
Verwandlung (Hemimetabolie) mit den Formen Heterometabolie, Paläometabolie,
Neometabolie. Die Metamorphose hat besonders Goethe
sehr fasziniert, später auch Spengler,
der sich stark an Goethe anlehnte, den Begriff Metamorphose als Grundlage benutzte
und speziell die Pseudomorphose
als Theorem in seine Historiensicht einbaute: Historische
Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde Kultur so mächtig
über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht
zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen,
sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt.
(Oswald Spengler,
1918, S. 784). Vgl. mein Begriff der Heirat
(Ehe)
bzw. Schwangerschaft.
Pseudomorphose bedeutet Umbildung eines Minerals,
bei der die äußere Kristallform erhalten bleibt, die inhaltliche Substanz
aber verändert wird. Man unterscheidet: 1.) Paramorphose oder
Umlagerungs-Pseudomorphose, bei der durch Änderung von Druck und Temperatur,
aber bei Erhaltung der chemischen Zusammensetzung das Kristallgitter umgebaut
wird; 2.) Umwandlungs-Pseudomorphose, bei der der stoffliche Bestand
teilweise verändert, d.h. Stoff zu- oder/und abgeführt wird; 3.) Verdrängungs-
oder Ausfüllungs-Pseudomorphose, bei der der stoffliche Bestand vollständig
ausgewechselt wird; die neugebildeten Minerale werden auch als Afterkristalle
bezeichnet; 4.) Umhüllungs-Pseudomorphose oder Perimorphose,
bei der ein Kristall von einer anderen Substanz eingehüllt und dann völlig
herausgelöst wird, so daß nur ein Hohlraum zurückbleibt (negativer
Kristall). Was bei
Spengler
eine Pseudomorphose
heißt, nenne ich Heirat
(Ehe)
in der ersten Version und Schwangerschaft
in der zweiten Version, die den Anfang des neuen Lebens bildet. (Vgl.
22-24
und 0-2).
Ein Beispiel: Der Hellenismus war interkulturell eine Ehe und auch eine Schwangerschaft.
Auf zwei Jahreszeiten verteilt, die herbstliche, in der die Hellenen
führend waren, und die winterliche, in der die patristischen Christen
führend waren, wurde aus der antik gefälschten Form der magischen
Kultur eine magisch gefälschte Form der Antike, die am Ende der Schwangerschaft
wie eine Plazenta entsorgt wurde, als das Abendland zur Welt kam (vgl.
6-8), nämlich als eine schon vor oder während der Wintersonnenwende
(vgl. 22-24
und 0-2)
mit der genetischen Information genau dieser beiden Formen ausgestattete
Kultur.Oswald Spengler
(28.05.1880 - 08.05.1936), Der Untergang des Abendlandes, 1918 (Band I),
1922 (Band II).Seelenbild der Antike und Seelenbild
des Abendlandes sind gegensätzlich: apollinisch und faustisch;
ihre Ursymbole ebenfalls: Einzelkörper und Unendlicher Raum.
Wie ein Dogma gegenüber aller Erfahrung, gelten auch Seelenbild und Ursymbol
allgemein als unbeweisbar, deshalb sei hier darauf hingewiesen, daß der
Unterschied zwischen Antike und Abendland sogar am Beispiel Parallelenaxiom
deutlich werden kann: Euklid
hat in seinen Elementen (um 312 v. Chr.) die mathematische Entsprechung
für das antike Beispiel gegeben und Gauß
ca. 2112 Jahre später (um 1800) die für das abendländische.
Sie stehen - wie unzählige andere Beispiele auch - für einen metaphysischen
Mittelpunkt, um den eine Kultur kreist, während sie von Seelenbild und Ursymbol
angetrieben und angezogen wird. (Vgl. dazu auch das Germanentum).Magische
Kultur bedeutet ein dualistisches Seelenbild: Geist und Seele; ihr
Ursymbol ist die Welthöhle. (Vgl. Spengler,
1922, S. 847f.). Der in Spengler den Entdecker der magischen Nationen sehende
Sloterdijk
meint zum magischen Prinzip: Was die Weitergabegewalten zuletzt immer
über den Geist der Freisprüche siegen läßt, ist die Positivierung
der Versprechen und die Nationalisierung der Universalien. Eben dies ist das Prinzip
der magischen Nationen, die Oswald Spengler entdeckt und benannt hat - und die
man auch Taufnationen oder Religionsnationen nennen könnte. (Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen, zur Sprache kommen, 1988, S. 172f.).  Historismus
ist eine Erscheinung der Spätkultur, d.h. der wie auch immer in den Einzelkulturen
erscheinenden zivilisierten Moderne.
Die spätkulturellen Phasen (  )
sind immer historizierend - selbst in einer Kultur wie der Antike, die im Vergleich
zum Abendland doch als relativ ahistorisch gelten kann. Spätkultur
ist kultureller Herbst. (Bilder?).
Dem entsprechen sind ihre erwachsenen Denker Spätdenker.
(Vgl. Moderne-Gliederung).An
den 3 Bereichen EXOGEN, ENDOGEN, AUTOGEN lassen sich z.B. Analogien zur Entwicklung
im Uterus ablesen: EINNISTUNG ( ),
ORGANBILDUNG ( ),
(ORGAN)FUNKTION ( ),
und das gilt auch für alle späteren Sphären!Die
Prähominisierung
selbst kann in dieser 12³-Relation bisher nur in Relation zum
vierfachen Alter unseres heutigen Univerums gesehen werden, also zu der Zeit vor
dem Urknall,
zum Vorknall sozusagen. Wir wissen nicht, was genau vor dem Urknall
knallte; wir wissen auch nicht, wer genau als die Vorfahren der Hominoiden
- der Menschenartigen (Überfamilie für die Familien Menschenaffen,
Gibbons und Menschen) - anzusehen ist. Um dies herauszufinden, müßte
man fast das gesamte Känozoikum
wie seine Westentasche kennen. Die Geschichte der Prähominisierung
und die Geschichte unseres Universums lassen sich ähnlich schwer beschreiben
wie die Geschichte des Ungeborenen im Uterus
oder die Geschichte der Vor-/Urkultur.Homo
bedeutet vom Ursprung (lat. humus, Erdboden) her Irdischer.
Die Gattung Homo der Familie Hominidae und sogar noch die Überfamilie Hominoidea
stammt also auch sprachlich vom Erdboden ab. Die Irdischen stammen aus dem Mutterboden
namens Uterus oder sind auf ihn gefallen, d.h. auf die Welt gekommen. Wenn also
die Menschwerdung in einer Hülle begann, dann darf, wenn man
es ganz genau nimmt, das Wort Menschwerdung nicht mit Hominisierung
oder Hominisation übersetzt werden, sondern muß, weil es
die Prähominsierung miteinschließt und sogar noch die Sapientisierung
und Historisierung, anders (z.B. Prähominisierung-bis-Posthominisierung)
oder gar nicht übersetzt werden. Also noch mal: Menschwerdung ist Prähominisierung,
Hominisierung, Sapientisierung, Historisierung und endet mit dem Übergang
zu einer eventuellen neuen Menschwerdung (Neumenschwerdung).Revolution
ist kein progressives Voranschreiten (wie manche Ewiggestrige glauben
mögen), sondern eine Umdrehung und ein Zurückwälzen
(wie das lateinischen Wort revolutio verrät), um der Evolution (lat.
evolutio, Entwicklung, Entfaltung) das richtige Maß zukommen zu lassen.
Das Wort Revolution stammt aus der Astronomie - wie auch Präzession
und Nutation. Präzession heißt Vorangehen und Nutation kurz-,
aber auch langperiodische Schwankung im Vorangehen! (Vgl. Jahreszeiten).Johann
Wolfgang Goethe (28.08.1749 - 22.03.1832) Faust (Teil I), 1806, S. 27, Faust (II),
1831, S.113ff..Auf die vorhistorischen
Hominiden folgte der historische Hominide namens Homo sapiens sapiens,
auf den vormodernen Humanismus folgt der moderne Hominismus. Damit schließt
sich vorerst der Kreis. Schon im 13. Jahrhundert sollen Alchimisten erste Experimente
unternommen haben, um einen künstlichen Menschen im Reagenzglas zu erzeugen.
Goethe
ließ im 2. Teil des Faust den Famulus Wagner einen Homunkulus nach Anleitung
des Paracelsus erzeugen. Heute scheinen sich die Möglichkeiten zur Erschaffung
des Menschen konkretisiert zu haben. (Vgl. Genetik/Gentechnologie).Von
den 10 Mio. Indianern in den USA waren nach wenigen Jahrzehnten nur noch 2 Mio.
Indianer übrig. Sie wurden von den Weißen einfach ausgemerzt - nach
dem Motto: Endlsösung der Indianerfrage.Genetik
bedeutet also nicht nur Naturgenetik, sondern auch Kulturgenetik.
Als Technik scheint sie den Menschen von Anfang an begleitet zu haben.
Jedenfalls wird immer häufiger behauptet, daß alle Technik ursprünglich
- und die längste Zeit unbewußt - Treibhaustechnik und ipso facto
indirekte Gentechnik gewesen ist. Unter Perspektiven der Evolutionstheorie ist
die umweltdistanzierende Praxis der Vormenschen und erst recht der beginnenden
Menschen immer schon eine spontane Genmanipulation - Selbstbehausungstechnik mit
der Nebenwirkung Menschwerdung. (Peter Sloterdijk,
Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, 2001, S. 197).
Lichtung
ist, wenn man diesen Begriff so versteht, wie Martin Heidegger
(Sein und Zeit, 1927) ihn prägte, das Sein,
das desjenigen Seienden bedarf (das Dasein heißt),
um offenbar zu werden. Das Sein ist die Lichtung, das das
Seiende entbirgt, es erfaßbar macht. In dieser entbergenden
Funktion besteht nach Heidegger der Sinn vom Sein. Dieser
Sinn kann nur erscheinen im Da des menschlichen Daseins, d.h.
in der Erschlossenheit des Daseins durch die Stimmungen. Und:
Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe. (Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 105). Der Sinn des Daseins ist
es, das Sein als Lichtung alles Seienden - als Erfolgsraum mit Fenster
für Erfolgsbeobachtungen (für offensive Distanz, für Eingriffe
und Zugriffe auf Dinge durch die Technik bzw. Kunst) - als Möglichkeit
zu nutzen bzw. es geschehen zu lassen. In einem solchen Raum wird die
Möglichkeit der Zuhandenheit
gewonnen. Die Lichtung ist ... nicht ohne ihre technogene Herkunft
zu denken. (Peter Sloterdijk,
Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, 2001, S. 224). Man
kann weder unverwandt in die Sonne blicken noch in den Tod. Nach Heidegger
wäre hinzuzufügen, man kann auch nicht in den Menschen oder
in die Lichtung blicken. .... Heidegger regt an, daß man nicht nur
das anschaut, was im Licht liegt, sondern daß man darüber nachdenkt,
wie das Licht und die Dinge zusammenkommen, anders gesagt, man soll die
Lichtung als solche meditieren. Die Lichtung ist gleichsam der weltgebende
Blitz. .... Aber wer direkt in ihn schaut, wird geblendet. .... Die Menschen
... sollen den Blitz bedenken und sich in seinem Licht selber als die
Unheimlichen fürchten lernen. (Ist das eine Religion der Lichtung?).
Der Mensch kennt sich selber noch gar nicht, weil er noch nie richtig
nach sich selbst gefragt hat. .... Aber für Heidegger war klar, daß
sich die Seinsfrage durch die Macht- und Technikfrage hindurch stellt.
Und wie richtig das gesehen ist, bemerken wir erst heute daran, daß
die Spitzentechnologien in den »life sciences« sich daran
machen, die Codes des Lebendigen umzuschreiben. (Peter Sloterdijk
/ Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 113-114,
117-118). 
Nach
Heidegger
(26.09.1889 - 26.05.1976) entspringt das Sein aus dem Nichten des
Nichts, indem das Nichts das Seiende versinken läßt und
dadurch das Sein enthüllt. (Vgl. Sein
und Zeit, 1927). Das Nicht nichtet beständig in mir
- dieser Satz Heideggers weißt auf die innere Tatsache hin, daß ich
Sein nur erfassen kann, wenn ich gleichzeitig das Nichtsein (Nichts) denke, und
dies in der dialektisch gegenseitigen Verneinung, die ich als ein anhaltendes
Nichten in mir erfahre. In einem Film von Walter Rüdel und Richard Wisser
(Martin Heidegger - Im Denken unterwegs, 1975) ist Heidegger mit folgenden
Sätzen zu hören: Der Grundgedanke meines Denkens ist ja gerade
der, daß das Sein beziehungsweise die Offenbarkeit des Seins den Menschen
braucht und daß umgekehrt der Mensch nur Mensch ist, insofern er in der
Offenbarkeit des Seins steht. .... Man kann nicht nach dem Sinn fragen, ohne nach
dem Wesen des Menschen zu fragen. Die von Heidegger
begründete Existenzial-Ontologie heißt auch Fundamentalontologie,
weil sie das Fundament - das Bedenken des Seins - an die Ontologie liefert. (Vgl.
Existenzphilosophie).
Heidegger machte aus diesem Fundament deshalb eine Fundamentalontologie, weil
die Ontologie lediglich das Bedenken des Seienden als Seienden untersucht. Heidegger
kritiserte an der abendländischen Metaphysik, daß sie im Verlauf ihrer
Geschichte immer nur nach dem Seienden als Seienden gefragt habe; zwar habe sie
diese Frage aus der Offenbarkeit des Seins gestellt, aber die Offenheit des Seins
selbst sei nie ausdrücklich theamatisiert oder als solche bedacht worden.
Die entscheidende Erfahrung meines Denkens - und das heißt zugleich
für die abendländische Philosophie: die Besinnung auf die Geschichte
des abendländischen Denkens - hat mir gezeigt, daß im bisherigen Denken
eine Frage niemals gestellt wurde, nämlich die Frage nach dem Sein. Und diese
Frage ist deshalb von Bedeutung, weil wir im abendländischen Denken das Wesen
des Menschen dadurch bestimmen, daß er im Bezug zum Sein steht und existiert,
indem er dem Sein entspricht. (Heidegger, in: Walter Rüdel & Richard
Wisser, Martin Heidegger - Im Denken unterwegs ... [* Film], 1975).  Übrigens:
Voraussetzung für das SEIN als metaphysische Frage ist das Hilfsverb (Kopulativverb)
SEIN in der Sprache - in etlichen Sprachen, z.B. in den slawischen, war bzw.
ist dieses Hilfsverb nämlich nicht existent, also stellte bzw. stellt sich
dort auch nicht die Frage, was es bedeutet, daß ein vor Augen stehendes
oder ein als gewußt anwesendes Ding IST. Unterwegs
zur Sprache. Und das ist das einzige Geheimnis Heideggers ( ),
so der Heidegger-Übersetzer Jean Beaufret (in: Martin Heidegger - Im Denken
unterwegs ..., ein Film von Walter Rüdel & Richard Wisser, 1975):
Übersetzen ist für Heidegger kein Transport eines Pakets
aus einem Idiom zu einem anderen, sondern umgekehrt: ein Übersetzen
des Denkens selber durch einen Strom an das andere Ufer, nämlich zu dem,
was schon zur Sprache gekommen war. (Ebd.). Zuhandenheit
ist nach Heidegger
(Sein und Zeit, 1927) die Seinsart der menschlichen Beziehung zum Zeug
(Gegenstände für das alltägliche Besorgen, z.B. Strick-Zeug,
Näh-Zeug u.s.w.). Für die Zuhandenheit ist ihre Unauffälligkeit
charakteristisch, was zur Folge hat, daß sich ihr Wesen namentlich dann
enthüllt, wenn ein Werk-Zeug oder dergleichen nicht zuhanden
ist. Die Zuhandenheit steht im Gegensatz zur bloßen Vorhandenheit jener
Dinge, die uns direkt nichts angehen. In den Zeug-Analysen von Sein und
Zeit hat sich Martin Heidegger als erster Chirotopologe hervorgetan: Wir verstehen
darunter einen Interpreten des Sachverhalts, daß Menschen als Hand-Besitzer
und nicht als Geister ohne Extremitäten existieren. Am Heidegger-Menschen
ist Beobachtern aufgefallen, daß er kein Genital zu besitzen scheint und
wenig Gesicht - um so besser ist sein Ohr ausgebildet, um den Ruf der Sorge ( )
zu vernehmen. Am vorzüglichsten ist seine Ausstattung mit Händen, weil
Heideggersche Hände von einem Ohr, dem durch die Sorge eingesagt wird, von
Fall zu Fall erfahren, was zu tun ist: Von diesem Ganz-Ohr-ganz-Hand-Menschen
wird zum ersten Mal in der Geschichte des Denkens expressis verbis ausgesprochen,
daß ihm die dinglichen Mitbewohner der Welt, in der er lebt, zeugförmig
zuhanden sind. In Heideggers sorge-erschlossener Welt bildet Zuhandenheit
einen Grundzug dessen, was den Eksistierenden im Nähe-Bereich umgibt. Zeug
ist, was in der Reichweite der klugen Hand, im Chirotop, vorkommt: das Wurf-Zeug
( ),
das Schneide-Zeug, das Schlag-Zeug, das Näh-Zeug, das Grab-Zeug, das Bohr-Zeug,
das Eß-und-Koch-Zeug, das Schlaf-Zeug, das Ankleide-Zeug. Der Heideggersche
Mensch ist hinsichtlich all dieser Dinge im Bilde, welche Aufgaben durch sie seiner
Hand gestellt sind. Was wäre ein Kochlöffel, wenn er nicht den Befehl
zum Umrühren gäbe; was ein Hammer, wenn er nicht das Handlungsmuster
»wiederholt auf die Stelle schlagen« aufriefe? Die helle Hand
läßt sich das gegebenenfalls nicht zweimal sagen. Für den Ernstfall
kommt das Töte-Zeug hinzu, für den Nicht-Ernstfall das Spiel-Zeug, für
den Bündisfall das Schenk-Zeug, für den Unfall das Verbandszeug, für
den Todesfall das Bestattungszeug, für den Bedeutungsfall das Zeig-Zeug,
für den Liebesfall das Schönzeug. (Peter Sloterdijk, Sphären
III - Schäume, 2004, S. 364-365).An
erster Stelle ist das Wurf-Zeug zu nennen, weil es seinem stetigen Gebrauch zu
verdanken ist, wenn sich die Hominiden vom akuten Umweltdruck ein Stück weit
emanzipieren konnten. Indem die werdende Menschenhand, getragen von einem für
die Graslandschaft umgeformten ehemaligen Baumaffenarm, es lernt, zum Werfen geeignete
Objekte, in der Regel kleinere und handgroße Steine, aufzunehmen und nach
Bringern unwillkommener Begegnungen oder Berührungen zu werfen - seien es
größere Tiere, seien es fremde Artgenossen -, gewährt sie den
Hominiden zum ersten Mal eine Alternative zur Kontaktvermeidung durch die Flucht.
Als Werfer erwerben die Menschen ihre bis heute wichtigste ontologische Kompetenz
- die Fähigkeit zur actio in distans. Durch das Werfen werden sie
zu Tieren, die Abstand nehmen können. Aufgrund des Abstands entsteht die
Perspektive, die unsere Projekte beherbergt. Die ganze Unwahrscheinlichkeit menschlicher
Wirklichkeitskontrolle ist in die Gebärde des Werfens zusammengezogen. Daher
bildet das Chirotop das ursprüngliche und eigentliche Handlungsfeld, in dem
Akteure gewohnheitsmäßig ihre Wurfergebnisse beobachten. Hier kommt
ein Verfolger-Auge ins Spiel, das prüft, was die Hände zustande bringen;
Neurobiologen wollen sogar eine angeborene Fähigkeit des Gehirns nachgewiesen
haben, auf fliehende Objekte zu zielen. Das Chirotop ist eigentlich ein Video-Chirotop,
eine von Blicken überwachte Sphäre von Handlungserfolgen. Was Heidegger
die Sorge ( )
nannte, bezeichnet der Sache nach zuerst die aufmerksame Ungewißheit, mit
der ein Werfer prüft, ob sein Wurf ins Ziel geht. Treffer
und Fehlwürfe sind praktischer Wahrheitsfunktionen, die beweisen, daß
eine Intention in die Ferne zu Erfolg oder Mißerfolg führen kann -
mit einer unklaren Mitte für einen dritten Wert. Beim gelungenen Wurf wie
beim Fehlwurf gilt, daß Wahres und Falsches, die logischen Erstgeborenen
des Abstands, sich selber anzeigen. (Peter Sloterdijk, Sphären III
- Schäume, 2004, S. 366-367).Arnold Gehlen
(1904-1976) betrachtete den Menschen als das biologische Sonderproblem
(Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940, S. 9ff.),
untersuchte die morphologische Sonderstellung des Menschen (ebd.,
S. 86ff.) natürlich auch an der Wahrnehmung, Bewegung, Sprache
(ebd., S. 86ff.) und im Bezug auf Antriebsgesetze, Charakter, Geistproblem
(ebd., S. 327ff.). Er nennt im Kapitel Tier und Umwelt Herder
als Vorgänger (ebd., S. 73ff.) und sagt über Schopenhauer,
den Begründer der abendländischen Lebensphilosophie:
In der oben erwähnte Abhandlug 'Die Resultate Schopenhauers'
habe ich gesagt, daß Schopenhauer das allgemeine Schema der modernen Harmoniebetrachtung
von tierischer Organisation und Umwelt zuerst entworfen hat. Dies geschieht in
dem Kapitel 'Vergleichende Anatomie' der Schrift 'Über
den Willen in der Natur' (1836). Darin zeigt er die vollkommenene Harmonie
des Willens, des Charakters - also Trieb- und Instinktsystems - einer jeden Tierart,
seiner organischen Spezialisierung und seiner Lebensumstände, indem er von
der 'augenfälligen, bis ins Einzelne herab sich erstreckenden Angemessenheit
jedes Tieres zu seiner Lebensart, zu den äußeren Mitteln seiner Erhaltung'
spricht, wie 'jeder Teil des Tieres sowohl jedem anderen als einer Lebensweise
auf das genaueste entspricht, z.B. die Klauen jedesmal geschickt sind, den Raub
zu ergreifen, den die Zähne zu zerfleischen und zu zerbrechen taugen und
den der Darmkanal zu verdauen vermag, und die Bewegungsglieder geschickt sind,
dahin zu tragen, wo jener Raub sich aufhält, und kein Organ je ungenutzt
bleibt' - ... - Uexküll
(1864-1944) ... kam zu einer Ablehnung der naiven Vorstellung, die den Tieren
unsere Welt als ihre eigene zuschreibt, während in Wirklichkeit jede Art
ihre eigene artspezifische Umwelt hat, zu deren Bewältigung und Erfahrung
sie ein System spezialisierter Organe besitzt. Kennen wir die Sinnesorgane eines
Tieres, so können wir seine 'Umwelt' rekonstruieren. (Arnold Gehlen,
Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940, S.73f.). Gehlen
geht in seiner empirisch-philosophischen Anthropologie von der menschlichen Antriebsstruktur
aus, und weil die Sonderstellung des Menschen für ihn auf morphologischen
Primitivismen auf dem Fehlen sicherer Instinkte beruht, bedarf ein so entstehender
Antriebsüberschuß der Lenkung. Also auch einer menschenspezifischen
Häuslichkeit
!  Peter
Sloterdijk (*1947), Die Sonne und der Tod, 2001, S. 58-59. Sloterdijks
Menschenpark-Rede
(1999) führte übrigens zu einer öffentlichen Debatte, die erst
Ende 2000 zur Ruhe kam, aber in latenter Form noch heute andauert. Nicht die Rede,
sondern die Debatte ist der Skandal!
Sloterdijk ging in der Menschenpark-Rede der Frage nach, ob in der Lichtung
vielleicht doch mehr stattfindet als nur ein stilles Gewahrwerden der Welt als
Welt. Nach meiner Überzeugung haben die Menschwerdung im allgemeinen und
die Öffnung der Lichtung im besonderen etwas mit Domestikation zu tun, also
mit Verhäuslichung
von Homo sapiens. Die Menschwerdung ist als solche ein spontanes Selbstzüchtungsgeschehen
gewesen. Mit dieser Theorie wird der Blick auf die biologische Konstitution der
Gattung gelenkt, aber mehr noch, wie gesagt, auf deren kulturgeschichtliche Bedingtheit.
(Ebd., S. 59).  Bekanntlich
soll am Eingang zu Platons Akademie die Inschrift angebracht gewesen sein, es
möge sich fernhalten von diesem Ort, wer nicht Geometer sei. Eine zweite
Inschrift besagte, von diesem Ort sei ausgeschlossen, wer nicht bereit ist, sich
in Liebesaffären mit anderen Besuchern des Theoriegartens zu verstricken.
Peter Sloterdijk
(*1947) schrieb 1998, daß sein Zeichen, falls er es am Eingang zu seiner
Trilogie (Sphären)
anbringen sollte, so lauten würde: Es möge sich fernhalten, wer
unwillig ist, die Übertragung zu loben und die Einsamkeit zu widerlegen.
( ).
Für Sloterdijk speist sich auch das Denken der Philosophen aus den Überschüssen
der ersten Liebe. Das Denken ist für ihn vor allem ein Fall der Übertragungsliebe
zum Ganzen. Leider habe man sich, so Sloterdijk, im zeitgenössischen intellektuellen
Diskurs mit der Auffassung abgefunden, die Übertragungsliebe als einen neurotischen
Mechanismus zu charakterisieren. Diesem Mechanismus komme die Schuld zu, daß
echte Leidenschaften meist an falscher Stelle empfunden werden. Nichts hat
dem philosophischen Denken so geschadet wie diese klägliche Motivreduktion,
die sich zu Recht und zu Unrecht auf psychoanalytische Muster berief. Dagegen
muß man darauf bestehen, daß Übertragung die Formquelle von schöpferischen
Vorgängen ist, die den Exodus der Menschen ins Offene beflügeln. Wir
übertragen nicht so sehr unbelehrbare Affekte auf fremde Personen als frühe
Raumerfahrungen auf neue Orte und primäre Bewegungen auf ferne Schauplätze.
Die Grenzen meines Übertragungsvermögens sind die Grenzen meiner Welt.
(Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären I - Blasen -, S. 11-14)Peter
Sloterdijk
(*1947), Sphären I (Blasen), 1998; Sphären II (Globen),
1999; Sphären III (Schäume), 2004.Wenn
»es« den Menschen »gibt«, dann nur, weil eine Technik
ihn aus der Vormenschheit hervorgebracht hat. Sie ist das eigentlich Menschen-Gebende
... Technik, hat Heidegger
doziert, ist eine Weise der Entbergung. Sie holt Ergebnisse ans Licht,
die von ihnen selbst her so nicht und nicht zu dieser Zeit an den Tag gekommen
wären. .... Auf der Stufe des Satzes »Es gibt Information« verliert
das überlieferte Bild von Technik als Heteronomie und Versklavung von Materien
und Personen zunehmend seine Plausibilität. Wir werden Zeugen dessen, daß
mit den intelligenten Technologien eine nicht-herrische Form von Operativität
im Entstehen ist, für die wir den Namen Homöotechnik
vorschlagen. (Peter Sloterdijk,
Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, 2001, S. 225, 227, 228). Heidegger
hat sich ohne Zweifel in die Höhenlinie der europäischen Philosophie
eingetragen - vielleicht der einzige in unserem Jahrhundert, den man auf lange
Sicht in einem Atemzug mit Platon, Augustinus, Thomas, Spinoza, Kant, Hegel und
Nietzsche wird nennen dürfen. .... So umfassend, wie ein Religionsstifter
nach einem Heilsweg fragt, fragt Heidegger nach der Wahrheit über den Menschen.
Man versteht ihn besser, glaube ich, wenn man ihn mit Lehrern der zurückgezogenen
Weisheit wie Lao-Tse, mit indischen Denkmeistern wie Shankara und Nagarjuna oder
Religionsgründern wie Paulus, Mani oder Luther in eine Linie stellt.
(Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 102, 116-117).Sloterdijk
unterscheidet zwischen Allotechnik und Homöotechnik.
Nach seiner Definition ist Allotechnik die Technik der Vergangenheit und Gegenwart
und die Homöotechnik die Technik der Gegenwart und Zukunft. Alle Technik
ist bisher kontranatural gewesen, weil sie Prinzipien eingesetzt hat, die in der
Natur so nicht vorkommen, ... Technik war ... Allotechnik, das heißt auf
gegennatürliche Funktionen und abstrakten Geometrien aufgebaute Mechanik.
... Jetzt ist zum ersten Mal die Schwelle erreicht, wo die Technik anfängt,
eine natürliche Technik zu werden - Homöotechnik statt Allotechnik.
(Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 134-135). Wir haben es demnach heute mit einem Paradigmenwechsel zu tun,
einem Paradigmenwechsel in den Basisideen der Technik. .... Es scheint,
daß wir zum ersten Mal an der Schwelle zu einer Form von Technologie stehen,
die weit genug entwickelt sein wird, um radikal auf Naturnachahmung umstellen
zu können. Das läßt sich an der Gentechnologie zeigen ....
(Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 329).Peter Sloterdijk
ist sich sicher, daß die Neotenie-Hypothese
und verwandte Theorien in der aktuellen paläobiologischen Diskussion
nicht so sehr deswegen auf Eis gelegt wurden, weil sie widerlegt oder überzeugend
ersetzt worden wären, sondern weil man weitgehend verlernt hat, die Fragen
zu stellen, auf welche die Neotenie die Antwort ist. (Peter Sloterdijk,
Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, 2001, S. 176). Sloterdijk
ist sich ebenso sicher, daß die physische Geburt
des Menschen (zur Welt kommen) das Gegenteil eines Zurweltkommens ist: es
ist das Herausfallen aus allem 'Bekannten', ein Sturz ins Unheimliche, ein Sichausgesetztfinden
in einer nicht geheuren Lage. (Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik
der politischen Kinetik, 1989, S. 174f.). Die Antike
sprach haüfig von den Sterblichen, der abendländische Sloterdijk
spricht lieber von den Geburtlichen. Wohlwissend, daß Kynismus
ein Verismus ist, stellt er den Allsatz über die Menschen und die Geburt
auf: Alle Menschen sind geboren. Sokrates ist ein geborener Geburtshelfer.
Also ist Sokrates ... ein Geburtlicher. Sloterdijks Syllogismus
macht den Sterblichen durch eine kleine große Differenz
(nämlich durch den Untersatz: Sokrates ist ein geborener Geburtshelfer) zu
einer Sondermenge in der Menge der geborenen Sterblichen .... (Peter Sloterdijk,
Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 21, 98, 141). - Was den
Unterschied zwischen Zur-Welt-Kommen und Zurweltkommen
betrifft, so meine ich, daß man aus der entwickelten Spanne (Ausbau der
Infantilität bzw. Juvenilität) zwischen Frühgeburtlichkeit
und Erwachsenen-Spätgeburtlichkeit
(durch den Aufschub des Erwachsenseins bedingt) auch bedeutsame Konklusionen für
die Kulturgeschichte ziehen und feststellen darf, daß genau wegen dieser
Zeit- und Raumspanne die menschlichen Kulturen erst geboren werden können,
indem sie ihre Kultursymbolik suchen (vor dem Zur-Welt-Kommen) und
dann finden, wenn sie zu ihrer Sprache kommen (nach dem Zur-Welt-Kommen).
Erst nach diesem Zur-Sprache-Kommen wird der (lange) Weg zum Zurweltkommen
für die Kulturen frei. Das Neu-Sich-Ausdehnen (= Neotenie) ist sozusagen
der Raum-Zeit-Mechanismus für die Menschwerdung,
menschliche Kulturwerdung als Welterzeugung.
Das Metawerkzeug Kultur hat in seiner Gesamtheit die Wirkung eines Brutkastens,
in dem ein Lebewesen chronisch das Privileg der Unreife genießen darf. Seit
Julius Kollmann heißt die biologische Grundlage dieses Effekts Neotenie.
Dank der Körperausschaltung (Distanz)
ist ein Lebewesen entstanden, das es sich leisten kann, in seiner
biologischen Ausstattung pluripotent, unspezialisiert, langfristig unreif und
lebenslang juvenil zu bleiben - und all dies, weil die unvermeidliche Anpassung
an den Umweltdruck vom Körper auf die Werkzeuge verschoben wurde. (Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 368).Peter
Sloterdijk:
Für den Eintritt in die menschenbildende Situation ist das Zusammenwirken
von vier Mechanismen vonnöten, deren Ineinandergreifen früh zu bizarren
Kreiskausalitäten führt. Nach Sloterdijk gibt es noch einen (fünften)
synthetisierenden Mechanismus, und zwar (wie bereits erwähnt) den der
Zerebralisation und der Neokortikalisierung, ... weil er in gewisser Weise die
Auswirkungen der ersten vier Mechanismen in einem sich eigens hierfür steigernden
Organ synthetisiert. Die Mechanismen sind:(1)
Mechanismus der Insulation

(2)
Mechanismus der Körperausschaltung

(3)
Mechanismus der Pädomorphose
bzw. Neotenie 
(4)
Mechanismus der Übertragung (unterwegs zur Sprache)

(5)
Mechanismus der Zerebralisation
und Neokortikalisierung

Keiner von diesen könnte
für sich allein genommen die Hominisation
oder gar das Heraustreten in die Lichtung
motivieren, aber in ihrer Synergie wirken sie wie ein Fahrstuhl in die menschliche
Ekstase. (Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach
Heidegger, 2001, S. 175-176).Pädomorphose
bedeutet, daß viele Tiergruppen ihre Merkmale nicht von den erwachsenen
Exemplaren, sondern von den Larven fernerer Vorfahren herleiten. Damit ist
die Haeckelsche Rekapitulationstheorie widerlegt oder zumindest eingeschränkt;
nach der Theorie der Pädomorphose werden nicht die früheren Stufen einer
evolutionären Reihe embryonal wiederholt, es werden im Gegenteil die ausgewachsenen
Stammformen im Lauf der Evolution ausgeschaltet, während die larvalen Formen
die Autonomie erlangen. Der Mechanismus der Pädomorphose bzw. der Neotenie
bezeichnet, so Sloterdijk, die progressive Verkindlichung und Retardierung
von Körperformen. (Peter Sloterdijk,
Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, 2001, S. 175). Vgl. Geburtliche.Allgemein
bezeichnet Neotenie
die Vorverlegung (Progenese) der Geschlechtsreife in Jugendstadien. Der
Eintritt der Geschlechtsreife in jugendlichem bzw. larvalem Zustand erfolgt also
vor Erreichen des Erwachsenenstadiums. Der Begriff Neotenie (Progenese)
wurde 1885 von dem Evolutionsbiologen Julius Kollmann geprägt, um die Verlängerung
und Stabilisierung von juvenilen (jugendlichen) Formen bis in die geschlechtsreifen
oder erwachsenen Zustände zu bezeichnen. Der Mechanismus der Pädomorphose
bzw. der Neotenie bezeichnet, so Sloterdijk, die progressive Verkindlichung
und Retardierung von Körperformen. (Peter Sloterdijk, Nicht gerettet.
Versuche nach Heidegger, 2001, S. 175). 1926 sprach Louis Bolk öfter
von Fetalisierung als von Neotenie; er meinte damit die phänotypische Festhaltung
juveniler oder sogar fötaler Bildungen. Adolf Portmann (1897-1982) setzte
den Akzent mehr auf die zeitlichen und mentalen Aspekte der menschlichen Frühgeburtlichkeit
als auf die morphologischen Manifestationen der Neotenie. Er modifizierte somit
das auf Bolk zurückgehende Fötalisations-Theorem. (Vgl. Peter Sloterdijk,
Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, 2001, S. 189). Das Problem der
Menschwerdung ist auch ein Problem der Kulturwerdung, v.a. der Kulturgeburt.
Auch das noch: neben der riskanten Vorverlegung des Geburtenzeitpunkts geht ein
sehr langer Aufschub
der Erwachsenwerdung einher! Es gibt also auch eine Erwachsenen-Spätgeburtlichkeit
! Kindliche Frühgeburt und erwachsene Spätgeburt - Voreile und Aufschub
- schaffen Raum und Zeit für die menschliche Kultur, ja machen sie eigentlich
erst möglich. Alle spezifischen Kulturen zeichnen sich hauptsächlich
durch die Phasen von Frühkultur (  )
und Hochkultur (  )
aus, weil sie ja in den Phasen der Vor-/Urkultur (  )
noch zu abhängig und in den Phasen der Spätkultur (  )
schon zu unabhängig sind!  Eines
der vielen Symbole für die ökonomisch-technische Mobilität der
Moderne ist die Kraftmaschine; diejenige Maschine, die eine gegebene Energieform
in nutzbare Bewegungsenergie (mechanische Antriebskraft) umwandelt und die seit
der Industriellen
Revolution aus dem Leben der Menschen nicht mehr wegzudenken ist. Die
allgemeine Bezeichnung für die Kraftmaschine ist der Motor (Beweger).
Dieser Beweger wurde bekanntlich bald zum Beweger des Selbstbeweglichen:
zum Motor des Automobils. Wenn man sich einen Kulturkreis als ein Automobil vorstellt,
dann fällt auf, daß es auch hier entbehrliche und unentbehrliche Autoteile,
technisch notwendige Funktionsteile und künstlerische geschmacksabhängige
Luxusteile gibt. Seitdem das erwachsene Abendland das Haus Europa
bauen will, sollte die Frage erlaubt sein, ob ein solches Haus überhaupt
ökonomisch (oíkos, Haus; nomíã,
Hüter, Verwalter) sinnvoll ist und wenn ja, wer die Rolle der Haushütung
oder Hausverwaltung überhaupt zu leisten imstande ist. Primär
geht der Weg einer (Ur) Kultur immer über die Ökonomie, Technik, Kunst
bis zur Neukultur. ( ).
Wenn das moderne Haus Europa ein Automobil ist, dann
ist seine Leistung abhängig von seinem Motor
(Deutschland). Zwischen dem Motor und dem Getriebe
(Frankreich) gibt es eine kraftschlüssige Verbindung: die Kupplung
(Alte EWG als Montan-Union ).
Europas Automobil hat selbstverständlich auch eine Bremse
(Rest-Europa), die jedoch zunehmend blockiert (Neu-Europa).
In aller Voreile ist ihm ein Euro-Tank (Zentralbank Frankfurt) eingebaut
worden, aber wenn Europas Kraftfahrzeug wirklich modern sein soll,
dann braucht es eine absolut funktionstüchtige Batterie
(Exekutivorgan), einen neuen Kühler (Justizorgan), ein besseres Fahrgestell
(Legislativorgan) mit zwei Achsen (vorn(außen), hinten(innen)) zur Aufhängung
der vier Räder
(Kultur, Ökonomie, Technik, Kunst), ein Ersatzrad
(Neu-Kultur), eine Servo-, d.h. durch deutschen Öldruck
verstärkte Lenkung
(Medien), eine mehr dem europäischen Klima entsprechende Karosserie
(Militärwesen). Tatsächlich aber weist das europäische Fahrzeug
mehrere technische Mängel auf, und die Luxusausstattung ist zu aufgemotzt,
einiges ist sogar unzulässig, z.B. die unter der Ablage verstaute Anlage
(Schweiz), anderes eine billige Kopie, z.B. die am Lenkrad angebrachten Sterne
(USA) und das riesige Schiebedach (Vatikan).Die
Montan-Union
entstand als Ausgeburt der Résistance in Frankreich aus Angst
vor der Weltmacht Deutschland: Robert Schuman (1886-1963), der im September 1940
nach Deutschland deportiert worden war, floh 1942 und schloß sich der Résistance
an. Auf ihn geht der sogenannte Schuman-Plan zurück, der 1950 verkündet
wurde und die Bildung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
(EGKS) wesentlich förderte. Ziel
des Schuman-Plans war es, durch die Bildung eines gemeinsamen Marktes für
Kohle und Stahl, durch Ausweitung der Grundproduktion von Kohle und Stahl zum
Fortschritt der Werke des Friedens beizutragen. Dies ist lediglich eine
freundschaftliche Umschreibung der eben erwähnten Angst. Deutschlands Kohle
und Stahl, vor denen die Welt so lange gezittert hatte, waren von nun an auch
Kohle und Stahl von Frankreich, Italien, Belgien, Holland und Luxemburg. Deren
Beteiligung an der Kontrolle über Wohlstand und Frieden war die Umwandlung
der Angst vor der Weltmacht Deutschland in einen Wohlstand und Frieden antreibenden
Wirtschaftsmotor Deutschland. (Vgl. Automobil
Europa und EWG, EG
EU,
Euro,
Europas
Untergang per Vertrag).      Die
Montan-Union
ist die seit der auf der Grundlage des von den 6 Ländern Deutschand (West),
Frankreich, Italien, Niederlande, Belgien, Luxemburg am 18.04.1951 in Paris unterzeichneten
Vertrages EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) heißende,
seit den von denselben 6 Ländern am 25.03.1957 in Rom unterzeichneten Verträgen
EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) heißende und seit dem am
07.02.1992 in Maastricht von denselben 6 Ländern und 6 weiteren, in
der Zwischenzeit beigetretenen Ländern (1973 Dänemark, England, Irland;
1981 Griechenland; 1986 Spanien, Portugal) unterzeichneten Vertrag EU (Europäische
Union) heißende Vereinigung europäischer Staaten. Diese EU der 12 ist
seit 1995 durch den Beitritt von Österreich, Schweden und Finnland zur EU
der 15, seit 2004 durch den Beitritt von Malta, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn,
Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Zypern zur EU der 25, seit 2007 durch
den Beitritt von Rumänien und Bulgarien zur EU der 27 angewachsen. ( ).
Im Grunde wurde hier das von Deutschland schon in der Wilhelminischen Ära
angestrebte Europa-Projekt angestrebt - damals wurde es als Imperialismus gedeutet,
was es aber gar nicht so sehr war, heute wird es nicht als Imperialismus gedeutet,
was es aber um so mehr als früher ist. Das heutige Europa-Projekt ist also
ein Projekt des Neo-Wilheminismus. Hier und heute wird (wenn auch erfolglos, so
doch um so schlimmer) versucht, den Wilhelminismus zu überbieten - wobei
sogar noch betont werden muß, daß der Wilhelminismus humanitärer
war als der Neo-Wilhlminismus es je sein kann. Es sind vor allem die militärischen
Gründe, die z.B. den Neo-Wilhelministen Joseph Fischer (Deutschlands Außenminister
von 1998 bis 2005) veranlassen, die EU-Aufnahme der Türkei, in der immer
noch gefoltert wird, zu fordern. (Vgl. hierzu auch das Trojanische
Pferd in der EU). Das ist ganz im Sinne der USA. Und Fischer ist nur
einer unter den vielen träumenden Michel-Politikern ( )
! (Vgl. auch: Automobil
Europa und Eurosowie
Europas
Untergang per Vertrag; im Überblik:
   ).
- Außerdem ist die Dringlichkeit einer EU-Reform
längst erkennbar. Und bei dieser Reform muß endlich auch der Tatsache
Rechnung getragen werden, daß Deutschland nicht Europa, aber Europa Deutschland
braucht. Ohne Deutschland ist Europa tot, ohne Deutschland geht in Europa gar
nichts, ohne sein pumpendes Herz
( )
ist der Organismus namens EU nicht mehr lebensfähig, nur noch ein toter Körper,
und bald auch gar kein Körper mehr. Deutschland ist mit riesigem Abstand
größter Nettozahler
- und bekommt selbst höchstens 16% und meistens sogar weniger als 10% seiner
Einzahlungen wieder zurück, das heißt: von mindestens 84% und meistens
sogar mehr als 90% der Einzahlungen Deutschlands lebt der ganze Rest der EU.Das
Getriebe Frankreich ist das Gefüge von Maschinenteilen
zur Übertragung oder Veränderung von (meist rotierenden) Bewegungen.
Für das Automobil Europa ist das Getriebe zwar nicht so wichtig
wie der Motor
(Deutschland), aber als die USA 2003 den Irak-Krieg durchsetzten, wurde deutlich,
wie Sand ins Getriebe kommen kann: Bestraft Frankreich, ignoriert
Deutschland, ...!, riet US-Verteidigungsminister Rumsfeld
im März 2003 und meinte Alt-Europa,
das den Irak-Krieg strikt ablehnte, während Neu-Europa
die Absichten der USA unterstützte.  Die
Kupplung (zu lat. copulare, zusammenbinden, verbinden)
besteht aus der Ur-EU:
Deutschland, Frankreich, Holland, Belgien, Luxemburg und Italien. Als Europäische
Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montan-Union)
wurde sie am 18.04.1951 gebildet und durch die E.W.G.-Verträge vom 25.03.1957
(Römische Verträge), die am 01.01.1958 in Kraft traten, zur Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft ausgebaut. Sie entstand also aus Angst vor der Weltmacht
Deutschland. Somit ist die EU im Grunde ein ganz besonders paradoxes Phänomen.
Schon am Ende des 2. Weltkrieges hatte man sich deshalb auch über wirtschaftliche
Maßnahmen gegen Deutschlands Wiederaufstieg zur Weltmacht gemacht. Um Deutschlands
gigantische Wirtschaftskraft zu binden, d.h. sie auf andere Staaten zu übertragen,
setzte sich der Gedanke einer Wirtschaftsgemeinschaft genauso durch wie zuvor
schon der einer Verteidigungsgemeinschaft (NATO),
um Deutschland militärisch zu binden. (Vgl. auch Alt-Europa).Die
Lenkung ist eine Funktion der Medien,
der Meinungsmacher (Funk(ak)tionäre).
Meinungsmacher haben jedoch einen anderen Lenker als der durchschnittliche
Autofahrer. Eine auch für das Haus Europa gültige moderne Servo-Lenkung
müßte anders aussehen als die noch aktuelle. Die europäische Lenkung
müßte tatsächlich eine Unterstützung erfahren,
was bedeuten würde, daß sie nicht mehr so sehr von außen,
sondern von innen, also aus Europa selbst heraus, unterstützt
würde.Batterie
(Exekutive), Karosserie (Militärwesen) und Bremse
(Rest-Europa) stellen das Hauptproblem für das Automobil Europa
dar. Die Batterie ist zu weit außen angebracht und eher als
angloamerikanische Batterie zu bezeichnen. Eine solche Batterie gleicht
nämlich mehr der Kommandostruktur der NATO
als derjenigen Europas, denn eine funktionierende EU-Batterie
gibt es (noch) gar nicht, weil die EU bis heute darauf verzichtet hat; sie fährt
lieber blind und ohne Stromquelle, d.h. ohne elektrochemische
Elemente, obwohl sie von der Umwandlung chemischer Energie in
elektrische Energie mittlerweile überzeugt sein müßte.
Solange sie aber hierauf verzichtet bzw. sich von außen kommandieren
läßt, ist ihr Kraftfahrzeug auch nicht auf dem technisch
aktuellen Stand, sondern lediglich ein Protz ökonomischer Energie,
die sich in politische Energie nicht umwandeln läßt. Die
Karosserie scheint nur dazu da zu sein, daß sie die Batterie schützt,
nicht aber das gesamte Automobil, denn Europas Militär dient
(im wahrsten Sinne des Wortes) der NATO und nicht der EU, und zwar nicht wegen
der Allianz an sich - die ist in Ordnung -, wohl aber wegen der Kommandostruktur.
Die europäische Batterie befindet sich also außerhalb des Fahrzeugs.
Die USA besitzen bekanntlich mehrere ferngesteuerte Kleinfahrzeuge
- und England hätte auch gern eines (!). Und daß die Bremse blockiert,
ist nun wirklich kein Wunder. (Vgl. Neu-Europa).
Die ohnehin unzuverlässige Lenkung
(Medien) wird dadurch noch mehr den Außenbedingungen ausgesetzt, d.h. unmöglich
für das Innen. Fahrlässigkeit ist demzufolge das
angemessenste Wort für den derzeitigen politischen Zustand Europas.Ein
Zylinder ist ein Hohlkörper und u.a. dadurch gekennzeichnet, daß sein
Innenraum (Zylinderbohrung) im Zusammenwirken mit dem sich hin- und herbewegenden
Kolben die Energieumsetzung ermöglicht. Zylinder, Kolben und Zylinderkopf
(auch: Zylinderdeckel) bilden den infolge der Kolbenbewegung veränderlichen
Arbeitsraum der Kolbenmaschine (Arbeitszylinder). Die Zylinderkopfdichtung dichtet
Zylinderkopf und Zylinder ab. Der Kolben, das zylindrische Maschinenteil, nimmt
die treibende Kraft unmittelbar auf. Wenn also der europäische Motor
Deutschland sich auch weiterhin seine 16 Zylinder (Bundesländer) leisten
will, aber die 16 Kolben (Bundesratsvertreter) und ihre Hin- und Herbewegungen
(scheinbar unendliche Wahlkämpfe u.s.w.) aus berechtigten Gründen als
Blockaden empfindet, dann ist es nur eine Frage der Zeit, wann genau
die irreversiblen Schäden auftreten: Kolbenfresser politischer
Form entstehen durch Übertreibungen jedweder Art, z.B. durch Hyper-Subsidiarität,
Hyper-Föderalismus, Hyper-Bürokratie, Hyper-Demokratie, Hyper-Lobbyismus,
Hyper-Quotenregelung und andere destabilisierende Spätmodernismen.
Die den Deutschen auferlegte Überverteilung ist nicht nur für
Deutschland selbst ein großes politisches Risiko - allerdings ist diese
auferlegte Kleinstaaterei auch nur Deutschland vertraut: seit 1648 (Westfälischer
Friede)!Aus dem Weltmachtskrieg
(1. und 2. Weltkrieg) gingen die USA als Sieger hervor und bauten ihre Position
seitdem auch im Kognitions-Krieg
ständig aus. Hierbei handelt es sich in erster Linie um einen geo-ökonomischen
Krieg, dessen Wettrüsten sich besonders auffällig in den Konsequenzen
aus dem Willen zur Benachteiligung desjenigen Gegners äußert, der über
den Weg des kognitiven Wettbewerbs geo-ökonomisch vernichtet
werden soll. ( ).
Mit anderen Worten: Karthago wird zerstört, ob es will oder nicht. Schon
Churchill wußte, wovon er sprach, als er drohte: Wir werden Deutschland
den Krieg aufzwingen, ob es will oder nicht. Daß jedoch am Ende
England selbst seine Weltmachtrolle an die USA abgeben nußte, hat er zu
spät berücksichtigt. Und heute? Waren die Begründungen, die
die USA z.B. für den Krieg gegen den Irak vorbrachte, nicht ähnlich
? (Ich will hier nichts verurteilen, sondern Analogien feststellen!): Karthago
hatte noch die Wahl, als es um den 1. und 2. Punischen Krieg ging, aber als es
um den 3. Punischen Krieg ging, hatte es keine Wahl mehr, sondern war auf das
Wohlwollen Roms angewiesen. Goodwill brauchen nicht nur diejenigen, die
einen militärischen Konflikt zu befürchten haben, sondern immer mehr
auch diejenigen, die im kognitiven Wettbewerb einem geo-ökonomischen Krieg
nicht aus dem Weg gehen können. Wenn Europa nicht zum kognitiven Karthago
werden will, dann muß es in baldiger Zukunft seinen Motor
Deutschland (Herz
Europas) unterstützen und nicht, wie gewohnt, ins Kreuzfeuer nehmen
- herzzerreißend. Man kann den Untergang des Abendlandes auch
beschleunigen, und das Abendland ist, wie sein Herz, alt geworden.Mit
Europa ist Deutschland als Motor
gemeint, und wenn die Europäer auf Europa setzen, dann natürlich auf
ALLES: Deutschland ist nicht alles, aber ohne Deutschland ist alles nichts - das
müßte das Motto der Europäer sein, wenn sie den geo-ökonomischen
Weltkrieg nicht auch noch verlieren wollen. ( ).
Der Motor Deutschland braucht keine angeberischen 16 Zylinder
(Bundesländer), sondern einen (nicht-föderalen) Zylinderkopf,
der nur 4 Zylinder (früher: Franken, Sachsen, Schwaben, Bayern) jeweils abschließen
und mit den dazugehörigen (sich hin- und herbewegenden) 4 Kolben
den wirksamen Arbeitsraum der Kolbenmaschine bilden muß, den
das Automobil Europa auch tatsächlich als Optimum benötigt.
In ihrer Geschichte haben Europäer sich durch ihren inneren Zwist so aufgerieben,
weil sie keine Führungsnation duldeten, aber dabei nicht merkten, wie eine
außenstehende (in Übersee aktive) Nation ihren Willen lenkte:
Englands damaliges Interesse ist spätestens seit dem 2. Weltkrieg auf die
USA übertragen worden. Ob
die Äußerungen des US-Verteidigungsministers Rumsfeld (Januar 2003)
zu Alteuropa reine Rhetorik waren oder nicht; ob damit der u.s-amerikanische
Angriffskrieg auf den Irak durchgesetzt, ein Kriegsverbrechen wieder einmal vertuscht
werden sollte oder nicht: Rumsfeld, der Alteuropa offenbar die Bündnistreue
absprechen wollte, bezog sich jedenfalls hierbei auf einen geographischen Raum,
der in zweifacher Hinsicht verstanden oder auch mißverstanden werden könnte:1)
Das alte Europa ist nicht das neue Europa. 2) Das alte NATO-Europa ist nicht
das neue NATO-Europa. Der Begriff Alteuropa hat außerdem
zwei verschiedene Bedeutungen, weil er sich einerseits auf die antike, andererseits
auf die abendländische Kultur beziehen kann. Für die Antike gilt ein
anderes kulturelles Zentrum als für das Abendland; die geographischen Bezüge
sind zwei zu unterscheidende. Wer heutzutage von Europa spricht und
sich ausschließlich auf eine noch existierende Kultur bezieht, der kann
nicht das antike, sondern nur das abendländische Europa meinen. So gesehen
bezieht sich Alteuropa (als nicht-rhetorisches Mittel!) auf die Frühzeit
des Abendlandes, z.B. auf dessen Geburt
und damit primär auf den deutsch-französischen Raum, den das Reich Karls
des Großen erstmals als Einheit umfaßte. Sicheres Stehvermögen
erlangte das Abendland durch Deutschlands Sachsen-Kaiser, insbesondere seit 962,
als Otto
I. zum Kaiser gekrönt wurde.Die maßgeblichen
europäischen Mächte unternahmen immer neue Anläufe, ein Reich nachzuspielen,
das ihrer politischen Phantasie als unverlierbares Paradigma vorgeordnet
blieb. So könnte man geradezu sagen, daß Europäer ist, wer
in eine Übertragung des Reiches verwickelt wird. Dies gilt besonders für
Deutsche, Österreicher, Spanier, Engländer und Fransosen ....Der
Ausdruck 'translatio Imperii' ist also nicht nur eine mittelalterliche fixe Idee;
er bedeutet mehr als die staatsrechtliche Konstruktion, mit der die sächsischen
Kaiser nach der Krönung Ottos I. im Jahre 962 ihre Herrschaftsprogrammatik
vortrugen; es ist nicht weniger als die ideo-motorische oder mytho-motorische
Zelle aller kulturellen, politischen und psychosozialen Prozesse, aus denen
die Europäisierung Europas hervorgegangen ist.Europas
traumatische Lektion lag ohne Zweifel in der Demütigung durch seine Befreier.
Erst durch die Ereignisse von 1945 ist Europa wirklich zu dem geworden, was es
nach der Entdeckung des neuen Westens durch Kolumbus in geographischer Hinsicht
schon früher, zumindest dem Namen nach, geworden schien: Alte Welt.Daher
ist 1917 das Schlüsseljahr, in dem die europäische Mythomotorik zu stocken
begann.Peter Sloterdijk,
Falls Europa erwacht, 1994, S. 34, 15, 13, 40 |