Spenglers
Aufforderung an die Denker, das seltsame Gehäuse wahrzunehmen wie zum
ersten Mal, impliziert die Zumutung an die Intelligenz, einen Standort außerhalb
der städtischen Erbaulichkeit, Wohnlichkeit und Verwöhnung zu
wählen. Eben dies haben bisherige Urbanisten und Stadthistoriker, benommen
von urbanen Sitten und vom gedanklichen und zivilisatorischen Komfort ihres
Objekts, fast durchweg zu tun versäumt. Was Städte ursprünglich
sind und wollen, läßt sich nach Spengler
nur verstehen, wenn die Städter par excellence, die Philosophen,
sich außerhalb der Mauern stellen und die Erscheinung Stadt meditieren,
als hätten sie an deren Bergungskaft und ihrer Verführung noch
keinen Anteil. Die Stadt denken heißt folglich zunächst: die
Verwöhnung durch die Stadt rückgängig machen und sich der
Blendung durch ihre Selbstdeutungen entziehen. Weil gerade die mächtige
Stadt immer auch eine Organisationsform des Wirklichkeitsverlusts oder des
losgelösten Verfügens über Materialien und Zeichen ist, können
Städter, die nichts als Städter sein wollen, die Bedingungen ihrer
eigenen Möglichkeit und Wirklichkeit nie zureichend verstehen.
Ein Gestalt-Historiker Spenglerschen
Typs, der die Stadt als von Grund auf erstaunliche Erscheinung betrachtet,
müßte ein Phänomenologe sein, der die begnadete Angst
eines Denkens von außen auf sich nimmt - hierin ist Spengler
der unmittelbare Vorgänger von revolutionären Strukturhistorikern
wie Foucault, Deleuze und Guattari. Wenn er vorschlägt, sich zurückzuversetzen
in das Staunen des Frühmenschen, der das unfaßbare Riesengehäuse
mit seinen Mauern und Türmen am Horizont aufragen sieht, so folgt
er der Intuition, daß die Wahrheit über alles, was im äußeren
Raum erscheint, nur durch eine initiatische Raum-Angst erfahren werden
kann. Diese Angst schlägt die Brücke zwischen archaischer Welt
und Moderne, weil sie den zu keiner Zeit ganz absorbierbaren Überschuß
der Ekstase über die Geborgenheit bezeugt. Wird dieser Überschuß
für die Theorie fruchtbar gemacht, so liegt das Feld des genuin modernen
Denkens offen. In dem Maß, wie Spengler
aus diesem Überschuß oder dieser Ekstase - man könnte
auch schlichter sagen aus dieser Unsicherheit - denkt, ist seine Zugehörigkeit
zum Abenteuer des wesenhaft zeitgenössischen Denkens unbestreitbar.
Die Sehkraft, die er in seiner Kulturen-Phänomenologie aufbietet,
entstammt der Erfahrung entsicherten Existierens in einer überdehnten,
nie mehr im ganzen heimatlich verklärbaren Welt. Spenglers
Morphologie der Weltgeschichte hat ihr philosophisches Momentum in einer
Theorie der schöpferischen Raum-Angst, die den Menschen der Hochkulturen
eine Offenbarung der dritten Dimension als »Tiefe«, das heißt
als Herkunftsraum des Unumgänglichen, gewährt. Der kühle
Morphologe und sein Schatten, der dem verstörten Urmenschen ähneln
will, sollen sich einig werden in einem Staunen, das in Wahrheit ein Nicht-ganz-glauben-
Können, ein Entsetzen ist. Tatsächlich, was wäre eine mit
Urmenschen-Augen angeschaute Stadt vom Typus der mesopotamischen Gott-
Königs-Metropolen anderes als eine Erläuterung zu der These,
daß in den Hochkulturen das Ungeheure als Menschenwerk in Erscheinung
tritt? Und was sind diese Gehäuse von seltsamster Form, von
außen gesehen, anderes als Bergungsmaschinen, mit denen Menschen
ihre spezifische Offenbarung von Weltangst abgearbeitet und ihrem Willen
zum Nicht-außen-Sein monströse Denkmäler errichtet haben?
Spenglers
Schritt zurück vor die Stadt hat also nichts zu tun mit neuzeitlicher
Zivilisationskritik, auch nichts mit dem anti-babylonischen Ressentiment
der Juden, das von den Christen kopiert wurde und seit der Marginalisierung
des Christentums als anonymes Ferment in der Niveaumüdigkeit der
Gegenwartskulturen allgegenwärtig umherspukt. Er bedeutet vielmehr
einen Akt der theorie-ermöglichenden epoché im Hinblick
auf ein kaum noch distanzierbares Milieu und dient der Abstandnahme des
Denkenden von den Blendungen des immer schon städtisch gelebten Lebens,
mitsamt seinen unthematisierten Ansprüchen an Selbsterhöhung,
Raumangst-Überwindung, Entlastung und Reizzufuhr. Die Theorie der
Stadt kann nur beginnen mit der Entwöhnung von den Verwöhnungen,
die durch die Stadt erst möglich geworden sind. Die Stadt denken
heißt also über das verwöhnende Wohnen in ihr so reflektieren,
als könnte man anderswo als in ihr zu Hause sein, ja, als ließe
sich das Verlangen, überhaupt irgendwo Wurzeln zu schlagen, im ganzen
einklammern. Wohnen, als wohnte man nicht. Leben, als hätte man weder
Haus noch Stadt im Rücken. Denken wie im freien Fall.
Was ist es, was einem Phänomenologen, der seinen eigenen Sehgewohnheiten
abgestorben wäre und der das Urmenschen-Staunen angesichts der ersten
Stadterscheinung nachspielen wollte, beim Anblick einer frühen Großmachtstadt
wie Uruk, Kisch, Babylon oder Ninive zuerst zu denken geben würde?
Er müßte wohl vor allem darüber ins Staunen geraten, daß
die Erscheinung am Horizont einem zweiten Blick standhält und sich
als etwas behauptet, was durchaus keine Sinnestäuschung sein will.
Der unverwöhnte Blick auf die Stadt wird gefangengenommen von deren
Beharrung auf ihrem Aufragen; er sieht sich konfrontiert mit einem nachdrücklichen
Willen zum Erscheinen. Hier ist eine Höhe in die Welt getreten, deren
Gewalt nicht vormenschliche Kräfte hergewälzt haben. Alles an
der großen Stadt, der frühen wie der späten, ist Menschenwerk
und Herrenmutwille.
Es gibt in politischen Dingen kein Zurück zu dem »euklidischen
Gefühl« - ein Ausdruck, mit dem Oswald Spengler
sehr treffend die völlige Absorbierung der antiken Menschen durch
ihre Geschlechter- und Stadtgeister charakterisiert hat.
Durch die politische Raumsorge der Menschen an der Schwelle zum imperialen
Staat wirkt ein Motiv hindurch, das man mit Oswald Spengler
die archaische kosmologische Raumangst nennen könnte - eine Angst,
die Spengler
für ein Merkmal allen wachen und freibeweglichen Lebens und für
ein Movens aller höheren Kulturschöpfungen hat halten wollen.
»Die Weltangst ist sicherlich das schöpferischste aller
Urgefühle.« ( ).
Sie ist es, die in jeder ursprünglichen »Symbolisierung des
Ausgedehnten, des Raumes und der Dinge« ( )
gebannt werden will. Uns scheint es plausibler, anzunehmen, daß
die spezifische Angst vor der unabschließbaren Weite des Erd- und
Himmelsraums erst als Nebenfolge von Sphärenstörungen bei der
gewaltsamen Einschmelzung von Gruppen und Stämmen in größere
imperiale Strukturen und bei der Entsicherung der Städte aufgebrochen
ist. Es ist nicht notwendigerweise die natürlich erfahrbare Weite
der Himmelskuppel, die den Menschen das Gefühl von Verlorenheit im
überdehnten Raum einflößt. Kulturanthropologen und Charakterologen
haben gezeigt, daß manche Kulturen und Individuen von Raumangst
wenig wissen; Frobenius
hat das Welterlebnis der weite-suchenden Kulturen gefeiert, und Balint
hat in seinem Porträt des Philobaten das individualpsychologische
Gegenstück dazu geliefert. Die kosmophobische Empfindungsart ist
eher ein abgeleitetes Phänomen, das gescheiterte Immunisierungen
und kollabierte Narzißmen zur Voraussetzung hat. Menschen mit geringen
traumatischen Altlasten assoziieren zum Anblick des heiteren Himmels von
alters her eher Bilder von Zelten und Zaubermänteln, in der Architektenzeit
auch die von Domen, Kuppeln und Palästen; sie erkennen in seiner
Weite eine Komplizin ihres Mutes und in seiner Höhe eine Vorzeichnung
der Möglichkeiten ihrer Intelligenz. Das Erlebnis hingegen, daß
der Weltraum undicht ist und zum Hinausstürzen einlädt, jenes
Gefühl einer ernsten und schlimmen Tiefe, über die Spengler
in seiner Raumtheorie unvergeßliche Seiten verfaßte - oder
das zornige Bewußtsein, beim Aufschauen zum Himmel den Rand einer
vermauerten Wüste zu sehen -, gehören zu den psychopathologischen
Errungenschaften von Zeiten, in denen immer größere Zahlen
von Einzelnen sich als Ausgesetzte und Verlorene erlebten, als von den
Menschen Abgestoßene und von den Göttern Vergessene. Vielleicht
mischen sich in diese Erlebnisweise auch Reste einer archaischen Panik-Religion
ein, die sich unter dem Eindruck kosmischer Katastrophen gebildet haben
könnte.
»Der Zirkel ist der Meißel dieser zweiten bildenden Kunst.«
( ).
Ihr Ziel ist es, zu beweisen, daß die Seele in jeder Schicksalslage
und an jedem Punkt der Erdoberfläche sich auf ihr unverlierbares
Privileg berufen kann, eine Bürgerin des fürsorglichen Kosmos
zu sein. Das Bürgerrecht in der absoluten Stadt bleibt das Eigentum
des Weisen, auch wenn ihm alles übrige Umwälzung, Pest, Exil
beschert. Das ist das kosmische Cogito, das jede menschliche Lage muß
begleiten können: Das Universum ist ein Haus, und das Haus verliert
nichts, auch nicht mich selbst, wie verlegen und verloren ich mich fühlen
mag.
Etwas von der Aura esoterischer
Einsamkeit, die dieses großartig hochgesinnte und zugleich schrankenlos
zugängliche Gebäude umgibt, hat Oswald Spengler
in seiner genialischen Bemerkung eingefangen, das Pantheon
sei »die früheste aller Moscheen« gewesen. ( ).
Mit dieser Wendung verband Spengler
seine dunkle These, daß Rom im Jahr 125 nach Christus längst
im Begriff gewesen sei, aus dem Kreis des antiken »Seelentums«
auszutreten und in den Bann jener »magischen
Kultur« zu geraten, die sich im Vorderen Orient unter zahlreichen
pseudomorphotischen Anverwandlungen an fremde Volks- und Kulturkörper
zu entfalten begann. (Kenner der Spenglerschen
Hauptschrift wissen, daß der Autor zu diesem Komplex unter der Überschrift
»Probleme der arabischen Kultur«
ein Buch im Buche vorgelegt hat, von dem man nicht zuviel sagt, wenn man
es als Kulmination spekulativer Kulturphilosophie im 20. Jahrhundert bezeichnet.)
Der Akzentwechsel vom antiken zum magischen Seelentum sei es letztlich
gewesen, der für die Durchdringung des römischen Reiches durch
eine pseudomorphotische Religion, das frühe Christentum in seiner
hellenisierten Form, verantwortlich war (welches seinerseits ein Seelengeschwister
des späteren Islam darstellte, des Prototyps einer Religion der unterwerfungfordernden
und hingabegewährenden Unübersichtlichkeit). An Spenglers
Hinweis ist sicher soviel richtig, daß Rom in der Pantheon-Zeit
einen Sinnwandel der Immanenz durchlebte und daß sich der Modus,
in dem die Götter ihre innerweltliche Präsenz bekundeten, einer
folgenschweren Veränderung unterworfen war. Es spricht vieles dafür,
daß die spätantiken Massen beim Eintritt ins Pantheon nur wenig
noch von dem erfuhren, was in dem Gipfelgespräch zwischen Caesarismus,
Philosophie und Architektur erwogen und verwirklicht worden war. Die Zeit
gehörte mehr und mehr den Mystagogen und den Aposteln, die eine Entmathematisierung
des Himmels betrieben - man würde heute von einer Wiederverzauberung
der Welt sprechen. Diesen Agenten eines völlig veränderten,
bekennend alogischen, telepathischen, mirakelsüchtigen Immanenzgefühls
ist es zu verdanken, daß die späteren Kuppeln, insbesondere
die des byzantinischen Ostens, nicht mehr die pantheologische Bauform
wiederholen, die der noetischen Partizipation des Menschen am Gestaltoptimum
des Welthauses ein Denkmal setzen wollte, dauerhaft wie opus caementitium,
sondern zunehmend die allseitige Umschlossenheit des menschlichen Raumes
durch ein undurchdringliches Weltgeheimnis bezeugen; Oswald Spengler
hat das am raumphilosophisch relevanten Zentralsymbol der magischen Kultur,
dem Welthöhlenempfinden, suggestiv erläutert. Diesen Wandel
macht der Unterschied zwischen dem Pantheon
und der Kirche der Hagia
Sophia zu Konstantinopel vollendet klar. Wo der römische Kugeltempel
dem Weltgedanken der antiken Philosophie zu seiner ultimativen Selbsterklärung
in bautechnischer Kristallisation verholfen hatte (in einem Gebäude,
das man als Weltkind aus irgendeiner Provinz betrat, um es als Grieche
und als Neophyt der Philosophie zu verlassen), dort setzte die Kirche
der Heiligen Weisheit ein Empfinden von numinos durchleuchteter und magisch
umzingelter Immanenz ins Werk (so daß man es nicht betreten konnte,
ohne auf der Stelle zum Araber ante litteram, zum verzückten
Debütanten in Gotteszaubersachen zu werden).
Die arabische Kultur bleibt problematisch, weil sie nie einen eigenen
Körper ausbilden, sich nie überzeugend territorialisieren konnte
und darum nur als höhere Gespenstergeschichte möglich war -
Spengler
nennt das vornehm eine Pseudomorphose.
Vergessen wir nicht, daß nach ihm das Christentum in seinem ersten
Zyklus nur eine Metastase der übervölkisch herumspukenden arabischen
Seele gewesen sein soll.
Was die Weitergabegewalten zuletzt immer über den Geist der Freisprüche
siegen läßt, ist die Positivierung der Versprechen und die
Nationalisierung der Universalien. Eben dies ist das Prinzip der magischen
Nationen ( ),
die Oswald Spengler
entdeckt und benannt hat - und die man auch Taufnationen oder Religionsnationen
nennen könnte. 
Das überseeische Imperium
Karls V. ( )
war auf Krediten flämischer und Augsburger ... Bankhäuser errichtet
( ),
deren Besitzer Globen drehten, um sich von den Hinwegen ihrer Kredite
und den Rückwegen ihrer Zinsen ein Bild zu machen. Von Anfang an
verstrickte das ozeanische Abenteuer seine Akteure in einen Wettlauf um
verhüllte Chancen auf undurchsichtigen fernen Märkten. Schon
für sie war das berüchtigte Wort Cecil Rhodes gültig:
»Ausdehnung ist alles« (Oswald Spengler
hat diesen Satz zum Axiom der zivilisatorischen Epochen erklärt:
»Expansion ist ein Verhängnis, etwas Dämonisches und Ungeheures,
das den späten Menschen des Weltstadiums packt ... und verbraucht
....« ).
Was Ökonomen im Gefolge von Marx die ursprüngliche Akkumulation
genannt haben, war wohl - wie unser Beispiel ahnen läßt - häufig
eher eine Anhäufung von Eigentumstiteln, Optionen und Nutzungsansprüchen
als der Betrieb von Produktionsanlagen und Kapitalbasis. Die Entdeckung
und förmliche Inbesitznahme von fernen Territorien begründete
für die fürstlichen und bürgerlichen Mandanten der Überseeschiffahrt
die Erwartung künftiger Einkommen, sei es in Form von Beute oder
Tribut, sei es durch reguläre Handelsgeschäfte, bei denen es
nie verboten war, von märchenhaften Gewinnspannen zu träumen.
Das Axiom der individulalistischen Immun-Ordnung greift in den Massen
selbstzentrierter Einzelner wie eine neue Evidenz um sich: daß letztlich
niemand für sie tun kann, was sie nicht für sich selber leisten.
Die neuen Immunitätstechniken empfehlen sich als Existentialstrategien
für Gesellschaften aus Einzelnen, bei denen der Lange Marsch ...
zum Ziel geführt hat - zur Grundlinie des von Spengler
richtig prophezeiten Endes jeder Kultur: jenem Zustand, in dem es unmöglich
ist, zu entscheiden, ob die Einzelnen außergewöhnlich fit oder
außergewöhnlich dekadent sind. ( ).
Jenseits dieser Linie verlöre die letzte metaphysische Differenz,
die von Nietzsche
verteidigte Unterscheidung von Vornehmheit und Gemeinheit, ihre Kontur,
und was am Projekt Mensch hoffnungsvoll und groß erschien, verschwände
wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.
Nach dem bekannten scholastischen Lehrsatz hat das Endliche mit dem
Unendlichen kein gemeinsames Maß. Operationen mit dem Wert unendlich
sind seither als eine ständige Selbstgefährdung der menschlichen
Intelligenz hintergründig präsent. Im Grunde geht es hier nicht
mehr um das Unvorstellbare als das Unsagbare, weil eben das Unendliche
per definitionem das ist, was das Vorstellen übersteigt. Zugleich
ist unsere Intelligenz so organisiert, daß wir dennoch versuchen,
das Unvorstellbare vorzustellen. Ein gewisses Maß an Unendlichkeitsstreß
gehört zum modus operandi der europäischen Intelligenz.
Über Fragen dieser Art hat Spengler
aufschlußreiche Bemerkungen zu Papier gebracht, als er die Kulturen
im Hinblick auf ihre mathematischen Stile unterschied. Er hat etwa gezeigt,
daß für die Antike die Quadratur des Kreises ein charakteristisches
Problem war, also der Versuch, den Abgrund zwischen zwei endlichen geometrischen
Figuren zu überbrücken. Hingegen hat sich der Geist der abendländischen
Kultur in der Infinitesimalrechnung des Leibnizschen
oder des Newtonschen
Typs manifestiert, also in Rechnungen mit dem Wert Unendlich. Leibniz
hat vormachen können, wie man den Unendlichkeitsdämon mathematisch
zähmt, indem man einen diskreten Sprung ins unendlich Große
oder unendlich Kleine vollzieht und trotzdem so tut, als sei man in einem
rechnerisch kontrollierten Kontinuum geblieben.
Spengler
ist mir mit seinen raumphilosophischen Überlegungen ... nahe gekommen.
Er hat den Versuch gemacht, ... die Kulturen nach dem Modus der Raumbildung
zu bestimmen. Dabei kommt ihm etwas in den Blick, was man gewissermaßen
als Impfung einer Kulturseele mit einer spezifischen Herausforderung,
mit einem initialen Schock bezeichnen könnte. Spengler
redet in solchen Zusammenhängen ganz nietzscheanisch, wobei man wissen
muß, daß Nietzsche
in seinen besten Augenblicken als Immunologe spricht, wie ein Kulturarzt,
der weiß, daß Kulturen und ihre Träger, die Menschen,
Wesen sind, die mit dem Ungeheuren geimpft werden und eigensinnige Immunreaktionen
entwickeln, aus denen verschiedene kulturelle Temperamente hervorgehen.
In diesem Sinne muß man Spenglers These auffassen, daß es
nur acht Hochkulturen im eigentlichen Wortsinn gegeben habe. ( ).
Nur in dieser kleinen Zahl von Fällen haben sich die hochkulturschöpferischen
Immunreaktionen vollzogen, von denen jede einzelne einen unverwechselbaren
Charakter besaß. Die acht hohen Kulturen wären demnach die
Abwicklung lokaler Immunreaktionen. .... Man darf sich von Spenglers
botanischen Metaphern nicht in die Irre führen lassen. Seine Kulturen
sind nicht so sehr Pflanzen höchster Ordnung, wie er vorgibt, sondern
Generationsprozesse über dem Input einer schöpferischen Immunantwort,
die sich immer mehr formalisiert, bis zur Erstarrung. .... Spengler
gibt sein Bestes, darüber sind sich auch seine skeptischen Leser
einig, wenn er über die faustische und die arabische Kultur spricht.
Spenglers
zentrale Denkerfahrung liegt in der Beobachtung, daß Formen ein
Eigenleben haben - sein ganzes Genie steckt in diesem Motiv. .... Die
Form, die Spengler
vor allem interessiert, ist das, was er eine Kultur nennt. Nun ist Spenglers
Formbegriff, der über Goethes
Idee der Urpflanze bis auf die aristotelische Zoologie zurückgeht,
durch und durch organologisch geprägt, er gehört zu einem lebensphilosophischen
Sprachspiel ( ),
in dem das Leben als Substanz betrachtet wird und die Individuen als Akzidentien.
Nur darum konnte Spengler
die von ihm so genannten Kulturen als »Lebewesen höchsten Ranges«
bezeichnen. Er meint damit, daß es ein Gestaltgesetz gibt, ein strukturelles
Muß, welches bewirkt, daß in einer Kultur an dieser oder jener
Stelle ihres Gestaltbogens nur Ereignisse, Akteure und Institutionen von
einer gewissen formal vorherbestimmten Qualität auftreten müssen
und keine anderen. Man kann dieser Idee eine gewisse logische Mächtigkeit
nicht absprechen ...
Man sollte Spengler
progressiv fruchtbar machen und ihn als einen Experten in Primärraumfragen
hören.
Seit dem Heraufkommen der metaphysischen Weltbilder
vor zweieinhalbtausend Jahren, mit denen nach Weber,
Spengler,
Jaspers
( )
und anderen, sei es zu Recht oder Unrecht, Begriffe wie Hochkultur und
Hochreligion assoziiert werden, verlagert sich die Sache der Immunsystemvorgänger
aus dem kombattanten Kraftherden in einen Bereich des erlebten Innen,
das als psyche neu beschrieben wird. Wo im metaphysischen Sinn
von Seele die Rede ist, hat sich bereits ein Motivwandel bei der Auslegung
der inneren Verteidigungs- und Behauptungskräfte vollzogen.
Am prägnantesten wird die Seinsweise der absoluten Insel ( )
durch die Devise von Jules Vernes Kapitän Nemo auf den Begriff gebracht:
Mobilis in mobili, beweglich im Beweglichen - eine Prägung,
in der Oswald Spengler
mit gutem Grund die Existenzformel der unternehmerischen Einzelnen in
der »faustischen« Zivilisation erkennen wollte. Das elektrisch
angetriebene Unterwasserhotel Nautilus, dem Erfindergeist des großen
Misanthropen entsprungen, verkörpert eine erste technisch vollkommene
Projektion der Idee absoluter Insularität ...
Das lateinische insula bezeichnete neben seiner Grundbedeutung
vom 2. nach-christlichen Jahrhundert an zugleich das freistehende mehrstöckige
Mietshaus, das zumeist von den Ärmeren bewohnt war. Spengler
erwähnt, um die indifferenzerzeugende Mechanik des späten Großstadtbetriebs
zu illustrieren, eine Stelle bei Diodor über einen »abgesetzten
ägyptischen König, der zu Rom in einer jämmerlichen Mietswohnung
in einem hochgelegenen Stockwerk hausen mußte« ( ).
In unserem Kontext wäre zu sagen, daß dieser ägyptische
Robinson von imperialen Turbulenzen an den Strand einer überfüllten
Insel geworfen worden war. 
Die im erneuerten Olympismus latenten massenkulturellen Potentiale wurden
erstmals bei den Berliner Sommerspielen 1936 vollständig zur Entfaltung
gebracht. Als Oswald Spengler
im ersten Band von Der Untergang des Abendlandes bemerkte, »der
Unterschied eines Berliner Sportplatzes an einem großen Tage von
einem römischen Zirkus war schon 1914 sehr gering« ( ),
war er den Ereignissen vorausgeeilt; da er im Mai 1936 starb, blieb es
ihm verwehrt, die Erfüllung seiner prophetischen Diagnose zu erleben.
Allein eine willkürliche Option kann uns an einer zugespitzten
Stelle des Realen zum Einsatz verpflichten. Nicht die Not befiehlt, wir
wählen eine Schwierigkeit. Mussolini hatte das verstanden, als er
den fascismo durch den Horror vor dem bequemen Leben definierte.
In der grenzenlosen Popularität des Sports, die dem Zeitdiagnostiker
Oswald Spengler
bereits vor 1914 auffiel, artikuliert sich die Wahrheit über das
gegenwärtige Zeitalter: In ihm ist die befehlende Not durch die gewählte
Anstrengung ersetzt worden ....
Hochkultur ist keineswegs bloß, wie Oswald Spengler
dozierte, die Resultierende aus der Begegnung zwischen einer Landschaft
und einer Gruppenseele - oder das Amalgam aus einem Klima und einem Trauma.
Sie ist aber auch nicht einfach »Reichtum an Problemen«, um
Egon Friedells
geistvolle Definition von Kultur im Sinn von Bildung zu zitieren. Vielmehr
wurzelt jede Hochkultur in ihrem robusten Eigentum an einem überlieferungsfähig
gemachten Paradoxon. Sie entspringt aus der grausamen Naivität, mit
der sich das basale Paradoxon in seinen frühen Stadien verkörpert.
Grausam ist die Naivität der frühen Hochkulturen in dem Maß,
wie sie ihre Forderung nach der Ermöglichung des Unmöglichen
gegen ihre Adepten durchsetzt. Erst wenn solche harten Ausgangsparadoxien
sich zu Problemen entspannt haben, können sie wie Reichtümer
genossen und wie Bildungsgegenstände gesammelt werden. In ihren frühen
Zuständen werden Paradoxien nicht als Schätze erlebt, sondern
als Passionen erlitten.
Bekehrung des Paulus
auf dem Weg nach Damaskus. Die Erzählung von diesem Einschnitt ist
in der Apostelgeschichte zweimal überliefert, einmal in autobiographischer
Form als Element der Verteidigungsrede des Paulus vor den Juden in Jerusalem
(vgl. Apg., 22), ein anderes Mal in der dritten Person (vgl. Apg., 9).
In beiden Fassungen wird hervorgehoben, Paulus sei durch das Ereignis
auf dem Weg nach Damsakus »umgedreht« worden und habe sich
von einem Verfolger der Christen zu einem Verkünder des Christentums
gewandelt. .... Von den subtilen platonischen Erwägungen über
die Umwendung der Seele und ihre Herausführung aus der Höhle
der sinnlichen Kollektivillusionen sind wir hier bereits Lichtjahre entfernt.
Keine Rede mehr von den Sorgen des griechischen Rationalismus um die Wende
zur Wahrheitssonne. Das Licht, das den Eiferer auf dem Weg nach Damaskus
blendet, ist ein Gemenge aus Mittagsdämon und Halluzination. Die
Geschichte spielt bereits ganz auf dem Boden eines magischen Weltbildes
(Spengler
ordnete es sogar dem Stimmungsraum der »arabischen Kulturseele«
zu  ),
dessen Atmosphäre von Apokalypsebereitschaft, Erlösungspanik
und einer wundersüchtig supranaturalistischen Hermeneutik geprägt
ist. Vor allem verrät sich in ihr der Geist eines nach allen Seiten
aufbruchsbereiten Eiferertums, dem es fast gleichgültig zu sein scheint,
ob es sich in die eine oder die andere Richtung erhitzt. Vor den Hintergrund
des philosophischen Begriffs von conversio oder epistrophé
gesetzt, handelt es sich bei dem Erlebnis des Paulus in keiner Weise um
eine Bekehrung ....
Es gibt keine Konversion: .... - In diesem
Kontext haben wir Gelegenheit, Oswald Spenglers
starke These zu re-evaluieren, wonach es im Grunde überhaupt keine
Konversionen gebe, sondern nur Umbesetzungen zwischen freien Stellen in
dem fest strukturierten Optionenfeld einer Kultur. (Vgl. Oswald Spengler,
Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 440f. ).
Durch alle Oberflächenwendungen der Konfession hindurch bleibe die
basale Seelenstimmung eines Hochkulturkomplexes identisch, und was sich
in äußerer Sicht wie eine 180-Grad-Drehung darstelle, könne
in Wahrheit nie mehr sein als eine letztlich beliebige (obschon gelegentlich
für die Mit- und Nachwelt folgenreiche) Variation innerhalb eines
definitiv umrissenen Möglichkeitsraums.
Die Suggestivität dieser These läßt sich vor allem an
dem zweiten Bekehrungshelden der christlichen Überlieferung, Aurelius
Augustinus,
erläutern, von dem bekannt ist, wie er in seinen Confessiones
seine gesamte Jugendgeschichte als ein langgezogenes Zögern vor der
»Konversion« des Jahres 386 stilisierte. Gerade im Blick auf
ihn scheint Spenglers
Theorem durchschlagend plausibel. Man kann an seiner Lebensgeschichte
- wie der zahlloser analoger Konfessionswechsler und Ernstmacher späterer
Zeiten - mühelos zeigen, daß bei ihm in der Tiefenstruktur
seiner Persönlichkeit nie die geringste »Konversion«
stattgefunden hat. Vielmehr hat er nur innerhalb einer seit jeher bestehenden
Ausrichtung auf die Überwelt mehrfach die Adressen bzw. den Großen
Anderen, den transzendenten Trainer gewechselt - vom Manichäismus
zu Platonismus, vom Platonismus zum philosophlschen Christentum, vom philosophischen
Christentum zu einem theozentrisch nachgedunkelten Unterwerfungskult.
Hierin war er keine Singularität, da schon seit dem zweiten nachchristlichen
Jahrhundert unter den Gebildeten der römischen Ökumene »Bekehrungen«
zur Philosophie auftraten, die sich organisch in Übertritte zum Christentum
fortsetzten - so etwa im Fall von Justin dem Märtyrer, des katholischen
Patrons der Philosophen.
Gewiß hatte Oswald Spengler
übertrieben, wenn er die Möglichkeit der Konversion innerhalb
einer gegebenen Kultur von vorneherein abstritt, dennoch erhob er seinen
Einwand nicht ohne gute Gründe, da der größte Teil der
real erlebten Bekehrungen tatsächlich nicht im Modus einer epistrophischen
Gesamtumkehrung, sondern des Übergangs zu einer mehr oder weniger
naheliegenden Alternative geschieht: Eine wirkliche Umwälzung vollzieht
sich letztlich nur beim Eintritt auf den Hochkulturpfad als solchen, der
die Sterblichen auf die hohen Formen der Vertikalspannung ( )
ausrichtet, indem er sie impft mit dem Wahnsinn des Verlangens nach dem
Unmöglichen.
Auf Aron Zalkind, 1889-1936, ... der ... die Ansätze von Freud
und Pavlov
zu synthetisieren versuchte (um das Feld der Erziehung für die damals
viel benutzte Theorie der »bedingten Reflexe« zu reklamieren
und die Kulturtheorie als Anwendungsgebiet der höheren Reflexologie
zu annektieren) ... beruhte die »Kunst« der bolschewistisch-sozialistischen
Prognostik ( ).
Sie bildet das real-utopische Gegenstück zu Oswald Spenglers
nicht weniger prätentiösem Versuch, die Erzählbarkeit der
Zukunft durch Einsicht in die Ablaufgesetze der »Kulturen«
auf wissenschaftliche Grundlage zu stellen. (Zitat-Ende).
Das Man oder: Das realste Subjekt des modernen diffusen Zynismus.
|
Mit Bezug auf diese (alltägliche
Seinsart, P.SI.) mag die
Bemerkung nicht überflüssig sein, daß die Interpretation
eine rein ontologische Absicht hat und von einer
moralisierenden Kritik des alltäglichen Daseins und von
»kulturphilosophischen« Aspirationen weit entfernt ist.
(Martin Heidegger,
Sein und Zeit, S. 167 **).
Das »Leben« ist ein »Geschäft«,
gleichviel ob es seine Kosten deckt oder nicht.
(Martin Heidegger,
Sein und Zeit, S. 289 **).
Warum leben, wenn Sie schon für
10 Dollar beerdigt werden können?
(US-Werbeslogan).
|
Das Man, die Unperson in unserem Zynikerkabinett, erinnert in seiner
kargen Gestalt an Gliederpuppen, wie sie von Graphikern für Positionsstudien
und anatomische Skizzen benutzt werden. Doch die Position, auf die Heidegger
es abgesehen hat, ist keine bestimmte. Er belauscht das »Subjekt«
in der Banalität in seiner alltäglichen Seinsweise. Die Existentialontologie,
die vom Man ( )
und seinem Dasein in der Alltäglichkeit handelt, versucht etwas,
was früherer Philosophie nicht im Traum eingefallen wäre: Trivialität
zum Gegenstand »hoher« Theorie zu machen. Schon dies ist eine
Geste, die unweigerlich den Kynismus-Verdacht auf Heidegger
lenkt. Was Kritiker der Heideggerschen
Existentialontologie als einen »Fehler« vorgeworfen haben,
ist vielleicht ihr besonderer Witz. Sie treibt die Kunst der Platitüde
in die Höhen des expliziten Begriffs. Man könnte sie lesen wie
eine umgekehrte Satire, die nicht das Hohe heruntersetzt, sondern das
Niedere hinauf. Sie versucht, das Selbstverständliche so ausdrücklich
und ausführlich zu sagen, daß sogar Intellektuelle es »eigentlich«
verstehen müßten. In gewisser Hinsicht verbirgt sich im Heideggerschen
Diskurs mit seinen skurrilen Verfeinerungen der Begriffsabschattungen
eine logische Eulenspiegelei großen Stils - der Versuch, mystisch
einfaches Wissen vom einfachen Leben, »wie es ist«, in die
fortgeschrittenste europäische Denktradition zu übersetzen.
Heideggers
Habitus eines Schwarzwaldbauern, der gern von der Welt zurückgezogen
in seiner Hütte sitzt und grübelt, die Zipfelmütze auf
dem Kopf, war nicht nur eine Äußerlichkeit. Er gehört
wesentlich zu dieser Art zu philosophieren. Es steckt dieselbe anspruchsvolle
Schlichtheit darin. Es zeigt, wieviel Mutwille dazu gehört, unter
modernen Bedingungen überhaupt noch so etwas Einfaches und »Primitives«
zu sagen, daß es sich gegen die komplexen Verschraubungen des »aufgeklärten«
Bewußtseins durchsetzen kann. Wir lesen die Aussagen Heideggers
über das Man, das Dasein in der Alltäglichkeit, über Gerede,
Zweideutigkeit, Verfallensein und Geworfenheit etc. vor dem Hintergrund
der vorangehenden Porträts von Mephisto und dem Großinquisitor:
als eine Reihe von Etüden in höherer Banalität, mit der
sich die Philosophie hinaustastet in das, »was der Fall ist«.
Gerade in dem Heideggers
existential-hermeneutische Analyse mit dem Mythos der Objektivität
aufräumt, erzeugt sie den härtesten »Tiefenpositivismus«.
So tritt eine Philosophie auf, die ambivalent teilhat an einem ernüchterten,
säkularisierten und technisierten Zeitgeist; sie denkt jenseits von
Gut und Böse und diesseits der Metaphysik; nur auf dieser dünnen
Linie kann sie sich bewegen.
Der theoretische Neo-Kynismus unseres Jahrhunderts - die Existenzphilosophie
- demonstriert in seiner Denkform das Abenteuer der Banalität. Was
er vorführt, sind die Feuerwerke der Sinnlosigkeit, die sich selbst
zu verstehen beginnt. Man muß sich die verächtliche Wendung
verdeutlichen, mit der Heidegger
im oben zitierten Motto seine Arbeit in weite Ferne von jeder »moralisierenden
Kritik« (**)
rückt, als wolle er betonen, daß zeitgenössisches Denken
ein für allemal die Sümpfe des Moralismus hinter sich gelassen
und nichts mehr gemeinsam habe mit »Kulturphilosophie« (**).
Die kann ja nicht mehr sein als »Aspiration« (**):
vergeblicher Anspruch, Großdenkerei und Weltanschauung im Stil des
nicht enden wollenden 19. Jahrhunderts. Dagegen wirkt in der »rein
ontologischen Absicht« die brennende Kühle der realen Modernität,
die keiner bloßen Aufklärung mehr bedarf und mit aller je möglichen
analytischen Kritik schon »durch« ist. Ontologisch denkend,
positiv sprechend die Struktur der Existenz freilegen: zu diesem Zweck
stürzt sich Heidegger,
um die Subjekt-Objekt-Terminologie zu umgehen, mit beachtlichem sprachlichen
Mutwillen in einen alternativen Jargon, der aus der Ferne betrachtet gewiß
nicht glücklicher ist als der, den Heidegger
meiden wollte, in dessen Neuartigkeit jedoch etwas vom Abenteuer des Modern-Primitiven
hindurchscheint: eine Verknüpfung von Archaik und Spätzeit,
eine Spiegelung des Frühesten im Letzten. In der »Ausgesprochenheit«
der Heideggerschen
Rede kommt das zur Sprache, was ansonsten keiner Philosophie der Rede
wert ist. Eben in dem Augenblick. wo das Denken - explizit »nihilistisch«
- Sinnlosigkeit als Folie jeder möglichen Sinnaussage oder Sinngebung
erkennt, wird zugleich die höchste Entfaltung der Hermeneutik. d.h.
der Kunst des Sinn verstehens, nötig. um den Sinn der Sinnlosigkeit
philosophisch zu artikulieren. Das kann. je nach den Voraussetzungen des
Lesers. ebenso aufregend wie frustrierend sein - ein Kreisen in begriffener
Leere. Schattenspiel der Vernunft.
Was ist dieses seltsame Wesen, das Heidegger
unter dem Namen Man ( )
vorführt? Es gleicht auf den ersten Blick modernen Plastiken, die
keinen bestimmten Gegenstand darstellen und in deren polierte Oberflächen
sich keine »besondere« Bedeutung hineinlesen läßt.
Dennoch sind sie unmittelbar wirklich und zum Anfassen konkret. In diesem
Sinn betont Heidegger,
daß das Man keine Abstraktion sei - etwa ein Allgemeinbegriff, der
»alle Iche« umfaßt, sondern möchte es, als ens
realissimum, auf etwas beziehen, was in jedem von uns präsent
ist. Aber es enttäuscht die Erwartung nach Personhaftigkeit, individueller
Bedeutung und existentiell entschiedenem Sinn. Es existiert, aber es ist
bei ihm »nichts dahinter«. Es ist da wie die moderne, nichtfigürliche
Plastik: real, alltäglich, konkreter Teil einer Welt; jedoch zu keiner
Zeit auf eine eigentliche Person, eine »wirkliche« Bedeutung
verweisend. Das Man ist das Neutrum unseres Ich: Alltagsich, aber nicht
»ich-selbst«. Es stellt gewissermaßen meine öffentliche
Seite dar, meine Mediokrität. Das Man habe ich mit allen anderen
gemeinsam, es ist mein öffentliches Ich, und in bezug auf es hat
die Durchschnittlichkeit immer recht. Als uneigentliches Ich entlastet
sich das Man von jeglicher eigener, höchst persönlicher Entschiedenheit;
seiner Natur nach will es sich alles leicht machen, alles von der äußerlichen
Seite nehmen und sich an den konventionellen Schein halten. In gewisser
Hinsicht verhält es sich so auch zu sich selbst, denn was es »selbst«
ist, das nimmt es ja auch nur so eben hin wie etwas Vorgefundenes unter
anderem Gegebenem. So läßt sich dieses Man nur als etwas Unselbständiges
verstehen, das nichts von sich selbst und für sich allein hat. Was
es ist, wird ihm durch die andern gesagt und gegeben; das erklärt
seine wesentliche Zerstreutheit; ja es bleibt verloren an die Welt, die
ihm zunächst begegnet. Heidegger:
»Zunächst bin nicht ich
im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man.
Aus diesemherundalsdieseswerde ich mir selbst zunächst
gegeben. Zunächst ist das Dasein Man und zu meist bleibt
es so.« (Sein und Zeit, S. 129)
»Als Man lebe ich immer schon unter der unauffälligen Herrschaft
der Anderen.« »Jeder ist der Andere und keiner er selbst.
Das Man ... ist das Niemand ....« (Sein und Zeit, S. 128).
Diese Man-Beschreibung ( ),
mit der Heidegger
eine Möglichkeit erobert, philosophisch vom Ich zu sprechen, ohne
es im Stil der Subjekt-Objekt-Philosophie tun zu müssen, wirkt wie
eine Rückübersetzung des Ausdrucks Subjekt in die Umgangssprache,
wo es »das Unterworfene« bedeutet. (Im Logischen Hauptstück
gehe ich dieser »übersetzung« weiter nach und untersuche,
was Unterwerfen und Unterworfenwerden für die Erkenntnistheorie bedeutet.
Vgl. S. 639-641; 652-659.) Wer »unterworfen« ist, meint, sich
»selbst« nicht mehr zu besitzen. Nicht einmal die Sprache
des Man sagt etwas Eigenes, sondern nimmt nur teil am allgemeinen »Gerede«.
In dem Gerede - mit dem man Sachen sagt, die man eben sagt - verschließt
sich das Man gegen das wirkliche Verstehen des eigenen Daseins sowohl
wie auch der besprochenen Dinge. Im Gerede verrät sich die »Entwurzelung«
und »Uneigentlichkeit« des alltäglichen Daseins. Ihm
entspricht die Neugier, die flüchtig und »aufenthaltlos«
dem jeweils Neuesten sich hingibt. Dem neugierigen Man geht es, soviel
es auch »Kommunikation betreibt«, niemals um wirkliches Verstehen,
sondern um dessen Gegenteil, Vermeidung von Einsicht, Ausweichen vor dem
»eigentlichen« Blick ins Dasein. Dieses Vermeiden belegt Heidegger
mit dem Begriff Zerstreuung - einem Ausdruck, der aufhorchen läßt.
Wenn auch alles Bisherige durchaus überzeitlich und allgemeingültig
klingen wollte, so wissen wir mit diesem Wort auf einmal, an welcher Stelle
der modernen Geschichte wir stehen. Kein anderes Wort ist so vollgesogen
vom spezifischen Geschmack der mittleren zwanziger Jahre - der ersten
deutschen Moderne im Breitenmaßstab. Alles, was wir über das
Man gehört haben, wäre letztlich unvorstellbar ohne die Realvoraussetzung
der Weimarer Republik mit ihrem hektischen Nachkriegs-Lebensgefühl,
ihren Massenmedien, ihrem Amerikanismus, ihrer Kultur- und Unterhal tungsindustrie,
ihrem fortgeschrittenen Zerstreuungsbetrieb. Nur im zynischen, demoralisierten
und demoralisierenden Klima einer Nachkriegsgesellschaft, in der die Toten
nicht sterben dürfen, weil aus ihrem Untergang politisches Kapital
geschlagen werden soll, kann sich aus dem »Zeitgeist« ein
Impuls in die Philosophie abzweigen, das Dasein »existential«
zu betrachten und die Alltäglichkeit in Gegensatz zu stellen zu dem
»eigentlichen«, bewußt-entschlossenen Dasein als »Sein
zum Tode«. Nur nach der militärischen Götterdämmerung,
nach dem »Zerfall der Werte«, nach der coincidentia oppositorum
an den Fronten des Materialkrieges, wo sich »Gut« und »Böse«
gegenseitig ins Jenseits beförderten, wurde eine solche »Besinnung«
auf »eigentliches Sein« möglich. Erst diese Zeit wird
in radikaler Weise auf die innere Vergesellschaftung aufmerksam; sie ahnt,
daß die Wirklichkeit beherrscht wird von den Gespenstern, den Imitatoren,
den außengeleiteten Ich-Maschinen. Jeder könnte ein Wiedergänger
sein statt seiner selbst. Doch wie soll man es erkennen? Wem sieht man
noch an, ob er »er selbst« ist oder nur Man? Das erregt die
penetrante Sorge der Existentialisten um die so wichtige wie unmögliche
Unterscheidung zwischen dem Echten und Unechten, dem Eigentlichen und
dem Uneigentlichen, dem Ausgesprochenen und dem Unausgesprochenen, dem
Entschiedenen und dem Unentschiedenen (das halt »nur so« ist):
»Alles sieht aus wie echt verstanden, ergriffen und gesprochen
und ist es im Grunde doch nicht, oder es sieht nicht so aus und ist
es im Grunde doch.« (Sein und Zeit, S. 173)
Die Sprache, scheint es, hält mühevoll das, was bloß
»so aussieht«, und das, was wirklich »so ist«,
noch auseinander. Doch die Erfahrung zeigt, wie alles sich verwischt.
Alles sieht aus wie. An diesem Wie beißt der Philosoph herum. Für
den Positivisten wäre alles, wie es ist; keine Differenz zwischen
Wesen und Erscheinung - das wäre nur wieder der alte metaphysische
Spuk, mit dem man Schluß machen will. Doch Heidegger
beharrt auf einer Differenz und hält an dem Anderen fest, das nicht
nur ist »wie«, sondern das Wesentliche, Echte, Eigentliche
für sich hat. Der metaphysische Rest bei Heidegger
und sein Widerstand gegen den reinen Positivismus verraten sich im Willen
zur Eigentlichkeit. Es gibt noch eine andere Dimension« - auch
wenn sie sich dem Aufweis entzieht, weil sie nicht zu den aufweisbaren
»Dingen« gehört. Das Andere läßt sich zunächst
nur behaupten, indem zu gleich versichert wird, es sehe genau so aus wie
das Eine; für die äußerliche Sicht hebt sich das »Eigentliche«
vom »Uneigentlichen« in keiner Weise ab.
In dieser merkwürdigen Denkfigur pulsiert die höchste Geistesgegenwart
der zwanziger Jahre: sie postuliert ei nen Unterschied, den man »machen«
muß, ohne ihn irgendwie sicherstellen zu können. Solange Zweideutigkeit
als fundamentaler Tatbestand der Existenz wenigstens noch behauptet
wird, bleibt formal die Möglichkeit der »anderen Dimension«
gerettet. Damit scheint sich Heideggers
Denkbewegung schon zu erschöpfen: in einer formalen Rettung des Eigentlichen,
das freilich genauso aussehen kann wie das »Uneigentliche«.
Nun ist es mit bloßen Behauptungen nicht getan; letztlich braucht
das vielbeschworene eigentliche Dasein schon etwas »Aparts für
sich« *, um noch irgendwie unterschieden zu werden. (* Mephistopheles:
»Hätt ich mir nicht das Feuer vorbehalten / Ich hätte
nichts Aparts für mich.«) Wie wir es finden, das bleibt vorerst
noch die Frage. Um die Sache vollends spannend zu machen, betont Heidegger
obendrein, daß die » Verfallenheit« des Daseins als
Man ( )
an die Welt kein Herausfallen aus irgendeinem höheren oder ursprünglicheren
»Urstand« bedeutet, sondern seit jeher und »immer schon«
verfällt. Mit dürrer Ironie bemerkt Heidegger,
daß das Man sich in der Meinung wiegt, es führe das echte,
volle Leben, wenn es sich vorbehaltlos in den WeIt-Betrieb stürzt.
Er hingegen erkennt gerade darin die Verfallenheit. Man muß zugeben,
daß der Autor von Sein und Zeit es ver steht, den Leser,
der ungeduldig das »Eigentliche« erwartet, auf die Folter
zu spannen, und - sagen wir es ehrlich - auf die Folter einer »ausgesprochenen«
» Tiefenplatitüde«. Er führt uns, phantastisch explizit,
durch die Irrgärten einer positiven Negativität, er spricht
von dem Man und seinem Gerede, seiner Neugier, seiner Verfallenheit an
den Betrieb, mit einem Wort von der »Entfremdung«, versichert
aber im gleichen Atemzuge, dies alles werde festgestellt ohne einen Hauch
von »moralischer Kritik«; vielmehr sei dies alles eine Analyse
»in ontologischer Absicht«, und wer vom Man spricht, beschreibt
keineswegs ein heruntergesunkenes Selbst, sondern eine mit dem eigentlichen
Selbstsein gleichursprüngliche Qualität. von Dasein. So ist
es also von Anfang an, und der Ausdruck Entfremdung verweist merkwürdigerweise
nicht zurück auf ein früheres, höheres, wesentliches
Eigensein ohne Fremdheit! Entfremdung, so lernen wir, meint nicht, daß
das Dasein sich »selbst« entrissen worden wäre, sondern
die Uneigentlichkeit dieser Entfremdung ist von Anfang an die mächtigste
und ursprünglichste Seinsart des Daseins. An ihm findet sich nichts,
was man in wertendem Sinne als schlecht, negativ oder falsch bezeichnen
könnte. Entfremdung ist lediglich die Seinsart des Man.
Versuchen wir, uns die eigentümliche Choreographie dieser Gedankensprünge
klarzumachen: Heidegger
treibt die Arbeit des Denkens, die auf realistische Ernüchterungen
zustrebt, über die fortgeschrittensten Positionen des 19. Jahrhunderts
hinaus. Hatten die bisherigen Großtheorien nur dann die Kraft zum
Realismus, wenn sie zum Ausgleich ein utopisches oder moralisches Gegengewicht
besaßen, so dehnt Heidegger
nun den »Nihilismus« auch auf diesen utopisch-moralischen
Bereich aus. Waren die typischen Gespanne des 19. Jahrhunderts Liaisons
zwischen theoretischer Wissenschaft und praktischem Idealismus, Realismus
und Utopismus, Objektivismus und Mythologie - so setzt Heidegger
nunmehr zu einer zweiten Liquidierung der Metaphysik an; er geht zur radikalen
Säkularisierung der Zwecke über. Lapidar nimmt er von der fraglosen
Zweckfreiheit des Lebens in seiner Eigentlichkeit Notiz. Wir gehen überhaupt
nicht auf strahlende Ziele zu und sind von keiner Instanz beauftragt,
heute zu leiden für ein großes Morgen *. - Auch hinsichtlich
der Zwecke gilt es, jenseits von Gut und Böse zu denken.
* Nihilismus? Die marxistische Kritik wollte an Heidegger
lange Zeit nichts anderes sehen als den Abgesang der dekadenten Bourgeoisie,
die sogar vom Willen zur Zukunft verlassen wäre. Heidegger
als Wortführer eines faschistoiden Nihilismus und Todeskuks ? Kaum.
Eher Impulsgeber gegen Sozialismen des »großen Morgen«,
gegen Utopien des endlosen Opfers.
Der Unterschied eigentlich-uneigentlich gibt sich rätselhafter,
als er in Wahrheit ist. Soviel steht von vornherein fest: es kann nicht
der Unterschied in irgendeiner »Sache« sein (schön-häßlich,
wahr-falsch, gut-böse, groß-klein, wichtig-unwichtig), weil
die existentiale Analyse vor diesen Unterschieden operiert. So bleibt
als letzte denkbare Differenz jene zwischen dem entschlossenen und dem
unentschlossenen Dasein, ich möchte sagen: zwischen dem bewußten
und dem unbewußten. Doch darf man den Gegensatz bewußt-unbewußt
nicht im Sinne der psychologischen Aufklärung nehmen (der Unterton:
entschlossen-unentschlossen deutet eher in die gemeinte Richtung); bewußt
und unbewußt sind hier nicht kognitive Gegensätze, auch nicht
solche der In formation, des Wissens oder der Wissenschaft, sondern existentiale
Qualitäten. Wäre es anders, so wäre das Heideggersche
Pathos der »Eigentlichkeit« nicht möglich.
Die Konstruktion des Eigentlichen mündet - endlich - aus in das
Theorem vom »Sein zum Tode«, für Heideggers
Kritiker ein Vorwand zur billigsten Empörung: zu mehr als zu morbiden
Todesgedanken kann sich die bürgerliche Philosophie nicht mehr aufraffen!
Aschermittwochsphantasien in parasitären Köpfen! Nehmen wir
:von solcher Kritik das Wahrheitsmoment auf, so besagt sie, daß
sich in Heideggers
Werk, gegen dessen Intentionen, der historisch-gesellschaftliche Augenblick
spiegelt, in dem es verfaßt wurde; auch wenn es noch so sehr beteuert,
ontologische Analyse zu sein, liefert es eine unfreiwillige Gegenwartstheorie.
Insofern sie dies unfreiwillig ist, hat der Kritiker wohl ein Recht, eine
unfreie, ja verblendete Seite an ihr zu benennen, ohne daß er von
der Aufgabe entbunden wäre, die erleuchtete Seite zu würdigen.
Kein Gedanke ist so intim in seine Zeit eingebettet wie der des Seins
zum Tode; es ist das philosophische Schlüsselwort im Zeitalter der
imperialistischen und faschistischen Weltkriege. Heideggers
Theorie fällt in die Atemwende zwischen dem Ersten und Zweiten Wel
krieg, die erste und zweite Modernisierung des Massentodes. Sie steht
auf halbem Weg zwischen dem ersten Dreigestirn der Destruktionsindustrie:
Flandern, Tannenberg, Verdun und dem zweiten: Stalingrad, Auschwitz, Hiroshima.
Ohne Todesindustrie keine Zerstreuungsindustrie.
Liest man Sein und Zeit nicht »bloß« als Existentialontologie,
sondern auch als verschlüsselte Sozialpsychologie der Moderne, so
öffnen sich Einsichten in Strukturzusammenhänge von größter
Perspektive. Heidegger
hat den Zusammenhang zwischen moderner »Uneigentlichkeit«
der Existenz und moderner Todesfabrikation in einer Weise getroffen, die
sich allein dem Zeitgenossen industrieller Weltkriege erschließen
kann. Lockern wir den Bann, den der Faschismusverdacht auf Heideggers
Werk geworfen hat, so verraten sich in der Formel vom »Sein zum
Tode« explosive kritische Potentiale. Dann wird verständlich,
daß Heideggers
Todestheorie die größte Kritik des 20. Jahrhunderts am 19.
birgt. Das 19. Jahrhundert nämlich hatte seine besten theoretischen
Energien in den Versuch gesteckt, durch realistische Groß-Theorien
den Tod der anderen denkbar zu machen. (Ich nehme hier ein Motiv
Michel Foucaults auf.) Die großen evolutionistischen Entwürfe
nahmen das Weltböse, soweit es andern zustößt, hinweg
und hinauf in die höheren Zustände späterer, erfüllter
Zeiten: hierin gibt es formale Äquivalenzen zwischen der Vorstellung
von Evolution, dem Begriff der Revolution, dem Begriff der Auslese, des
Kampfs ums Dasein und des Überlebens des Tüchtigeren, der Idee
des Fortschritts und dem Mythos der Rasse. Mit all diesen Konzepten wird
eine Optik erprobt, die den Untergang der anderen objektiviert. Mit Heideggers
Todestheorie kehrt das Denken des 20. Jahrhunderts diesen hybriden, theoretisch
neutralisierten Zynismen des 19. Jahrhunderts den Rücken. Äußerlich
gesehen wechselt nur das Personalpronomen: »Man stribt« wird
zu: »Ich sterbe«. Im bewußten Sein zum Tode revoltiert
die Heideggersche
Existenz gegen die »ständige Beruhigung über den Tod«,
auf die eine überdestruktive Gesellschaft unbedingt angewiesen ist.
Der totale Militarismus des Industriekrieges erzwingt in den Alltagszuständen
eine mögliche lückenlose narkotische Todesverdrängung -
oder die Abwälzung des Todes auf die andern: das ist das Gesetz der
modernen Zerstreuung. Die Weltlage ist eine solche, daß sie den
Menschen, würden sie aufmerken, zuflüstert: Eure Vernichtung
ist bloß eine Frage der Zeit, und die Zeit, die die Vernichtung
braucht, bis sie euch erreicht, ist zugleich die Zeit eurer Zerstreuung.
Die kommende Vernichtung setzt ja eure Zerstreuung, eure Nichtentschlossenheit
zum Leben voraus. Das zerstreute Man ( )
ist der Modus unseres Existierens, durch den wir selber in den
allgemeinen Todeszusammenhängen stecken und mit der Todesindustrie
kooperieren. Ich möchte behaupten, daß Heidegger
den Anfang des Fadens zu einer Philosophie der Aufrüstung in Händen
hält: denn Aufrüsten heißt, sich dem Gesetz des Man unterwerfen.
Einer der eindrucksvollsten Sätze aus Sein und Zeit lautet:
»Das Man läßt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen«
(254).
Wer aufrüstet, ersetzt den »Mut zur Angst vor dem eigenen Tod«
durch militärischen Betrieb. Das Militär ist der größte
Garant dessen, daß ich nicht meinen »eigenen Tod« sterben
muß; es verspricht mir Hilfe beim Versuch, das »Ich sterbe«
zu verdrängen, um an seiner Stelle einen Man-Tod zu bekommen, einen
Tod in absentia, einen Tod in politischer Uneigentlichkeit und
Betäubung. Man rüstet, man zerstreut sich, man stirbt.
Ich finde in Heideggers
»Ich sterbe« den Kristallisationskern, um den sich eine Realphilosophie
des erneuerten Kynismus entfalten kann. Kein Weltzweck darf sich je von
diesem kynischen Apriori: »Ich sterbe« so weit entfernen,
daß unsere Tode Mittel zum Zweck werden. Die Sinnlosigkeit des Lebens
- um die sich soviel dummes Nihilismusgeschwätz schlingt - begründet
ja erst dessen volle Kostbarkeit. Dem Sinnlosen ist nicht nur die Verzweiflung
und der Alptraum eines bedrückten Daseins zugeordnet, sondern auch
sinnstiftende Lebensfeier, energetisches Bewußtsein im Hier
und Jetzt und ozeanisches Fest.
Daß es bei Heidegger
selbst düsterer zugeht und daß seine existentielle Szenerie
sich zwischen den Graunuancen der Alltäglichkeit und den grellen
Blitzen der Angst und der Todesfarben abspielt, dies ist bekannt und begründet
den melancholischen Nimbus seines Werkes. Doch auch im Pathos des Seins
zum Tode läßt sich ein Körnchen kynische Substanz entdecken,
denn es ist ein Pathos der Askese, und in diesem kann sich, in einer Sprache
des 20. Jahrhunderts, der Kynismus der Zwecke zu Wort melden. Was die
Gesellschaft uns als Zwecke in ihrem Betrieb vorgibt, bindet uns immer
schon ins uneigentliche Dasein. Der Weltbetrieb tut alles, um den Tod
zu verdrängen - während doch »eigentliches« Existieren
sich erst daran entzündet, daß ich wach erkenne, wie ich in
der Welt stehe, Aug in Aug mit der Todesangst, die sich meldet, wenn ich
im voraus radikal den Gedanken vollziehe, daß ich es bin, auf den
am Ende meiner Zeit mein Tod wartet. Heidegger
folgert hieraus eine ursprüngliche Un-heimlichkeit des Daseins; die
Welt könne ja niemals das sichere, Geborgenheit spendende Zuhause
des Menschen werden. Weil das Dasein von Grund auf unheimlich ist, spürt
der »unbehauste Mensch« (...) einen Drang, sich in künstliche
Behausungen und Heimaten zu flüchten und sich aus der Angst in die
Gewöhnungen und Wohnungen zurückzuziehen.
Natürlich haben solche Sätze, obwohl ins Allgemeine gerichtet,
eine konkrete (Konkretheit schließt Vagheit nicht aus) Beziehung
zu den Erscheinungen ihres geschichtlichen Augenblicks. Heidegger
ist nicht umsonst ein Zeitgenosse des Bauhauses, des Neuen Wohnens, des
frühen Urbanismus, des Sozialwohnungsbaus, der Siedlungstheorie und
der ersten Landkommunen. Sein philosophischer Diskurs hat verschlüsselt
Anteil an der modernen Problematisierung der Wohngefühle, des Mythos
Haus, des Mythos Stadt. Wenn er von der Unbehaustheit des Menschen redet,
so ist das nicht nur gespeist aus dem Grauen, das der unverbesserliche
Provinzler angesichts moderner großstädtischer Lebensformen
empfindet. Es ist geradezu eine Absage an die häuserbauende, städtebauende
Utopie unserer Zivilisation. Tatsächlich bedeutet der Sozialismus,
sofern er lndustriebejaher sein muß, eine Verlängerung des
städtischen »Geistes der Utopie«; er verspricht ja, aus
der »Unwirtlichkeit der Städte« hinauszuführen,
jedoch mit städtischen Mitteln, und hat eine neue Stadt, die endgültige
Menschenstadt und Heimat vor Augen. So steckt im Sozialismus dieses Typs
immer schon ein von städtischer Misere mitgenährter Traum. Heideggers
Provinzialismus hat dafür kein Verständnis. Er blickt auf die
Stadt mit den Augen einer »ewigen Provinz«, die sich nicht
einreden läßt, daß je etwas Besseres an die Stelle des
Landes treten könnte. Heidegger,
so darf der gutwillige lnterpret sagen, durchbricht die modernen Raumphantasien,
wobei die Stadt vom Land träumt und das Land von der Stadt. Beide
Phantasmen sind gleich bedingt und gleich verzerrt. Heidegger
vollzieht, teils buchstäblich, teils metaphorisch verstanden, eine
»posthistorische« Rückkehr aufs Land.
Gerade in den Jahren der wüstesten Modernisierung - den sog. goldenen
Zwanzigern - beginnt die Stadt, einst der Ort der Utopie, ihren Zauber
einzubüßen, und vor allem Berlin, Hauptstadt des frühen
20. Jahrhunderts, trägt das Seine dazu bei, die Metropoleneuphorie
in ein ernüchterndes Licht zu tauchen. Als Brennpunkt der Industrie,
der Produktion, des Konsums und des Massenelends ist sie zugleich der
Entfremdung am meisten ausgeliefert; nirgendwo läßt sich Modernität
so teuer bezahlen wie in den Massenstädten. Das Vokabular der Heideggerschen
Man-Analyse ( )
scheint wie geschaffen, dem Unbehagen gebildeter Städter an der eigenen
Lebensform Ausdruck zu geben. Zerstreuungskultur, Gerede, Neugier, Unbehaustheit,
Verfallenheit (an alle möglichen Laster dürfte man mitdenken),
Obdachlosigkeit, Angst, Sein zum Tode: das klingt alles wie Großstadtmisere,
in einem etwas trüben, etwas zu feinen Spiegel eingefangen. Heideggers
Provinzkynismus hat eine heftige kulturkritische Tendenz. Aber es bezeugt
nicht nur einen hoffnungslosen Provinzialismus, wenn ein Philosoph
seines Ranges sich von den bürgerlich-städtischen und sozialistischen
Utopien abkehrt, sondern deutet auf eine kynische Kehre, in dem Sinne,
daß sie die großen Ziele und Projektionen des städtischen
Gesellschaftstraums außer Kraft setzt. Die Wendung zur Provinz kann
auch eine Wendung zu wirklicher Makrohistorie sein, die von den Regulierungen
des Lebens im Rahmen von Natur, Agrikultur und Okologie präziser
Notiz nimmt, als alle bisherigen Industriewelt bilder es konnten. Die
Geschichte, die ein Industriehistoriker schreibt, wird notgedrungen Mikrohistorie.
Die Geschichte des Landes kennt den Puls einer viel gröeren Zeitlichkeit.
Auf kurze Formeln gebracht: die Stadt ist nicht die Erfüllung der
Existenz; die Ziele des Industriekapitalismus sind es auch nicht; wissenschaftlicher
Fortschritt ist es auch nicht; mehr Zivilisation, mehr Kino, schöner
Wohnen, länger Autofahren, besser Essen: das alles ist es nicht.
Das »Eigentliche« wird immer etwas anderes sein. Du mußt
wissen, wer du bist. Bewußt mußt du das Sein zum Tode erfahren
als höchste Instanz deines Seinkönnens; in der Angst fällt
es dich an, und dein Augenblick ist gekommen, wenn du mutig genug bist,
der großen Angst standzuhalten.
»Eigentliche Angst ist ... bei der Vorherrschaft des Verfallens
und der Öffentlichkeit selten« (Sein und Zeit, S. 190).
Wer auf das Seltene setzt, trifft eine elitäre Wahl. Eigentlichkeit
sei also eine Sache der wenigen. Woran erinnert das? Hören wir nicht
wieder den Großinquisitor, wie er zwischen den wenigen und den vielen
unterscheidet - den wenigen, die die Last der großen Freiheit ertragen,
und den vielen, die als rebellische Sklaven leben wollen und nicht bereit
sind, wirklicher Freiheit, wirklicher Angst, wirklichem Sein zu begegnen?
Dieser völlig apolitisch gemeinte Elitismus, der eine Elite der wirklich
Existierenden annimmt, mußte fast unweigerlich ins Gesellschaftliche
hinübergleiten und politische Optionen lenken. Der Großinquisitor
besaß hierbei den Vorsprung eines illusionslosen und zynischen politischen
Bewußtseins. Heidegger
hingegen war ein Naiver geblieben, ohne klares Bewußtsein dessen,
daß aus dem traditionellen Gemisch von akademischem Apolitismus,
Elitebewußtsein und heroischer Stimmung fast mit blinder Notwendigkeit
unbegriffene politische Entscheidungen hervorgehen. Eine Zeitlang fiel
er - man möchte sagen also - auf den Zynismus des völkischen
Großinquisitors herein. Seine Analyse bewahrheitete sich unfreiwillig
an ihm selbst. Alles sieht aus wie. Es klingt wie »echt verstanden,
ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht«. Der Nationalsozialismus
- »Bewegung«, »Aufstand«, »Entscheidung«
- schien Heideggers
Vision von Eigentlichkeit, Entschlossenheit und heroischem Sein zum Tode
zu ähneln, als wäre der Faschismus die Wiedergeburt des Eigentlichen
aus der Verfallenheit, als wäre diese moderne Revolte gegen die Modernität
der wirkliche Beweis einer zu sich selbst entschlossenen Existenz. Man
muß an Heidegger
denken, wenn man Hannah Arendts souveräne Bemerkung über jene
Intellektuellen im Dritten Reich zitiert, die zwar keine Faschisten waren,
sich aber zum Nationalsozialismus »etwas einfallen ließen«.
Tatsächlich hat sich Heidegger
allerhand einfallen lassen, bis er merkte, was es »eigentlich«
mit dieser politischen Bewegung auf sich hatte. Der Trug konnte nicht
lange dauern. Gerade die NS-Bewegung sollte klarmachen, was das völkische
Man alles in petto hat - das Man als Herrenmensch, das Man als
zugleich narzißtische und autoritäre Masse, das Man als Lustmörder
und Tötungsbeamter. Die »Eigentlichkeit« des Faschismus
- seine einzige - bestand darin, daß er latente Destruktivität
in manifeste verwandelte und somit in höchst zeitgemäßer
Weise teilnahm an dem Zynismus offener »Ausgesprochenheit«,
die mit nichts mehr hinterm Berg hält. Faschismus, vor allem in der
deutschen Spielart, ist die » Unverborgenheit« der politischen
Destruktivität, auf die nackteste Form gebracht und durch die Formel
vom »Willen zur Macht« zu sich selbst ermutigt. Es geschah,
als ob Nietzsche
in der Art eines Psychotherapeuten zur kapitalistischen Gesellschaft gesagt
härte: »Vom Willen zur Macht seid ihr im Grund ja zerfressen,
also laßt es endlich offen heraus und bekennt euch zu dem, was ihr
ohnehin seid!« * - woraufhin die Nazis tatsächlich
dazu übergingen, »es« heraus zulassen, jedoch nicht unter
therapeutischen Bedingungen, sondern inmitten der politischen Realität.
Vielleicht war es Nietzsches
theoretischer Leichtsinn, der ihn glauben ließ, daß Philosophie
sich in provokativen Diagnosen erschöpfen dürfe, ohne
zugleich verbindlich an Therapie zu denken. Den Teufel darf nur
beim Namen nennen, wer eine Abreaktion für ihn weiß; ihn nennen
(sei es Wille zur Macht, sei es Aggression etc.) heißt, seine Realität
anerkennen, sie anerkennen heißt, sie »entfesseln«.
* Eine Würdigung Nietzsches
wird immer stark davon abhängen, wie man den » Willen zur
Macht« auffaßt. Ermunterung zu imperialem Zynismus? Kathartisches
Geständnis ? Ästhetisches Motto ? Selbstkorrektur eines Gehemmten
? Vitalistischer Slogan? Metaphysik des Narzißmus? Enthemmungspropaganda?
Seit Heidegger
ist, stark chiffriert, aber doch schon lesbar, ein Abkömmling des
antiken kynischen Impulses wieder dabei, zivilisationskritisch ins soziale
Geschehen einzugreifen; er führt letztendlich das moderne Technik-
und Herrschaftsbewußtsein ad absurdum. Vielleicht nimmt man
der Existentialontologie viel von ihrer anmaßenden Düsterkelt,
wenn man sle als phllosophlsche Eulenspiegelei versteht. Sie macht den
Leuten allerhand vor, um sie dahin zu bringen, wo sie sich nichts mehr
vormachen lassen; sie gibt sich furchtbar spröde, um das Emfachste
zu vermltteln. Ich nenne es: Kymsmus der Zwecke. Inspiriert vom Kynismus
der Zwecke könnte einem Leben wieder warm werden, das am Zynismus
der Mittel die Kälte des Machens, Herrschens und Zerstörens
erlernt hat. Die Kritik der instrumentellen Vernunft drängt darauf,
als Kritik der zynischen Vernunft zuendegeführt zu werden. In ihr
geht es darum, Heideggers
Pathos zu entkrampfen und es von der Anklammerung an das bloße Todesbewußtsein
zu befreien. »Eigentlichkeit«, wenn der Ausdruck überhaupt
Sinn geben soll, erfahren wir eher in Liebe und sexuellem Rausch, in Ironie
und Gelächter, Kreativität und Verantwortung, Meditation und
Ekstase. Bei dieser Entkrampfung verschwindet jener existentialistische
Einzige, der am eigenen Tod sein eigenstes Eigentum zu haben meint. Auf
dem Gipfel des Seinkönnens erfahren wir nicht nur den Weltuntergang
im einsamen Tod, sondern mehr noch den Ich-Untergang in der Hingabe an
die gemeinsamste Welt.
Zugegeben, der Tod hat zwischen den Weltkriegen die philosophische Phantasie
überschattet und das ius primae noctis mit dem Kynismus der
Zwecke für sich beansprucht, zumindest in der Philosophie. Doch sagt
es nichts Gutes über das Verhältnis der Existenzphilosophie
zur realen Existenz, wenn ihr nur der »eigene Tod« in den
Sinn kommt, wenn man sie fragt, was sie zum wirklichen Leben zu sagen
habe. Eigentlich sagt sie, daß sie nichts zu sagen hat - und zu
diesem Zweck muß sie nichts mit großem N schreiben. Dieses
Paradox kennnzeichnet die gewaltige Denkbewegung des Buches Sein und
Zeit: ein so großer Begriffsreichtum wurde kaum je eingesetzt,
um einen im mystischen Sinne so »armen« Inhalt zu transportieren.
Das Werk dringt auf den Leser ein mit einem pathetischen Aufruf zur eigentlichen
Existenz, hüllt sich aber in Schweigen, wenn man fragen wollte: wie
denn? Die einzige, allerdings fundamentale Antwort, die sich herausziehen
ließe, müßte, entschlüsselt (im obigen Sinne) lauten:
bewußt. Das ist keine konkrete Moral mehr, die Anweisungen
zum Tun und Lassen gibt. Aber wenn der Philosoph nichts mehr an Direktiven
zu geben vermag, so doch eine eindringliche Suggestion zur Eigentlichkeit.
Also: Du magst tun, was du willst, du magst tun, was du mußt; aber
tu es in einer Weise, daß du dir dessen, was du tust, intensiv bewußt
bleiben kannst. Moralischer Amoralismus - das letzte mögliche Wort
der Existentialontologie zur Ethik? Es scheint, das Ethos bewußten
Lebens wäre das einzige, das in den nihilistischen Strömungen
der Moderne sich behaupten kann, weil es im Grunde genommen keines ist.
Es erfüllt nicht einmal die Funktion einer Ersatzmoral (von der Art
der Utopien, die das Gute in die Zukunft legen und das Böse auf dem
Weg dorthin relativieren helfen). Wer wirklich im Jenseits von Gut und
Böse denkt, findet nur noch einen einzigen für das Leben belangvollen
Gegensatz, der zugleich der einzige ist, über den wir ohne idealistische
Überanstrengungen aus unserem eigenen Dasein heraus Macht haben:
den zwischen bewußtem und unbewußtem Tun. Wenn Sigmund Freud
in einer berühmten Forderung den Satz aufstellte: Wo Es war, soll
Ich werden, würde Heidegger
sagen: Wo Man ( )
war, soll Eigentlichkeit werden. Eigentlichkeit wäre - frei interpretiert
- jener Zustand, den wir erlangen, wenn wir in unserem Dasein ein Kontinuum
der Bewußtheit herstellen. (Dies ist ein modemes Äquivalent
für das Delphische Erkenne-Dich-Selbst. Das Freudsche
Ich fällt eher ins Man. Ist der Psychoanalysierte ein Angepaßter,
Nivellierter?) Nur das bricht den Bann der Unbewußtheit, unter dem
menschliches Leben, zumal als vergesellschaftetes, lebt; das zerstreute
Bewußtsein des Man ist dazu verurteilt, diskontinuierlich, impulsiv-reaktiv,
automatisch und unfrei zu bleiben. Das Man ist das Müssen. Demgegenüber
erarbeitet sich bewußte Eigentlichkeit - wir akzeptieren provisorisch
diesen Ausdruck - eine höhere Qualität von Wachheit. Sie legt
in ihr Tun den ganzen Nachdruck ihrer Entschiedenheit und Energie. Der
Buddhismus spricht davon in vergleichbaren Wendungen. Während das
Man-Ich schläft, ist das Dasein des eigentlichen Selbst zu sich erwacht.
Wer sich selbst in einem kontinuierlichen Wachsein erforscht, findet aus
seiner Situation, jenseits der Moralen, was für ihn zu tun ist.
Wie tief Heideggers
systematischer Amoralismus ** reicht, zeigt sich an seiner Umdeutung
des Begriffs Gewissen: er konstruiert, zugleich vorsichtig und
revolutionär, ein »gewissenloses Gewissen«. Galt Gewissen
in den Jahrtausenden der europäischen Moralgeschichte als innere
Instanz, die mir sagt, was Gut und Böse seien, so versteht Heidegger
es nun als ein leeres Gewissen, das keine Aussagen macht. »Das
Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens.«
(Sein und Zeit, S. 273) Wieder erscheint Heideggers
charakteristische Denkfigur, die nichts-sagende Intensität. Jenseits
von Gut und Böse gibt es nur das »laute« Schweigen, das
in tensive nicht-urteilende Bewußtsein, das sich darauf beschränkt,
wach zu sehen, was der Fall ist. Gewissen - einst als inhaltliche moralische
Instanz verstanden - nähert sich nun dem puren Bewußt-Sein.
Moral, als Teilhabe an sozialen Konventionen und Prinzipien, betrifft
nur das Verhalten des Man ( ).
Als Domäne des eigentlichen Selbst bleibt nur reines entschlossenes
Bewußtsein zurück: vibrierende Präsenz.
** Dieser reflektierte Amoralismus, der paradoxerweise das stumme
Versprechen einer authentischen Sittlichkeit in sich trägt, hat
seinen Gegner im sozialistischen Moralismus gefunden. Auch die jüngere
kritische Theorie hat sich von dem sensibilistischen Quasi-Amotalismus
der ästhetischen Theorie Adornos losgesagt und steuert in direkter
Argumentation auf eine positive Ethik zu. Das mag in gewisser Hinsicht
einen Fortschritt bedeuten - wenn es nur der Gefahr entgeht, hinter
die radikale Modernität des existentialistischen und ästhetischen
Amoralismus zurückzufallen. Dieser verarbeitet ja bereits die modernen
Erfahrungen mit jeglicher Moral und allen Kategorischen Imperativen:
weil diese Formen des »Sollens« in idealistischen Überanstrengungen
enden, gebiert die imperative Ethik ihre eigenen Totengräber -
Skepsis, Resignation, Zynismus. Der Moralismus treibt uns mit seinem
Du-sollst unweigerlich in ein Ich-kann-nicht. Der Amoralismus hingegen,
der vom Du-kannst ausgeht, rechnet realistisch mit der Chance, daß
das, was »ich kann«, am Ende auch das Richtige sein wird.
Die Wendung zur praktischen Philosophie, die jedes heutige halbwegs
weltgängige Grundlagendenken erfreulich auszeichnet, darf uns nicht
in Versuchung bringen, wieder mit einem kategorischen Imperativ auf
das Sein loszugehen. Kynische Vernunft entwickelt daher eine nichtimperative
Ethik, die zum Können ermutigt, statt uns in die depressiven Komplikationen
des Sollens zu verstricken.
In einem pathetischen Gedankengang entdeckt Heidegger,
daß dieses »gewissenlose Gewissen« einen Aufruf enthalte,
der an uns ergeht - einen »Aufruf zum Schuldigsein«. Schuldig
woran? Keine Antwort. Ist »eigentliches« Leben in irgendeiner
Hinsicht denn a priori schuldig? Kehrt hier die christliche Erbsündenlehre
heimlich wieder? Dann hätten wir den Moralismus nur zum Schein verlassen.
Wenn aber das eigentliche Selbst sein als das Sein zum Tode beschrieben
wird, so liegt der Gedanke nahe, daß dieser »Aufruf zum Schuldigsein«
eine existentielle Verbindung herstellt zwischen dem eigenen Noch-am-Leben-Sein
und dem Tod der anderen. Leben als Sterbenlassen; der eigentlich Lebende
ist einer, der sich als Überlebenden versteht, als jemand, an dem
der Tod eben noch vorübergegangen ist und der den Zeitraum bis zur
erneuten, definitiven Begegnung mit dem Tod als Aufschub begreift.
In diese äußerste Grenzzone amoralischer Reflexion dringt Heideggers
Analyse sinngemäß vor. Daß er sich bewußt ist,
auf explosivem Boden zu stehen, verrät seine Frage: »Aufrufen
zum Schuldigsein, sagt das nicht Aufruf zur Bosheit?« Könnte
es eine »Eigentlichkeit« geben, in der wir uns als entschiedene
Täter des Bösen zeigen? So wie die Faschisten sich auf Nietzsches
Jenseits von Gut und Böse beriefen, um äußerst
diesseitig das Böse zu tun? Heidegger
schreckt vor dieser Konsequenz zurück. Der Amoralismus des »gewissenlosen
Gewissens« ist nicht als Aufruf zur Bosheit gemeint, so wird versichert.
Immerhin macht sich der Heidegger
von 1927 noch diese ahnungsvolle Sorge, versäumte aber 1933 den Augenblick
der Wahrheit - und so ließ er sich von der aktivistischen, dezisionistischen
und heroischen Phrasenhülle der Hitlerbewegung täuschen. Der
politisch Naive glaubte, im Faschismus eine »Politik der Eigentlichkeit«
zu finden und gestattete sich, ahnungslos wie nur ein ... Universitätsprofessor
sein konnte, eine Projektion seiner Philosopheme auf die nationale Bewegung.
Doch es gilt zu sehen: Heidegger
wäre, seiner zentralen, Denkleistung nach, auch dann kein Mann der
Rechten, wenn er politisch noch verworrenere Sachen gesagt hätte,
als es der Fall ist. Denn er sprengte mit seinem, wie ich es nenne, Kynismus
der Zwecke als erster die utopisch-moralistischen Großtheorien des
19. Jahrhunderts. Er bleibt mit dieser Leistung einer der Ersten in der
Genealogie einer Neuen und Anderen Linken: einer Linken, die sich nicht
mehr an die hybriden geschichtsphilosophischen Konstruktionen des 19.
Jahrhunderts klammert; die sich nicht im Stil der dogmatisch-marxistischen
Großtheorie (ich ziehe diesen Ausdruck dem Wort Weltanschauung vor)
für die Komplizin des Weltgeistes hält; die nicht auf die Dogmatik
der industriellen Entwicklung ohne Wenn und Aber eingeschworen ist; die
die borniert materialistische Tradition, die sie belastet, revidiert;
die nicht nur davon ausgeht, daß die anderen sterben müssen,
damit die »eigene Sache« durchkommt, sondern die aus der Einsicht
lebt, daß es dem Lebendigen nur auf sich selbst ankommen kann; die
in keiner Weise mehr an dem naiven Glauben hängt, Vergesellschaftung
wäre das Allheilmittel gegen die Mißstände der Modernität.
Ohne es zu wissen und zum guten Teil sogar ohne es wissen zu wollen (hierzulande
sogar mit wütender Entschlossenheit, es nicht wahrzuhaben), ist die
Neue Linke eine existentialistische Linke, eine neo-kynische Linke ich
riskiere den Ausdruck: eine Heideggersche
Linke. Das ist, besonders im Land der Kritischen Theorie, die ein
schier undurchlässiges Tabu über den »faschistischen«
Ontologen verhängt hat, ein ziemlich pikanter Befund. Doch wer hat
die Abstoßungsvorgänge zwischen den existentialistischen Richtungen
und der links-hegelianischen
kritischen Sozialforschung gründlich und genau untersucht? Gibt es
nicht eine Fülle geheimer Ähnlichkeiten und Analogien zwischen
Adorno und Heidegger?
Welche Gründe beherrschen die augen fällige Kommunikationsverweigerung
zwischen ihnen? (Dieser Fragen hat sich jüngst Hermann Mörchens
große Studie über Heidegger
und Adorno angenommen.) Wer könnte sagen, welcher von beiden die
»traurigere Wissenschaft« formuliert hat?
Und Diogenes? Hat sich das existentialontologische Abenteuer für
ihn gelohnt? Hat seine Laterne die Menschen gefunden? Ist es ihm gelungen,
das unsäglich Einfache in die Köpfe einzuträufeln? Ich
glaube, er selber zweifelt daran. Er wird sich überlegen, ob er nicht
das ganze Unternehmen Philosophie einstellt. Sie kommt nicht auf gegen
die traurige Kompliziertheit der Verhältnisse. Die Strategie des
Mitmachens-um-zu-ändern verwickelt den Änderer in die kollektive
Melancholie. Am Ende ist er, der der Lebendigere war, nur noch der Traurigere,
und es könnte auch kaum anders sein. Wahr scheinlich kündigt
Diogenes eines Tages seine Professur, am Schwarzen Brett findet man bald
darauf die Nach richt, daß die Vorlesungen von Professor X. bis
auf weiteres ausfallen. Das Gerücht sagt, man habe ihn im American
Shop gesehen, wo er sich einen Schlafsack gekauft habe. Zuletzt sah
man ihn angeblich auf einer Mülltonne sitzen, ziemlich betrunken
und vor sich hin kichernd wie einer, bei dem es im Kopf nicht ganz stimmt.
Heidegger
läßt das subjektive Wissen der Autobiographik, ja die gesamte
Grundstellung der Subjektivität hinter sich zugunsten eines Andenkens
dessen, was er Seinsgeschichte nennt. Gadamer
sprengt den Horizont von Selbstbewußtsein zugunsten eines umfassend
angelegten Verständnisses von Überlieferungsgeschehen – ich
erinnere en passant an die einprägsame Formel: Nicht wir haben die
Tradition, sondern die Tradition hat uns.
Es gibt Tage, da kommt es mir vor, als wären alle schon tot, mit
denen man vernünftig hätte reden können.
Umrisse zu einer kinetischen Anthropologie, die ich Analytik des Zur-Welt-Kommens
( )
nenne -, das fängt mit »Der Zauberbaum« an und reicht
bis zu meinen letzten philosophischen Buch »Weltfremdheit«.
Seither steckt in allen meinen Büchern ein revolutionskritischer
Kern. Ich verstehe Philosophie als Einführung in allgemeine Revolutionswissenschaft.
Damit verglichen ist politischer Anarchismus eine Provinzaffäre.
Das Heideggersche
Sichanfangen führt bis zur Möglickeit einer rückwirkenden
Revolution in der Vergangenheit.
Der konservative Revolutionär Heidegger
fordert den mobilisatorischen Revolutionär Marx in die Schranken.
.... Von den Denkern, die den Übergang aus der Dringlichkeit in die
Initiative am tiefsten durchdacht haben, kann man lernen, daß in
der Poetik des Zurweltkommens nun noch ein drittes Moment angenommen werden
muß: das Initiativapriori.
Heideggers
Todesanalytik ... geht darum, das für das ganze neuzeitliche Denken
ausschlaggebende Initiativapriori neu zu fassen; er unternimmt den Versuch,
das Sichübernehmenkönnen so zu begreifen, daß keine Metaphysik
der Ichheit mehr vorauszusetzen ist, weder in theologischer noch in transzendentalphilosophischer
Form. Hier denkt Heidegger
letztlich revolutionärer als die offiziellen Revolutionäre.
Heidegger
... interpretiert das Ininitiativapriori als Entschlossenheit zur Selbstübernahme
aus der Verfallenheit - eine Formel, der man nicht nachsagen kann, daß
sie es dem Publikum leicht mache. Doch ist auch eine langwierige Entzifferung
dunkler Gedanken lohnend bei einem Denker, der auf hintersinnige Weise
revolutionärer dachte als die bisherigen Virtuosen der Inititiv-
und Freiheitsidee.
Heideggers
Hermeneutik des Anfangens rollt den gesamten Prozeß der »Seinsgeschichte«
noch einmal wie von vorne auf, um die Anfangsfrage auf Weißglut
zu erhitzen. ... Das Heideggersche
Sichanfangen führt bis zur Möglichkeit einer rückwirkenden
Revolution in der Vergangenheit.
Was aber die Originalität von Heideggers
Auslegung des Sinns von Sichanfangen ausmacht, ist in dem Umstand enthalten,
daß er im Anfang selbst die Spur eines »anderen Anfangs«
aufdeckt. Seither ist das Initiativapriori sozusagen nach rückwärts
offen. Sichanfangen kann jetzt heißen: sich durch uneingeschränkte
Wahrnehmung des tatsächlichen Gewordenseins nachträglich öffnen
für die Stimmen und Spuren eines anderen Anfangs.
Die physische Geburt des Menschen (zur
Welt kommen) ist das Gegenteil eines Zurweltkommens, es ist das Herausfallen
aus allem »Bekannten«, ein Sturz ins Unheimliche, ein Sichausgesetztfinden
in einer nicht geheuren Lage. Das gilt in dreifacher Hinsicht:
1) Abschied von seinem intrauterinen Leben.
2) Ankunft im Ungewissen.
3) Zu früh und unreif (unfertig) auf die Welt kommen.
In seiner Analytik der Daseinsstimmungen wirft Heidegger
die Frage auf, ob es denn unter ihnen eine gebe, in der sich dem »Enthüllungssinne
nach das Nichts offenbart« - und beantwortet sie bejahend, indem
er darauf hinweist, wie die Gesichtszüge des Seienden in der »tiefen
Langeweile« zu nichts zerfallen. Entscheidend bleibt, was Heidegger
in seiner Beschreibung der Angst ausführt.
»Zwar ist die Angst immer Angst vor ..., aber nicht vor diesem
und jenem. Die Angst vor ... ist immer Angst um ..., aber nicht um dieses
und jenes. .... In der Angst - sagen wir - ist es einem unheimlich,
Was heißt das es und das einem? Wir können
nicht sagen, wovor es unheimlich ist. Im Ganzen ist einem so. Alle Dinge
und wir selber versinken in eine Gleichgültigkeit. Dies jedoch nicht
im Sinne eines bloßen Verschwindens, sondern in ihrem Wegrücken
als solchen kehren sie sich uns zu. Diese Wegrücken des Seienden
im Ganzen, das uns in der Angst umdrängt, bedrängt uns. Es bleibt
kein Halt. Es bleibt nur und kommt nur über uns - im Entgleiten des
Seienden - dieses kein. Die Angst offenbart das Nichts. Wir
schweben in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns
schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt. Darin
liegt, daß wir - diese seienden Menschen - inmitten des Seienden
uns mitentgleiten. Darum ist im Grunde nicht dir und mirunheimlich,
sondern einem ist es so. Nur das reine Da-sein in der Durchschütterung
dieses Schwebens, darin es sich an nichts halten kann, ist noch da.«
(Martin Heidegger,
Was ist Metaphysik?, 1929, a.a.O., S. 110).
Gewiß ist auch Heideggers
Durchschütterung kein unmittelbar musikalischer Augenblick im Sinne
der Musik, die gemacht wird - so wenig wie Hegels
passiv durchzittertes Kindsein einen solchen bedeutet hat ( ).
Und doch handelt diese Theorie der Angst von einer Vor-Stimmung des Subjekts
als medium percussum, durch die das Selbst seine Klangkörpereigenschaften
verrät. Darüber hinaus hat das Hinausgehaltensein des Daseins
ins »Nichts« eine direkte tiefenmusikologische Konsequenz:
Heideggers
Angst deutet auf eine Katastrophe des Hörens, die für die Entstehung
von Musik mitverantwortlich ist; der ursprüngliche Hörunfall
ist die Folie, auf die alles spätere Wiederhören von Musik gesetzt
wird. Wenn uns nämlich während der »seltenen« Erfahrungen
großer Angst die Gegenwärtigkeit des Nichts aufgeht, so ist
mit dem Seienden im Ganzen auch sein Laut verschwunden und entzogen. Das
Da-sein in der Welt bedeutet immer schon ein Ausgesetztsein in eine Sphäre,
wo Nicht-Musik erstmals möglich ist. Wer geboren wurde, ist aus dem
tiefenakustischen Kontinuum des Mutterinstruments herausgefallen. Die
scharfe Durchschütterung der Angst entspringt dem Verlust jener Musik,
die wir nicht mehr hören, wenn wir in der Welt sind. Eine genaue
Lektüre von Heideggers
dunkler Rede läßt erkennen, daß die Angst, von der die
Rede ist, keine andere sein kann als die vor dem Tod der angeborenen Musik,
die Angst vor der furchtbaren Stille der Welt nach der Trennung vom mütterlichen
Medium. Alles, was später gemachte Musik sein wird, kommt her von
einer auferstandenen und wiedergefundenen Musik, die vom Kontinuum auch
nach seiner Zerstörung zeugt. (Ich deute hier. analog zu der naturphilosophischen
Differenz zwischen natura naturans und natura naturata,
eine tiefenmusikologische Differenz zwischen musica musicans und
musica musicata an). Wiedergefundene Musik ist Anknüpfen an
das Kontinuum nach seiner Katastrophe. Wenn der Herzschlag und das viszerale
Rauschen des primären Musikinstruments nicht mehr zu hören sind,
tritt der Ernstfall der Daseinspanik ein. Dort nämlich nur, im leeren
Schweben »in der Welt«, öffnet sich eine unheimliche
stille Weite, in der das akustische Kontinuum der mütterlichen Musik
aufgehoben ist; nur durch einen gefährdeten akustischen Ariadnefaden
bleibt das entbundene Einzelwesen noch auf die mitnehmende Kraft bezogen,
die der ersten, der inneren, der gemeinsamen Klangwelt eigen war. Man
versteht, wieso es Heideggers
Überzeugung sein konnte, daß unter der Geräuschkulisse
des betriebsamen Dahinlebens die alte Panik »schläft«:
Das normalerweise Schlafende besitzt die Authentizität des Schrecklichen,
das, wenn ich standhalte, zu mir als einem »Existierenden«
führt. Darum kann Heidegger
nicht genug betonen, daß uneigentliches Leben im Lärm und im
Gerede dahingeht, während zur Vereigentlichung die Angst vor einer
furchtbaren Stille gehört.
»Diese ursprüngliche Angst wird im Dasein zumeist niedergehalten.
Die Angst ist da. Sie schläft nur. Ihr Atem zittert ständilg
durch das Dasein.« (Martin Heidegger,
Was ist Metaphysik?, 1929, a.a.O., S. 116). Zu ihrem Wesen
rechnen eine »eigentümliche Ruhe«, eine »gebannte
Ruhe« und der Drang, die »leere Stille« zu übertäuben
(vgl. Martin Heidgger, ebd, S. 111, 113, 112). Man könnte das Hören
der Stille, weil es ein Sichhören des Daseins in der Innigkeit des
Unheimlichen einschließt, ein panisches Cogito nennen. Ich
höre nichts mehr, also bin ich da. Das Dasein in der Stille der Welt
ist eine Saite, die unter ihrer eigenen Spannung vibriert. Mag sein, daß
die Meditierer aller Zeiten Stille und Schweigen gesucht haben, weil das
Sichhören des Daseins beim Verstummen des Lärms hilft, die Saite
zu spannen. Daher feiert die Musik nicht nur das Wiederanknüpfen
ans Kontinuum, sondern erinnert, wenn sie mehr ist als Sedativ oder Narkose,
auch immer an die kosmische Stille der Existenz.
So wie Martin Heidegger
in einem berühmten Diktum darauf insistierte, daß das Wesen
der Technik selbst nichts Technisches sei ( ),
so muß man ... deutlich machen, daß das Wesen des Designs
selbst nichts Designartiges ist. Ich
habe soeben Design als Können des Nichtkönnens definiert und
möchte nun diese Formel mit einigen anthropologischen Überlegungen
unterbauen. Die Wurzeln des gekonnten Nichtkönnens reichen natürlich
weit vor die moderne Kompetenzwelt zurück, ja sie durchziehen das
gesamte Feld der menschlichen Urgeschichte und der Frühkulturen;
in denen driftet der Homo sapiens als Werkzeugmacher und Mythenerzähler
in Horden und Stämmen durch eine noch weithin technisch unbewältigte
und analytisch undurchdrungene Naturwirklichkeit. Für ihn ist das
Nichtkönnen - das Nichtvielmachenkönnen, Nichtvielverändernkönnen
im Bezug auf seine Umwelt - zumindest verglichen mit dem Machtradius der
Spätkultur - gleichsam seine erste Natur. Nichtsdestoweniger sind
die frühen Menschen alles andere als hilflose, angstüberschwemmte
Opfer einer übermächtigen Außenwelt. Sie sind, im Gegenteil,
lebhafte, erfinderische, hochbewegliche Akteure eines Überlebensspiels,
das sie mit großem Erfolg betreiben, auch wenn sie vom Kompetenzhorizont
eines mittelmäßigen modernen Individuums nur wie von einem
Dasein in göttlichen Vollmachten hätten träumen können.
Wenn ihre Lebensformen aus heutiger Sicht als schiere Ohmachtskulturen
erscheinen, so haben wir es mit einer optischen Täuschung (!!!)
zu tun. In Wahrheit sind moderne Subjekte wegen der breiten Entfaltung
ihres Kompetenzfächers viel mehr ohnmachtgefährdet als die vorgeschichtlichen
Menschen. Sie riskieren öfter und an mehreren Fronten, ihr Scheitern
durch Inkompetenz zu erfahren. Der Frühemensch hingegen profitiert
davon, daß er zumeist alle Griffe kann, die er zu seiner persönlichen
und sozialen Selbsterhaltung braucht, während er alles, was nicht
gekonnt werden kann, im Schutz von Ritualen mehr oder weniger routiniert
übersteht. Nehmen Sie an, die Sintflut fällt unter Blitz und
Donner vom Himmel auf ihr Blätterdach, dann können Sie, wenn
sich das Unwetter überhaupt überstehen läßt, es besser
überstehen, wenn Sie ein Lied für den Wettergott rezitieren.
Es ist nicht wichtig, daß sie selber Wetter machen können -
auch die modernen Kompetenzen reichen noch nicht ganz bis dorthin -, sondern
daß Sie eine Technik kennen, bei schlechtem Wetter in Form zu bleiben;
es muß in Ihrer Kompetenz liegen, auch dann etwas tun zu können,
wenn man ansonsten nichts tun kann. Nur wer weiß, was man tut, wenn
nichts mehr zu machen ist, verfügt über hinreichend effiziente
weiterlaufende Lebensspiele, die ihm dabei helfen, nicht in auflösende
Panik oder seelentötende Starre zu verfallen. Gekonntes Nichtkönnen
stiftet eine Art Leerlaufverhalten oder einen Parallelprozeß, in
dem das Leben auch in Gegenwart des Ohnmächtigmachenden weitergehen
kann. Ich verwende für solche Parallelprozesse den religionswissenschaftlichen
und ethnologischen Ausdruck Ritual. Auch die Menschen der Frühzeit
konnten nicht ganz dessen gewiß sein, ob die Sonne wirklich deswegen
aufgeht, weil sie schon vor ihr wach waren und ihren Aufgang mit einem
Rundtanz förderten; aber sie waren auf diese Weise den Dämonen
der Morgendämmerung gewachsen und konnten sich so in ihren Tag hineinspielen
und ihre mythische Identität als Kinder des hellen Gestirns und der
dunklen Erde bewahren. Die Lücke, durch die Ohnmacht, Panik und Tod
ins Leben eindringen, wird von archaischen Zeiten an durch Rituale geschlossen.
In diesem Sinn darf man von der Geburt des Designs aus dem Geist des Rituals
sprechen.
Martin Heidegger
hat in seiner ... Rede über »das Ding« die hier gestellten
Fragen am Beispiel eines Kruges erläutert. Die Funktion des Kruges
... zeigt sich in seiner Eignung zu der Aufgabe, in seinem hohlen Innern
Wasser oder Wein zu fassen und zum Ausschenken zur Verfügung zu stellen
- deswegen vereinigt er in seinem Aussehen notwendigerweise die drei Merkmale
Hohlraum, Griff und Schnabel. Die Funktion des Dings wäre demnach
einfachhin dessen Dienst oder Nutzen. Von diesem Beispiel her gedacht
sind Dinge allgemein gesprochen nützliches zuhandenes Zeug. ( ).
Als dienendes Zeug sind sie zugleich auch diskret souveräne Geber.
Gebe-Wesen sozusagen in den Händen von Lebewesen. Dies zeigt sich
am Krugbeispiel besonders klar. Der Krug ist von Amts wegen zum Ausschenken
da, so daß sich an ihm ohne Umschweife verdeutlicht, wie dieses
Ding, indem es dient, zugleich auch schenkt. Man muß zugeben, daß
Heidegger zu Recht keinen Grund sah, vor der Aussage zurückzuschrecken,
das Wesen des Kruges sei das Schenken. Von hier aus ist es nur ein Schritt
zu dem ding-ontologischen Hauptsatz, das Wesen des Dings überhaupt
sei das Ge-schenk. Wir erreichen mit diesem überraschenden Theorem
ein doppeltes Dingverständnis - eines, das den funktionalen Dienst
des Dings an den Anfang stellt und von diesem her auf den Menschen als
Herrn und Nutzer kommt, und eines, das vom Geschenkcharakter des Dings
ausgeht und den Menschen als Empfänger von Gaben der Dinge kennzeichnet.
.... Alles Design entspringt einer Anti-Andacht; es beginnt mit der Entscheidung,
die Frage nach der Form und Funktion der Dinge neu zu stellen. Souverän
ist, wer in Formfragen über den Ausnahmezustand entscheidet. Und
Design ist der permanente Ausnahmezustand in Dingform-Angelegenheiten
- es erklärt ein Ende der Bescheidenheit gegenüber überlieferten
Dingverfassungen und manifestiert den Willen zur Neufassung aller Dinge
aus dem Geist eines radikalisierten Fragens nach der Funktion und ihrem
Herrn und Nutzer. Jedem Funktionalismus wohnt ein dingstürmerischer
Funke inne. Während man beim Geschenk nicht an den Preis zu denken
hat, ist das Designer-Ding von Anfang an für Preisfragen und Revisionen
offen: Statt das Ding zu nehmen, wie es sich gibt, stellt das Design die
Funktion an den Anfang und macht aus dem Ding eine variable Erfüllung
der Funktion. Design ist möglich, weil und insofern der Satz gilt,
daß jedes Ding einen Preis hat. .... In der modernisierten Warenwelt
gibt es - idealtypisch gesehen - der Tendenz des Marktverlaufs nach keine
statischen Güter mehr, sondern nur noch Besserungen, keine stabilen
Qualitäten, sondern nur Überbietungs- und Steigerungswaren.
... Wenn der Designer als homo aestheticus und psychologicus
... ein Zulieferer für Souveränitäts-Simulationen ist,
so ist er als homo oeconomicus der Ausstatter für Güter
auf dem Weg zur Besserung; er ist der Mann des unbedingten Komperativs
- Entwicklungshelfer für aufstrebende Dinge .... Und in dem Maß,
wie der aktuelle Weltmarkt tatsächlich Besserung honoriert, wird
Design nicht nur zu einem Erfolgs-Faktor unter anderen, sondern mehr noch
zum Grundelement und zur Nährlösung für den modernisierten,
das heißt klüger gemachten Erfolg überhaupt.
Unter den Denkern des 20. Jahrhunderts war es zuerst Heidegger,
der durch seine Sezession von der zweieinhalbtausendjährigen philosophischen
Überlieferung die Privilegen des präkonfusen (kontrakt-symbolischen)
Denkens zurückgewinnen wollte. Auf seine Weise versuchte er, gegen
die eigene Zeit und doch in mancher Hinsicht auf ihrer Höhe, das
Philosophieren in den »vorsokratischen« Zustand zurückzuversetzen,
in dem vorübergehend eine Einheit von Wachen und Denken möglich
gewesen war. Der Zerfall der präkonfusen Einheit hatte sich schon
vor 2500 Jahren als unaufhaltsam erwiesen; die raschen Fortschritte in
der Begriffsbildung spalteten die alten Grundwörter in viele Teilbedeutungen
auf. Nicht jedes Wort überlebte diese Entwicklung unbeschädigt
- insbesondere verlor das archaische Verbum sophronein, verständig
sein, das eleganteste Leistungswort der alten Welt, bei seiner Gerinnung
zu dem Substantiv sophrosyne, das die Tugend der Besonnenheit inmitten
einer Gruppe anderer Tugenden bezeichnet, seine durchdringende Energie
und intime Appellwirkung.
Aus den asymmetrischen Zerfallsprodukten ergaben sich die tiefreichenden
Differenzen zwischen den Rationalitätskulturen bzw. den »Ethiken«
des Okzidents und des Orients. Während sich auf dem westlichen Pfad,
um summarisch zu reden, ein Denken ohne Wachen durchsetzte, das sich dem
Ideal der Wissenschaft verpflichtete, kam auf dem östlichen Pfad
eher ein Wachen ohne Wissenschaft zum Zug, das Erleuchtungen ohne begriffliche
Präzisierungen anstrebte - angelehnt an einen Staatschatz von Weisheitsfiguren,
der mehr oder weniger allen Meistern gehört. Heideggers
Versuch, die Alternative von Szientismus und Illuminismus in neo-vorsokratischer
Haltung zu unterlaufen, erbrachte ein Konzept von »Denken«,
das deutlich näher beim meditierenden Wachen als bei der Konstruktion
oder Dekonstruktion von Diskursen lag. Seine späte Pastorale des
Seins, die mehr einem Exerzitium als einer diskursiven Praxis gleicht,
weist auf das Unternehmen hin, die Bewußtseinsphilosophie nach ihrem
aufrüttelnden Durchgang durch die Existenzphilosophie
in eine welthaltige Wachheitsphilosophie zu verwandeln. Man darf wohl
annehmen, der Mensch unterstehe als »Hüter des Seins«
einem Schlafverbot. Allerdings wird bei Heidegger nicht recht klar, wie
der Zeitplan beim Hüten des Seins geregelt ist. Auch wie die Hüter
die Nachtarbeitserlaubnis in den Laboren der Spitzenforschung bekommen,
ist nicht leicht zu erkennen. Die Wette ist so plausibel wie anspruchsvoll:
Es gilt jetzt, die von Heidegger
in Aussicht genommene Verwandlung des Denkens in eine Wachheitsüpung
ohne Rückschritte hinter das Niveau der modernen Rationalitätskultur
vorzunehmen.
Vor Heidegger
hatte nur Oswald Spengler
einige vorläufige, doch nicht unbedeutende Skizze zur Kritik des
rationalistischen Weltzugriffs mittels einer allgemeinen Wachheitslehre
vorgetragen diese aber nicht weiterverfolgt, sondern in eine spekulative
Psychologie der Hochkulturen übersetzt und damit philosophisch neutralisiert.
Überdies entstellte er seine subtilen Hinweise auf die Angst-Verfassung
des wachen Daseins - die zehn Jahre später in Heideggers
Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? ( )
von 1929 wieder auftauchen - durch die Grobheit seines pragmatistischen
Glaubens an den Vorrang der »Tatsachen«. (Vgl. Oswald Spengler,
Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 557-579 ).
Aufs Ganze gesehen versagt die Philosophie des 20. Jahrhunderts vor dem
Imperativ der Wachheitskultur mehr oder weniger kläglich. Nicht ohne
Grund hat sie den größten Teil ihrer virtuellen Klientel an
die psychotherapeutischen Subkulturen verloren, in denen neue lebbare
Stilisierungen des Verhältnisses von Wachheit und Wissen entstanden
sind, nicht selten zum Mißfallen der verbeamteten Theoriepfleger.
Heideggers
Lichtung
denken oder:
Die Welterzeugung ist die Botschaft
Für den Eintritt in die menschenbildende
Situation ist das Zusammenwirken von vier (bzw. fünf) Mechanismen
vonnöten, deren Ineinandergreifen früh zu bizarren Kreiskausalitäten
führt. Der fünfte Mechanismus (Zerebralisation und Neokortikalisierung)
ist besonders komplex, ... weil er in gewisser Weise die Auswirkungen
der ... vier Mechanismen in einem sich eigens hierfür steigernden
Organ synthetisiert:
Keiner von diesen könnte für sich allein genommen die Hominisation
oder gar das Heraustreten in die Lichtung motivieren, aber in ihrer Synergie
wirken sie wie ein Fahrstuhl in die menschliche Ekstase. (Vgl. Feuer
! Anm. H.B.)
Der Insulationseffekt ( )
ist die formale Prämisse aller Binnenraumschöpfung. Seine Anfänge
reichen weit in die Geschichte der gesellig lebenden Tiere, ja bis in
die Pflanzenwelt zurück. Er beruht im wesentlichen auf dem Umstand,
daß die eher randständigen Exemplare in Lebensgemeinschaften
mit ihrem physischen Aufenthalt an den Peripherien der eigenen Population
den Effekt einer lebenden Wand hervorbringen, auf deren Innenseite ein
Klimavorteil für die Individuen der Gruppe entsteht, die sich habituell
im Zentrum aufhalten.
Durch die Trias von Werfen, Schlagen, Schneiden ... öffnet sich
ein Fenster, in dem Produktionen geschehen und Produkte entstehen können.
.... Im Falle des Erfolges wie des Mißerfolges konvergieren hier
zum erstenmal die Aktion (factum) und die angeschaute und beurteilte
Lage nach der Tat (verum). Der Vormensch als Werfer, Schlagoperateur
und Zerleger stellt also wenn nicht den alleinigen Produzenten, so doch
einen Kooperateur der Lichtung dar. Nur in der Lichtung - dem Bereich
der Erfolgsbeobachtung - können Wahrheiten und Handlungen aufeinander
verweisen und einander ebenbürtig sein.
Die Lichtung ist ein Werk der Steine, die zu anderen
Steinen, zu entstehenden Händen und zu bearbeitbaren oder treffbaren
Dingen passend werden. Der erfolgreiche Schlag ist die Vorform
des Satzes. Der treffende Wurf ist die erste Synthesis aus Subjekt
(Stein), Kopula (Aktion) und Objekt (Tier oder Feind). (- Sprache).
Der durchgehende Schnitt präfiguriert das analytische Urteil. Sätze
sind Wurf-, Schlag- und Schnittmimesis im Zeichenraum, wobei Affirmationen
Wurf-, Schlag- und Schnitterfolge nachvollziehen, während Negationen
aus der Beobachtung von fehlgehenden Würfen, mißglückten
Schlägen und gescheiterten Schnitten geboren werden. Die ältesten
Steinartefakte sind Werkzeug und Zeigzeug in einem. Sie sprechen von Anfang
an von der Macht, die aus dem Gegenüber-Sein-Können folgt. Darum:
Wer von Steinen nicht reden will, soll von Menschen schweigen. 
- Treffer
(Schütze und Jäger)
- Fund
(Sucher und Sammler)
Das ontologische Resultat dieser ersten Hervorbringungen ist also weit
mehr als ein vereinzeltes Produkt - es ist die Eröffnung des Raumes,
in dem es Resultate erst geben kann: In diesem Tat-Erfolgsfenster werden
Würfe gewertet, Bearbeitungen vollzogen und Ergebnisse verstanden.
Die Wirkungen von Würfen, Schlägen und Schnitten stiften das
Band zwischen Erfolg und Wahrheit, das in höheren Kultursituationen
zwar stark gedehnt, aber nie zerrissen werden kann. (Weswegen der späte
Heidegger
meines Erachtens der Lichtung nicht mehr gerecht wird, wenn er dazu neigt,
das besonnene Menschsein ganz auf Willensverzicht und neu-demütiges
Eingefügtsein ins Spiel des »Gevierts« einzuschwören;
dabei wird die Lichtung zu sehr von einem leerlaufenden Wach-Sein her
gedacht, das sich zur Gelassenheit überhöht; die anfängliche
Lichtung ist hingegen an sich schon der Erfolgsraum, in dem technische
Zugriffe auf Dinge beobachtbar werden: als Fenster für Erfolgsbeobachtungen
wird sie zunächst - bevor sie zu ästhetischen und mediativen
Anblicken einlädt - ausschließlich durch Eingriffshandeln und
offensive Abstanderzeugung aufgestoßen.) In diesem Raum wird der
Treffer-Charakter
von »Wahrheiten« und der Passungs-Charakter von operativen
Synthesen eingespielt; in ihm wird die Möglichkeit von Zuhandenheit
gewonnen - gleichsam die Lichtung in der Hand. Zugleich entsteht für
das Auge, das Würfe begleitet, der Horizont - die Lichtung ist die
Ausspannung des Umsicht-Raumes. In diesem Sinne darf man sagen, daß
das Ergebnis der Steinzeit
in der Eroberung jener Naturdistanz
bestand, mit der die Sprengung des Umwelt-Rings in Richtung auf Weltoffenheit
geschieht.
Heidegger
hat also nicht recht zu sagen, es seien die Griechen gewesen, die ihren
Ausdruck alétheia zuerst die »Unverborgenheit«
der Phänomene als solcher empfunden und ausgesprochen hätten.
Das Offenliegen von Phänomenen, die aus einer vorgängigen Verborgenheit
auftauchen und in sie zurückfallen können, entsteht bereits
aus der ältesten Zuwendung der werdenden Menschen zu den Resultaten
ihrer Wurf-, Schlag- und Schneideoperationen. An diesen wird Wahrheit
ursprünglich als Richtigkeit abgelesen: Sie erscheint im Treffer
eines Wurfs, in der Passung eines Griffs, im Durchgang eines Schnitts
an der richtigen Stelle.
In der ersten Offenheit wird der Unterschied zwischen erfolgreichen
und erfolglosen Handlungen scharf: mehr noch, vom frühesten Aufkommen
der Sprache
an werden auch die Stimmgebärden, die Rufe, die Sätze empfindlich
für den Unterschied von Erfolg und Mißerfolg. Der Parallelismus
zwischen materiellen Handlungserfolgen und zutreffenden Aussagen wird
dichter.
Der Erfolg der harten Mittel - der Wurf-, Schlag- und Schneidemittel
- bildet sich im weichen Mittel, im Sagen und im Zeichnen, ab. In dieser
Hinsicht ist die Sprache
nichts als ein Medium, Erfolge zu repräsentieren und zu präsentieren
- mithin eine Form, die einerseits Erfolge wiedergibt, andererseits selbst
reiner Vollzug von Redeerfolg ist. Mit jedem erzielten, gesagten und gespeicherten
Erfolg, mit jedem treffenden, schlagenden, schneidenden Wort wächst
der Abstand der Vormenschen gegenüber ihrer »Umwelt«
und spinnt sie in die Sphäre der erfolgreich gesagten Dinge ein.
Das vormenschlich-beinahe-menschliche Tier wird jetzt expansiv und ferne-empfindlich:
Seine Ekstase hebt an, sein Spielraum wächst, seine Fähigkeit
der Selbstbergung in Technikhüllen und Erfolgserinnerungen - nachmals
Geschichten - nimmt zu. In diesem Sinn streben tatsächlich alle Menschen
»von Natur aus« nach dem »Wissen«, das Erfolg
ist.
Der Gebrauch des harten Mittels während der gesamten Dauer der
altsteinzeitlichen
Anthropogenese erzeugt eine evolutionär einzigartige Situation, in
der die Organismen der Präsapienten von dem Zwang zur nur-körperlichen
Anpassung an die äußere Umwelt zunehmend freigesetzt werden.
.... Halten wir fest, daß mit der Körperausschaltung nicht
gesagt ist, es gebe keinerlei Selektion mehr oder die adaptiven Mechanismen
seien außer Kraft gesetzt. Aber die Selektion wird zunehmend treibhausrelativ:
Sie führt nicht so sehr zur Anpassung an eine druckausübende
Umwelt, sondern belohnt die Eiegnschaften, die dem werdenden Sapiens die
erhöhte Distanzierung von der Umwelt und somit die weitere Nichtanpassung
an sie erleichtern - etwa die physischen und mentalen Werfer-Qualitäten.
Halten wir fest, daß der Polylith der erste materiale Satz, in
dem ein Subjekt, der Griff, mit einem Objekt, dem Stein, durch eine Kopula
(dem Bindemittel) zusammengesetzt wird; die primitive Syntax - als erste
logische Synthesis - entstünde demzufolge aus den operativen Kategorien
oder Universalien der chirotopischen Hantierungen. (Vgl. Sprache).
Im Treibhaus der Gruppe überlebt nicht der Tüchtigste im Sinne
einer Bewährung an der Front von vorgegebenen Umwelthärten,
sondern der Glücklichste im Sinne der Klimaausnutzung und der treibhausinternen
Chancenverwertung. Die Humanevolution vollzieht sich weitgehend in einem
Gruppenmilieu, das die Tendenz zeigt, ästhetisch günstige und
kognitiv leistungsfähigere Variationen zu belohnen. Zudem werden
zahlreiche genetische Variationen selektionsneutral. Von nun an ist der
Mensch unterwegs zur Schönheit.
Das Luxurieren der weiblichen Formen und das Aufklaren der Menschengesichter
bezeugen diesen Effekt in der auffälligsten Weise. (Anthropologen
haben oft auf die spektakulären Gesäßbildungen bei Khoisanidenfrauen
[»Hottentottenvenus«] hingewiesen, die am ehesten durch lokale
sexuelle Zuchtwahleffekte zu deuten sind.) Es ist überdies vor allem
das menschliche Gehirn,
das in dieser Lage beginnt, rätselhaft zu luxurieren, indem es quasi
vorauseilend ein Leistungspotential aufbaut, das sehr weit über seine
faktischen Beanspruchung hinausdeutet. (Die Formel Runawy Brain deutet
auf den Sachverhalt, daß das Menschengehirn ein »Durchgänger«
der Evolution ist, der sich in einer langfristig wiksamen, intelligenzbelohnenden
genetischen Rückkoppelung mit primären Kulturtechniken formiert
- in unserer Terminiologie: durch den Humantreibhauseffekt).
Die Sapiens-Wesen weisen, wie die paläo-anatomische Forschung unmißverständlich
gezeigt hat, eine Reihe von Merkmalen auf, die sich nur als Aufbewahrungen
von juvenilen (jugendlichen), ja sogar von fötalen Bildungen bis
in die Erwachsenenstufe verstehen lassen. Es ist das Proprium der Sapienten,
daß sich bei ihnen dank des Treibhausprivilegs monströse Verwöhnungserfolge
langfristig stabilisieren konnten: dies geht bis zur Beibehaltung intrauteriner
Morphologien in der extrauterinen Situation - als könne dieses dissidente
Tier es sich erlauben, den Gesetzen der Reifung zu entgehen.
Das alles deutet darauf
hin, daß das »Haus
des Seins«, in dem der Mensch zu wohnen eingeladen sein wird,
nicht allein und nicht einmal in erster Linie durch die lichtende Kraft
der Zeichen errichtet wird. Vor der Sprache
sind es umweltdistanzierende Gesten des harten (wurf-, schlag- und schneidetechnischen)
Typs, die den Menschenbrutkasten erzeugen und sichern. Der spezifische
Ort des werdenden Menschen besitzt also funktional die Qualitäten
eines technisch eingeräumten externen Uterus, in dem die Geborenen
zeitlebens Ungeborenenprivilegien genießen. Danach reproduzieren
sich die Lebe-Wesen, die eines Tages Menschen sein werden, zunächst
und ausschließlich in einer Schonung, die sich am passendsten als
autogener Park bezeichnen läßt. Die Schonung, in der es Menschen
gibt, ist ein Effekt der primitiven Technik. Was
Heidegger
als das »Ge-stell«
benennen und als fatales Seinsgeschick verstehen wird, ist zunächst
nichts anderes als das Ge-Häuse, das Menschen beherbergt und durch
Beherbergung unmerklich herstellt. (Heidegger
kommt dem Begriff des Ge-Häuses sachlich zur Zeit des Kunstwerk-Aufsatzes,
1935, am nächsten, als er an dem Konzept eines guten Ge-stells [»das
Kunstwerk stellt eine Welt auf«] arbeitete). Dies legt den verwirrenden
Befund nahe, daß Menschen die Lebe-Wesen sind, die nicht zur Welt,
sondern ins Treibhaus kommen - freilich ein Treibhaus, das die Welt bedeutet.
(Immerhin läßt sich das, was der späte Heidegger
über die »Gegend« und das Wohnen sagt, wie eine Wiederentdeckung
des ursprünglichen Ge-Häuses lesen).
Die Erforschung und Formulierung dieser Zusammenhänge verbindet
sich mit dem Namen des Amsterdamer Paläoanthropologen Louis Bolk,
auf den das später von Adolf Portmann modifizierte Fötalisations-Theorem
im wesentlichen zurückgeht. (Bolk spricht [1926] öfter von Fetalisierung
als von Neotenie, meint aber denselben Komplex von Beobachtungen: die
phänotypische Festhaltung juveniler oder sogar fätaler Bildungen.
Portmann setzt den Akzent mehr auf die zeitlichen und mentalen Aspekte
der menschlichen Frühgeburtlichkeit
als auf die morphologischen Manifestationen der Neotenie.) In seiner Essenz
besagt dieses, daß beim modernen Homo sapiens eine Zeit-Revolution
stattgefunden hat, deren Konsequenzen uns fortwährend in Atem halten.
In ihrem Drehpunkt stehen eine riskante Vorverlegung des Geburtenzeitpunkts
und ein sehr langer Aufschub
der Erwachsenwerdung - zwei Prozesse, die durch evolutionär spät
erworbene endokrinologisch-chronobiologische Mechanismen gesteuert werden.
Tatsächlich ist das herausragende Merkmal der werdenden Sapiens-Gruppen
der beispiellose Ausbau der Infantilität: Er wird übersteigert
durch die Einbringung festgehaltener fötaler Züge ins erwachsene
Erscheinungsbild.
Beim modernen Menschentypus ist davon auszugehen, daß das traditionelle
anthropogonische Treibhaus schon ganz die Eigenschaften eines Brutkastens
übernimmt. Die uterusmimetischen Qualitäten des Menschen-»Ge-Häuses«
erstrecken sich in der Folge auf die Adoleszenten und die erwachsenen
Mitglieder der Gruppen und setzen auch bei ihnen Tendenzen zur Verspätung
der reifen Formen frei.
Auf diese Weise entsteht innerhalb der »Dimension« Menschen-Raum
die existentiale Zeit: Sie wird zuerst als Dimension für Zurückbehaltungen,
Verzögerungen und Verwöhnungen bemerkbar (sie machen die Substanz
der Vorgeschichte als Hominisationszeit aus), später auch als Dimension
für Vorwegnahmen, Beschleunigungen und Fortifikationen (sie sind
die Substanz der Geschichte als Weltalter der Kulturenkonkurrenz und der
Kriege). Die menschliche Zeitmaschine unterliegt dem Prinzip der regressiven
Revolution. Die Tiefe des Rückschritts zeigt den Bedarf an Vorausschritt
an. (Dies hat Heidegger
abstrakt ausgedrückt, indem er die Dimension Zukunft von Herkunft
abhängig sein ließ, ohne die Differenz zwischen Zukunft und
Herkunft einzuebnen. ...) Das Ausmaß der Verfeinerung bestimmt,
wieviel Härte nach außen abgegeben werden muß. Die Leistung
des Brutkastens wiederum gibt vor, bis wohin die Verfeinerung in seinem
Innern gehen kann.
Übertragung (bzw. Sprache)

Hier kommt der Horizont einer symbolischen Immunologie und die Psychosemantik
der Regeneration in Sicht, ohne welche die Existenz von Homo sapiens
in den chronischen Leiden seiner Geschichte nicht denkbar ist. Der Rückgriff
auf Zustandserinnerungen aus der Zeit vor Katastrophen ist derAnsatzpunkt
für die Entstehung von reparativen Religionen.
Deren Kern bilden rituelle und psychische Handlungen, mit denen integre
Raumerfahrungen auf Zustände nach Unheil übertragen werden.
Darum kennen viele religiöse Systeme das Konzept der Wiedergeburt:
mit ihr läßt sich das Wiederanknüpfen des verletzten Lebens
an der Integrität des Ungebornenen am überzeugendsten inszenieren.
Der Mechanismus der Übertragung sorgt dafür, daß Qualitäten
des ersten Raumes in äußere und äußerste Situationen
übernommen werden. Wo auch immer Neu- und Notsituationen danach verlangen,
verstanden und gestaltet zu werden, greifen Menschen auf Routinen aus
der älteren, relativ integren Situation zurück und legen sie
in den fremden Raum hinein. Nicht zufällig haben die germanischen
und romanischen Sprachen ihre Begriffe von Gewohnheit oder Habitus aus
dem Aufenthalt im Primärraum, das heißt aus dem Wohnen abgeleitet;
sie deuten das Sich-Gewöhnen an Neues als eine Gewohnheitsübertragung.
In diesem Geschehen findet sich der Schlüssel zu dem, was man bei
Menschen in einem überbiologischen Sinn Erwachsenwerden nennt. Zu
ihm gehört immer ein gewisses Sicheinleben ins Nicht-Eigene - wohl
auch ein maßvoller Verzicht auf die Übertragung, ohne welchen
niemand fähig wird, dem Neuen als Neuem zu begegnen.
Als Heidegger
die Sprache als das »Haus
des Seins« bezeichnete, bereitete er die Einsicht in die Sprache
als das allgemeine Organon der Übertragung vor. Mit ihr navigieren
die Menschen in den Ähnlichkeitsraum. An ihr ist nicht nur wichtig,
daß sie die nahe Welt aneignet, indem sie Dingen, Personen und Qualitäten
zuverlässige Namen zuordnet und sie in Geschichten, Vergleiche, Serien
verstrickt. Entscheidend ist: Sie »nähert« das Fremde
und Unheimliche, um es in eine bewohnbare, verstehbare, mit Einfühlung
auskleidbare Sphäre einzubeziehen. Sie macht die menschliche Heraussetzung
an die offene Welt lebbar, indem sie die Ekstase in Enstase übersetzt.
Die »Tendenz auf Nähe« setzt sich in der menschlichen
Rede vom ersten Wort an durch; Sprache ist immer schon Nähe-Dichtung.
(Heideggers
Lehre vom existentialen Ort: »Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz
auf Nähe« [Martin Heidegger,
Sein und Zeit, 1927, S. 105]). Sie assimiliert das Unähnliche
dem Ähnlichen - wie bei der Bildung von Metaphern besonders deutlich
wird. Man könnte umgekehrt auch sagen, daß sie die Enstase
im Gewohnten »hinaus«trägt in die Ekstase beim Ungewohnten.
Ihre wesentliche Leistung besteht darin, wie Heidegger bemerkt, daß
sie das Seiende im Ganzen verhäuslicht (...). ... Sprache ist - oder
war - das allgemeine Weltbefreundungsmedium in dem Maß, wie sie
das Agens der Übertragung von Häuslichem auf Nicht-Häusliches
ist - oder war.
Der Graecophile Heidegger
nimmt das Hegelsche
Motiv der Welthäuslichkeit auf; aber er transportiert es aus der
idealistisch-olympischen in eine vorolympisch-titanische Tonart, indem
er klarstellt, daß es nicht der Mensch (und erst recht nicht der
»Geist«) ist, auf dessen Bei-sich-sein oder Einhausung in
der Welt es ankommt. Vielmehr fragt er, wie das Sein, dessen Lichtung
durch den Menschen hindurchblitzt, überhaupt bei sich sein kann.
Oder, um es im Jargon deutscher Soziologie zu sagen: Wie kann das Ungeheure
eine vernünftige Identität ausbilden?
Der fünfte Mechanismus - Zerebralisation und der Neokortikalisierung
- synthetisiert in gewisser Weise die Auswirkungen der ersten vier Mechanismen
in einem sich eigens hierfür steigernden Organ.
Die Zerebralität kan zum Teil durch hohe evolutionäre Prämien
auf Intelligenzzuwächse (daneben auch wohl durch ständigen Zugang
zu einer Nahrung aus tierischen Proteinen) erklärt werden. Das führt
zu einer dramatischen Volumenvergrößerung beim Gehirn, zur
höheren Ausbildung der Neokortex und einem riskanten intrauterinen
Schädelwachstum, als dessen unmittelbare Nebenfolge sich der Zwang
zur Frühgeburt
ergibt. Beide Tendenzen, Zerebralisierung und Frühgeburtlichkeit,
sind kreiskausal voneinander abhängig. Sie werden von der Tatsache
mitgetragen, daß das stabilisierte Gruppentreibhaus über lange
Zeitspannen hin imstande ist, die Funktionen eines externen Uterus zu
garantieren, und zwar weit über die Periode der nachgeburtlichen
Symbiose zwischen Menschenmutter und Kind hinaus, durch die das Uterusdefizit
des Neugeborenen ausgeglichen wird: Das Menschenkind brauchte nach psychobiologischen
Erkenntnissen eine Tragzeit von 21 Monaten, wenn es den Geburtsreifezustand
des Primatenniveaus mutterleibintern erreichen sollte. es muß aber
spätestens nach 9 Monaten geboren werden, um die letzte Chance zum
Durchgang durch die mütterliche Beckenöffnung zu nutzen. 
Die Organe der Lichtung bezeugen den Übergang des
Biologischen ins Metabiologische.
Die menschlichen Gehirne sind die allgemeinen Organe der Lichtung; in
ihnen konzentriert sich der Inbegriff von Möglichkeiten der Offenheit
für das, was Nicht-Gehirn ist. Die Lernfähigkeit der Sapiens-Gehirne
kommt nicht nur einem Selbstbeweis der organismischen Intellignnz gleich,
sondern in eins damit einem wie immer mittelbaren Realitätsbeweis
für die Außenwelt. Seine dramatisch luxurierende Entwicklung
gab dem Exodus des Menschenwesens aus der Armut (Dummheit) die vollkommensten
Mittel an die Hand. Durch Einbettung in das Konzept der Gehirne von ihresgleichen
erst werden die Exemplare von Homo sapiens auf endogene Weise weltfähig.
Entscheidend ist, daß der größte Teil der menschlichen
Gehirnbildung in der extrauterinen Situation geschieht. Durch das Bereitsein
für Spätprägungen gewinnen das Abwarten und Offenstehen
für nicht-angeborene, situative und »historische« Information
definitiv die Oberhand gegenüber dem Angeborenen und Mitgebrachten.
Das Menschengehirn hält die vertrauensbildenden Kontinuen der ersten
Welteinbettung ebenso fest, wie es die mißtrauensbildenden Einschnitte,
Verletzungen und Weltverluste speichert. So wird es zur Werkstatt des
Verhältnisses von Apriori und Aposteriori, das heißt zur organischen
Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Es ist die höchste
Ausgeburt der Brutkastensituation und zugleich das Organ der Ekstase,
die über das Brutkastendasein hinausdeutet.
Angesichts dieser Zusammenhänge kann man behaupten, daß alle
Technik ursprünglich - und die längste Zeit unbewußt -
Treibhaustechnik und ipso facto indirekte Gentechnik gewesen ist.
Unter Perspektiven der Evolutionstheorie ist die umweltdistanzierende
Praxis der Vormenschen und erst recht der beginnenden Menschen immer schon
eine spontane Genmanipulation - Selbstbehausungstechnik mit der Nebenwirkung
Menschwerdung.
Heidegger
hatte in seinem ominösen Spiegel-Gespräch (1966) den Satz geäußert:
»Nur
noch ein Gott kann uns retten« ( ).
Nach allem, was wir heute wissen, wäre das Wort Gott zu ersetzen
durch den Ausdruck »das Vermögen, Naturen zu schaffen«
... das Vermögen, mit den Naturen zu kooperieren.
Kurzum, in unseren Tagen kann niemand wissen, was den Sachgehalt von
sirenischen Wörtern wie »Nachhaltigkeit« und »Zukunftsfähigkeit«
ausmacht. Wer imstande wäre, zwischen Gang, Drift und Sturz zu unterscheiden,
müßte prophetisch begabt sein. Dies ist der Zustand, auf den
Heidegger
anspielte, als er seine Bemerkung aussprach, nur noch ein Gott könne
uns retten.
Der angeklagte Wille zur Macht wird in der nächsten Prozeßrunde
als Helfer in der Not gerufen werden - wenn er auch selbst bei der Auslösung
der Not nicht unschildig war. Mehr denn je ist die technisch avancierte
Menschheit zu »Alchemie« verdammt.
Die Lichtung
ist ... nicht ohne ihre technogene Herkunft zu denken.
Man kann weder unverwandt in die Sonne blicken noch in den Tod. Nach
Heidegger
wäre hinzuzufügen, man kann auch nicht in den Menschen oder
in die Lichtung blicken. .... Heidegger
regt an, daß man nicht nur das anschaut, was im Licht liegt, sondern
daß man darüber nachdenkt, wie das Licht und die Dinge zusammenkommen,
anders gesagt, man soll die Lichtung als solche meditieren. Die Lichtung
ist gleichsam der weltgebende Blitz .... Aber wer direkt in ihn schaut,
wird geblendet. .... Die Menschen ... sollen den Blitz bedenken und sich
in seinem Licht selber als die Unheimlichen fürchten lernen. Der
Mensch kennt sich selber noch gar nicht, weil er noch nie richtig nach
sich selbst gefragt hat. Wenn er sich konventionell als animal rationale
definiert, fügt er nur zwei scheinbar vertraute Größen
zusammen: Er bildet sich ein, zu wissen, was Tiere sind, und er glaubt
zu verstehen, was die Ratio ist, und indem er die beiden Trivialitäten
addiert, meint er zu guter Letzt, er habe Übersicht hergestellt und
sei bei sich zu Hause. Auf dieser Ebene argumentieren auch heute noch
oder schon wieder all diejenigen, denen die Ungewißheiten und Unübersichtlichkeiten,
alt oder neu, zu viel geworden sind und sich in einem »neuen
Humanismus« retten wollen, zum Beispiel die reaktionären
Neokantianer
in Frankreich, die das angeblich antihumane Denken von 1968 zuerst verhunzt
und dann in seiner Verhunzungsgestalt scharf abgelehnt haben. Human, da
weiß man, was man hat:
Der Humanismus ist der Fundamentalismus unserer
Kultur, er ist die politische Religion des globalisierten okzidentalen
Menschen, der sich für so gut und klarsichtig hält, daß
er sich gern überall nachgeahmt sähe.
Heidegger
ist ein Ontologe der Unheimlichkeit des Menschen bei sich selbst, wenn
er darauf hinweist, daß der Mensch den Ort im Seienden innehat,
wo sich die Seinsfrage überhaupt erst stellt. Durch den Menschen
hindurch geschehen all diese explosiven Ereignisse wie der Weltkrieg als
planetarische Projektion der Machtfrage und die Totalbenutzung der Erde
und des Lebendigen für die Produktion, den Verkehr, den Konsum. Wo
so gefragt wird, ist es mit der Erbaulichkeit des Humanismus in Schule
und Sonntagspolitik vorbei.
Seltsam, daß die leidlosen Atome so leichtsinnig waren, sich auf
Nervlichkeit, auf Schmerz und Gedächtnis einzulassen, lange vor dem
Menschen. Ist das nicht eine Unfaßbarkeit für sich? Das
ist sie ohne Zweifel, aber nur, wenn der Mensch da ist, dem sie auffällt.
Sie kann ihm freilich nur auffallen vor dem Hintergrund seiner eigenen,
noch größeren Ungeheuerlichkeit, seiner noch enormeren Auffälligkeit,
seiner ontologischen Ekstase, die man diskret mit dem Allerweltswort Existenz
bezeichnet.
Heidegger
hat in einem quasi-naturwissenschaftlichen Passus der Grundbegriffe
der Metaphysik, 1929-1930, nach dem berühmten Langeweile-Abschnitten
[ ],
die Differenzen zwischen der Weltlosigleit der Steine, der Weltarmut des
Tieres und dem weltbildenden Wesen des Menschen herausgearbeitet, im übrigen
mit einer Darstellungskraft, die kaum ihresgleichen hat, zugleich professoral
und dämonisch, Das läßt sich auch so lesen, als sei beim
Menschen zu allem Bisherigen eine Art von ontologischem Organ hinzugekommen,
ein Welt-Sinn oder eine Totalitätsfühligkeit, wie sie kein Tier
besitzen konnte - vorausgesetzt, der Mensch 'macht auf' und hebt den Kopf
und existiert. Ansonsten bliebe auch für Mitglieder der Menschengattung
wahr, was Heidegger
bemerkt: »der vulgäre Verstand sieht vor lauter Seiendem die
Welt nicht«. Diese potenzierte Unheimlichkkeit der Seinsfrage, als
Menschenfrage oder besser als Sein-durch-Menschen-Frage gestellt, macht
den enormen Angriffswert der scheinbar so betulichen Heideggerschen
Reflexionen aus. Manche Zeitgenossen haben gespürt, daß Fragestellungen
von einer ähnlichen Mächtigkeit nur in den Zeiten der Schöpfung
der Hochreligionen aufgekommen waren.
Die Dezentrierung des Menschen ist im Spiel, wenn Heidegger
behauptet, die bisherige Metaphysik habe nicht »hoch genug«
vom Menschen gedacht. Zu niedrig denkt man ihm zufolge, wenn man den Menschen
als ein animal mit einem Zusatz an Vernunft vorstellt, wie es der
Tradition entspricht. Hoch genug setzt man an, wenn man den Menschen als
den Da-Seienden bedenkt, das heißt als das Wesen, das in der Lichtung
selbst ist. Ich habe versucht, Heideggers
Denkbewegung nach der ominösen Kehre ... in sehr knappen Umrissen
nachzuzeichnen, ausgehend von der äußerst katholisch klingenden
These, daß es auch in der modernen Welt nicht so sehr auf den Menschen
ankommt, sondern auf etwas, das über den Menschen hinausgeht und
wofür er nur Medium oder Resonanzboden sein kann - Heidegger
sagt »Hüter« und »Nachbar« -, nämlich
auf das Sein. Die christliche Tradition hätte hier von Gott gesprochen,
aber seit Heideggers
Intervemtion wissen wir, daß man von der sorglosen Gleichung von
Gott und Sein die Finger lassen soll. .... In
Heideggers
berühmten Diktum aus dem Gespräch mit Rudolf Augstein, »Nur
noch ein Gott kann uns retten« [ ]
kann man einen fernen Nachhall des Ansatzes von Augustinus
hören. Es kommt nicht nur auf den Menschen nicht an - selbst wenn
es auf ihn ankäme, wäre ihm nicht zu helfen, weil nur der Gott
oder ein Gott ihn noch retten kann. Selbsthelfertum ist menschlicherseits
nicht möglich, wird uns da nachdrücklich versichert. Deswegen
führen menschengemachte Revolutionen zu nichts - das ist und bleibt
die Grundüberzeugung des abgedankten Revolutrionärs Heidegger
von dem Moment an, in dem er das Nazi-Unwesen durchschaute und sich von
der Revolutionsillusion zurückzog -, sie machen alles immer nur noch
schlimmer, weil sie unweigerlich erneut anthropozentrisch und gestell-immanent
ansetzen und niemals mehr zuwege bringen können als die Fortsetzung
der schicksalhaften Gestell-
und Selbstermächtigungsdynamik mit anderen Mitteln. Diese dunkle
und menschenskeptische
Anthropologie geht den Modernen gegen den Strich, denn die Moderne stellt
sich alternativelos als ein Ermächtigungs- und Fortschrittsprojekt
der politischen Vernunft und der Technik vor, ein Projekt, das nur Sinn
ergibt, wenn der Mensch aus eigener Kraft gut und klug sein kann, zumindest
klug und gut genug, um nicht sofort an sich selbst zu scheitern. Aufklärung
ist nur möglich, wenn der Mensch nicht schon kurzfristig der Gnade
bedarf, um das Richtige zu tun. Die Modernen sind eben keine Augustiner
mehr, sondern Pelagianer
oder humanistische Semi-Monotheisten, meistens jedoch nur diffuse
Atheisten mit einer Aussteuer an quasi-transzendenten Menschenrechten.
Für die Verfechter von theonomen oder ontonomen Denkformen ist dieser
pelagianische
Humanismus
hingegen nichts als die fortgeschrittenste Form von kreatürlich-rebellischer
Verblendung und die Matrix der subjektivistischen Selbstgerechtigkeit,
die nach ihrer Überzeugung in die Vernutzung, Entstellung und Vernichtung
von allem führen muß. Diesen Irrungen gegenüber wäre
in der Sicht der Theonomisten eine radikale Dämpfung angesagt - bei
Heidegger
ist von Besinnung die Rede -, und zwar mit der Betonung darauf, daß
auch diese etwas ist, was man nicht selbsthaft machen kann, sondern was
uns vom Sein »gegeben« oder »geschickt« werden
muß, wenn sie denn statthaben soll. .... Bei Heideggers
Zurückweisung des gewöhnlichen Humanismus
handelt es sich um eine Denkgebärde, die im alteuropäischen
Bestand verankert ist und über die man sich nicht so einfach aufregen
müßte, wenn man noch eine Ahnung hätte von dem, was das
theonome Denken seit jeher gewollt und gelehrt hat. Nun sagt Heidegger
im Jahr 1946, »daß nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern
das Sein als die Dimension des Ekstatischen der (menschlichen) Ek-sistenz«.
Der Satz war wohl eine Zeitbombe, die nach 50 Jahren durch meine Paraphrase
gezündet hat. 
Seit der Publikation der Botschaft von der schafgewordenen Klonzelle
im Februar 1997 spüren viele Menschen mit einem Mal den Eintritt
in die Ernstfallphase der Biotechnik [ ].
Alle ahnen irgendwie, der Klon-Mensch wäre der erste Mensch nach
Christus, auf den die nizäische Formel genitus non factus
wieder anzuwenden wäre, zumindest sinngemäß, denn genitus
heißt im Theologencode; von Gottvater direkt durch Selbstmitteilung
hervorgerufen und nicht durch physische Kausalität erzeugt, aber
auch nicht nach dem Adam-Verfahren hergestellt. Mithin, so wie Dolly kein
schafgemachtes Schaf mehr ist, so wäre auch der homo clonatus
kein menschengezeugter Mensch mehr, und zugleich erst recht in einem verschärften
Sinn ein menschengemachter Mensch, er wäre der Homunculus
von dem die Europäer durch ihre alchemistische Avantgarden seit der
Renaissance reden [ ].
Mit ihm würde die bisherige genealogische Logik auf den Kopf gestellt.
Das Klonen gäbe ... dem ohnehin schon angeschlagenen biparenten System
den letzten Stoß. Was sollte man etwa von einem weiblichen Individuum
denken, das die Zwillingschwester ihrer Mutter wäre und ihre Tochter?
Für Heidegger
war klar, daß sich die Seinsfrage durch die Macht- und Technikfrage
hindurch stellt [ ].
Und wie richtig das gesehen ist, bemerken wir erst heute daran, daß
die Spitzentechnologien in den 'life sciences' sich daran machen, die
Codes des Lebendigen umzuschreiben.
Heidegger
hat sich ohne Zweifel in die Höhenlinie der europäischen Philosophie
eingetragen - vielleicht der einzige in unserem Jahrhundert, den man auf
lange Sicht in einem Atemzug mit Platon,
Augustinus,
Thomas,
Spinoza,
Kant,
Hegel
und Nietzsche
wird nennen dürfen. .... So umfassend, wie ein Religionsstifter nach
einem Heilsweg fragt, fragt Heidegger
nach der Wahrheit über den Menschen. Man versteht ihn besser, glaube
ich, wenn man ihn mit Lehrern der zurückgezogenen Weisheit wie Lao-Tse,
mit indischen Denkmeistern wie Shankara und Nagarjuna oder Religionsgründern
wie Paulus,
Mani
oder Luther
in eine Linie stellt. Bei Gestalten dieses Ranges geht es um Neufassungen
des modus vivendi. Bei Heidegger
wird es für uns deswegen so unheimlich, weil uns die Zurückführung
seiner Gedanken auf die mystischen Muster und die christlichen Analogien
letztlich nichts nützt. Wir können nicht sagen, bei Meister
Eckhart steht das alles schon, denn Meister Eckhart hat die Atombombe
nicht erlebt, aber Heidegger
hat sie erlebt, und mehr noch als das, er hat sie gedacht. .... Die Blitze
von Hiroshima und Nagasaki waren so etwas wie Offenbarungen des Stands
der Dinge auf der Linie seiner Betrachtungen. Die beiden Atompilze kamen,
seiner Sicht gemäß, aus dem Kern des Humanozentrismus, sie
waren Menschenwitz-und-Kunst in quintessentieller Form, sie waren Gestell
und Explosion in einem, sie waren der Offenbarungseid der modernen Physik
und in gewisser Hinsicht die deutlichste Selbsterklärung nicht nur
der amerikanischen, sondern der modernen Stellung zur Welt überhaupt.
Der Mensch, sofern er das Wesen ist, das »existiert«, ist
das Genie der Nachbarschaft. Heidegger
hat das in seiner kreativsten Zeit auf den Begriff gebracht: Sind Existierende
zusammen da, halten sie sich »in derselben Sphäre von Offenbarkeit«.
Sie sind füreinander erreichbar und doch einander transzendent -
eine Beobachtung, die zu unterstreichen die Denker des Dialogs nicht müde
werden. Aber nicht nur Personen, auch die Dinge und die Umstände
werden auf ihre Weise vom Prinzip Nachbarschaft erfaßt. Deswegen
bedeutet »Welt« für uns den Zusammenhang von Zugangsmöglichkeiten.
»Dasein bringt schon die Sphäre möglicher Nachbarschaft
mit sich; es ist von Hause aus schon Nachbar zu ....« (Martin Heidegger,
Einführung in die Metaphysik, 1935, S. 138). Steine, die nebeneinander
liegen, kennen das ekstatische Offensein füreinander nicht. Nicht
alle geben das zu.
Jede Lage im Schaum [ ]
bedeutet eine auf die eigene Blase bezogene relative Verschränkung
von Umsicht und Blindheit; jedes In-der-Welt-Sein [ ],
als Im-Schaum-Sein [ ]
verstanden, eröffnet eine Lichtung im Undurchdringlichen.
Zu Recht hatte Heidegger
gelehrt, Technik sei eine »Weise des Entbergens«. Das besagte
zugleich, daß dem technisch Entborgenen und Veröffentlichten
nur noch eine abgeleitete Phänomenalität, eine hybride Öffentlichkeit
und eine gebrochene Zugehörigkeit zur Wahrnehmnung zukommen kann.
Heideggers
Ge-stell-Begriff
fängt etwas ein von der Abnormität der zum Erscheinen genötigten,
von sich her nicht erscheinenden Sachverhalte. Er bezeugt ein Gespür
für das Monströse im Neu-Entborgenen, mithin für die Vergewaltigung
des Verborgenen, das sich durch Forschung zu erkennen geben muß
und das, sobald es unter Sichtbarkeitszwang bzw. in die Veröffentlichung
gerät, etwas ganz anderes bedeutet als die Anwesenheit eines naturwüchsigen
»Dings« in der näheren Umgebung oder das Offenstehen
einer herkömmlichen Landschaft für ausgreifende Umsichten.
Wissenschaft und Technik haben ihm zufolge von sich her den Charakter
eines organisierten Attentats auf die Verborgenheit. Den maßgeblichen
Wink für die Entwicklung dieser Ansicht entnahm Heidegger
dem griechischen Wort für Wahrheit, alethéia, das er
mit Un-Verborgenheit übersetzte - in einer Hinsicht wohl zu Recht,
da es sich nahelegt, den Ausdruck als Kompositum aus dem Wort lethe,
Verhüllung, Verbergung, Vergessen, und dem Negationspräfix a
- zu analysieren. Demnach beruhte der Begriff auf der Vorstellung, daß
»wahr« ist oder besser: in den Wahrheitsbereich eintritt,
was aus einer Verhüllung, Verbergung, Vergessenheit in die Enthüllung,
Entbergung, Erinnerung »herüberkommt«. Nicht allein durch
das Urteil, das einen Satz als wahr oder falsch bestimmt, wird die Wahrheit
als Wahrheit gestiftet; sondern daß eine Erscheinung, ein Vorschlag,
eine Phänomen-Falte in den Bereich des Offenliegenden ragt und das
Urteil (das naturgemäß auch falsch sein kann) herausfordert,
hält das Wahrheitsgeschehen in Gang.
Wahrheit ist also nicht bloß eine Eigenschaft von ausgesprochenen
Sätzen, die dann und nur dann wahr heißen dürfen, wenn
»im Realen« »tatsächlich« der Fall wäre,
was in den Sätzen behauptet oder »abgebildet« wird; vielmehr
stellte die Physis ... ein selbstpublizierendes Geschehen dar, in dessen
Verlautbarungen die spürenden und sätzebildenden Intelligenzen
einbezogen sind. Man darf sich durch die allegorische Redeweise nicht
verschrecken lassen - wenn man von der Natur wie einer handelnden Person
spricht, sind stets mediale Prozesse gemeint. In ihrem Erscheinen, so
läßt sich der Gedanke umformulieren, gibt die Natur sich selbst
zu verstehen - sie erteilt Winke, sie zeigt ein Bild von sich, sie läßt
sich hören und sehen, sie teilt sich in ihrem Aufgehen, ihrem Ertönen
mit. Die Natur ... ist eine Autorin, die im Selbstverlag publiziert (wobei
sie wohl auf ein menschliches Lektorat angewiesen ist).
Die tragische Ironie der Fehlauslegung von Naturerkenntnis durch die
Metaphysik sowie ihre Fortsetzer in den modernen Naturwissenschaften und
Technologien besteht nun Heidegger
zufolge darin, daß ihre extrem reduktionistischen, das Wahrheitsgeschehen
entstellenden und verarmenden Begriffe so erfolgreich waren, daß
sie im Modus einer sich selbst wahrmachenden Prophezeiung über mehr
als zweitausend Jahre hin für die europäische Rationalitätskultur
bestimmend wurden. Dieser Zeitraum wäre daher ausdehnungsgleich mit
der Ära der Seinsvergessenhait. Man erinnere sich, daß eine
verwandte Sicht der Dinge mit dem Satz: »das Ganze ist das Unwahre«
ausgesprochen wurde - was historisch bedeutet: Auch das Unwahre hat schon
ein Altertum. Wer dessen Anfänge fassen will, um vor sie in unverzerrte
Zustände zurückzugehen, muß sich mit Platons
Verformelung der Wahrheit zur »Idee« oder noch früher
zu Demokrits
Aufspaltung der menschlichen Realität in Körper und Seele befassen.
Fehlbeschreibungen dieser Größenordnung gehen, wie Heidegger
sah, über die Bezeichnungskraft des gewöhnlichen Irtumsbegriffs
hinaus; sie zwingt den Betrachter, zu Ausdrücken wie »Geschick«,
vielleich sogar »Verhängnis« zu greifen.
Wie bemerkt, ließ der Denker das Offenbarwerden des Offenbaren
ursprünglich aus einer Selbstpublikation des Seins hervorgehen -
als Verlagsort der Publikation wird bei ihm die Lichtung angegeben.
Das durch Forschung und Erfindung erzeugte Wissen ist Neonlichtwissen.
An die Stelle der Selbstlichtung des Seins tritt die Zwangslichtung des
»Gegebenen«, an die Stelle der organischen Wahrnehmung die
organisierte Beobachtung. Unter solchen Prämissen ist es unvorstellbar,
daß Menschen je wieder in ein »Wahrheitsgeschehen« sich
einordnen könnten, das von der alten Natur samt ihrem »Aufgehen«,
ihrem »Gebären«, ihrem Verhüllen und Zurücktreten
in die Unscheinbarkeit abgelesen würde - ein Geschehen, in dem die
Dinge von ihnen selbst her ungenötigt zeigen, was und wieviel sie
von Ihrem zu sehen geben, um den dunklen Rest als ihr Geheimnis zu wahren.
Heidegger
als erster Chirotopologe .... 
In den Zeug-Analysen von Sein und Zeit hat sich Martin Heidegger
als erster Chirotopologe hervorgetan: Wir verstehen darunter einen Interpreten
des Sachverhalts, daß Menschen als Hand-Besitzer und nicht als Geister
ohne Extremitäten existieren. Am Heidegger-Menschen
ist Beobachtern aufgefallen, daß er kein Genital zu besitzen scheint
und wenig Gesicht - um so besser ist sein Ohr ausgebildet, um den Ruf
der Sorge zu vernehmen. ( ).
Am vorzüglichsten ist seine Ausstattung mit Händen, weil Heideggersche
Hände von einem Ohr, dem durch die Sorge eingesagt wird, von Fall
zu Fall erfahren, was zu tun ist: Von diesem Ganz-Ohr-ganz-Hand-Menschen
wird zum ersten Mal in der Geschichte des Denkens expressis verbis
ausgesprochen, daß ihm die dinglichen Mitbewohner der Welt, in der
er lebt, zeugförmig zuhanden sind. In Heideggers
sorge-erschlossener Welt bildet Zuhandenheit einen Grundzug dessen, was
den Eksistierenden im Nähe-Bereich umgibt. Zeug ist, was in der Reichweite
der klugen Hand, im Chirotop, vorkommt: das Wurf-Zeug ( ),
das Schneide-Zeug, das Schlag-Zeug, das Näh-Zeug, das Grab-Zeug,
das Bohr-Zeug, das Eß-und-Koch-Zeug, das Schlaf-Zeug, das Ankleide-Zeug.
Der Heideggersche
Mensch ist hinsichtlich all dieser Dinge im Bilde, welche Aufgaben durch
sie seiner Hand gestellt sind. Was wäre ein Kochlöffel, wenn
er nicht den Befehl zum Umrühren gäbe; was ein Hammer, wenn
er nicht das Handlungsmuster »wiederholt auf die Stelle schlagen«
aufriefe? Die helle Hand läßt sich das gegebenenfalls
nicht zweimal sagen. Für den Ernstfall kommt das Töte-Zeug hinzu,
für den Nicht-Ernstfall das Spiel-Zeug, für den Bündisfall
das Schenk-Zeug, für den Unfall das Verbandszeug, für den Todesfall
das Bestattungszeug, für den Bedeutungsfall das Zeig-Zeug, für
den Liebesfall das Schönzeug.
Unter den Zeug-Populationen im Chirotop sind es vor allem drei Kategorien
(  ),
die für die Heraushebung der Menscheninsel ( )
aus dem Umgebungselement sorgen.
An erster Stelle ist das Wurf-Zeug zu nennen,
weil es seinem stetigen Gebrauch zu verdanken ist, wenn sich die Hominiden
vom akuten Umweltdruck ein Stück weit emanzipieren konnten. Indem
die werdende Menschenhand, getragen von einem für die Graslandschaft
umgeformten ehemaligen Baumaffenarm, es lernt, zum Werfen geeignete Objekte,
in der Regel kleinere und handgroße Steine, aufzunehmen und nach
Bringern unwillkommener Begegnungen oder Berührungen zu werfen -
seien es größere Tiere, seien es fremde Artgenossen -, gewährt
sie den Hominiden zum ersten Mal eine Alternative zur Kontaktvermeidung
durch die Flucht. Als Werfer erwerben die Menschen ihre bis heute wichtigste
ontologische Kompetenz - die Fähigkeit zur actio in distans.
Durch das Werfen werden sie zu Tieren, die Abstand nehmen können.
Aufgrund des Abstands entsteht die Perspektive, die unsere Projekte beherbergt.
Die ganze Unwahrscheinlichkeit menschlicher Wirklichkeitskontrolle ist
in die Gebärde des Werfens zusammengezogen. Daher bildet das Chirotop
das ursprüngliche und eigentliche Handlungsfeld, in dem Akteure gewohnheitsmäßig
ihre Wurfergebnisse beobachten. Hier kommt ein Verfolger-Auge ins Spiel,
das prüft, was die Hände zustande bringen; Neurobiologen wollen
sogar eine angeborene Fähigkeit des Gehirns nachgewiesen haben, auf
fliehende Objekte zu zielen. Das Chirotop ist eigentlich ein Video-Chirotop,
eine von Blicken überwachte Sphäre von Handlungserfolgen.
Was Heidegger
die Sorge ( )
nannte, bezeichnet der Sache nach zuerst die aufmerksame Ungewißheit,
mit der ein Werfer prüft, ob sein Wurf ins Ziel geht. Treffer
und Fehlwürfe sind praktischer Wahrheitsfunktionen, die beweisen,
daß eine Intention in die Ferne zu Erfolg oder Mißerfolg führen
kann - mit einer unklaren Mitte für einen dritten Wert. Beim gelungenen
Wurf wie beim Fehlwurf gilt, daß Wahres und Falsches, die logischen
Erstgeborenen des Abstands, sich selber anzeigen.
Das Metawerkzeug Kultur hat in seiner Gesamtheit die Wirkung eines Brutkastens,
in dem ein Lebewesen chronisch das Privileg der Unreife genießen
darf. .... Nur zwei Organe nehmen an der Körperausschaltung offenkundig
nicht (oder nur auf paradoxe Weise) teil: das Gehirn, das sich somatisch
wie funktionell eigensinnig entwickelt, indem es sich zu unabsehbar komplexen
Leistungen steigert und ... in potentiell unabschließbare Reifung-
und Spezialisierungssprozesse aufbricht, sowie die Hand, die als engste
Komplizin des Gehirns zu virtuoser Vielseitigkeit heranreift. Die Hand
ist das einzige Organ am menschlichen Körper, das bei geeigneter
Erziehung erwachsen wird. Sie ist das erste und eigentliche Subjekt der
»Bildung«, wie Hegel
sie definierte: als »Glättung der Besonderheit, daß sie
sich nach der Natur der Sache bestimmt« ( ).
.... Die Erwachsenheit der Hand impliziert »Bildung« im dialektischen
Sinn des Wortes, sofern bei jeder bewußten Manipulation ein Moment
der »Entfremdung«, der Hingabe ans Objekt, mit einer Rückkehr
zu sich selbst, sprich einer mitlaufenden Tastempfindung, korreliert.
(Vgl. Dialektik).
Nach der Distanzwirkung des Wurfzeugs ist
an zweiter Stelle die anthropogene Wirkung der Schlagmittel hervorzuheben
- wiederum überwiegend vertreten durch handliche Steine und andere
harte Mittel wie Holz und Horn. Die harten Mittel sind von Bedeutung,
weil mit ihnen der Werkzeuggebrauch im engeren Sinn und eo ipso
die Geschichte von Chirotopia beginnt. Wo eine Werkzeug ist, da war zuvor
eine Hand, die es aufnahm. .... Die Insel Chirotopia ( )
- ... die allein Heidegger
von ferne aus dem Nebel ragen sah - ist im Begriff, als die Insel des
Seins ( )
aus der Umgebung aufzusteigen, weil sie der Schauplatz der ersten seinsenthüllenden
Operationen, der Produktionen, ist. Produzieren heißt mit den Händen
Dinge prophezeien. Wenn die Hominiden anfangen, Steine mit Steinen zu
bearbeiten oder Steine an Stielen zu befestigen, dann werden ihre Augen
Zeugen eines Geschehens, für das es in der alten Natur kein Vorbild
gibt: Sie erleben, wie etwas ins Dasein tritt, das zuvor nicht da war,
nicht vorlag, nicht gegeben war: das gelungene Werkzeug, die niederschlagende
Waffe, der leuchtende Schmuck, das verständliche Zeichen.
Stiel-Werkzeuge sind ... erste Beispiele des polylithischen Objekttyps
..., nicht nur weil mit den Stielen das Prinzip des hergestellten Griffs,
das heißt der artifiziellen Handhabe an der Sache selbst, verwirklicht
wird, sondern mehr noch, weil sie authentische Komposit-Werkzeuge, sogenannte
»Polylithe«, darstellen, frei handhabbare Zusammensetzungen
von Stein mit einer Mehrzahl andere Materialien. Ihr Prototyp ist der
Steinhammer oder die Steinaxt, die als erste stoffliche Trinitäten
aus einem Stein, einem Stock und einem Binde-Element zusammengefügt
sind, wobei der schwere Schlag- oder Hack-Körper seinerseits durch
den Einsatz eines zweiten Bearbeitungssteins vorgeformt sein kann. Das
Zusammensein von Menschen mit ihresgleichen und anderem erscheint im frühen
Chirotop als die ursprüngliche (soziale) Synthesis von mindestens
vier Händen und als primitive (materiale) Synthesis von mindestens
dreiteiligen Objekten. Halten wir fest, daß der Polylith der erste
materiale Satz, in dem ein Subjekt, der Griff, mit einem Objekt, dem
Stein, durch eine Kopula (das Bindemittel als Kopulativverb) zusammengesetzt
wird; die primitive Syntax - als erste logische Synthesis - entstünde
demzufolge aus den operativen Kategorien oder Universalien der chirotopischen
Hantierungen.
Schließlich ist für das chirotopische
Realitätsklima die Entdeckung der scharfen Stein- und Knochenkanten
von Bedeutung. Mit ihr beginnt die Kulturgeschichte des Schneidens und
der materiellen Analysis. Wo die Messerfunktion auftaucht, kommt die Vernunft
als teilende, portionierende, sezierende Gewalt in Gang. .... Das Schneiden
stiftet den Zusammenhang zwischen Quantität und Gewalt, der überall
im Spiel ist, wo an Körpern der Aspekt der teilbaren Menge hervorgehoben
wird. .... In der Praxis des Zerschneidens natürlicher Körper
tritt eine erste Manifestation dessen zutage, was wir ... Explikation
genannt haben - die Offenlegung von Hintergründen oder die Präsentmachung
und Bloßstellung von Abwesendem, Eingefaltetem und Bedecktem. ....
Die Messer-Erfahrung spiegelt sich in den frühen Lexika wider. Wenn
Menschen für die vielen Wesen und Dinge, die um sie vorkommen, jeweils
eigene Wörter haben, so weil sie von Messern im Mund Gebrauch machen.
.... Jedes Wort serviert eine Weltportion. ... Die richtige Sprache wäre
also jene, die den im Seienden angelegten Schnitten folgt und immer da
durchtrennt, wo von den Sachen selbst her Einschnitte und unterschiede
vorgeschlagen sind.
So wie die meisten Kinder unauffällig in die Komplexitäten
der Syntax ihrer Muttersprache hineinwachsen, erwirbt jeder durchschnittliche
Insulaner durch seine bloße Teilnahme an den Lebensspielen der Primärgruppe
die Kompetenz, sich in jeder einzelnen der anthropotopischen Dimensionen
( )
mit ausreichender Sicherheit zu bewegen. Dasein heißt die gesamte
Syntax des Anthropotops verstehen - dieses Verstehen zu verstehen ist
eine andere Sache. Was Heidegger
in Sein und Zeit für das Chirotop oder die zuhandene Welt
ausgeführt hatte: daß sie aufgrund ihrer alltäglichen
Vertrautheit in nicht-diskursiver Helligkeit den Grundzug der Erschlossenheit
aufweist, ist mutatis mutandis für die übrigen Dimensionen
zu reklamieren. Der erwachsene Bewohner der anthropogenen Insel ( )
nimmt deren innere Gespanntheit und Verfugung mit einem einzigen Blick
wahr. Das Unwahrscheinlichste ist für ihn zum Selbstverständlichen
geworden; für die Bewohner der ontologischen Insel ( )
bleiben die Implikationen der Grundsituation anfangs in makelloser Dichte
eingefaltet. Das zuhandene Zeug, der tönende Raum, die generalisierte
Mutterwelt, die Verwöhnungssphäre, das Feld der Wünsche
und des Begehrens, die Kooperationen mit den anderen, die Beanspruchung
durch die Wahrheit, die Heimsuchung durch die Götter und die Spannung
der Gesetzesforderung: der gesamte Faltenwurf des Überkomplexen,
in dem sie sich mit ruhiger Übersicht bewegen, erscheint ihnen wie
eine nahezu glatte Oberfläche, über die fürs erste kaum
ein Wort zu verlieren nötig scheint.
Es kommt nicht überraschend, daß
die anthropogene Insel ( )
ein Ort ist, dessen Bewohnern über die Welt und sich selbst in ihr
ein Licht aufgeht. Sie ist die Stelle, wo es zahllosen Dingen nicht gelingt,
verborgen zu bleiben - obschon Heraklit
... einen entscheidenden Aspekt an der anfänglichen Verteilung zwischen
Verborgenen und Offenkundigen benannt hat. Die Welt ist ein gelichteter
Raum: soviel ist den Bewohnern der Seins-Insel ( )
schon früh über ihre Lage klar. Ihnen ist aber auch unmittelbar
gewiß, daß nicht alles gelichtet ist. .... Die helle Sphäre,
in die wir herausgetreten sind, ist ein Lichtfleck inmitten eines Rings
von Unbekanntem, Nicht-Manifestem, Ungesagtem, Ungedachtem. .... Es sind
in der Hauptsache zwei Beobachtungen, die über das Wesen der Wahrheit
Aufschluß geben: Aus dem umgreifenden Unbekannten treten zu gegebener
Zeit Neuheiten ins Gewußte und Gesagte; umgekehrt kehrt aus dem
Bekanntgemachten manches in die Vergessenheit, die léthe,
die Implikation zurück. Folglich ist Wahrheit weder ein sicherer
Bestand von Sachverhalten noch eine bloße Eigenschaft von Sätzen,
sondern ein Kommen und Gehen, ein aktuelles thematisches Aufleuchten und
ein Versinken in der athematischen Nacht. Solange die Mitte dazwischen,
das scheinbar Ewig-Gleiche und Präsente, alle Aufmerksamkeit bindet,
bleibt für den dynamischen Aspekt des Wahrheitsgeschehens kein freier
Blick. Die fällige Blickwende auf die Zeitigung der Wahrheit haben
erst Denker wie Hegel
und noch mehr Heidegger
vollzogen (...). Unter pragmatischen Gesichtspunkten ist die Empfänglichkeit
der Menschen für den Unterschied von Wahr und Falsch an die Erfahrung
geknüpft, daß Würfe und Sätze treffend sein können
oder verfehlt und falsch. (Vgl. Treffer).
Zu sagen, daß die Menschen vom Erfolg ihrer Würfe und Sätze
abhängig sind, bedeutet soviel, wie festhalten, daß sie von
Wahrheitswerten Betroffene darstellen - und dies bereits auf einer biologischen
Ebene. Die Treffsicherheit von Würfen und die Zuverlässigkeit
von Aussagen ist von Anfang an eine Angelegenheit auf Leben und Tod -
weswegen die »Wahrheit« auf den Inseln der Werfer und Sprecher
( )
als hohes Gut gehütet werden mußte. Den Grenzververkehr zwischen
dem Hellen-Öffentlichen und dem Dunkel-Verborgenen prägen Ereignisse,
die »eintreten«, passieren und zu denken geben. Die Differenz
zwischen wahren und falschen Sätzen gründet hingegen in Handlungen,
die erfolgreich (treffend, passend, schlüssig) oder erfolglos (danebengehend,
unpassend, unschlüssig) enden. So ist die manifeste Welt von Anfang
an auf zwei verschiedene Weisen gegeben, einmal als Nexus von Handlungen,
die wir begehen, und einmal als Zusammenhang von Ereignissen, die uns
angehen. Der Doppelsinn von Wahrheit als Offenkundigwerden im Ereignis
oder Ergebnis (im Es-geht des gelungenen Versuchs) und als Ausgesagtwerden
im apophantischen Satz ist so alt wie die Menscheninsel ( )
selbst. Wir nennen den Ort, an dem Dinge sowohl offensichtlich als auch
sagbar oder bildbar werden, das Alethotop. Der Aufenthalt in ihm schließt
das Risiko ein, in Mitleidenschaft gezogen zu werden von Wahrheiten, die
sich zeigen, begriffen werden und weitergelten, wie von Irrtümern,
die sich erst später als solche herausstellen und deren Wiederholung
zu fürchten bleibt. In der ersten Hinsicht gleicht das Alethotop
einem Speicher, in der zweiten einer Richtstätte oder einer Deponie.
Im Speicher wird gesammelt, was sich bewährt - nicht umsonst hängt
das deutsche Wort für Wahrheit mit Vorstellungen wie betreuen, in
Obhut nehmen, bewahren, wehren, warten zusammen. An der Richtstätte
beziehungsweise der Deponie hingegen wird ausgeschieden, was die Gruppe
nicht in sich behalten kann und will, sofern es bösartig, fehlerhaft,
unbrauchbar und nichtig ist. Das Speicherbild erlaubt die Assoziation,
daß Wahrheiten, bevor sie Gegenstand von Sammlung und Hütung
werden können, in einer ursprünglichen Kollekte geerntet und
eingebracht werden müssen - sehr im Einklang mit Heideggers
Hinweis auf den im Landbau beheimateten Sinn des griechischen Verbums
légein, lesen, sammeln, pflücken, dessen Substantivierung
zu lógos den alteuropäischen Vernunft- und Diskursbegriff
ergibt. In dieser Hinsicht ist das Alethotop als Wahrheitsbaufeld und
Erkenntnissammelstelle der eigentliche Schauplatz menschlicher Weltoffenheit.
(Von hier aus läßt sich auch verstehen, warum die modernen
Speichermedien nur noch einen marginalen Bezug auf menschliche Verhältnisse
aufweisen, weil sich in ihnen, wie in allen großen Archiven, subjektlose
Sammlungen vollziehen - Anhäufungen von Informationen für niemand).
Wer auf der Menscheninsel ( )
lebt, wird ipso facto zu einem Hüter der Lichtung, ob ein
aufmerksamer oder ein zerstreuter, das spielt fürs erste kaum eine
Rolle. Heidegger
hat bekanntlich den Unterschied zwischen den guten und den schlechten
Hütern über die Maßen betont (...). Aber gleichgültig,
ob man sich eher dem hütenden oder dem forschenden Pol zurechnet:
die Bezogenheit von Menschen auf Wahrheit und Wahrheiten ist nie zu umgehen
( ),
weil die Betroffenheit vom Wahrheitsgeschehen und seinen Sprachspielen
im genius loci begründet ist.
Es gehört zu den allgemeinsten
Merkmalen der Humaninseln ( ),
daß ihre Bewohner sich früh aufspalten in solche, die von Wahrheitsspannungen
stark ergriffen werden, und solche, die kognitiven Streß-Situationen
eher aus dem Weg gehen. Daraus entwickelt sich die fast universale Differenzierung
der Gruppen in Experten, die sich zu schwerzugänglichen Wahrheiten
persönlich ins Verhältnis setzen, indem sie, teils auf eigeqes
Risiko, teils gedeckt durch die Figur des Magiers oder des Gelehrten,
Wissen vom Verhüllten, Gewesenen, Kommenden ansammeln, und Laien,
denen es gelingt, sich mit den Evidenzen erster Ordnung, den kollektiv
gespeicherten Erfahrungen und Meinungen, sprich den Idolen des Stammes,
zufrieden zu geben. Auf der ersten Position finden wir die Figuren des
Schamanen, des Priesters, des Propheten, des Sehers, des Schreibers, des
Philosophen und des Wissenschaftlers; auf der zweiten die des einfachen
Stammesmitglieds, des Analphabeten, des Patienten, des Gläubigen,
des Empirikers, des Laien, des Zeitungslesers und des Zuschauers bei Fernsehduellen.
Es dürfte keine »Gesellschaft«, kein »Volk«,
keine »Kultur« gegeben haben, die nicht wenigstens in Ansätzen
die Züge eines Zweikammersystems der Zugänge zur Wahrheit ausgebildet
hätte.
Daß ... der Wissenschaftsglaube ( )
auf breiter Front im Verblassen ist, läßt sich zum Teil auf
die endogene Korruption des Expertentums zurückführen. Die so
peinlichen wie unbeendbaren Expertenkämpfe auf dem Feld der vorgeblich
externen Wahrheiten geben einem größeren Publikum das Gefühl,
daß auch die Wahrheit nicht mehr das ist, was sie einmal war. Der
psychosoziale Gebrauchswert des Experten: die Möglichkeit, sich seinem
Spruch zu unterwerfen und dadurch den Zweifel abzuschließen, ist
unleugbar in Verfall begriffen. B. F. Skinners lapidare These: »Das
Volk ist nicht in der Lage, Experten zu beurteilen« (Futurum
Zwei, 1972, S. 238), klingt längst ... unglaubwürdig (...).
Selbst wenn der Satz zuträfe, änderte dies nichts daran, daß
wir zu einem eigenen Urteil über die Experten verdammt sind. Nicht
wenige Zeitgenossen haben verstanden, daß sie selbst mit der Wahl
des Experten das Ergebnis der Expertise wählen. Damit wird die unvordenkliche
Illusion, die wahrhaft Wissenden seien die Deputierten externer Wahrheiten,
in sozialen Interessenkonflikten (um von den allzu menschlichen nicht
zu reden) zerrieben. Nicht zufällig wird die Öffentlichkeit
immer öfter auf wissenschaftliche Fälschungen aufmerksam (nach
Schätzungen sind 75% aller publizierten Forschungsergebnisse manipuliert).
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts begann sich eine Art von epistemologischer
Bürgerrechtsbewegung zu artikulieren, deren Ziel es ist, die Experten
aus ihrem längst dementierten goldenen Exil bei den externen Wahrheiten
zurückzuholen (...). Ob dies bei wachsender Esoterik ( )
der Forschung - und zunehmender Privatisierung der Resultate - gelingen
kann, ist eine offene Frage. .... Dieser Wandel, der die Wahrheiten wie
ihre Überbringer von ihrer Exzentrik gegen ihre Wirtsgesellschaften
befreite, wäre zugleich nichts anderes als der überfällige
Nachvollzug des Wissens vom wirklichen Leben der Wissenschaften durch
die Wissenschaften.
Hinsichtlich des Weiblichen zum Auftauchen der
Menscheninsel ( )
und ihrer ineren Formatierung ... kommt man erst voran, wenn man die Begriffe
Frau und Raum in einer biologischen und topologischen Verfremdung aufnimmt;
dann ist vom weiblichen, speziell vom mütterlichen Körper in
geometrischen oder lagetheoretischen Ausdrücken zu reden. Diese Wendung
trägt der Tatsache Rechnung, daß durch die evolutionären
Errungenschaften des Säugetierbiogramms ein radikal neuer Typus von
Muttertieren ins Dasein getreten ist - geprägt durch die »revolutionäre«
Eroberung des weiblichen Bauchraums als Milieu für Ei-Ablagen nach
innen. Hierdurch entsteht eine naturgeschichtlich einzigartige topologische
Realität, insofern nun der Mutterkörper zur ökologischen
Nische des Nachwuchses wird. Durch die Interiorisierung des Eies wird
das Ablagerisiko in äußeren Nestern reduziert und gegen das
interne Brutrisiko und das neuartige Geburtsrisiko getauscht. Die Erfolgsgeschichte
der Säugetiere beweist, daß diese Transaktion von Vorteil war.
Aus ihm gingen nicht nur neue integrale Muttertiere hervor, die arteigene
Parasiten in sich beherbergen, sondern auch neue Typen von Jungen, die
mit einem höheren Bindungswert und einem schärferen Trennungsrisiko
aufwachsen.
Die Rede von der »Mutter« impliziert bei Menschen eine analysis
situs, weil man sich mit der Verwendung des Ausdrucks darauf festlegt
zu sagen, in welcher Lage sich das Kind in bezug zu ihr befindet - ob
noch innen oder schon außen oder in gewisser Weise
(aber in welchem Sinn?) in beiden Lagen zugleich. Damit verweist man auf
den Umstand, daß infolge der Verinnerlichung der Eiablage und der
fötalen Evolution in utero ein neuer Ereignistypus produziert
wurde: die Geburt. Es gibt infolge der Wende nach innen ein Protodrama
des Herauskommens, eine primäre Nötigung und Begabung zum Mutterleib-Verlassen,
eine frühe Fatalität bei der Wahl des Wegs, der vorwärts
führt, ins sogenannte Freie oder Offene. Das Faktum der Geburt wird
als Matrix aller Orts- und Zustandswechsel von radikalerem Charakter unabsehbare
Konsequenzen zeitigen.
Man kann von hier aus ein Merkmal der anthropogenen Insel ( )
näher bestimmen: Sie muß der Ort sein, an dem ein Bedeutungswandel
der Geburt stattfindet. Diese wird beim Nachwuchs der Sapienten zu einem
biologischen Ereignis von metabiologischem Sinn. Es liegt ja auf der Hand,
daß das säugetierische Geborenwerden nicht ausreicht, um den
Ort des Menschen zu erreichen. Säugetiere werden geboren, Menschen
kommen zur Welt. Die Insel des Seins ( )
liefert das Reizklima, in dem sich das Geborenwerden ins Zur-Welt-Kommen
( )
steigert.
Dem Kenner der Philosophie des 20. Jahrhunderts wird klar sein, daß
wir hier von der Heideggerschen
Unterscheidung zwischen der an die Umwelt angepflockten Seinsweise der
Tiere und dem ekstatischen weltbildenden Wesen der Menschen Gebrauch machen.
Wie die Genesis dieser Differenz zu denken wäre ... - das versuchen
wir seit langem zu zeigen (...), und wir behaupten, daß man dieser
Forderung nur genügt, indem man eine Untersuchung der mit dem menschlichen
Existieren gesetzten topologischen Differenz als Gebürtig-Sein in
Gang bringt.
Immerhin ist die Säugetiergeburt mit einem Übergang vom Leben
im Wasser zum Dasein an Land und in der Luft zu vergleichen, als müßte
jedes Junge auf der Linie der Mammiferen den urzeitlichen Exodus aus dem
Meer und den Erwerb von festländischen Lebensweisen in seinem eigenen
Werden nachspielen. Aus einer Geburt jedoch
wird ein Zur-Welt-Kommen ( )
erst, wenn aus der Umwelt, in die der Ankömmling gerät, eine
Welt geworden ist - ein Inbegriff von Dingen oder ein All von Sachen,
die der Fall sind. Was der Ausdruck Welt philosophisch bedeutet, ist hier
nicht darzulegen; in lagetheoretischer Hinsicht bleibt zu sagen, daß
das als In-der-Welt-Sein ( )
bezeichnete Grundverhältnis ein Draußen-Sein meint. Heidegger
hat das mit einem ontologisch ausgenüchterten Begriff von Ek-stase
als Sein-bei-den-Umständen angedeutet. Wer ek-sistiert, ist hinausgehalten
in etwas, worin er zunächst nicht bei sich sein kann. Bei Menschen,
den ontologischen Exzentrikern, kommt das Draußensein dem Behaustsein
bei sich zuvor - obschon die Härte dieses Befundes in der Regel durch
die Schutzmacht der sphärischen Allianzen gemildert wird. Am Vorsprung
der Äußerlichkeit vor jeder Art von Behausung, Inklusion, Umhüllung
und Einrichtung bei sich selbst besteht, wenn von Lagen in der Welt
die Rede ist, kein Zweifel. Jede Theorie der elementaren Situation
ist darum auch eine Deutung des primären Traumas: daß es mehr
äußeren Raum gibt, als sich in Besitz nehmen, gestalten, wegdenken
oder leugnen läßt. Weil dies so ist, sind Menschen zur Herstellung
von Interieurs verdammt.
Hat man sich hierüber verständigt, wird der Versuch wagbar,
das Geheimnis der Insel ( )
raumtheoretisch zu formulieren. Auf der Insel sein meint jetzt: von der
Möglichkeit Gebrauch machen zu können, Innensituationen zu übertragen.
( ).
Übertragungen dieses Typs sind vollziehbar, wenn eine reale Lage
im Äußeren erreicht ist, die als Folie oder Behälter für
die Wiederholung von Innerlichkeit an anderer Stelle dienen kann. Das
Übertragungsphänomen entspringt einem Trägheitseffekt,
der durch das Übergewicht vergangener Prägungen über die
gegenwärtigen Wahrnehmungen ausgelöst wird. Er setzt zu seiner
Entfaltung starke szenische Differenzen zwischen Damals und Heute voraus.
Sind diese gegeben, ..., kann es zu dem Phänomen der Wiederholung
der älteren Szene in der jüngeren kommen. (Vgl. Projektion).
In unserem Kontext legt es sich nahe, die Übertragung als Reproduktion
von Situationen neu zu beschreiben, wobei der Akzent auf den Umstand fällt,
daß die Urübertragung sich als wiederholende Wiederherstellung
einer Innenlage in einer äußeren Situation vollzieht. In dieser
Hinsicht ist das Paradigma der Raumfahrt informativ, weil es im Vakuum
explizit vorführt, was Menschen in der terrestrischen »Lebenswelt«
immer schon getan haben. Das Insulierungsgeheimnis der Menschensphäre
besteht darin, daß die Zusammenlebenden in koproduktiver Übertragung
ein gemeinsames Innen im gemeinsamen Außen einrichten. Zu beachten
bleibt, daß Übertragungen zunächst kollektiven Charakter
haben und erst später individualisiert werden, in Abhängigkeit
von Medien, Sprachspielen und Wohnformen, die den Privatisierungseffekt
stützen.
Das Gemeinschaftswerk, das in die Inselschöpfung ( )
mündet, wird in der Weise vollzogen, daß die Zusammenlebenden
aus einem geteilten szenischen Fundus von Innen-Situationen schöpfen
und diese in der andersartigen Außenlage reproduzieren. Daraus entsteht
die stark kohärente Gruppe als Uterotop, das heißt als agierte
Mutterleib-Metapher. In erster Lesung wird das als Verwandtschaftsphantasma
interpretiert - wie es in dem Dogma begegnet, wir seien, als Mitglieder
einer Nation, immer auch die Kinder derselben Mutter. .... In zweiter
Lesung ist mit dem Konzept Uterotop ein historisch mächtig gewordenes
Raum-Phantasma bezeichnet, das suggeriert, wir wären, solange wir
in der Eigengruppe territorialisiert bleiben, die bevorzugten Geschöpfe
derselben Höhle - ursolidarische Nutznießer derselben Ungeborenheit
im gemeinsamen Gruppenschoß. .... Wenn zeitgenössische Religiosnphilosophen
gelegentlich die Meinung ausdrücken, die »Menschheit«
stelle »im Tiefsten eine religiöse Größe«
dar, machen sie von der Möglichkeit Gebrauch, die Gattung im ganzen
als ein adamistisches Uterotop zu verklären.
Die uterotopische Synthesis bedeutet die Auserwählung von Menschen
zum gemeinsamen Herkommen aus einer unvergleichlichen Höhle (und
das gemeinsame Feststecken in ihr). Im Gegensatz dazu meint die utopische
Synthesis die Auserwählung von Menschen für ein gemeinsames
Unterwegssein zu einem unvergleichlichen Ankunftsland.
Uterotopie und Utopie spiegeln sich ineinander wie Herkunfts- und Zukunftselitismus.
Mit dieser Differenz vor Augen läßt sich verstehen, daß,
anders als Marx und Engels dachten, alle Geschichte die Geschichte von
Kämpfen zwischen Auserwählungsgruppen ist. (Jedoch: ebenso sehr
die Geschichte von Kämpfen zwischen Verwöhnungsgruppen ).
Dies feststellen heißt den Grund einsehen, warum seit der Dämmerung
der martialischen Kulturen ein Doppelweltkrieg im Gang ist: ein Krieg
erster Ordnung zwischen mehreren Gemeinschaften der Herkunftserwählung;
ein Krieg zweiter Ordnung zwischen Gemeinschaften der Erwählung durch
Herkunft und Gemeinschaften der Erwählung durch Zukunft. Was man
bisherig für die Wahl zwischen Krieg und Frieden hielt, war in Wahrheit
meistens die Wahl zwischen dem ersten und dem zweiten Krieg. Ob es einen
dritten Krieg geben kann, ist unklar. Wenn ja, verliefe seine Front zwischen
den Auserwählten und den Nichtauserwählten. Erfahrungsgemäß
scheuen die letzteren vor förmlichen Aufstellungen zurück. Sie
begnügen sich damit, dem Treiben der Auserwählten solange zuzuschauen,
bis deren Selbstzerstörung vollendete Tatsache ist. (Wir verzichten
darauf, diese Optik an den möglichen Szenarien des aktuellen innermonotheistischen
Dreikampfs zu erläutern ).
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