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 Revolution
... führt ... nie zu einer Umkehrung von oben und unten, geschweige denn
einer materiellen Gleichheit. Im günstigsten Fall verbreitert der Umsturz
das Spektrum der Elitefunktionen, so daß sich eine größere Zahl
von Anwärtern ihre Pfründen sichern können. Das Personal und die
Semantik ändern sich, die Asymmetrien bestehen fort. .... Da Asymmetrie nur
ein technisches Wort für Ungleichheit ist - und unter egalitaristischen Prämissen
auch für »Ungerechtigkeit« -, werden alle Revolutionen seit der
französischen von 1789 von Heckwellen aus Enttäuschung und Frustration
begleitet, aus denen sich neben Resignation und zynischer Abkehr von gestrigen
Illusionen immer wieder akute und aktuelle Zornformierungen ergeben. Diesen entsprangen
die epochentypischen Aspirationen auf eine erweiterte mal vertiefte Neu-Inszenierung
des revolutionären Dramas. Seit den Ereignissen, die auf den Sturm auf die
Bastille folgten, wird die ideologische und politische Geschichte Europas durchzogen
von dem Warten der Enttäuschten auf die zweite, wirkliche und integrale Revolution,
die den Betrogenen und Zurückgebliebenen der Großen Tage nachträglich
Genugtuung verschaffen soll. Daher das Epochenmotto: Der Kampf geht weiter
!, das mehr oder weniger explizit in allen dissidenten Bewegungen von den
Radikalen des Jahres 1792 bis zu den Altermondialisten von Seattle, Genua und
Davos nachzuweisen ist. Nachdem 1789 der siegreiche Dritte Stand sich das Seine
geholt hatte, wollten endlich auch die Verlierer von damals zum Genuß kommen,
namentlich die Versprecher des von den Festmählen der Bourgeoisie ausgeschlossenen
Vierten Standes. Die Hauptschuld am Ausschluß der vielen wurde üblicherweise
nicht der strukturellen Knappheit von Vorzugsstellen zuerkannt. Man wählte
statt dessen eine argumentative Strategie, nach welcher ein Komplex aus Unterdrückung,
Ausbeutung und Entfremdung dafür verantwortlich war, daß gute Plätze
für alle nicht verfügbar sind. (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 172-173).Zwar
hatte Saint-Just
(1767-1794), der Todesengel des Egalitarismus, doziert, die Macht der Erde liege
bei den Unglücklichen. Sollte man deswegen, um dem Gesetz der Gleichheit
Genüge zu tun, die Minderheit der Glücklichen so unglücklich machen
wie die elende Mehrheit? Wäre es nicht tatsächlich einfacher gewesen,
von den 20 Millionen Franzosen die glückliche Million ins Elend zu stürzen,
als die Illusion zu wecken, man könne die elenden 19 Millionen in zufriedene
Bürger verwandeln? ( ).
Viel attraktiver erschien seit jeher die phantastische Idee, die Privilegien der
Glücklichen in egalitäre Ansprüche umzuformulieren. (Peter
Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 172-173). So
wird deutlich, daß nach dem Tod Gottes auch ein neuer Träger seines
Zorns ausfindig zu machen war. Wer sich für diese Rolle freiwillig meldet,
gibt mehr oder weniger explizit zu verstehen: Die Geschichte selbst muß
den Vollzug des Jüngsten Gerichts zu ihrer Sache machen. Die Frage »Was
tun?« läßt sich nur stellen, wenn die Beteiligten das Mandat
empfinden, die Hölle zu säkularisieren und das Gericht in die Gegenwart
zu verlegen. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders.,
Zorn und Zeit, 2006, S. 181).Hauptrolle im Drehbuch der
Geschichte nach 1789: die des revolutionären Subjekts, das mit langem Atem
die von der Bourgeoisie auf halbem Weg unterbrochene Arbeit der Befreiung - und
eo ipso die Demokratisierung der Privilegien - zu Ende führen würde.
Fast ohne Ausnahme beginnen die Sammlungen des Zorns mit der Anrufung des »Volkes«.
In seiner Eigenschaft als Reservoir subversiver Elans und explosiver Unzufriedenheit
wurde diese mythische Größe immer von neuem für die Schöpfung
aufrührerischer Bewegungen in Anspruch genommen. Aus dieser Matrix aller
Matrizen emanierten über zwei Jahrhunderte (gemeint
ist: seit 1789; HB) hinweg die konkreteren Ausgestaltungen der thymotischen
Kollektivorgane .... (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 187). In
gewisser Weise war die Oktoberrevolution (gemeint ist: Revolution
im November 1917 in Rußland; HB) eine Rache Bakunins an Marx,
insofern Lenin im Herbst 1917, in der »unreifsten« aller möglichen
Situationen, der bakuninschen Doktrin vom rein destruktiven Ansatz der revolutionären
Beginnphase ein weltgeschichtliches Denkmal setzte - um sich dann allerdings dem
völlig unbakuninschen Geschäft einer despotischen Staatsbildung zuzuwenden.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 194-195). Die bei weitem
folgenreichste Zornkörperbildung vollzog sich auf dem linken Flügel
der Arbeiterbewegung, als dieser im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mehr
und mehr unter den Einfluß der Marxschen Ideen geriet. Die strategischen
Erfolge des Marxismus beruhen, wie man rückblickend feststellen kann, auf
dessen Überlegenheit bei der Formulierung eines hinreichend präzisen
Modells für das potentiell und aktuell geschichtsmäßige Zornkollektiv
des damaligen Zeitalters. Die maßgebliche thymotische Wir-Gruppe sollte
von da das Proletariat, genauer das Industrieproletariat heißen. Zu dessen
Definition gehörte im Marxschen Denken nicht nur ein systematisches Konzept
von Ausgebeutet-Sein. Sein Entwurf wurde ergänzt durch eine sittlich anspruchsvolle
historische Mission, die um die Begriffe Entfremdung und Wiederaneignung kreiste.
Bei der Befreiung der Arbeiterklasse sollte es schließlich um nicht weniger
gehen als um die Regeneration des Menschen. Sie würde die Deformationen beseitigen,
die aus den Lebensbedingungen der Mehrheiten in den Klassengesellschaften resultierten.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 195-196).Es war die Stärke
der marxistischen Doktrin, den idealistischen Elan ... durch eine breite Schicht
materialistischer und pragmatischer Argumente zu untermauern - und dies zu einer
Zeit, als Materialismus und Pragmatismus im Begriff waren, zur Religion der Vernünftigen
zu werden. Aufgrund des Marxschen Beitrags verlagerte sich das Schwergewicht der
Begründungen menschlicher Würde von dem christlich-humanistischen Begriff
der ebenbildlich erschaffenen Gattung zu einer historischen Anthropologie der
Arbeit. Der wesentliche Würdegrund wurde nun in der Forderung gefunden, daß
Menschen - als Schöpfer ihres eigenen Daseins - auch Anspruch auf den Genuß
der Resultate ihrer Tätigkeit besitzen. Infolgedessen war eine semi-religoöse
Aufladung der Begriffe »Arbeit«, »Arbeiterschaft«, »Produktionsprozeß«
und dergleichen wahrzunehmen, die dem Konzept des Proletariats, das zunächst
nur ein ökonomiekritischer Terminus war, eine messianische Note gaben. Wer
künftig im Marxschen Wendungen von »Arbeit« sprach, bezeichnete
nicht nur den Faktor des Produktionsprozesses, der dem »Kapital« als
ausbeutbare Quelle der Wertschöpfung gegenübersteht. Arbeit wurde zugleich
zu einer anthropogonischen, ja geradezu demiurgischen Größe, auf deren
Wirken das Menschenwesen selbst, die Zivilisation, der Reichtum und sämtliche
höheren Werte zurückgehen. (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 197-198).Kein
Wunder also, wenn die so getönte Rede von Arbeit zu einem Appell an die thymotischen
Regungen des arbeitenden Kollektivs geriet. Das Proletariat war mit einem Mal
herausgefordert, zu begreifen, daß es selbst, seiner oft betonten Entmenschung
und Verdinglichung zum Trotz, die wahre Matrix aller Humanität und aller
Zukunftspotentiale bildete. Umgekehrt erhellte aus dieser Anordnung der Begriffe:
Wer als Feind der Arbeiter identifiziert wird, ist zugleich der Feind der Menschheit.
Als solcher hat er es verdient, in die Vergangenheit zurückgestoßen
zu werden. Nun war nur noch plausibel zu machen, daß die Klasse der Kapitalbesitzer,
ungeachtet ihrer zuweilen respektablen privaten Moral, als solche die Position
von Arbeiterfeinden einnahm, um die Frontlinien eines Bürgerkriegs von bisher
unbekanntem Typ vor Augen zu sehen - Frontlinien, an denen sich die Parteien des
unumgänglichen »letzten Gefechts« gegenüberstanden. Der
ultimate Krieg sollte Feindschaft ohne Beiwort freisetzen: die kapitalbesitzenden
Bourgeois, samt ihrem wohlversorgten Anhang, als die objektiven Unmenschen auf
der einen Seite, die allein wertschaffenden Proletarier, mitsamt ihrer Eskorte
aus hungrigen Nachkommen, als die objektiv wahren Menschen auf der anderen. In
diesem Krieg fechten die ungleichen Hälften der ganzen Wahrheit über
den produzierenden Menschen miteinander - und weil die eine Seite, wie es heißt,
ein bloß parasitäres Verhältnis zur Produktion unterhält,
indessen die andere die authentisch Produzierenden umfaßt, muß letztere
auf mittlere und längere Sicht unvermeidlicher- und berechtigterweise siegen.
Von da an hieß den Kern der Realität begreifen: den Weltbürgerkrieg
denken. Da dieser Krieg als ein umfassender konzipiert war, wurde Neutralität
in ihm nicht gewährt. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 198-199).Allein vor diesem
anthropologischen Hintergrund wird die Karriere des Begriffs »Klassenbewußtsein«
verständlich. An ihm ist, wie man jetzt leicht nachvollziehen kann, nicht
so sehr der Akzent auf »Bewußtsein« von Bedeutung - da dieses,
präzise genommen, unwiderruflich eine Eigenschaft von psychischen Systemen
oder Individuen darstellt - als vielmehr der auf »Klasse«. Man würde
heute den Ausdruck »Klassenbewußtsein« durch »Klassenkommunikation«
ersetzen, wäre der Klassenbegriff als solcher noch operativ. Da es unter
bürgerlich-kapitalistischen Bedingungen, der reinen Lehre gemäß,
nur eine einzige wirkliche menschliche Klasse gibt, eben die der eigentlichen
Produzenten, die einer Klasse von Scheinmenschen oder wertsaugenden Vampiren gegenübersteht,
muß die Arbeiterschaft als zum Kampf berufenes Kollektiv bloß noch
davon überzeugt werden, daß sie ihrem empirischen Elend zum Trotz die
wahre Menschheit und deren futurisches Potential verkörpert. Aus dem gestärkten
Selbstverständnis würde unmittelbar revolutionäre Scham entspringen,
und aus dieser der revolutionäre Zorn. Sobald das Proletariat in sich selbst
die geschändete Menschheit erkannt hätte, würde es sich in seiner
aktuellen Verfassung keinen Augenblick länger ertragen. Mit der Lossagung
von ihrem Elend - Hegelisch
gesprochen: mit der Negation ihres Negiertseins als Menschen - bräche die
endlich zum Bewußtsein ihrer selbst erwachte Klasse zu einem globalisierten
Bastille-Sturm auf. Indem sie die endgültige Revolution vollendete, entzöge
die Klasse der wahren Menschen allen Verhältnissen den Boden, »in denen
der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches
Wesen ist«. (Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie,
1844). (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders.,
Zorn und Zeit, 2006, S. 199-200).Nach dem Gesagten ist evident,
daß die Rede vom Klassenbewußtsein der Arbeiter de facto nichts
anderes als die Thymotisierung des Proletariats bezeichnete. Thymotisierung meint
die subjektive Seite der Vorbereitung zu einem umfassenden Feldzug. Mit dem Konzept
war also nie gemeint, der Fabrikarbeiter möge sich nach der Rückkehr
von der Arbeit nach Hause zusammennehmen und Schillers Jungfrau von Orleans
in der Reclamausgabe lesen, um sein von Lärm und Sorge verengtes Bewußtsein
zu erweitern. Erst recht enthielt der Ausdruck nie die Forderung, die Werktätigen
möchten ihr Elend in wirtschaftstheoretischen Ausdrücken reflektieren.
Authentisches Klassenbewußtsein bedeutet Bürgerkriegsbewußtsein.
Als solches kann es nur das Resultat von offensiv geführten Kämpfen
sein, in denen die Wahrheit über die Stellung der kämpfenden Klasse
im ganzen zutage träte. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 200).Da dem so ist, wäre
das »wirkliche Klassenbewußtsein«, wenn es sich ausreichend
artikulierte, meilenweit entfernt »von den real-psychologischen Gedanken
der Menschen über ihre Lebenslage«, wie Georg Lukacs im März 1920
in leise drohendem Ton erklärte (vgl. Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein
- Studien über marxistische Dialektik, 1923). Ganz offen drohend dozierte
derselbe Autor weiter: Nicht was die Arbeiter hier und jetzt tatsächlich
denken, ist angesichts des Kommenden von Belang, vielmehr was sie der objektiven
Parteidoktrin zufolge zu denken hätten. Nach der Lehre der Klassenkampfstrategen
kann kein Element der sozialen Totalität sich der Herausforderung entziehen,
ein wahres Bewußtsein seiner Stellung und Funktion im ganzen zu entwickeln
- am wenigsten das Proletariat. Für die Bourgeoisie wäre authentisches
Klassenbewußtsein, räumt Lukacs ein, gleichbedeutend mit der Einsicht
in die Unausweichlichkeit ihres bevorstehenden Untergangs - ein wenn nicht guter,
so doch zureichender Grund, warum das Bürgertum vor seinem tragischen wissen
ins Unbewußte und Unvernünftige flieht; die Zerstörung der Vernunft
und die Beharrung des Bürgertums auf seinem verlorenen Posten stellen nach
ihm ein und dasselbe dar (Ein Jahr nach Stalins Tod publizierte Lukacs sein Buch
Die Zerstörung der Vernunft, 1954, das vormacht, wie ein leninistisch-stalinistisch
kompromittiertes Denken sich durch die Flucht in ideengeschichtliche Schauprozesse
selbst exkulpiert). Nur wenige einzelne bringen die moralische Kraft zum Klassenverrat
auf, durch den sie ihrer Herkunft abschwören und auf den »Standpunkt
des Proletariats« übergehen. Allein wer diesen einnimmt, wäre
imstande, Vernunft und Zukunftsfähigkeit miteinander zu versöhnen.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 200-201).Für das Proletariat hingegen gerät
der Erwerb des Klassenbewußtseins zur fröhlichen Wissenschaft von seiner
Berufung zur »Führung der Geschichte«. Leider ist eine derartige
souveräne Sicht nicht über Nacht und kostenlos zu erwerben. Nur durch
den »unendlich qualvollen, von Rückschlägen vollen Gang der proletarischen
Revolution« kann das künftige »Subjekt der Geschichte«
sich zum wahren Begriff seiner selbst durcharbeiten - hinzu kommt noch die Last
der Selbstkritik (vgl. Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein,
a.a.0., S. 88), die von den Aktivisten fortwährend zu leisten sei - glücklicherweise
nie ohne Hilfe seitens der Partei, die immer recht hat. Durfte man den selbsternannten
Vordenkern der Arbeiterklasse glauben, war diese zu dem revolutionären Curriculum
mit »historischer Gesetzmäßigkeit« verurteilt: »
...das Proletariat kann sich seinem Beruf nicht entziehen« (ebd., S. 89).
Die Prinzipien dieses Selbststudiums laufen auf die Sentenz hinaus, daß
man den Krieg nur durch den Krieg lernt. (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 201-202).Gelangte
das Klassenbewußtsein auf die Höhe seines Auftrags, müßte
es in sich das vollständige Produkt aus Klassenwissen, Klassenstolz und Klassenzorn
erzeugen. Der erste Faktor war nach der Überzeugung von Kommunisten wie Anarchisten
schon durch die Lebenserfahrung der Arbeitenden gegeben, sosehr er auch der Vollendung
durch Kampferfahrung, Selbstkritik und dialektische Theorie bedurfte. Der zweite
war mit menschenrechtlichen, arbeitsanthropologischen und politökonomischen
Argumenten zu wecken - sie sollten dem Proletariat helfen, den Kopf so hoch zu
tragen, wie es seiner wertschöpferischen Rolle entsprach. Den dritten schließlich
galt es mit propagandistischen Mitteln zu schüren und zu kanalisieren: »Das
Recht, wie Glut im Kraterherde / Nun mit Macht zum Durchbruch dringt« -
so zeichnet die Internationale den Verlauf der thymotischen Mobilisierung bildlich
vor. Sinnvolle Eruptionen ereignen sich aber nur, wenn das Proletariat lange genug
in die Schule des Zorns gegangen ist. In jedem Fall setzt vollendetes Klassenbewußtsein
voraus, daß die Summe aus Stolz und Wissen mit dem Zorn des thymotischen
Kollektivs multipliziert wird. Das reife Ergebnis proletarischer Lernprozesse
kann sich folglich nur noch praktisch, in militantem revolutionärem Aktivismus,
manifestieren. Es erübrigt sich, im einzelnen zu erklären, warum die
Vorstellung von der Produzentenklasse als einem siegreich kämpfenden Geschichtssubjekt
zu nichts anderem führen konnte als zu einer schlechten Verwirklichung der
Philosophie. Der schicksalhafte Fehler der Konzeption lag nicht allein in der
abenteuerlichen Gleichsetzung von Industriearbeiterschaft und Menschheit. Er steckte
noch mehr in dem holistischen oder organologischen Ansatz, wonach eine ausreichend
durchgeformte Assoziation von Menschen die Leistungen und Eigenschaften eines
einzelnen Menschen auf höherer Stufe zu wiederholen in der Lage sei. Die
klassische Linke betrat hierdurch den Raum der Irrlichter, in dem die seit der
Romantik beliebten substantiellen Kollektive und die ominösen höherstufigen
Subjektivitäten ihr Unwesen treiben. Die ihrer selbst bewußt gewordene
Klasse der Produzenten wäre dennach ein Großmensch - der Idealstadt
Platons
vergleichbar -, in dem Vernunft, Gefühl und Wille zu einer monologischen,
dynamisch-personalen Einheit zusammengeschlossen sind. Die Widersinnigkeit dieser
Suggestion wurde von den Vordenkern der Arbeiterbewegung zugleich bemerkt und
überspielt, indem sie betonten, das Klassenbewußtsein sei in hohem
Maß an das »Problem der Organisation« geknüpft. Das Zauberwort
Organisation beschwor den Sprung von der Ebene der »vielen tätigen
Einzelwillen« (Engels)
zu der des homogen gemachten Klassenwillens. Die Unrealisierbarkeit einer effektiven
Homogenisierung von Millionen spontaner Einzelwillen ist jedoch schon in der vordergründigen
Anschauung so manifest, um von den prinzipiellen Gründen zu schweigen, daß
der Schein der Herstellbarkeit von Klasseneinheit nur durch Ersatzkonstruktionen
gewahrt werden konnte. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 202-203).Deren folgenreichste
trat in Form des Leninschen Parteibegriffs auf die historische Bühne. Es
ist unmittelbar einsichtig, in welcher Weise die Konzepte von Partei und Klassenbewußtsein
sich gegenseitig stützten: Da das realisierte Klassenbewußtsein als
Einsicht des Proletariats in seine Stellung innerhalb der sozialen Totalität
von vorneherein als ein Ding der Unmöglichkeit erkennbar war, durfte und
mußte die Partei sich als Stellvertreterin des empirisch noch unreifen Kollektivs
präsentieren. Folgerichtig vertrat die Partei den Anspruch auf »Führung
der Geschichte«. Da aber die Avantgarde ohne Aussicht auf die Gefolgschaft
der Massen von ihrer »Basis« abgeschnitten bliebe, hatte sie die Fiktion
von der prinzipiellen Vollendbarkeit des Klassenbewußtseins bei den Geführten
unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Die praktische Folgerung lautet
somit: Allein die Partei verkörpert das legitime Zornkollektiv, sofern sie
stellvertretend für die noch nicht urteils- und operationsfähigen »Massen«
das Gesetz des Handelns an sich zieht. Die Partei ist somit das wahre Ich des
bis auf weiteres entfremdeten Arbeiterkollektivs. Nicht umsonst schmückt
sie sich gern mit dem schillernden Titel »Organ des gesamten Proletariats«
- wobei man jederzeit berechtigt gewesen wäre, das Wort »Organ«
mit Ausdrücken wie »Gehirn«, »Willenszentrum« oder
»besseres Selbst« wiederzugeben. Für Lukcács fällt
der Partei die »erhabene Rolle zu, ...Gewissen seiner (des Proletariats)
geschichtlichen Sendung zu sein«. (Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein,
a.a.0., S. 53). Die Beschlüsse der Partei sind nichts anderes als Zitate
aus dem idealisierten inneren Monolog der Arbeiterklasse. Nur in der Partei hat
der Zorn den Intellekt gefunden; ausschließlich der Parteiintellekt darf
sich auf die Suche machen nach dem Zorn der Massen. (Peter Sloterdijk, Die
thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 203-204).Wie
er fündig wurde, illustriert die Geschichte der Arbeiterbewegung seit den
Tagen des Gothaer Kongresses von 1875. Bei seinem langen Marsch durch die Moderne
sind ihm, das ist nicht bestreitbar, bedeutende Entdeckungen gelungen. Welche
Mißgeschicke ihm dennoch unterliefen, erhellt unter anderem aus der Wahl
der kommunistischen Symbole - an erster Stelle dem offiziellen Hammer-und-Sichel-Zeichen,
das schon im Horizont von 1917 eine sinnlose Altertümelei bedeutete. Daß
die emblematischen Werkzeuge des deutschen Handwerkerkonservatismus (vgl. Karlheinz
Weißmann, Schwarze Fahnen, Runenzeichen: Die Entwicklung der politischen
Symbolik der deutschen Rechten zwischen 1890 und 1945, 1991) auf der Flagge
der Sowjetunion erscheinen sollten, sagt genug über die Unbeholfenheit der
Verantwortlichen. Das einfachste Nachdenken hätte den Einwand erhoben, daß
die Industriearbeiter nicht hämmern und das Landproletariat längst keine
Sichel mehr anfaßt. Fataler noch war die Symbolwahl der radikalen Linken
in Deutschland, die sich in der Schlußphase des Ersten Weltkriegs als »Spartakusbund«
konstituierte - mit dem Namen eines gekreuzigten Gladiator-Sklaven als Aushängeschild,
als habe man bewußt die Analogie zum Christentum gesucht, doch unbewußt
eine Tradition der Niederlage zitiert. Nur der rote Stern des revolutionären
Rußland wahrte sein Geheimnis über längere Zeit und verriet erst
am Ende der sowjetischen Episode seinen apokalyptischen Ursprung als Untergangszeichen
( ).
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 204-205).Auch die Partei als »Organ« des Proletariats
beruhte auf einer Großmenschfiktion zweiter Stufe. Da sie sich als »höherstufiges«
Subjekt aus einzelnen entschlossenen Aktivisten konstituierte, deren Synchronie
und Homogenität nie zu sichern war (wie die ständige Nötigung zu
nicht nur ideologischen Säuberungen zeigte), blieb sie von einer Avantgarde
der Avantgarde abhängig, die das letzte Konzentrat des Klassenbewußtseins
- gleichsam ihre wahre Seele - bildete. Nach Lage der Dinge konnte dies nur den
Cheftheoretiker der Revolution bezeichnen. In seinem Denken allein sollten die
inneren Monologe der Partei sich authentisch vollziehen. Er stellte das wahre
Ich der Arbeiterbewegung dar, sofern er als Willens- und Zornzentrum die letzte
Quelle ihrer Legitimität verkörperte. Der vielzitierten Weltseele vergleichbar,
die Hegel nach der Schlacht von Jena zu Pferde vorüberreiten gesehen haben
wollte und die den Namen Napoleon
trug, wäre der theoretisch-thymotische Kopf der revolutionären Organisation
der vitale Ort in der Welt, an dem die Menschwerdung des Zorns ihre aktuelle Vollendung
gefunden hätte - fürs erste also niemand anders als Karl Marx in eigener
Person. Weit davon entfernt, sich durch seine von Haß und Ressentiment geprägte
Persönlichkeitsstruktur für sein historisches Amt zu disqualifizieren
(wie die gewöhnliche ad hominem-Kritik am Autor des Kapitals lautet),
wäre er genau mit den zur Erfüllung seiner Mission notwendigen Eigenschaften
ausgestattet gewesen. Er besaß nicht nur die Luzidität und den Willen
zur Macht des geborenen Führers, sondern auch Zorn genug, daß es für
alle, die in seine Spuren traten, reichen sollte. Jeder Marx-Nachfolger würde
sich an dem Kriterium messen lassen müssen, ob auch er oder sie imstande
wäre, in gleicher Weise als Inkarnation des progressiven Weltzorns und als
Focus des revolutionären Prozeßwissens zu überzeugen. Nach dem
frühen Tod Rosa Luxemburgs gab es im frühen 20. Jahrhundert niemanden
mehr, der Lenins Anspruch auf die Marx-Sukzession hätte anfechten können.
Er war tatsächlich der Mann, den Gott im Zorn zum Politiker geschaffen hatte
- um ein Wort Max Webers
über den Dichter Ernst Toller auf einen geeigneteren Adressaten zu übertragen.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 205-206).Man mag diese Reduktionen des Klassenbewußtseins
auf die Partei und der Partei auf ihren ersten Denker für romantische Anmaßungen
halten. Sie sind es tatsächlich, doch bieten sie den Vorzug, die spekulativen
Übertreibungen, die im Klassen- wie im Parteibegriff stecken, zu Ende zu
denken und den Zorn wie das Bewußtsein dort zu lokalisieren, wo sie ihren
Sitz im Realen haben: in einem konkreten Individuum. Ein solches darf natürlich
nicht als gewöhnlicher Zeitgenosse angesehen werden, vielmehr als exemplarischer
Mensch, der, indem er denkt und zürnt, die gerechte Affektlage der Menschheit
während der Ära der Klassengesellschaften in sich konzentriert. In ihm
ist der Thymos ausreichend erregt, um eine neue Weltordnung fordern zu dürfen.
Marx wäre aus dieser Sicht nicht bloß der Philoktet der modernen Philosophie,
sosehr manche Züge seiner Existenz an den übelriechenden Trojakämpfer
erinnern, dessen unleidliches Geschrei ihn seinen Gefährten auf hoher See
unerträglich machte, bis sie ihn mitsamt dem Bogen des Achilles auf der Insel
Lemnos aussetzten. Er stellte zugleich einen westlichen Mahatma dar, eine umfassende
Seele, die noch im Zürnen übermenschliche Größe zeigte. Seiner
radikal parteilichen Intelligenz wäre die Aufgabe zugefallen, als Speichermedium
für die gelehrte Unzufriedenheit eines Weltalters zu fungieren. (Peter
Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 206-207).Wir werden im folgenden zeigen, daß der
politische Agent »Partei« auf eine für ihn selbst kaum durchschaubare
Weise von der ideologischen Figur des Führer-Vordenkers abhängig war
- und zwar in einem solchen Grade, daß die Partei selbst nur als eine monologische
Maschine funktionierte, in der die Selbstgespräche des Führers auf breiterer
Basis fortgesetzt wurden. Der Kopf der revolutionären Bewegung mußte
sein Wissen und Wollen als theoretischer und moralischer Monarch in den Parteikörper
ausstrahlen, um diesen insgesamt, oder zumindest dessen Zentralkomitee, in ein
kollektivmonarchisches »Organ« zu verwandeln. Die diskutierenden Episoden
der kommunistischen Bewegung waren stets bloße Zugaben zum unerschütterlich
monologischen Ideal. Wir haben weiter oben bemerkt, wie der exemplarische militante
Mensch im Zeitalter des revolutionären Advents seiner Existenz die Form einer
Zornsammelstelle aufprägte. Ziehen wir aus dieser Beobachtung die Konsequenzen,
so wird begreiflich, daß das entschlossene »Subjekt der Revolution«
sich wie ein Bankier zu verhalten hatte, dem die Leitung eines globaloperierenden
Finanzinstituts übertragen wurde. Nur so konnte die revolutionäre Subjektivität
den Glauben fassen, sie sei zum Drehpunkt des Weltgeschehens auserkoren: In dieser
Bank werden nicht nur die angehäuften Empörungen, Leidenserinnerungen
und Zornimpulse der Vergangenheit zu einer aktiven Wert- und Energiemasse komprimiert;
von nun an werden diese revolutionären Intensitäten auch für die
Reinvestition im Realen zur Verfügung gestellt. Die Zukunft würde dann
substantiell identisch mit der Rendite aus den weitsichtig angelegten Summen an
Zorn und Empörung. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 207-208).Genau diese
sammelnden und wiederverausgabenden Tätigkeiten mußten bei der Schaffung
eines größeren Militanzkörpers auf einer erweiterten Skala repräsentiert
werden. Sobald der Transfer der radikalen Subjektivität vom Führer auf
die radikalen Stäbe der Partei (und neben dieser auf die neuen Geheimpolizeien)
vollzogen wäre, würde ein politischer Organismus völlig neuen Typs
ins Dasein treten: jene Bank des Zorns, die mit den Einlagen ihrer Kunden geschichtliche
Geschäfte treiben sollte. Dank ihres Auftritts auf dem Leidenschaften-Markt
verwandelt sich der kollektive Zorn von einem bloßen Aggregat psychisch-politischer
Regungen in ein Verwertung forderndes Kapital. (Peter Sloterdijk, Die
thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 208). Bankanaloge
Prozesse treten überall dort in Erscheinung, wo kulturelle und psychopolitische
Entitäten - wie wissenschaftliche Erkenntnisse, Glaubensakte, Kunstwerke,
politische Protestbewegungen und anderes - sich anhäufen, um von einem gewissen
Akkumulationsgrad an von der Schatzform zur Kapitalform überzugehen. Konzediert
man die Existenz eines nicht-monetären Bankwesens, so leuchtet die Beobachtung
ein, daß Banken eines anderen Typs, als politische Affektsammelstellen aufgefaßt,
ebenso mit dem Zorn der Anderen wirtschaften können, wie Geldbanken mit dem
Geld der Kunden arbeiten. Indem sie dies tun, entlassen sie ihre Klienten von
der Verlegenheit der Eigeninitiative und stellen gleichwohl Gewinne in Aussicht,
und was im einen Fall die monetären Kapitalerträge bedeuten, sind im
anderen die thymotischen Prämien. (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 210-211).Solche
Banken präsentieren sich in der Regel als politische Parteien oder Bewegungen
..,. Die Umwandlung von zornigen Regungen in »konstruktive Politik«
darf dabei in jedem Lager als das magnum opus der Psychopolitik gelten.
(Im übrigen ist die Vermutung zu wagen, daß die von Niklas Luhmanns
Theorie sozialer Systeme [vgl. Luhmanns Systemtheorie]
herausgestellt funktionale Ausdifferenzierung in Subsysteme wie Recht, Wissenschaft,
Kunst, Wirtschaft, Gesundheitswesen, Religion, Pädagogik u.s.w. den Hinweis
auf eine je eigene regionale Kapitalisierung und eine dem in spezifischer Weise
entsprechende Bankformation enthält.) Die Volkswirtschaftslehre definiert
eine Bank als eine Kapitalsammelstelle. Deren Hauptaufgabe besteht darin, die
Guthaben ihrer Klienten im Sinn der Werterhaltung und Wertvermehrung zu verwalten.
In praktischer Hinsicht heißt dies, daß Kundeneinlagen, die im Augenblick
ihrer Einzahlung unfruchtbare Geldschätze sind, sich umgehend in Kapitale
verwandeln und folgerichtig in gewinnorientierte Geschäfte investiert werden.
Es gehört zu den wichtigsten Funktionen einer Bank, als Risikopuffer zu wirken,
der die Klienten an Investitionserfolgen teilnehmen läßt, während
er sie von Mißerfolgen nach Möglichkeit bewahrt. Dieses Arrangement
wird durch den Zins ( )
gesteuert, welcher der Natur der Sache gemäß um so niedriger ausfällt.
je höher der Grad der Risikoausschaltung sein soll. (Vgl. Dirk Baecker,
Womit handeln Banken? Eine Untersuchung zur Risikoverarbeitung in der
Wirtschaft, 1991. Mit einem Vorwort von Niklas Luhmann.) In unserem
Kontext ist nun zu beachten, daß das Zeitprofil des Geldes durch den Übergang
von der Schatzform zur Kapitalform entscheidend modifizeirt wird. Der einfache
Schatz steht noch ganz im Dienst der Wert(auf)bewahrung. Indem er die materiellen
Ergebnisse vergangener Ernten und Plünderungen beisammenstellt, besitzt er
eine rein konservative Funktion (um für den Augenblick von den imaginären
Eigenwerten der Schatzbildung nicht zu reden). Er negiert die ablaufende Zeit,
um das angesammelte Gut in einer permanenten Gegenwart zu verankern. Wer vor einer
Schatztruhe steht oder eine Schatzkammer betritt, erfährt im vollen Sinn
des Wortes, was Anwesenheit bedeutet. Die vom präsenten Schatz gestiftete
Zeitform ist dementsprechend die vom Vergangenen gestütze Dauer als das ständige
Dableiben des Angesammelten - mit der erhabenen Langeweile als erlebtem Reflex.
Im Gegensatz hierzu ist dem Kapital das langweilige Glück der gesammelten
Anwesenheit bei sich fremd. Seiner bewegten Seinsweise wegen ist es zur ständigen
Entäußerung verurteilt; es kann sich nur episodisch, etwa an Bilanzterminen,
als virtuelle präsente Summe vorstellen. Ständig auf Selbstverwertungstour
unterwegs, befindet es sich zu zu keinem Zeitpunkt im Vollbesitz seiner selbst.
Daraus folgt, daß es wesensmäßig »futuristische«
Effekte zeitigt. Es erzeugt eine chronische Vorspannung ins Kommende, die sich
auf jedem erreichten Niveau als erneuerte Gewinnerwartung artikuliert. Seine Zeitform
ist die kurzweilige Akkumulationsperiode, die sich als Dauerkrise vollzieht. ....
Die »permanente Revolution« beschreibt genau den modus vivendi
des Kapitals, nicht das Gebaren eine Kaders. Stets für den erweiterten Fortgang
seiner eigenen Bewegung zu sorgen ist seine wirkliche Mission. Es weiß sich
dazu berufen, alle Verhältnisse umzustürzen, unter denen sich Verwertungshindernisse
aus Brauch, Sitte und Gesetzgebung seinem Siegeszug in den Weg stellen. Daher:
Kein Kapitalismus ohne die triumphale Ausbreitung jener Respektlosigkeit, der
Zeitkritiker ... den scheinphilosophischen Namen Nihilismus (1799
von Jacobi in seinem Sendschreiben an Fichte eingeführt )
gaben. In Wahrheit ist der Kult des Nichts bloß die unvermeidliche Nebenwirkung
des Geldmonotheismus, für den alle anderen Werte bloße Götzen
und Trugbilder darstellen. (Im übrigen ist auch dessen Theologie trinitarisch
zu entwickeln, weil zum Vater »Geld« der Sohn »Erfolg«
und der Heilige Geist »Prominenz« hinzukommen.) Der kapitalistischen
Logik gemäß fällt den Banken die Schlüsselrolle bei der Schaffung
allseitig geldbestimmter Verhältnisse zu, weil nur diese Agenturen der permanenten
produktiven Unruhe imstande sind, die effektive Sammlung und Lenkung der Geldströme
durchzuführen. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 211-213).Die Idee der
Sammelstelle als solcher ist selbstverständlich sehr viel älter als
die der Bank, die bekanntlich erst seit der ... Frührenaissance ihre bis
heute erkennbaren Umrisse annahm. Sie reicht bis in die Ära der sogenannten
Neolithischen
Revolution zurück, als sich mit dem Übergang zum Getreideanbau zugleich
die Praxis der Vorratshaltung entwickelte. An diese knüpft sich ein langes
Gefolge technischer und mentaler Innovationen, welche ebenso die Errichtung von
Speicherhäusern wie die Einübung des Haushaltens mit knappen Lagerressourcen
einschließen (die Erfindung des Eroberungskriegs als zweiter Ernte durch
Zugriff auf die Vorräte anderer nicht zu vergessen). Der wichtigste ideelle
Reflex der frühagrarischen Vorratshaltungskultur tritt in dem Handlungsmuster
Ernte zutage. Seit es den Saat-Ernte-Zusammenhang gibt, wird das bäuerliche
Leben von einem alles durchdringenden Habitus geprägt: dem des alljährlichen
Wartens auf den Moment der Reife. Aus der Ernte folgt die Erfindung des Vorrats
als Grundlage des gemeinsamen Lebens während eines Jahreszyklus. Der Archetypus
Vorrat drängt der Intelligenz der ersten Bauern und Beamten die Handlungsmuster
»Sparen«, »klug Einteilen«, »Umverteilen«
auf. Wird das Schema der Ernte auch metaphorisch verfügbar, können alle
Arten von Schätzen in Analogie zu Früchten als Vorräte angehäuft
werden - beginnend mit Waffen und Schmuck bis hin zu den Schätzen des Heils,
der Künste, des Rechts und des Wissens, mittels deren eine Kultur ihr symbolisches
Überleben sicherstellt. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 213-214).Wie
man weiß, hat Martin Heidegger
den Vorschlag entwickelt, den philosophischen Logos-Begriff, der von dem griechischen
Verbum legein herzuleiten ist, an das agrarische Schema der »Lese«
zurückzubinden. Demnach wären das logische Erkennen von Schriften und
das deutende Wahrnehmen von Umständen in gewisser Weise die Fortsetzung der
Erntearbeit mit symbolischen Mitteln. Von hier aus scheint die Vorstellung naheliegend,
daß die Sphäre des Wissens ihrer Form nach einen höheren vorratswirtschaftlichen
Zusammenhang bildet, bei dem die Saaten der Tradition in den je gegenwärtigen
Generationen aufgehen sollen, um bei der immer neu einzubringenden Ernte der Erkenntnis
gesammelt zu werden. Unter solchen Bedingungen konnten sich auch Philosophen (ansonsten
strikt auf urbane Kontexte angewiesen) noch als hybride Bauern vorstellen. Heideggers
Lehre vom Logos als Lese des Sinns bleibt folgerichtig bei einem vormodernen Wissensbegriff
stehen. Indem der Denker an dem antiken und mittelalterlichen Archetypus des durch
Sammlung gewonnenen Vorrats oder Schatzes festhielt, weigerte er sich, die Modernisierung
der Wissensproduktion durch die Forschung mitzuvollziehen. In dieser sah er eine
fatale Entstellung der »ursprünglich gewachsenen«, vortechnischen
Gegebenheitsweise der Dinge. Tatsächlich wird Forschung - in bemerkenswerter
Analogie zur Entfaltung des Bankwesens in der neueren Geldwirtschaft - in Instituten
der organisierten Wissensanhäufung und -innovation praktiziert, namentlich
den wissenschaftlichen Akademien und den modernen Universitäten. Mit ihren
Personalen und Apparaten erfüllen sie die Rolle von authentischen Wissensbanken
- und Banken kooperieren bekanntlich stets als Partner und Beobachter von Unternehmen.
Im kognitiven Bereich fällt die Unternehmerfunktion den Forschungsinstituten
zu. Sobald das Wissen von der Schatzform - wie sie zuletzt von den pansophischen
Gelehrten des Barock bis hin zu Leibniz
verkörpert wurde - zur Kapitalform übergeht, darf es nicht mehr allein
als träger Vorrat akkumuliert werden. Die Bildungsregel »Erwirb es,
um es zu besitzen«, tritt bei dem zur Forschung dynamisierten Wissen außer
Kraft. Es wird nicht mehr als Besitz angeeignet, sondern dient als Ausgangsmaterial
für seine erweiterte Reproduktion, ganz so, wie das moderne Geld, statt in
Schatzkisten und Sparstrümpfen gehortet zu werden, in die Zirkulationssphäre
zurückkehrt, um sich in Umläufen höherer Stufe zu verwerten. Dieser
Formwandel des Wissens stellt keine Innovation des 20. Jahrhunderts dar, obwohl
es zutrifft, daß dieses Zeitalter zuerst in expliziten Ausdrücken von
Wissensökonomie und Kognitionswirtschaft gesprochen hat, um sich bis zu hybriden
Konzepten wie dem der »Wissensgesellschaft« aufzuschwingen. Der Sache
nach ist der Prozeß des Wissens auf kapitalanaloge Grundlagen gestellt,
seit der jeweils aktuell disponible Vorrat an wissenschaftlichen Erkenntnissen
für die erweiterte Reproduktion kraft organisierter Forschung erschlossen
wurde. Die von Leibniz so intensiv geforderte Einrichtung wissenschaftlicher Akademien
gehört zu den Leitsymptomen des Übergangs. Forschung entspricht somit
im Bereich des Wissens dem Komplex von Tätigkeiten, der in der monetären
Sphäre als Investieren bezeichnet wird: Sie impliziert das kontrollierte
Risiko, bisher Erworbenes zugunsten künftigen Erwerbs aufs Spiel zu setzen.
Von der Verlaufskurve solcher Risikooperationen wird erwartet, daß sie trotz
konjunktureller Schwankungen eine kontinuierliche Akkumulation beschreibt. Freilich
kennt das Wissenskapital, wie das monetäre, spezifische Krisen, in denen
seine weitere Verwertbarkeit in Frage gestellt scheint -die Lösung der Krise
besteht in der Regel in dem, was die jüngere Wissenssoziologie einen Paradigmenwechsel
nennt. In dessen Verlauf werden ältere kognitive Werte vernichtet, indessen
der Betrieb unter neuen konzeptuellen Rahmenbedingungen intensiver denn je weitergeht.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 213-216).Analoge Beobachtungen
lassen sich für die jüngere Kunstgeschichte anstellen. Auch im Bereich
der künstlerischen Hervorbringungen hat sich spätestens vom frühen
19. Jahrhundert an (nach Vorbereitungen, die bis ins 15. Jahrhundert zuückreichen)
ein Übergang von der schatzförmigen zur kapitalförmigen Sammlung
vollzogen, der vor allem an der dynamischen Geschichte des Museums und seines
Funktionswandels ablesbar ist. Von diesen Vorgängen sind wir durch die florierende
Wissenschaft der Museologie und durch die jüngeren kuratorischen Studien
unterrichtet - Disziplinen, die sich während des letzten halben Jahrhunderts
als Volks- und Weltwirtschaftlehre des Kunstbetriebs etabliert haben, auch wenn
die kuratorische Praxis nur selten ihre neuen theoretischen Grundlagen zur Kenntnis
nimmt. Wie freilich Bankangestellte vorzügliche Arbeit leisten können,
ohne die allgemeine Logik des Bankwesens zu beherrschen, sind die Kuratoren der
zeitgenössischen Kunst- und Kulturszene imstande, sich nützlich zu machen,
ohne über die Bewegung des Kunstkapitals im großen nachzudenken. Vor
allem den Untersuchungen von Boris Groys ist es zu verdanken, daß man den
Eintritt des Kunstsystems in seine endogene Kapitalisierung begrifflich präzise
nachvollziehen kann (vgl. Boris Groys, Über das Neue, 1992; ders.,
Fundamentalismus als Mittelweg, 1997; ders., Politik der Unsterblichkeit.
Vier Gespräche mit Thomas Knoefel, 2002): Der Akzent auf dem endogenen
Charakter der Vorgänge hebt hervor, daß es hier nicht so sehr um die
äußere Wechselwirkung von Geld und Kunst auf den Kunstmärkten
geht, auch nicht um den sogenannten Warencharakter des Kunstwerks, dem in der
nahezu ausgestorbenen marxistischen Kunstkritik eine Schlüsselrolle zukam.
In Wahrheit hat sich das Kunstsystem im ganzen intern zu einem kapitalanalogen
Geschehen gewandelt, mit entsprechenden Formen des Zusammenspiels von Unternehmertum
und Bankfunktion. In diesem Prozeß bilden Resultate des bisherigen Kunstschaffens
einen Kapitalstock, aus dem die aktuellen Kunstproduzenten Anleihen aufnehmen,
um mittels ihrer neue, hinreichend verschiedene Werke zu gestalten. Groys hat
den Kapitalstock der akkumulierten Kunstobjekte als »Archiv« beschrieben
- wobei der Ausdruck, anders als bei Foucault, ironischerweise nicht die staubgraue,
tote Seite des Speichers, sondern seine lebendig vorantreibenden, auswahlsteuernden
Tendenzen bezeichnet. Als Träger des »Archivs« kommt in letzter
Instanz nur der Staat in seiner Eigenschaft als Kulturgarant infrage oder besser
die imaginäre Internationale der Staaten (indessen die privaten Sammlungen
ihren relativen Wert allein durch den Bezug auf die öffentlichen Sammlungen
und deren virtuelle Synthese im »Archiv« behaupten können). Das
Archiv ist die intelligente Form des imaginären Museums. Während Andre
Malraux mit seiner bekannten Prägung bei einer stumpfen Idee des immer präsenten
globalen Schatzes stehenblieb, hat Groys im Archiv, dem Inbegriff des modernisierten
hochkulturellen Kunst- und Kulturspeichers, die Funktionen eines sich selbst verwertenden
Kapitals ausgemacht. Damit wird der Grund dafür benannt, warum das aktuelle
Kunstleben nur noch als Mitwirkung der Künstler und Kunstmanager an der rastlosen
erweiterten Reproduktion des Archivs intelligibel zu machen ist. Tatsächlich
prägt das stets im Hintergrund präsente Archiv der laufenden Kunstproduktion
den Zwang auf, unaufhörlich Erweiterungen des Kunstbegriffs vorzunehmen.
Deren Ergebnisse werden von den Agenten des Archivs evaluiert und bei ausreichenden
Differenzwerten gegenüber dem gespeicherten Material der Sammlung einverleibt
(vgl. den Abschnitt: Das Neue als das wertvolle Andere, in: Boris Groys,
Über das Neue, 1992. S. 42f.). Auf diese Weise konnte auch das, was
bisher das Gegenteil von Kunst war, ins Sanktuarium der Kunst vordringen. Seit
dieses System die Märkte durchdrungen hat, bedeutet die populäre Aussage,
eine Sache sei »museumsreif« geworden, das Gegenteil dessen, was sie
vormals beabsichtigte. Was den Weg ins Museum, allgemeiner: ins Archiv, geschafft
hat, ist von da an für die ewige Wiederkehr des Neuen gut. Doch wie jeder
akkumulierte Wertstock ist auch der des Archivs dem Risiko der Abwertung oder
Entwertung ausgesetzt. Vor allem das Auftauchen neuer Kunstgattungen infolge der
Entwicklung neuer Medien löst Krisen aus, die vom Archiv als effektiver Kunst-
und Kulturbank üblicherweise durch Umwertung der Werte überwunden werden.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 216-218).Das Phänomen
der Schatzbildung, das bis an die Schwelle eines förmlichen Bankwesens führt,
ist schließlich auch im religiösen Bereich anzutreffen. Was die Christen
seit dem ersten Jahrhundert ihres Bestehens die ekklesia nennen, ist keineswegs
nur ein von gemeinsamen Glaubenssätzen zusammengehaltener Personenverband.
Von Anfang an bedeutete das Konzept Kirche ebenso eine Sammelstelle für Zeugnisse,
die die Wirklichkeit des Heils in der Zeit bekunden. Die ekklesiogene Sammlungsbewegung
begann spätestens im zweiten Jahrhundert mit der Zusammenstellung der Evangelien
und Apostelschriften. Deren Kondensierung zum neutestamentlichen Kanon besaß
schon früh einen hohen polemischen Wert, da die Geschichte der »wahren
Religion« sich als permanenter Abwehrkampf gegen Abweichungen vollzog. Zu
dem evangelischen Nukleus kamen in stetiger Akkumulation die Apostelgeschichten
aus der frühen Mission, dann die Märtyrergeschichten aus der Ära
der »bedrängten Kirche« hinzu - ein Zustrom, für den nicht
zuletzt das Nachwirken der Apokalyptik ( )
und die noch lange lebendige Erwartung der nahen Wiederkehr verantwortlich waren.
Seither ist Kirchengeschichte immer in einem gewissen Maß Märtyrergeschichte
geblieben - die glücklichen Epochen der Kirche sind die leeren Seiten der
Martyrologie. (Das Martyrologicum Romanum, ein literarisches Beinhaus der
gesamten Glaubensgeschichte, umfaßte bei seiner Neuausgabe im Jahr 2001
nicht weniger als 6990 Einträge. Es bildet einen Schatz aus Zeugnissen für
christliche Opferbereitschaft von den ältesten Verfolgungen bis ins 20. Jahrhundert.)
Dem folgen die Viten der Heiligen, die Legenden der Wüstenväter und
die zahllosen Lebensgeschichten der Seligen und Vorbildlichen. Vollendet wird
die erbauliche Sammlung christlicher Exempla durch den doktrinalen Schatz der
konziliaren Formulierungen (mit dem »Denzinger« als dem Beinhaus der
Dogmatik), der in den Beiträgen der akkreditierten Theologen seine körperreicheren
Fassungen erlangt. Schließlich fügt die Chronik der Bischöfe und
die Geschichte der Orden und Missionen den funkelnden Schätzen des Glaubens
ein farbiges Archiv hinzu. Autorität meint im Katholizismus also - neben
dem Lehramt der Bischöfe und doctores - stets auch den Glanz des »Kirchenschatzes«,
der dank einer zweitausendjährigen Anhäufung in immer neuen Exemplifikationen
die in der ekklesia anwesende »Heilswirklichkeit« zu bezeugen
hat. Es ist allerdings fraglich, ob die katholische Verwaltung dieser »Realitäten«
den effektiven Übergang von der Schatzform zur Kapitalform zu vollziehen
imstande ist, da ihre Sorge um Rechtgläubigkeit die Reinvestition überlieferter
Werte in innovative Projekte stark behindert. Dennoch ist dem zeitgenössischen
Katholizismus die Idee der erweiterten Reproduktion des Heilsschatzes nicht fremd.
Johannes Paul II. hat auf seine Weise die Herausforderung der Moderne beantwortet
und in Zeiten rückläufiger Betriebserfolge ein wichtiges Segment des
sakralen Kapitals, die Schar der Heiligen, um über einhundert Prozent aufgestockt.
Die 483 Heiligsprechungen (neben 1268 Seligsprechungen) in seiner Amtszeit sind
nur als Teil einer umfassenden Offensive zur Umwandlung träger Heilsschätze
in operative Heilskapitale angemessen zu würdigen. Kirchenhistoriker haben
errechnet, daß die allein von Johannes Paul II. vorgenommenen Kanonisierungen
zahlreicher sind als die der gesamten Kirchengeschichte seit dem späten Mittelalter.
Ohne Zweifel wird die Bedeutung dieses Papstes künftig primär an seiner
Tätigkeit als Mobilisator des Kirchenschatzes abgelesen werden. Der Hinweis
auf diesen römisch administrierten Schatz von Zeugnissen für die permanente
»Realität des Heils« macht deutlich, daß die Erfolgsgeschichte
des Christentums nicht bloß durch die Errichtung der metaphysischen Rachebank
vorangetrieben wurde, von der im vorherigen Kapitel ausführlicher die Rede
war ( ).
Sie verdankt sich ebenso dem hier angedeuteten Vorgang, den man am besten wohl
als eine Schatzbildung der Liebe umschriebe, ja vielleicht sogar als die Schaffung
einer Weltbank des Heils. An deren Resultaten nehmen auch die Weltkinder teil,
die sich nicht für die Heilsschätze der Kirchen interessieren, jedoch
bereit sind, zuzugeben, daß erfolgreiche »Gesellschaften« ihr
»soziales Kapital« sorgfältig regenerieren und reinvestieren
müssen. Selbst Nichtchristen dürfte es nicht schwerfallen, nachzuvollziehen,
wieso Vorgänge wie die oben beschriebenen aus innerkirchlicher Perspektive
als das Werk des Heiligen Geistes gedeutet werden konnten. In unserem Kontext
genügt es, die Realität eines nicht-monetären Bankwesens auch an
diesem Beispiel nachzuweisen. Was freilich den Werken der Liebe recht ist, wird
denen des Zorns billig sein. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 218-220). Ihre
Geschäftsgrundlage ist das Versprechen an ihre Klienten, eine thymotische
Rendite in Form von erhöhter Selbstachtung und erweitereter Zukunftsmächtigkeit
auszuschütten, wenn sie auf das momenthafte Ausagieren ihres Zorns verzichten.
Die Gewinne werden durch die politischen Operationen der Zornbanken erzielt, mit
denen sie die existentiellen Spielräume ihrer Mitglieder, materiell wie symbolisch,
erweitern. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 221-222).Man hat in den Darstellungen
des 20. Jahrhunderts den August 1914 unisonso und mit allzu einsichtigen
Gründen als das Schicksalsdatum der politischen Moderne ausgemalt. Ebenso
einhellig wurde konstatiert, daß der Eintritt der imperialen Nationen Europas
in den Ersten Weltkrieg die Katastrophe des sozialistischen Internationalismus
nach sich zog, da die große Mehrheit der gemäßigten linken Parteien
angesichts der militärischen Frontbildungen eine Bekehrung zum Vorrang der
nationalen Kampfmotive vollzog. Das berüchtigte Wort aus der Thronrede Wilhelms
II. vom 4. August 1914 im Berliner Reichstag, er kenne keine Parteien mehr, er
kenne nur Deutsche (ähnlich schon am 31. Juli bei der zweiten Balkonansprache
vor dem Volk), proklamiert und registriert zugleich, am deutschen Beispiel, den
vollständigen Kollaps der transnationalen Solidaritäten. Tatsächlich
kam es so gut wie überall zur Integration der überwiegend sozialdemokratisch
geprägten parlamentarisch integrierten Arbeiterbewegungen in die euphorischen
Mobilmachungen der nationalimperialen Staaten. Wie die Quellen beweisen, bedeutete
die Bewilligung der Kriegsanleihen durch die SPD für viele Angehörige
der Linken einen moralischen Schock. (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 222-223).In
unserem Kontext läßt sich die Fatalität dieser Vorgänge als
eine Art von unabwendbarer Bankenkrise beschreiben, bei der die in international
agierenden Häusern deponierten Zorneinlagen der »Massen« von
den Geschäftsführern in einer jähen Wende den polemischen Geschäften
der nationalen politischen Führungen zur Verfügung gestellt wurden.
Dies kam einer globalen Vernichtung der angesparten Werte beziehungsweise ihrer
Investition in falsche Objekte gleich, da die spezifischen Interessen der Arbeiterdissidenz
sich in den kriegerischen Projekten der nationalen Generalstäbe kaum oder
gar nicht wiederfinden konnten. Indem sie die in Jahrzenten akkumulierten Zorn-
und Dissidenzmengen aus der vordersten Linie des Kampfs gegen die kapitalistische
Ordnung zurückzogen und für den Krieg zwischen imperialen Nationen zur
Verfügung stellten, begingen die Führer der gemäßigten Arbeiterbewegung
ein »Wirtschaftsverbrechen« beispiellosen Ausmaßes. Für
die massive Veruntreuung der ihnen anvertrauten Zornkapitale konnten sie sich
allerdings partiell entschuldigen mit dem Hinweis auf den kriegsbereiten Enthusiasmus
ihrer Kunden. Tatsächlich bleiben die Jubelbilder des August 1914 auch nach
nahezu einem Jahrhundert ein Skandal nicht nur in politischer, sondern auch anthropologischer
Hinsicht. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders.,
Zorn und Zeit, 2006, S. 223-224).In
kulturtheoretischer Perspektive bedeutet die Zornverschiebung vom Internationalismus
zum Nationalismus nichts anderes als eine Rückkehr zu den historischen Formaten
bei der Bildung von kriegsbelastbaren politischen Streßgruppen. Die Zweite
Internationale war eine viel zu lockere Assoziation geblieben, um ihre Angehörigen
bei realem Druck in eine effektive Kampfgemeinschaft (in der Terminologie von
Heiner Mühlmann: eine operative Maximal-Streß-Kooperations-Größe
(vgl. Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen - Entwurf einer kulturgenetischen
Theorie, 1996; vgl. weiter unten )
zusammenziehen zu können. Sie war völlig außerstande, einen kriegsbelastbaren
psychopolitischen Körper zu bilden. Unter Kriegsgefahr schwenkten daher auch
symbolisch solide Internationalisten nahezu unvermeidlich in die nationalen Fronten
ein, weil diese bis auf weiteres mit den Außengrenzen der emotional definierten
politischen Streßverarbeitungskollektive identisch sind - ausgenommen jene
seltenen Geister, die das Schimpfwort »vaterlandslose Gesellen« als
philosophisches Ehrenzeichen trugen. Die Existenz der national formatierten Selbsterhaltungseinheiten
wird seit dem 19. Jahrhundert durch das Aufgebot von Wehrpflichtigenarmeen verstärkt,
die um berufssoldatische Kerne organisiert sind. Man hat im übrigen bis zum
Beginn des 21. Jahrhunderts warten müssen, bevor in Europa postnationale
Militäreinheiten auf die politische Agenda gesetzt werden konnten. Die Sperrigkeit
und Trägkeit der entsprechenden Prozesse mag einen Begriff davon geben, wie
stark auch heute noch die Gleichsetzung der Nation mit der letztinstanzlichen
politischen Überlebenseinheit nachwirkt. (Peter Sloterdijk, Die
thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 224).In
Anbetracht der stets nur lockeren Koordination zwischen den nationalen Komponenten
der Zweiten Internationale muß man die oft geäußerte heftige
Enttäuschung der Sprecher des radikalen Flügels der Arbeiterbewegung
nach dem August 1914 als Zeichen von Naivität oder Heuchelei bewerten - als
habe man je im Ernst erwarten dürfen, die Majorität der Proletariate
Frankreichs, Englands, Deutschlands u.s.w. könne im Kriegsfall zu ihren jeweiligen
nationalen Frontbildungen Abstand halten. Zieht man von den Ereignissen des Jahres
1917 her Bilanz, ist der Eindruck kaum abzuweisen, daß der »imperialistische
Krieg« den Vertretern der harten Linie direkt in die Hände arbeitete.
Bakunins im Jahr 1875 notierte Hoffnung auf den Weltkrieg als letzte Chance der
revolutionären Aspirationen hatte sich kaum vierzig Jahre später erfüllt.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 225).Für die politische Prozessierung der populären
thymotischen Regungen geriet der Kriegausbruch von 1914 auf jeden Fall zu einer
tiefen Zäsur. Sein unmittelbares Resultat bestand, wie bemerkt, in der brüsken
Umwertung des größten Teils antikapitalistisch geprägter Zornwerte
zu akuten Nationalfeindschaften. Deren psychopolitische Konsequenzen schlagen
sich in dem Ereigniskomplex nieder, den man, nicht ohne trügerischen Zungenschlag,
als das »Zeitalter der Extreme« bezeichnet hat. Dieses wurde zum einen
bestimmt durch den Versuch einer gewaltsamen Wiederaneignung des verlorenen Zorns
seitens des Leninismus, in dem man vor allem eine Realpolitik der Revolution um
jeden Preis zu erkennen hat. Sein zweites Merkmal war die anhaltende Amalgamierung
des Zorns mit den militanten Nationalbewegungen, die nach dem Weltkrieg die politische
Szene Europas aufwühlten. Der Kampf um den verratenen Zorn des Proletariats
brachte die beiden Formationen extremistischer Militanz in Stellung, deren Duell
das Schwergewicht der Weltpolitik zwischen 1917 und 1945 bildete. (Peter
Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 225).Der erste Kontrahent,
die leninistisch dominierte Dritte Internationale, die Zornbank der Linken, schien
erstmals imstande zu sein, mit einem effektiven Weltbankanspruch aufzutreten.
Den Sieg der Oktoberrevolution im Rücken, meinten die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder
dieses Unternehmens über ein neues Organ der Zornkollekte zu verfügen,
das zu einer operativen Vereinigung der weltweit gestreuten Dissidenzpotentiale
in einer einheitlichen antibourgeoisen, antikapitalistischen und antiimperialistischen
Politik mit hohen Gewinnspannen für die aktivierten »Massen«
geeignet und in der Lage wäre. (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 225-226).Die
Tragödie der neuen Sammlung begann bereits in den ersten Tagen der Russischen
Revolution, als sich zeigte, daß Lenins Sachlichkeit die radikale Linke
moralisch entzauberte - eine Entzauberung, zu deren Akzeptierung es mehrerer Generationen
bedurfte. Schon im Herbst 1918 wurden die Arbeiter Petrograds zu Massakern gegen
die russischen Sozialdemokraten aufgerufen: »Genossen, schlagt die rechten
Sozialrevolutionäre ohne Gnade, ohne Mitleid, Gerichtshöfe und Tribunale
sind nicht nötig. Der Zorn der Arbeiter soll toben ... rottet die Feinde
physisch aus.« (Zitiert nach: Ernst Nolte,
Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus,
1987). Somit war nicht erst nach der Niederschlagung der Matrosenrevolte von Kronstadt
im März 1921, bei der die treuesten Leninanhänger rätedemokratische
Forderungen gegen die Monopolisierung der Revolution durch die bolschewistische
Führung erhoben, unmißverständlich klargeworden, wohin die revolutionäre
Reise ging. Daß sich der Organisator der Roten Armee und spätere Hoffnungsträger
anti-stalinistischer Illusionen, Leo Trotzki, bei der Abschlachtung der Kronstädter
Opposition hervortat, bezeichnet die abschüssige Bahn, auf der sich die Sache
der Linken in Rußland bewegte, nicht weniger unmißverständlich
als die Tatsache, daß Lenin höchstpersönlich sich nicht zu schade
war, auf dem gleichzeitig stattfindenden 10. Parteitag der Kommunistischen Partei
Rußlands die in großer Mehrheit bona-fide-sozialistischen Insurgenten
summarisch als kleinbürgerliche Konterrevolutionäre zu denunzieren.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 226-227).Schon 1918 hatte Lenin sich zu dem Dogma bekannt,
der Kampf gegen die Barbarei dürfe vor barbarischen Methoden nicht zurückschrecken.
Mit dieser Wendung nahm er die anarchistische Veräußerlichung des Schreckens
in den Kommunismus auf. Der Mann, der im Augenblick des Sprungs an die Macht geschrieben
hatte: »Die Geschichte wird uns nicht verzeihen, wenn wir nicht jetzt die
Macht ergreifen« oder: »Zögern wird jetzt zum förmlichen
Verbrechen«, war offensichtlich nicht willens, die Gelegenheit aus der Hand
zu geben, mochten auch die kruden Mittel der Eroberung und Monopolisierung von
Macht im scharfen Kontrast stehen zu den noblen Zwecken des Unternehmens. Schon
damals ließ sich absehen, daß die Revolution in Wahrheit zu einem
auf Dauer gestellten Putsch geriet, der einen immer groteskeren Aufwand forderte,
um Treue zu seinem Programm vorspiegeln zu können. Indem der Leninismus den
Massenterror als Erfolgsrezept für die revolutionäre Staatsbildung postulierte,
sprengte er die elanvolle Liaison von Empörung und Idealismus, die bis 1917
das utopiepolitische Privileg der Linken gewesen war. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 227).Dies
zeitigte weitreichende Folgen für die später so genannte »politische
Suspension der Moral«. Daß eine Epoche der Ausnahmezustände angebrochen
war, soviel konnte jeder Zeitgenosse von 1917 nachvollziehen. Gewiß war
auch: In Zeiten konvulsivischer Neugründungen reichte die Empörung der
schönen Seelen über die unerfreulichen Zustände nicht mehr aus.
Gleichwohl war niemand auf die Zuspitzungen des revolutionären Exterminismus
gefaßt, der quasi vom ersten Tag der Kämpfe an in voller Montur auf
die Szene sprang. Nach Lenin war es die erste Pflicht des Revolutionärs,
sich die Hände schmutzig zu machen. Aus klarer Witterung für die neuen
Verhältnisse hatten die Bolschewisten in ihrem Sprachrohr, der Zeitung Prawda,
am 31. August 1918 das Programm verkündet: »Die Hymne der Arbeiterklasse
wird von nun an das Lied des Hasses und der Rache sein!« .... Für Lenin
wie Lukacs stand außer Zweifel, daß die real geschehende Revolution
mit einer purgatorischen Mission betraut war: Aus der Logik des Zwischenreichs
zwischen Klassengesellschaft und Kommunismus folgte zwingend das Handlungsmuster
der »Säuberung«. Da die Weltgeschichte zum Weltgericht geworden
war, durfte der wahre Revolutionär es an Härte gegen die Rückstände
der Vergangenheit nicht fehlen lassen. Nicht umsonst lautete die Formel des russischen
Avantgardismus: »Die Zeit hat immer recht.« Wenn die Zukunft anklopft,
tritt sie durch die Pforte des Schreckens ein. (Peter Sloterdijk, Die
thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 227-228).In
weniger subtilen Kontexten berief sich diese politische Suspension der Moral -
einfacher: die Pflicht zum Verbrechen - auf eine schlichte quantitative Überlegung.
Um das Leben von vielen Millionen zu retten, müsse man die Opferung einiger
tausend Personen in Kauf nehmen - kein urteilsfähiger Mensch, hieß
es, könne sich einer solchen Überlegung entziehen. Nur kurze Zeit später
bot sich das Schauspiel, wie man Millionen opferte, damit einige Tausend, und
letztlich nur einige Dutzend, angeführt von einem argwöhnischen Philosophenkönig,
sich an der Macht hielten - sosehr auch die wenigen weiterhin behaupteten, sie
übten ihre Macht im Interesse erhabenster Menschheitshoffnungen aus. Nie
war das Paradox des Egalitarismus deutlicher auf die Spitze getrieben als in der
Blütezeit des Bolschewismus: Damals war es den Alphatieren der Klassenlosigkeit
gelungen, die ganze Macht in ihren Händen zu akkumulieren. Nach Stalins Aussage
umfaßte die Kommunistische Partei drei- bis viertausend höchste Führer
(»die Generalität unserer Partei«), dazu dreißig- bis vierzigtausend
mittlere Führer ( »unsere Parteioffiziere«) und einhundert bis
einhundertfünfzigtausend unteres Kommandopersonal ( »unsere Parteiunteroffiziere«.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 229).Im übrigen waren von diesen tragischen Berechnungen
schon früh auch gröbere Varianten zu hören. In Lenins unmittelbarer
Nähe wurden Thesen formuliert wie diese: Bei einem ... Volk wie dem russischen
dürfe man ohne weiteres ein Zehntel opfern, wenn man mit dem Rest erfolgreich
weiterarbeiten könne. (Nach einer konsolidierten Quelle wird diese hunnische
These Grigorij Sinovjew, einem der engsten Vertrauten Lenins, zugeschrieben, der
auf einer Parteiversammlung in Petrograd am 17. September 1918 erklärte:
»Von den hundert Millionen der Bevölkerung in Sowjetrußland müssen
wir neunzig für uns gewinnen. Mit den übrigen haben wir nicht zu reden,
wir müssen sie ausrotten.« Einem Zeitungsbericht zufolge wurde Sinovjews
Rede mit großem Beifall aufgenommen. Zitiert nach: Ernst Nolte,
Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus,
1987). Der Urheber dieser klassengenozidalen Phantasmen, Lenins engster Mitarbeiter
Sinovjew, hätte diese mit Sicherheit nie geäußert, wäre er
der Zustimmung des Revolutionsführers nicht gewiß gewesen. Seit 1918
spukte der Archetypus der Dezimierung durch Erlasse des Parteivorsitzenden selbst:
Würde da und dort jeder Zehnte eliminiert, verwandelten die übrigen
sich wie von selbst in eine formbare Menge. Auch von Trotzki ist überliefert,
daß er als Kommandant der Roten Armee aus geringfügigen Anlässen
die Maßnahme ergriff, jeden zehnten Soldaten erschießen zu lassen.
Lenins Erklärung, nur in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus
sei Repression noch nötig, war nie viel mehr als eine Parole zur Außerkraftsetzung
von moralischen Bedenken. Das gelegentlich hinzugefügte Argument, es handle
sich diesmal um die Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit, was
ein verheißungsvoIles Novum darstelle und dem Kampfstil des »sozialistischen
Humanismus« angemessen sei, erwies sich als eine Beschwichtigungsformel,
die den Aktivisten die Einsicht in die fatale Drift ihres Projekts ersparen sollte.
Im Rückblick liegen jedem, der keine Gründe hat, es nicht wissen zu
wollen, die Motive vor Augen, warum der Kommunismus an der Staatsmacht vom ersten
bis zum letzten Tag eine Übergangszeit vom Schlimmsten zum Schlimmsten blieb.
(Dies spiegelt sich noch in der post-kommunistischen Literatur, z.B. in dem satirischen
Roman über die Putin-Ära von Viktor Pelewin, Die Dialektik der Übergangsperiode
von Nirgendwoher nach Nirgendwohin, 2004). (Peter Sloterdijk, Die
thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 229-230).Sofern
man der These zustimmt, wonach der »Faschismus« in seiner Anfangsphase
den Versuch bedeutete, den Elan der Kriegssozialismen auf die Lebensformen der
Nachkriegs»gesellschaften« zu übertragen, ist eines unmöglich
zu leugnen: Lenins Direktiven vom Spätherbst 1917 an lösten die ersten
authentisch faschistischen Initiativen des 20. Jahrhunderts aus. Ihnen gegenüber
konnten Mussolini und dessen Klone sich nur noch epigonal verhalten. (Die These,
daß Lenin den Faschismus inaugurierte, wurde in den fünfziger Jahren
von sowjetischen Gelehrten ausgesprochen, etwa dem Physiknobelpreisträger
Lew Davidowitsch Landau. Auch Romain Rolland, nach seiner ominösen Begegnung
mit Stalin im Juli 1935 Aushängeschild des westlichen Prosowjetismus, hatte
Ende der zwanziger Jahre notiert, der Kommunismus habe den Faschismus gezeugt,
sofern dieser nur ein »umgekehrter Bolschewismus« sei. .... Antonio
Negri gibt zu, daß noch heute gewisse Varianten von Populismus und Faschismus
deformierte Abkömmlinge aus dem Sozialismus sind. .... Landaus These ist
gegenüber denen von Rolland und Negri radikaler und treffender, weil sie
den Leninismus nicht nur »dialektisch« als Provokationsherd des Faschismus
identifiziert, sondern als dessen Prototypus.). Die Ansätze der älteren
militanten Rechten vor 1914 auf diesem Feld, wie etwa die der Action Française,
stellten kaum mehr dar als leichthändige Bricolagen aus den überall
bereitliegenden sozialistischen und nationalistischen Versatzstücken. Auch
Georges Sorels Appelle an das kämpferische Proletariat waren bloß eine
der erfolgreicheren unter den zeitüblichen Hymnen auf die Gewalt als Remedium
gegen die liberale »Kultur der Feigheit.« (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 230-231).Mit
Lenins Intervention erst betrat der mobilisatorische Mythos den Boden des Realen.
Am linksfaschistischen Original leninscher Prägung kamen die Merkmale des
neuen politischen Stils, der seine Herkunft aus dem Realismus des Weltkriegs nie
verleugnete, in endgültiger Prägnanz zum Vorschein. Unter ihnen sind
zu nennen: die latent oder manifest monologische Konzeption der Beziehung zwischen
dem Führer und den Geführten; die mobilisatorische Daueragitation der
»Gesellschaft«; die Übertragung des militärischen Habitus
auf die ökonomische Produktion; der rigorose Zentralismus der Führungsstäbe;
der Kult der Militanz als Lebensform; der asketische Kollektivismus; der Haß
gegen die liberalen Verkehrsformen; der Zwangsenthusiasmus zugunsten der revolutionären
Sache; die Monopolisierung des öffentlichen Raums durch Parteipropaganda;
die umfassende Ablehnung bürgerlicher Kultur und Zivilität; die Unterwerfung
der Wissenschaften unter das Gesetz der Parteilichkeit; die Verächtlichmachung
der pazifistischen Ideale; das Mißtrauen gegen Individualismus, Kosmopolitismus
und Pluralismus; die ständige Ausspitzelung der eigenen Gefolgschaft; der
exterministische Modus des Umgangs mit dem politischen Gegner und schließlich
die von der jakobinischen terreur abgelesene Neigung zum kurzen Prozeß,
bei dem die Anklage den Schuldspruch einschließt. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 231-232).An
der Spitze dieser Liste faschismustypischer Merkmale steht die ausdrückliche
Außerkraftsetzung des fünften Gebots ( ),
und sei es nur für die Dauer einer »Übergangszeit« bis zur
Ausmerzung des Klassenfeindes (anfangs noch »Volksfeind« genannt).
Es handelte sich hierbei wohlgemerkt nicht um jene Ausnahmen vom alttestamentarischen
Tötungsverbot, die von alters her jüdischen Kämpfern wie christlichen
Soldaten zugestanden waren. Die Nutznießer der Ausnahmegesetze gehörten
diesmal einer semi-zivilen Elite an, die als rächende Avantgarde der Menschheit
nicht der gewöhnlichen Moral zu gehorchen hatten. Nur für die Mitglieder
dieses Opferungsordens galt die Bezeichnung »Berufsrevolutionäre«,
mit deren Erfindung Lenin der entscheidende Schritt zu einer Praxis des hypermoralisch
motivierten Amoralismus gelungen war. Wenn Albert Camus in seinem klugen Resümee
von Hegels amoralisierendem Einfluß auf das Denken der Revolutionäre
im 19. und 20. Jahrhundert notierte: » Alle Moral wird provisorisch«
(Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, 1951, S. 117), so weist dies
auf die zunehmende Entfremdung des revolutionären Aktivismus von seinen idealistischen
Ursprüngen hin. Die pragmatischen Gründe für das Provisorischwerden
der Moral in Zeiten permanenter Kämpfe kamen im modus operandi der
Russischen Revolution zum Vorschein, als das Morden für das Gute chronische,
professionelle und institutionelle Züge annahm. Schon nach kurzer Zeit waren
die Tötungspraktiken habitualisiert, systematisiert und bürokratisiert,
ohne je ihren unberechenbaren Charakter abzustreifen. Da niemand mehr imstande
war, zu sagen, ob der moralische Ausnahmezustand je wieder ein Ende finden würde,
nimmt es nicht wunder, wenn es nach einer Weile nicht an Stimmen fehlte, die mehr
oder weniger unverhüllt eine dem immerwährenden Krieg gemäßere
Moral empfahlen. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 232-233).Von den Aktivisten
wurde das Töten im Dienst der großen Sache als tragische Preisgabe
der Tugend beschworen. Manche sahen darin ein Opfer ihrer persönlichen Moral
zugunsten der Göttin Revolution. Unter den Kommissaren feierte man das Tötenkönnen
wie eine priesterliche Kompetenz, die den Revolutionär vor dem Bourgeois
auszeichnete. (Bucharin lobte einfühlsam die Angehörigen der Tscheka,
die von ihrer »höllischen Arbeit« als »Ruinen ihrer selbst«
mit zerrütteten Nerven zurückkamen. Wie wichtig für den Kommunismus
die Mobilisierung der Tötungsbereitschaft war, verrät Brechts Lehrstück
Die Maßnahme, 1930, mit dem die Freiheit des Tötendürfens
und die Verlegenheit des Tötenmüssens im Dienst der revolutionären
Notwendigkeit eingeübt werden sollte. In verwandtem Sinn illustrierte André
Malraux in der Anfangsszene von So lebt der Mensch, 1933, wie der Held
durch den ausgeführten Mord in den Rausch des revolutionären Aktivismus
gerät .... Vor entsprechendem Hintergrund hat Heinrich Himmler bei seiner
berüchtigten, im Goldenen Saal des Posener Schlosses gehaltenen Rede vom
4. Oktober 1943 den 92 anwesenden SS-Offizieren einzuschärfen versucht, in
puncto anständiger Tötungsfähigkeit müßten deutsche
Elitetruppen das Niveau der sowjetischen Kommissare einholen. Es beunruhigte ihn,
daß die Großtötungsfunktionäre der Sowjetunion zwanzig Jahre
Vorsprung hatten. - Im Jahr 2001 empfiehlt Robert Kaplan - Leninist wider Willen
- in seinem Buch Warrior Politics - Why Leadership Demands a Pagan Ethos
der us-amerikanischen Regierung, die christliche Moral des unbedingten Lebensschutzes
beiseite zu stellen und sich im Blick auf die kommenden Aufgaben eine tötungsfähigere
»pagane« Mentalität zu eigen zu machen. Etwas diskreter bezeichnen
Charles Krauthammer und andere neokonservative Ideologen der Bush-Administration
den tötungsbereiten Unilateralismus der USA als »demokratischen Realismus«.).
Die Unwilligkeit zu töten war in den Augen der Aktivisten das sicherste Anzeichen
für den Fortbestand bürgerlicher Trägheiten. Zur Leninlegende gehörte,
wie man weiß, eine starke Prise von moralischem Kitsch, dessen Muster Gorkis
Lobreden auf den für seine Aufgabe zu sensiblen Revolutionsführer lieferten.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 233-234).Die späteren faschistischen Bewegungen auf
dem nationalistischen Flügel, um deren Gefährdung durch übertriebene
Sensibilität man sich wenig Sorgen machen mußte, brauchten nur die
Kriegserklärung an den Klassenfeind durch die an den Volks- oder Rassenfeind
zu ersetzen, um das Leninsche Modell auf die nationalen Bewegungen Mittel- und
Südeuropas übertragbar zu machen. Ihr Furor war -auch dies kann nicht
bestritten werden - gewiß nicht bloß imitativer Natur. Die Eigenbeiträge
der deutschen, italienischen, rumänischen, kroatischen u.s.w. radikalnationalen
Parteien zum Gesamtbild der exterministischen Bewegungen in Europa fallen bei
einer Bilanz schwer genug ins Gewicht. Begnügen wir uns hier mit der fast
resignierten Feststellung, daß die gewöhnliche Moral mit der Evaluierung
makrokrimineller Komplexe überfordert ist. Die versteinerten Zahlenkolonnen
der Statistik sagen aus, daß im 20. Jahrhundert auf eine Tötung im
Namen der Rasse zwei bis drei Tötungen im Namen der Klasse entfallen.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 234).Aus den antibürgerlich aufgeputschten Modellen
des Kriegsnationalismus - man könnte ihn einen Sozialismus der Front nennen
- gingen die nominell »fascistischen« Bewegungen in Italien und anderswo
hervor, Bewegungen, die man im Rahmen unserer Überlegungen am besten als
Volksbanken des Zorns charakterisiert. Ihrem funktionalen Grundzug nach waren
auch sie Protestsammelstellen, die deutliche funktionale Ähnlichkeiten mit
den Linksparteien aufwiesen - jedoch mit völkischen, regionalistischen und
großnationalen Akzenten. Ihr zur Schau getragener Antikapitalismus blieb
stets fassadenhaft. Die oft bemerkten Ähnlichkeiten zwischen den kommunistischen
und den faschistischen Bewegungen werden im Licht der psychopolitischen Analyse
leicht begreiflich. In beiden Fällen liegen Zornkörperbildungen vor,
die das Niveau von Großbanken erreichen. Faschismus ist Sozialismus in einem
Land - ohne daß internationalistische Ergänzungen intendiert wären.
Setzt man den Akzent auf den Kollektivismus der Front und den Egalitarismus der
Produktion, ergibt sich die Feststellung, Faschismus sei Sozialismus ohne Proletariat
beziehungsweise Egalitarismus auf völkischer Basis. Sein modus operandi
ist die Einschmelzung der Bevölkerung in eine thymotisch mobilisierte Meute,
die sich durch Anspruch auf Größe im Nationalkollektiv geeint wähnt.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 234-235).Die nationalen Volksbanken der Zornsammlung genossen
den psychopolitischen Vorteil, direkt mit den Regungen des patriotischen Thymos
arbeiten zu können, ohne den Umweg über universalistische Ideen oder
andere kraftraubende Fiktionen gehen zu müssen. Dies trug nicht wenig zum
Erfolg der militanten Ressentimentbewegungen in den Verliererländern des
Ersten Weltkriegs bei, namentlich Deutschland, da hier die Nachfrage nach Optionen
für die übereilte Umwandlung von Kränkungen in Selbstaffirmationen
begreiflicherweise am heftigsten war. Zieht man in Betracht, daß Nachkriegszeiten
seit jeher eine Schlüsselfunktion für die kulturelle Re-Orientierung
kämpfender Kollektive zukommen, so begreift man die fatale Drift, von der
die deutsche Rechte nach 1918 erfaßt wurde, als sie sich der ihnen aufgegebenen
Lektion verweigerte. Auch Italien entzog sich der Aufgabe, die Regelwerke der
eigenen Kultur im Licht der Kriegserfahrung neu zu justieren. Indem die Alliierten
den Italienern die Tür öffneten, in letzter Minute ins Lager der Sieger
überzulaufen, boten sie ihnen eine Gelegenheit, die Arbeit der post-stressorischen
Revision zu überspringen und sich in heroische Selbsterhöhungen zu flüchten.
(Zur Neueinstellung von Kulturregeln nach den Höchststreß-Phasen vgl.
Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen - Entwurf einer kulturgenetischen
Theorie, 1996, S. 50-97.). (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 235-236).Im übrigen
geschah, was geschehen mußte. Es konnte nicht ausbleiben, daß die
beiden Großunternehmen auf dem Feld der politischen Zornbewirtschaftung
sich irgendwann gegenseitig als Konkurrenten identifizierten. Kaum hatten sie
sich reziprok ins Visier genommen, erklärten sie den Kampf gegen die jeweils
andere Seite zu ihrem vorrangigen Daseinsgrund. Der Antibolschewismus der faschistischen
Bewegungen und der Antifaschismus der Komintern verschränkten sich quasi
a priori ineinander. Warum die nominell ausgewiesenen Faschismen ihre Geschäftsziele
von Anfang an antibolschewistisch plakatierten, ergab sich aus der zeitlichen
und sachlichen Priorität der kommunistischen Phänomene: Die Radikalen
vom rechten Flügel hatten das Exempel des linken Konkurrenten vor Augen,
als sie begannen, seine Erfolgsformeln zu kopieren. Beunruhigend blieb für
die faschistischen Führer, daß der östliche Rivale im empfindlichsten
Punkt der neuen Politik, bei den Großtötungsaktionen, einen nur schwer
einholbaren Vorsprung besaß. Der Kommunismus hingegen ließ eine Weile
vergehen, bevor er in der Mobilisierung sämtlicher Kräfte für den
Kampf gegen den Wettbewerber von rechts seine Chance erkannte. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 236).Tatsächlich
gingen von Stalins Direktiven gegen die rechtsradikalen Bewegungen Europas fast
unwiderstehliche moralische Zwänge aus. Indem der Führer der Bolschewisten
sich vor der Welt als Garant des Widerstands gegen Nazideutschland präsentierte,
legte er Hitlergegnern jeder Couleur den »Antifaschismus« als die
einzige moralisch vertretbare Option der Epoche auf - und immunisierte auf diese
Weise die Sowjetunion gegen ihre Kritiker von innen wie von außen. ( ).
Diese mußten fürchten, als Profaschisten denunziert zu werden, sobald
sie die geringsten Einwände gegen Stalins Politik erhoben. Wie berechtigt
diese Befürchtung war, bewies die von Stalin gelenkte Propaganda, wenn sie
Trotzki und Hitler in einem Atemzug nannte, um die personifizierten Gefahren für
das Vaterland des Weltproletariats namhaft zu machen. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 236-237).Doch
gehen wir einen Schritt zurück, um die Formierung des revolutionären
Thymos in einem frühen Stadium zu belobachten: Seit Lenins »Dekreten
über den Roten Terror« vom 5. September 1918 waren Geiselnahmen und
Massenerschießungen von »revolutionsfeindlichen Elementen« zur
revolutionären Pflicht erklärt worden. Allein im Jahr 1919 soll es zu
einer halben Million Erschießungen gekommen sein; bereits im Jahr davor
hatte der Terror massenhafte Züge angenommen - die Tscheka veröffentlichte
besonders gern die Listen der Erschossenen, um der Bevölkerung die Tendenz
der Maßnahmen einzuschärfen. Der Übergang vom Aufstand gegen die
alte Herrschaft zum Terror gegen das eigene Volk, dann auch gegen die eigene laue
Gefolgschaft erzeugte ein Klima, das dem von Bakunin geforderten »Amorphismus«
nahekam. Im August 1918 hatte Lenin, vom aktivistischen Fieber beflügelt,
Telegramme in das ganze Land versandt, in denen er Massenhängungen von widerstrebenden
Bauern forderte - »macht es so, daß das Volk auf hundert Werst sieht
und erzittert«. In demselben Geist hatte der Volkskommissar für die
Justiz, Krylenko, von seinen Untergebenen verlangt, manifest Unschuldige zu liquidieren:
Ein solches Vorgehen erst werde den »Massen« gebührend Eindruck
machen. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders.,
Zorn und Zeit, 2006, S. 237-238).Dem Kalkül, das dem
Ausspruch des Kommissars zugrunde lag, mangelte es nicht an Abgründigkeit:
Würde man nicht eines Tages vom Übermaß der Exzesse auf die Gerechtigkeit
der Sache schließen müssen, für welche diese Opfer nötig
waren? Der polnische Dichter Alexander Wat hat die Logik des kalten Furors
in seinen Gesprächen mit Czeslaw Milosz offengelegt: »Aber, weißt
du, es geht um dieses abstrakte Blut, dieses unsichtbare Blut, das Blut auf der
anderen Seite der Mauer ...Das Blut, das drüben, auf der anderen Seite des
Flusses vergossen wird - wie rein und großartig muß die Sache sein,
für die so viel Blut, unschuldiges Blut, vergossen wird. Dies übte eine
unerhörte Anziehung aus ...«.Wo alles einen Zug ins Maßlose und
Massenhafte aufwies, lag es da nicht nahe, auch bei der Vernichtung von Gegnern
entsprechende Proportionen zu wählen? Ossip Mandelstam hatte schon
1922 begriffen, daß die Sowjetunion im Begriff war, sich in eine orientalische
Despotie zu verwandeln. »Vielleicht sind wir wirklich Assyrer und verhalten
uns deshalb so gleichgültig gegenüber Massenmorden von Sklaven, Gefangenen,
Geiseln und Ungehorsamen?« (Nadeschda Mandelstarn, Das Jahrhundert der
Wölfe, 1971, S. 297). Die Hinrichtungsstatistiken der Historiker geben
in ungerührten Zahlen Auskunft darüber, daß unter Lenins Herrschaft
Woche für Woche mehr Menschen ohne Prozeß liquidiert wurden als während
der Zarenherrschaft aufgrund von Prozessen in einem Jahrhundert. (Peter
Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 238-239).Diese Hinweise stecken den Raum der Mehrdeutigkeiten
ab, in dem unzählige compagnons de route des realen Kommunismus sich
verirrten. Das Konzept Weggefährtenschaft, könnte man sagen, ist die
politische Gestalt dessen, was Heidegger in fundamentalontologischer Sicht als
die» Irre« bezeichnet hatte. Wo »geirrt« wird, bewegen
sich Menschen in einer Zwischenzone zwischen Wildnis und Route .... Weil Irre
einen Mittelwert zwischen Gang und Drift bedeutet, kommen die Reisenden (und Mitreisenden)
unvermeidlich anderswo an, als sie beim Antritt der Reise vorhatten. Das »Gehen«
mit dem Kommunismus geriet zu einer Irrwegsgefährtenschaft, weil es voraussetzte,
was zu keiner Zeit anzunehmen war: daß die kommunistischen Akteure einer
halbwegs zivilisierten Straße zu erreichbaren Zielen folgten. Sie unterstützten
in Wahrheit eine Entwicklungsdiktatur, die mit exzessiver, idealistisch verbrämter
Gewalt herbeiführen wollte, was ein liberaler Staat in kürzerer Zeit
spontaner, effektiver und weitgehend ohne Blutvergießen hätte zustande
bringen können. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 239).Was den Jargon des
Antifaschismus angeht, lag es in der Chronologie der Ereignisse, daß Lenin
ihn nicht mehr selber zu gebrauchen lernte. Als Mussolini im Oktober 1922 den
»Marsch auf Rom« organisierte (seine Partei saß erst seit einem
Jahr im römischen Parlament), war Lenin soeben nach zwei Schlaganfällen
an seinen Schreibtisch zurückgekehrt. Als sich »der Duce« zum
Diktator Italiens aufgeschwungen hatte, war der Revolutionsführer infolge
seines dritten Anfalls verstorben. Stalins Propagandaapparat hingegen sollte zu
gegebener Zeit in der Proklamation des Antifaschismus seine epochale Chance erkennen.
De facto traten der »Fascismus« wie der Nationalsozialismus
für die frühe Komintern noch jahrelang in die zweite Reihe. Sie wurden
während der zwanziger Jahre überdeckt vom Zerrbild des sozialistischen
oder sozialdemokratischen Rivalen im Westen, auf dessen Denunziation sich die
kommunistische Bewegung spezialisiert hatte. Ihn vor allem versuchte man unter
schimpflichen Etiketten wie »Sozialchauvinismus« unmöglich zu
machen oder mittels des Vorwurfs der »Halbheit, Lügenhaftigkeit und
Fäulnis« zu zertrümmern. So die Wendungen des Manifests der Kommunistischen
Internationale an das Proletariat der ganzen Welt vom März 1919. (Peter
Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 239-240).Dies war nur möglich, weil sich der Haß
gegen die gemäßigte Linke zur fixen Idee der radikalen entwickelt hatte.
Inmitten der Wirren des Herbstes 1918 nahm Lenin sich Zeit für eine fast
hundertseitige Tirade im professoralen Stil gegen den »Renegaten Kautsky«,
den Kopf der parlamentarischen europäischen Linken, in der er den bekannten
Vorwurf erhob, dieser wolle eine »Revolution ohne Revolution« - was
deutlich macht, wie sehr schon damals für Lenin praktische Umwälzung
und entgrenzte Gewaltausübung synonym geworden waren. (Kautskys Replik ließ
an Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig: vgl. Karl Kautsky, Terrorismus
und Kommunismus, 1919 - worin er den Bolschewismus als »tatarischen
Sozialismus« und als antisozialistischen Rückfall in die Barbarei verurteilt. ).
Bei der im März 1919 konstituierten Dritten Internationale konnte die Mitgliedschaft
nur erwerben, wer sich zu dem Auftrag bekannte, die Sozialdemokratie als den Hauptfeind
zu bekämpfen. Erst als die Zeit für effektive Abwehrbündnisse gegen
die siegreichen nationalrevolutionären Bewegungen abgelaufen war, stellte
die kommunistische Führung in Moskau ihre Optik scharf auf das Bild der Zornsammlungen
in den anderen, den nationalen Sozialismen. Zu diesem Zeitpunkt drängten
sich Sozialdemokraten und Kommunisten bereits in den Konzentrationslagern zusammen.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 240-241).Reflexe des Kampfs um das Thymosmonopol drangen
auch in das Denken der subtileren Geister des Westens ein. Walter Benjamin tadelte
in seinen Reflexionen Über den Begriff der Geschichte, 1940, die Sozialdemokratie
für ihre Orientierung an der Vorstellung, die kommenden Generationen sollten
dereinst von besseren Lebensbedingungen profitieren. Durch die Ausrichtung an
künftigen Erfolgen, wandte er ein, werde der Arbeiterklasse »die Sehne
der besten Kraft« durchschnitten, da sie durch die Erziehung zu evolutionärer
Geduld »den Haß wie den Opferwillen« verlerne. Wer hassen soll,
muß Hoffnungen beiseite lassen und sich an empörenden Bildern der Vergangenheit
ausrichten. (Vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte,
1940, XII. »Denn beide [Haß wie Opferwillen, P. SI.] nähren sich
am Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.«).
Mit Argumenten dieser Qualität erbot sich der Autor der geschichtsmessianischen
Thesen, dem von den Kommunisten geschätzten Klassenhaß höhere
Weihen zu verschaffen. Wer sich von der Durchdringungskraft der linksfaschistischen
Verführung - und vom dezenten Reiz der theologischen Überinterpretation
geschehender Geschichte - einen Begriff machen will, muß zur Kenntnis nehmen,
daß auch ein Autor vom Rang Benjamins für solche gewaltheiligenden
philosowjetischen Gefälligkeiten zu gewinnen war. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 241).Wer
dagegen wissen möchte, was man zu hören bekommt, wenn die Überinterpretation
die Schwelle zur Indezentheit mit klingendem Spiel überschreitet, findet
von den 1920er Jahren an Beispiele in Fülle - nicht zuletzt im Lager der
politischen Theologen. So bei Paul Tillich, der sich genügend inspiriert
glaubte, um die Behauptung zu wagen, die Entscheidung für den Sozialismus
könne in einer bestimmten Periode gleichbedeutend sein mit der Entscheidung
für das Reich Gottes. Die »bestimmte Periode« war für Tillich
mit der Ära nach Lenins Tod identisch: Im Jahre des Herrn 1932 sah sich der
entscheidungsfreudige deutsche Protestant aufgerufen, Stalins Kairos bejahend
zu begreifen. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 241-242).Daß der Heilige
Geist bei seinem freien Wehen gelegentlich hohe Windstärken erreicht, ist
ein religionsgeschichtlich gut belegtes Phänomen. Wie er Orkane auf Bestellung
liefert: diese Demonstration war dem parakletischen Frontmann Eugen Rosenstock-Huessy
vorbehalten, als er die Geschichte Europas kurzerhand als das Epos des durch Revolutionen
schöpferischen Heiligen Geistes erzählte. Im Jahr 195 I hielt dieser
phosphoreszierende Laientheologe es für passend, über die Sowjetunion
zu dozieren: »Von Rußland werden wir umgeschaffen und revolutioniert,
weil dort die Schöpfungsgeschichte des Menschen weitergeht ... in Moskau
sitzen die neuen dogmatischen Päpste unseres Lebensheils.« (Eugen Rosenstock-Huessy,
Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, S. 527.).
Solche Aussagen sind nur dadurch plausibel zu machen, daß illuminierte Interpreten
noch unter schwierigsten Verhältnissen auf ihrem Vorrecht bestehen, die Weltgeschichte
bis ins Detail als Heilsgeschichte auszulegen. Profane Beobachter solcher Siege
über die Wahrscheinlichkeit gelangen zu dem Schluß, Theologie und Akrobatik
müßten eine gemeinsame Wurzel haben. (Peter Sloterdijk, Die
thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 242).Die
1919 gegründete Dritte Internationale trat von Anfang an als das Vollzugsorgan
des Leninismus auf, das den Anspruch erhob, »die wirklich revolutionären
Parteien des Weltproletariats zu sammeln«. Sie gab vor, dem Proletariat
mittels der Räte »einen eigenen Apparat« zu schaffen, der den
bürgerlichen Staat zu ersetzen imstande wäre. Hiermit war nicht weniger
als ein System des proletarischen Katholizismus auf die Weltbühne getreten.
Unmißverständlich war das Verhältnis zwischen der Partei und den
Räten dem zwischen der römischen Kirche und ihren lokalen Sprengeln
nachgebildet. Nach einigen Jahren hatte sich freilich gezeigt, daß von den
klingenden Verkündigungen des Manifests der Kommunistischen Internationale
an das Proletariat der ganzen Welt vom 6. März 1919 nichts als das Versprechen
übrigblieb, die Kämpfe würden auf unabsehbare Zeit fortgesetzt.
Auch das in dem Manifest proklamierte Konzept einer Rätearmee verflog binnen
kurzem, um einem konventionellen Militärapparat in den Händen einer
monologischen Parteiführung Platz zu machen. (Peter Sloterdijk, Die
thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 242-243).Indem
sich die Komintern als »Internationale der Tat« vorstellte, unterstrich
sie ihren Anspruch, die verstreuten Dissidenzpotentiale der proletarischen »Massen«
bei einer Weltbank des Zorns zu sammeln. Diese versprach ihren Kunden, das thymotische
Kapital in revolutionäre Projekte zu investieren, um es im Sinne eines globalen,
buchstäblich katholischen, dem »Ganzen gemäß« formulierten
Weltprojekts zu verwerten. Die Erfolge dieser Bank hätten sich in der Herausbildung
eines stolzen Proletariats und in der globalen Verbesserung seiner Lebensbedingungen
erweisen müssen - sofern effektive Renditen aus den thymotischen Einlagen
der »Massen« sich in der Umwandlung zornhafter Regungen zu Stolz und
Selbstaffirmationen darstellen. Warum es anders kam, muß hier nicht ausführlich
erläutert werden. Bekanntlich war Lenin von der Erwartung ausgegangen, der
Umsturz in Rußland werde binnen kurzem als Auslösersignal für
weltrevolutionäre Unruhen wirken - namentlich beim deutschen Proletariat,
dessen Verhalten er eine Schlüsselrolle zusprach. Diese Einschätzung
besaß einen semi-realistischen Kern: In der Tat existierten große
Protestpotentiale in der westlichen Hemisphäre, und die deutsche Frage war
unbestreitbar von ausschlaggebender Bedeutung. Allerdings nahmen die dissidenten
Energien eher die Gestalt von nationalrevolutionären Sammlungsbewegungen
an, zumal in Mussolinis Italien und im rechtsradikalen Spektrum der unglücklichen
Weimarer Republik - und dies aus Gründen, die im Licht der psychopolitischen
Analyse verständlich werden. (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 243-244).Die
frühe terroristische Wende der russischen Ereignisse macht eines von vorneherein
unmißverständlich klar: Die neue Zentralbank konnte sich zu keiner
Zeit mit den realen Einlagen ihrer Klientel begnügen. Da die effektiven Zorndepots
der sowjetischen Proletariate für die geplanten Vorhaben viel zu gering waren,
mußte die nötigen Aktiva durch Zwangseintreibungen bei den riesigen
Bauern»massen« des Landes aufgebracht werden. Gewiß waren auch
hier reichliche Zorn- und Dissidenzpotentiale vorauszusetzen. Nichts sprach allerdings
dafür, daß sie freiwillig dem kommunistischen Fundus zugeflossen wären,
da die Interessen der ländlichen Armen kaum einen gemeinsamen Nenner mit
denen der marginalen marxistischen Arbeiterschaft aufwiesen, geschweige denn mit
denen der diktierenden Kommissare. (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 244).
In dieser Lage griff die Direktion der massiv unterkapitalisierten
Weltbank des Zorns auf eine Erpressungsstrategie zurück, mit deren
Hilfe sie die widerstrebenden Bauern»massen« zwingen wollte,
ihre thymotischen Ersparnisse bei ihr zu deponieren. Das Managementgeheimnis
der Russischen Revolution bestand darin, die fehlenden Zornmengen
durch Zwangskredite aufzutreiben. Man erzeugte folglich enorme Mengen
an ausbeutbarer Angst - verbunden mit der erpreßten Bereitschaft,
Unterstützung für die Projekte der revolutionären Zornpolitik
zu heucheln. In diesem Punkt sind die Analogien zwischen der katholischen
Erlösungspolitik und dem kommunistischen Evangelismus beeindruckend.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn
und Zeit, 2006, S. 244).
Es dürfte der größte Erfolg der Russischen
Revolution gewesen sein, daß sie eine breite Welle an Simulationen der
Zustimmung zu erzwingen imstande war. Diesem Effekt verdankt man die Entdeckung,
wonach der zur Legitimation revolutionärer Politik vorauszusetzende Klassenhaß
nicht unbedingt vorhanden sein muß - so wenig wie die institutionalisierte
Religion stets den wirklichen Glauben zur Voraussetzung hat. Der Affekt ließ
sich ebensogut künstlich herstellen - sei es durch Agitation und mobilisatorische
Maßnahmen, sei es durch die Erzwingung von Beifall für die kämpferischen
Projekte der Partei. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 245).Erst durch die simulatorisch-mobilisatorischen
Manöver der sowjetischen Führung wurde die Komintern als Weltbank des
Zorns geschäftsfähig. Angesichts der massenhaft erpreßten Zustimmung
zu den Unternehmen der Zornbank war freilich a priori evident, daß
die Klienten ihre Einlagen nicht wiedersehen würden - die Früchte des
Zorns, die in Wahrheit Früchte der Angst vor den Zornpolitikern waren, solltenbekanntlich
zur Schaffung eines staatskapitalistischen Systems verwendet werden, das die Umverteilung
seiner Renditen auf unbestimmte Zeit, das heißt für immer, vertagen
mußte. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders.,
Zorn und Zeit, 2006, S. 245).Da die Erpressung von Zustimmung
durch Angst allein die sowjetische Entwicklungsdiktatur nicht zu tragen vermochte,
erwies es sich als unumgänglich, einen Katalog von positiven Bildern zu schaffen,
in welche die von der Revolution zunächst nur passiv Erfaßten ihre
eigenen Ambitionen und Phantasien investieren konnten. Diese Aufgabe wurde von
den Dirigenten der bolschewistischen Psychopolitik nicht ohne Sinn für thymotische
Realitäten angegangen. Um das nötige Maß an Kollektivstolz zu
erzeugen, aktivierten sie einige der machtvollsten mythischen Leitbilder ...,
- an erster Stelle den Prometheus-Komplex, der seit jeher für die technophile
Grundstimmung der bürgerlichen Moderne bezeichnend war, sodann den Stolz
auf die Großtaten der sowjetischen Technik und ihres Städtebaus - man
erinnert sich an den Kult um die Moskauer U-Bahn - und schließlich die Figur
des Athleten, der durch seine Leistungen die Ehre des Kollektivs verteidigt. Die
Versportlichung der industriellen Leistung ging in der sowjetischen Ideologie
so weit, daß bei den berüchtigten Stachanow-Arbeitern, diesen Schwerathleten
der Planerfüllung, die Gestalt des Proletariers mit der des Siegers im Stadionwettkampf
zur Deckung gebracht wurde. Nichtsdestoweniger konnte der künstlich angefachte
Stolz der Komsomolzen, der Angehörigen der auf Stalin eingeschworenen Jugendorganisation,
die sich freiwillig für die Produktionsschlacht meldeten, die Schäbigkeit
der Verhältnisse nicht ganz vergessen machen. Die Empfindlichkeit der Funktionäre
gegen die geringste Kritik verriet die Labilität der Lage. Zuweilen genügte
ein scheinbar harmloser und sachlich zutreffender Satz wie der, sowjetische Schuhe
seien von minderwertiger Qualität, um dem Sprecher die Verschickung in eines
der zahllosen Straflager einzubringen. (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 245-246).Das
ausschlaggebende Merkmal der neuen Affektwirtschaft bestand darin, die Klienten
in eine Zwangsbindung an das Sammlungsinstitut zu bringen. Aufgrund der Abschaffung
jeglicher Opposition konnten sie ihre Zornguthaben bei der Partei nicht mehr abheben
und in einem anderen Unternehmen deponieren. Hätte die Bank die Angstkredite
zurückgezahlt und so ihren Kunden eine freie Entscheidung ermöglicht,
hätten die sowjetischen Anleger eher heute als morgen ihre Guthaben von den
kommunistischen Instituten abgezogen und in weniger despotische Projekte investiert.
So aber hätte eine Kontoauflösung die Trennung von der Partei bedeutet
- mit entsprechenden Folgen. Diese Zwangsvereinnahmung der Anleger durch das revolutionäre
Kundenbindungssystem ist es, die nicht ganz unpassend mit dem ansonsten fragwürdigen
Begriff »Totalitarismus« bezeichnet werden kann. Totalitär ist
die Rückverwandlung des Kunden in den Leibeigenen des Unternehmens.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 246-247).Man versteht nach alledem, warum der rote Terror
nie ein bloßes unumgängliches Übel der »Übergangszeit«
war - gleichgültig, ob diese als Episode oder als Epoche konzipiert wurde.
Das sowjetische Regime war aus prinzipiellen Gründen auf die stetige Regeneration
des Schreckens angewiesen. Ohne die Konfiskation der thymotischen Potentiale breitester
Schichten hätten die bolschewistischen Kader sich kaum ein halbes Jahr an
der Macht halten können. Für den Erfolg der rigiden Linie darf man darum
auf keinen Fall Lenins starren Charakter allein verantwortlich machen, sooft auch
die abnorme Unduldsamkeit des Partei- und Revolutionsführers von ihren Zeugen
und Opfern zu Protokoll gegeben worden ist. In Wahrheit war die Unterdrückung
jeder Opposition eine schlichte geschäftliche Notwendigkeit, wenn die Partei
ihren Alleinvertretungsanspruch für die thymotischen Energien der »Massen«
in ihrem Herrschaftsbereich nicht aufgeben wollte. Dies war sie ihrem Selbstbild
schuldig, das Ganze der Wahrheit über die »Gesellschaft« vor
der »Gesellschaft« selbst zu vertreten - hierin einem zweiten Katholizismus
vergleichbar. Deshalb stand der Kollaps des kommunistischen Systems vor der Tür,
als seine universalistische Autohypnose verblaßte. Solange es sich an der
Macht hielt, mußte es sämtliche Mittel des Ausdrucks von Selbstachtung
konfiszieren - und da es einen evidenten Zusammenhang zwischen Eigentum und Selbstachtung
gibt, war die Vernichtung des Eigentums der sicherste Weg, die Genossen des Sowjetreichs
zu demütigen. Sollte das System erfolgreich herrschen, durfte es keinen nicht-bolschewistischen
Nukleus für Thymosartikulation im eigenen Lande mehr geben. Um das Bankmonopol
des Kommunismus für die Zorn-, Stolz- und Dissidenzvermögen der von
ihm erfaßten Population durchzusetzen, war es aus der Sicht der Monopolisten
absolut notwendig, den Einzelnen wie den Gruppen jeden Zugang zu alternativen
Quellen der Selbstachtung abzuschneiden. (Nikita Chruschtschov hat schon eine
Weile vor seiner epochemachenden Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU über
Stalins Verbrechen und die Verheerungen des Personenkults die bemerkenswerte Äußerung
getan: » Wir haben das angesammelte Kapital des Vertrauens vergeudet, welches
das Volk der Partei entgegenbringt. Wir können das Vertrauen des Volkes nicht
endlos ausbeuten.« Um welches Kapital es in Wahrheit ging, versuchen wir
in dieser Untersuchung zu klären.). (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 247-248).Die
Langzeitfolgen dieser psychischen Enteignungen sind noch heute, nach Jahrzehnten
des Tauwetters und der Desowjetisierung, im post-kommunistischen Universum atmosphärisch
gegenwärtig. Aufgrund einer Praxis der Tiefendespotie, zu der die Zornenteignung,
die Stolzbrechung und die Oppositionsvernichtung über mehrere Generationen
hin gehörten, entstand im Machtbereich des Leninismus und Stalinismus ein
Klima allesbeschädigender Entwürdigung, das an Oswald Spenglers
... Diagnosen ... denken läßt. Seine alltägliche Wirklichkeit
war die populäre Resignation. Man erduldete das politische Regime wie eine
boshafte Zugabe des Schicksals zu den schrecklichen russischen Wintern. Wollte
man das Sowjetklima auf die Beiträge einzelner Aktivisten zurückführen,
so stieße man unter anderem auf eine Beamtenfigur wie Lasar Kaganowitsch,
eine der monströsesten Kreaturen Stalins, von der bekannt ist, daß
sie von den Revolutionären mit feierlichem Nachdruck die Preisgabe ihrer
Selbstachtung und ihrer Empfindsamkeit verlangte. In dieser Atmosphäre verwandelte
sich das russische Volk in ein Kollektivaus passiven Mystikern, denen der Staat
die Selbstaufgabe erleichterte. Der Künstler Ilya Kabakov hat in einem autobiographischen
Gespräch mit Boris Groys die Grundstimmung der russischen »Gesellschaft«
vor und nach Stalins Tod evoziert: »... die Sowjetmacht wurde hingenommen
wie ein Schneesturm, wie eine Klimakatastrophe.« »Bei aller Alptraumhaftigkeit
des damaligen Lebens hatten wir das süße Gefühl, daß alle
so lebten ...« (vgl. Boris Groys, Die Kunst des Fliehens - Dialoge über
die Angst, das heilige Weiß und den sowjetischen Müll, 1991.).
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 248-249).Die Rethymotisierung der postsowjetischen »Gesellschaft«
erweist sich aufgrund der psychischen und moralischen Ressourcenarmut als eine
langwierige Unternehmung. Sie konnte zunächst nur über den Nationalismus
in Gang kommen - eine für Rußland eher neue Idee. (Vgl. Boris Groys,
Die Erfindung Rußlands, 1995, S. 14f..). Kenner der aktuellen Situation
berichten, die russische »Gesellschaft« fröne zur Stunde nicht,
wie man vermuten könnte, dem Konsumismus ohne Grenzen, sondern habe sich
einem täglichen bellum omnium contra omnes verschrieben. Die Rückkehr
zu selbstaffirmativen Lebensstilen vollzieht sich eher als generalisiertes Mobbing.
Dieser Befund läßt eine günstige Prognose zu. In einem Land, in
dem jeder vor jedem die Achtung verloren hatte, weil jeder jeden in entwürdigenden
Situationen erlebte, könnte das Aufblühen einer robusten Gemeinheit
aller gegen alle ein Zeichen von Erholung darstellen. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 248-249). Die voranstehenden Überlegungen
haben erläutert, wieso das Revolutionsprojekt Lenins durch einen massiven
Mangel an thymotischem Kapital geprägt war. Die Unvermeidlichkeit dieses
Mangels resultierte aus der historischen Lage. Zwar fehlte es um 1917 keineswegs
an antizaristischen Affekten. Auch durfte man ein großes Reservoir an Aspirationen
in Richtung auf Demokratie, Selbstverwaltung, Freizügigkeit und Landverteilung
unterstellen, doch waren diese einfach weckbaren oder verstärkbaren Tendenzen
weit davon entfernt, mit den forcierten staatskapitalistischen Entwicklungskonzepten
der leninistischen Übergangszeitlehre zu harmonieren. In der Sprache der
Revolutions-Insider wurde dieser Befund durch den Hinweis auf das noch fehlende
»Klassenbewußtsein« bestätigt. Naturgemäß konnten
Lenin selbst diese Verhältnisse nicht verborgen bleiben. Er war daher, um
der Kohärenz seiner Visionen willen, auf die Erwartung einer baldigen proletarischen
Revolution in Deutschland angewiesen, von der er sich eine Aufstockung der völlig
unzureichenden russischen Kapitalbasis versprach. Als diese ausblieb und als deren
ohnedies schwachen Ansätze nach der Ermordung ihrer Führer ganz in sich
zusammenfielen, wurde die Notwendigkeit alternativer Thymosmobilisierungen in
Rußland akut. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 249-250).Auf die konstitutive
Rolle des Terrors für die Beschaffung von breiter Zustimmung zu den Zielen
der Revolution wurde bereits hingewiesen. Ihm sollte bald eine kulturrevolutionäre
Front zugeordnet werden: An dieser kämpfte man um die massenhafte Erzeugung
der erwünschten Gesinnungen durch intensivste Propaganda in Verbindung mit
der Monopolisierung der Erziehung dank bolschewistisch indoktrinierter Lehrer
und Lehrpläne. In diese Kampagnen fällt die Blüte der russischen
Kunstavantgarde, der erst die neue rigide Kulturpolitik nach der Machtübernahme
Stalins ein Ende setzte. Noch folgenreicher war jedoch die Schaffung solidarischer
Kampfstreßkollektive, die den Soll-Zustand thymotischer Homogenisierung
durch gemeinsame Feindwahrnehmungen herbeiführten. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 251).Man
kann im Lichte der pychopolitischen Logik ohne Übertreibung behaupten, daß
die Russische Revolution in ihren ersten Jahren durch die Konterrevolution
gerettet wurde - ebenso wie die chinesische Revolution ihren Triumph letztlich
den Japanern verdankte, die im Gefolge ihrer Invasion in China 1937 bis 1945 die
Voraussetzungen schufen, unter denen die schwachen kommunistischen Reserven durch
den massiven Zufluß nationalpatriotischer Regungen verstärkt wurden.
Mao Zedong hat nach dem Sieg seiner Truppen kein Geheimnis daraus gemacht, daß
der chinesische Kommunismus ohne den japanischen Überfall auf verlorenem
Posten gestanden hätte. Er war humorvoll genug, japanischen Besuchern zu
erklären, China sei ihrem Land hierfür ewig zu Dank verpflichtet.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 251-252).Beobachtungen wie diese bestätigen die Vermutung,
daß auch die thymotische Realpolitik ganz eigenen Gesetzen folgt. Die Direktoren
der neuen Weltbank waren dazu verurteilt, sich ihre Unterstützung dort zu
holen, wo sie aus streßbiologischen und kulturdynamischen Gründen am
leichtesten zu finden war: bei den Stolz-, Zorn- und Selbstbehauptungsquellen
der national synthetisierten Kampfgemeinschaften. Daher war es von Anfang an notwendig,
die Kapitalbasis der Zornweltbank - neben den terrorerzeugten Anleihen bei der
Angst - durch die Mobilisierung der patriotischen Thymotik zu verbreitern. Nicht
umsonst beschwor Lenin gern das Bild Rußlands als einer »belagerten
Festung«. Obschon sich das sowjetische Experiment in einem postnationalen
Horizont vollzog, war die Vorstellung vom bedrohten Vaterland eine unentbehrliche
Matrix zur Erzeugung kämpferischer Energien. Immerhin wurde der Begriff des
Vaterlandes stets auch in internationalistischen Perspektiven interpretiert, da
die Sowjetunion, die »Heimat aller Werktätigen«, einen Hybridkörper
darstellte, der zugleich ein Territorium und eine Idee umfaßte. Das ominöse
Konzept des »Sozialismus in einem Land« bot nicht bloß eine
Notlösung angesichts der beharrlichen Verzögerung der Weltrevolution.
Es enthielt das Zugeständnis, daß die dringend benötigten thymotischen
Rerserven nur aus einem akut bedrohten Kampfstreßkollektiv zu schöpfen
waren. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders.,
Zorn und Zeit, 2006, S. 252).Gewiß besitzt der Kampf
gegen den Nationalfeind seit jeher einen hohen Plausibilitätsvorteil. Er
erscheint im Ernstfall nach allen historischen Erfahrungen gleichsam natürlich
und unvermeidlich. Dies wußte niemand besser als Karl Marx, wenn er im Blick
auf das politische Abenteurertum der Pariser Kommunarden von 1871 (die mitten
im Krieg gegen Preußen einen Putsch gegen die bürgerliche Regierung
Frankreichs unternahmen) streng bemerkte:»Jeder
Versuch, die neue Regierung zu stürzen, wo der Feind fast schon an die Tore
von Paris pocht, wäre eine verzweifelte Torheit. Die französischen Arbeiter
müssen ihre Pflicht als Bürger tun ....« (Karl Marx / Friedrich
Engels, Werke, S. 277 - eine Aussage, die Marx nicht daran hinderte, bald
danach das Gegenteil zu behaupten, um die Akteure der gescheiterten Pariser Kommune
in den höchsten Tönen zu feiern.). | Daneben kann
auch ein Bürgerkrieg äußerste Motivationen freisetzen, falls die
Front gegen die inneren Feinde moralisch klar genug markiert ist. Da den Bolschewisten
nach der Beendigung des Bürgerkrieges ab 1921 kein hinreichend externalisierbarer
Feind mehr zur Verfügung stand, mußten sie ihre thymotischen Kriegsanleihen
intern umschulden und eine neue Front aus dem Geist der puren Mobilisation aufmachen.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 252).Mit dieser Operation
begann das dunkelste Kapitel in der schattenreichen Geschichte revolutionärer
Zorngeschäfte. Wir sprechen von der mutwilligen Umlenkung des »Massenzorns«
gegen die wohlhabenderen Bauern der Sowjetunion, namentlich die der Ukraine, die
unter dem Namen Kulaken eine traurige Berühmtheit erlangten. Sie bilden noch
immer das größte Genozidopferkollektiv der Menschheitsgeschichte -
zugleich eine Gruppe von Opfern, die sich gegen das Vergessen des ihnen angetanen
Unrechts am wenigsten wehren kann. (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 252).Der
marxistischen Doktrin zufolge war die sowjetische Führung gehalten, in der
Bauernschaft des Landes eine produktive, dem Proletariat partiell analoge Klasse
zu sehen. Da sie einem prä-industriellen Universum angehörte, bildete
sie jedoch eine Kategorie von Produzenten der falschen Art, von denen feststand,
daß sie historisch zum Untergang verurteilt waren. So gerieten die Bauern
Rußlands und der Sowjetstaaten schon früh gleich doppelt ins Visier
der Revolutionäre - zum einen als Verkörperung einer anstößigen
Zurückgebliebenheit, die nur durch Maßnahmen der Zwangsmodernisierung
aus der Welt zu schaffen war; zum anderen als Erzeuger der Lebensmittel, auf welche
die revolutionären Elemente vom ersten Tag der Unruhen an Ansprüche
erhoben. Lenin selbst gab den rüden Ton bei der Kulakenpolitik vor, indem
er die selbständigen Bauern neben der Bourgeoisie, dem Klerus (»je
mehr Vertreter der reaktionären Geistlichkeit wir erschießen können,
desto besser« ) und den menschewistischen Reformern als zu liquidierende
»Klassen« in die erste Reihe stellte. Nur dank der zwischenzeitlich
verordneten Rückkehr zu geldwirtschaftlichen Kompromissen (im Rahmen der
Neuen Ökonomischen Politik nach 1921) sollte es für die meisten der
genannten Gruppen ein temporäres Aufatmen geben. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 253).Dieses
war endgültig vorüber, als Stalin um 1930 das Rad zu einer reinen Kommandowirtschaft
zurückdrehte. Von da an rückte die »Vernichtung des Bauerntums
als Klasse« auf der revolutionären Agenda ganz nach oben. Da es im
regulären Marxismus für repressive Maßnahmen gegen das Bauerntum
als solches keine Handhabe gab, mußte Stalin, Lenins Direktiven aufnehmend,
das Schema des Kampfs zwischen Bourgeoisie und Proletariat so stark ausdehnen,
daß es einen unvorhergesehenen Sonderklassenkampf einschloß: den zwischen
den ärmeren und den nicht ganz so armen, zum Teil auch wohlhabenden Schichten
der ländlichen Bevölkerung. Die letzteren hatten mit einem Mal die bedenkliche
Ehre, zu einem Substitut der ausgerottenen Bourgeoisie erklärt zu werden
- ja geradewegs zu einem Repräsentanten »des Kapitalismus in der Landwirtschaft«.
Folgerichtig wurde die neue Mobilisierung gegen jene Bauern gelenkt, die inmitten
des allgemeinen ökonomischen Desasters (von 1917 bis 1921 war die Zahl der
Hungertoten in Lenins Reich auf über fünf Millionen angestiegen) noch
halbwegs erfolgreich zu wirtschaften imstande waren. Begreiflicherweise legten
diese »Großbauern« keine Begeisterung an den Tag, wenn die Funktionäre
des revolutionären Staates ihre Ernten beschlagnahmten. Ihr Zögern bei
der Herausgabe ihrer Lebensgrundlagen wurde als Sabotage bezeichnet und entsprechend
geahndet. Die ominöse Kollektivierung der Landwirtschaft unter Stalin verfolgte
den Zweck, die Konfiszierung der Ernten zu vereinfachen, indem man bei der Produktion
begann. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders.,
Zorn und Zeit, 2006, S. 253-254).Die »Dekulakisierung«
der frühen dreißiger Jahre, die allein im Hungerwinter 1932-1933 bis
zu acht Millionen Menschen das Leben gekostet hat, bedeutete eine psychopolitische
Zäsur im Geschäftsgebaren der Zornbankleitung. Zu ihrer Durchführung
wurden nicht nur jene Affekte herangezogen, die am Beginn der Umwälzungen
von 1917 eine Rolle gespielt hatten: der antizaristische Haß in breiten
Schichten der Bevölkerung, der Arbeiterzorn gegen die marginale Bourgeoisie,
der moralische Idealismus der Gebildeten und der patriotische Affekt der bäuerlichen
Menge. In Stalins Kulakenpolitik ab 1930, die in exterministischen Deportationen
und genozidalen Aushungerungsbeschlüssen gipfelte, setzten sich die dunklen
Seiten des populären Thymos, das Ressentiment, der Neid, das Erniedrigungsbedürfnis
in bezug auf scheinbar oder wirklich Bessergestellte, als maßgebliche Triebkräfte
in der Geschäftsordnung des revolutionären Unternehmens durch.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 254).Wenn man berechtigt ist, die Geschichte der Ereignisse
in der Sowjetunion als Drama von der verlorenen Unschuld der Revolution zu erzählen,
so markiert die Haßlenkung gegen die größeren Bauern, ab 1934
auch gegen die sogenannten mittleren (die bis zu zwei Kühen besaßen),
in der stalinisierten UdSSR den Übergang zu einer offenen Psychopolitik der
schmutzigen Energien. In ihrem Verlauf wurde die »Klasse« der Halbverhungerten
gegen die »Klasse« der sich so eben noch Ernährenden ins Gefecht
geschickt -unter dem Vorwand, dies sei die aktuellste Form des revolutionären
Kampfes im Vaterland des Weltproletariats. Die Rechtfertigung hierzu lieferte
Stalin eigenhändig, indem er, auf dem Hexenbesen einsamer Erleuchtung reitend,
eine neue »Klassenanalyse« beibrachte: Dieser zufolge durfte im Namen
der marxistischen Klassiker zur» Liquidierung des Kulakentums als Klasse«
aufgerufen werden. Als Kulak oder »Großbauer« galt, wer genug
erzeugte, um die eigene Familie und einige Hilfsarbeiter zu ernähren - mit
gelegentlichen Überschüssen, die auf den Wochenmärkten oder im
städtischen Handel zum Verkauf kommen konnten. Dieses Unrecht an den werktätigen
Massen durfte in Zukunft nicht ungeahndet bleiben. Um es zu rächen, wurde
demonstriert, was »Terrorismus in einem Land« zu leisten vermag.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 254-255).Die unbegriffene Lektion der Vorgänge verbarg
sich in der willkürlichen Ausweitung des Konzepts »Klassenkampf«.
Plötzlich war keine Rede mehr davon, die Bourgeoisieepoche habe die Klassengegensätze
zu der klaren Opposition von Bourgeoisie und Proletariat »vereinfacht«,
wie das Kommunistische Manifest statuierte. Nachdem Stalin die Kulaken
in den Rang einer »Klasse« erhoben und dieser das Prädikat »konterrevolutionär«
aufgeprägt hatte, war diese, stellvertretend für die kaum vorhandene
und schnell ausgelöschte Bourgeoisie, über Nacht zur Liquidierung freigegeben.
Von da an war für alle, die es wissen wollten, evident, daß mit jeder
Art von» Klassenanalyse« virtuell die Demarkation der Grenzen verbunden
ist, an denen die Liquidanten den Liquidanden gegenüberstehen. Auch Mao Zedong
rückte mit einer neuen »Klassenanalyse« heraus, als er bei der
Großen Kulturrevolution die chinesische Jugend gegen die »Klasse«
der Alten aufhetzte. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 255-256).Hier
ist wohlgemerkt nicht nur von terminologischen Finessen die Rede. Wer nach Stalin
und Mao weiter von Klassen spricht, macht eine Aussage über die Täter-
und die Opfergruppe in einem potentiellen oder aktuellen (Klassen-)Genozid. »Klasse«
ist, wie klügere Marxisten seit jeher wußten, nur an der Oberfläche
ein beschreibender Begriff der Soziologie. In Wahrheit kommt ihm hauptsächlich
eine strategische Realität zu, da sich sein Inhalt allein durch die Formierung
eines kämpfenden Kollektivs (einer konfessionell oder ideologisch formierten
Maximal-Streß-Kooperations-Einheit )
materialisiert. Wer ihn affirmativ, und eo ipso performativ, benutzt, trifft
letztlich eine Aussage darüber, wer wen unter welchem Vorwand auszulöschen
berechtigt sein soll. (Daher ist es nicht ganz harmlos, wenn Antonio Negri in
Multirode, a.a.0., zu der Feststellung gelangt: daß es neben der Primärfront
von Arbeit und Kapital »eine potentiell unbegrenzte Anzahl von Klassen«
gibt. Auch die postsozialistische Vereinfachung der postmodernen Fronten zur Opposition
von Armen und Reichen als »Klassen« wäre nicht ohne Risiken.
Man muß vor dem Hintergrund des kommunistischen Terrors die Frage zulassen,
ob nicht auch in heutigen Diskursen neue Kampfkollektive mit einem okkulten Mandat
zu blutigen Aktionen ausgestattet werden.). Noch hat das Publikum nicht zur Kenntnis
genommen, wieweit der Klassismus vor dem Rassismus rangiert, was die Freisetzung
genozidaler Energien im 20. Jahrhundert anging. (Peter Sloterdijk, Die
thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 256).Was
den von Stalins Improvisationen ausgelösten Vorgängen ihre beunruhigende
Bedeutsamkeit gibt, ist die Leichtigkeit, mit der es den Führern der sowjetischen
KP gelang, bei zahllosen Teilnehmern an dem bösen Spiel jenen Rausch der
Mißgunst zu induzieren, der seine Träger geeignet macht, als Helfer
bei der Auslöschung von abgewerteten »Klassen« zu fungieren.
Über die Motive von Hitlers willigen Helfern hat die Forschung reichliche
Aufschlüsse erbracht; was Stalins Helferarmeen angeht, halten sie sich in
den Katakomben der Geschichte verborgen. Tatsächlich zeigte sich bei den
genozidalen Exzessen im Namen der Klasse, in welchem Maß das von Soziologen
beschworene »soziale Band« immer auch aus dem Haß gewoben ist,
der die Benachteiligten an die scheinbar oder wirklich Bevorzugten bindet. Wo
der Neid das Gewand der sozialen Gerechtigkeit überstreift, kommt eine Lust
an der Herabsetzung zum Zuge, die schon die Hälfte der Vernichtung ist.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 256-257).Von dieser Besudelung
- die selbst durch die Moskauer Prozesse kaum noch zu übertreffen war - hätte
sich das bolschewistische System nie mehr erholt, wäre nicht der Stalinismus
durch den von Hitler in die Sowjetunion getragenen Krieg gerettet worden. Die
Idealisierungswut seiner Agenten und Sympathisanten hätte niemals ausgereicht,
die Verdunkelungen des sowjetischen Experiments im ganzen zu kompensieren, hätte
im Lande eine angemessene und rechtzeitige Aufklärung über die Vorgänge
stattfinden können. Der Anti-Hitler-Imperativ jener Jahre sorgte dafür,
daß in bezug auf die Greuel des Stalinismus das Interesse an Nicht- Wahrnehmung
die Oberhand behielt, gerade auch bei westlichen Parteigängern und Sympathisanten,
die auf ihrer gesinnungsstarken Unberührbarkeit durch Tatsachen beharrten.
Bei zahlreichen Angehörigen der Neuen Linken im Westen sollte die Wunschnebelphase
bis zum Solschenizyn-Schock von 1973 anhalten. Erst mit dem Erscheinen des Archipel
Gulag und dank der Schriften der Neuen Philosophen setzte sich eine
veränderte Optik durch, obschon sich manche Wortführer der ewigen Militanz
auch dann noch damit begnügten, ihren Ignoranzschutz zu modernisieren.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 257-258).Nach dem 22. Juni 1941 wurde in der militärischen
Abwehrschlacht der Russen (von USA, England [sog. Brit.
Empire] u.a. massiv unterstützt! HB) gegen die deutschen Invasoren
noch einmal unter Beweis gestellt, daß durch die Provokation des Nationalthymos
die mächtigsten kämpferisch-kooperativen Energien in einem angegriffenen
Kollektiv freizusetzen sind, selbst wenn dieses an der inneren Front soeben die
tiefsten Erniedrigungen erlitten hat - ja vielleicht gerade dann, sofern der Krieg
zwischen Nationen eine gewisse Erholung von der ideologischen Infamie mit sich
zu bringen vermag. Daher war es zunächst stimmig, wenn Stalins Propaganda
den Kampf gegen Hitlers Armeen als den Großen Vaterländischen Krieg
bezeichnete - in bewußter Analogie zum »Vaterländischen Krieg«
der Russen 1812 gegen Napoleon. Die bittere Ironie der Geschichte enthüllte
sich erst, als der Heroismus und die Leidensbereitschaft des russischen Volkes
und seiner Allianzvölker nach der gewonnenen Schlacht auf das Konto des»
Antifaschismus« verbucht wurden. (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 258).Da
sich der Kommunismus als Mobilisierungsmacht, wie Boris Groys dargelegt hat, von
vorneherein ausschließlich im Medium der Sprache vollzog (vgl. Boris Groys,
Das kommunistische Postskriptum, 2005), nimmt es nicht wunder, wenn sich
auch in diesem Punkt seine Erfolge vor allem in der Durchsetzung einer strategischen
Sprachregelung zeigten. Aus gut verständlichen Gründen reichten diese
weit über die Sphäre sowjetischer Diktate hinaus. Die ingeniöse
Selbstdarstellung des Linksfaschismus als Antifaschismus wurde im gesamten Einflußbereich
des Stalinismus und darüber hinaus in der Neuen Linken zum vorherrschenden
Sprachspiel der Nachkriegszeit - mit Langzeitwirkungen, die sich bei dissidenten
Subkulturen des Westens, namentlich in Frankreich und Italien, bis in die Gegenwart
verfolgen lassen. Man sagt nicht zuviel, wenn man die Flucht der radikalen Linken
in den »Antifaschismus« als das erfolgreichste sprachpolitische Manöver
des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Daß es die Quelle hochwillkommener Konfusionen
war und blieb, versteht sich aus den Prämissen. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 258-259).Die
Fortführung des Spiels durch die westliche Linke nach 1945 geschah vor allem
aus dem Bedürfnis nach einer umfassenden Selbstamnestie. Diesem Imperativ
blieben die sogenannte Aufarbeitung der Vergangenheit und die Suche nach den »Quellen«
des Faschismus untergeordnet - wobei der Rückgang auf Lenins initialen Beitrag
von Anfang an durch ein Denkverbot blockiert war. Weshalb die Linke dieser Begnadigung
bedurfte, ist ohne Aufwand zu erklären. Angesichts der verheerenden Bilanz
des Stalinismus gab es für sie ein Übermaß an Fehlern, Versäumnissen
und Illusionen zu vertuschen, zu entschuldigen, zu relativieren. Die gutgesinnten
Weggefährten wußten, was sie nicht wissen wollten - und wovon sie zur
kritischen Zeit nichts gehört hatten. (Sartre
zum Beispiel war im Bilde über zehn Millionen Gefangene in sowjetischen Lagern
und schwieg, um nicht aus der Front der Antifaschisten auszubrechen.) Ihre stets
problematischen Kooperationen mit den Moskauer Manipulateuren, ihr Sichblindstellen
für die ersten Zeichen und den wachsenden Umfang des roten Terrors, ihr einäugiges
Sympathisantentum mit der in Theorie und Praxis längst tief kompromittierten
kommunistischen Sache - das alles verlangte dringend nach Verständnis, Verklärung
und Vergebung. Naturgemäß mußte die Absolution von den eigenen
Leuten und aus dem eigenen Fundus erteilt werden, da unabhängige Instanzen,
die Pardon hätten geben können, nicht zur Verfügung standen.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 259).Daß die extreme Linke Europas nach dem Zweiten
Weltkrieg an sich selbst gespart hätte, kann nicht behauptet werden. Bei
ihrem tief empfundenen Mitgefühl für sich selbst erklomm sie die gähnenden
Höhen der Großzügigkeit. Indem sie immer wieder ihren Antifaschismus
ins Feld führte, reklamierte sie, zusammen mit der grundlegenden historischen
Legitimität - man hatte ja Großartiges gewollt -, das Recht, dort weiterzumachen,
wo die Revolutionäre vor Stalin aufgehört hatten. Eine höhere moralische
Mathematik wurde erfunden, nach welcher als unschuldig zu gelten hat, wer beweisen
kann, daß ein anderer krimineller war als er selbst. Dank solcher Rechnungen
avancierte Hitler für viele zum Retter des Gewissens. Um von Affinitäten
eigener Engagements zu den ideologischen Prämissen der umfangreichsten Mordaktionen
in der Geschichte der Menschheit abzulenken, wurden ideengeschichtliche Schauprozesse
inszeniert, in denen alles auf den Weltkriegsgefreiten, den Vollender des Abendlandes,
zulief. Dank maßloser Formen von Kulturkritik - etwa der Rückführung
von Auschwitz bis zu Luther und Platon oder der Kriminalisierung der okzidentalen
Zivilisation im ganzen - versuchte man, die Spuren zu verwischen, die verrieten,
wie nahe man selbst einem klassengenozidalen System gestanden hatte. (Peter
Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 259-260).Die kluge Umverteilung der Schande hat ihre Wirkung
nicht verfehlt. Man brachte es tatsächlich soweit, fast jede Kritik am Kommunismus
als »Antikommunismus« und diesen als eine Fortsetzung des Faschismus
mit liberalen Mitteln zu denunzieren. Wenn es nach 1945 tatsächlich keine
offenen Exfaschisten gab, so fehlte es nicht an Paläostalinisten, Exkommunisten,
alternativen Kommunisten und radikalen Unschuldigen von den äußersten
Flügeln, die den Kopf so hoch trugen, als wären die Verbrechen Lenins,
Stalins, Maos, Ceausescus, Pol Pots und anderer kommunistischer Führer auf
dem Planeten Pluto begangen worden. Die thymotische Analyse macht diese Phänome
verständlich. Dieselben Menschen, die aus guten Gründen zu stolz sind
für dieWirklichkeit, sind manchmal aus weniger guten Gründen zu stolz
für die Wahrheit. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 260). Wer
geglaubt hätte, die Lenkung thymotischer Energien durch das stalinistische
Zornmanagement habe einen nicht weiter steigerbaren Grad an realpolitischer Kaltblütigkeit
erreicht, wird durch den Maoismus auf zweifache Weise eines Besseren belehrt.
Die erste Lektion steckt in der von Mao Zedong vorangetriebenen Erfindung einer
neuartigen Guerilla, die ihre Bewährungsprobe in der Zeit der Bürgerkriege
zwischen 1927 und 1945 ablegte - und die zahlreichen »Befreiungsarmeen«
der Dritten Welt als Inspirationsquelle diente -, die zweite ist durch die berüchtigte
Kulturrevolution der sechziger Jahre zu erlernen, bei der, wie man sich erinnert,
an die Stelle des Kampfs zwischen sozialen Klassen eine Entfesselung des Hasses
von aufgeputschten Jugendlichen gegen die ältere Generation der Kulturträger
trat. Auch hier standen Probleme des Zornmanagements im Zentrum. Was Maos Politik
vom ersten Augenblick an prägte, war die methodisch betriebene Substitution
fehlender revolutionärer Energien durch einen von der militärisch-politischen
Führung provozierten und instrumentalisierten Gruppenfuror (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 261).Mit
Maos Totalguerilla ist eine Vorstellung von »Wachstum« verbunden,
die es den anfangs nur schwachen kämpfenden Zellen erlaubt, den Körper
des Feindes allmählich zu korrumpieren, indem sie sich selber auf seine Kosten
kaum merklich, aber stetig vermehren. Man könnte von einem Kriegsmodell sprechen,
das dem Vorbild der Krebserkrankung folgt. Die Strategie Maos besitzt also große
Ähnlichkeit mit einer politischen Kanzerologie. In Sebastian Haffners Worten:
»den Feind überwachsen, ihn totwachsen« - »das ist das
Wesen Maoscher Kriegführung«. (Sebastian Haffner, Der neue Krieg,
2000, S. 60). Die bizarre Vorliebe Maos für unpopulären »langen
Krieg« entsprang der Einsicht, daß die revolutionären Zellen
für ihr vernichtendes Wachstum in einem großen Land viel Zeit brauchen.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 264).Wenn die Chinesen im Land nicht
selbst nach den Opfern von Maos Politik fragen, sollen Emigranten kein Recht haben,
ihnen solche Fragen aufzunötigen, erst recht keine zudringlichen Historiker
und Ermittler aus dem Westen. Die seit 1981 in China herrschende Sprachregelung,
das Erbe Maos sei zu 70% gut, zu 30% schlecht, läßt die 60 bis 70 Millionen
Menschenleben, die auf das Konto des Maoismus nach 1949 gehen, als eine Last erscheinen,
die nur durch die landeseigene Kunst des Bilanzenziehens zu bewältigen ist.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 268).Die Burleske des Großen Sprungs kostete aktuellen
Schätzungen zufolge zwischen 35 und 43 Millionen Menschen das Leben; in manchen
Provinzen starben vierzig Prozent der Bevölkerung durch Hunger und verordnete
Erschöpfung. Man hat es hier mit dem einzigen Fall einer massiven Vernichtung
von Menschen durch Arbeit zu tun, die zu ihrer Durchführung nicht einmal
auf die Errichtung von Lagern angewiesen war. Daß die chinesische Führung
zugleich auf der Schaffung eines eigenen Gulag bestand, bezeugt die Regel, daß
kein Faschismus, einmal an der Macht, sich die Genugtuung entgehen läßt,
seine Gegner durch entmenschende Zusammenpferchung zu zerbrechen. (Peter
Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 269).Es dauerte mehrere Jahre, bis die Parteiführung
bereit war, den Fehlschlag der Kampagne einzugestehen - man fand bis fast zuletzt
niemanden, der das Wagnis auf sich nehmen wollte, Mao direkt über seine Mißgriffe
aufzuklären. Ausnahmen waren nur der Marschall Peng Te-huai, der angesichts
des offenen Debakels schon auf der Konferenz von Lushan im Sommer 1959 Mao persönlich
angriff (um gleich darauf aus dem Verkehr gezogen zu werden), und einige Schriftsteller,
die umgehend scharfen Repressalien zum Opfer fielen. Die übrigen Mitglieder
der Führungskader schwiegen oder zogen sich in diplomatische Krankheiten
zurück, um Mao bei den kritischen Konferenzen aus dem Weg zu gehen. Dieser
selbst soll, diskret auf diehohe Zahl der Opfer seiner Direktiven hingewiesen,
gesagt haben, auch diese Toten könnten nützlich sein, da sie die Erde
Chinas düngten. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 269-270).Die letzte Kulmination
erreichte Mao Zedongs mobilisatorische Technik zwischen 1966 und 1969, als der
inzwischen an den Rand gedrängte Führer die Macht wieder an sich ziehen
wollte, indem er ein neues, leicht aktivierbares Zornkapital ausfindig machte.
Ähnlich wie Stalin, der durch die Erschließung gewaltiger Ressentimentreserven
einen Pseudoklassenkampf zwischen den Ärmsten und den nicht ganz so Armen
unter der bäuerlichen Bevölkerung der Sowjetunion inszenierte, entdeckte
Mao in seinem Reich einen neuen »Klassengegensatz« - zwischen den
Jugendlichen und den Älteren, wahlweise den zwischen den lebendigen Elementen
der Bewegung und denen der bürokratischen Erstarrung. Die mutwillige Verschärfung
dieses »Gegensatzes« sollte Mao helfen, auf sein Konzept der Totalguerilla
noch einmal zurückzugreifen. Offenkundig eignete sich seine quasi naturphilosophische
Doktrin vom ewigen Krieg der Gegensätze dazu, jede strukturell bedingte soziale
Differenz zum Ausgangspunkt eines zum Klassenkampf deklarierbaren Bürgerkriegs
zu machen - zehntausend Fuß jenseits der Konfrontation von Arbeit und Kapital.
Hiermit erwies sich der Große Steuermann bis zum bitteren Ende der Kulturrevolution
als das, was er von Anfang an gewesen war - ein nationalistisch gesinnter Kriegsherr
mit linksfaschistischen Grundsätzen und kaiserlichen Ambitionen. Er blieb
der Mann, der immer neue Kampfvorwände brauchte, um sich an der Macht zu
halten - und der jeden solchen Vorwand mühelos fallenließ, sobald die
Umstände es erlaubten oder forderten. (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 270).Es
genügte Mao, ein beliebiges neues Ressentimentkollektiv zu identifizieren,
um es auf seinen designierten Feind zu hetzen - schon konnte man den Konflikt
als die aktuelle Gestalt des »Klassenkampfs« ausgeben. Daß eine
»Klasse« erst in ihrem Kampf oder ihrer Bekämpfung entsteht -
dieser strategische Lehrsatz der wendigen Linken sollte sich aus gegebenem Anlaß
eklatant bewahrheiten. Für diesmal wollte Mao den Apparat der Partei um Liu
Shao-chi zerschlagen, der es gewagt hatte, ihn nach dem Debakel des Großen
Sprungs an den Rand zu drängen. In der chinesischen Lehre von den strategischen
Listen figuriert die hierzu gewählte Prozedur unter dem Titel: »Den
Feind mit einem fremden Messer töten.« (Vgl. Xuewu Gu, List und
Politik, in: Harro von Senger [Hg.], Die List, 1999, S. 428f.). Das
Instrument fand Mao in einer Flut von in Furor versetzten Jugendlichen, die auf
den Ruf des Führers hin ihre Schulen und Universitäten verließen,
um sich, wie entfesselte Wandervögel, physischen und psychischen Terror verbreitend,
über das ganze Land zu ergießen. Das Stichwort für dieses rebellische
Ausschwärmen der Jugend auf die Dörfer hieß wieder einmal Verbindung
von Theorie mit Praxis. (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution,
in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 270-271).Man erinnert
sich an die Bilder von den Pekinger Begegnungen Maos mit jeweils mehr als einer
Million euphorisierter Studenten und Rotgardisten aus allen Provinzen, denen er
sein Verständnis aussprach für die Übergriffe, die er von ihnen
erwartete. Die blutigen Folgen der revolutionären Kommunionen zwischen dem
Halbgott und der Menge blieben nicht aus. Ist es nicht immer der Sinn solcher
Versammlungen, daß das Volk Gelegenheit erhält, die Gedanken des Fürsten
zu lesen? Zu den prägenden Szenen der Kulturrevolution gehörten
die öffentlichen Demütigungen von Gelehrten, die mit Schandhauben auf
Plätze gejagt, geprügelt, zu Selbstbezichtigungen gezwungen und in zahllosen
Fällen ermordet wurden. Noch heute findet man auf den Trödelmärkten
Pekings Keramikskulpturen im sozialistisch-realistischen Stil jener Zeit, die
einen knienden Professor unter dem Stiefel einer Rotgardistin zeigen, ein Schild
um den Hals, das die Aufschrift trägt: »Ich bin eine stinkende Nummer
neun« - was heißen soll: ein Intellektueller. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 271).Man
tut gut daran, nicht zu vergessen, daß die philosophische Fakultät
der Universität von Peking im Jahr 1966 ihr Fach in »Mao-Zedong-Denken«
umbenannte. Für die Betreiber der europaweiten Vereinheitlichung der Studienordnungen
an den Universitäten und Kunsthochschulen der EU (des sogenannten Bologna-Prozesses)
sei angemerkt: Unter den Zielen der chinesischen Kulturrevolution wurde die Verkürzung
der Studienzeiten genannt. Es dauerte volle vier Jahre, bis an Chinas Schulen
wieder ein regulärer Studienbetrieb möglich wurde. Zu diesem Zeitpunkt
hatten nach jüngeren Schätzungen bis zu fünf Millionen Menschen
ihr Leben verloren. Noch ein Jahrzehnt lang litt Chinas Wirtschaft unter dem Ausfall
mehrerer Studentenjahrgänge. (Peter Sloterdijk, Die thymotische
Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 272).Die
holocaustartigen Rasereien der Kulturrevolution - von westlichen Beobachtern zu
größeren Unruhen verharmlost - ereigneten sich in relativer Gleichzeitigkeit
mit den Studentenbewegungen von Berkeley, Paris und Berlin, wo es auch überall
engagierte Gruppen gab, die das wenige, was sie über die Ereignisse in China
und ihre Ursachen wußten, für einen zureichenden Grund hielten, sich
als Maoisten zu präsentieren. Manche koketten Maoverehrer von damals, die
sich wie üblich seit langem selbst verziehen haben, sind bis heute als politische
Moralisten aktiv. Ins Memoirenalter gekommen, stellen sie, nicht ganz zu Unrecht,
den westlichen Maoismus und ihre Teilnahme an seinen performances als eine
traurige Spätform des Surrealismus dar. (André Glucksmann hat in seinem
Ereinnerungsbuch seine Teilnahme an dem wahnhaften Mao-Kult in Frankreich zwischen
1968 und 1972 expressis verbis bedauert.). Andere halten es für unter
ihrer Würde, sich zu vergeben, und verkünden weiter ihre Überzeugung,
sie hätten im Grunde recht behalten - allein der Gang der Dinge habe (zumal
nach dem »Thermidor« des tückischen Deng) die falsche Richtung
eingeschlagen, um einmal mehr die »Restauration« ans Ruder zu bringen.
Um 1968 schien Paris fest in der Hand des radikalen Feuilletons, das in der Person
von Präsident Pompidou, eines Mannes der rechten Mitte, den Rechtsradikalismus
an der Macht sah - und das aus seinen Sympathien mit den Vorgängen in China,
dem Land der Wandzeitungen, der Mao-Bibel und der Abschlachtung von Gelehrten,
kein Geheimnis machte. Wieder einmal vermochte das mal français,
die Einteilung der Welt in Revolution und Restauration, eine globale Epidemie
auszulösen, obwohl sie sich überwiegend auf akademische Kreise beschränken.
Als infolge des politischen Tauwetters im Jahr 1972 erstmals ein (us-)amerikanischer
Präsident die Volksrepublik China besuchte, waren viele Angehörige der
Neuen Linken in Europa und Amerika entsetzt bei dem Gedanken, eine Lichtgestalt
wie Mao Zedong könne einem Schurken vom Schlage Richard Nixons die Hand schütteln.
In demselben Jahr brachte André Glucksmann in Les temps modernes
seine Ansicht zum Ausdruck, Frankreich sei eine faschistische Diktatur.
(Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 272-273).Die hohe Schule der Unbelehrbarkeit fand ihren
Meister in Jean-Paul Sartre,
der aus der Einfühlung in die revolutionäre Gewalt seit längerem
ein selbstquälerisches Exerzitium gemacht hatte. Und doch: Auch er war nicht
mehr als ein eminenter Vertreter einer Generation von Fakiren, die sich auf dem
Nagelbrett der Selbstunterbietung quälten, um für ihre Zugehörigkeit
zum Bürgertum zu büßen. Noch heute ist es für Europäer
mit einem Rest an historischem Taktgefühl schmerzlich, die Bilder aus dem
Jahr 1970 wiederzusehen, die einen der größten Intellektuellen des
Jahrhunderts, den Verfasser von Das Sein und das Nichts und der Kritik
der dialektischen Vernunft, zeigen, wie er sich als Straßenverkäufer
für ein radikalkonfuses Erbauungsblättchen der maoistischen Gauche
proletarienne betätigte, um für die, wie es hieß, bedrohte
Freiheit der Andersdenkenden in Frankreich einzutreten. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 273-274).Solche
Momentaufnahmen gehörten in die Schlußphase eines Lernzyklus, der zweihundert
Jahre überspannte. In seinem Verlauf suchte die europäische Linke, ermüdbar
und unermüdlich, nach Verfahren, dem Zorn der Benachteiligten eine Sprache
zu schaffen, die zu angemessenem politischem Handeln führen sollte. Je grotesker
die Bilder, desto deutlicher geben sie einen Begriff davon, in welche Tiefen die
Unverträglichkeit zwischen dem Zorn und dem Prinzip der Angemessenheit reicht.
An ihnen wird das Paradoxon revolutionärer Politik schlechthin faßbar.
Seit jeher arbeitet diese sich an der Aufgabe ab, das Maß für etwas
zu ermitteln, was von sich her dem Zug ins Maßlose folgt. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 274). |