Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus
(1987) Auf
weniger direkte Weise haben sich indessen auch andere Teilnehmer nach dem Verlauf
von bald zehn Jahren zu der Thematik des Historikerstreits geäußert
und damit potentiell zu einer Bilanzierung beigetragen, die Winkler postuliert,
aber schwerlich schon durchgeführt hat. Die Ursache war das Erscheinen des
Buches von Daniel Goldhagen über »Hitlers willige Vollstrecker«
(1996). Goldhagen, der junge jüdisch-amerikanische Politologe, trieb nämlich
die »orthodoxe« Auffassung zum Extrem, ja bis zur Karikatur: In seiner
Darstellung kommen im wesentlichen nur die Deutschen und die Juden vor, und das
Verhältnis zwischen ihnen ist ganz auf den Antisemitismus einerseits und
den Opferstatus andererseits reduziert. Schon im 19. Jahrhundert und im Grunde
seit Luther seien die Deutschen bis auf wenige Ausnahmen von einem »eliminatorischen«
Antisemitismus erfüllt, der sich unter Hitler mit nur allzu großer
Konsequenz zu einem »exterminatorischen« Willen entfaltet. Dieser
habe sich nicht so sehr in den Gaskammern von Auschwitz und Treblinka realisiert
(deren »Leistungsfähigkeit stark übertrieben« worden sei;
ebd., S. 23), sondern in den vielhunderttausendfachen, mit »Eifer«
und »Lust« ausgeführten Mordtaten der SS, der Polizeibataillone
und auch der Wehrmacht. Die Bolschewiki und der Gulag kommen ebensowenig vor wie
die internationale Situation der Jahre 1939-1941 und die im Baltikum sowie in
der Ukraine weitverbreitete Judenfeindschaft. Von Bedeutung ist ausschließlich
die Konfrontation zwischen deutschen Mördern und jüdischen Ermordeten.
Die These vom kausalen Nexus zwischen Gulag und Auschwitz erscheint aus dieser
Perspektive in der Tat als schlechterdings absurd. Zwar nennt Goldhagen die Mörder
gelegentlich »Weltanschauungskrieger« (ebd., S. 321), aber ein Zusammenhang
zwischen Antisemitismus und Antibolschewismus taucht allenfalls für flüchtige
Augenblicke auf und wird ohne weiteres den »Wahnideen« zugerechnet.
Zwar unterstreicht Goldhagen nachdrücklich das Prinzip des »Verstehens«,
und er hebt sogar hervor, daß die Täter »die Massenvernichtung
der Juden für gerechtfertigt« gehalten haben (vgl. ebd., S. 28f.),
aber sein Verstehen und das Selbstverständnis der Täter kommen nur im
Begriff der »Wahnideen« überein. Mithin kann ein ganz eindeutiger
Schuldspruch gefällt werden, und es fehlt Goldhagen anscheinend ganz das
Bewußtsein dafür, daß er mit dieser kollektivistischen Schuldzuschreibung
nichts anderes tut, als was die Nationalsozialisten getan hatten, indem sie »den
Juden« die Schuld am Roten Terror, an den Greueltaten der Tscheka und an
der »großen Menschenvernichtung« im Gulag zuschrieben.
(Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 13).... Begründung, die Stalin und
auch viele westeuropäische Intellektuelle für den Vernichtungskampf
gegen die Kulaken (ukrainische Bauern; sie waren eines der
vielen Beispiele, die schuldig bzw. ein »Klassenfeind« waren, weil
sie ein Kuh besaßen, und deshalb als »Klasse« verrnichtet wurden;
HB) gaben: Er sei für die Modernisierung und Industrialisierung
des Landes unerläßlich gewesen. .... Rechtfertigung ..., die von Hitler
und nicht wenigen Nationalsozialisten für den (zunächst bloß auf
Trennung abzielenden) Vernichtungskampf gegen die Juden vorgebracht wurde. Die
Juden seien »alle Kommunisten« und daher für den Tscheka-Terror
und den Gulag und obendrein noch für den westlichen Kapitalismus verantwortlich.
(Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 21).
Wenn irgend jemand, so durfte sich Victor Klemperer - persönlich
Protestant, Inhaber eines romanistischen Lehrstuhls an der Technischen
Hochschule Dresden, exemplarischer Geistes- und Kulturmensch, Frontkämpfer
des Weltkriegs, mit einer »Arierin« verheiratet - ganz und
gar als Deutscher fühlen, wenn er auch der Sohn eines Rabbiners war.
Aber gleich nach dem 30. Januar 1933 trifft ihn mit furchtbarer Härte
die antijüdische Kampagne der NSDAP, die gesetzliche Ausgrenzung
der jüdischen Beamten, der Boykott gegen die jüdischen Geschäfte,
obwohl er wie die übrigen Frontkämpfer zunächst verschont
bleibt. Der Haß, den er von Anfang an gegen die Nationalsozialisten
empfindet, ist der Haß des Bildungsbürgers und Geistesmenschen
gegen die Demagogie und den Irrationalismus einer Massenbewegung, zu deren
Komponenten er »Amerikanismus, Technizismus, Automatismus und Deifizierung
(des Führers)« rechnet. (Vgl. die Tagebücher
von Victor Kemperer, die postum unter dem Titel »Ich will Zeugnis
ablegen bis zum letzten« herausgegeben wurden). Eine
ähnliche Abneigung empfindet er gegen den Kommunismus und sogar gegen
den Zionismus, der mit seiner Rassenlehre eine »Quelle der Nazis«
sei und der in Jerusalem die Arier nicht anders diskriminierte, als es
in Deutschland den Juden geschieht. (Vgl. ebd., S. 565, 111f.). Im Jahre
1935 wird er zwangspensioniert, und seine bisherigen Kollegen meiden ihn
»wie eine Pestleiche« (ebd., S. 223). Dabei gibt es für
ihn überhaupt keine »Judenfrage« in Deutschland, denn
die Reibung zwischen Juden und »Ariern« war nach seiner Meinung
nicht halb so groß wie etwa zwischen Protestanten und Katholiken
oder zwischen Arbeitgebern und -nehmern oder zwischen Ostpreußen
und Südbayern. Es gebe nur eine Lösung der deutschen oder westeuropäischen
Judenfrage, schreibt er, nämlich »die Mattsetzung ihrer Erfinder«
(ebd.,S. 457). Eine »Ostjudenfrage« hält er allerdings
offenkundig für real, und noch als 1941, wo er schon in einem »Judenhaus«
wohnen muß, die »gelbe Judenbinde« eingeführt wird,
sieht er als Grund nicht bloße Willkür und Quälsucht,
sondern die Furcht vor der »jüdischen Kritik« (ebd.,
S. 663). Nichts würde bei all dem näherliegen, als daß
er das ganze deutsche Volk verurteilte, das so unverbrüchlich Hitler
Folge leiste. Einige Wendungen klingen in der Tat so, als seien sie eine
Bestätigung für Goldhagen, etwa: Die Lage sei trostlos, denn
Hitler entspreche wirklich dem deutschen Volkswillen (vgl. S. 330), aber
als Grund für diesen Volkswillen nennt er nicht etwa den Antisemitismus,
sondern die Furcht vor dem Kommunismus und dem kommunistischen Rußland.
Ganz Deutschland ziehe Hitler den Kommunisten vor, bemerkt er, obwohl
doch beide Bewegungen materialistisch seien und in die Sklaverei führten
(ebd., S. 69); selbst einige Juden nehmen die Nazis einigermaßen
in Schutz, da sie den Kommunismus fürchten (ebd., S. 353); daß
Hitler der Retter vor Rußland sei, sei bestimmt die Meinung von
79,5 Millionen Deutschen. (Vgl. ebd., S. 430). Sogar im Judenhaus gibt
es einen Mann, der als ehemaliger Offizier »ein Monomane des deutschen
Soldatentums ist und sich nationalistischer gebärdet als jeder Nazi«
(ebd., S. 532). Von Antisemitismus dagegen merkt Klemperer noch so gut
wie nichts, als er schon den Namen »Victor Israel« führen
und den Judenstern tragen muß: »Ich frage mich oft, wo der
wilde Antisemitismus steckt. Für meinen Teil begegne ich viel Sympathie,
man hilft mir aus, aber natürlich angstvoll. .... Die Beamten im
Finanzamt sind mustergültig höflich .... Die Passanten sympathisierten
mit den Sternträgern .... Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung
als Sünde.« (ebd., S. 672ff.). Eine Wohnungsnachbarin meint,
jeder Jude habe seinen arischen Engel (vgl. ebd. S. 653), und bekanntlich
sagte Heinrich Himmler in einer seiner Reden genau das gleiche, wenn auch
im Tone der Kritik und des Vorwurfs. Die Folge dieser Ausgrenzung und
kollektivistischen Schuldzuschreibung, die zum guten Teil Menschen trifft,
welche nach Klemperer »Nazis sein würden, wenn sie nicht als
Juden betroffen wären« (ebd., S. 535) ist in den Augen dieses
deutschen Juden im höchsten Maße paradox und zugleich verhängnisvoll:
Hitler sei der bedeutendste Förderer des Zionismus, er habe buchstäblich
das »Volk der Juden«, das »Weltjudentum«, DEN
Juden geschaffen. (Vgl. ebd., S. 695). Aber dieser sonderbare Tatbestand
ist erst ein Resultat des Nationalsozialismus; seine elementare Voraussetzung
ist jedoch auch nach Klemperer nichts anderes als das Verhältnis
zum Kommunismus, der ja, anders als die Juden, für die große
Mehrheit des deutschen Volkes bedrohlich und angsterregend war.
(Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 22-23).
Damit
sollte nun klargeworden sein, worum es in dem »Europäischen Bürgerkrieg
1917-1945« und auch in dem Artikel über die »Vergangenheit,
die nicht vergehen will«, ja ansatzweise schon im »Faschismus
in seiner Epoche« ging: nicht um Exkulpation oder Inkriminierung, um
Belastung oder Entlastung, um Anklage oder Apologie, sondern um eine der möglichen
Konzeptionen oder Paradigmen oder interpretatorischen Leitlinien der europäischen
Geschichte und der Weltgeschichte im 20. Jahrhundert, an die vor allem die Frage
zu richten ist, ob sie die Zusammenhänge erfaßt oder verfehlt, ob sie
erhellend oder verdunkelnd, erweiternd oder verengend wirkt. Eine etwaige Einschränkung
politischer oder propagandistischer Schuldsprüche, eine andere Verteilung
von Licht und Schatten wird daraus erst resultieren; sie darf aber nicht die Voraussetzung
sein, so gewiß der individuelle Historiker seine Präferenzen und Abneigungen
haben wird. Die einzige wissenschaftlich legitime Abneigung ist jedoch die, welche
dem über unpassende Tatbestände rücksichtslos hinweggehenden Willen
zur Durchsetzung politischer Ziele gilt. Allerdings trägt jedes Paradigma
von sich aus seine eigenen Begrenzungen an sich. Eben deshalb darf keine strenge
Abschließung gegeneinander vorliegen. Die Zahl der möglichen Paradigmen
ist aber gering, und für sie lassen sich zahlreiche Beispiele aus der Geschichtsschreibung
anführen. (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 23).Die einzige
Möglichkeit einer »neonationalsozialistischen« Geschichtsschreibung
war vermutlich die, welche ein englischer Historiker, nämlich David Irving,
mehr in Andeutungen als ausdrücklich umrissen hatte: Die von den Vertretern
der negativ gefaßten Sonderwegsthese so heftig angegriffene Zusammenarbeit
zwischen den »führenden Schichten« und Hitler sei nicht verdammenswert,
sondern sogar die einzige zukunftsvolle Möglichkeit gewesen, sofern sie sich
1940 zu einem Kompromiß zwischen Deutschland und England fortentwickelt
hätte, was aber von Churchill und dessen Gesinnungsgenossen verhindert worden
sei. Wenn es zustande gekommen wäre, würde der Holocaust nicht stattgefunden
haben und England hätte sein Empire nicht verloren. (Ebd., 1987 bzw.
1997, S. 25).Aber es gab eine ursprünglichere Sozialgeschichtsschreibung
bzw. Auffassung von der Sozialgeschichte, die mit viel mehr Entschiedenheit über
die nationalen Grenzen hinausstrebte und den Klassenbegriff weit ausschließlicher
zum Zentrum machte. Es handelte sich um das marxistische Paradigma, das eine universalistische
Geschichtsphilosophie als Grundlage besaß und das schon bei Marx selbst
auch historiographische Werke wie den »Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte«
hervorgebracht hatte. Hier ist nicht ein bestimmter Staat der Ausgangspunkt, sondern
der übergreifende Vorgang der industriellen Revolution, aus dem eine machtvolle
internationale Bewegung hervorgeht, nämlich die Arbeiterbewegung. Deren Bestimmung
besteht darin, die unverwirklichten Postulate der bürgerlich-liberalen Revolution
zu erfüllen, nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und
die bislang kapitalistische Modernität auf den unübersteigbaren Gipfel
der weltweiten Gesellschaft ohne Klassen und Staaten zu führen. (Ebd.,
1987 bzw. 1997, S. 25-26).Bevor die Frage getellt werden kann,
ob nicht einer anderen Version der Totalitarismustheorie und der ihr entspringenden
Geschichtsschreibung ein eigener Rang zuzuerkennen sei, für welche die Feindschaft
zwischen den beiden Bewegungen und Regimen nicht oberflächlich wäre,
die aber keiner von beiden die Qualität des »Siegers der Geschichte«
oder der »Welle der Zukunft« zuschriebe, muß von dem »jüdischen
Paradigma« gesprochen werden. Diesem Paradigma, das man audf dem ersten
Blick »national« oder »national-religiös« oder »zionistisch«
nennen könnte, ist deshalb eine hervorstechende Position zuzugestehen, weil
es auf einer ganz außerordentlichen Erfahrung beruht, nämlich der von
der Spitze des nationalsozialistischen Staates offenbar intendierten Vernichtung
einer Millionenzahl von Juden .... Dieses Geschehen ließ sich keinesfalls
aus einem noch so unglückseligen »deutschen Sonderweg« ableiten,
denn das Deutsche Reich hatte im Ersten Weltkrieg bei dem türkischen Verbündeten
und in den besetzten Ostgebieten eine ausgesprochen judenfreundliche Politik betrieben,
und die antisemitischen Parteien, die keinen größeren Einfluß
hatten als die entsprechenden Gruppierungen und Tendenzen in Frankreich, Rußland
und Rumänien, waren in den Jahren vor 1914 nahezu verschwunden. Es mußte
etwas ganz Besonderes geschehen sein, daß eine so radikale Judenfeindschaft
wie diejenige Hitlers und Rosenbergs entstehen konnte. Zwar lag es für jüdische
und auch für deutsche Interpreten nahe, schlicht ein seit Jahrtausenden bekanntes
Phänomen verantwortlich zu machen, eben den Antisemitismus, und die Sonderwegsthese
dahin zuzuspitzen, daß das ganze deutsche Volk in diesem Antisemitismus
mit Hitler einig gewesen sei. Aber diese Interpretation kann allenfalls das »Zionistische«
am Nationalsozialismus verständlich machen, nämlich das Verlangen nach
»Entfernung« der Juden, nachdem sich das Zusammenleben angeblich als
unmöglich erwiesen habe. Sie kann jedoch Tatbeständen wie denen keine
Rechnung tragen, daß selbst Heinrich Himmler noch im Jahre 1940 die Ausrottung
eines Volkes als »bolschewistisch« und »ungermanisch«
ablehnte und daß sogar Joseph Goebbels sehr überrascht war, als er
im März 1942 erstmals erfuhr, welche Methoden im Osten gegenüber der
jüdischen Bevölkerung angewandt wurden. (Vgl.
die Denkschrift von Heinrich Himmler über die Behandlung der Fremdvölkischen
im Osten, S. 194-198, S. 197; und vgl. die Tagebücher von Joseph Goebbels
aus den Jahren 1942 und 1943, Eintragung vom 27. März 1942). Es kann
nur eine einzige hinreichende Erklärung geben, nämlich die folgende:
Daß im Kopf des einzigen Menschen, der in der Lage war, einen so außerordentlichen,
von keinem der untergeordneten Beteiligten noch 1940 auch nur für möglich
gehaltenen Prozeß in Gang zu setzen, die schon ganz früh geäußerte
Überzeugung von einer Urheberschaft der Juden am Bolschewismus und darüber
hinaus an allen Übeln der modernen Zeit nicht mehr nur »erkenntnisleitend«
war, sondern mit dem Beginn der Planung für den Angriffskrieg gegen das bolschewistische
Rußland auch »handlungsleitend« wurde. Eine offene Frage kann
nur die sein, ob Hitler in den Juden tatsächlich bloß »Sündenböcke«
sah, auf die er seine (allerdings vorerst nur geringfügigen) Mißerfolge
projizierte, oder ob er in ihnen »etwas« wahrnahm und haßte,
zu dessen Protagonisten zwar längst nicht alle Juden, aber doch viele von
ihnen gehörten: die Idee des internationalen Sozialismus oder des Humanitarismus
oder, wie Victor Klemperer es an einer Stelle ausdrückt, »die ewige
Mission, das Vorkämpfertum des jüdischen Geistes«. (Vgl.
S. 332 der Tagebücher von Victor Kemperer, die postum unter dem Titel Ich
will Zeugnis ablegen bis zum letzten herausgegeben wurden). Die erste
Auffassung führt leicht zu der Behauptung, die Juden seien »wie Schafe
zur Schlachtbank« gebracht worden; aus der zweiten dagegen läßt
sich die These ableiten, daß sie »nicht als unglückliche Opfer
eines widerwärtigen Verbrechens starben, sondern als Stellvertreter bei dem
verzweifeltsten Angriff, der je gegen das menschliche Wesen und die Transzendenz
in ihm geführt wurde« (Ernst Nolte, Der
Faschismus in seiner Epoche, 1963, S. 512). Welche der beiden Interpretationen
den toten Juden die größere Ehre zukommen läßt, dürfte
außer Frage stehen. (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 27-28).Alle
sowjetkommunistischen Darstellungen ließen sich von der Auffassung leiten,
daß der eigentliche Kampf der Nationalsozialisten gegen die Kommunisten
gerichtet gewesen sei und daß die Hervorhebung der jüdischen Opfer
eine nationalistische Verengung bedeute, auch wenn sie von Nichtjuden komme. (Diese
Auffassung lag dem Todesurteil zugrunde, das im jahre 1952 gegen 15 Mitglieder
des »Jüdischen Antifaschistischen Komitees« verhängt wurde,
die durchweg an den Vorarbeiten zu dem »Schwarzbuch« über den
Genozid am den sowjetischen Juden beteilgt waren. Vgl. Arno Lustiger, Hrsg. der
deutschen Ausgabe: Das Schwarzbuch - Der Genozid an den sowjetischen Juden
[Hrsg.: Wassilij Grossmann / Ilja Ehrenburg], 1994, bes. S. 1084). Ebenso wichtig
war, daß der Marxismus nicht als »absolute Wahrheit«, sondern
als fehlbare, wenngleich herausragende Ideologie unter anderen Ideologien aufgefaßt
wurde. Dem Nationalsozialismus wurde jedoch in noch höherem Maße unrecht
gegeben, indem er als »Antimarxismus« definiert wurde, »der
den Gegner durch die Ausbildung einer radikal entgegengesetzten und doch benachbarten
Ideologie und die Anwendung von nahezu identischen und doch charakteristisch umgeprägten
Methoden zu vernichten trachtet ...« (Ernst Nolte, Der
Faschismus in seiner Epoche, 1963, S. 51). (Ebd., 1987 bzw. 1997,
S. 29).Diesen Urteilen lag ein Begriff des »Liberalen
Systems« zugrunde, der dessen Wesen, das Wesen dieser Konfliktgesellschaft,
gerade in der friedlichen Austragung solcher Konflikte und damit in der Verhinderung
blutiger Vernichtungsprozesse sieht. Der marxistische Begriff des »Klassenkampfes«
ist zweideutig und mithin potentiell in dieses System integrierbar; sobald aber
der Aspekt des Bürgerkriegs hervortritt und sogar durch eine Machtergreifung
verselbständigt wird, ist ein Vernichtungsprozeß in Gang gesetzt, der
in einem Liberalesn
System(das auch als »pluralistischer Parteienstaat« existieren
mag) nicht stattfinden kann. Nur historische Prozesse von überragender Wichtigkeit
können einem solchen Umbruch zugrunde liegen: Der überzeugende Wahlsieg
der »proletarischen Partei«, der nach gewissen Andeutungen von Marx
und Engels die Indienstnahme der früheren Unternehmer für die Zwecke
der Planwirtschaft nach sich zieht und insofern eine bloß soziale und sogar
unblutige Vernichtung bedeutet, oder aber die gewaltsame Machtergreifung einer
Minderheitspartei von Berufsrevolutionären, die für Augenblicke auf
der Welle verbreiteter Massenemotionen zu reiten vermag. Die Folge ist in diesem
zweiten Fall mit höchster Wahrscheinlichkeit ein offener Bürgerkrieg
mit der gutenteils physischen Vernichtung der »Klassenfeinde« und
eines Tages ein gewalttätiger und auf Vernichtung abzielender Kampf gegen
die Spitzengruppe der selbstwirtschaftenden Bauernmehrheit des Landes. Insofern
bildet der Bolschewismus den Beginn der ideologisch begründeten Vernichtungsmaßnahmen
durch totalitäre Regime, die das Gesicht des Jahrhunderts so sehr prägten.
Aber es ist unangebracht, hier den Begriff der »Schuld« zu verwenden,
obwohl einer Partei und sogar einer Klasse immerhin mit höherem Recht »Schuld«
zugesprochen werden kann als einem Volk oder einem Kulturkreis. (**)
(Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 29).Indem dem Bolschewismus ursprünglichere
Vernichtungsintention und -aktion zugeschrieben werden als dem Nationalsozialismus
und indem dessen Vernichtungsintention und -aktion als Antwort oder Re-Aktion
gefaßt werden, wird der Kampf der beiden Regime viel ernster genommen als
von seiten der strukturanalytischen Totalitarismustheorie, und der »westliche
Verfassungsstaat« wird nicht glorifiziert, sondern zwar als Gegensatz zu
den totalitären Regimen gesehen, aber auch als deren Mutterboden. Die historisch-genetische
Version der Totalitarismustheorie ist also ein eigenständiges Paradigma,
und es läßt sich nicht leugnen, daß sie eine größere
Nähe sowohl zum Kommunismus wie zum Nationalsozialismus aufweist als die
strukturanalytische Version, da sie dasjenige übernimmt, was beiden Bewegungen
bzw. Regimen gemeinsam ist, nämlich ihr Selbstverständnis als »Aktion«
bzw. als »Re-Aktion«. Nichts folgt aus ihr zwingender als die These,
daß der »Gulag« ursprünglicher sei als »Auschwitz«.
Wer simple Geschichtsbilder benötigt, mag behaupten, die Bolschewiki oder
sogar die Marxisten würden hier zu den »ersten Schuldigen« am
Unheil des 20. Jahrhunderts gemacht, während die Nationalsozialisten als
die »zweiten Schuldigen« geradezu exkulpiert oder verharmlost würden.
(Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 29-30).Die Einschränkung von absolut
klingenden Aussagen gilt jedoch auch für den oben angeführten Satz über
die Juden als »Stellvertreter«. Wenn er ausschließlich die Bedeutung
hätte, daß die Juden als Vorkämpfer der Welteinheit, der Humanität
und des Sozialismus von Hitler bekämpft und zu großen Teilen getötet
worden seien, würde es sich um eine bloße Umkehrung der »kollektivistischen
Schuldzuschreibung« in eine »kollektivistische Verdienstzuschreibung«
handeln. Aber Grigorij Sinovjew machte sich tatsächlich
auch in einem engeren und individuell zurechenbaren Sinne schuldig, als er die
Ausrottung von zehn Millionen Menschen verlangte - er sprach jedoch nicht als
Jude zu Juden, sondern als Kommunist zu Kommunisten. (**).
(Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 30).Und »Modernität«
wird seit geraumer Zeit auch von vielen Vertretern der progressivistischen Tradition
nicht mehr als rundum positiver Begriff verstanden. Die Dinge sind in sich komplizierter,
und sie unterliegen weit stärkeren Verkehrungen, als der politische und ideologische
Kampf wahrhaben will. Insofern steht der Historiker, der Zusammenhänge durchdenken
und nicht bloß Vorgänge beschreiben will, in der Öffentlichkeit
von vornherein auf einem verlorenen Posten, da bestimmte Aspekte seines Themas,
die in isolierbaren Sätzen artikuliert werden, immer auch zu politischen
Konsequenzen führen können, gegen welche sich Politiker und politische
Schriftsteller mit Gegenbehauptungen und nicht selten mit Unterstellungen sowie
Diffamierungen zur Wehr setzen. Aber er darf sich auch seine eigenen Schwächen
und die Wechselfälle des Lebens nicht verbergen. (Ebd., 1987 bzw. 1997,
S. 30-31).Wie immer es aber um individuelle Präferenzen und
Neigungen bestellt sein mag: Die historisch-genetische Version der Totalitarismustheorie
ist in ihren Grundzügen davon unabhängig, und sie wird in Zukunft immer
wieder, ausdrücklich oder nicht ausdrücklich, bei historischen Darstellungen
des 20. Jahrhunderts und bei den entsprechenden Denkversuchen in dieser oder jener
Gestalt eine Rolle spielen; verwunderlich kann eigentlich nur sein, daß
es so lange dauerte, bis sie über bloß andeutende oder essayistische
Vorstellungen vom »Weltbürgerkrieg« hinaus als Geschichtsschreibung
zur Existenz kam. (**). Die Ursache
dürfte jene unbestreitbare Nähe zu einer Grundvorstellung des Nationalsozialismus
sein, die aber zugleich und in noch höherem Maße eine Nähe zu
Grundvorstellungen des Sowjetkommunismus bedeutet. Beides war im Zeitalter des
Kalten Krieges bedenklich und anstößig; in einer Zeit, wo kapitalistische
Globalisierung und philosozialistischer Antifaschismus tendenziell zu einer neuartigen
Einheit verschmelzen, ist anscheinend nur das eine noch anstößig, ja
verdammenswert. Aber die Erfindung oder Spekulation eines abseitigen »Eigenbrötlers«
(vgl. Martin Broszat, in: »Historikerstreit«, S. 189) ist diese Konzeption
auf keinen Fall; wie gezeigt worden ist, weisen die Bücher von Bullock, Hobsbawm
und Furet in die gleiche Richtung, so gewiß erhebliche Differenzen zwischen
den Autoren nicht zu verkennen sind. Nicht ich habe (dem Sinne nach) als erster
von dem »kausalen Nexus« zwischen Gualg und Auschwitz gesprochen.
... Noch viel früher berichtet ein besonders wichtiger »Augenzeuge«
von diesem Nexus, nämlich Rudolf Höß, aber die betreffende Aussage
wurde meines Wissens in der wissenschaftlichen Literatur nie erwähnt. Höß
schreibt über die Situation zu Beginn des »Rußland-Feldzuges«
folgendes: »Vom RSHA wurde dem Kommandanten (also ihm selbst) eine umfangreiche
Berichtzusammenstellung über die russischen Konzentrationslager überreicht.
Von Entkommenen wurde darin über die Zustände und Einrichtungen bis
ins einzelne berichtet. Besonders hervorgehoben wurde darin, daß die Russen
durch die großen Zwangsarbeitsmaaßnahmen ganze Völkerschaften
vernichteten.« (Kommandant in Auschwitz - Autobiographische Aufzeichnungen
des Rudolf Höß, hrsg. von Martin Broszat, München [dtv], 1963).
(Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 31).Das Buch, das in der Vorform eines
Artikels so viel an Aufregung und Empörung verursachte und das dann gleichsam
in dessen Schatten geriet, wird nun nach zehn Jahren in fünfter Auflage bis
auf eine neue »Schlußbetrachtung« unverändert und nur durch
diese »Bilanz nach zehn Jahren« erweitert, von neuern vorgelegt. Vielleicht
gelingt es ihm diesmal, in erster Linie Nachdenken statt bloßen Widerspruch
hervorzurufen. Auch der Briefwechsel zwischen François Furet und mir, der
1998 auch auf deutsch veröffentlicht wird und von dem ein Brief vorgreifend
im »Anhang«
abgedruckt ist, könnte dazu beitragen. Ich für meinen Teil bin mir darüber
im klaren, daß der vorliegende Rahmen in einen noch größeren
Rahmen eingefügt werden sollte, den mit der Frage nach der »Historischen
Existenz« zu schaffen die letzte - inzwischen weitgehend fertiggestellte
- Arbeit meines Lebens sein' wird. (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 31).
Einleitung: Perspektiven für die WeltkriegsepocheEs
ist allgemein bekannt, daß die Partei der Bolschewiki gleich nach ihrer
Machtergreifung im Noovember 1917 die Proletarier und Unterdrückten in aller
Welt zum Aufstand gegen das kapitalistische System aufrief, das für den Krueg
verantwortlich sei, und nicht nur Spezialisten wissen, daß die eben gegründete
Kommunistische Partei Deutschlands sich zu Anfang 1919 »in dem gewaltigsten
Bürgerkrieg der Weltgeschichte« begriffen sah. (**).
(Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 33).Daß die Arbeiterbewegung nach
dem Ersten Weltkrieg mindestens in dem einen oder anderen Lande West- oder Mitteleuropas
die Macht ergreifen würde, war nicht bloß den Anhängern des Sozialismus
wahrscheinlich. Aber was bedeutete es, daß der Vorgang sich ausgerechnet
in dem zurückgebliebenen Rußland vollzog, dessen Bevölkerung in
ihrer übergroßen Mehrheit aus Bauern bestand? Degradierte sich
die sozialistische Partei, die hier gegen andere sozialistische Parteien die Macht
ergriff, am Ende zum Instrument der Selbstbehauptung des russischen Vielvölkerstaates
? Oder wurde Rußland zum bloßen Material des weltrevolutionären
Willens marxistischer Intellektueller, die zwar im ersten Überschwang die
Möglichkeiten überschätzten, welche sich ihnen in Europa und in
der Welt boten, die aber unverrückbar an ihrem Ziel festhielten, der revolutionären
Umgestaltung der ganzen Erde zu einem menschlichen Gemeinwesen ohne Klassen und
ohne Staaten? An Feinden, die vorher Freunde gewesen waren, fehlte es von
Anfang an nicht, und selbst entschiedene Anhänger sahen sich früh in
schwere Zweifel verwickelt. Gleichwohl gibt es kein Phänomen in der modernen
Weltgeschichte, das von so vielen Seiten, so lange und so intensiv verurteilt
worden wäre wie der deutsche Nationalsozialismus und das Dritte Reich; aber
es existiert auch kein Regime, das auf so gegensätzliche Weise charakterisiert
worden wäre und das den Kritikern so viel Gelegenheit gegeben hätte,
sich indirekt gegenseitig anzugreifen, indem eine enge Verwandtschaft zwischen
dem Nationalsozialismus und einer der Mächte oder Denkweisen konstatiert
wird, die eben noch zur einmütigen Front der Gegner zu gehören schienen.
Es ist umstritten, ob der Nationalsozialismus dem Kapitalismus oder dem Kommunismus
ähnlich war, ob er als deutsch oder als undeutsch gelten muß, ob er
sich als antimodern oder als modernisierend erwies, ob er revolutionär oder
gegenrevolutionär war, ob er die Triebe unterdrückte oder entfesselte,
ob er Auftraggeber hatte oder nicht, ob er ein monolithisches System erzeugte
oder eine Polykratie, ob seine Massenbasis von Kleinbürgern oder zu einem
beträchtlichen Teil auch von Arbeitern gebildet wurde, ob er von weltgeschichtlichen
Tendenzen getragen war oder ob er ein letztes Aufbegehren gegen den Gang der Geschichte
darstellte. (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 37-38).Sogar der Historiker,
der die Ereignisse auf einer entlegenen Insel schildern will, kommt ohne einen
Begriff von Nicht-Insularität nicht aus, von dem her das Eigentümliche,
eben Inselhafte, dieser Vorgänge besser verstehbar wird. Viel häufiger
sind aber Erscheinungen, die in der Beziehung zu anderen Phänomenen geradezu
ihren Existenzgrund haben. Die Gegenreformation setzt die Reformation voraus,
und eine Geschichte der Gegenreformation, die nicht wenigstens in Durchblicken
auch eine Geschichte der Reformation wäre, ist unvorstellbar. Die Perspektiven,
mittels deren der Nationalsozialismus zu einer ursprünglicheren oder übergeordneten
Realität in Beziehung gesetzt wird, sind zahlreich, aber überschaubar.
Die wichtigsten unter ihnen beruhen keineswegs auf gelehrten Theorien, sondern
sind in konkreten Erfahrungen vieler Hunderttausender von Menschen begründet.
(Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 38-39).Die Weltsituation hat sich mithin
nicht erst 1989/1991 so sehr verändert, daß die Annahme einer essentiellen
Gleichartigkeit der Verhältnisse, welche allein die Furcht vor der Wiederholung
bestimmter Ereignisse rechtfertigen kann, keine Grundlage mehr hat. Die Vermutung,
daß in Deutschland eines Tages ein neuer Hitler große Massen auf gefahrliche
Wege locken und am Ende gar eine neue Version von Auschwitz ins Werk setzen werde,
war von jeher unbegründet und ist heute nur noch töricht. (Ebd.,
1987 bzw. 1997, S. 43).Wenn also die Furcht vor Wiederholungen
gegenstandslos ist und volkspädagogische Besorgnisse überflüssig
sind, dann sollte endlich der Schritt getan werden dürfen, mit dem die nationalsozialistische
Vergangenheit in ihrem zentralen Punkte zum Thema gemacht wird, und dieser zentrale
Punkt ist weder in verbrecherischen Neigungen noch in antisemitischen Obsessionen
zu suchen. Das Wesentlichste am Nationalsozialismus ist sein Verhältnis zum
Marxismus und insbesondere zum Kommunismus in der Gestalt, die dieser durch den
Sieg der Bolschewiki in der russischen Revolution gewonnen hatte. (Ebd.,
1987 bzw. 1997, S. 43).Das vorliegende Buch geht von der Annahme
aus, daß die von Furcht und Haß erfüllte Beziehung zum Kommunismus
tatsächlich die bewegende Mitte von Hitlers Empfindungen und von Hitlers
Ideologie war, daß er damit nur auf besonders intensive Weise dasjenige
artikulierte, was zahlreiche deutsche und nichtdeutsche Zeitgenossen empfanden,
und daß alle diese Empfindungen und Befürchtungen nicht nur verstehbar,
sondern auch großenteils verständlich und bis zu einem bestimmten Punkte
sogar gerechtfertigt waren. In einer Gegenwart, in der den kommunistischen Parteien
mehrerer Länder an einer Regierungsbeteiligung gelegen ist oder war und wo
sie allesamt, jedenfalls in Europa, auf sehr zivile Weise um Zusammenarbeit mit
nicht-terroristischen Linkskräften bemüht sind, bedarf es der gedanklichen
Anstrengung, wenn man sich daran erinnern will, daß »dieselben«
kommunistischen Parteien zwischen 1919 und 1935 überall die Parteien des
»bewaffneten Aufstandes« waren, daß Lenin meinte, »die
Bourgeoisie« sei in aller Welt »bis zum Irrsinn erbittert« (vgl.
a.a.O.), daß man noch 1930 in ganz Europa bebende Angst wahrnahm
und daß der stellvertretende Kriegskommissar Frunse 1924 schrieb: »Allein
schon durch die Tatsache unserer Existenz untergraben wir ihre (der alten, bürgerlichen
Welt) Grundlagen, zerstören wir ihre Stabilität und flößen
dadurch ihren Vertretern das Gefühl erbittertsten Hasses, sinnloser Angst
und eingefleischter Feindschaft gegen alles Sowjetische ein« (vgl. a.a.O.).
Das Erstaunliche ist in Wahrheit, daß bei weitem nicht alle Bürger
und Kleinbürger Europas und Amerikas von diesem Empfinden der Angst und des
Hasses erfüllt waren und daß im Gegenteil von vielen Seiten dem großen
sozialen Experiment in Rußland ein sympathisierendes Interesse entgegengebracht
wurde. Aber wenn Lenins und Frunses Aussagen in dieser Allgemeinheit nicht zutrafen,
so wäre doch nichts törichter als die Annahme, daß nur Hitler
und ein kleiner Kreis von Menschen um ihn herum von eingebildeten Schreckgespenstern
geplagt gewesen seien. (**).
Wer glaubt, daß Hitler in erster Linie ein Alldeutscher gewesen sei, der
das Gespenst des Kommunismus nur benutzt habe, um seine Eroberungsabsichten zu
tarnen, der sollte einmal das 1911 publizierte Buch von Otto Richard Tannenberg
»Groß-Deutschland - Die Arbeit des 20. Jahrhunderts« mit seinem
naiven und großspurigen Optimismus und danach »Mein Kampf« lesen,
und er sollte sich fragen, worin der tiefgreifende Unterschied begründet
liegt, da doch die alldeutschen Ziele so weitgehend übereinstimmen.
(Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 43-44).Das vorliegende Buch nimmt sich
vor, die Beziehung zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten und weiterhin
diejenige zwischen der Sowjetunion und dem Dritten Reich als die für Deutschland,
für die Sowjetunion und für die ganze Welt bedeutendste aller Beziehungen
in den Mittelpunkt zu stellen. Es bleibt dabei insofern auf dem Boden der phänomenologischen
Faschismustheorie, als es von der essentiellen Feindschaft zwischen Kommunisten
und Nationalsozialisten ausgeht und eine Gleichsetzung zu keinem Zeitpunkt für
gerechtfertigt hält. Aber es verläßt gleichwohl den Rahmen der
Totalitarismuskonzeption nicht, weil es sich am Begriff und an der Wirklichkeit
des Liberalen
Systems orientiert, das mit seiner Sicherung der ökonomischen und geistigen
Bewegungsfreiheit der Individuen nicht durch die Herrschaft einer Ideologie bestimmt
und dennoch der Ursprung sowohl der kommunistischen wie der nationalsozialistischen
Ideologie ist. Aber weil der Ansatz der Faschismustheorie bewahrt wird, wird einer
der beiden Ideologien die Priorität zugeschrieben, und die Totalitarismustheorie
erhält damit eine historisch-genetische Dimension .... (Ebd., 1987
bzw. 1997, S. 45).Nicht ganz wenige unter den Mithandelnden und
den Autoren lassen aber gerade Stalin den ursprünglichen Unterschied von
Kommunismus und Faschismus aufheben: Walter Krivitsky, Wladimir Antonov-Owsejenko
und Franz Borkenau meinten, daß durch Stalin der Bolschewismus die Gestalt
des Gegners, nämlich des Faschismus, angenommen habe. (Vgl. a.a.O.)
(Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 47).Ich glaube, daß diese sehr
verschiedenartigen Aussagen nicht schlechterdings unvereinbar sind und daß
auch die schon für Lenin negativen nicht einfach aus Kenntnislosigkeit, Unverständnis
oder bloßer Feindseligkeit entspringen. Im folgenden gehe ich von der einfachen
Grundvoraussetzung aus, daß durch die Revolution der Bolschewiki 1917 ein
welthistorisch völlig neuartiger Tatbestand geschaffen wurde, weil erstmals
in der modernen Geschichte eine ideologische Partei in einem Großstaat allein
die Macht ergriff und auf glaubwürdige Weise ihre Absicht an den Tag legte,
in der ganzen Welt durch die Entfesselung von Bürgerkriegen eine grundlegende
Wandlung herbeizuführen, welche die Erfüllung der Hoffnungen der frühen
Arbeiterbewegung und die Verwirklichung der Vorhersagen des Marxismus bedeuten
würden. Nichts war für die Bolschewiki selbst evidenter, als daß
ein so ungeheures unternehmen äußerst heftige Widerstände hervorrufen
müßte, zumal die Praxis gezeigt hatte, daß die Partei nach der
gewaltsamen Machtergreifung ihre zahlreichen Gegner sowohl an der Front des Bürgerkrieges
wie auch im Hinterlande durch einen präzedenzlosen Klassenkrieg mit der größten
Entschlossenheit bekämpfte, ja ausrottete. (Ebd., 1987 bzw. 1997, S.
47-48).Die eigenartigste und am frühesten erfolgreiche dieser
Widerstandsbewegungen war die Faschistische Partei Italiens, an deren Spitze der
ehemals führende Mann des revolutionären Flügels der Sozialistischen
Partei des Landes stand, Benito Mussolini. Schon dadurch war klar, daß der
Gegensatz schroffer war und daß doch weit mehr an innerer Verwandtschaft
vorhanden sein mußte als im Falle der bürgerlichen Parteien, die darauf
vertrauten, nach den gewohnten Regeln des parlamentarischen Systems der ersten
und auch der zweiten Herausforderung begegnen zu können. Für Hitler
war Mussolini von Anfang an ein Vorbild, und auch seine Partei empfand sich von
vornherein als eine Antwort auf die kommunistische Herausforderung, so gewiß
sie in der bloßen Reaktion nicht aufging und eigenständige historische
Wurzeln hatte wie etwa die alldeutsche Doktrin. Aber von früh an hatte diese
Antwort auch Merkmale einer Kopie, wie sich schon in der bloß abwandelnden
Übernahme des roten Fahnentuches zeigte. Mit der Machtübernahme trat
dieses Abbildmäßige stärker hervor, und schon 1933 benutzten Feinde
und Freunde das Wort Tscheka zur Kennzeichnung des Verfahrens der Gegnerbekämpfung.
Dennoch war Hitler zweifellos davon überzeugt, eine Antwort auf die kommunistische
Herausforderung gefunden zu haben, die besser und dauerhafter war als diejenige
der westlichen Demokratien. Aber schon in der sogenannten Röhm-Affäre
lag nicht mehr eine Antwort und nicht einmal eine Entsprechung, sondern eine Über-Entsprechung
vor. Während des Krieges wurde der Bolschewismus in wichtigen Teilbereichen
für Hitler immer unverkennbarer zum Vorbild .... (Ebd., 1987 bzw. 1997,
S. 48).Doch der Mensch ist im Kern kein kalkulierendes Wesen: Er
ängstigt sich um seine Existenz, er fürchtet die Zukunft, er empfindet
Haß gegen seine Feinde, er ist bereit, sein Leben zu opfern, wo es ihm um
eine große Sache geht. Wo machtvolle Emotionen dieser Art für größere
Gruppen von Menschen maßgebend sind, sollte von Grundemotionen gesprochen
werden. .... Im Alltag mag Politik eine Sache des Interessenkalküls und des
Interessenausgleichs sein; sobald aber Ungewöhnliches und Bedrohliches eintritt,
sind für zahlreiche Menschen Emotionen weit wichtiger als Interessen, auch
wenn diese Emotionen nur in seltenen Fällen den vorgestellten oder vorstellbaren
Interessen direkt entgegengesetzt sind: Empörung, Zorn, Trauer, Haß,
Verachtung, Angst, aber auch Enthusiasmus, Hoffnung, Glaube an eine große
Aufgabe. (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 49).Von solchen Grundemotionen
waren die Massen der russischen Soldaten im Jahre 1917 bewegt, die fürchteten,
in einem schon verlorenen Krieg sinnlos ihr Leben opfern zu müssen; solche
Grundemotionen bestimmten aber auch offiziere, Freikorpskämpfer und Angehörige
des Bürgertums in Italien und Deutschland, die sehr genau wußten, wie
man in Rußland mit ihresgleichen umgegangen war. Von Grundemotionen waren
noch in späteren Zeiten die aktiven Kerne der kommunistischen und der faschistischen
Parteien erfüllt, obwohl sich eine Unmasse von Opportunisten, von Interessenten
und auch von gewöhnlichen Verbrechern an sie angehängt hatte. Als eine
Geschichte von Grundemotionen und deren ideologischen Ausformungen soll im folgenden
die Geschichte der beiden wichtigsten Parteien zweier Weltbewegungen geschrieben
werden, von denen die eine ursprünglicher und also für die andere primär
ein Schreckbild war, die aber dennoch füreinander mehr und mehr zum Schreckbild
und zum Vorbild wurden. (**).
Daher ist die nationalsozialistische Machtübernahme am 30. Januar 1933 nur
ein vorläufiger Ausgangspunkt, und der Geschichte der Sowjetunion wird ebensoviel
Raum gewidmet wie der Erzählung vom Kampf zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten
in der Weimarer Republik und der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland.
(Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 50).Wenn Kommunismus und Nationalsozialismus
in erster Linie als Ideologien und wenn vor allem ihre Führer als Ideologen
verstanden werden, dann wird Hitler als deutscher Politiker ebensowenig richtig
gesehen wie Lenin als russischer Staatsmann. Das heißt nicht, daß
der eine nicht auch ein deutscher Politiker gewesen wäre und der andere ebenfalls
ein russischer Staatsmann. Aber die Frage geht immer in erster Linie nach dem
Überschießen, nach dem Neuen, nach dem Hiatus, die das eigentlich Ideologische
ausmachen, aus dem die bedeutendsten Handlungen hervorgehen. Ideologien können
sehr unterschiedlich sein, aber jede ist durch dieses Überschießen
gekennzeichnet und durch einen Kern von Berechtigtem und Zeitgerechtem, das vielleicht
nur durch das ideologische Übermaß zum Dasein gebracht werden kann,
das aber eben dadurch auch ruiniert werden mag. Im »Zionistischen Tagebuch«
von Theodor Herzl kann man die Entstehung eines Konzepts verfolgen, das später
zu weltgeschichtlicher Wirksamkeit gelangte, aber in was für exorbitante
Hoffnungen und irreale Vorstellungen ist es eingekleidet! (Vgl. Theodor Herzl,
Briefe und Tagebücher, 2. Band: Zionistisches Tagebuch 1895-1899).
Und doch hätte Herzl die Flinte vermutlich sehr rasch ins Korn geworfen,
wenn er nur pragmatisch und rational gedacht hätte. Erst eine neue Situation
kann die Nachgeborenen instand setzen, den realen Kern und die irreale Übersteigerung
zu unterscheiden; die Zeitgenossen dagegen ergreifen oder verwerfen das Ganze
mit aller Leidenschaft, und erst in diesen Kämpfen kann sich allmählich
klären, was Kern und was Überschießen ist. Hitler
verstand sich selbst nicht als Nachfolger Stresemanns oder Papens, sondern als
Anti-Lenin, und in dieser Auffassung stimmte er mit Trotzki überein, der
ihn den »Ober-Wrangel der Weltbourgeoisie« nannte. (Als Anti-Lenin
wird Hitler von Ernst Niekisch charakterisiert; vgl. Ernst Niekisch, Das Reich
der niederen Dämonen, S. 263). (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 50-51).Für
Trotzki freilich hatte Lenin ganz und gar recht, und damit hatte Hitler ganz und
gar unrecht; aber wer die Überzeugung von der absoluten Wahrheit einer Ideologie
nicht teilt, wird allerdings der Meinung sein müssen, daß auch Hitler
nicht in jeder Hinsicht unrecht haben konnte, sondern daß in seinen Auffassungen
und in seinem Handeln ebenfalls Kerne erkennbar sind, in denen etwas zum Vorschein
gelangte, was zeitgerecht und mindestens für zahlreiche Menschen einleuchtend
und bewegend war. Wenn er den Zusammenschluß aller Deutschen zu einem Staat
postulierte, so verlangte er grundsätzlich nichts anderes, als was Mazzini
mit Erfolg für alle Italiener gefordert hatte, und er bewegte sich ebenso
in den Bahnen nationalstaatlichen Denkens wie die meisten seiner Zeitgenossen.
Daß dieser Zusammenschluß aber schon als solcher viel stärkere
Widerstände hervorrufen mußte als der Zusammenschluß aller Italiener,
lag in den besonderen Umständen der Situation der Deutschen in Europa begründet
und war von Hitler nicht zu verantworten. Daß die großdeutsche Einigung
für ihn jedoch kein Selbstzweck, sondern Etappe zu einem größeren
Ziel war und daß er den Widerständen, die er dabei fand, eine ganz
bestimmte und universale Auslegung gab, war das eigentlich Ideologische und bildete
eine neue Dimension. (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 51).Diese
Zusammenhänge zu verfolgen, ist die Aufgabe des Historikers und insbesondere
des Ideologiehistorikers. Er muß es hinnehmen, daß er von denjenigen
kritisiert wird, die im Rückblick dem absoluten Bösen konfrontiert
sein wollen und die im Dienst des absoluten Guten zu stehen glauben. In
dem Gemälde, das er zu malen hat, haben nur Grautöne verschiedener Art
einen Platz, die Benutzung der weißen Farbe ist ihm so gut verwehrt wie
die der schwarzen. (Daß auch die frühen Zeitgenossen zu sehr lebendigen
Gemälden aus verschiedenartigen Grautönen gelangen konnten, beweist
etwa das Buch von Hans Siemsen, Rußland Ja und Nein, 1931). Nur durch
die Darstellung selbst, und nicht durch vorausgeschickte Glaubensbekenntnisse
und Versicherungen, kann er seine Leser davon überzeugen, daß seine
Grautöne Abstufungen aufweisen. Er ist sich ja bewußt, daß zwischen
dem historischen Denken und den Ideologien insofern kein fundamentaler Unterschied
besteht, weil beide abstrahieren und verallgemeinern müssen und den Reichtum
der vielgestaltigen Wirklichkeit nicht in den Blick bekommen. Weil der Mensch
ein denkendes Wesen ist, muß er Ideologien ausbilden und damit ungerecht
sein. Nach der Lehre der Theologen ist nur Gott gerecht, weil er die einzelnen
Dinge schafft, indem er sie denkt, und sie daher nicht durch Begriffe zu entstellen
braucht. Aber historisches Denken kann aus einer neuen Zeitsituation heraus verschiedene
Ideologien in ihrem Gehalt gegeneinander abwägen und in ihrer Wirksamkeit
verfolgen, und es sollte von der Entschlossenheit geleitet sein, dem Willen zur
Verwirklichung von Zwecken nicht nachzugeben, welcher der Grundwille jeder Ideologie
ist. So muß es zwar schon durch seine Fragestellung eine Selektion vornehmen,
aber im Rahmen dieser Auswahl darf es kein höheres Ziel kennen, als ein möglichst
umfassendes und wahrheitsgemäßes Bild des Gegenstandes hervorzubringen.
Nicht erst Hitler wurde als Feind der Menschheit, als Verkörperung des Bösen,
als Zerstörer der Zivilisation bezeichnet, sondern der Historiker weiß
und muß also auch sagen, daß alle diese Ausdrücke von ernstzunehmenden
Beobachtern auf den Bolschewismus angewendet wurden, als noch kaum jemand etwas
von Hitler wußte; nicht Hitler war der erste, der aus einer Machtposition
heraus öffentlich erklärte, er und seine Partei könnten mit einer
nach Millionen zählenden Gruppe von Menschen nicht auf einem Planeten leben,
und daher müsse man sie ausrotten (**)(**)(**)(**).
Diese Feststellungen sind wahr; wer sie kennt und verschweigt, handelt unwissenschaftlich
und unmoralisch, weil er von zahllosen Opfern nur einzelne Gruppen gelten lassen
will. Er handelt überdies inkonsequent, wenn er die Menschen für so
ungleich erklärt, daß er die Möglichkeit ausschließt, er
und seinesgleichen könnten in derselben Situation ebenso schuldig geworden
sein wie diejenigen, die er anklagt. Daß Unterschiede nicht geleugnet werden,
versteht sich gleichwohl von selbst, denn Unterschiedlichkeit ist das Wesen der
Realität. Aber das historische Denken muß sich gegen die Tendenz des
ideologischen und emotionalen Denkens wenden, die Unterschiede zu verfestigen,
die Zusammenhänge auszublenden und die »andere Seite«, die gegnerische,
aus der Erwägung auszuschließen. (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 51-52).Die
intendierte Parteilosigkeit des historischen Denkens kann nicht gottähnlich
und damit irrtumsfrei sein. Sie ist der Gefahr nicht enthoben, bloß auf
besonders versteckte oder subtile Weise Partei zu ergreifen. Aber in einem juristischen
Bilde ist sie nichts anderes als das Verlangen, daß reguläre Gerichtsverfahren
an die Stelle der Standgerichte und Schauprozesse treten, d.h. Gerichtsverfahren,
in denen auch Entlastungszeugen ernsthaft angehört werden und die Richter
nicht bloß formell von den Staatsanwälten verschieden sind. Die einzelnen
Urteilssprüche werden dennoch ganz verschieden sein, aber anders als diejenigen
der Standgerichte kennen sie Zwischenstufen zwischen der Todesstrafe und dem Freispruch.
Trotzdem sind sie nicht irrtumsfrei, und deshalb schließen sie die Revision
nicht aus. (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 52).Auch das historische
Denken muß bereit sein, sich selbst zu revidieren, sofern gute Gründe
vorgebracht werden und nicht bloß empörte Aufschreie, welche nicht
wahrhaben wollen, daß nach Möglichkeit alles verstehbar gemacht werden
muß, daß aber nicht alles Verstehbare verständlich und nicht
alles Verständliche gerechtfertigt ist. Doch es kann nicht gewillt sein,
jemals auf seine eigene Existenz zu verzichten, und erst daraus resultiert eine
unmittelbare und konkrete Parteinahme. Wenn Hitler gesiegt hätte (**),
würde im deutschbeherrschten Europa und wohl auch in großen Teilen
der übrigen Welt für Jahrhunderte die Geschichtsschreibung in der Preisung
der Taten des Führers bestehen. Eine Enthitlerisierung würde
nach allem menschlichen Ermessen nicht möglich sein. Vielleicht wären
die Menschen - von den Opfern abgesehen, über die man nicht reden würde
- glücklicher, weil sie der Not des Vergleichens und Abwägens enthoben
wären; gewiß würden viele der spätgeborenen Antifaschisten
von heute überzeugte und geschätzte Anhänger des Regimes sein.
Nur für historisches Denken und Revidieren würde es keine Stätte
geben, und deshalb würden Geschichtsdenker in diesem System als Gegentypen
gelten und keine Existenzberechtigung haben. Aber nicht einmal dieses Wissen darf
sie veranlassen, sich noch nachträglich unter die kämpfenden Zeitgenossen
einzureihen. (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 52-53).
Schlußpunkt und Vorspiel 1933: Die antimarxistische
Machtübernahme in DeutschlandAls
das wurde der 30. Januar in der Tat und zunächst empfunden: als der Tag der
nationalen Erhebung, der Antwort auf die Schmach des Zusammenbruchs von 1918 -
keineswegs von allen Deutschen, aber von dem nationalen Deutschland, welches die
Augusttage des Jahres 1914 für den erlösenden Durchbruch zur Wahrheit
der Nation gehalten und nur an die Siege geglaubt hatte, die darauf gefolgt waren,
nicht aber an die Niederlagen, nicht an die sich allmählich ausbreitende
Kriegsmüdigkeit im Volk und schon gar nicht an die » Vierzehn Punkte«
des Amerikaners Wilson. Dieses nationale Deutschland reichte aber potentiell in
die Herzen der meisten Deutschen herab, denn die Begeisterung der Augusttage war
ja tatsächlich so gut wie allgemein gewesen, und wenn die Sozialdemokraten
früh einen Verständigungsfrieden erstrebt hatten, so wollte doch 1919
gerade der sozialdemokratische Reichsministerpräsident Scheidemann lieber
seine Hand verdorrt als den Unrechtsvertrag von Versailles unterschrieben sehen.
Was am 30. Januar siegte, war zunächst gar nicht so sehr Hitler, sondern
es war die Geschichtsauffassung, die Geschichtslegende des nationalen Deutschland
mit all der Überzeugungskraft, die dem ganz Simplen und ganz Emotionalen
zukommt. Auf diesen Ton war der erste Aufruf der neuen Reichsregierung vom 1.
Februar gestimmt, und es besteht kein Anlaß zu glauben, daß Hitler
diese ganz konservativen und allgemein nationalen Akzente bloß geheuchelt
und nicht mitempfunden hätte. (Ebd., 1987, S. 59).Doch
dieses nationale Deutschland hatte einen großen Teil derjenigen, die im
August 1914 mit ihm einig gewesen waren, längst von sich ausgeschlossen:
nicht nur die Sozialdemokraten, sondern auch die Katholiken und die Liberalen,
die 1917 an der Friedensresolution des Reichstags mitgewirkt hatten, also alle
jene Systemparteien, welche die Weimarer Republik getragen hatten. Noch unter
den schon irregulären Bedingungen der Reichstagswahl vom 5. März 1933
erhielten diese Parteien nicht sehr viel weniger Stimmen als die NSDAP, und wenn
man ihnen die Kommunisten hätte zuzählen dürfen, würde es
sich etwa um die Hälfte des Volkes gehandelt haben. Weshalb blieb diese Hälfte
so passiv und machte sich kaum noch bemerkbar? Bloß der Enthusiasmus
des nationalen Deutschland hätte schwerlich so viel Lähmung und Regungslosigkeit
hervorgerufen; aber das Deutschland der Jahreswende 1932/33 war heftiger von den
Folgen der großen Krise der Weltwirtschaft erschüttert als jede andere
Nation. In einer solchen Lage wird jedes Ereignis, das aus der Alltagsroutine
herausfällt, mit Hoffnungen begrüßt oder doch mindestens mit der
Bereitschaft, ihm eine Chance einzuräumen. Zahlreiche Arbeitslose, die im
November aus Protest und Verzweiflung der KPD ihre Stimme gegeben hatten, mochten
nun annehmen, daß Hitler vielleicht doch einen Ausweg wisse. Die Bauern,
deren Höfe von der Zwangsversteigerung bedroht waren, die Handwerker, deren
Auftragsbestand immer weiter zurückgegangen war, die Kleinhändler, die
nicht wußten, wie sie ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen sollten:
Sie alle setzten kein Vertrauen mehr in die Ankurbelungsmaßnahmen oder die
Steuergutscheine Papens und Schleichers, aber sie ließen sich deshalb noch
nicht von den radikalen Vorschlägen Thälmanns überzeugen, die Deutschland
auf Gedeih und Verderb mit der Sowjetunion zusammenbinden mußten. So vertrauten
sie demjenigen, der voller Entschlossenheit war und doch die umwälzenden
Maßnahmen ablehnte, deren Folgen unabsehbar sein würden, und auch wenn
sie bloß passiv blieben, lähmten sie doch diejenigen, die zu einem
Widerstand aufriefen, der zu einem vollständigen Umsturz führen mußte.
(Ebd., 1987, S. 59-60).Die Furcht, daß ein solcher Umsturz
möglich sei und von starken Kräften erstrebt werde, war vermutlich die
mächtigste Antriebskraft der nationalen Erhebung, die so rasch in die »nationalsozialistische
Revolution« überging. Noch fundamentaler als die Begeisterung des nationalen
Deutschland und als die Hoffnungen der von der Krise geschüttelten Bevölkerung
war die Angst des bürgerlichen Deutschland vor einer bevorstehenden kommunistischen
Revolution. Tatsächlich war die KPD ja die stärkste Partei in der Hauptstadt
des Reiches, und während des ganzen Februar war die Luft voll von Gerüchten
über die Bürgerkriegsvorbereitungen der Kommunisten, über geheime
Waffentransporte, ja über Pläne, die deutschen Kirchen und Museen in
Brand zu stecken. Es ist schwerlich zu bezweifeln, daß Hitler die weit verbreiteten
Sorgen und Ängste teilte. Zwar lehnte der Vorstand der Sozialdemokratischen
Partei schon am 30. Januar den Vorschlag der Kommunisten ab, gemeinsam zum Generalstreik
aufzurufen, und das war nach allen Prämissen der wechselseitigen Feindseligkeit
nicht erstaunlich, aber im ganzen Reich fanden doch eine Anzahl schwerer Zusammenstöße
statt, und nicht immer waren die Nationalsozialisten die Angreifer. Beim Rückmarsch
vom Fackelzug des 30. Januar war der Führer des bei den Kommunisten berüchtigten
Mordsturms 33, Eberhard Maikowski, erschossen worden, und wenig später
beherrschten nach einer Meldung der Roten Fahne bewaffnete Arbeiter während
eines 24stündigen Generalstreiks in Lübeck die Straße. An der
Entschlossenheit Hitlers und Görings, der nun die Befehlsgewalt über
die preußische Polizei innehatte, sich mit allen Mitteln durchzusetzen,
konnte von Anfang an kein Zweifel bestehen. Der Brand des Reichstags am 27. Februar
beschleunigte die Entwicklung, aber er brachte sie keineswegs hervor. Die Listen,
anhand deren fast alle kommunistischen Reichstags- und Landtagsabgeordneten sowie
zahlreiche andere Funktionäre verhaftet wurden, waren schon während
der letzten Weimarer Jahre von der Polizei vorbereitet worden, und Görings
Schießerlaß datierte vom 17. Februar. Eine Gelegenheit, den Ausnahmezustand
zu verkünden, würde sich bestimmt gefunden haben, wenn die Notverordnung
des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat nicht schon am 28. Februar
hätte erlassen werden können. Vermutlich hätte die Regierung Hitler
ohne den Reichstagsbrand bei den Wahlen vom 5. März nicht die absolute Mehrheit
erhalten, aber auch ohne die Majorität der Mandate hätte sie den neugewählten
Reichstag so unter Druck setzen können, daß dieser mit Zweidrittelmehrheit
das Ermächtigungsgesetz und damit seine Selbstentmachtung beschlossen hätte,
wie es die Abgeordneten unter dem Eindruck der aufmarschierten SA, aber mehr noch
angesichts der Erwartungen der Offentlichkeit am 23. März dann tatsächlich
taten. Die immer noch ungeklärte Frage nach dem Urheber bzw. den Urhebern
des Reichstagsbrandes ist nur im Zusammenhang der übergreifenden Frage wichtig,
ob auf der Seite der regierenden Nationalsozialisten genuine Emotionen vorlagen
oder ob zynische Machtmenschen sogar ein überaus riskantes Verbrechen nicht
scheuten, um eine Alleinherrschaft zu begründen, die sie sonst nicht hätten
gewinnen können. Alles spricht dafür, daß auch die führenden
Nationalsozialisten von Oberzeugungen und von Emotionen beherrscht waren, die
ein solches Verbrechen nicht erforderlich machten, wie immer der konkrete Vorgang
gewesen sein mag. Die stärksten dieser Oberzeugungen und Emotionen bezogen
sich nun allesamt auf den November 1918 in Deutschland und auf die Revolution
in Rußland; es handelte sich um antibolschewistische Emotionen, und sie
verstanden sich mit so viel Selbstverständlichkeit als antimarxistisch, daß
sie zwar offensichtlich in bürgerlichen Empfindungen verwurzelt waren, aber
dennoch darüber hinausgingen. (Ebd., 1987, S. 60-61).Am
10. Februar sprach Hitler im Berliner Sportpalast. Ober dem Rednerpult war in
großen Lettern der Satz zu lesen: »DER MARXISMUS MUSS STERBEN.«
Und um dieses Motto drehte sich die ganze Rede, deren zentrale Sätze die
folgenden waren: »Der Marxismus bedeutet die Verewigung der Zerreißung
der Nation. .... Nach außen pazifistisch, nach innen terroristisch - nur
so allein konnte sich diese Weltanschauung der Zerstörung und der ewigen
Verneinung behaupten. .... Entweder der Marxismus siegt oder das deutsche Volk,
und siegen wird Deutschland.« (Ebd., 1987, S. 61).Am
2. März hielt er abermals eine Rede im Sportpalast, und diesmal hielt ihn
keine staatsmännische Vorsicht zurück, sondern er richtete den Blick
über die deutschen Grenzen hinaus: »Hat dieser Marxismus dort, wo er
hundertprozentig gesiegt hat, dort, wo er wirklich und ausnahmslos herrscht, in
Rußland, die Not beseitigt? Die Wirklichkeit spricht hier geradezu
eine erschütternde Sprache. Millionen von Menschen sind verhungert in einem
Lande, das eine Kornkammer sein könnte für die ganze Welt. ..Sie sagen
Brüderlichkeit. Wir kennen diese Brüderlichkeit. Hunderttausende an
Menschen, ja Millionen mußten erschossen werden im Namen dieser Brüderlichkeit
und infolge des großen Glücks .... Sie sagen weiter, daß der
Kapitalismus dadurch überwunden würde. .... Die kapitalistische Welt
muß mit ihren Krediten herhalten, die Maschinen liefern und die Fabriken
einrichten, die Ingenieure, die Vorarbeiter zur Verfügung stellen, alles
muß diese andere Welt tun. Sie können das nicht bestreiten. Und das
Arbeitssystem in den sibirischen Holzgebieten möchte ich nur eine Woche lang
denjenigen empfehlen, die in Deutschland für dieses Prinzip schwärmen.
.... Wenn vor diesem Wahnsinn ein schwaches Bürgertum kapitulierte - den
Kampf gegen diesen Wahnsinn, den nehmen wir auf.« (Ebd., 1987, S.
62).In derselben Ausgabe des Völkischen Beobachters
war eine große Anzeige zu lesen, in der 22 aus Rußland zurückgekehrte
Arbeiter zur Wahl Adolf Hitlers aufforderten, und zwar mit der Begründung,
Sowjetrußland sei für die Arbeiter und Bauern die Hölle, weil
sie bei schwerster Arbeit ein elendes Hungerdasein führen müßten.
(Ebd., 1987, S. 62).Immer wieder taucht in den Reden Hitlers während
dieser Monate die eine Grundforderung auf, den Marxismus zu vernichten, ihn konsequent
und unbarmherzig auszurotten. Aber diese Forderung ist nicht selten verknüpft
mit der Erinnerung an die Rucksackspartakisten von 1918, und wenn Hermann
Göring am 3. März verkündete, hier habe er nur zu vernichten und
auszurotten, so wandte er sich wenige Tage später seinen Gegnern mit der
leidenschaftlichen Anklage zu: »Als wir vor 14 Jahren von der Front zurückkamen,
hat man unsere Achselstücke und Ehrenzeichen, hat man uns in den Dreck getreten,
hat man die Fahnen verbrannt, die siegreich einer Welt trotzten. Ihr habt damals
unser Innerstes mißhandelt, ihr habt uns das Herz zertreten, wie ihr Deutschland
zertreten habt.« Den Kommunisten gegenüber war nun in der Tat seine
Frage berechtigt: » Was hätte man getan, wenn man an unserer Stelle
die Macht erobert hätte? Man hätte uns ohne viel Überlegen einen
Kopf kürzer gemacht.« Das gleiche hatte dem Sinn nach im Jahre 1929
der sozialdemokratische Reichstagspräsident Paul Löbe zum Ausdruck gebracht,
aber er hatte seiner Partei gerade das Verdienst zugeschrieben, die wechselseitige
Vernichtung der beiden extremen Parteien verhindert zu haben. Und auch Hitler
hatte in der Rede vom 2. März die angebliche Erbärmlichkeit entlassener
und nun um ihre Pension bangender sozialdemokratischer Polizeipräsidenten
so stark von der Entschlossenheit und Blutrünstigkeit der Kommunisten abgehoben,
daß es nahezu unbegreiflich schien, wie zwei so verschiedenartige Phänomene
unter den gleichen Begriff des Marxismus gebracht werden konnten. Aber eben dieser
Antimarxismus war das Hauptkennzeichen der nationalsozialistischen Ideologie,
und eben deshalb wandte sie sich auch gegen das Bürgertum, dessen Emotionen
sie so weitgehend teilte, und eben deshalb nahm sie eine abermalige Ausweitung
auf die ganze moderne Geschichte vor, wenn etwa Rudolf Heß im Juli sich
mit der folgenden Begründung gegen Ausschreitungen der SA wandte: »Die
jüdisch-liberalistische französische Revolution schwamm im Blut der
Guillotine. Die jüdisch-bolschewistische russische Revolution hallt wider
von millionenfachen Schreien aus tschekistischen Blutkellern. Keine Revolution
der Welt verlief so diszipliniert wie die nationalsozialistische. .... Jeder soll
wissen, daß wir weit davon entfernt sind, dem Gegner mit Milde zu begegnen.
Er muß wissen, daß jeder von Kommunisten oder Marxisten an einem Nationalsozialisten
verübte Mord von uns zehnfach gegenüber kommunistischen oder marxistischen
Führern gesühnt wird. .... Jeder Nationalsozialist muß sich aber
auch bewußt sein, daß MißhandeIn von Gegnern jüdisch-bolschewistischer
Gesinnung entspricht und des Nationalsozialismus unwürdig ist.«
(Ebd., 1987, S. 62-63).So wird in den Äußerungen führender
Nationalsozialisten immer wieder deutlich, daß ihren Empfindungen und Handlungen
eine Urerfahrung, eine Urbeängstigung, ein Urhaß zugrunde lag: die
Erfahrung von Offizieren und auch von Unteroffizieren angesichts der Revolution
von 1918, als sie plötzlich ihre Autorität verloren, als kampfkräftige
Truppenkörper von heute auf morgen zu deliberierenden Haufen wurden, als
ihnen die Achselstücke heruntergerissen wurden, als man ihnen ins Gesicht
spuckte, als sie »Kriegsverbrecher« und »Schweine« genannt
wurden. Und diese Erfahrung erhielt das eigentliche Gewicht anscheinend erst durch
den Hinblick auf die russische Revolution, wo sich ähnliches mit viel gravierenderen
Folgen abgespielt hatte, wie aus den Erinnerungen der Baltikumkämpfer, aus
den Erzählungen der vielen russischen Emigranten und deutschrussischen Flüchtlinge
hervorging, aber auch aus der umfangreichen Literatur über die russische
Revolution, ob sie nun von Monarchisten oder von Sozialdemokraten geschrieben
war. Und diese Offiziere waren nicht isoliert, sondern sie durften sich selbst
als eine Auslese des Bürgertums betrachten, aus dem sie mit wenigen Ausnahmen
hervorgegangen waren. Viele Bürger empfanden mindestens zeitweise nicht viel
anders als sie, aber einem radikalen Antimarxismus stimmten längst nicht
alle zu, da sie doch die Sozialdemokraten als manchmal unbequeme, aber immerhin
umgängliche Partner kennengelernt hatten. Diejenigen jedoch, ob ehemalige
Offiziere oder einfache Bürger, denen ideologische Konsequenz geboten schien,
mußten nach Ursachen und Urhebern der gesellschaftlichen Krankheit suchen,
und dann konnten sie weder beim Kommunismus stehenbleiben noch beim Marxismus,
sondern sie mußten auch die Schwäche des Liberalismus anklagen und
vielleicht am Ende in den Juden eine letzte und entscheidende Ursache finden.
(Ebd., 1987, S. 63-64).Was aber war das Positive, an das man sich
halten konnte, wenn man so viel Negatives wahrnahm? Am ehesten war es die
gegen alle Gefahren gesicherte Einheit und Gesundheit des Volkes, die freilich
nur auf einem langen Wege zu erreichen war. Längst nicht alle ehemaligen
Offiziere und schwerlich auch nur die Mehrheit der deutschnationalen Bürger,
ja nicht einmal alle nationalsozialistischen alten Kämpfer wollten diesen
Weg mitgehen, aber sie konnten sich nicht leicht gegen die Konsequenz sträuben,
mit der nun Zug um Zug bis zum Juli alle Parteien aufgelöst oder zur Selbstauflösung
gezwungen wurden, mit der das Arierprinzip durchgesetzt und das Gesetz zur Verhütung
erbkranken Nachwuchses erlassen wurde. Wenn die nationale Erhebung mit aller Konsequenz
antimarxistisch sein wollte, dann mußte sie zur nationalsozialistischen
Revolution werden, und die nationalsozialistische Revolution mußte wiederum
von Adolf Hitler schon im Sommer 1933 für abgeschlossen erklärt werden,
weil sie nur eine politische Umwälzung sein wollte, welche alle Macht in
die Hand der einen Partei und ihres Führers legte, aber gerade nicht ein
ökonomischer Umsturz nach dem russischen Muster, der keineswegs bloß
in Hitlers Augen sogar im Ursprungsland verhängnisvoll gewirkt hatte und
in den Industrieländern der Welt noch schlimmere Folgen nach sich ziehen
würde. Für Hitler und alle Vorkämpfer der nationalen Erhebung war
die Sowjetunion 1933 ganz und gar ein Schreckbild (**).
Aber war sie in der nationalsozialistischen Revolution nicht gleichwohl ansatzweise
ein Vorbild? (Ebd., 1987, S. 64).In einer Unterredung
mit einem deutschen Diplomaten soll der Außenminister Litwinow gesagt haben,
die Sowjetunion habe Verständnis dafür, daß Deutschland seine
Kommunisten so behandle, wie die Sowjetunion ihre Staatsfeinde behandelt habe.
(Vgl. a.a.O.). Jedenfalls waren scharfe Maßnahmen gegen Kommunisten und
die kommunistische Presse vom ersten Tage an ein Hauptkennzeichen des nationalsozialistischen
Regimes, und gegen die Kommunisten richteten sich in allererster Linie der Schießerlaß
Görings vom 17. Februar und die Einrichtung einer Hilfspolizei aus SA und
SS am 22. Februar. Schon jetzt wurde »rücksichtslos von der Waffe Gebrauch«
gemacht, und schon jetzt wurden Gefangene »auf der Flucht erschossen«.
Aber von Terror kann doch erst für die Zeit nach dem Reichstagsbrand die
Rede sein, und er griff sogleich weit über die Reihen der Kommunisten hinaus,
obwohl die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat lediglich der »Abwehr
kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte« dienen sollte.
(Ebd., 1987, S. 64).Wie sehr es sich dabei auch um den Gegensatz
zwischen der anhebenden nationalsozialistischen Revolution und der nationalen
Erhebung handelte, wurde durch ein Buch erkennbar gemacht, das am 15. Mai
1933 im Verlag von Jakov Trachtenberg erschien, der durch die Veröffendichung
von antibolschewistischer Literatur bekannt geworden war. Es enthält eine
Anzahl von Stellungnahmen jüdischer Organisationen und Persönlichkeiten,
welche gegen die ausländische »Greuelpropaganda« gerichtet sind.
Die meisten sind vorsichtig formuliert, wie angesichts des von nationalsozialistischer
Seite ausgeübten Drucks nicht anders zu erwarten war; sie erwähnen »Mißhandlungen«,
»Ausschreitungen« oder »Exzesse«, weisen jedoch die Nachrichten
über genuine Greueltaten zurück. Aber an verschiedenen Stellen wird
doch unübersehbar, wie sehr gerade die größten Organisationen
und einige der wichtigsten Männer nationaldeutsch und bürgerlich gesinnt
waren. So rückt der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten mit großer
Schärfe von der »unverantwordichen Hetze« ab, die »von
sogenannten jüdischen Intellektuellen im Auslande gegen Deutschland unternommen
wird«, der Ehrenvorsitzende des Verbandes nationaldeutscher Juden, Dr. Max
Naumann, erblickt in der Greuelpropaganda »nichts anderes als eine Neuauflage
der Kriegshetze gegen Deutschland und seine Verbündeten von einst«,
und der Vorsitzende des Deutschen Rabbinerverbandes, Leo Baeck, erklärt,
die Hauptprogrammpunkte der nationalen deutschen Revolution, nämlich die
Überwindung des Bolschewismus und die Erneuerung Deutschlands, seien auch
Ziele der deutschen Juden, die mit keinem Lande Europas so tief und so lebendig
verwachsen seien wie mit Deutschland. Trachtenberg selbst spricht in seiner Vorrede
davon, die Hetze wegen der angeblichen Greueltaten in Deutschland könne letzten
Endes zu tatsächlichen Greueltaten führen, denn die gewissenlosen Urheber
des Lügenfeldzuges wollten »offenbar einen neuen Krieg heraufbeschwören«.
Wenn die Nationalsozialisten nichts anderes gewesen wären als deutsche Nationalisten
oder bloße Antikommunisten, hätten sie sich offensichdich mit einem
Großteil der deutschen Juden leicht verständigen können.
(Ebd., 1987, S. 68).Als Triumph eines neuen deutschen Nationalismus
wurde die Machtübernahme Hitlers aber von den meisten ausländischen
Presseorganen auch dann interpretiert, wenn den Nachrichten über die Judenverfolgungen
viel Platz eingeräumt wurde. Der Manchester Guardian fürchtete
und haßte vor allem » Junker und Reaktionäre«, während
er in Hitler lediglich ein Instrument dieser Leute sah, und die Times glaubte
nicht, daß Hider seine Verbündeten nach der Art Mussolinis überspielen
werde, denn ihm fehlten die »außerordendichen Fähigkeiten«
des italienischen Diktators. Auch die Franzosen fürchteten die Reichswehr
oder den Kronprinzen weit mehr als Hitler, der nicht selten abschätzig mit
dem General Boulanger verglichen wurde. In beiden Ländern stimmten also die
Linke und die Rechte darin überein, daß sie in Hitler nichts wirklich
Neuartiges wahrnahmen, sondern sich immer noch den Reaktionären oder den
Militaristen konfrontiert glaubten, gegen die man im weltkrieg so hart hatte kämpfen
müssen. Nur die Daily Mail von Lord Rothermere faßte Hitler
primär als Antikommunisten auf, und im Oktober konnte sie einem höchst
prominenten Autor Platz für die These einräumen, der Kommunismus müsse
folgen, wenn Hitler scheitere, nämlich dem Kriegspremier Lloyd George. (13.10.1933).
Vergleiche mit der russischen Revolution waren ziemlich selten, aber die Berlingske
Tidende machte bei der Besprechung des »Braunbuchs über Reichstagsbrand
und Hitlerterror« am 8. September die Bemerkung, es geschähen viel
entsetzlichere Dinge, wo Kommunisten die Macht hätten. Noch seltener waren
Bemerkungen wie die, Hitler sei nicht wirklich ein Antikommunist und ebensowenig
ein Konservativer. Wenngleich die Beunruhigung beträchtlich war und sehr
verschiedenartige Meinungen vorgebracht wurden, so interpretierte doch keine der
ausländischen Zeitungen die Machtergreifung Hitlers als ein Ereignis, das
weltgeschichtliche Folgen haben würde. (Ebd., 1987, S. 68-69).
Rückblick auf die Jahre 1917-1932: Kommunisten,
Nationalsozialisten, SowjetrußlandDie
Revolution des militärischen Zusammenbruchs, auf welche sich die Nationalsozialisten
mit Worten und Handlungen immer wieder bezogen, hatte in Rußland bereits
anerthalb Jahre früher stattgefunden als in Deutschland, im März 1917,
aber sie war ein längerer und schmerzhafterer Prozeß, weil sie die
endgültige Niederlage nicht voraussetzen konnte, sondern zunächst gerade
verhindern wollte. Die Machtergreifung der Bolschewiki vom November bedeutete
zum einen die Fortsetzung und die Vollendung dieses Prozesses, aber sie war auch
der Anfang einer Gegenbewegung zu der Auflösung der Macht und des Zusammenhalts
des riesigen Reiches, wie sich schon nach kurzer Zeit zeigen sollte. Die Bolschewiki
verstanden ihre Oktoberrevolution (der russische julianische Kalender blieb
um 13 Tage hinter dem gregorianischen Kalender zurück: dem 7. November entsprach
also der 25. Oktober - Anfang 1918 erfolgte die Angleichung an die im übrigen
Europa übliche Zeitrechnung) jedoch als Erfüllung und Verwirklichung
der Intentionen, die zwar nicht die Politiker, wohl aber die großen Massen
der Soldaten und des Volkes schon während der Februaurrevolution geleitet
hatten, nämlich die Sehnsucht nach Frieden, nach sozialer Gerechtigkeit und
nach Freiheit. Das Verhältnis der Machtergreifung zur Volksrevolution war
also ambivalent, während die nationalsozialistische Machtübernahme in
Deutschland eine bloß negative Beziehung zu der viel wieter entfernten Zusammenbruchsrevolution
haben wollte. (Ebd., 1987, S. 72).Dieser Sowjet ... war vielmehr
überzeugt, daß Rußland nur durch die Zusammenarbeit aller linksgerichteten
Parteien einschließlich der bürgerlichen Partei der »Konstitutionellen
Demokraten« (Kadetten; wegen: K. D.; HB)
gerettet werden könne .... Damit schlug er freilich einen Weg ein, der auch
bei den westeuropäischen Sozialisten bis zum Kriegsausbruch heftig umstritten
gewesen war, den Weg der Zusammenarbeit mit dem Klassenfeind, dem Bürgertum
(das es ja übrigens in Rußland so gut wie gar
nicht gab, weshalb es später für die Revolutionäre ein noch
leichteres Spiel war, im Grunde jeden und alle als Klasse und also als
Feind - nämlich Klassenfeind - zu erfinden, um jeden und alle töten
zu können; Anm HB); aber er meinte mit guten Gründen, daß
jeder andere Weg zum Unheil eines Sepeartfriedens führen müsse, denn
die dauernden Niederlagen der russischen Truppen gegen die deutschen Armeen waren
die eigentliche Ursache des Friedenswunsches, und die Heere der Deutschen standen
tief in Rußland .... (Ebd., 1987, S. 74).Lenin war
... zusammen mit einer Anzahl seiner wichtigsten Gefährten durch Deutschland
heimgekehrt, und es sprang ins Auge, daß die deutsche Regierung sich von
bestimmten Absichten hatte leiten lassen, als sie ihre Zustimmung zu einem so
ungewöhnlichen Vorgang gab. Außerdem verfügte die Partei über
auffalend große Mittel. Welcher Gedanke lag näher als der, daß
Lenin im Auftrag der Deutschen für ein baldiges Auscheiden Rußlands
aus dem Krieg arbeitete? Es ist in der Tat seit langem kein Geheimnis mehr,
daß genau dieser Gedanke für die deutsche Führung und nicht zuletzt
für den Genaral Ludendorff maßgebend gewesen war und daß schon
seit 1915 erhebliche Geldsummen für die revolutionäre Agitation nach
Rußland geflossen waren, und zwar durch Verrmittlung des früheren Limkssozialisten
Alexander Parvus-Helphand, der durch den Krieg zum Sozialpatrioten geworden,
aber ein Hasser des Zarismus geblieben war. Mit gutem Grund konnte daher der Staatssekretär
von Kühlmann daher im September schreiben, ohne die stetige weitgehende Unterstützung
durch die deutsche Regierung hätte die Bolschewiki-Bewegung nie den Umfang
annehmen und Einfluß erringen können, den sie heute besitze.
(Ebd., 1987, S. 78).Kaum eine Revolution glich jemals weniger einer
Volksrevolution, wo sich große Massen von Menschen in einen erbitterten
Kampf gegen die die Übergriffe einer herrschendsüchtigen Regierung stürzen:
Auf dem Newski-Prospekt herrschte lebhafter Publikumsverkehr, ... die Theater
waren voll besetzt. Aber einzelne Truppenteile und Abteilungen der Roten Garde,
der Parteiarmee der Bolschewiki, besetzten die Peter-Pauls-Festung und die Brücken,
der Kreuzer »Aurora« gab einige Schüsse ab, die keinen nennenswerten
Schaden anrichteten, die Regierungstruppen im Winterpalast zogen sich größtenteils
unauffällig zurück und überließen ihren Platz langsam einsiickernden
Aufständischen,w elche die Provisorische Regierung einschließlich
der sozialistischen Minister verhafteten, wenn auch ohne Kerenski, der rechtzeitig
entflohen war. Als der Zweite Sowjekongreß eröffnet wurde, waren
schon die Plakate zu lesen, die den Sturz der Provisorischen Regierung
verkündeten, und die Delegierten wurden mit der Mitteilung empfangen, daß
eine neue Provisorische Regierung aus Mitgliedern der Partei der Bolschewiki
unter dem Vorsitz von Lenin gebildet sei. Die Delegierten der Sozialrevolutionäre
protestieren aufs heftigste gegen die verbrecherische Machtergreifung einer
Partei, die den Kongreß vor vollendete Tatsachen stellte, und sie verließen
den Saal, während Trotzki ihnen höhnisch nachrief, sie gehörten
auf den Abfallhaufen der Weltgeschichte. So war die Oktoberrevolution in
der Tat vor allem der Putsch einer sozialistischen Partei gegen die anderen sozialistischen
Parteien und nicht zuletzt gegen die Intentionen des Sowjetkongresses,
der zwiefellos dem überwältigenden Massenwunsch entsprochen und eine
Sowjetisierung aus den sozialistischen Parteien .. gebildet haben würde.
Lenins Motiv kann nur die Überzeugung gewesen sein, daß das Fortschreiten
der Anarchie und der Auflösung, die im März begonnen hatten, unaufhaltsam
werden würde, wenn er in einem Kabinett ... gebunden wäre, und daß
nur eine Diktatur seiner Partei jetzt das Notwendige tun könne, nämlich
Rußland z uretten und die Weltrevolution in Gang setzen. Nichts war im Vergleich
zum März und zum September eigentlich neu .... Eben hier folgt die klarste
Vergleichbarkeit mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland
am 30. Januar 1933. Auch in Deutschland machte die Entschlossenheit den Unterschied
aus gegenüber den mächtigen und bereits regierenden Koalitionspartnern,
mit denen man im Programm weitgehend übereinstimmte. Und von der bolschewistischen
Gegenrevolution war sehr viel früher die Rede als von der nationalsozialistischen.
(Vgl. auch: Peter Scheibert, Lenin an der Macht, a.a.O. S. 303). Aber gleichwohl
war nicht daran zu zweifeln, daß der November in der Spur des März
blieb und daß Adolf Hitler sich auf die Seite des Generals Kornilov (d.h.:
gegen Lenin; HB) gestellt hätte, wenn er, wie Alfred Rosenberg,
in Rußland gewesen wäre. (Einer der schärfsten Gegner schon der
Februarrevolution, Wladimir M. Purischkewitsch, äußerte sich
damals über die wünschenswerten Maßnahmen mit beinahe den gleichen
Worten, wie Hitler sie einige Jahre später in Mein Kampf verwenden
sollte: »Wenn 1000, 2000, vielleicht 5000 Lumpen an der Front vor die Gewehre
gestellt worden wären und einige Dutzend im Hinterland, würden wir nicht
eins so präzedenzlose Schmach erlitten haben.«). (Ebd., 1987,
S. 80-81).Es bedurfte nicht der Gründung der Tscheka,
der »Außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution
und der Sabotage«, um den Terror in Gang zu setzen; er war ja zunächst
nicht viel anderes als die wohlwollende Zulassung und Förderung dees Massenzorns
gegen die Burschui und deren Parteien durch den Rat der Volkskommisare.
(Ebd., 1987, S. 83).Das Dekret über den »roten Terror«
vom 5. September bildete die letzte Etappe auf dem Weg einer Klassenvernichtung,
für die es in der europäischen Geschichte ebensowenig einen Präzedenzfall
gab wie für die Ermordung der Zarenfamilie, und es ist nicht verwunderlich,
daß den Beobachtern immer wieder das Wort asiatisch über die
Lippen kam. Das Dekret bestimmte, »daß es unumgänglich ist, die
Sowjetrepublik gegen ihre Klassenfeinde durch das Mittel von deren Isolierung
in Konzentrationslagern zu stärken und daß alle Personen erschossen
werden müssen, die mit den Organisationen, Verschwörungen und Meutereien
der Weißen Garden Berührung haben. ..«. (Vgl. a.a.O.). Schon
einige Tage vorher war verkündet worden, daß alle Konterrevolutionäre
und alle Inspiratoren von Konterrevolutionären verantwortlich gemacht werden
würden. Die Definitionen waren mithin so unbestimmt, daß jeder beliebige
von der Tscheka ohne Verfahren erschossen werden konnte, und es handelte sich
nicht einmal um eine genuine Neuerung, da doch schon seit Anfang des Jahres den
Wachen, welche die zur Zwangsarbeit herangezogenen Bourgeois beaufsichtigten,
auferlegt war, bei Widerstand oder sogar bei Widerrede von der Waffe Gebrauch
zu machen. (Vgl. a.a.O.). (Ebd., 1987, S. 87).Es wäre
also nicht richtig zu sagen, daß das Regime der Bolschewiki von seinen Gegnern
bedrängt und in einen Bürgerkrieg verwickelt worden sei und bei der
Verteidigung große Härte und manchmal schlimme Grausamkeit an den Tag
gelegt habe. Das Regime war vielmehr von Anfang an eine aktive Kraft, die, auf
eine momentane Massenstimmung gestützt, allen ihren politischen Gegnern und
allen gesellschaftlichen Kräften, die nicht zu den Armen oder Sklaven
zählten, den Krieg erklärt und die Vernichtung angesagt hatte. Und dabei
erwies sich sehr rasch, daß auch Arbeiter von der Bekämpfung und Vernichtung
nicht ausgenommen waren, wenn sie sich der Parteidiktatur nicht unterwarfen. Als
sich am Tage nach der Auflösung der Verfassunggebenden Versammlung eine Protestversammlung
bildete, schoß die Rote Garde in die Menge, und etwa zwanzig Tote blieben
auf der Straße. Die offizielle Mitteilung behauptete, es habe sich um »Kleinbürger«
gehandelt. Aber als sich in den nächsten Monaten eine unabhängige
Arbeiterbewegung entwickelte, da konnte man in deren illegalen Publikationen Sätze
wie die folgenden lesen: »Der Arbeiter der an der Tür stand, erwiderte
(dem Kommissar), nur Arbeiter könnten an der Versammlung teilnehmen. Der
Kommissar zog daraufuin den Revolver und erschoß den Arbeiter.« (Vgl.
a.a.O.). Der frühe Bericht eines anderen Arbeiters über seinen Aufenthalt
im Tscheka-Gefängnis Taganka schließt mit dem Satz, über ganz
Rußland seien solche »Friedhöfe der Lebendigen« verbreitet,
wo man Tag für Tag unter dem Dröhnen von Lastwagenmotoren Erschießungen
vornehme. (Ebd., 1987, S. 87).In
diesem Zusammenhang findet auch eine Äußerung ihren Platz, die in ihrer
Ungeheuerlichkeit zunächst unglaubwürdig klingt, nämlich jene Sätze,
die Grigorij Sinovjew am 17. September 1918 in einer Parteiversammlung zu Petrograd
formulierte: »Von den hundert Millionen der Bevölkerung in Sowjetrußland
müssen wir neunzig für uns gewinnen. Mit den übrigen haben wir
nicht zu reden, wir müssen sie ausrotten.« (**)(**)(**).
(Ebd., 1987, S. 89).Mithin war der Spartakusbund und waren die
internationalistischen Sozialisten die Partei eines Glaubens, die Partei der Gottesstreiter,
wie man unter Verwendung naheliegender Analogien sagen könnte, ... von jeher
haben Gottesstreiter den Willen gehabt, die Gottlosen auszurotten und das Reich
der Ungerechtigkeit vom Antlitz der Erde zu vertilgen. So war das große
Recht der Kriegsgegnerschaft mit einem Glauben verknüpft, der notwendigerweise
mit Liebknecht die Ersetzung des Burgfriedens durch den Burgkrieg oder
mit Lenin die Umwandlung des Krieges in den Bürgerkrieg erstrebte.
(Ebd., 1987, S. 98).In den Unruhen des November und Dezember waren
die Spartakisten mindestens ebensosehr Opfer wie Täter, aber die Furcht vor
russischen Verhältnissen wirkte sich auf entscheidende Weise aus, wenn sich
auch nicht leugnen läßt, daß einige lumpenproletarische und bloß
militante Elemente sich angeschlossen hatten und dazu beitrugen, die Abneigung
und den Haß gegen Spartakus zu verstärken. Es war eine überaus
symptomatische Tatsache, daß Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg kein Mandat
zur Teilnahme am ersten Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte
erlangen konnten, der Mitte Dezember in Berlin stattfand. Dennoch war es ein vielbeachtetes
Ereignis, als sich die Delegierten des Spartakusbundes vom 30. Dezember 1918 bis
zum 1. Januar 1919 im Preußischen Abgeordnetenhaus zusammenfanden, um die
»Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund)« zu gründen.
(Ebd., 1987, S. 101).Daß sich hier nicht bloß eine
deutsche Partei versammelte, wurde auf symbolische Weise deutlich, als ein bedeutender
Vertreter der bolschewistischen Partei, Karl Radek, eine große Rede hielt.
Und es war ebenfalls charakteristisch, daß er die deutsche Arbeiterschaft
ausdrücklich als den älteren Bruder der viel jüngeren und organisatorisch
weit weniger erfahrenen Arbeiterschaft Rußlands bezeichnete, dessen Auftreten
auf der weltgeschichtlichen Bühne die russischen Arbeiter mit tiefer Freude
erfülle. Tatsächlich war ja Karl Liebknecht seit seinem öffentlichen
Protest gegen den Krieg am 1. Mai 1916 mindestens bis zur Machtergreifung der
Bolschewiki unter den Kriegsgegnern aller Länder ein viel bekannterer Name
gewesen als Wladimir Iljitsch Lenin. So war es nur konsequent, wenn Radek die
Hoffnung zum Ausdruck brachte, daß bald in Berlin der internationale Arbeiterrat
tagen werde, das Gremium des endgültigen Sieges der kriegsgegnerischen Partei,
denn der Bolschewismus sei im Kern nichts anderes als »die Tränen der
Witwen und Kinder, der Schmerz um die Getöteten und die Verzweiflung der
Zurückgekehrten«. (Ladislaus Singer, Raubt das Geraubte - Tagebuch
der Weltrevolution 1917, S. 228). Aber die Partei wollte keineswegs bloß
oder in erster Linie eine pazifistische Partei sein, wie diese bewegende Wendung
Radeks hätte vermuten lassen können. Das Programm, das sie verabschiedete
und das Rosa Luxemburg verfaßt hatte, schloß eine Fülle sehr
weittragender Forderungen in sich. (Ebd., 1987, S. 101).Es
geht von einer prononcierten Schuldthese aus: Die bürgerliche Klassenherrschaft
sei der wahre Schuldige des Weltkriegs in Deutschland wie in Frankreich, in Rußland
wie in England, in Europa wie in Amerika. Sie, und keineswegs bloß die feudale
Junkerherrschaft in Deutschland, habe mit dem Ausgang des Weltkriegs ihr Daseinsrecht
verwirkt. Aus dem gähnenden Abgrund, den sie geschaffen habe, gebe es keine
Rettung außer dem Sozialismus und daher müsse die Losung der Stunde
heißen: »Nieder mit dem Lohnsystem!« Aber der Sozialismus
könne nur in dem gewaltigsten Bürgerkrieg der Weltgeschichte gegen den
erbitterten Widerstand der »imperialistischen Kapitalistenklasse«
zum Siege gelangen, die sich der Bauern und der Offiziere für die Bewahrung
der Lohnsklaverei bedienen und sogar »rückständige Arbeiterschichten
gegen die sozialistische Avantgarde aufhetzen werde. (**).
Der Spartakusbund dürfe somit auf keinen Fall bereit sein, mit Handlungen
der Bourgeosie, mit den Scheidemann-Ebert« die Regierungsgewalt zu teilen.
Daher lauteten die unmittelbaren Forderungen u.a.: Entwaffnung der gesamten Polizei,
sämtlicher Offiziere sowie der nichtproletarischen Soldaten, Bildung einer
Roten Garde, Einsetzung eines Revolutionstribunals, sechsstündiger Höchstarbeitstag,
Annulierung der Staats- und anderer öffentlicher Schulden, Konfiskation aller
Vermögen von einer bestimmten Höhe an .... (Ebd., 1987, S. 101-102).»Die
deutschen Arbeiter mögen nach Rußland sehen und sich warnen lassen
!«, »Dann entsteht das russische Chaos«, Spartakus sei für
»die Aufrichtung einer asiatischen Hunger- und Schreckensherrschaft wie
in Rußland«, eine »Blutdiktatur des Spartakusbundes« sei
geplant. (Vgl. Vorwärts, 10.11., 02., 24., 27.12.1918). Aus der deutschen
Situation allein hätten solche Wendungen nicht hervorgehen können; aber
da während der letzten Monate Übertreibungen in den Presseberichten
gar nicht notwendig gewesen waren, um der deutschen Öffentlichkeit das Bewußtsein
zu vermitteln, daß in Rußland von den Bolschewiki tatsächlich
ein präzedenzloses Terrorregime ausgeübt wurde, waren solche Aussagen
und Vermutungen glaubwürdig. (Ebd., 1987, S. 105).Noch
charakteristischer ist ein Satz den Thomas Mann am 2. Mai 1919 in sein Tagebuch
eintrug, als überall noch die Schüsse zu hören waren, welche die
einrückenden Freikorps und die weichenden Spartakisten wechselten: »Wir
sprachen darüber, (ob noch eine Rettung der europäischen Kultur möglich
sei) ... oder ob die Kirgisen-Idee des Rasierens und Vernichtens sich durchsetzen
wird .... Wir sprachen auch vom Typus des russischen Juden, des Führers der
Weltbewegung, dieser sprengstoffhaften Mischung aus jüdischem Intellektual-Radikalismus
und slawischer Christus- Schwärmerei. Eine Welt, die noch Selbsterhaltungsinstinkt
besitzt, muß mit aller aufbietbaren Energie und standrechtlichen Kürze
gegen diesen Menschenschlag vorgehen ...« (Thomas Mann, Tagebücher,
S. 223 [Eintrag am 02.05.1919]). (Ebd., 1987, S. 108).In
den von Bucharin verfaßten »Richtlinien der Kommunistischen Internationale«
hieß es: »Die neue Epoche ist geboren. Die Epoche der Auflösung
des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung, die Epoche der kommunistischen Revolution
des Proletariats .... Sie muß die Herrschaft des Kapitals brechen .... Indem
wir die Halbheit, Lügenhaftigkeit und Fäulnis der überlebten offiziellen
sozialistischen Parteien verwerfen, fühlen wir, die in der III. Internationale
(1919) vereinigten Kommunisten, uns als die direkten
Fortsetzer der heroischen Anstrengungen und des Märtyrertums einer langen
Reihe revolutionärer Generationen, von Babeuf
bis Karl Marx und Rosa Luxemburg.« (Manifest, Richtlinien, Beschlüsse
des 1. Kongresses - Aufrufe und offene Schreiben des Exekutivkomitees bis zum
2. Kongreß, 1919, S. 21, 17]). Aber ihren höchsten Punkt erreichten
diese zuversichtlichen Hoffnungen und Vorhersagen in dem Aufruf zum 1. Mai, den
das Exekutivkomitee der Internationale im Bewußtesein, daß es jetzt
neben dem russischen schon die ungarische und bayrische Sowjerepublik gebe, an
die Kommunisten Bayerns richtete: »Der Sturm beginnt. Die Feuersbrunst der
proletarischen Revolution loht mit unaufhaltsamer Kraft in ganz Europa. Es naht
der Moment, den unsere Vorgänger und Lehrer erwartet haben .... Der Traum
der besten Vertreter der Menschheit wird Wirklichkeit .... Die Stunde unserer
Unterdrücker schlägt. Der 1. Mai 1919 muß der Tag des Vorstoßes
werden, der tag der proletarischen Revolution in ganz Europa. Im Jahre 1919 wurde
die große Kommunistische Internationale geboren. Im Jahre 1920 wird die
große Internationale Sowjetrepublik geboren werden.« (Ebd., 1919,
S. 78ff.). (Ebd., 1987, S. 108).Längst nicht alle pazifistischen
und sozial gesinnten Liberalen und Labour-Politiker ließen sich ... von
ihrer Abneigung gegen dei Reaktionären und Imperialisten des
eigenen Landes so sehr bestimmen, daß sie auch dasjenige billigten, was
sehr früh als die Ausrottungspolitik der Bolschewiki genannt wurde,
aber Bernard Shaw brachte dennoch einen symptomatischen Standpunkt zu Wort, als
er mit nur leichter Distanzierung sagte, die Bolschewiki hätten die richtigen
Fragen aufgeworfen und die richtigen Leute erschossen. (Ebd., 1987, S. 122).Die
ältesten Mitkämpfer Lenins, die ehemaligen Redaktionsmitglieder der
Iskra, erblickten in dieser Machtergreifung nichts anderes als die konsequente
Fortsetzung der wohlbekannten Taktik Lenins, durch Herausdrängung der echten
Marxisten und selbständigen Köpfe sich eine Partei ergebener Anhänger
zu schaffen. Plechanovs Satz über das »unersättliche Streben nach
Machtergreifung« ist bereits zitiert worden. (Vgl. S. 77). Martov nannte
die Bolschewiki schon 1918 eine »Henkerpartei« (**),
und die schärfste Kritik übte Paul B. Axelrod. Für ihn war der
Bolschewismus »asiatisch«, ein Verrat an den elementarsten Grundsätzen
des Marxismus, eine »Diktatur über das Proletariat (und das Bauerntum)«,
eine Gruppe, »die die Barbarei, die Grausamkeit und Unmenschlichkeit längst
vergangener Zeiten« wiederauferstehen lasse und die sich als »neuer
herrschender Stand« im Rahmen eines neuartigen »Sklavenregimes«
konstituiere. Daher sah Axelrod die These bestätigt, die er schon vor dem
Ausbruch des Weltkrieges aufgestellt hatte, nämlich daß »die
Lenin-Clique als eine Bande der »Schwarzen Hundertschaften« und als
gemeine Verbrecher innerhalb der Sozialdemokratie« gekennzeichnet werden
müßte. (**).
(Ebd., 1987, S. 123).Karl Kautsky.
Für ihn ist der Marxismus ein Teil jenes Humanisierungsprozesses, der die
Arbeiterbewegung aus ihrer ursprünglichen Wildheit und auch aus der inneren
Nähe zu der terroristischen Phase der französischen Revolution herausgeführt
hat. Der Bolschewismus bedeutet also einen Rückfall in die Bestialität,
weil er den marxistischen Klassenkampf wieder durch den Bürgerkrieg ersetzen
will. Die letzte Ursache dafür ist die Unreife der russischen Verhältnisse.
Die Bolschewiki ließen sich von einer Massenpsychose tragen, und deshalb
faßten sie die soziale Qualität Bürger geradezu wie eine
biologische auf, gegen die sie mit der Wildheit und Roheit der anhebenden Arbeiterbewegung
vorgingen. Daher ist der Sieg des Bolschewismus eine Niederlage des Sozialismus,
und das zeigt sich auch darin, daß eine neue Bürokratie, eine neue
Herrenklasse aufkommt, die den Militarismus zurückbringt und den Terrorismus
installiert: »Erschießen - das ist das A und O der kommunistischen
Regierungsweisheit geworden.« So ist der Bolschewismus ein antihumaner und
antisozialistischer Rückfall in barbarische Zustände, und deshalb nennt
Kautsky ihn schließlich einen »tatarischen Sozialismus«. (Vgl.
Karl Kautsky, Terrorismus und Kommunismus - Ein Beitrag zur Naturgeschichte
der Revolution, 1919, S. 140, 152). (Ebd., 1987, S. 125).Aber
ob der Bolschewismus nun von führenden Sozialdemokraten primär als russischer
Sonderweg oder als barbarische Regression gesehen wird, so stellen
sie ihn doch immer in einen schroffen Gegensatz zu Europa, und in dem Reisebericht
eines Sozialdemokraten wird der Wunsch zum Ausdruck gebracht, »baldigst
wieder die Grenzen des Sowjetrußland hinter mir zu lassen«, da die
Eintönigkeit und Dürftigkeit des Lebens, der Hunger, die Abwesenheit
der Pressefreiheit und das ständige Entsetzen über die Taten der neuen
»Heiligen Inquisition«, der Tscheka, einfach nicht zu ertragen seien.
(Vgl. Paul Olberg, Briefe aus Sowjet-Rußland, S. 146, 113). Aber
kaum je wird die Frage angedeutet, ob das Europäische vielleicht mit
der freien Existenz auch der reaktionären Tendenzen zusammenhängt und
ob nicht die nicht-bolschewistischen Sozialisten in Rußland vielleicht besser
daran getan hätten, sich mit Koltschak und Denikin zu verbünden, weil
nur dann die Chance bestanden hätte, eine Gesellschaft der produktiven
sozialen Differenzen wie in Europa zu schaffen: Eine Äquidistanz gegenüber
den Bolschewiki und den Reaktionären bleibt vielmehr ausdrücklich oder
unausdrücklich für alle Sozialdemokraten charakteristisch, und diese
Äquidistanz hatte ja auch die praktische Politik der Menschewiki und Sozialrevolutionäre
bis zu ihrer endgültigen Ausschaltung im Jahre 1921 bestimmt. (Ebd.,
1987, S. 125).Der vielfaltige europäische Liberalismus war
eher geneigt, sich mit der europäischen Kultur oder doch der westlichen Zivilisation
zu identifizieren, soweit er nicht als prononcierter Linksliberalismus die Kritik
an den Ungerechtigkeiten einer allzu undurchsichtigen Gesellschaft in den Vordergrund
stellte. Für die Times gab es »nicht Platz genug auf der Welt
für den Bolschewismus und die Zivilisation«. Dem Sinne nach war der
Begriff Totalitarismus oder Totalismus als Gegenbegriff schon geläufig.
Die unsichere Grenzlinie zwischen Rechtsliberalen und Konservativen war wohl am
leichtesten daran kenntlich, ob man bloß den überaus starken Anteil
der Fremdvölker an der russischen Revolution konstatierte oder in den Juden
eine Ursache besonderer Art erblickte. Schon gleich in den ersten Monaten nach
der Februarrevolution hatte es ja besonders in Frankreich und Italien zahlreiche
Beobachter sehr irritiert, daß die Vorkämpfer eines Friedensschlusses
so häufig deutsche Namen wie Zederbaum, Apfelbaum oder Sobelsohn trugen bzw.
getragen hatten. Später verknüpften manche Autoren diese Beobachtung
mit altüberlieferten Vorstellungen, die schon in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts unter Konservativen geläufig gewesen waren. Kein Geringerer
als Winston Churchill schrieb in einem seiner Aufsätze: »Diese Bewegung
unter den Juden ist nicht neu. Seit den Tagen von Spartakus Weishaupt bis zu jenen
von Karl Marx und bis hinunter zu Trotzki (Rußland), Bela Kun (Ungarn),
Rosa Luxemburg (Deutschland) und Emma Goldman (Vereinigte Staaten) ist diese weltweite
Verschwörung zum Sturz der Zivilisation und zur Neugestaltung der Gesellschaft
auf Grund aufgehaltener Entwicklung, neidischer Mißgunst und unmöglicher
Gleichheit im Wachsen begriffen. .... (Diese Bewegung) war die Triebfeder hinter
jeder subversiven Bewegung des 19. Jahrhunderts, und jetzt hat diese Bande von
außerordentlichen Persönlichkeiten aus der Unterwelt der großen
Städte Europas und Amerikas das russische Volk am Kragen gepackt und ist
praktisch der unangefochtene Herr eines gewaltigen Reiches geworden.« (Alex
P. Schmid, Churchills privater Krieg - Intervention und Konterrevolution November
1918 - März 1920, 1974, S. 312),Aber wenn man in solchen Sätzen
einen Nachhall der Verschwörungsfurcht des Abbé Barruel oder des Fürsten
Metternich spüren darf, so war doch Churchill weit davon entfernt, die subversiven
Tendenzen vieler Juden auf unveränderliche Rasseneigenschaften aller Juden
zurückzuführen, und er hob mit viel Nachdruck die zionistischen Bestrebungen
Dr. Weizmanns hervor, die sich »in besonderem Einklang mit den wahrsten
Interessen des Britischen Empire« (ebd.) befänden. (Ebd., 1987,
S. 125-126).Noch eindeutiger standen die politischen Interessen
des Britischen Reiches für Churchill im Vordergrund, als er den Gedanken
verfocht, man müsse Deutschland nun nach seiner Niederlage zum festen Bollwerk
gegen die Gefahren des Bolschewismus machen, zu einem »Damm friedlicher,
gesetzmäßiger und geduldiger Stärke gegen die Flut der roten Barbarei,
die vom Osten heranbrandet«, und dieser Interessengesichtspunkt konnte ebensogut
die Hoffnung hervorrufen, die Aufnahme von Handelsbeziehungen werde zu einer Milderung
jenes in europäischen Augen beängstigenden Despotismus führen.
Diese Auffassung verfocht Lloyd George, und bereits 1921 setzte er die Aufnahme
von Handelsbeziehungen mit Sowjetrußland durch. (Ebd., 1987, S. 126).So
entwickelte jede der etablierten Ideologien und Parteien ihren eigenen Antibolschewismus,
bis hin zur USPD und bis in die Reihen der KP hinein, und nichts war begreiflicher,
da der Bolschewismus nach seinem eigenen Selbstverständnis der ganzen Welt
den Krieg erklärt hatte und jede der vorhandenen Parteien des Lakaientums
gegenüber der internationalen Bourgeoisie anklagte. Aber ein wichtiger
Übergang wurde vollzogen, als ganze Organisationen den Antibolschewismus
zum Hauptinhalt ihrer Bestrebungen machten. (Ebd., 1987, S. 127).Die
früheste dieser Organisationen war das »Generalsekretariat zum Studium
und zur Bekämpfung des Bolschewismus«. Der Gründer war Eduard
Stadtler, der vor dem Kriege in der Jugendorganisation des Zentrums führend
tätig gewesen und dann in russische Kriegsgefangenschaft geraten war, aus
der er aber schon vor dem Ende des Krieges zurückkehrte. Nach seinem späteren
Bericht stürzte er sich bereits im November 1918 in eine hektische Aktivität,
um Deutschland vor dem Schicksal Rußlands zu bewahren, und er fand dabei
die Unterstützung maßgebender Politiker wie etwa Friedrich Naumanns
und Karl Helfferichs. Am 10. Januar 1919 hielt er im Flugverbandshaus auf einer
Sitzung des Führertums der Wirtschaft eine Rede, an der Industrie- bzw. Bankmagnaten
wie Hugo Stinnes, Albert Vögler, Felix Deutsch, Arthur Salomonsohn und andere
teilnahmen. Stadtlers Beschwörungen hatten den außerordentlichen Erfolg,
daß ein Antibolschewistenfonds gegründet wurde, in den nach
seiner Behauptung nicht weniger als 500 Millionen Mark eingezahlt wurden; und
diese Mittel flossen dann durch alle möglichen Kanäle in die Anfang
Januar einsetzende »gewaltige antibolschewistische Bewegung«, so etwa
in die Freikorps, die mit großen Plakaten und kostspieligen Zeitungsanzeigen
Freiwillige für den Schutz der Heimat vor dem Bolschewismus und vor den Polen
warben, in die Bürgerrätebewegung, die »Antibolschewistische Liga«,
die » Vereinigung zur Bekämpfung des Bolschewismus« und ähnliche
Organisationen. Stadtler selbst verfaßte eine Broschüre mit dem Titel
»Der Bolschewismus und seine Oberwindung« (Berlin, 1918). In ihr legt
er ein überraschend hohes Maß von Anerkennung und Objektivität
an den Tag, und erst ganz am Schluß taucht das Wort Seuche auf. Keinerlei
Antisemitismus wird spürbar, wie ja schon die Liste der Geldgeber wahrscheinlich
macht. Und dieser betonte Antibolschewismus war nur eine bald vorübergehende
Phase in Stadtlers Tätigkeit, in seinen Augen offenbar das Resultat einer
temporären Notsituation. (Ebd., 1987, S. 127).Eine andere
militante antibolschewistische Organisation, die von den Kommunisten selbst viel
häufiger erwähnt wurde als etwa die »Antibolschewistische Liga«
und deren Name oft als Sammelname für Freikorps, Selbstschutzorganisationen
u.a. verwendet wurde, war die »Organisation Escherich«. In ihren Anfängen
und ihrem Grundcharakter war sie eine bürgerliche Selbstschutzorganisation,
die nicht auf Bayern beschränkt sein sollte und folgende Hauptforderungen
vorbrachte: Sicherung der Verfassung; Schutz von Personen, Arbeit und Eigentum;
Erhaltung des deutschen Reiches und Ablehnung jeglicher Abtrennungsbestrebungen;
Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und Abwehr jedes Rechts- und Linksputsches.
Die praktische Hauptaufgabe war sicher erst in der letzten Forderung formuliert.
Auch unter den zehn Thesen, die im Oktober 1920 aufgestellt wurden, findet sich
erst als Punkt 3 »Bekämpfung des Bolschewismus und des Nationalbolschewismus;
Ablehnung aller auf Zersetzung des Volkes gerichteter Bestrebungen«. Aber
hier ist dieser Punkt besonders hervorgehoben, wie schon die Erläuterung
zeigt, in der zahlreiche umstürzlerische Äußerungen von Führern
der KPD angeführt werden. Als besonderes Verdienst Escherichs wird indessen
hervorgehoben, es sei ihm gelungen, »was in Bayern eine Kraftleistung, den
Antisemitismus fernzuhalten«. (Vgl. Günther Axhausen, Organisation
Escherich - Die Bewegung zur nationalen Einheitsfront, 1921, S. 21).
(Ebd., 1987, S. 127-128).Wenn man sich die Voraussetzungen anschaulich
machen will, aus denen diejenige antibolschewistische Organisation erwuchs, die
bald zu der bekanntesten und historisch wichtigsten werden sollte, dann darf man
sich nicht auf den erregten Nationalismus von Offizieren wie Ernst Röhm und
auf den antimarxistischen Sozialismus von Gottfried Feder beschränken, sondern
man muß den Blick auf den Kreis baltischer und russischer Emigranten und
ihnen nahestehender Personen richten, die in München einen Sammelpunkt gefunden
hatten. Der wichtigste Mann unter ihnen war der Dichter Dietrich Eckart, der schon
ab Ende 1918 in seiner Zeitschrift Auf gut deutsch eine Art von mystischem
Antijudaismus vertreten hatte, aber erst durch die Erfahrung der Räterepublik
zu praktischer und parteimäßiger Tätigkeit getrieben wurde. Im
Ausgangspunkt war diese von ganz ähnlichen Empfindungen geleitet, wie sie
in jenen Sätzen Thomas Manns zum Ausdruck kamen. Der Kern der Erfahrung war
bei beiden der gleiche: die Vernichtungsfurcht der bürgerlichen und gebildeten
Minderheit angesichts der bedrohlichen proletarischen Massen, und in beiden Fällen
war damit eine Interpretation verbunden, mit der man diese Drohung begreifbar
und beherrschbar zu machen versuchte, nämlich die Herausforderung einer fremden
Führungsschicht. Aber was bei Thomas Mann momentane Stimmung und temporäre
Anwandlung war, das wurde bei Dietrich Eckart zum Zentrum einer Weltanschauung
und einer daraus resultierenden politischen Aktivität. (Ebd., 1987,
S. 128).Es ist indessen sehr zweifelhaft, ob die Drohung mit dem
Revolutionstribunal und selbst der Geiselmord im Luitpoldgymnasium so gravierende
Folgen hervorgerufen hätten, wenn nicht die konkrete Gegenwart russischer
Erfahrungen dieser Vernichtungsfurcht einen monumentalen und überzeugenden
Hintergrund gegeben hätte. Einer der Männer, die diese Erfahrung an
Eckart weitergeben konnten, war Dr. Max Erwin von Scheubner-Richter, der während
des Weltkrieges eine Zeitlang als deutscher Vizekonsul in Erzerum tätig gewesen
war und sich dort mit allen Kräften bemüht hatte, der Vertreibung und
Ausrottung der armenischen Bevölkerung durch die Türken entgegenzutreten,
welche er offenbar als asiatisch empfand. Aber 1918 war er dann in seine Heimat
nach Riga zurückgekommen, und hier hatte er erlebt, wie der baltische Adel
und in der Praxis die Baltendeutschen insgesamt von den aus Rußland eindringenden
und von den einheimischen Bolschewiki für vogelfrei erklärt und zum
Objekt einer Ausrottungspolitik gemacht wurden, die sich nicht grundsätzlich
von jenen Armeniermassakern zu unterscheiden schien, obwohl natürlich auch
Scheubner-Richter wußte, daß diese Baltendeutschen eine ... Oberschicht
waren. Dann ging er nach München und gründete dort 1921 seine »Wirtschaftspolitische
Aufbau-Korrespondenz über Ostfragen und ihre Bedeutung für Deutschland«,
welche die Vorgänge in Rußland intensiv verfolgte und zahlreiche Übersetzungen
aus der russischen Emigrantenpresse brachte. Hier organisierte er auch den Emigrantenkongreß
von Bad Reichenhall, der im Juni 1921 zahlreiche Monarchisten zusammenführte,
die sich in ihren Reden aufs schärfste gegen die Bolschewiki als eine »Bande
volksfremder Verbrecher und Fanatiker«, aber auch gegen die Kadetten wandten,
weil sie zusammen mit den Engländern und Franzosen Rußland verraten
hätten. In der deutschen Presse begegnete dieser Kongreß überwiegend
der besorgten Verachtung, welche häufig den Besiegten entgegengebracht wird,
die ihre Niederlage nicht eingestehen wollen, und selbst die Neue Zürcher
Zeitung sprach von den »Rechtsbolschewisten«, die sich unter Duldung
der Regierung von Kahr in dem bayerischen Kurort versammelt hätten, während
der Vorwärts ein »neues Koblenz« aus Reaktionären
entstehen sah. Aber es ist kein Zweifel, daß diesen Männern die Meldungen
glaubwürdig waren, die von vielen Zeitgenossen als schlimme Übertreibungen
angesehen wurden, etwa diejenigen, die Herrschaft des Bolschewismus habe einschließlich
der Hungertoten nicht weniger als 35 Millionen Opfer gefordert. Und ebenso glaubwürdig
war für sie die Nachricht, die wenige Monate zuvor die Berlingske Tidende
gebracht hatte und die wenig später auch im Völkischen Beobachter
auftauchte: Die chinesische Tscheka begehe nun die schlimmste aller vorstellbaren
Greueltaten: sie setze eine Ratte in einem Rohr oder Käfig an den Körper
eines Verurteilten und zwinge das Tier durch das Entzünden von Feuer, sich
in den Körper hineinzufressen. (Ebd., 1987, S. 128-129).Aber
im Prinzip hätten auch Winston Churchill und Thomas Mann solchen Meldungen
Glauben schenken können. Eine qualitativ neuartige Auslegung wird jedoch
sichtbar, wenn man die Broschüre eines anderen Balten ins Auge faßt,
der ebenfalls zum Umkreis Dietrich Eckarts gehörte: Alfred Rosenbergs »Pest
in Rußland«. Ihr Kern ist die Verknüpfung zweier Tatbestände,
die als solche nicht abzustreiten, sondern allenfalls im einzelnen zu korrigieren
sind: des Untergangs der »nationalrussischen Intelligenz« sowie des
Bürgertums einerseits und des hohen Anteils von »Juden«, d.h.
Menschen jüdischer Herkunft, in den führenden Positionen der Partei
und der Sowjeregierung andererseits. (Ebd., 1987, S. 129-130).Es
ist anzunehmen, daß Adolf Hitler nicht zuletzt die linken Nationalsozialisten
im Auge hatte, als er 1925 und 1926 den zweiten Band von »Mein Kampf«
schrieb, der im dezember 1926 erschien. Hier machte er erneut klar, daß
bei ihm die antibürgerliche Polemik nicht im geringsten eine Abschwächung
des radikalen Antibolschewismus bedeutete, und vor allem arbeitete er die bisher
erst ansatzweise vorhandene Lebensraumlehre in einer Weise heraus, die jeden Kompromiß
mit dem Konzept der Ostorientierung unmöglich machte. Aber auch die starke
Hervorhebung der Rassenlehre dürfte in diesem Zusammenhang zu sehen sein.
Ein Bündnis mit den unterdrückten Nationen ist deshalb vollständig
auszuschließen, weil deren Lage auf rassische Minderwertigkeit zurückzuführen
ist. So ist der zweite Band viel stärker als der erste von jenem zugespitzten
und verhärteten »Europäismus« erfüllt, der die Herrschaft
des englischen Herrenvolkes und der mit ihm künftig verbündeten Deutschen
als eine »rassische« Naturbestimmtheit ansieht (**)
und daraus das Recht ableitet, im Osten zur »Bodenpolitik der Zukunft«
überzugehen, welche das Ende des russischen Staates bedeuten wird, da nach
dem Untergang der Bolschewisten, jener »blutbefleckten gemeinen Verbrecher«,
dort keine Führungsschicht mehr vorhanden sein wird, die den Staat zusammenhalten
könnte. Wie sehr aber Hitler immer noch an der Situation des russischen Bürgerkriegs
orientiert ist, läßt das »Politische Testament« erkennen,
mit dem er das Kapitel 14 über »Ostorientierung oder Ostpolitik«
abschließt: »Duldet niemals das Entstehen zweier Kontinentalmächte
in Europa! Seht in jeglichem Versuch, an den deutschen Grenzen eine zweite Militärmacht
zu organisieren ... einen Angriff gegen Deutschland .... Sorgt dafür, daß
die Stärke unseres Volkes ihre Grundlagen nicht in Kolonien, sondern im Boden
der Heimat in Europa erhält! ...« (Adolf Hitler, Mein Kampf,
a.a.O., S. 754). Ganz wie Hitler die englische Vorherrschaft in der Welt während
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine Rassenlehre und damit
die Einbeziehung Deutschlands fixieren will, so will er an dieser Stelle die Situation
der Jahre 1917/'18 festhalten, als es die zweite, die russische Militärmacht
an den Grenzen Deutschlands nicht mehr gegeben hatte, welche doch im ganzen 18.
und 19. Jahrhundert eine selbstverständliche Grundtatsache gewesen war. Die
Angst vor der eigenen Vernichtung, welche die frühen Reden und noch den ersten
Band von »Mein Kampf« so stark geprägt hatte, resultiert nun
in einem außenpolitischen und staatlichen Vernichtungswillen, der den linken
Nationalsozialisten hinsichtlich Rußlands ganz fern lag. (Ebd., 1987,
S. 166-167).Es gab also genuine Differenzen zwischen München
und Norddeutschland. 1928 war noch nicht entschieden, ob das Hitlersche Konzept
der Identifizierung von Nationalismus und Sozialismus oder das Straßersche
eines nationalen Sozialismus aussichtsreicher war. Es war ebenfalls ungewiß,
ob schließlich eine Spaltung der Partei erfolgen würde oder nur das
Abschwenken einer kleinen Gruppe. Eine wichtige Vorentscheidung waren die Reichstagswahlen
von 1928, die für die Nationalsozialisten eine Niederlage und für die
Kommunisten einen beträchtlichen Erfolg bedeuteten. (Ebd., 1987, S.
167).Deutschland war durch die strategisch bedingte Förderung
der revolutionären Propaganda im Kriege und vor allem durch die Zulassung
der Surchreise Lenins in gewisser Weise der Begründer Sowjetrußlands
und nach Brest-Litowsk (Verhandlungen seit Dezember 1917,
Unterzeichnung am 03.03.1918; HB) für entscheidende Monate sein
Erhalter. Die Wahrnehmung des roten Terrors, die Hilferufe vieler Vertreter des
Bürgertums, die revolutionäre Propaganda im deutschen Heer und hinter
der Front blieben nicht ohne Einfluß auf die führenden Männer,
und sowohl der Kaiser als auch der Reichskanzler Hertling sowie der Stabschef
von Oberost, General Max Hoffmann, trugen sich ernsthaft mit dem Gedanken, die
deutschen Truppen bis nach Petrograd und Mosdkau marschieren zu lassen, um eine
deutschfreundliche weiße Regierung einzusetzen. Aber die Weißen
waren nicht durchweg deutschfreundlich, und sie waren zu einem guten Teil rot:
Keine Partei stand entschiedener auf der Seite der Entente als die Sozialrevolutionäre,
und gerade die Ermordung des deutschen Gesandten, des Grafen Mirbach, durch linke
Sozialrevolutionäre klärte die deutsche Regierung darüber auf,
daß die Bolschewiki die einzige starke und organisierte Kraft in Rußland
waren, die eine Wiederaufnahme des Krieges ablehnte. So setzte sich der neue Staatssekretär,
von Hintze, gegen alle anderen Bestrebungen durch (vgl. Winfried Baumgart, Deutsche
Ospolitik 1918, 1966, S. 317) und schloß mit der Sowjetregierung Ende
August 1918 die sogenannten »Zusatzverträge«, die für Lenin
eine neue Atempause bedeuteten. (Ebd., 1987, S. 171-172)....
Vertrag von Rapallo, der am 16. April 1922 unterzeichnet wurde. ..., eine neue
Möglichkeit der internationalen Politik trat nun ins Blickfeld: Deutschland
und Rußland würden sich vielleicht eines Tages zu eienr genuinen Allianz
... verbinden. Die radikale Gegenmöglichkeit, die Churchill gegen Lloyd George
verfochten hatte, schien damit unwiederbringlich dahingeschwunden zu sein: Deutschland
zum Verbündeten eines antibolschewistischen Befreiungskrieges zu machen.
Wie tief wäre erst der Schock gewesen, wenn wenn tatsächlich ein Sowjetdeutschland
einen viel weitergehenden Vertrag unterzeichnet hätte!... Der Völkische
Beobachter dagegen sprach von einer »Verschacherung des deutschen Volkes«
und vom »Verbrechen von Rapallo« (vgl. die Ausgaben vom 22. und 29.04.1922),
und nach der Ermordung Rathenaus schrieb er am 28. Juni 1922: »Rathenau
trat in Cannes für eine überstaatliche Bankierregierung ein. Der Name
desselben Mannes steht aber auch auf dem Vertrag von Rapallo, der Deutschland
an das bolschewistische, angeblich bis aufs Blut antikapitalistische Rußland
bindet. Hier haben wir die Personalunion zwischen der internationalen jüdischen
Hochfinanz und dem internationalen jüdischen Bolschewismus.«
(Ebd., 1987, S. 175-176).Erst die Weltwirtschaftskrise schuf in
Deutschland die Bedingungen, unter denen zwei Bürgerkriegsparteien große
Anhängerzahlen gewinnen konnten, aber sie schuf nicht diese Parteien selbst
Beide hatten vielmehr ein besonderes verhältnis zur Krise, und nichts war
wahrscheinlicher, als daß sie jetzt viel Gehör finden würde.
(Ebd., 1987, S. 179).Aber es gab unzweifelhaft auch besoindere
Ursachen, welche vielleicht die ungewöhnliche Schärfe der Krise erklärten.
Schon in den frühen zwanziger Jahren hatte kein Geringerer als John Mynard
Keynes ein Büchlein über die ökonomischen Konsequenzen des Friedensvertrages
(gemeint ist das Versailler Diktat; HB) geschrieben,
in dem er warnend auf die unabsehbaren Folgen hingewiesen hatte, welche aus den
deutschen Reparationszahlungen resultieren müßten, da es sich
dabei um politisch begründete und insofern systemfremde Kapitalübertragungen
handle. Würde die Krise nicht sehr gemildert, wenn die Tributzahlungen
eingestellt würden? Wenn diese kleinere Lösung vermutlich die
realistischere war, so bot doch auch sie außerordentliche Schwierigkeiten,
da die Reparationsgläubiger England und Frankreich ihrerseits zu großen
Rückzahlungen von Kriegskrediten an die USA verpflichtet waren. Wenn Amerika
sich nicht zu einem Verzicht auf seine Ansprüche bereit fand, dann mußte
die nationalsozialistische Agitation gegen die Tributzahlungen auf die
Etablierung einer deutschen Autarkie hinauslaufen. Diese Konsequenz scheuten Deutschnationale
und Nationalsozialisten in der Tat nicht, als sie schon vor jenem schwarzen
Freitag eine großangelegte Agitation gegen den Young-Plan entfesselten,
der nach dem Wunsch der Alliierten und der deutschen Regierung dem Dawes-Plan
ablösen sollte. Er bot Deutschland beträchtliche »Vorteile«
(Anführungszeichen von mir; HB), setzte aber
auch ein Enddatum für die Repartionszahlungen fest, 1988 (!!!),
das eine Versklavung des deutschen Volkes für zwei Generatinen zu
bedeuten schien. (Ebd., 1987, S. 181).Opposition gegen diesen
Plan war unvermeidlich und systemgerecht .... (Ebd., 1987, S. 181).»Es
gibt doch nichts Verlogeneres als einen dicken, wohlgenährten Bürger,
der gegen den proletarischen Klassenkampfgedanken protestiert .... Gewiß
ist der Jude auch ein Mensch .... Aber der Floh ist auch ein Tier und kein angenehmes.
Und da der Floh kein angenehmes Tier ist, haben wir ... nicht die Pflicht, ihn
zu hüten und zu beschützen ..., sondern ihn unschädlich zu machen.«
(Joseph Goebbels, Der Nazi-Sozi, 1929, S. 4, 7). (Ebd., 1987, S.
186).Dennoch befindet sich der bestürzendste Ausduck dieses
geistigen Bürgerkrieges ... im Organ der Linksintellektuellen, der Weltbühne,
und der Angriff war nicht gegen die Nationalsozialisten gerichtet, sondern gegen
die deutschen Bildungsschichten überhaupt. Unter der Überschrift »Dänische
Felder« schrieb Kurt Tucholsky im Sommer 1927: »Möge das Gas
in die Spielstuben eurer Kinder schleichen! Mögen sie langsam umsinken, die
Püppchen. Ich wünsche der Frau des Kirchenrats und des Chefredakteurs
und der Mutter des Bildhauers und der Schwester des Bankiers, daß sie einen
bittern und qualvollen Tod finden, alle zusammen. Weil sie es so wollen, ohne
es zu wollen. Weil sie faul sind. Weil sie nicht hören und nicht sehn und
nicht fühlen.« (Kurt Tucholsky, in: Die Weltbühne, 23. Jg., Nr.
30, 1927, S. 152f.. In Tucholskys Gesammelten Werken ist [Band 5, S. 206]
ist die Stelle durch die Hinzufügung des Satzes »Leider trifft es immer
die Falschen« verändert. Die Grundvorstellung ist der Gegensatz zwischen
den schon 1917 friedlichen Feldern in Dänemark und dem Deutschland des Jahres
1927, in dem angeblich wieder ein Krieg vorbereitet wird. Die Stelle ist nicht
etwa erst von neonazistischen Autoren wie Emil Aretz entdeckt worden
[Hexeneinmaleins einer Lüge, 1973, S. 106], sondern sie wurde bereits
in der nationalszialistischen Literatur angeführt, so von Hermann Esser,
Die jüdische Weltpest, daß sie auch Hitler bekannt war).
(Ebd., 1987, S. 188).... Frage (für
Kommunisten; HB), was dem Faschismus noch eigentümlich sein kann,
wenn bereits die bürgerliche Demokratie nichts anderes als die Diktatur
der Bourgeoisie ist und wenn nur eine der beiden Hauptklassen die die
Diktatur ausüben kann. Also mußte der gleichzeitige Kampf gegen beide
Hilfstruppen der Bourgeoisie das Gebot der Stunde sein: gegen die NSDAP als Nationalfaschismus
und gegen die SPD als Sozialfaschismus, und dabei war der Hauptstoß
gegen die Sozialdemokratie als die hinterhältigere der beiden feindlichen
Kräfte zu richten. Es waren die oppositionellen Gruppen der KPD, die in dieser
Auffassung ein Verhängnis sahen und der Parteiführung seit Anfang 1930
dem Sinne nach sagten: »Unter diesem Zeichen - dem Begriff des Sozialfaschismus
- wirst du unterliegen.« Die wichtigste dieser Gruppierungen war die KPD-O,
in der sich die aus der Partei ausgeschlossenen Rechten sammelten, an ihrer Spitze
Heinrich Brandler und August Thalheimer. Aber auch die Roten Kämpfer legten
wichtige Beiträge vor, die allesamt die Kommunisten in die Einheit der Arbeiterbewegung
zurückzuführen bemüht waren, obwohl die scharfe Kritik am Bürokratismus
und an der Abhängigkeit der Partei, aber auch das eigene Festhalten am Begriff
der »Diktatur des Proletariats« den Versuch von Anfang an als hoffnungslos
erscheinen ließen. (Ebd., 1987, S. 190).Einen
mächtigen Mitkämpfer erhielten die Kritiker der Sozialfaschismustheorie
in Leo Trotzki, der seit 1929 zu der russischen Emigration gezählt werden
konnte. Viel schärfer als irgend jemand anders sah Trotzki die Gefahr, daß
dem Nationalsozialismus durch den Kampf der Kommunisten gegen den Sozialfaschismus
die Machtergreifung geradezu nahegelegt werde und daß Hitler dann nicht
nach wenigen Wochen oder Monaten von den endlich unter der Führung der KPD
geeinigten Proletariern gestürzt werden würde, wie man es in der Komintern
erwartete. Vielmehr werde die nationalsozialistische Regierung als einzige aller
bürgerlichen Regierungen imstande sein, einen Krieg gegen die UdSSR zu führen,
und in diesem Kriege werde Hitler das Vollstreckungsorgan des gesamten Weltkapitalismus
sein, der »Ober-Wrangel der Weltbourgeoisie« (Leo Trotzki, Soll
der Faschismus wirklich siegen? Deutschland - der Schlüssel zur internationalen
Lage, in: Schriften über Deutschland, Band 1, 1971, S. 157f.).
Das war eine erstaunliche Prophezeiung, aber Trotzki brauchte in der Tat sein
eigenes Verfahren gegen Sozialrevolutionäre und Menschewiki sowie seine Angriffskriege
gegen Polen und Georgien nur auf das bürgerliche Deutschland zu projizieren,
um zu dieser Vorhersage zu gelangen. Seine Hoffnungen leitete Trotzki abermals
aus einer Analogie zur russischen Revolution her, nämlich aus seiner Geringschätzung
eines quantitativen Stimmenübergewichts: »Auf der Waage der Wahlstatistik
wiegen tausend faschistische Stimmen ebensoviel wie tausend kommunistische. Aber
auf der Waage des revolutionären Kampfes stellen tausend Arbeiter eines Großunternehmens
eine hundertmal größere Kraft dar als tausend Beamte und Büroangestellte
samt ihren Frauen und Schwiegermüttern. Die Hauptmasse der Faschisten besteht
aus menschlichem Staub.« (Ebd, S. 159). Hier irrte Trotzki seinerseits ....
(Ebd., 1987, S. 190).Es ist indessen auch zu befürchten, daß
der Bürgerkrieg (der Anfang der 1930erJahre in Deutschland
drohte und durchaus auch von einigen nichtextremen Politikern wie z.B. von Papen,
von Schleicher u.a. in Kauf genommen wurde; HB), wenn es dazu
kam, sehr leicht die Teilung Deutschlands im Gefolge haben konnte. Frankreich
wäre nicht an seinern Grenzen stehengeblieben, wenn in Berlin eine Machtergreifung
der Kommunisten gedroht hätte, und die sowjetische Armee war nach dem Ende
des ersten Fünfjahresplanes in der Lage, Polen in der Tat »wie einen
Halm niederzutreten« und mindestens bis zur Elbe vorzurücken. Deutschland
war nach wie vor die stärkste Industriemacht, und wenn die Selbstbehauptung
Europas als gleichwertige Weltmacht gelingen sollte, dann mußte Deutschland
den Kern der neuen »Vereinigten Staaten« .... (Ebd., 1987, S.
209-210).Wenn Sinovjew mit seiner Nebenbemerkung recht hatte, die
er breits 1922 gemacht hatte (vgl. Protokoll des 4. Kongresses der Kommunistischen
Internationale, 1923, S. 44f.), d.h. wenn Europa wirklich in eine Epoche des
Faschismus eingetreten war, dann mußte Hitler den Weg zur Alleinherrschaft
noch rascher und radikaler gehen, als Mussolini es getan hatte, und dann mußte
er in besonderer Weise dem Staate konfrontiert sein, der die Epoche der proletarischen
Weltrevolution hatte heraufführen wollte. (Ebd., 1987, S. 210).In
Europa standen einander nun zwei große Ideologiestaaten gegenüber,
deren handeln letzten Endes von Konzeptionen bestimmt wurde, welche den vergangenen
und den zukünftigen Verlauf der Weltgeschichte interpretieren und den Sinn
des menschlichen Lebens deuteten. Die Vorwürfe, die sie einander machten,
hatten fast durchweg eine zugespitzte und propagandistische Form,a ber sie beruhten
auf realen Gegebenheiten, die auf beiden Seiten die Leidenschaften zahlloser Menschen
entzündeten. Beide hatten in dem ganzen Erdteil und darüber hinaus ideologische
Verbündete: die Sowjetunion die kommunistischen Parteien, Deutschland ...
die faschistischen Bewegungen und potentiell das faschistische Regime in Italien.
Beide befanden sich freilich in einem ganzen Netz von Beziehungen und Gegebenheiten,
und für lange Jahre konnte es noch so aussehen, als sei das Verhältnis
zwischen Deutschland und der Sowjetunion bzw. zwischen den faschistischen Bewegungen
und den kommunistischen Regimen ein untergeordnetes Thema der Weltgeschichte.
Schließlich aber erwies es sich als der entscheidende Gegensatz, der das
Schicksal der Welt in weitaus stärkerem Maße bestimmte als etwa der
Krieg zwischen Japan und China, die Eroberung Äthiopiens durch Italien oder
die Bemühungen Roosevelts um die Rückkehr der USA in die Weltpolitik.
(Ebd., 1987, S. 210).
Die feindlichen Ideologiestaaten im Frieden
1933-1941 Wie
sehr Hitlers Ideologie in erster Linie negativ durch den Gegensatz zur Sowjetunion
und zum Kommunismus bestimmt war, hatte er während des Jahres 1932 bei zei
Gelegenheiten noch unzweideutiger erkennen lassen als durch die Äußerungen,
die er bald nach der Machtübernahme tat. In seiner Rede vor Industriellen
in Düsseldorf am 27. Januar 1932 war er von der tatsächlichen Herrschaft
der weißen rasse über die Welt ausgegangen und hatte sie auf erbliche
Überlegenheit zurückgeführt, die also ein recht sei, aber ein gefährdetes
Recht. Denn dagegen sei eine Weltanschauung aufgestanden, die sich bereits einen
Staat erobert habe und die von da aus die ganze Welt zum Einsturz bringen werde,
wenn sie nicht rechtzeitig vernichtet werde: »In 300 Jahren wird man, wenn
diese Bewegung sich weiterentwickelt, in Lenin nicht nur einen Revolutionär
des Jahres 1917 sehen, sondern den Begründer einer neuen Weltlehre, mit einer
Verehrung vielleicht wie Buddha.« (Vgl. Max Domarus, Hitler - Reden und
Proklamationen 1932-1945, Band 1, 1962, S. 68-90, S. 77 [der Text wurde nicht
etwa geheimgehalten, sondern gleich zweimal publiziert {gekürzt} im Völkischen
Beobachter vom 19.04.1932 und dann in der Broschüre: Vortrag Adolf Hitlers
vor westdeutschen Wirtschaftlern im Industrieklub zu Düsseldorf, 1932]).
Einer so »gigantischen Erscheinung« begegnet Hitler offensichtlich
nicht mit Verachtung, und er polemisiert ausdrücklich gegen diejenigen Unternehmer,
welche eine umfassende Industrialisierung Rußlands nicht für möglich
halten. Vielmehr versteht er sich selbst hier ganz unverkennbar als Anti-Lenin,
als den einzigen Mann, der diese Entwicklung aufzuhalten vermag, grundsätzlich
ganz genau so, wie Trotzki es getan hatte, als er ihn den »Ober-Wrangel
der Weltbourgeoisie« genannt hatte (**).
Nur ist in seinen Augen alles dasjenige Menschheitsverfall und Dekadenz, was für
Trotzki Fortschritt und Emanzipation ist, denn die Industrialisierung Rußlands
und die präsumtive Ausbreitung des Bolschewismus auf Asien können sich
nur auf die Ausnützung westlicher Leistungen und auf die rücksichtslose
Niedrighaltung des Lebensstandards der russischen bzw. asiatischen Massen gründen.
Allerdings schreibt Hitler auch der westlichen Welt nicht etwa das Verdienst zu,
die Lebensumstände der Asiaten und anderer Völker verbessert zu haben,
und er scheut nicht davor zurück, sich der Sache nach für den Vorkämpfer
des westlichen oder abendländischen Egoismus zu erklären, welcher für
ihn nichts anderes als die naturgewollte Herrschaft des höheren und kultivierteren
Menschentums über das niedrige und barbarische ist. Aber ob das nun ein bis
dahin unvorstellbares Bekenntnis zum reaktionärsten Imperialismus
ist oder ob es sich um die Übersteigerung einer im Kern richtigen Einsicht
handelt: Jedenfalls kann sich ein Mensch nichts Größeres vornehmen,
als in dem übergreifenden weltgeschichtlichen Prozeß im Dienste einer
Sache eine entscheidende Rolle zu spielen, und daher muß jede Auffassung
als unzureichend gelten, die in Hitler bloß einen deutschen Nationalisten
sehen will. Ein bloßer Nationalist hätte sich bestimmt nicht in dem
Sinne geäußert, wie Hitler es im Dezember 1932 gegenüber dem Oberst
von Reichenau tat: Er halte die Sowjet-Diplomatie für verhandlungs- und vertragsunfähig,
denn Verträge könnten nur zwischen Kontrahenten auf gleicher weltanschaulicher
Ebene abgeschlossen werden. (Vgl. Thilo Vogelsang, Hitlers Biref an Reichenau
vom 4. Dezember 1932, in: Vjh. f. Ztg., Band 7 [1959], S. 429-437, S. 434).
(Ebd., 1987, S. 217-218).Hitler ... war nicht ein Politiker
mit ideologischen Überzeugungen, wie es Stresemann und Brüning gewesen
waren, sondern er war ein Ideologe mit politischem Willen .... (Ebd., 1987,
S. 220).Was in der Sowjetunion vor sich ging, war also eine Industrialisierung
unter Kriegsverhältnissen auf der Grundlage einer Lehre, die sich marxistisch
nannte. Sowohl in ihrer Gewaltsamkeit wie in ihrer Schnelligkeit bildete sie einen
schroffen Gegensatz zu der Industriellen Revolution, wie sie sich zunächst
in England und dann im übrigen Westen während langer Jahrzehnte entfaltet
hatte. Da sie mit ihrem Vorrang der Schwerindustrie notwendigerweise bedeutete,
daß der räumlich größte Staat der Welt sich ein gewaltiges
Rüstungspotential schuf, mußte sie im ganzen Westen Besorgnis und Angst
hervorrufen, aber sie fand auch viel Sympathie unter den Intellektuellen, die
manchmal die Dekadenz, manchmal die Entfremdung und manchmal die Kriegslüsternheit
der westlichen Staaten kritisierten, manchmal aber auch alles auf einmal. Sidney
und Beatrice Webb schrieben in einem Buch über die Sowjetunion als »eine
neue Zivilisation«, und Bernard Shaw glaubte, aus einem »Land der
Hoffnung« in eine Weltregion der Hoffnungslosigkeit zurückzukehren,
als er von Moskau die Rückreise nach London antrat. (Ebd., 1987, S.
221).So sprachen die einen vom Lande der Staatssklaverei und des
neualten Despotismus und die anderen von dem völlig neuen Ethos der russischen
Arbeiter, die von ihrer Arbeit »etwas Besseres und Größeres erwarteten,
als man mit Geld erlangen kann« (Josef Stalin [der
damit wohl nur den Tod gemeint haben kann; HB], a.a.O., S. 238).
(Ebd., 1987, S. 222).»Bekanntlich blickte das alte Rom auf
die Vorfahren der heutigen Deutschen und Franzosen genauso, wie jetzt die Vertreter
der höheren Rasse auf die slawischen Stämme blicken ....
Herausgekommen ist dabei, daß sich die Nichtrömer, das heißt
alle Barbaren gegen den gemeinsamen Feind zusammenschlossen und Rom
über den haufen rannten .... Wo ist die Garantie, daß die schriftstellernden
faschistischen Politiker in Berlin mehr Glück haben werden als die alten
kampferprobten Eroberer in Rom? Wäre es nicht richtiger, das Gegenteil
anzunehmen.« (Josef Stalin, a.a.O., S. 264). (Ebd., 1987, S. 222-223).So
hätte es vermutlich der Zeitungsmeldungen nicht bedurft, um Hitler der Bitte
Francos um Lieferung von 20 Transportflugzeugen geneigt zu machen, die ihm am
Abend des 25. Juli (1936; HB) in Bayreuth durch
zwei deutsche Geschäftsleute übermittelt wurde. Diese Bitte trug alle
Zeichen der Improvisation an sich, und sie wäre vom Auswärigen Amt abgelehnt
worden, weil man die Risiken für zu groß hielt und überdies das
Leben der Deutschen im republikanischen Spanien nicht gefährden wollte. Hitler
aber war sofort der Überzeugung, daß der Bolschewismus nach Spanien
greife und daß ihm die der Weg versperrt werden müsse. (Ebd.,
1987, S. 249-250).In der Sowjetunion waren sehr bald nach dem Ausbruch
des Bürgerkrieges große Solidaritäts- und Protestveranstaltungen
sowie Geldsammlungen durchgeführt worden, aber zunächst scheint Stalin
gemeint zu haben, daß die Organisierung der Internationalen Brigaden als
unmittelbare Hilfe genügen würde. Nichts hätte ihm in der gegebenen
weltpolitischen Lage unangenehmer sein müssen als der Nachweis, daß
er dabei sei, in Spanien eine bolschewistische Revolution nach dem Muster der
russischen in Gang zu setzen. Schon der begründete Verdacht hätte alle
Chancen einer Politik des großen Widerstandes (mit
allen europäischen Staaten und den USA gegen Hitler [Deutschland]; HB)
zerstört und die Gefahr eines Einvernehmens zwischen England und Deutschland
heraufbeschworen, der er doch durch die Verkündung der Volksfrontpolitik
auf dem 7. Kongreß der Komintern im Juli/August 1935 gerade hatte begegnen
wollen. (Ebd., 1987, S. 251).Im Sommer 1938 war Lenins Partei
mit alleiniger Ausnahme der bewährtesten Stalinanhänger praktisch vernichtet.
... Als im März 1939 der 18. Parteitag der KPdSU zusammentrat, da waren von
den 1966 Delegierten des 17. Parteitages von 1934 nicht weniger als 1108 tot oder
verschwunden. Aber sogar von dem Rest waren bloß 59 wieder im Saal. Keine
kommunistische Partei der Welt war bis dahin einem derartigen Massaker unterzogen
worden, auch nicht die KPD unter Hitler. Keinem Volk waren jemals in Friedenszeiten
von der eigenen Führung derartige Verluste zugefügt worden. Das nationalsozialistische
Deutschland mußte sich 1937 und 1938 mit seinen wenigen Konzentrationslagern
und höchstens 30000 politsichen Häftlingen im Vergleich beinahe wie
ein normaler westeuropäischer Staat ausnehmen. (Ebd., 1987, S. 263).Die
große Säuberung kann (muß aber nicht; HB) als eine unumgängliche Maßnahme der Vorbereitung auf den
Verteidigungskrieg um Leben und Tod betrachtet werden. (Ständige
Bezugnahme auf Deutschland und das Schüren von Angst, Deutschland stünde
kurz vor der Eroberung Rußlands u.s.w.; HB). Aber neben dieser
herrschenden Meinung existiert seit langem eine zweite Interpretation, die anscheinend
zuerst von Walter Krivitsky vorgebracht wurde und auch in der Gegenwart Vertreter
hat. Danach steuerte Stalin von früh an auf eine Einigung mit Hitler hin,
den er zugleich fürchtete und bewunderte. .... Eine dritte Auslegung sieht
in Stalin den unerschütterlichen Weltrevolutionär, der die rhetorischen
Weltrevolutionäre beseitigen mußte, wenn er die einzige Zitadelle
des Kampfes gegen den Kapitalismus und den faschismus festigen wollte. (Diese
Auslegung deute ich aber eher als eine Entschuldigung für Stalins Morde,
diese überdimensionalen und singulären, an Grausamkeit unübertreffbaren
Morde; HB). Ihr steht als vierte Möglichkeit schroff das ganz
negative und oftmals marxistische Urteil gegenüber, daß Stalin in dieser
Säuberung zum orientalischen Despoten oder aber zu einer Art von Nationalsozialisten
geworden sei. (Ebd., 1987, S. 265-266).Hitler ... machte
Deutschland zum weitaus mächtigsten Staat ..., und er schaltete zugleich
die Sowjetuion so weitgehend aus dem Konzert der Mächte aus, daß jenes
große Einvernehmen hergestellt schien, das er immer erstrebt hatte.
(Ebd., 1987, S. 267).Am 5. November 1937
rief Adolf Hitler seine engsten Mitarbeiter zu einer Besprechung in der Reichskanzlei
zusammen, nämlich den Außenminister von Neurath, den Kriegsminister
von Blomberg, die Oberbefehlshaber des Heeres, der Marine und der Luftwaffe Fritsch,
Raeder und Göring. Ferner war der Wehrmachtsadjutant Oberst Hoßbach
anwesend, welcher bald nachher eine eine Niederschrift anfertigte, von der nach
dem Kriege eine Abschrift in die Hände der Alliierten gelangte, das sogenante
Hoßbach-Protokoll (**).
Die Absicht Hitlers bestand offenbar darin, dieser kleinsten Führungsspitze
den bevorstehenden Übergang zu einer aktiven Außenpolitik anzukündigen.
... In seinen Ausführungen war ... ausschließlich von einer »Lösung
der deutschen Frage« die Rede, und darunter verstand er nichts anderes als
die Beseitigung der »Raumnot«, d.h. die Gewinnung eines größeren
Lebensraumes: Nach seinen Worten ein Streben, das zu allen Zeiten die Ursache
der Staatenbildung und Völkerbewegung gewesen sei. »... Deutschland
sei zur Offensive gezwungen«, und es sei daher sein unabänderlicher
Beschluß, spätestens 1943-1945 die deutsche Raumfrage zu lösen.
... Es war ganz und gar der Hitler des »politischen Testaments« aus
»Mein Kampf«, der hier sprach (**),
und zu Beginn bezeichnete er seine Ausführungen tatsächlich als »testamentarische
Hinterlassenschaft« für den Fall seines Ablebens. Hitler enthüllte
sich abermals als derjenige, der er war: ein ganz und gar auf 1917/'18 und hier
auf die alliierte Blockade fixierter Mann, der aber zugleich, ihm selbst wohl
unbewußt, auf parasigmatische Weise die Position verkörperte, welche
sich ergibt, wenn man die marxistische Klassenkampfdoktrin von den Momenten des
Internationalismus und des »Humanismus« (Anführungszeichen
von mir; HB) löst, wie es übrigens Marx und Engels selbst
hin und wieder ansatzweise getan hatten. (Vgl. Ernst Nolte, Marxismus
und Industrielle Revolution, 1983, S. 466ff.). Aber der biologistische
Marxist oder der Sozialdarwinist war nicht der ganze Hitler. Unterhalb der eroberungssüchtigen
Zuversicht des Protagonisten der »besseren Rasse« wird doch sogar
hier die Besorgnis, ja Angst spürbar, mit der er einen Vorgang verfolgt,
der in das biologistische Weltbild nicht recht hineinpaßt, nämlich
»die vom Bolschewismus ausgehenden Wirtschaftszerstörungen«,
die er mit der »vom Christentum ausgehenden auflösenden Wirkung«
in Parallele setzt, welche das Römische Weltreich dem Ansturm der Germanen
habe erliegen lassen, jenes Weltreich, an dessen Größe und dauerhaftigkeit
sich Hitler unverkennbar orientierte. Offensichtlich hätte er nur einen kleinen
Schritt tun müssen, um zu dem angeblichen Urheber dieser Auflösung zu
gelangen, aber das Wort »Jude« kommt nicht vor. (Ebd., 1987,
S. 267-268).Die Frage ist, warum sich Hitler vor seinen nächsten
Mitarbeitern in so provozierneder Einseitigkeit darstellte. Die wahrscheinlichste
Antwort ist die, daß er diese Mitarbeiter einer Art Prüfung unterziehen
wollte. (Ebd., 1987, S. 268-269).Daß die Österreichfrage
im Frühjahr 1938 zur Lösung reif sei, war von vielen Beobachtern vorhergesagt
worden. In der Tat handelte es sich um eins der schwierigsten Probleme der deutschen
Geschichte, und schon durch seine bloße existenz war es ein Symptom für
die singuläre Lage des deutschen Volkes in Europa, denn weder die Engländer
noch die Franzosen noch die Italiener lebten in zwei Staaten. .... Bismarck schloß
... Österreich aus dem Deutschen Bund (bzw. dem Reich) aus, dessen Bestandteil
es viele Jahrhunderte lang (länger als ein Jahrtausend
! HB) gewesen war, und vollzog damit die »Teilung Deutschlands«.
1918/'19 schien der Zeitpunkt gekommen, wo sich Deutsch-Österreich als Überrest
der zerstörten Habsburgermonarchie aufgrund des Willens der üebrwältigenden
Mehrheit der Bevölkerung mit dem ... Bismarckreich zu dem genuinen Nationalstaat
aller Deutschen zusammenschließen würde, aber ... die Alliierten, die
nach ihren Proklamationen für Demokratie und Selbstbestimmung gekämpft
hatten, stellten machtpolitische Überlegungen höher als Prinzipien und
verwehrten durch ein »Anschlußverbot« den deutschen die Selbstbestimmung,
die sie den westslawischen Nationen wie Polen und Tschechen sicherten ..., ...
hatten die Allierten im deutschsprachigen Raum eine Irredenta hervorgerufen ....
(Ebd., 1987, S. 270-271).(Österreich) ... Ausbruch von beinahe
allgemeinem Enthusiasmus die einrückenden deutschen Truppen mit Blumen überschüttet
wurden und ... Hitler selbst von jubelnden Massen wie ein Erlöser gefeiert
wurde. .... Das demokratische Selbstbestimmungsrecht zum unblutigsten seiner Erfolge
.... (Ebd., 1987, S. 272).Die Frage der Sudetendeutschen
war von ähnlicher Art wie diejenige der Deutschösterreicher .... Wäre
es nach dem Willen der Bevölkerung gegangen (also:
nach der Demokratie und nicht nach dem antidemokratischen
Versailler Diktat! HB), so wären Österreicher und Sudetendeutsche
damals zu Bürgern des Deutschen Reiches geworden. (Ebd., 1987, S. 273).Als
Lord Edward Halifax ... Hitler am 19. November 1937 auf dem Obersalzberg einen
Besuch machte, da dürfte er Hitlers Aussage innerlich zugestimmt haben: Die
einzige Katastrophe sei der Bolschewismus, alles andere lasse sich regeln. Schon
am beginn des Gesprächs hatte er nämlich Deutschland als ein »Bollwerk
des Westens gegen den Bolschewismus« bezeichnet. (Ebd., 1987, S. 275).Am
20. Februar 1938 eröffnete Hitlers Rede über die »zehn Millionen
unterdrückter Deutscher«, die auch äußerst heftige Angriffe
gegen den Kommunismus und die Sowjetunion enthielt (**),
die Sudetenfrage bereits offiziell, bevor die Österreichfrage gelost war.
(Ebd., 1987, S. 277).Hitler ... traf ... sich mit Chamberlain,
Deladier und Mussolini (am 29.09.1938; HB) zur
Münchener Konferenz, auf der mit geringen Modifikationen alle seine Forderungen
erfüllt wurden. Ein Vertreter der Sowjetunion war nicht eingeladen. Hitler
und Chamberlain unterzeichneten am 30. September eine Erklärung, in der sie
mit optimistischem Ton den Wunsch beider Völker zurm Ausdruck brachten, »niemals
wieder gegeneinander Krieg zu führen«, und nach seiner Ankunft in London
sprach Chamberlain von dem »ehrenvollen Frieden«, den er aus Deutschland
mitgebracht habe und der ihn hoffen lasse, daß »zeit unseres Lebens«
Friede herrschen werde. Benesch verließ wenige Tage später Prag und
ging ins Exil. Die einrückenden deutschen Truppen wurden von der Bevölkerung
mit noch einhelligerem Jubel begrüßt, als es in Osterreich der Fall
gewesen war. Selbst die schärfsten Gegner Hitlers konnten nun kaum noch daran
zweifeln, daß trotz der überstandenen Kriegsfurcht die überwältigende
Mehrheit der deutschen Nation als »Volksgemeinschaft« hinter dem Manne
stand, der in diesem Augenblick als die Personifizierung des Volksgeistes gelten
durfte, jenes Volksgeistes, dessen Willen zur Wiedergutmachung des »Unrechts
von Versailles« Lenin und Lansing, Rosa Luxemburg und die Humanité
zwanzig Jahre zuvor auf diese oder jene Weise vorhergesagt hatten. (Die Vorhersagen,
daß aus dem Versailler Frieden [Versailler Diktat
! HB] bzw. aus einem Gewaltfrieden [ja:
Diktatfrieden! HB] ein neuer Krieg oder zum mindesten eine heftige
nationalistische Reaktion hervorgehen werde, waren 1919 und in den frühen
zwanziger Jahren zu zahlreich, als daß sie im einzelnen belegt zu werden
brauchten.). Unter weltpolitischen Gesichtspunkten steltl sich die Münchener
Konferenz im Rückblick als die letzte Gelegenheit dar, bei der die europäischen
Mächte ein europäisches Problem in eigener Regie und unter Ausschluß
sowohl der Sowjetunion wie der USA lösten. In diesem Konzert der vier Mächte
führte unzweifelhaft Hitler die Stimme. (Ebd., 1987, S. 278-279).Es
war nicht nur das zufällige Ereignis der Ermordung des Legationsrats Ernst
von Rath durch den 17jährigen Herschel Grünspan am 7. November 1938
in der Pariser Botschaft des Deutschen Reiches, die das auffallende Wierderhervortreten
des Antikommunismus zu weisen schienen. (Ebd., 1987, S. 281).Das
antisemitische Motiv, das immer zu Hitlers genuinsten Beweggründen zählte,
auch wenn es manchmal von anderen überdeckt wurde, kam wenig später
in einer Weise zum Vorschein, wie es bis dahin noch in keiner öffentlichen
Äußerung des »Führers und Reichskanzlers« der Fall
gewesen war. In der Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 war nicht so sehr die berühmte
und später immer wieder zitierte Voraussage der »Vernichtung der jüdischen
Rasse in Europa« (falls das internationale Finanzjudentum die Völker
noch einmal in einen Weltkrieg stürze) das Symptomatische und Hervorstechende,
denn gleichzeitige Äußerungen lassen es wahrscheinlich sein, daß
hier nicht von physischer Vernichtung die Rede war. Weit aufschlußreicher
war ein anderer Satz, nämlich: »Über die jüdische Parole
Proletarier aller Länder, vereinigt euch wird eine höhere
Erkenntnis siegen, nämlich: Schaffende Angehörige aller Nationen,
erkennt euren gemeinsamen Feind.« So klar hatte Hitler noch nie der
Welt zu erkennen gegeben, daß Antibolschewismus, Antimarxismus und Antisemitismus
für ihn eine Einheit bildeten und daß er keineswegs bloß die
Revision von Versailles, die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes für
das deutsche Volk oder den osteuropäischen Lebensraum eines »Germanischen
Reiches« als Ziele hatte, sondern daß er zugleich eine Lehre von der
Erlösung der Welt verkündete, die sich grundsätzlich an alle Menschen
richtete und die der marxistischen Doktrin genau entsprach, obwohl sie ihr dem
Sinne nach entgegengesetzt war, Es ist nicht ausgeschlossen, daß Hitler
seinen Antisemitismus auch aus taktischem Kalkül ins Spiel brachte, weil
er sich mit den antijüdischen StrÖmungen in England und Amerika verbünden
wollte. Er übersah jedoch, daß in England und Amerika zwar gerade innerhalb
der Oberschichten eine gewissermaßen selbstverständliche Abneigung
gegen die Juden weit verbreitet war, daß aber Chamberlain und Halifax nicht
(oder doch?) im ideologischen Sinne Antisemiten waren
oder sein konnten. Wenn er nun auf internationaler Ebene ein Bündnis im zeichen
des Antikomminismus erstrebte, dann mußte der Antisemitismus kontraproduktiv
wirken (oder doch nicht?), anders als gegenüber
Hugenberg und Papen in Deutschland. (Ebd., 1987, S. 283-284).Nichts
war für die Deutschen der Weimarer Republik ja schmerzlicher und unerträglicher
gewesen als die Existenz des polnischen »Korridors«, der Ostpreußen
vom Reichsgebiet trennte, und damit auch die selbständige Existenz der »Freien
Stadt Danzig«. Nirgendwo durften sich die Deutschen mit größerem
Recht über Benachteiligungen, ja Entrechtungen und Verfolgungen ihrer Landsleute
beklagen. Hitler hatte im Januar 1934 die Richtung der Weimarer Republik radikal
umgekehrt, und niemand außer ihm wäre dazu in der Lage gewesen. Sein
Motiv war offensichtlich die antikommunistische Sympathie mit dem Regime von Marschall
Pilsudski, der ja im Jahre 1920 die Bolschewiki vielleicht niedergeworfen hätte,
wenn er sich zur Unterstützung der letzten weißrussischen Armee bereit
gefunden hätte. Als Hitler Ende Oktober 1938 dem polnischen Botschafter Lipski
durch Ribbentrop den Vorschlag machen ließ, einer Rückkehr Danzigs
zum Reich zuzustimmen und eine exterritoriale Autobahn sowie eine entsprechende
Eisenbahnlinie durch den Korridor zu akzeptieren, da hatte er eine »Generalbereinigung«
aller bestehenden Reibungsmöglichkeiten im Auge, welche »die Krönung
des vom Marschall Pilsudski und vom Führer eingeleiteten Werkes« sein
würde. Der Hintergrund war ganz unverkennbar die Perspektive eines gemeinsamen
Kampfes gegen die Sowjetunion, und in den weiteren Gesprächen, die Hitler
und Ribbentrop in den folgenden Monaten mit Lipski und dem Außenminister
Beck führten, war nicht selten beziehungsreich von der Ukraine die Rede,
und eine Ablehnung seitens der Polen war nicht erkennbar. Aber andererseits wies
Lipski schon zu Anfang darauf hin, daß Danzig für Polen eine besondere
und symbolische Bedeutung habe und daß eine exterritoriale Autobahn eine
schwere Einbuße an Souveränität darstelle. Tatsächlich hatte
Hitler ja um seiner höheren Ziele willen eine Generalbereinigung mit Italien
dadurch zustande gebracht, daß er auf Südtirol feierlich verzichtete.
Hier aber verlangte er etwas, wenngleich in der Hauptsache bloß die Aufgabe
eines Rechtsverhältnisses, nämlich der Einbezogenheit der Freien Stadt
Danzig in das polnische Zollgebiet. Hitler bedachte nicht, daß ein radikalfaschistischer
Staat vor der Folie seiner viel weiter gespannten Endziele Verzichtpolitik treiben
kann, daß aber ein faschistoider Nationalismus dazu am wenigsten in der
Lage ist. So ging die freundschaftliche Atmosphäre der Besprechungen mehr
und mehr verloren, die Stimmung der polnischen Öffendichkeit verschlechterte
sich sichtlich; man empörte sich darüber, daß Deutschland im Wiener
Schiedsspruch eine gemeinsame Grenze zwischen Polen und Ungarn verhindert hatte,
und man ging ziemlich scharf gegen die deutsche Minderheit vor. (Ebd., 1987,
S. 288-289).Doch erst der 15. März verhärtete die Situation
endgültig. Jetzt war die polnische Öffentlichkeit überzeugt, daß
Polen als nächster Staat »an die Reihe kommen« werde; und der
deutsche Schutz für die Slowakei bedeutete ja unzweifelhaft eine außerordendiche
Verschlechterung der strategischen Lage Polens, wenn es sich als Gegner und nicht
als Bündnispartner des Deutschen Reiches betrachtete. Trotzdem stimmte Beck
dem nächsdiegenden aller Vorschläge nicht zu, den nun die britische
Regierung machte: daß Polen zusammen mit England, Frankreich und der Sowjetunion
eine Erklärung abgeben solle, die den Willen zum gemeinsamen Widerstand gegen
jede Bedrohung der politischen Unabhängigkeit irgendeines europäischen
Staates zum Ausdruck bringen würde. Sogar eine Politik des großen Widerstandes
mußte für das Polen des siegreichen Krieges gegen Sowjetrußland
von 1920 gefahrvoll sein, und das polnische Obristenregime konnte die unverkennbare
Tendenz zum ideologischen Antifaschismus noch viel weniger akzeptieren als die
Regierung der Konservativen Partei in England. So plädierte Beck für
ein zweiseitiges Abkommen, und am 31. März gab Chamberlain im Unterhaus eine
Erklärung ab, die britische Regierung werde der polnischen Regierung alle
in ihrer Macht liegende Unterstützung gewähren, wenn eine Aktion eintrete,
»welche die polnische Unabhängigkeit klar bedrohen und gegen welche
die polnische Regierung entsprechend den Widerstand mit ihrer nationalen Wehrmacht
als unerläßlich ansehen würde«. Die Formulierung war nicht
ganz klar, und Hiders Vorschläge bedrohten die Unabhängigkeit Polens
nicht notwendigerweise. Aber man konnte diese Erklärung als eine einseitige
- und in der englischen Geschichte völlig präzedenzlose - Garantie ansehen,
welche die britische Regierung zur bewaffneten Intervention verpflichtete, selbst
wenn bloß die Danziger Regierung den Anschluß an das Reich erklären
und wenn Polen mit Waffengewalt dagegen vorgehen würde. Die Entscheidung
über Krieg und Frieden wurde also in die Hände der Polen gelegt, obwohl
Beck in London wesendiche Tatbestände verschwiegen hatte und obwohl Henderson
die deutsche Sache »keineswegs ungerechtfertigt oder unmoralisch«,
die Polen jedoch »heroisch, aber auch Narren« nannte. Sogar unter
führenden Polen gab es große Bedenken, und der polnische Botschafter
in Paris, Juliusz Lukasiewicz, sprach sich sehr negativ über die innenpolitischen
Motive Chamberlains aus, die nach seiner Meinung auf einen »ideologischen
Kampf gegen den Hitlerismus« und auf die Hervorrufung eines Umsturzes in
Deutschland abzielten. (Ebd., 1987, S. 289-290).Beck wiederum
leitete aus Hitlers Antikommunismus gerade die Überzeugung ab, daß
er schlechterdings außerstande sei, eine antipolnische Abmachung mit der
Sowjetunion auch nur ins Auge zu fassen. (Ebd., 1987, S. 290).So
wären die Verhandlungen um einen wechselseitigen Beistandspakt, die während
der Sommermonate zwischen den Westmächten und der Sowjetunion geführt
wurden, auch dann nicht sehr aussichtsreich gewesen, wenn man sich tatsächlich
auf eine gemeinsame Linie des Kampfes gegen den Hitlerfaschismus hätte einigen
können. Es ging ja zunächst um Polen, und Polen konnte nur dann Hilfe
gegen Deutschland erwarten, wenn es den sowjetischen Truppen den Einmarsch gestattete.
Das aber würde nach der Überzeugung Becks und des Marschalls Rydz-Smigly
den Verlust jener Ostgebiete nach sich ziehen, die man im Frieden von Riga den
Russen abgenommen hatte, und so gut wie niemand war in Polen bereit, dem sowjetischen
Beelzebub Brest-Litowsk und Lemberg auszuliefern, um Danzig gegen den deutschen
Teufel verteidigen zu können. Da die Sowjetunion überdies die Frage
der Sicherheit der baltischen Randstaaten zum Thema machte, waren die Verhandlungen
noch über das Maß des Wahrscheinlichen hinaus von tiefstem gegenseitigen
Mißtrauen erfüllt, denn die Russen fürchteten, die Westmächte
wollten die Sowjetunion und Deutschland sich auf den polnischen Schlachtfeldern
wechselseitig erschöpfen lassen, und im britischen Auswärtigen Amt war
die umgekehrte und ältere Vermutung noch ganz lebendig, es komme der Sowjetunion
darauf an, die Westmächte in einen Krieg mit Deutschland zu verwickeln, um
später ganz Europa beherrschen und dem Sowjetsystem unterwerfen zu können.
So machten die Verhandlungen, die im Juli und August von einer englisch-französischen
Militärmission in Moskau mit Marschall Woroschilov geführt wurden, nur
langsame Fortschritte. Da schlug wie ein Blitz aus mäßig bedecktem
Himmel die Nachricht ein, am 23. August werde der Reichsaußenminister von
Ribbentrop in Moskau eintreffen, um einen Nichtangriffspakt zwischen Deutschland
und der Sowjetunion abzuschließen. Auch die antifaschistische Konzeption,
die nie mehr als eine Tendenz innerhalb der Politik des großen Widerstandes
gewesen war, war nun gescheitert. Die anscheinend aus ideologischen Gründen
unmögliche und lange Zeit kaum beachtete fünfte Hauptmöglichkeit
der Weltpolitik hatte sich durchgesetzt: die Verständigung zwischen den Feinden,
welche eine Wiederaufnahme der Rapallo- Politik zu sein schien. Dadurch wurde
der drohende Weltkrieg abgewendet, aber auch die wahrscheinlichere Fesselung Hitlers
gesprengt: Das Startzeichen zum europäischen Teilkrieg war gegeben, falls
die Westmächte daran festhielten, ihre Verpflichtungen Polen gegenüber
zu erfüllen. (Ebd., 1987, S. 290).Hitler ... bot ...
der Welt noch einmal das Gesicht des bloßen Revisionisten, des Kämpfers
gegen das Unrecht von Versailles. .... Die Lage Polens war hoffnungslos. Sehr
viel (alles!) sprach für die Richtigkeit von
Hitlers Prophezeiung, das britische Empire werde einen Krieg in keinem Falle überleben.
(Ebd., 1987, S. 298).So schloß Hitler um eines relativ geringen
Vorteils wille ein Bündnis mit seinem Feind und griff seine Freunde an,
(Ebd., 1987, S. 299).Erst mit dem Kriegsausbruch gelangte der Nationalsozialismus
in sein spezifisches und jedenfalls biologisches Vernichtungswesen, während
der Bolschewismus seinen Willen zur sozialen Vernichtung von den ersten Anfängen
seiner Herrschaft an ... an den Tag gelegt hatte. (Ebd., 1987, S. 270).Am
5. September (1939) veröffentlichte die Times
den Text eines Offenen Briefes, den Dr. Chaim Weizmann, der Vorsitzende der »Jewish
Agency for Palestine«, an den britischen Premierminister gerichtet hatte.
Darin bekräftigte Wiezmann die schon vor dem 1. September abgegebene Erklärung,
daß die Juden auf der Seite Großbritanniens stehen und zusammen mit
den Demokratien (?) kämpfen würden. Gewiß
war die »Jewish Agency for Palestine« nicht die Regierung eines Staates,
aber sie war auch keineswegs eine bloße private Organisation. Und wenn irgend
jemand in der Welt für alle Juden und nicht bloß für die Juden
Palästinas sprechen durfte, dann war es Chaim Weizmann, der 1917 der Verhandlungspartner
von Lord Balfour gewesen war und der viele Jahre lang an der Spitze der zionistischen
Weltorganisation stand. Es ist daher keinneswegs von vornherein abwegig, von einer
»jüdischen Kriegserklärung an Hitler« z usprechen. ....
Hitler hatte sich eine Menschengruppe zum Todfeind gemacht, die zwar längst
nicht so mächtig war, wie er wieder und wieder behauptete, die aber in England
un den USA über großen Einfluß verfügte. (Ebd., 1987,
S. 300-301).
Strukturen zweier EinparteistaatenDie
Behauptung ist zulässig, daß die Kommunistische Partei Sowjetrußlands
von ihrer Frühzeit an auch in einem engeren Sinne eine »Führerpartei«
war, ja daß sie einen wahren Führerkultr ausbildete, der sogar von
sympathisierenden Beobachtern angesichts des Lenin-Mausoleums häufig »Reliquienkult«
genannt und mit religiösen Phänomenen verglichen wurde. (Ebd.,
1987, S. 325).Eine Fülle von Materialliegt dagegen in bezug
auf die NSDAP vor, die sich ja vor ihrer Machtergreifung 14 Jahre lang im Schoße
einer Gesellschaft entwickelte, die sich durch kein grundlegendes soziales Merkmal
von anderen europäischen Gesellschaften unterschied. Alle diese Gesellschaften
sind als kleinbürgerliche Gesellschaften zu charakterisieren, d.h. sie bestehen
nicht in der großen Mehrheit aus Bauern und Arbeitern, sondern sie verfügen
über eine vergleichsweise sehr breite Mittelschicht, die sich einer vermittelnden
und organisierenden Tätigkeit widmet. (**).
Zusammen mit den alten Klassen des Bildungsbürgertums und des Kleinadels
macht sie unterhalb der Oberschicht aus Großbürgertum und Aristokratie
nicht viel weniger als die Hälfte der Bevölkerung aus und bildet nicht
so sehr eine Klasse wie eine alldurchdringende Atmosphäre, gleichsam das
Filtrierbecken der Nation und der Gesellschaft, das niemals eine einheitliche
politische Position einnimmt und mit der Oberschicht der Arbeiterklasse ebenso
eng verbunden ist wie mit dem »werktätigen« Teil des Großbürgertums.
Wegen dieser Vielfalt hat die Mittelschicht nie ein Heldenbild ihrer selbst entwickelt,
sondern sich vielmehr unablässig kritisiert und eben dadurch eine Bewegtheit
in die Gesellschaft gebracht, die einer kriegerischen Adelsgesellschaft so fremd
ist wie einem Staat aus Kleinbauern. 1870 und noch 1920 war es eine Frage, ob
dieses Grundelement aller westlichen Gesellschaften im Rückgang begriffen
war oder im Vordringen, und Karl Marx hat keineswegs nur die eine These aufgestellt,
sondern auch die andere. Man konnte sogar mit einem Körnchen Salz behaupten,
der Begriff des revolutionären Proletariats sei wie überhaupt der Sozialismus
eine Erfindung des Kleinbürgertums, weil er der Abneigung von Menschen kleinbürgerlicher
Herkunft gegen bestimmte und in der Tat oft obsolete Züge ihrer Jugendwelt
entsprungen sei. Jedenfalls sagt man nichts Gehaltvolles, wenn man die NSDAP als
kleinbürgerliche Bewegung bezeichnet und immer wieder Feststellungen bestätigt
oder geringfügig modifiziert, die bereits in der offiziellen »Partei-Statistik«
von 1935 zu finden sind und die zeigen, daß die Arbeiter in der Partei mit
32% gegenüber dem Anteil von 47% in der Bevölkerung unterrepräsentiert
sind und daß dieser Anteil bei den Kreisleitern bis auf 8% gesunken ist.
Vergleichbare Tatbestände, nämlich Abweichungen von einer vorgestellten
oder postulierten Gleichheit der Repräsentation, finden sich in allen Staaten
und Parteien, wo der Begriff der Repräsentation etwas zu besagen hat, und
das kennzeichnende am Nationalsozialismus ist ausschließlich der vergleichsweise
sehr hohe Arbeiteranteil innerhalb einer Mittelstandsbewegung? Ebensowenig gehaltvoll
ist die These von den »Deklassiertem«, die bis zu einem gewissen Grade
für jede radikale Partei zutrifft. Im übrigen ist »Deklassierung«
in solchen Fällen häufiger die Folge als die Ursache der Tätigkeit
für eine Partei, und so war es auch bei der NSDAP. Die relative Zahl der
Parteigenossen in einzelnen Regionen hing viel weniger von der sozialen Zusammensetzung
ab als von außersoziologischen Faktoren wie Grenznähe, Konfession und
freiwilliger Teilnehmerschaft am Kriege. Nicht zuletzt war die NSDAP wie die KPdSU
eine Partei der Jugend. Weitaus erhellender als statistische Aufstellungen über
Anteile an jeweils erst zu definierenden Klassen oder Schichten ist eine frühe
Aussage Clara Zetkins aus dem Jahre 1923, faschistische Parteien beständen
tendenziell aus den stärksten und entschlossensten (und, wie man wohl ergänzen
muß, erregbarsten) »Elementen aller Klassen« (Ernst Nolte [Hrsg.],
Theorien
über den Faschismus, 1967, S. 92). Mit ebensogroßem Recht könnte
man sagen, die bolschewistische Partei habe 1917 aus den energischsten und aktivsten
Elementen der russischen und nicht-russischen Intelligenz sowie der Arbeiter bestanden.
Die entscheidende Frage aber, aus welchen Gründen sich in Rußland bzw.
in Deutschland diese Elemente zu einer Partei zusammengeschlossen haben, ist nicht
durch die Soziologie, sondern nur durch die Geschichte zu erklären. Zwar
läßt sich die Unterschiedlichkeit der beiden Parteien aus soziologischen
und historischen Gegebenheiten einigermaßen verständlich machen, doch
ihre Entwicklung und zumal die Machtergreifung resultieren aus ganz spezifischen
Situationen und Ereignissen. Aber wenn diese Machtergreifungen auch keineswegs
bloße Coups waren oder auf Intrigen bzw. banale Zufälle zurückgeführt
werden können, so fanden die neuen Staatsparteien doch in allen Schichten
der Gesellschaft immerhin so viel Widerstand, daß sie ohne machtvolle Organe
der Durchsetzung und Sicherung ihrer Herrschaft nicht auskommen konnten. Diese
Organe waren nächst den Parteien das wichtigste Strukturelement derjenigen
Staatsform, für die schon vor 1933 der Terminus totalitär in Gebrauch
kam. (Ebd., 1987, S. 336-337).Die Wehrmacht diente von Anfang
an ausschließlich der der äußeren Sicherheit des Staates, und
noch 1937 mochte mancher General der Meinung sein, die nationalsozialistische
Bewegung habe den Sinn, die Sicherheit der Wehrmacht zu garantieren, d.h. sie
ermöglichte die Wiederherstellung der Wehrfreiheit, die durch Versailles
der ehemals besten Armme der Welt entzogen worden sei. Sogar der Sieg über
Frankreich, der weitgehend ein Triumph Hitlers war, änderte nichts daran,
daß die Wehrmacht von direkten Einflüssen der Partei und erst recht
der SS in erstaunlichem Maße frei war, obwohl zahlreiche junge Offiziere
sich der Partei ang verbunden fühlten. (Ebd., 1987, S. 337).»Genossen,
schlagt die rechten Sozialrevolutionäre ohne Gnade, ohne Mitleid, Gerichtshöfe
und Tribunale sind nicht nötig. Der Zorn der Arbeiter soll toben ..., rottet
die Feinde physisch aus.« (Severnaia Kommuna vom 04.09.1918). (**).
(Ebd., 1987, S. 339).Tatsächlich wäre die Behauptung
unberechtigt, die SS und das Reichssicherheitshauptamt hätten Deutschland
1939 oder selbst zu Anfang 1941 so vollständig beherrscht, wie der NKWD als
Instrument Stalins die Sowjetunion beherrschte. Nicht nur war der durchschnittliche
Lebensstandard der Bevölkerung um ein sehr beträchtliches höher,
sondern in Deutschland hatten sich wichtige Bestandteile des Liberalen
Systems in beachtlichen Resten erhalten: eine zwar reglementierte, aber immer
noch relativ freie Wirtschaft, die zahlreichen Regimegegnern Unterschlupf bot;
eine Wehrmacht, in der es keine Parteizellen und schon gar keine »Besonderen
Abteilungen« der Politischen Polizei gab; eine Justiz, die nicht selten
noch ein erhebliches Maß an Selbständigkeit an den Tag legte; Kirchen,
die oft genug das Regime des eigenen Landes meinten, wenn sie gegen die Konzentrationslager
der Sowjetunion predigten. So totalitär Deutschland 1939 neben England und
Frankreich erschien, so liberal mußte es sich für jeden ausnehmen,
der einen genuinen Vergleich mit der Sowjetunion anstellen konnte. Das gilt auch
für die Konzentrationslager und nicht nur unter quantitativen Gesichtspunkten.
Als der ehemalige Kommunist und Stellvertretende Volkskommissar Karl Albrecht
1934 von der GPU nach Deutschland entlassen und gleich wieder von der Gestapo
in Gewahrsam genommen wurde, da nahm er vor allem »die musterhafte Hygiene
und Sauberkeit« wahr, und ein Alptraum fiel von ihm ab, da er »keine
nächtlichen Todesschreie« mehr zu hören brauchte. (Vgl. Karl Albrecht,
Der verratene Sozialismus, 1939, S. 625). Tatsächlich resultierte
sie ja zu einem guten Teil aus dem Frieden, der in Deutschland auch nach 1933
herrschte. Aber die Friedenszeit war nur die erste Hälfte des nationalsozialistischen
Regimes und vermutlich die weniger charakteristische. Das nationalsozialistische
Regime hatte sich in keinem mit den Waffen ausgetragenen Bürgerkrieg behaupten
müssen, aber Adolf Hitler sagte den Generälen 1939 mit klaren Worten,
er habe die Wehrmacht nicht aufgestellt, um nicht zu schlagen, und der Vorblick
auf den Krieg war diesseits aller Friedensbeteuerungen eine Grundtatsache schon
der Jahre von 1933 bis 1937. (Ebd., 1987, S. 347-348).Handelte
es sich in der HJ um eine totalitäre Erziehung? Dagegen scheint zu sprechen,
daß die HJ ihren quantitativ umfassenden Anspruch qualitativ zu beschränken
schien: Schule und Elternhaus wurden als gleichwertige Erziehungsmächte ausdrücklich
anerkannt. Zwar wurde vorausgesetzt, daß Schule und Elternhaus nicht antinationalsozialistisch
waren, aber eine positive Übereinstimmung wurde nicht verlangt: Zahllose
Elternhäuser in Deutschland hatten dem Regime gegenüber erhebliche Vorbehalte,
und in vielen deutschen Schulen waren allenfalls die Turn- und Biologielehrer
Nationalsozialisten, während die große Mehrzahl der Lehrer am ehesten
noch den Geist der nationalen Erhebung zu bewahren suchte. Insofern blieb auch
hier der soziale Pluralismus erhalten, und bis zum Ende des Dritten Reiches war
es in Deutschland unvorstellbar, daß ein Zwölfjähriger, wie in
der Sowjetunion, für den eigenen Vater im Rahmen einer Säuberung die
Todesstrafe fordern könnte. (Vgl. Michail Heller-Alexander Nekrich, Geschichte
der Sowjetunion, 1981, Band I, S. 198). Aber wenn auch kein Pawlik Morozov
zum Nationalhelden erhoben wurde, so fürchteten sich doch zahlreiche Eltern,
in Gegenwart ihrer fanatischen Kinder ein regimefeindliches Wort zu sagen, und
es existierten auch einige Einbruchstellen organisatorischer Art. So wurden die
»Adolf-Hitler-Schulen« von der HJ getragen, und sie unterstanden nicht
dem Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, sondern
der Reichsjugendführung. Die Kinderlandverschickung war nicht nur eine Notmaßnahme,
sondern sie war auch gegen den Einfluß des Elternhauses gerichtet. Außerdem
wurde sogar der Begriff der Erziehung durch das Prinzip der Führung der Jugend
durch die Jugend selbst anscheinend aufgehoben. Aber das Ziel war nicht etwa eine
Jugendwelt, sondern die Vorbereitung zum Militärdienst, und zwar mehr in
einem inneren als in einem äußerlich-technischen Sinne. Adolf Hitler
hatte sein Erziehungsideal in »Mein Kampf« mit klaren Worten beschrieben:
»Die gesamte Erziehungsarbeit des völkischen Staates muß ihre
Krönung darin finden, daß sie den Rassesinn und das Rassegefühl
instinktund verstandesmäßig in Herz und Gehirn der ihr anvertrauten
Jugend hineinbaut. .... Der völkische Staat hat in dieser Erkenntnis seine
gesamte Erziehungsarbeit nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen,
sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie
kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. ..« (Adolf Hitler,
Mein Kampf, 1925-1926, S. 452). In Wahrheit erfolgte sie nicht »erst
in zweiter Linie«, sondern eigentlich überhaupt nicht, da sie einerseits
einer im Kern unveränderten Schule überlassen blieb und andererseits
im Bereich der HJ allenfalls im Sinne der Vorbereitung auf die Reichsberufswettkämpfe
verstanden wurde. In der Tendenz handelte es sich also um einen radikalen Gegenschlag
gegen den »Intellektualismus« der Erziehung, den Hitler offenbar als
ein Produkt »jüdischer Zersetzung« betrachtete und der doch in
Wahrheit zugleich Folge und Voraussetzung der modernen Entwicklung ist. Insofern
war Lenin unvergleichlich moderner, der dem Komsomol den Satz »Lernen, lernen,
lernen« einzuhämmern versuchte. (Die Sowjetunion
war ja ein sehr unterentwickeltes Land gegenüber dem Westen, während
Deutschland schon sehr lange und immer noch an der Weltspitze [Platz 1] stand;
HB). Aber gerade dadurch bewies er auch wiederum, daß er in
weit weniger modernen Verhältnissen agierte, wo Fortschritt und Modernität
sich noch längst nicht so sehr entfaltet hatten, daß sie in ihrer potentiellen
Gefährlichkeit erkennbar wurden. Und die subtilste Konsequenz totalitärer
Erziehung hatte sich ja in Lenins Verachtung der »alten Intelligenz«
schon deutlich genug abgezeichnet: Nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland,
sondern mehr noch im bolschewistischen Rußland wurde die Möglichkeit
kritischen Vergleichs und autonomer Besinnung an der Wurzel abgeschnitten und
durch die vorbehaltlose Preisung der Partei und ihres Führers ersetzt. Aber
wie hätte es andererseits einen größeren Gegensatz geben können
als denjenigen zwischen der Forderung der Komsomol, die materialistische Auffassung
von den Naturerscheinungen zu verbreiten und Dorflesestuben einzurichten auf der
einen und Hitlers Äußerung auf der anderen Seite, er wolle seine Jugend
»flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart weie Kruppstahl«
(ebd., S. 452)? So waren Komsomol und Hitlerjugend, nicht anders als GPU
und Gestapo, einander ebenso unähnlich wie ähnlich. (Ebd., 1987,
S. 355-357).Eine Partei, die nur Propagnada zu treiben vermag
und kein Lied sowie keine romanhafte Darstellung von Rang hervorzubringen vermag,
ist eine bloße Interessenvertretung oder Machterwerbsgesellschaft. Ein Staat,
in dem bloß derartige Parteien existieren, wäre weder totalitär
noch würde er dem Liberalen
System zuzuzählen sein, sondern er wäre lediglich eine kommerzielle
Gesellschaft. (Ebd., 1987, S. 358).Das Dritte Reich war ein
Reich der Feiern als Selbstzweck und Selbstdarstellung - daran entzündete
sich die scharfe Kritik Oswald Spenglers. Aber in diesen Feiern stellte es einen
schroffen Gegensatz zur Weimarer Republik dar, die dagegen grau und nüchtern
ausgesehen hatte, und es war nicht auszuschließen, daß die Feiern
die Kraft und die Erfolge schaffen sollten, die nach Spenglers Meinung ihre Vorbedingung
sein mußten. Die Termine des nationalsozialistischen Feierjahres lese sich
wie Festkalender der katholischen Kirche:Der
30. Januar jedes Jahres war der »Tag der Machtergreifung« mit dem
Traditionsmarsch der Fackelträger durch das Brandenburger Tor; im März
stand der »Heldengedenktag« im Mittelpunkt, wie der »Volkstrauertag«
der Weimarer Republik jetzt hieß; der 20. April, der »Geburtstag des
Führers«, wurde meist mit einer gewaltigen Parade gefeiert; am 1. Mai,
dem »Tag der nationalen Arbeit«, prangte ganz Deutschland in Grün
und Fahnen, und in Berlin allein marschierten anderthalb Millionen Arbeiter und
Angestellte zum Tempelhofer Feld; am 21. Juni sprachen viele Parteiführer
in allen Teilen des Reiches zur »Sommersonnenwende« vor leuchtenden
Feuern; der September war der Monat der alljährlichen Reichsparteitage, die
auch für Ausländer sehr eindrucksvolle Schauspiele waren, weil sie für
alle Sinne bewegende Eindrücke und für uralte Schauer Befriedigung boten;
Anfang Oktober fand das »Erntedankfest« auf dem Bückeberg bei
Hameln statt; der 9. November war der Gedenktag der Gefallenen der Bewegung, an
dem in München die 16 Särge der am 9. November Gestorbenen unter Trommelwirbel
von der Feldherrnhalle zum Königlichen Platz gefahren wurden, wo nach dem
Vorbild des italienischen Faschismus die Toten mit Namen aufgerufen wurden und
Stimmen von Hitlerjungen mit einem lauten »Hier« antworteten; der
Dezember blieb vom Weihnachtsfest beherrscht, aber dessen Umgestaltung zur »Wintersonnenwende«
wurde für die Zeit nach dem Kriege vorgesehen. | All
das war kein bloßer Rummel, und auch mit dem Terminus panem et circenses
ist es schwerlich angemessen beschrieben. Aber da die Feier so sehr Selbstzweck
war und so ausschließlich die irrationalen Kräfte im Menschen ansprechen
wollte, fiel weit stärker als in der Sowjetunion und bei den deutschen Kommunisten
die Distanz zwischen dem emotionalen Inhalt und der rationalen Inszenierung bzw.
Organisation ins Auge. (**).
Daher war die Propaganda keine bloße Fortsetzung von Lied und Feier. Solange
sie noch vor allem Polemik gegen »Versailles« war und immer wieder
»Deutschlands blutende Grenzen« zeigte, konnte sie in Schule und Öffentlichkeit
an manche Aktivitäten der Weimarer Republik anknüpfen. Aber kein Leiter
der »Reichszentrale für Heimatdienst« hätte sich jemals
so kühl und zynisch über die Notwendigkeit der Lüge, der Primitivität
und der Wiederholung als unentbehrlicher Propagandamittel geäußert,
wie Hitler es in »Mein Kampf« getan hatte. Joseph Goebbels wäre
als Generaldirektor einer großen Werbefirma durchaus vorstellbar und vermutlich
sehr erfolgreich gewesen. Die außerordentlichen Möglichkeiten des Rundfunks
erkannte er sogleich und nutzte sie klug: 1938 wurden sogar »Reichslautsprechersäulen«
aufgestellt. Die Führerreden wurden regelmäßig über alle
deutschen Sender übertragen, und sie wirkten auch in diesem Medium, obwohl
ihre Schwächen bei der Isolierung, der Stimme leichter erkennbar waren als
im mannigfaltigen Kontext der Massenversammlungen. Die Presselenkung war ein Werk
gekonnter Regie durch Goebbels, aber selbst er konnte die deutsche Presse nur
auf einen Hauptton stimmen, und beträchtliche Reste der alten Mannigfaltigkeit
blieben erhalten, anders als in der Sowjetunion, wo die Propaganda der partei
das Leben bis in die hintersten Winkel durchdrang. (Ebd., 1987, S. 368-370).Der
damals bedeutendste Philosoph schlug sich ebsno auf die nationalsozialistische
Seite wie der bekannteste Jurist. Allerdings dachte Heidegger schon 1934 um, und
auch Carl Schmitt wurde der Partei am Ende verdächtig. .... Karl Jaspers
»Geistige Situation der Zeit« von 1930 stand der Konservativen Revolution
nahe. (Ebd., 1987, S. 386).Von einer braunen Universität
konnte man indessen keinesfalls sprechen. Zwar fand eine Hochschulrevolution in
der Tat statt, aber sie wurde von den Studenten initiiert, und auch hier spielten
alte Motive eine Rolle, wie etwa der Kampf gegen die »Ordinarienherrschaft«
und für studentische Mitbestimmung.. Die Sponaneität von unten wurde
jedoch bald durch straffe Autorität von oben abgelöst, denn der Rektor
und die Dekane wurden jetzt zu Vorgesetzten und »Führern«. Allerdings
herrschte weiterhin viel unzufriedenheit unter den Jungen, die nicht durchweg
jung an Jahren waren, aber eine nationalsozialistische Wissenschaft wollten.
dazu gehörten etwa Ernst Krieck, Alfred Baeumler und Walter Frank.
(Ebd., 1987, S. 386-387).In Deutschland hatte der »Rechtsstaat«
eine viel ältere und gefestigtere Tradition ...: Der Begriff der Gleichheit
aller Staatsangehörigen vor dem Gesetz war seit langem mit dem Konzept der
Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, der Offentlichkeit der Rechtspflege,
der richterlichen Nachprüfbarkeit von Verwaltungsentscheidungen sowie dem
Grundsatz »nulla poena sine lege« verknüpft und dadurch zu einer
Realität geworden. Nur auf diese Weise konnten die sozialen und politischen
Auseinandersetzungen zugleich »veröffentlicht« und »gezähmt«,
d.h. sowohl erleichtert wie zur Gewaltlosigkeit gebracht werden. Seiner Intention
nach war der liberale Rechtsbegriff indessen nicht auf innerstaatliche Verhältnisse
beschränkt: Er implizierte, wie es schien, die Gleichheit aller Menschen
ohne Ansehen der Rasse, der Abstammung und der Konfession. Aber in dieser Gestalt
erwies er sich erst recht als Grenzbegriff, der sich mit der Realität nicht
in Übereinstimmung befand: Nirgendwo in der Welt haben Ausländer dieselben
Rechte wie die Staatsbürger, sogar innerhalb eines Staates ist vollständige
Gleichbehandlung nicht immer möglich, denn in unruhigen und erst recht in
revolutionären Zeiten behandelt jeder Staat den gleichen Tatbestand anders,
je nachdem, ob er von der Intention der Untergrabung oder der Stützung der
Staatsgewalt getragen wird, und die Tatsache der Kriegsgerichtsbarkeit impliziert
einen essentiellen Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten. Es läßt
sich auch nicht verkennen, daß der liberale Rechtsstaatbegriff zu einem
Rechtsmonopol des Staates führt und als »Rechtspositivismus«
das Band mit der anthropologischen Grundlage zerschneidet, die allein so etwas
wie »unveräußerliche Menschenrechte« legitimieren und einer
etwaigen Willkür von Mehrheitsentscheidungen Grenzen setzen kann. (Ebd.,
1987, S. 392).Jedenfalls war die liberale Rechtsordnung von allen
Rechtssystemen, die es nach dem Ersten Weltkrieg gab, zweifellos diejenige, die
ihren eigenen Feinden den weitesten Freiheitsraum und die größten Wirkungsmöglichkeiten
gewährte. Im zaristischen Rußland hatte es derartiges so wenig gegeben
wie in den islamischen Ländern der Herrschaft der »Scharia«,
und die Revolution des Bolschewismus hielt gerade dieses Prinzip der Ungleichbehandlung
von Gläubigen und Ungläubigen fest, ja sie verschärfte
es in einer bis dahin unbekannten Weise. (Ebd., 1987, S. 392).Dieser
Tatbestand, der sich in ganz Europa und insbesondere in Deutschland auswirkte,
stellte das liberale Rechtssystem vor eine elementare Entscheidung: Sollte das
Prinzip festgehalten werden, obwohl die Andersartigkeit der Realität nicht
zu übersehen war, oder sollte eine neuartige Identität von Recht und
Realität angestrebt werden, indem Grundsätze entwickelt wurden, die
der gesellschaftlichen und staatlichen Kampfsituation besser entsprachen?
(Ebd., 1987, S. 392).Die zweite Alternative war die Konzeption
des Nationalsozialismus ( und vorher bereits des italienischen Faschismus): Recht
galt hier nicht als die freilich nur unvollkommene Überwindung der gesellschaftlichen
und staatlichen Auseinandersetzungen durch die friedliche Regelung der unvermeidbaren
Konflikte, so daß eine Koexistenz des Verschiedenen ermöglicht wurde,
sondern gerade als Ausdruck und Instrument dieser Auseinandersetzungen. Genau dies
war von jeher der Kern des sowjetischen und des marxistischen Rechtsbegriffs,
und Carl Schmitts Lehre vom Ausnahmezustand, vom Ungenügen der Norm und vom
Wesen des Politischen als eines Freund-FeindVerhältnisses war eine Antwort
und Entsprechung. Das Schicksal der Weimarer Justiz entschied sich dadurch, daß
sie den kommunistischen Frontalangriff auf das bürgerliche Recht weit stärker
wahrnahm als den nationalsozialistischen Angriff vom Rücken her, der zunächst
eine Hilfsaktion zu sein schien und dennoch aus feindlicherem Geist hervorging
als jener Frontalangriff, weil er die Rechtlosigkeit bestimmter Gruppen nicht
als temporäre Notmaßnahme zur Erreichung einer späteren und vollkommeneren
Rechtsund Lebensgleichheit ansah, sondern als den Ausdruck des ewigen Rechtes
selbst. Diese Auffassung wurde jedoch erst allmählich herausgearbeitet und
institutionell fIXiert; während des ganzen Dritten Reiches blieben die überlieferte
Rechtsauffassung und das vorhandene Rechtssystem existent, und Adolf Hitler konnte
in keinem Augenblick sagen, er habe den Kampf gegen die »reaktionären
Juristen« definitiv gewonnen. (Ebd., 1987, S. 393).Allerdings
wurden schon während der ersten Monate des Dritten Reiches große Schritte
auf dem Wege zu einem Rechtssystem getan, in welchem Recht und Politik miteinander
identisch sein würden. Die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz
des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933 schuf zwar ein politisches Sonderrecht,
das sich zugunsten der regierenden Partei auswirken mußte, sie unterschied
sich aber noch nicht prinzipiell von vergleichbaren Maßnahmen der Weimarer
Republik wie etwa dem Republikschutzgesetz. Dagegen bedeutete die sogenannte Reichstagsbrandverordnung
vom 28. Februar - die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk
und Staat - die Abschaffung der Grundrechtsbestimmungen der Weimarer Verfassung,
und sie enthielt keine Sicherungen für den Ausnahmecharakter der Maßnahmen
»zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte«. Insofern
war dadurch der Rechtsstaat bereits beseitigt und permanentes Standrecht an seine
Stelle gesetzt, das nur als »gesunde Volksordnung« zu legitimieren
war. Ebenso wichtig war die Abschaffung des Grundsatzes »nulla poena sine
lege«, welche schon in der Kabinettssitzung vom 7. März unter Hinweis
auf den Brandstifter van der Lubbe vom Reichsinnenminister Frick gefordert wurde,
während der Staatssekretär im Reichsjustizministerium Schlegelberger
vergeblich mit dem Hinweis widersprach, nur in Rußland und China sowie in
einigen kleineren Kantonen der Schweiz gelte dieses Prinzip nicht. (Vgl. Akten
der Reichskanzlei). Die Gesetze zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom
April und zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom Juli schlossen ebensosehr
eine bewußte Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien in sich. Die Einführung
von Sondergerichten am 21. März 1933 war also nur einer der Schritte, mit
denen eine politische Kampfjustiz geschaffen werden sollte; die Bildung des Volksgerichtshofes
am 24. April 1934, der in Hoch- und Landesverratssachen an die Stelle des Reichsgerichts
trat, war ein vorläufiger Höhepunkt. Die Aktionen des 30. Juni 1934
ließen sich schlechterdings nur noch als Staatsmorde bezeichnen, aber selbst
sie wurden von dem hervorragendsten Rechtslehrer des Reiches, von Carl Schmitt,
mit den Sätzen gerechtfertigt, die Rechtsblindheit des liberalen Gesetzesdenkens
habe aus dem Strafrecht die Magna Charta des Verbrechers gemacht und aus dem Verfassungsrecht
in gleicher Weise die Magna Charta der Hoch- und Landesverräter; die Tat
des Führers unterstehe nicht der Justiz, sondern sei selbst höchste
Justiz gewesen. (Vgl. Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar
- Genf - Versailles, 1923-1939, S. 200). Damit wies Carl Schmitt in die Richtung
einer Über-Entsprechung, die das sowjetische Beispiel auch in Gedanken ebenso
übertraf, wie Hitlers Handlungsweise es im Falle Röhm bereits faktisch
übertroffen hatte. (Ebd., 1987, S. 393-294).Die Bemühungen
um eine Strafrechtsreform, die vor allem von dem Reichsrechtsführer Hans
Frank vorangetrieben wurden, hatten aber eher das Ziel, der sowjetischen »Klassenjustiz«
eine »völkische Justiz« entgegenzustellen, deren Ziel darin bestehen
sollte, »die konkrete völkische Gemeinschaftsordnung zu wahren, Schädlinge
auszumerzen, gemeinschaftswidriges Verhalten zu ahnden und Streit unter den Gemeinschaftsgliedern
zu schlichten« (Deutsche Rechtswissenschaft, Hrsg.: Karl August Eckhardt,
Band I, 1936, S. 123). Eine demokratische Tendenz war in der Polemik gegen »volksfremde
Juristen« und in der Forderung zu erkennen, juristisches Wirken müsse
»volksnah und nicht standesnah« sein. Die »Nürnberger Gesetze«
ließen sich mit dieser Denkweise leicht vereinbaren, denn die Ausrichtung
am Blut als dem Grundtatbestand hatte ja auch schon dem Beamtengesetz oder dem
»Reichsgesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft« vom
7. April 1933 zugrunde gelegen, das die Zahl der preußischen Notare um ein
volles Drittel reduzierte. Die Strafrechtsreform kam jedoch als kodifizierter
Vorgang nicht recht weiter, und sie vollzog sich in der Praxis eher unter der
Hand durch die Zurückdrängung der Justiz von seiten der Gestapo und
durch die Schaffung einer justizfreien Bestrafung durch administrative Einweisungen
in Konzentrationslager. (Ebd., 1987, S. 394).Aber beim Ausbruch
des Krieges war die »alte Justiz« noch keineswegs beseitigt, die Zahl
der Häftlinge in Konzentrationslagern kam den sowjetischen Zahlen bei weitem
nicht gleich; und auch die Juden waren nicht etwa völlig rechtlos, so gewiß
sie unter Sonderrecht standen und so gewiß die Arisierungen in der Wirtschaft
von simplen Konfiskationen nicht mehr sehr weit entfernt waren. (Ebd., 1987,
S. 394-395).Vielmehr waren in Deutschland bis zum Kriegsausbruch
und darüber hinaus erstaunliche Gerichtsurteile möglich. So wurde noch
im Mai 1935 die Anfechtbarkeit von Verfügungen der Gestapo bejaht. Um die
gleiche Zeit wurde der sog. Hohnsteiner Prozeß gegen den SA-Obersturmbannführer
Jähnichen und 22 Mitangeklagte durchgeführt, die im Frühjahr 1933
Häftlinge im Konzentrationslager Hohnstein mißhandelt hatten. Trotz
massiven Drucks der Partei wurden schwere Gefangnisstrafen ausgesprochen. In der
Folge wurden die beiden Schöffen aus der NSDAP ausgeschlossen, und Hitler
erließ die Reststrafe schon im November 1935. (Ebd., 1987, S. 395).Im
Niemöller- Prozeß wurde Anfang 1938 die milde Strafe von 7 Monaten
Festung verhängt, die überdies durch die Untersuchungshaft als verbüßt
galt. Allerdings gelangte der Gründer des »Pfarrernotbundes«
nicht auf freien Fuß, sondern er wurde als persönlicher »Gefangener
des Führers« in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht.
(Ebd., 1987, S. 395).Gegen einen Pfarrer in der Rheinprovinz erhob
die Staatsanwaltschaft Anklage, weil er am Schluß einer Predigt »Wehe
über Deutschland« ausgerufen hatte. Da er sich aber auf Rosenbergs
»Mythus« bezogen hatte, eröffnete das Gericht keine Hauptverhandlung
mit der Begründung, bei dem Buch des Reichsleiters handle es sich um eine
private Arbeit. (Ebd., 1987, S. 395).Noch im Kriege wurde
die Bestrafung von Berliner Juden abgelehnt, die nach Meinung der Partei ein provozierendes
Verhalten an den Tag gelegt hatten, weil sie sich zur Entgegennahme einer Kaffee-Sonderzuteilung
gemeldet hatten. (Vgl. Hubert Schorn, Der Richter im Dritten Reich, 1959,
S. 641ff., 584, 649ff.) (Ebd., 1987, S. 395).Der 1. September
1939 bedeutete indessen nicht in erster Linie deshalb eine qualitative Änderung,
weil ungemein harte Gesetze eingeführt wurden, die sogar das Abhören
ausländischer Sender mit dem Tode bedrohten, sondern weil Hitler mit seinem
Erlaß vom 1. September die Vernichtung »lebensunwerten Lebens«
ermöglichte und damit zu erkennen gab, daß der kriegerische Existenzkampf
nun seine Auffassung vom Recht als einer Weise des Kampfes gegen alles »Kranke,
Dekadente, Schädliche und Gefährliche« in den Bereich angemessener
Verwirklichung bringen werde. Das Recht im Sinne der Rechtlosigkeit sämtlicher
Feinde und Schädlinge wurde also erst während des Krieges und im vollen
Ausmaß nach dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion zum Strukturmerkmal
des nationalsozialistischen Staates. Im Grunde gab es bis dahin nur Ansätze
und Präfigurationen. Aber noch im April 1942 konnte Hitler eine von schäumender
Wut gegen Juristen und Beamte erfüllte Reichstagsrede halten, mit der er
die Ermächtigung forderte, über »wohlerworbene Rechte« hinwegzugehen
und auch Richter ohne weiteres abzusetzen, wenn sie in seinen Augen ihre Pflichten
nicht erfüllten. Man braucht sich bloß für einen Augenblick vorzustellen,
Stalin habe im Sommer 1942 oder auch 1932 eine solche Rede gehalten, um zu erkennen,
wie stark in Deutschland rechtsstaatliche Grundauffassungen bis tief in den Krieg
hinein erhalten blieben. (Ebd., 1987, S. 395-396).So fiel
eine aufschlußreiche Stellungnahme des Leiters des Amtes III im Reichssicherheitshauptamt,
des SS-Brigadeführers Ohlendorf, vom 11. Oktober 1942 zwar insofern nicht
zufallig in die Kriegszeit, als sie gegen den Generalgouverneur und Reichsrechtsführer
Hans Frank polemisierte, der sich in mehreren Vorträgen als Vorkämpfer
von Rechtssicherheit und richterlicher Unabhängigkeit hingestellt hatte,
aber im Prinzip hätten die Ausführungen auch schon während der
Friedenszeit gemacht werden können. (Vgl. Peter Schneider, Rechtssicherheit
und richterliche Unabhängigkeit aus der Sicht des SD, in: Vjh. f. Ztg.,
Bd. IV, 1956, S. 399-422, s. 419). (Ebd., 1987, S. 396).Der
einzelne finde sein Recht nach nationalsozialistischer Auffassung nicht mehr in
einer isolierten Stellung gegen den Staat, gegen die Gemeinschaft, sondern nur
mit der Gemeinschaft und als Glied der Gemeinschaft seines Volkes. Daher sehe
nur derjenige die Rechtssicherheit als bedroht an, der sich den Bindungen an die
Volksgemeinschaft nicht aus innerer Verpflichtung unterordne, sondern sie als
äußeren Zwang empfinde. Eine Einflußnahme der politischen Führung
auf die Tätigkeit des Richters könne weitgehend unterbleiben, »wenn
der Justiz ein politisch und weltanschaulich einheitlich ausgerichtetes Richterkorps«
zur Verfügung stehe. Solche Männer würden nicht mehr durch Entfremdung
vom Volk gekennzeichnet sein, sondern sie würden imstande sein, aus dem lebendigen
Rechtsempfinden des Volkes heraus das Recht zu schöpfen, ohne vor dem Buchstaben
des Gesetzes zu kapitulieren oder über politische Forderungen hinwegzusehen.
Das Recht werde dann nicht mehr einer Kaste von Juristen als eine Art Privateigentum
gehören, sondern es werde durch die Einbeziehung der weltanschaulichen und
politischen Forderungen des Nationalsozialismus wieder Sache des ganzen Volkes
geworden sein. (Ebd., 1987, S. 396).Aber hinsichtlich der
Gegenwart stellte Ohlendorf noch im Oktober 1942 fest, daß es ein solches
von der Weltanschauung geprägtes Richterkorps nicht gebe, und 1939 hätte
er diese Aussagen mit noch größerem Recht machen können. Auch
im Hinblick auf das Recht waren bei aller Ähnlichkeit des kollektivistischen
Grundansatzes die beiden Regime während der Friedenszeiten in stärkerem
Maße verschieden als gleichartig, hier aber - im Unterschied zur Kultur
- gerade deshalb, weil in Deutschland jene Merkmale besser bewahrt waren, die
noch in nahezu der ganzen Welt als Kennzeichen der Modernität galten. Das
war aber nicht auf den Nationalsozialismus zurückzuführen, sondern auf
den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der in seinem Charakter dem Widerstand
gegen den Bolschewismus bzw. den Stalinismus in, der Sowjetunion nicht ohne weiteres
zu vergleichen war. (Ebd., 1987, S. 396).In engerer Bedeutung
sollte von Emigration und Widerstand erst dann die Rede sein, wenn der Staat des
Liberalen
Systems in den wichtigsten Teilen der Welt ausgebildet und fast überall
zum Paradigma geworden ist. In ihm sind Widerspruch und und abweichendes Handeln
institutionell geschützt, ja sie werden gefördert, und Kritik an der
Regierung ist daher nicht Widerstand, sondern Opposition. Da es keinen Widerstand
gibt, existiert auch keine politisch begründete Emigration: Zwischen 1870
und 1914 lebten nirgendwo im Ausland Gruppen von Engländern, Deutschen oder
Franzosen, welche aus Protest das jeweilige Land verlassen hätten und dessen
Regierung bekämpften. Eine derartige Emigration und ein entsprechender, also
verbotener Widerstand existierte lediglich unter Russen und in Rußland.
(Ebd., 1987, S. 397).Als Gesamtphänomen war die russische
Emigration die größte, welche die Welt bis dahin gesehen hatte.
(Ebd., 1987, S. 399).Von den führenden Männern der Zentrumspartei
ging kaum einer in die Emigration. .... Von den liberalen Parteien und den Deutschnationalen
emigrierte nur eine Anzahl von Künstlern und Wissneschaftlern, die diesen
Parteien nahestanden. Wohl aber gab es eine nationalsozialistische Emigration,
wei es ja auch später einen Widerstand von Dissidenten oder ehemaligen Nationalsozialisten
gab. Die zentrale Gestalt war Otto Straßer .... Im Jahre 1936 ging der ehemalige
nationalsozialistische Senatspräsident von Danzig, Hermann Rauschning, ins
Ausland, wo erd urch sein Buch »Gespräche mit Hitler« weltbekannt
wurd. Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges begab sich dann auch Fritz Thyssen
ins Exil, der lange Zeit der einzige wichtige Anhänger und Geldgeber Hitlers
unter den aktiven Großindustriellen gewesen war. (Ebd., 1987, S. 404-405).Von
den ersten Beurlaubungen im April 1933 waren u.a. Moritz Julius Bonn, Karl Mannheim
und Max Horkheimer betroffen, aber auch Nichtjuden wie Paul Tillich, Günther
Dehn und Wilhelm Röpke. Bis 1939 emigrierten nicht weniger als 800 Ordianrien
und 1300 außerplanmäßige Professoren, nahezu ein Drittel des
Bestandes, unter ihnen 24 Naturwissenschaftler, die den Nobelpreis entweder schon
erhalten hatten oder noch erhalten würden. Auch hier blieben gewiß
sehr bedeutende Gelehrte und mehrere Nobelpreisträger zurück: Martin
Heidegger, Karl Jaspers u.v.a. von den Philosophen, Max Planck, Werner Heisenberg,
Otto Hahn, Philipp Lenard, Johannes Stark, Carl Friedrich von Weizsäckeru.v.a.
von den NaturWissenschaftlern, Friedrich Meinecke, Otto Hintze unter vielen anderen
Historikern. Aber einige davon wurden zu ausgesprochenen Gegnern des Regimes,
und jedenfalls handelte es sich um einen ungeheuren Aderlaß für die
deutsche Kultur und für die deutsche Wissenschaft, der Deutschlands Ansehen
in der Welt tief herabsetzte und sehr wesentlich zu dem späteren naturwissenschaftlichen
Vorsprung und damit zu dem späteren Sieg der US-Amerikaner beitrug. Ein Analogon
zur Bewegung des »Wechsels der Wegzeichen« gab es in der deutschen
Emigration kaum, obwohl die Deutschen ihr Schicksal weit mehr als Vertreibung
ansahen, während für die Russen die Emigration die ersehnte Rettung
vor unmittelbarer Todesgefahr oder vor unerträglichen lebensbedingungen war.
(**)
(Ebd., 1987, S. 406).Zwar hatte die nationalsozialistische Bewegung
auch auf der Rechten von Anfang an scharfe und erbitterte Gegner wie etwa Erich
Ludendorff und Ewald von Kleist-Schmenzin, aber diese Gegnerschaft konnte man
sektiererisch oder reaktionär nennen, und jedenfalls standen einige der bekanntesten
Männer des späteren Widerstandes wie Claus von Stauffenberg und Henning
von Tresckow mit ihren Sympathien auf der Seite der nationalen Bewegung, während
Fritz- Dietlof von der Schulenburg oder Arthur Nebe der Partei sogar in hohen
Funktionen dienten. Die erste moralische Empörung, die derjenigen Martovs
glich, welcher 1918 gesagt hatte, er empfinde angesichts der Bluttaten der Bolschewiki
Scham gegenüber seinen früheren Gegnern, den kultivierten Bourgeois,
resultierte aus den Morden des 30. Juni, und Hans Oster sprach später von
den »Methoden einer Räuberbande«, denen man zur rechten Zeit
hätte Einhalt gebieten sollen. (Vgl. Hans Oster, Spiegelbild einer Verschwörung
- Die Kaltenbrunner-Berichte an Borm,ann und Hitler über das Attentat vom
20. Juli 1944, a.a.O., S. 61). Ebenso charakteristisch war der Wandel, mit
dem Martin Niemöller zum Gegner des Nationalsozialismus wurde - ein Mann
und Freikorpskämpfer, wie er nationaler kaum hätte sein können,
der nun gezwungen war, sich über den abgründigen Gegensatz zwischen
seinem christlichen Glauben und der nationalsozialistischen Rassenlehre Rechenschaft
zu geben. Das dritte große Motiv, das unter den Freunden des Nationalsozialismus
oder doch der nationalen Erhebung einen Sinneswandel bewirkte, war die Einsicht,
daß Hitler dabei war, Deutschland in einen Weltkrieg zu verwickeln und damit
gegen den elementarsten aller Imperative der nationalen Restitution zu verstoßen:
daß sich die Weltkriegssituation des Mehrfrontenkampfes niemals wiederholen
dürfe. Jetzt formierte sich um den Generalstabschef Ludwig Beck ein Widerstand,
der zum Handeln entschlossen war, und auch Claus von Stauffenberg sagte nun: »Der
Narr macht Krieg.« (Vgl. Eberhard Zeller, Geist der Freiheit - Der 20.
Juli, a.a.O., S. 160). Ewald von Kleist-Schmenzin und Carl Friedrich Goerdeler
schraken nicht mehr vor Kontakten mit der englischen Regierung zurück, die
man »landesverräterisch« nennen konnte. Der ehemalige Freikorpskämpfer
Friedrich Wilhelm Heinz stellte einen Stoßtrupp zusammen, der Hitler festnehmen
sollte. Die kommunistischen Gruppen waren zwar so gut wie zerschlagen, doch die
vorsichtigeren Sozialdemokraten, die vom exilierten Parteivorstand auf geheimen
Wegen die Deutschlandberichte der SOPADE erhielten, konnten als ein Netz potentieller
Helfer innerhalb der Massen betrachtet werden. Aber Chamberlains Flug nach Berchtesgaden
und dann die Konferenz von München bedeuteten das Ende der aussichtsreichsten
Aktion der deutschen Gegner Hitlers. (Ebd., 1987, S. 407-408).Der
tatsächliche Kriegsausbruch im folgenden Jahr stieß nicht auf nennenswerten
Widerstand, vielleicht auch deshalb, weil selbst Göring sich geradezu hektisch
um die Erhaltung des Friedens bemühte, und sicherlich nicht zuletzt aus dem
Grunde, weil die Auffassung weit verbreitet war, der Führer bluffe auch diesmal
und werde wieder einmal das Spiel gewinnen. Nicht unwichtig war ebenfalls die
Tatsache, daß es sich bei dem polnischen »Korridor« um die älteste
und nächstliegende Forderung des deutschen Nationalismus handelte, die allerdings
durch den Gedanken des Selbstbestimmungsrechts weitaus weniger zu rechtfertigen
war als der Anschluß Österreichs und der Sudetengebiete. Die Unterzeichnung
des Hitler-Stalin-Paktes kam zu überraschend, als daß sie sofort ernsthaften
Widerstand hätte hervorrufen können. (Ebd., 1987, S. 408).Der
Sieg in Polen schuf als solcher für die Männer des militärischen
Widerstandes keine neue Situation, wohl aber veränderten dessen Folgen die
Lage. Das moralische Motiv wurde durch das Vorgehen der SS und der Sicherheitspolizei
außerordentlich verstärkt, und vom Oberbefehlshaber Ost bis zu den
einfachen Soldaten wurde vielen Angehörigen der Wehrmacht nun erstmals klar,
daß sie in einen Krieg verwickelt waren, der ganz anders war als der Erste
Weltkrieg. Damals hatten die polnischen Juden die Deutschen als Befreier begrüßt;
diesmal legten sie von vornherein oder doch schon nach kurzer Zeit große
Feindschaft an den Tag, und niemand durfte sich darüber wundern. Wann hätte
im Ersten Weltkrieg jemals ein hoher deutscher Offizier geschrieben, er schäme
sich, ein Deutscher zu sein? (Im November 1914 hatte ein unbekannter deutscher
Zionistenführer von dem Kriege Deutschlands gegen Rußland [gemeint
ist die Ostfront! HB] gesagt, man könne ihn fast auch den »jüdischen
Krieg« nennen [vgl. Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus,
1882-1933, Hrsg.: Jehuda Reinharz, 1981], denn nicht nur die große Masse
des russischen, sondern auch die der us-amerikanischen Juden war »pro-deutsch
gestimmt« [Richard Lichtheim, Die Geschichte dese deutschen Zionismus,
1954, S. 212]). (Ebd., 1987, S. 408).Ebenso verstärkte
sich das ideologische Motiv, d.h. die Einsicht, daß die Weltanschauung und
die Handlungsweise Hitlers fremdartig waren und immer fremdartiger wurden. Die
Kommunisten wurden durch den Abschluß des Vertrages zwischen Hitler und
Stalin zwar großenteils in lähmende Verwirrung gestürzt, aber
selbst die französischen Kommunisten wurden nicht zu Freunden des Faschismus,
so sehr sie zur Lähmung des Widerstandswillens beitrugen. Für die Antikommunisten
in der hohen Bürokratie, in der Wehrmacht, im Volk und sogar in der Partei
war der Pakt dagegen eine schlechthin unverständliche und unsittliche Handlung,
die Stalin ganz Ostmitteleuropa ausgeliefert und die Ergebnisse der deutschen
Ostkolonisation weithin rückgängig gemacht habe. Die Verhandlungen,
die während des Winters durch Vermittlung des Vatikans mit England geführt
wurden, waren hauptsächlich von dem Empfinden getragen, daß man Hitler
daran hindern müsse, ganz auf die sowjetische Karte zu setzen und Deutschland
endgültig aus dem Zusammenhang Europas oder des Westens herauszulösen.
(Ebd., 1987, S. 408-409).Am meisten aber gewann das Motiv der Kriegsvermeidung,
d.h. der Vermeidung des Weltkrieges, an Kraft. Nie zuvor und nie später stand
die oberste Spitze der Wehrmacht so dicht vor einer Gehorsamsverweigerung wie
in den letzten Monaten des Jahres 1939, als Hitler immer wieder Befehle für
den Beginn des Angriffs im Westen herausgab und sie immer von neuem aus pragmatischen
Gründen widerrief. .... Daß Hitler die militärische und psychologische
Lage richtiger eingeschätzt hatte als die Heeresleitung, war nach den sechs
Wochen des Frankreichfeldzuges für jedermann evident, aber die Sorgen wegen
der unabsehbaren Dauer des Gesamtkrieges waren nicht geringer geworden. Höchst
symptomatisch war der Flug von Rudolf Heß nach England, bei dessen Vorbereitung
die Ratschläge Albrecht Haushofers eine Rolle gespielt hatten, also eines
Mannes, der zum Widerstand zu zählen war. (Ebd., 1987, S. 409).Es
wäre indessen eine Blickverkürzung, wenn nur die Offiziere und die Diplomaten
ins Auge gefaßt würden, die der Politik und der Weltanschauung Hitlers
kritisch gegenüberstanden. Diese Kritik hatte ja zu einem erheblichen Teil
von dem »Kirchenkampf« ihren Ausgang genommen, und in jedem totalitären
Lande muß die bloße Selbsterhaltung einzelner Institutionen und abweichender
Denkweisen als besondere Form von Widerstand gelten. So war die Selbstbehauptung
der Kirchen ein Akt des Widerstandes, und sie war unvergleichlich erfolgreicher,
als sie es in der Sowjetunion gewesen war, nicht zuletzt deshalb, weil Hitler
am Anfang mancherlei Sympathie entgegengebracht worden war. Was daraus entstehen
konnte, zeigten in den Jahren 1940 und 1941 am deutlichsten die Reaktionen von
Geistlichen und Laien auf die Tötungen von Geisteskranken. Die Partei sah
sich gezwungen, die Aktionen einzustellen, und im Kirchenvolk griff die Überzeugung
um sich, daß dieses Deutschland den Krieg nicht gewinnen dürfe. Daher
konnten Parteistellen ihrerseits behaupten, der politische Katholizismus erstrebe
anscheinend die deutsche Niederlage. (Ebd., 1987, S. 409-410).Die
Bolschewiki führten den Kampf gegen ihre innenpolitische Feinde im frieden
mit weitaus größerer Schärfe und aufgrund eines älteren und
genuineren Glaubens als die nationalsozialisten (Ebd., 1987, S. 411).Man
sollte nicht vergessen, daß eine bestimmte Art von Mobilisierung schon ein
Grundkennzeichen des liberalen Gesellschaftstypus war, den man bis zum Ausbruch
des Ersten Weltkrieges generell als den modernen betrachtete. Er stand im Gegensatz
zu der traditionellen oder statischen Gesellschaft, in der die Landwirtschaft
den bei weitem wichtigsten Produktionszweig darstellt, das Geldwesen erst untergeordnete
Bedeutung besitzt, der Verkehr wenig entwickelt ist und die einzelnen Stände
in weitgehender Abgeschlossenheit nebeneinander stehen Es war die Industrielle
Revolution, welche diese traditionelle Struktur allmählich auflöste,
und obwohl die französische Revolution keineswegs in allen ihren Faktoren
und Erscheinungsformen eine geradlinige Fortsetzung oder Konsequenz dieser ursprünglicheren
und tiefgreifenden Revolution war, so trug sie doch dadurch wesentlich zum Fortgang
der Mobilisierung bei, daß sie die Standesgrenzen niederriß, das Bankwesen
förderte, die Adels- und Kirchengüter in den freien Handel brachte und
vor allem eine neue Heeresorgansiation schuf, welche die allgemeine Wehrpflicht
an die Stelle der Anwerbung von Soldaten setzte. Die Bauernbefreiung in Preußen
gehörte ebenso in diesen Zusammenhang wie die beginnende Ausbildung des Pressewesens
und der Parteien. Aber nur die Staatssozialisten faßten eine Mobilsierung
ins Auge, die eine vollständige Indienststellung aller Individuen durch den
Staat bedeutete, welcher als einziger Unternehmer gewaltige Arbeitsarmeen zum
Wohle des ganzen Volkes organisieren werde. Der Zweck sollte freilich letzten
Endes immer die wahre Freiheit des Individuums sein, die der Liberalismus versrochen,
aber nicht verwirklicht habe, weil er über einen bloß negativen und
daher egoistischen Begriff der Freiheit nicht hinaus gelangt sei. (Ebd.,
1987, S. 412-413).Das Deutsche Reich war ... die erste industrielle
Macht des Kontinents und ... der Welt. Sein Problem war also nicht ein Mangel
an Entwicklung (wie in fast allen Ländern der Welt;
HB), sondern ein Mangel am Auslastung für seinen Produktionsapparat
und damit an Beschäftigung für seine Arbeiter. Hier konnte es nicht
darum gehen, eine Industrie aus dem Nichts oder aus vergleichsweise schwachen
Ansätzen zu schaffen (wie in fast allen Ländern
der Welt; HB), sondern es kam darauf an, die bereits längst vorhandene
Industrie wieder in vollen Gang zu setzen. Um dieses Ziel zu erreichen, glaubte
die NSDAP, Hindernisse vernichten zu müssen, z.B. die Vielfatl von politischen
Parteien, da diese die erforderlichen Konzentrationen des Willens im Wege ständen,
doch diese Vernichtung war keine übesrteigerte Fortführung jener ursprünglichen
Mobilisierung, sondern stellte sich ihr in wesentlichen Punkten gerade entgegen,
wie schon die Begründung des Antisemitismus der Partei, aber auch die Begriffe
der Rasse und des Blutes und das Beispiel des Erbfolgegesetzes zeigen. (Ebd.,
1987, S. 416).Deutschland war wieder die Führungsmacht des
Kontinents. .... Hitlers spezifische Art der Mobilisierung ... hatte ihn zu diesem
Höhepunkt seiner Macht geführt, weil sie einen brachliegenden Produktionsapparat
zu dem allein möglichen Zweck der Kriegführung wieder in Gang setzte.
(Ebd., 1987, S. 420).
Der deutsch-sowjetische Krieg 1941-1945Als
die deutsche Wehrmacht am Morgen des 22. Juni 1941 die Grenzen der Sowjetunion
auf einer Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer bereits seit anderthalb
Stunden überschritten hatte, überreichte der deutsche Botschafter in
Moskau dem Außenminister Molotov eine Erklärung, die in ihren Schlußfolgerungen
besagte, die Außenpolitik der Sowjetunion sei immer stärker deutschfeindlich
geworden und die Sowjetregierung habe die mit dem Reich geschlossenen Verträge
dadurch gebrochen, daß sie ihre Streitkräfte an den Grenzen sprungbereit
habe aufmarschieren lassen, um Deutschland in seinem Existenzkampf in den Rücken
zu fallen. Daher habe der Führer der Wehrmacht den Befehl erteilt, dieser
Bedrohung mit allen zur Verfügung stehenden Machtmitteln entgegenzutreten.
(Vgl. Monatshefte für Auswärtige Politik, 8. Jahrgang, 1941,
S. 551-563). Gemäß dieser Verlautbarung verstand Hitler den Feldzug
gegen die Sowjetunion mithin als einen Präventivkrieg. Molotov bezeichnete
dagegen in seiner Erwiderung diese Begründung als einen »leeren Vorwand«,
denn es fänden in der Nähe derWestgrenze lediglich »Sondermanöver«
statt, auf welche die Sowjetregierung verzichtet haben würde, wenn ihr ein
entsprechender Wunsch der Reichsregierung übermittelt worden wäre. Daher
habe Deutschland in historisch präzedenzloser Weise den Nichtangriffs- und
Freundschaftspakt gebrochen, der es mit der Sowjetunion verbunden habe. Dieser
Satz war offenkundig gleichbedeutend mit der These, Deutschland habe einen unprovozierten
Angriffskrieg vom Zaune gebrochen. Tatsächlich war zu dies em Zeitpunkt ein
großer Teil der sowjetischen Luftwaffe bereits vernichtet. Es war deshalb
nur konsequent, daß Molotov seine Ausführungen mit den Worten schloß:
»Das haben wir nicht verdient.« (Gustav Hilger, Wir und der Kreml
- Deutsch-sowjetische Beziehungne 1918-1941 - Erinnerungen eines deutschen Diplomaten,
1955, S. 312f.). .... Es ließ sich kaum bestreiten, daß die Sowjetunion
gegen den Buchstaben und den Geist der Verträge verstoßen hatte, als
sie von Rumänien die Bukowina forderte und in Litauen nicht bloß Stützpunkte
errichtete, sondern eine beträchtliche Anzahl von Divisionen konzentrierte.
Es ließ sich ferner mit einem Freundschaftspakt schwerlich vereinbaren,
daß die Sowjetunion den Putsch in Belgrad unterstützt und mit der Regierung
Simovic sofort ein Abkommen geschlossen hatte. Überdies hatten die deutschen
Truppen in der Belgrader Gesandtschaft der Sowjetunion Dokumente gefunden, welche
nur allzu deutlich feindliche Absichten gegenüber Deutschland erkennen ließen.
Als stärkster Beweis aber mußte schon bald ein Tatbestand gelten, der
nach den ersten 14 Tagen des Krieges unübersehbar geworden war: Die drei
Heeresgruppen Nord, Mitte und Süd unter den Generalfeldmarschällen von
Leeb, von Bock und von Rundstedt verfügten insgesamt über etwa 3500
Panzer, und schon in der Kesselschlacht von Bialystok und Minsk zerstörte
oder erbeutete allein die Heeresgruppe Mitte an die 6000 feindliche Panzer. In
dem vorspringenden Bogen von Bialystok waren also weit mehr Panzer massiert, als
das gesamte deutsche Ostheer aufzuweisen hatte, und der sowjetische Generalmajor
Pjotr Grigorenko, freilich ein Dissident, hat sicherlich recht, wenn er schreibt,
eine solche Aufstellung sei nur begründet, wenn sie für eine Überraschungsoffensive
bestimmt sei. (Pjotr Grigorenko, Der sowjetische Zusammenbruch 1941, 1969,
S. 94). (Ebd., 1987, S. 424-425).Das Auswärtige Amt
in Deutschland erklärte in seiner Note vom 21. Juni es für die Aufgabe
des deutschen Volkes, »die gesamte Kulturwelt von den tödlichen Gefahren
des Bolschewismus zu retten«, die »Deutsche diplomatisch-politische
Information« behauptete am 27. Juni, der Kampf Deutschlands ... werde zum
Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus, und es gehe dabei um die Erhaltung und
Wiederherstellung der großen Grundprinzipien alles menschlichen und völkischen
Zusammenlebens, nämlich um die Wiederherstellung der Würde und Freiheit
der menschlichen Persönlichkeit, der Familie, des Privateigentums, der Freiheit
der religiösen Oberzeugung und der kulturellen Eigenständigkeit der
Völker und Volksgruppen in ganz Europa}l In solchen Wendungen stand gleichsam
der Geist der nationalen Erhebung von 1933 noch einmal auf, aber sehr viel unmittelbarer
brachte Alfred Rosenberg die Erfahrungen, die Bitterkeit und den Haß der
frühen Nachkriegszeit zum Ausdruck, als er in seine Allgemeine Instruktion
für die Reichskommissare in den besetzten Ostgebieten am 8. Mai den Satz
hineinschrieb, den Deutschen Osteuropas, die in vielen Jahrhunderten ungeheure
Leistungen vollbracht hätten, sei das gesamte Eigentum ohne Entschädigung
fortgenommen worden und Hunderttausende seien verschleppt worden oder verhungert.
Am tiefsten war jedoch Adolf Hitler schon am 30. März 1941 in einer Rede
vor den Generälen in die Emotionen der Zeit des Bürgerkriegs zurückgestiegen.
Bolschewismus sei asoziales Verbrecherturn, und der Kommunismus bilde eine ungeheure
Gefahr für die Zukunft. »Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen
Kameradentums abrükken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher
kein Kamerad. .. Der Kampf muß geführt werden gegen das Gift der Zersetzung.
..Kommissare und GPU-Leute sind Verbrecher und müssen als solche behandelt
werden.« (Zitat in: Franz Halder [Generaloberst], Kriegstagebuch,
1963, Band II, S. 335ff.). Im Bürgerkrieg hatte in der Tat niemand daran
gedacht, in dem roten oder in dem weißen Feind einen Kameraden zu sehen,
der ritterlich behandelt werden müsse. Auch auf der sowjetischen Seite war
die Erinnerung an die Greueltaten der Weißen immer wach gehalten worden,
und sogar im Finnischen Kriege war es schwerlich bloß Propaganda gewesen,
wenn den Rotarmisten gesagt wurde, sie würden zu Tode gequält werden,
falls sie in die Hände der »weißfinnischen Schlächter«
gerieten. Für »asoziale Verbrecher« hatte auch der Ataman Kaledin
die Bolschewisten gehalten, weil sie mit der Parole »Raubt das Geraubte«
an die primitivsten Instinkte appellierten, und die »Zersetzung« hatte
dem General Kornilov den Weg in die Hauptstadt verlegt. Zwar nahm Hitler nur selten
direkt auf die Ereignisse des Bürgerkrieges Bezug, und er legte eine unverkennbare
Abneigung gegen die russischen Emigranten an den Tag, die in seinen Augen versagt
hatten. Aber es ist nicht daran zu zweifeln, daß die wichtigsten Vorgänge
für ihn ganz gegenwärtig waren, und das kam auch in zufälligen
Nebenbemerkungen zum Ausdruck wie etwa (zu einem späteren Zeitpunkt) derjenigen,
es seien Ukrainer gewesen, die den besten Freund des ukrainischen Volkes, den
Feldmarschall Eichhorn, 1918 in Kiew ermordet hätten. (Vgl. Alexander Dallin,
Deutsche Herrschaft in Rußland 1941-1945, 1958, S. 171). Wenn er
also hier von einem Vernichtungskampf sprach, dann handelte es sich um
die Vernichtung einer Ideologie und ihrer Vorkämpfer, und eine solche Absicht
war allen Teilnehmern des Bürgerkrieges selbstverständlich gewesen.
In dem gleichen Zusammenhang muß auch der »Kommissarbefehl«
gesehen werden, der gewiß ein »unmenschlicher« und »völkerrechtswidriger«
Befehl war, der aber von der Voraussetzung ausging, die ebenfalls eine Voraussetzung
beider Bürgerkriegsparteien gewesen war: daß der Gegner mit Sicherheit
verbrecherische und völkerrechtswidrige Taten begehen würde. Daher heißt
es in diesen »Richtlinien« vom 8. Juni 1941: »Im Kampf gegen
den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen
der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen. Insbesondere ist
von den politischen Kommissaren aller Arten als den eigentlichen Trägern
des Widerstandes eine haßerfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung
unserer Gefangenen zu erwarten«! (Vgl. Heinrich Uhlig, Der verbrecherische
Befehl, in: Vollmacht des Gewissens, Band II, 1965, S. 287-410, S. 360 [Dokumentation]).
Daher könnten politische Kommissare nicht als Soldaten anerkannt werden,
und sie seien »nach durchgeführter Absonderung zu erledigen«.
Soweit dieser Befehl im Rahmen des Weltanschauungskrieges zu sehen ist, war er
daher nicht »verbrecherisch«, sondern konsequent. Das Verbrechen liegt
viel tiefer, und zwar in der Entfesselung eines solchen Krieges ohne zwingenden
Grund. Insofern muß die Frage des Präventivkrieges oder des unvermeidbaren
Entscheidungskampfes wieder auftauchen. Aber der Befehl war auf jeden Fall ein
törichter Befehl, denn die deutsche Führung hatte sich nicht klar gemacht,
daß die Sowjetregierung inzwischen noch einen Schritt über die Realitäten
und Emotionen des Bürgerkrieges hinausgegangen war. Sie betrachtete nämlich
alle Angehörigen der Roten Armee, die lebend in Gefangenschaft gerieten,
als Deserteure, deren Familienangehörige kollektiv für diesen Akt der
Feigheit und des Verrats verantwortlich gemacht wurden! (vgl. Hoffmann, Die
Kriegführung aus Sicht der Sowjetunion, S. 720). Die gefangenen Kommissare
waren daher in den Augen ihrer eigenen Regierung todeswürdige Verbrecher,
und Hitler machte sich zum Handlanger Stalins, wenn er sie »erledigen«
ließ. Tatsächlich wurde der Befehl weitgehend nicht befolgt und 1942
aufgehoben, und später zählten ehemalige Politische Kommissare zu den
engsten Mitarbeitern Wlassovs. Aber wenn der Krieg gegen die Sowjetunion auf einem
Grunde von Emotionen ruhte, die schon die Emotionen des russischen Bürgerkrieges
und des Kampfes zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten in der Weimarer Republik
gewesen waren, dann konnte er kein bloßer Rachefeldzug sein und auch nicht
nur ein »Verteidigungskampf des Abendlandes«, obwohl der Kommissarbefehl
einerseits und die Verlautbarungen des Auswärtigen Amtes andererseits solche
Interpretationen nahelegen mochten. (Ebd., 1987, S. 429-431).In
allen Städten und Dörfern des Baltikums wurden die einrückenden
deutschen Truppen mit Jubel begrüßt, in der Ukraine wurden sie an zahllosen
Stellen mit Salz und Brot empfangen, und schon bevor sie in Lemberg einrückten,
hatte sich dort eine provisorische Staatsgewalt gebildet, die offensichtlich zur
vollen Kooperation mit Deutschland bereit war. Auch hier waren freilich Befreiung
und Rache eng miteinander verknüpft. .... Doch man durfte erwarten, daß
die ... Befreiung eine umfassendere Wirklichkeit sein würde als die Rache.
Auf diesen Ton war jedenfalls die Wehrmachtspropaganda gestimmt, die von der Abteilung
»WPr« im Oberkommando der Wehrmacht geleitet wurde und die in Millionen
von Flugblättern und Plakaten Adolf Hitler als den Befreier der bisher Unterdrückten
hinstellte. (Ebd., 1987, S. 432).Stalin knüpfte in seine
Rede an die Emotionen und Begriffe des Bürgerkrieges an, wenn er behauptet,
das Ziel des Feindes bestehe darin, die Macht der Grundbesitzer wiederaufzurichten,
den Zarismus wiederherzustellen, die »freien Völker« der Sowjetuion
ihrer Eigenstaatlichkeit zu berauben und sie zu »Sklaven der deutschen Fürsten
und Barone zu machen« Auch der Terminus »Vaterländischer Volkskrieg«
konnte auf eine Wendung lenins zurückgeführt werden. neu war, daß
Stalin mit einem »Gefühl der Dankbarkeit« der historischen Rede
Churchills vom 22. Juni 1941 und der entsprechenden Deklaration der Regierung
der USA gedachte, die dem sowjetischen Volk ihre Hilfe angekündigt hatten
.... (Ebd., 1987, S. 432-433).Stalin hatte weitaus mehr Russen
und Ukrainer und Juden töten lassen, als Hitler Deutsche oder nach dem September
1939 sogar Juden und Polen u.a. das Leben genommen hatte (Stalin
ließ etwa 10mal mehr Menschen töten als Hitler; HB) ....
(Ebd., 1987, S. 434).Die Begriffe »Notwendigkeit« und
»Zufall« sollen im folgenden nicht in einem philosophischen, sondern
in historischem Sinn verstanden werden: als zufällig gilt, was von
der Entscheidung eines Mannes oder einer kleinen Gruppe von Menschen abhängt
und zwar derart, daß ein anderes Handeln desselben Mannes oder derselben
Gruppe bzw. eines Mannes oder einer Gruppe, die an deren Stelle getreten wären,
nicht auf unüberwindliche widerstände gestoßen wären. Als
zufällig soll ein Ereignis auch in dem Falle angesehen werden, daß
ungefähr gleichstarke Tendenzen aufeinanderstoßen und die Entscheidung
durch besondere Umstände oder durch die Aktivitäten relativ weniger
Menschen herbeigeführt wird. Im historischen Sinne zufällig sind ferner
Naturereignisse, die im menschlichen Bereich große Wirkungen nach sich ziehen,
die aber nicht mit Sicherheit oder auch nur mit hoher wahrscheinlichkeit vorherzusehen
waren. Als notwendig wird dasjenige betrachtet, was diesen Charakter des
Zufälligen nicht besitzt. Aus dem Ineinander von Notwendigkeiten und Zufalligkeiten
lassen sich die Alternativen ableiten, die sich nach menschlichem Ermessen hätten
verwirklichen können, wenn zufällige Umstände anders eingetreten
wären. Die Krankheit, die Alexander den Großen den Tod finden ließ,
war in diesem Sinne zufällig, und daher muß es als Alternative gelten,
daß sein Heer unter seiner Führung bis zum Ganges vorgedrungen wäre,
statt zurückzuströmen; die Niederlage Hannibals war notwendig, nachdem
er Rom nicht im ersten Ansturm hatte nehmen können, obwohl sie auch nach
kürzerer oder längerer Zeit und auf andere Art und Weise hätte
zustande kommen können. Eine weitere Unterscheidung sollte zwischen dem »bloßen
Zufall« und der »Zufallsnotwendigkeit« der Handlungen eines
bestimmten Charakters getroffen werden. (Ebd., 1987, S. 435).Hitlers
Angriff gegen die Sowjetunion war insofern zufällig, als die Alternative
eines neuen Abkommens mit Stalin vermutlich gegeben war; er hatte aber insofern
den Charakter der »Zufallsnotwendigkeit«, als Hitler immer wieder
die »Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus« und die »Lösung
des deutschen Raumproblems« als seine »eigentliche Aufgabe«
bezeichnet hatte. Weit mehr vom bloßen Zufall geprägt war dagegen der
Zeitpunkt des Kriegsbeginns. Der impulsive Entschluß Mussolinis, Griechenland
anzugreifen, hatte den Balkanfeldzug erzwungen, und deshalb konnte der Angriff
nicht, wie vor gesehen, am 15. Mai oder immerhin Anfang Juni beginnen, sondern
erst zu einem Termin, der bis zum frühestmöglichen Zeitpunkt der Schlamm-
und der Schneeperiode nicht einmal vier Monate übrigließ. Notwendig
waren dagegen nach allen Prämissen der Aufruf Stalins zum (völkerrechtswidrigen)
Partisanenkampf und das Hilfsversprechen, das Churchill gleich am 22. Juni der
Sowjetunion gab. (Ebd., 1987, S. 435-436).Allerdings war
dieses Versprechen nur deshalb notwendig, weil es zugleich den Beweis erbrachte,
daß das Wasser Großbritannien nicht bloß bis zum Halse, sondern
bis an den Rand der Lippen stand. Mit größter Entschiedenheit und unter
Verwendung noch schärferer Invektiven hätte kein Mensch sprechen können,
als Churchill es bei dieser Gelegenheit tat: Hitler sei ein »Ungeheuer an
Verruchtheit«, ein »blutdürstiger Straßenjunge«,
über dessen »Nazibande« das »teuflische Emblem des Hakenkreuzes«
prange, während »säbelrasselnde preußische Offiziere«
die »rohe Masse der Hunnensoldateska wie ein(en) Schwarm wimmelnder Heuschrecken«
anführe. Als Englands »einziges, unverrückbares Ziel« bezeichnete
er die Vernichtung Hitlers und jeder Spur des Naziregimes. (Vgl. a.a.O.). Es handelte
sich also um ein bedingungsloses Hilfsversprechen, und wenn Churchill einerseits
mit seiner Rede unter Beweis stellte, daß keineswegs bloß Lenin und
Hitler dazu neigten, ihre Feinde durch Ausdrücke wie »Insekten«
und »Bazillen« zu entmenschlichen, so konnte doch trotz all dieser
Leidenschaft kaum ein Zuhörer daran zweifeln, daß Churchill einen Sieg
Hitlers über die Sowjetunion für so gut wie sicher hielt und in diesem
Kampf vor allem eine Atempause für das bedrängte England erblickte,
nicht anders, als es viele englische und amerikanische Experten taten, die sich
in den folgenden Wochen zu Wort meldeten. Wenn er einen militärischen Sieg
der Sowjetunion für möglich gehalten hätte, dann hätte er
in der Tat auf völlig unbegreifliche Weise gehandelt. Schließlich war
die Sowjetunion dasjenige Land, das seinen einzigen Verbündeten, den vor
Hitlers bescheidenen Forderungen zu schützen Großbritannien in den
Krieg gezogen war, zusammen mit Hitler in seiner staatlichen Existenz vernichtet
und aufgeteilt hatte, und die elementarste Loyalitätspflicht gegenüber
Polen hätte darin bestehen müssen, die Hilfe an die Bedingung der Rückgabe
der geraubten Gebiete zu knüpfen. Dazu sagte Churchill indessen kein Wort,
wohl aber empfand er die eigene Glaubwürdigkeit offenbar als so gefährdet,
daß er den Satz einfließen ließ, das Naziregime lasse sich »von
den schlimmsten Erscheinungen des Kommunismus nicht unterscheiden«, und
er nehme kein Wort von dem zurück, was er in fünfundzwanzig Jahren über
den Kommunismus gesagt habe. Es war also nur allzu notwendig, daß dieses
so rasch geschlossene Bündnis eine überaus schwierige und gefährdete
Allianz sein mußte, wenn es für Großbritannien mehr als die Verlängerung
einer Atempause bedeuten würde. (Ebd., 1987, S. 436).Aber
zwei Tage später gab auch Roosevelt bekannt, die USA würden der Sowjetunion
alle erdenkliche Hilfe leisten. Diese Zusage wäre benfalls unbegreiflich
gewesen, wenn der Präsident die Sowjetunion für einen auch nur einigermaßen
gleichgewichtigen Gegner Deutschlands gehalten hätte. Wer sich als Amerikaner
an Napoleon erinnerte und vom bloßen Interessenstandpunkt ausging, konnte
in der Tat schwerlich zu einem anderen Urteil kommen als der Senator Harry S.
Truman, der riet, die beiden Räuber, die in Streit geraten seien, ihren Kampf
allein auskämpfen zu lassen und allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt
einzugreifen. Hatte sich nicht die ganze amerikanische Presse erst anderthalb
Jahre zuvor wegen Stalins Angriff auf Finnland bis zur Siedehitze erregt; war
in eingeweihten Kreisen nicht bekannt, daß England Finnlands wegen zusammen
mit Frankreich Feindseligkeiten gegen die Sowjetunion hatte eröffnen wollen
und daß englische Militärs auch weiterhin an Plänen gearbeitet
hatten, Baku durch einen großen Luftangriff in ein Flammenmeer zu verwandeln
? Und die pazifistische Strömung im Lande war seht stark. Sie hatte
aus den Untersuchungen über die Rolle von Rüstungsinteressen beim Eintritt
der USA in den Ersten Weltkrieg viel Kraft gezogen, und e~ war nicht auszuschließen,
daß sie sich nun mit der antibolschewistischer Strömung vereinigen
würde, die besonders unter den Amerikanern italienischer und polnischer Abstammung
mächtig war. Am 18. Juli 1941 schrieb der ehemalige Botschafter in Moskau,
Joseph Davies, in einem für Harry Hopkins bestimmten Memorandum, er sei sich
der Tatsache bewußt, daß in den USA »breite Schichten der Bevölkerung
die Sowjets bis zu einem Grade verabscheuen, daß sie auf einen Sieg Hitlers
in Rußland ihre Hoffnungen setzen«. Gerade deshalb müsse man
Stalin mit allen Kräften unterstützen, da sonst die Gefahr bestehe,
daß dieser als der »Orientale und kalte Realist«, der er sei,
mit Hitler Frieden schließe. Vierzehn Tage später ließ dann Roosevelt
Stalin durch Hopkins die Botschaft überbringen, er betrachte Hitler als den
»Feind der Menschheit«, und er sei daher entschlossen, der Sowjetunion
in ihrem Kampf gegen Deutschland zu helfen. Darin war unzweifelhaft mehr als das
opportunistische Bemühen um eine Atempause und Zeitgewinn zu erkennen, sonder
ein genuiner Ton ideologischer Überzeugung. Auf dieser Grundlage tat Roosevelt
alles, was er konnte, um die Vereinigten Staaten in den Krieg gegen Hitler und
auch gegen Japan zu führen, und er schreckte dabei vor dem Mittel grobschlächtiger
Lügen nicht zurück, etwa der Behauptung, ihm lägen Geheimkarten
und Dokumente der deutschen Regierung vor, in denen Pläne zur Aufteilung
Südamerikas und zur Vernichtung aller Religionen einschließlich der
hinduistischen enthalten seien. Es war nicht unverständlich, wenn Hitler
hinter Roosevelt die »jüdische Pressemacht« am Werke sah, aber
es gelang ihm auch hinsichtlich Amerikas nicht, dem unzweifelhaft vorhandenen
und sogar starken Antibolschewismus die Ausweitung zum Antisemitismus zu suggerieren.
Und wenn er bereit gewesen wäre, seine Lieblingsmeinungen zu revidieren,
hätte er sich vermutlich sagen müssen, daß ein germanisches
Amerika es erst recht nicht hätte dulden können, daß in Europa
durch kriegerische Handlungen ein Weltreich gebildet wurde, welches die Machtverhältnisse
auf der Erde völlig veränderte. Wenn Roosevelt keinen geraden Weg gehen
konnte, sondern zu Lügen, Verleumdungen und Neutralitätsverletzungen
Zuflucht nehmen mußte, so lag der Grund in erster Linie darin, daß
er nicht wie Hitler seine innenpolitischen Gegner hatte beseitigen wollen. So
viele Zufälligkeiten in den Entscheidungen der angelsächsischen Mächte
mitspielten, so viel Unaufrichtiges darin enthalten war und so viele Gegenkräfte
existierten, so gewiß kam letzten Endes dennoch in all dem eine tiefere
Notwendigkeit zum Vorschein. Daher mußte Hitler erwarten, daß er mit
dem Überschreiten des Bug nicht nur England, sondern auch die USA an die
Seite der Sowjetunion führen werde. Was England und Amerika anging, so gab
es mithin keine genuine Alternative, weil so gut wie niemand in England und Amerika
glaubte und glauben konnte, daß die Sowjetunion aus eigener Kraft Deutschland
länger als einige Monate würde Widerstand leisten können.
(Ebd., 1987, S. 436-438).Anders stand
es mit der letzten der fünf Weltmächte, mit Japan. Seit 1937 war es
mit Deutschland durch den Antikominternpakt, seit 1940 durch den Dreimächtepakt
verbunden. Nichts hätte nähergelegen, als daß Deutschland die
Erwartung ausgesprochen hätte, Japan werde die Sowjetunion im Osten angreifen
und damit eine zweite Front bilden, die Deutschlands Siegeschancen um ein
beträchtliches erhöht hätte. Aber man mußte dann die Voraussetzung
machen, daß bloß eine Chance gegeben war. Hitler war jedoch
siegessicher und wollte keiner gleichrangigen Macht an seinem größten
und wichtigsten Erfolg Anteil geben. Er war es selbst, der den Außenminister
Matsuoka im April 1941 ermutigte, einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion
abzuschließen und den Blick nach Süden in die künftige »großostasiatische
Wohlstandssphäre« zu richten. Ribbentrop war in diesem Punkt anderer
Ansicht als Hitler, und er drängte die Bundesgenossen nach dem 22. Juni wiederholt
zum Eingreifen. Es gab in Japan starke Kräfte, vor allem im Heer, die in
die gleiche Richtung dachten, obwohl die Erinnerung an schwere Niederlagen bei
den Kämpfen des Jahres 1939 an der Grenze zwischen der Äußeren
Mongolei und Mandschukuo ein Warnungszeichen war. Es ist in hohem Grade wahrscheinlich,
daß die Sowjetunion vor dem Einbruch des Winters und vor der Ankunft nennenswerter
Waffenlieferungen aus den USA und England zusammengebrochen wäre, wenn sie
diesen Zweifrontenkampf hätte führen müssen. Aber Hitler äußerte
sich nicht mit klaren Worten, und die japanische Marine setzte sich mit ihrem
Plan durch, noch einen letzten Versuch der Verhandlungen mit den USA zu machen,
um sich dann gegebenenfalls des Würgegriffs der amerikanischen Wirtschaftssanktionen
durch das Ausgreifen nach Niederländisch-Indien und durch eine Attacke gegen
die amerikanische Flotte zu entledigen. (Ebd., 1987, S. 438).So
hatte Hitler nicht vollständig recht, als er am 3. Februar 1941 zu einigen
seiner Generäle sagte: »Wenn Barbarossa steigt, hält die Welt
den Atem an und verhält sich still.« Zwar sah die Welt den Ereignissen
tatsächlich atemlos zu, weil sie gleich das Empfinden hatte, daß hier
um das Schicksal der Erde gewürfelt wurde, aber sie verhielt sich doch so
wenig still, daß die drei großen Mächte, von deren Entschlüssen
das Ergebnis mitabhängen mußte, sofort Entscheidungen gravierendster
Art trafen oder vorbereiteten. Für ein halbes Jahr indessen waren nun Deutschland
und die Sowjetunion scheinbar allein auf der Welt, und die Frage war, ob die Sowjetunion
vor dem Anfang des Winters noch existieren würde. (Ebd., 1987, S. 439).Die
Ereignisse auf den Schlachtfeldern hatten eine unverkennbare Ähnlichkeit
mit denjenigen in Polen im September 1939, und doch kam in ihnen eine ganz andere
Art von Notwendigkeit zum Vorschein. In Polen hatte die Armee des nationalsozialistischen
Industriestaates über die Armee des nationalistischen Agrarstaates gesiegt,
und offenbar mit einem hohen Grade von Notwendigkeit. In den Ebenen Weißrußlands
und der Ukraine kämpfte ein Heer, das in der Tradition der Weltkriegsarmeen
stand, mit einem Heer, das gegen diese Tradition geschaffen worden war.
(Ebd., 1987, S. 439).Vom 16. bis zum 18. Oktober herrschte in der
sowjetischen Hauptstadt Panik und beinahe schon Anarchie: Parteimitglieder zerrissen
die Parteibücher, Soldaten warfen die Gewehre fort, Läden wurden geplündert,
die Regierung verließ die Stadt, und wenn die entsprechenden Berichte richtig
sind, ließ sich auch Stalin zu seinem Sonderzug hinausfahren, um dann im
letzten Augenblick seinen Entschluß zu revidieren und in den Kreml zurückzukehren.
Der neue Oberbefehlshaber General Schukov verkündete am 19. das Standrecht,
frische Truppen aus Sibirien waren unterwegs, denn aus Tokio waren von dem Vertrauten
, des deutschen Botschafters, dem altbewährten Parteimitglied und Agenten
Richard Sorge, beruhigende Nachrichten über die Haltung Japans eingetroffen,
und dann begannen die großen Herbstregenfälle, die Weg und Steg in
undurchdringlichen Morast verwandelten. Für wenige Tage machte ein erträglicher
Frost die deutschen Truppen wieder bewegungsfähig, aber dann brach ungewöhnlich
früh der strengste Winter ein, und die Deutschen hatten nicht mehr nur Soldaten
und schlechte Wege zu Feinden, sondern eine übermächtige und ungewohnte
Naturgewalt, die das Öl in den Motoren der Panzer erstarren und manchmal
die Gewehre an den Händen der Infanteristen festfrieren ließ. In London
und Washington, in Tokio und Paris aber nahm man ungläubig zur Kenntnis,
daß Moskau, der Zentralpunkt des sowjetischen Lebens und Verkehrs, entgegen
allen Erwartungen nicht in die Hände des Feindes gefallen war und daß
Hitler nun vielleicht in den Eiswüsten Rußlands das Schicksal Napoleons
erleiden werde. (Ebd., 1987, S. 440-441).Daß unter
großem Aufwand eine Sammlung warmer Winterkleidung für die Front durchgeführt
wurde, ließ auch den gläubigsten seiner Anhänger ahnen, daß
Hitler zwar vielleicht der erfolgreichste aller Feldherren war, aber sicher nicht
der größte, da er offensichtlich äußerst gravierenden Fehleinschätzungen
unterlegen war. Beinahe von Monat zu Monat hatte das Volk auf das siegreiche Ende
des Krieges und damit auf Frieden gehofft, und der Schwung, der die deutschen
Armeen bis kurz vor Moskau geführt hatte, war zu einem guten Teil von der
Erwartung genährt, man werde um Weihnachten wieder zu Hause sein. Jetzt aber
konnte sich niemand mehr darüber täuschen, daß die Ara der Blitzfeldzüge
und -siege an ihr Ende gelangt war und daß ein langer und harter Krieg bevorstand.
(Ebd., 1987, S. 441).Am 6. Dezember hatten die Japaner das Pazifikgeschwader
der amerikanischen Flotte in Pearl Harbor angegriffen und zum großen Teil
zerstört. Dadurch öffneten sie sich den Weg nach Südostasien, und
wenige Wochen später waren lndonesien, die Philippinen und Singapur erobert.
Aber sie hatten dadurch Roosevelt den seit langem gewünschten und vorbereiteten
Eintritt in den Krieg ermöglicht, und sie stellten Hitler vor die letzte
fundamentale Entscheidung seines Lebens. Wie zur Zeit von Mussolinis Angriff gegen
Griechenland sah er sich einem selbständigen Entschluß eines Verbündeten
konfrontiert, denn die Japaner hatten ihren Angriff nicht mit ihm abgesprochen.
Allerdings hatte er sie mehrere Male dazu ermutigt, aber er hätte andererseits
viel Grund zum Zorn darüber gehabt, daß die Japaner nicht nur nicht
in den Krieg gegen die Sowjetunion eintraten, sondern nicht einmal die Lieferung
amerikanischer Rüstungsgüter nach Wladiwostok verhinderten. Der Wortlaut
des Dreimächtepaktes verpflichtete ihn nicht dazu, sich einer Angriffshandlung
anzuschließen. Wenn er sich zurückgehalten hätte, wäre Roosevelt
in großer Verlegenheit gewesen. Diesem ging es in erster Linie um den Krieg
gegen Deutschland, doch die öffentliche Meinung (mit der veröffentlichten
Meinung der großen Presse nicht identisch) würde ihn gezwungen haben,
alle Kriegsanstrengungen gegen die Urheber des »ruchlosen Überfalls«
zu kehren. Aber Hitler konnte offenbar den Gedanken nicht ertragen, daß
einen ganzen schweren Winter hindurch keine Siegesmeldungen in der Presse erscheinen
würden, und vermutlich war in ihm auch der Wunsch lebendig, mit Roosevelt
nach so langer Hinnahme höchst unneutraler Handlungen endlich einmal abzurechnen.
So erklärte er am 11. Dezember den USA den Krieg und griff in einer leidenschaftlichen
Reichstagsrede Roosevelt als den »Hauptschuldigen« an diesem Kriege
an, der mit »teuflischer Gewissenlosigkeit« die mögliche Verständigung
zwischen Deutschland und Polen torpediert habe, der sich eine Reihe »schwerster
völkerrechtswidriger Verbrechen« habe zuschulden kommen lassen und
der - als Abkömmling von Plutokraten von vornherein ein Hasser seines in
Armut geborenen Antagonisten - unter dem Einfluß seines »jüdischen
Anhangs« die Probleme seines »sozial rückständigen Staates«
nach außen und gegen das »sozialistische Deutschland« lenke.
(Ebd., 1987, S. 442).Hitler durfte Ende September
1942 tatsächlich glauben, daß der Weltkrieg gewonnen sein würde.
... Im entscheidenden Augenblick senkte sich die Waage zugunsten der Alliierten,
weil sie über die Tiefenrüstung (dauerhafte
Sicherung der notwendigen Ressourcen für die Rüstung; HB)
verfügten, deren nicht geringes Fehlen die deutschen Fachleute wie der General
Thomas schon 1939 beklagt hatten. (Ebd., 1987, S. 444).Im
Herbst 1943 bildeten deutsche Soldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und
zusammen mit deutschen Kommunisten das »Nationalkomitte Freies Deutschland«
bzw. den »Bund deutscher Offiziere«, und die Publikationen, die jetzt
von Flugzeugen über den deutschen Stellungen abgeworfen wurden, waren mit
den Farben Schwarz-Weiß-Rot umrandet. Sowjetische Generäle machten
ihre deutschen Partner mit gedanken der Staatsspitze vertraut, die auf das Nebeneinander
eines in den Grenzen von 1939 erhaltenen Deutschland und der wiederhergestellten
Sowjetunion hinausliefen. Zugleichwurden von Moskau diplomatische Fühler
ausgestreckt, die den Abschluß eines Separatfriedens zum Ziel zu haben schienen.
Es lassen sich gewiß gute Argumente dafür anführen, daß
es sich bei dem einen Vorgang wie dem anderen um kluge Taktiken Stalins gehandelt
habe, der seine Alliierten unter Druck setzen wollte. Hitler seinerseits wies
die Kontaktversuche zurück. (Ebd., 1987, S. 445-446).Adolf
Hitler kennzeichnete in seienr Rede vom 3. Oktober 1941 Bolschewismus und Kapitalismus
als »Extreme«, die gleichweit von dem »pPrinzip der Gerechtigkeit«
entfernt seien, für das die Mächte der Achse ihren Kampf um eine neue
und bessere Gestalt Europas und der Welt führten. Auch der Nationalsozialismus
erhob also mit Nachdruck einen übernationalen Anspruch, wie schon die Solidarisierung
mit dem faschistischen Achsenpartner zeigte, und nicht selten proklamierte er
einen »Weltkampf«, der ganz Europa in der Abwehr des »bolschewistischen
Ungeheuers« und des us-amerikanischen »Geldmolochs« zusammenschließe.
(Ebd., 1987, S. 448).Zwar gab es in Europa eine beträchtliche
Anzahl von faschistischen Bewegungen, und sie stellten sich spätestens seit
dem 22. Juni 1941 durchweg auf die Seite Hitlers: neben dem italienischen Faschismus
u.a. die Eiserne Garde in Rumänien, die Pfeilkreuzler in Ungarn, die Nasjonal
Samling in Norwegen, der Parti Populaire Français in Frankreich, die Rodobrana
in der Slowakei, die Ustascha in Kroatien. Aber sie alle waren in ihren Ursprüngen
oder Traditionen zunächst einmal radikal-nationalistische Reaktionen auf
die internationalistischen und meist sozialistischen Ideen und Realitäten
der ersten Nachkriegszeit gewesen. In ihrem »Pro« konnten sie mithin
nicht übereinstimmen, da die eine ein mächtiges Groß-Rumänien,
die andere ein starkes Groß-Ungarn erstrebte, die dritte die Loslösung
aus einem Staatsverband verlangte und die vierte und ursprüngliche das römische
Imperium wiederherstellen wollte. Erst das »Anti« bildete die Gemeinsamkeit,
nämlich das »Anti« eines entschiedenen Antikommunismus. Freilich
entsprang der Kommunismus als Antikapitalismus seinerseits einem »Anti-«,
und durch seine angebliche Realisierung in einem großen Staat war er in
ein eigentümliches Verhältnis zu Tatbeständen wie Macht, Struktur
und Berufsarmee getreten, die er doch beseitigen wollte. Je mehr der kommunistische
Glaube durch seine Verbindung mit der sowjetischen Wirklichkeit an Bedrohlichkeit
gewann und an Überzeugungskraft verlor, um so mehr konnte sich das bloße
»Anti« der faschistischen Bewegungen mit sozialen Gedanken anreichern
und schließlich beanspruchen, der zeitgerechte »Dritte Weg«
zwischen den Extremen des sowjetischen Kommunismus und des amerikanischen Kapitalismus
zu sein. Die Frage war, ob und wie die übernationale Solidarität einer
Ideologie die Oberhand über den Ausgangspunkt der bloßen nationalen
oder ethnischen Selbstbejahung gewinnen konnte. (Ebd., 1987, S. 453).Eine
naheliegende Lösung bot sich an, als nach der Offnung der Sowjetunion durch
den deutschen Angriff die ganze Fremdartigkeit des Stalinschen Staates den deutschen,
italienischen, rumänischen und spanischen Soldaten vor Augen trat. Der trivialste
und fragwürdigste Versuch, aus der Erfahrung dieser Fremdartigkeit eine Ideologie
zu machen, war die vom Hauptamt der SS 1942 herausgegebene Broschüre »Der
Untermensch«. Neben dem ebenso verächtlichen wie törichten Unterfangen,
aus den ausgemergelten Gesichtern einiger Kriegsgefangener den Typus des Untermenschen
oder gar des Asiaten herzuleiten, wird doch ein frühes und allgemeines Schreckbild
beschworen, das Schreckbild des blutrünstigen Kommissars und des fanatischen
Flintenweibes, und vor allem werden die kläglichen Holzhütten der russischen
Bauern und die jammervollen Wohnungen der russischen Arbeiter den weit reicheren
und kultivierteren Lebensverhältnissen Europas in einer Weise gegenübergestellt,
die den unterrichteten Beobachter zwar an die fröhlichen Gestalten des sozialistischen
Realismus erinnerte, die aber trotz ihrer offenkundigen Einseitigkeit für
die einfachen Soldaten vieler europäischer Nationen nicht unglaubwürdig
war. Jedenfalls sahen jene deutschen Landser die Verhältnisse auf diese Weise,
deren »Feldpostbriefe aus dem Osten« ein Beamter des Propagandaministeriums
1941 publizierte und zweifellos nicht publiziert hätte, wenn er sie für
bloße Propaganda hätte halten müssen, die von der Masse der deutschen
Soldaten als verzerrt oder verlogen empfunden worden wäre. Da ist von dem
»verfluchten« oder »elenden« Lande die Rede, in dem man
»direkt nach dem Anblick eines sauberen Hauses oder einiger gepflegter Gärten«
hungere, in dem die Bauern, ihres Landes beraubt, in »wirtschaftlicher Fron«
lebten, wie sie schlimmer nicht im schwärzesten deutschen Mittelalter gewesen
sei. Die Straßen seien nichts als Sandwege, und Dörfer und Städte
beständen aus kleinen Holzhütten, zwischen denen sich bloß einige
Paläste der Partei oder der »Bonzen« erhöben; ein Erwerbsloser
in Deutschland lebe »wie ein König gegen dieses Volk«. Freilich
mußte sich die Frage aufdrängen, weshalb denn das reiche Deutschland
ein so armes Land angegriffen habe, und sie wird durch den Hinweis auf die »guten
und modernen Waffen« beantwortet, welche die Kommissare aus dieser Armut
herausgepreßt hätten, und die Kommissare oder auch die Juden werden
für die grauenvollen Bilder verantwortlich gemacht, die mehrere der Briefschreiber
selbst gesehen zu haben behaupten: an die Wände genagelte Männer, Frauen
und Kinder, in den Kellern der Gefängnisse eingemauerte und qualvoll erstickte
Opfer, ja sogar Folterkammern, in denen innen Gasbrenner angebracht gewesen seien,
mit denen man die Opfer zu Tode gequält habe. (Wolfgang Diewerge, Feldpostbriefe
aus dem Osten - Deutsche Soldaten sehen die Sowjetunion, 1941, S, 16ff., 24,
37, 42,f., 46). Aus all dem ergab sich zwingend die Forderung nach europäischer
Solidarität im Kampf gegen ein unmenschliches und anti-europäisches
System. (Ebd., 1987, S. 453-454).Jedenfalls fanden sich aus
nahezu allen europäischen Staaten Freiwillige zum Kampf gegen den Kommunismus
zusammen, und aus ihnen wurde eine größere Anzahl fremdnationaler SS-Formationen
gebildet. Aus Dänen wurde das »Freikorps Danmark« zusammengestellt,
wallonische Freiwillige der Degrelle- Bewegung bildeten die SS-Sturmbrigade Wallonien,
aus Franzosen bestand gegen Ende des Krieges eine ganze SS-Division, die den Namen
»Charlemagne« trug. Eine beträchtliche Anzahl von Esten und Letten
schloß sich schon bald nach dem 22. Juni der Wehrmacht an, und später
wurden sie ebenfalls zu SS- Divisionen. Wie der Spanische Bürgerkrieg auf
beiden Seiten ein internationaler Konflikt war, so war auch der Krieg Deutschlands
gegen die Sowjetunion (und gegen die USA, das Britsche Empire
u.v.a., nichzt zu vergessen; HB) ein internationaler Krieg. Wenn die
Sowjetunion die polnische Armee, die sie aus den Kameraden der Opfer von Katyn
aufstellte, offensichtlich nicht ungern zu den Westalliierten abziehen ließ,
bevor sie in einem späteren Stadium eigene Hilfstruppen aus Polen und Rumänen
bildete, so kämpften die europäischen Freiwilligen bis zum Ende in der
Wehrmacht und in der Waffen-SS, und es kann nicht bezweifelt werden, daß
viele von ihnen sich aus Überzeugung und nicht aus bloßem Opportunismus
unter die Fahnen des nationalsozialistischen Deutschland gestellt hatten. Allerdings
war gerade bei den Überzeugtesten das Motiv spürbar, durch einen Beitrag
an Blut das Recht auf Selbständigkeit ihrer Länder in dem künftigen
Europa einer »Neuen Ordnung« zu erkämpfen, das Recht auf eine
Selbständigkeit, das sie offenbar nicht mehr für selbstverständlich
und unantastbar hielten. (Ebd., 1987, S. 454-455).Erst noch
zu erringen war die künftige Selbständigkeit für die turkestanischen
und tatarischen Verbände der Waffen-SS, durch die nun sogar der arische Rassenbegriff
nach dem germanischen gesprengt wurde, so daß tendenziell von einer Weltbewegung
gegen den Bolschewismus gesprochen werden konnte, von der außer den Juden
niemand ausgeschlossen war. (Englische und us-amerikanische Verbände gab
es freilich im deutschen bzw. deutsch-italienischen Lager nicht, wohl aber einige
bedeutende oder doch interessante Intellektuelle wie Ezra Pound und den Sohn des
ehemaligen Indienministers Amery.) Aber erst die Frage der russischen Freiwilligen
war einem Lackmuspapier zu vergleichen, wodurch der übernationale Charakter
eines ideologischen Anspruchs geprüft werden konnte. (Ebd., 1987, S.
455).Russische Freiwillige gab es in der deutschen Wehrmacht viele
und zu einem frühen Zeitpunkt. Aber sie blieben lange ohne anerkannten Status,
und ihre Einbeziehung erfolgte zunächst auf rein pragmatische Weise. In den
Nöten und Schwierigkeiten des ersten Kriegswinters hatten zahlreiche Formationen
russische Kriegsgefangene, die sich freiwillig meldeten, als Hilfskräfte
eingestellt, und da die Erfahrungen im allgemeinen gut waren, wurden nicht wenige
davon mit Waffen ausgestattet, etwa zur Bewachung von Depots oder auch zur Partisanenbekämpfung.
1942 wurden daraus die ersten genuinen Verbände wie etwa die »Brigade
Kaminski«, und der Gruppenleiter in der Organisationsabteilung des Generalstabs
des Heeres, der Oberstleutnant Stauffenberg - damals schon als ein Mann von überragender
Begabung und Entschlossenheit erkennbar -, wandte alle seine Talente auf, um die
Aufstellung russischer Freiwilligenverbände möglich zu machen. Dabei
stieß er auf den entschiedenen Widerstand des Oberkommandos der Wehrmacht
und mittelbar Hitlers, der gegenüber Rußland völlig freie Hand
behalten wollte, dem aber offenbar auch bestimmte Ereignisse aus dem Bürgerkrieg
sehr präsent waren, nämlich der Übergang ganzer Regimenter zu den
Bolschewiki. Wenn trotzdem im Herbst 1942 die russischen »Hilfswilligen«
schon nach Hunderttausenden zählten, so war das darauf zurückzuführen,
daß die einzelnen Heeresgruppen und auch der Generalstab noch Handlungsmöglichkeiten
besaßen, in die Hitler keinen Einblick hatte. Im übrigen erfolgte die
Aufstellung von »Legionen« der übrigen Völker der Sowjetunion
mit seinem vollen Einverständnis, und die Grenzen waren oft schwer zu ziehen.
Weshalb sollte der »General der Osttruppen« nicht auch Russen unter
seinem Kommando haben? (Ebd., 1987, S. 455-456).Man
begreift die Genozide und die »Endlösung der Judenfrage«, die
das nationalsozialistische Deutschland zu verantworten hat, nicht schon dadurch
in ihrer Eigenart, daß man sie für singulär erklärt und Unterscheidungen
für überflüssig hält. Das Unvergleichbare setzt den Vergleich
gerade voraus, und die Einheit der Bezeichnung verdeckt oft genug die Verschiedenheit
der Sachen. (Ebd., 1987, S. 458).Genozid oder Völkermord
hängt eng mit Krieg zusammen, aber die beiden Begriffe decken sich nicht.
Noch in der klassischen Antike fanden zwar Kriege zwischen den Städten oder
Stämmen häufig dadurch ein Ende, daß alle Männer der Besiegten
getötet und die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft oder verschleppt
wurden: Die Epen Homers setzen diesen genozidalen Charakter des Krieges durchweg
voraus. Aber die europäische Neuzeit und schon das Mittelalter waren dadurch
ausgezeichnet, daß sie den Krieg zu zivilisieren suchten, d.h. eine Unterscheidung
zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern trafen. Der Idee nach konnte also
ein ganzes Volk nicht mehr vernichtet werden, und allmählich setzte sich
sogar ein Recht der Kriegsgefangenen durch, das den besiegten und ausgeschalteten
Kombattanten Schonung garantierte, wie es etwa durch die Haager Landkriegsordnung
von 1907 geschah. Vor allem aber wurde festgelegt, daß durch den Willen
zum Abschluß eines Waffenstillstandes bzw. zum Friedensschluß gewisse
Rechte geschaffen wurden, die eine Ausnutzung der Situation zum Zweck des Völkermordes
ausschlossen. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges betrachtete es die zivilisierte
Welt als Normalfall, daß die bewaffneten Kräfte zweier oder mehrerer
Staaten unter vollständiger Aussparung der Zivilbevölkerung miteinander
kämpften, bis eine Entscheidung gefallen war und durch Verhandlungen Friede
geschlossen wurde. Die Grundvoraussetzung war, daß Armeen und Zivilbevölkerung
klar unterscheidbar waren. Schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde diese
Voraussetzung dadurch gefährdet, daß ein Teil der belgischen Bevölkerung,
die ihr Land mit Recht für überfallen hielt, zum Franktireurkrieg griff
und damit Repressalien der Deutschen herausforderte, insbesondere Geiselerschießungen.
Es wurde vorstellbar, daß solche Repressalien sich grundsätzlich und
in großem Maßstab gegen die gesamte Zivilbevölkerung richteten,
weil diese den Franktireuren Schutz und Hilfe bot. In einem konstruierbaren Extremfalle
wäre also die ganze belgische Bevölkerung ausgerottet worden, um den
Überfällen der Franktireure die Basis zu nehmen, d.h. um eine präventive
Sicherung gegen völkerrechtswidrige Akte zu erzielen. Damit wäre im
Wortsinne ein Genozid Wirklichkeit geworden, nämlich die Tötung sämtlicher
Einwohner eines Landes. Davon blieb die deutsche Politik unendlich weit entfernt,
aber wenn man die Linien verlängerte, gelangte man zu einem schrecklichen
Idealtyp. Selbst der rücksichtsloseste Denker hätte es aber noch für
selbstverständlich gehalten, daß durch Einstellung des Widerstandes
das Überleben des Volkes gesichert worden wäre. (Ebd., 1987, S.
458-459).Auf andere Weise wurde die Unterscheidung von Kombattanten
und Nichtkombattanten im Ersten Weltkrieg dadurch gefährdet, daß sowohl
England wie Deutschland zum Kriegsmittel der Blockade griffen. Anders als der
Krieg gegen Franktireure oder Partisanen war die Blockade von vornherein auch
gegen Frauen und Kinder gerichtet; als Extremfall tauchte die Möglichkeit
auf, daß die ganze Bevölkerung Englands bzw. Deutschlands verhungert
wäre und die Armeen auf den Leichen der Frauen und Kinder fortgekämpft
hätten. Daran dachte indessen niemand; für jeden stand es außer
Frage, daß der unterliegende Staat rechtzeitig Frieden schließen würde.
Aber die Voraussetzungen für eine radikale Entmenschlichung der Kriegführung,
d.h. für Genozide, wurden gleichwohl im Ersten Weltkrieg geschaffen, und
an seinem Rande bzw. in seinem Gefolge wurden auch die ersten genuinen oder doch
potentiellen Genozide der neueren Geschichte zur Wirklichkeit: Die ethnischen
Spannungen in einem Vielvölkerstaat führten in direktem Zusammenhang
mit dem Krieg zum Völkermord an den Armeniern durch die Türken, und
zwischen Türken und Griechen kam es wenig später zu einem Bevölkerungstausch,
der nur deshalb nicht Massenvertreibungen mit Massenverlusten gleichkam, weil
die großen Mächte ein wachsames Auge darauf warfen. Auf erste Anfänge
beschränkte sich dagegen der Luftkrieg, der indessen offenkundig die Möglichkeit
in sich barg, daß er unmittelbar gegen die Zivilbevölkerung als das
empfindlichste und doch unentbehrliche Element der Kriegführung gerichtet
werden konnte. Der Fortschritt zeigte also ein befremdendes Doppelgesicht:
als Fortschritt des humanitären Empfindens suchte er den Krieg mehr und mehr
einzuhegen und zu vermenschlichen, als Fortschritt der Waffentechnik dagegen riß
er Grenzen nieder, die sogar in barbarischen Zeiten für die nichtkämpfende
Bevölkerung oftmals Schutz bedeutet hatten. (Ebd., 1987, S. 459-460).Ein
völlig neues Element wurde gegen Ende des Ersten Weltkrieges aber dadurch
in die Welt gebracht, daß das Postulat der Klassenvernichtung praktische
Bedeutung gewann. Eine vergleichsweise harmlose Erscheinungsform war das Verlangen
der Alliierten nach Auslieferung von 700 deutschen »Kriegsverbrechern«,
das mit der Propaganda gegen die preußischen Junker eng verknüpft
war. Gemeint war ja nicht die Bestrafung einzelner Vergehen - zur Untersuchung
und eventuellen Ahndung erklärte sich die deutsche Regierung bereit -, sondern
die Diskreditierung einer ganzen Führungsschicht, und es zeigte sich sehr
rasch, daß diese Absicht in Deutschland gerade eine breite Solidarisierung
erzeugte, die sogar zahlreiche Sozialdemokraten einschloß, obwohl die Brechung
oder Einschränkung der Macht der Junker doch auch zu deren Zielen gehörte.
Umfassende Realität gewann das Prinzip der Klassenvernichtung dagegen in
Rußland. Zwar lag es nahe zu sagen, es sei keineswegs ein Genozid, wenn
nach einem verlorenen Kriege die Bevölkerung eines Staates ihre herrschende
Klasse zur Verantwortung ziehe und deren Widerstand mit Gewalt breche. Aber noch
konnte sich niemand trotz der Armeniermassaker die vollständige Vernichtung
eines Volkes auch nur vorstellen, und daher wurde der Angriff gegen ganze Schichten
ohne die Prüfung individueller Schuld als entsetzlich, als genozidal empfunden.
Überdies proklamierten die Bolschewiki ausdrücklich die Absicht, die
Vernichtung der russischen »Bourgeoisie« bis zur Vernichtung der »Weltbourgeoisie«
fortzutreiben. Wie hätte es ausbleiben können, daß ein Klima allgemeiner
Besorgnis und Angst entstand, auch wenn die positive Solidarisierung des europäischen
Bürgertums mit dem russischen Bürgertum gering blieb. Konnte man ein
Volk nicht auch dadurch töten, daß man seine herrschende Klasse beseitigte,
zu der im modernen Europa ja keineswegs nur jene Feudalherren gehörten, die
Saint-Simon in seiner berühmten »Parabel als überflüssig
bezeichnet hatte, sondern gerade jene Techniker und Kaufleute, Wissenschaftler
und Finanzmänner, die nach Saint-Simon an deren Stelle treten sollten? Und
sehr rasch kam in einigen Kreisen die Auffassung auf, die Vorgänge in Rußland
seien sogar im Wortsinne ein Genozid gewesen, weil die Juden die führende
Schicht aus Russen und Baltendeutschen hingemordet und sich an deren Stelle gesetzt
hätten. Die unmittelbare Konsequenz dieser Auffassung war offenbar das Postulat
einer Vernichtung der Juden als Strafe und Präventivmaßnahme, und da
die Juden sich von sich aus - und gerade in der Sowjetunion - mehr und mehr nicht
länger oder noch nicht als Konfession, sondern als Volk oder Nationalität
verstanden, wäre die sogenannte »Endlösung der Judenfrage«
als der idealtypische Genozid zu bezeichnen, der in dem Kollektivismus der Schuldzuweisung
an eine überindividuelle Entität begründet wäre. So sehr dieser
Zusammenhang ins Auge springt, so wenig angemessen wäre es gleichwohl, ihn
zum Ausgangspunkt der Kennzeichnung des Zweiten Weltkrieges als eines Vernichtungskrieges
zu machen, denn die Anfänge des Genozids waren im Ersten Weltkrieg schon
vor 1917 zu erkennen .... (Ebd., 1987, S. 460-461).Der Krieg
gegen Polen begann mit einem tendenziellen Genozid auf polnischer Seite, nämlich
dem sogenannten »Bromberger Blutsonntag«, der Niedermetzelung von
einigen tausend Staatsbürgern deutscher Herkunft durch aufgebrachte Polen.
Die Angriffe der Sturzkampfbomber auf Warschau und andere Städte und die
daraus resultierenden Verluste der Zivilbevölkerung waren indessen keine
Antwort, sondern von vornherein im Kriegsplan enthalten und nach Guernica und
Barcelona die erste, freilich immer noch sehr unvollständige Realisierung
der genozidalen Tendenzen in der modernen Kriegführung. (Ebd., 1987,
S. 461).Eine bloße Wiederaufnahme des Weltkriegs bedeutete
die Blockade, die England und Deutschland wechselseitig übereinander verhängten.
Wie im Weltkrieg konnten die Leiden aber durch die gleichmäßige Rationierung
der vorhandenen Lebensmittel erträglich gemacht und gegebenenfalls durch
einen Friedensschluß rechtzeitig beendet werden. Offen und unverhüllt
genozidal war dagegen die Absicht, die Churchill am 8. Juli 1940 in einem Schreiben
an Lord Beaverbrook zum Ausdruck brachte: Es gebe nur eine einzige Möglichkeit,
Hitler zu bezwingen, und die bestehe in einem »absolut zerstörenden
Vernichtungsangriff sehr schwerer Bomber auf das Nazi-Hinterland«. (Vgl.
Winston Churchill, The Second World War, Band II, 1951, S 567). Daß
der Premierminister Aussagen wie diese sehr ernst meinte, geht nur allzu klar
aus einer Rede hervor, die er im April 1941 hielt, also vor dem deutschen Angriff
auf die Sowjetunion: »Es gibt mehr als 70 Millionen bösartiger Hunnen
- einige davon sind zu heilen, die anderen umzubringen.« (Vgl. Winston Churchill,
His Complete Speeches, Vol. VI, a.a.O., S. 6384). Tatsächlich führten
die Engländer und Amerikaner den Krieg bis zur Invasion im Juni 1944 fast
vollständig - und danach immer noch zu einem guten Teil als Vernichtungskrieg
durch Luftangriffe gegen die deutsche Bevölkerung, dem an die 700000 Menschen
zum Opfer fielen, großenteils unter schrecklichen, in früheren Zeiten
unvorstellbaren Todesängsten und Qualen. Freilich wollte auch Hitler »ihre
Städte ausradieren«. Aber es würde heute mit Recht allgemein als
töricht gelten, wenn man diese Aussagen von entsprechenden Aussagen Churchills
trennen oder eine einseitige Folge von deutscher Ursache und englischer Wirkung
postulieren wollte. (Ebd., 1987, S. 461-462).Wenige Wochen
nach Kriegsbeginn ließ Stalin die Bevölkerung der Wolgadeutschen Republik
nach Sibirien deportieren. Man darf annehmen, daß auf den wochenlangen Transporten
in glühender Hitze nicht viel weniger als 20% der Verschleppten umgekommen
sind. Eine noch größere Prozentzahl ist hinsichtlich der Litauer, Letten
und Esten anzunehmen, die in einer zweiten Deportationswelle unmittelbar vor Kriegsausbruch
ins Innere der Sowjetunion transportiert wurden. Schon 1940 sollen vom sowjetischen
Generalstab besondere Maßnahmen gegen die Völker des nördlichen
Kaukasusgebietes, vor allem die Tschetschenen, Inguschen und Kalmücken, ins
Auge gefaßt worden sein, da sie, die sich lange gegen die russische Expansion
unter den Zaren zur Wehr gesetzt hatten, im Kriegsfalle als unzuverlässig
betrachtet wurden. Tatsächlich schlossen sich diese Völker in großen
Teilen den Deutschen an, die ihnen Freiheit und Unabhängigkeit versprachen,
und sie wurden 1944 ausnahmslos umgesiedelt. Die Krimtataren traf das gleiche
Schicksal, und die Todesraten der ersten 18 Monate betrugen nach den Schätzungen
Robert Conquests nicht viel weniger als 50%. (Vgl. Robert Conquest, The Nation
Killers - The Soviet Deportation of Nationalities, 1970, S. 103, 162). Nachdem
schon die Kollektivierung unter den nomadischen Völkern der asiatischen Bezirke
der Sowjetunion besonders viele Opfer gefordert hatte, vollführte Stalin
nun ganz unverhüllt Völkermorde als Präventivmaßnahmen und
als Strafaktionen. Es sieht so aus, daß auch die Kämpfe gegen die Partisanen
der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), welche die Rote Armee nach
der Wiederbesetzung der Ukraine zu führen hatte, tendenziell den Charakter
des Völkermordes aufwiesen, und es ist überaus bezeichnend, daß
Chruschtschov in seiner Geheimrede nicht bloß scherzte, als er behauptete,
Stalin würde auch die Ukrainer deportiert haben, wenn ihrer nicht zu viele
gewesen wären. (Vgl. Chruschtschovs historische Rede, in: Ost-Probleme,
8. Jahr, 1956, S. 886). Und als Marschall Mannerheim seinen deutschen Bundesgenossen
mitteilte, daß er einen Waffenstillstand mit der Sowjetunion schließen
würde, da führte er zur Begründung das Argument an, daß sein
Volk »ohne Zweifel vertrieben oder ausgerottet« werden würde,
wenn er den schmerzhaften Schritt nicht rechtzeitig vollziehe. (Vgl. Gustav Mannerheim,
Erinnerungen, 1952, S. 526f.). Die Kriegführung der Sowjetunion war
also in noch höherem Maße durch Genozide gekennzeichnet als diejenige
Englands, und man wird sich fragen müssen, ob nicht selbst Beneschs Pläne
hinsichtlich eines Transfers der Sudetendeutschen unter den Begriff des
Völkermordes subsumiert werden können. Daß Churchills Plan der
»Westverschiebung Polens« und damit der Austreibung der deutschen
Bevölkerung aus den ostdeutschen Gebieten jenseits von Oder und Neiße
hier einzuordnen ist, kann jedenfalls keinem Zweifel unterliegen. (Ebd.,
1987, S. 462-463).Und dennoch gehören Hitlers Genozide in
eine andere Kategorie. Der Unterschied liegt nicht darin, daß sie etwa durchweg
quantitativ umfassender gewesen wären. Von den Zahlen her gesehen, scheinen
im »Generalgouvernement« nicht wesentlich mehr ehemalige Offiziere
erschossen worden zu sein als im sowjetisch besetzten Teil Polens. Aber Hitler
machte einen Grundsatz aus der Ausrottung und verlangte schon früh, »alle
Vertreter der polnischen Intelligenz umzubringen«. Und vor allem war hier
das Verhältnis von Zweck und Mittel umgekehrt. Nicht mehr der Sieg im Verteidigungskrieg
war der Zweck, während die Luftangriffe und Umsiedlungen ein durch die Umstände
erzwungenes Mittel zur siegreichen Beendigung des Krieges darstellten, sondern
die Schaffung von freiem Raum war der Zweck und der Krieg ein bloßes Mittel.
Der Völkermord hörte also mit dem Ende des Krieges nicht auf, sondern
er sollte durch den Sieg gerade in größerem Umfang ermöglicht
werden. Selbst eine Kapitulation half den betroffenen Völkern nicht, und
ihre Bereitschaft, sich auf die deutsche Seite zu stellen, galt sogar als Gefahr.
Schon im Januar 1941 hatte Himmler in einer Rede auf der Wewelsburg gesagt, im
Osten hätten dreißig Millionen Menschen zu verschwinden, und noch im
Jahre 1944 hielt er an der Forderung fest, die Volkstumsgrenze im Osten um 500
Kilometer hinauszuschieben. Der »Generalplan Ost« sah die Aussiedlung
von 31 Millionen Menschen nach Sibirien und die »Umvolkung« weiterer
Millionen vor, und wenn das Massensterben der Kriegsgefangenen im Winter 1941/42
auch zu einem guten Teil auf die unbezwingbaren Umstände, nicht zuletzt auf
Stalins Vernichtungsbefehle, zurückzuführen war, so kam doch als bedeutendes
Moment Hitlers Wille zur biologischen Schwächung des russischen Volkes hinzu,
ein Wille, zu dem es auf Stalins Seite keine rechte Analogie gab, obwohl Ilja
Ehrenburgs Aufruf »Töte« schon im Jahre 1942 eine Entsprechung
zur biologischen Vernichtungsintention Hitlers war. (Vgl. Ortwin Buchbender, Das
tönende Erz, 1978, S. 305). Gewiß hatte die »Lebensraumpolitik«
verschiedene Motive, und sie ging keineswegs allein aus dem Willen Hitlers hervor:
Angst vor der demographischen Überlegenheit der »Ostvölker«;
Träume vom gesunden bäuerlichen Leben, das allein den sozialen Konflikten
die Spitze abbrechen und die Deutschen vor dem »Zivilisationstod«
retten könne; Anglophilie in der Form des Dranges nach einem »deutschen
Indien«; nicht zuletzt die Erinnerung an die englische Blockade im Ersten
Weltkrieg und deren Folgen. (Ebd., 1987, S. 463-464).Und
darum führte Erich Koch in der Ukraine eben doch Hitlers Politik durch, wenn
er eine Kolonialpolitik wie »unter Negern« betrieb, wenn er ukrainischen
Abordnungen, die ihn begrüßen wollten, das dargereichte Brot und Salz
aus den Händen schlug, wenn er immer wieder Auspeitschungen vornehmen ließ.
Damit trieb er eine Politik des mentalen Völkermordes, des Genozids durch
Verachtung und Herabsetzung, und er mußte die eigenartige Erfahrung machen,
die ihn so gut wie Hitler widerlegte, daß die Bevölkerung heftiger
und nachdrücklicher auf Herabsetzung und Mißachtung reagierte als auf
Erschießungen. Die Bolschewisten nämlich hatten - so formulierte es
ein Memorandum - zwar viele Menschen erschossen, aber nicht einen einzigen öffentlich
prügeln lassen, und der klügste Kopf im Ostministerium, der Diplomat
Dr. Bräutigam, zog daraus in einer bemerkenswerten Denkschrift den Schluß,
daß Russen und Ukrainer nun um die Anerkennung ihrer Menschenwürde
gegen die Deutschen kämpften. Und so kam es, daß in der Sowjetunion
kein antibolschewistischer Kampf für Freiheit und Menschenwürde der
Individuen gegen das despotische System Stalins geführt werden konnte, obwohl
zahllose Menschen - Russen, Ukrainer und auch Deutsche - dazu bereit waren, sondern
daß letzten Endes nur ein Eroberungs- und Vernichtungskampf geführt
wurde, der als solcher keine Ideologie hatte, weil er weiter nichts als lichtloser
Volkstumskampf und unbegrenzter nationaler Egoismus war. (Ebd., 1987, S.
464).Dagegen scheint die sogenannte Endlösung der Judenfrage
eine ganz und gar ideologisch bedingte Tat gewesen zu sein, denn Hitler und Goebbels
haben es wiederholt und anscheinend in aller subjektiven Überzeugtheit für
einen »Dienst an der Menschheit« erklärt, die »jüdische
Gefahr« zu beseitigen oder das »jüdische Geschwür aufzustechen«.
In der Tat ist der Zusammenhang mit dem Antibolschewismus vielleichter erkennbar
als im Falle der Lebensraumpolitik, aber auf der anderen Seite ist es unbestreitbar,
daß der nationalsozialistische Antisemitismus eine außerordentliche
Verengung und Zuspitzung des Antibolschewismus und erst recht des Antimarxismus
darstellte, weil er weit mehr den Charakter der Interpretation als denjenigen
der Erfahrung besaß. Er gehört daher nur als eine besondere Art zur
Gattung des Antibolschewismus, und nicht einmal alle Nationalsozialisten machten
ihn sich mit gleicher Entschiedenheit zu eigen. Trotzdem besaß er unzweifelhaft
einen übernationalen Appell und ist insofern als Ideologie zu bezeichnen.
Aber auch diese Subsumtion bedarf der Qualifizierung, wie noch zu zeigen sein
wird. Man kann die praktische Verwirklichung der Endlösung mit der
Boykottaktion vom 1. April 1933 beginnen lassen, und es ist auch sicherlich der
Erwägung wert, ob nicht die erste Vorwegnahme der Genozidpolitik in dem »Gesetz
zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933 zu erblicken
ist. Aber obwohl sich nicht leugnen läßt, daß schon in ganz frühen
Äußerungen Hitlers eine physische Vernichtung der Juden andeutungsweise
ins Auge gefaßt wird (vgl. Ernst Nolte, Der
Faschismus in seiner Epoche, 1963, S. 407f.) darf daraus nicht die Vorstellung
abgeleitet werden, Hitler habe sich seit 1933 oder gar seit 1923 von einem festen
Plan leiten lassen. Er machte auch die Judenpolitik nicht allein, so gewiß
er der wichtigste aller einzelnen Faktoren war, und sie hing überdies, wie
alle Politik, von vielen äußeren Umständen ab. Die Bemühungen
einzelner Autoren, einen einheitlichen »Vernichtungsprozeß«
zu konstruieren, an dem die gesamte deutsche Bürokratie beteiligt war, leiden
unter einem Mangel an Differenzierung. Es ist vielmehr angebracht, verschiedene
Phasen und Momente zu unterscheiden, welche zunächst den Begriff des Genozids
noch nicht erfüllen und schließlich durch die Methode, die Intention
und die tendenzielle Vollständigkeit der Vernichtung darüber hinausgehen.
(Ebd., 1987, S. 464-465).Die erste Phase reichte bis 1941 und kann
die Phase der Diskriminierung genannt werden. Das Hauptziel bestand darin, die
Charakterisierung der Juden als eines Volkes statt einer Konfession
durchzusetzen. Diese Tendenz war nicht spezifisch nationalsozialistisch, sondern
sie war auch unter den Juden selbst mächtig und resultierte letzten Endes
aus dem jüdischen Selbstverständnis, das sich nicht ohne weiteres damit
abfinden konnte, die jahrtausendealte Gemeinde auf den Status einer bloßen
Konfession innerhalb eines religiös neutralen Staates reduziert zu sehen.
Insofern waren die Zionisten die echtesten Juden, und ihr Verlangen nach einem
jüdischen Staat resultierte keineswegs bloß aus dem Wunsch, antisemitischen
Anfeindungen entzogen zu sein. Der Kampf der Zionisten gegen die »Assimilanten«
war daher ein Kampf um die Behauptung der gefährdeten Eigenart, während
das Bildungsbürgertum in der Regel den Untergang der überlieferten Ethnizität
bejahte, sich aber der Hoffnung hingab, der modernen Welt einige Grundzüge
des jüdischen Ethos aufprägen zu können. So standen sich schon
im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die zionistischen und die sozialistischen
bzw. kommunistischen Söhne und Töchter des jüdischen Bildungsbürgertums
als extreme Flügel in schroffer Feindschaft gegenüber, und Alfred Rosenberg
brachte in seiner Schrift »Der staatsfeindliche Zionismus« 1921 die
Vermutung zum Ausdruck, es handle sich um ein raffiniertes Zusammenspiel zum Zweck
der Erringung der jüdischen Weltherrschaft. In der Praxis aber stellte sich
der siegreiche Nationalsozialismus vollständig auf die Seite der Zionisten,
und durch das Haavara-Abkommen von 1935 förderte er die jüdische Kolonisation
Palästinas mehr als irgendein anderer Staat. Trotzdem war die spätere
Behauptung Adolf Eichmanns, die SS und die Zionisten seien in ihrer Zielsetzung
»Geschwister« gewesen (vgl. Rudolf Aschenauer, Ich, Adolf Eichmann,
1980, S. 505), eine grobe Verzerrung der Tatsachen. Denn es handelte sich nie
um eine Diskriminierung im neutralen Wortsinne, nämlich Trennung oder Scheidung,
sondern um die negative Diskriminierung der Zurücksetzung und Aussonderung.
Das wurde ja schon durch die Nürnberger Gesetze klar, die den sexuellen Kontakt
zwischen Juden und Deutschen zu einem kriminellen Tatbestand machten, während
alle anderen Nicht-Staatsbürger in ihren Beziehungen zu Deutschen keinen
spezifischen Beschränkungen unterworfen waren. Schon 1933 und 1935 lag also
ein mentaler Genozid vor, demjenigen Erich Kochs in der Ukraine ante festum
vergleichbar, freilich mit dem schwerwiegenden Unterschied, daß nicht die
Verachtung, sondern die Angst (vor Ansteckung, Vergiftung oder Zersetzung) die
grundlegende Emotion war. Als drittes Moment kam dasjenige der Beraubung einer
materiell bevorzugten Minderheit hinzu oder, in der nationalsozialistischen Sprache,
das Motiv der Wiedergewinnung des von Parasiten angeeigneten deutschen Volksvermögens,
und insofern war die Judendiskriminierung diejenige Form des Klassenkampfes und
der Klassenenteignung, die sichtbar genug war, um alte Ressentiments zu befriedigen,
und begrenzt genug, um nicht unüberwindbare Widerstände hervorzurufen
- mithin der defiziente, aber in europäischen Verhältnissen allein mögliche
Modus der Expropriation der Bourgeoisie. Nach Kriegsbeginn trat an die
Stelle der Förderung der Auswanderung nach Palästina für kurze
Zeit der Plan, die Juden in Madagaskar anzusiedeln, aber die Entwicklung der Verhältnisse
ließ ihn bald unrealistisch werden. (Ebd., 1987, S. 465-466).Ab
Ende 1941 folgte als zweite Phase die Deportation der deutschen Juden und dann
auch der Juden aus vielen europäischen Ländern nach Osten. Die Frage
ist, ob diese Deportationen als solche und von vornherein Teile eines Vernichtungsprozesses
waren. Auch hier sind Distinktionen angebracht. Die entscheidende Vorfrage ist
die, ob die Juden als eine kriegführende, d.h. unverrückbar feindselige
Gruppe bezeichnet werden durften. Sie ist für einen beträchtlichen Teil
der deutschen Juden jedenfalls bis zum Pogrom vom November 1938 mit Entschiedenheit
zu verneinen. Keineswegs nur die Kriegsteilnehmer, aber sie in besonderem Maße,
fühlten sich trotz der Nürnberger Gesetze als deutsche Staatsbürger,
und so gewiß man von den deutschen Juden nicht erwarten konnte, daß
sie Anhänger und Verehrer Adolf Hitlers waren, so gewiß wünschten
sie Deutschland als ihrem Vaterland nichts Schlechtes, und es gibt keine Beweise,
daß eine nennenswerte Anzahl von ihnen aktiv für die Sache der Alliierten
eingetreten wäre. Diese Feststellung kann gleichwohl nicht das letzte oder
alleinige Wort sein. Die Äußerung Chaim Weizmanns vom September 1939
über den Kampf der Juden an der Seite der Alliierten ist bereits angeführt
worden. (**)(**).
Im August 1941 richtete eine Versammlung prominenter sowjetischer Juden einen
noch weit leidenschaftlicheren Appell an die Juden in aller Welt, den gerechten
Kampf der Sowjetunion und ihrer Verbündeten zu unterstützen. 1961 formulierte
ein Autor wie Raul Hilberg, der in seinem Buch über die »Vernichtung
der europäischen Juden« immer die Passivität und den Mangel an
Widerstand auf seiten der Juden hervorhebt, den Satz: » Während des
ganzen Zweiten Weltkriegs machten die Juden die Sache der Alliierten zu ihrer
eigenen ... und trugen nach Kräften zur Erringung des Endsiegs bei«.
Wenn man sich daran erinnert, daß die US-Amerikaner nach dem 7. Dezember
1941 ihre eigenen Staatsbürger japanischer Herkunft ein schließlich
der Frauen und Kinder in Internierungslager brachten und daß die Engländer
einen beträchtlichen Teil der antifaschistischen deutschen Emigranten als
»feindliche Ausländer« nach Kanada transportieren ließen,
wird man nicht von vornherein in Abrede stellen dürfen, daß die Deportationen
als solche in den Augen der deutschen Bevölkerung als unvermeidbar gelten
durften. Im Herbst 1941 lebte allein in Berlin noch die erstaunlich hohe Zahl
von über 70000 Juden, und wenn man sich vor Augen hält, daß Stalin
in seiner Rede vom 3. Juli 1941 bei seiner Aufzählung der gefährlichen
Elemente innerhalb der sowjetischen Bevölkerung auch die »Gerüchtemacher«
nicht ausließ, dann wird man die Berechtigung von Vorsichtsmaßnahmen
erst recht nicht bestreiten können. Aber ebenso wie die Phase der Förderung
der Emigration infolge der Nürnberger Gesetze einen anderen als den zionistischen
Charakter erhielt, so stand die nächste Phase, die der Deportation, dennoch
sogar für den bloßen Zuschauer unter ganz anderen Vorzeichen als der
amerikanisch-japanische oder der englische Fall. Die Juden wurden nämlich
durch den »Judenstern« kenntlich gemacht, und damit griff man auf
eine ausgesprochen mittelalterliche Methode zurück. Der Artikel des Reichspropagandaministers,
der aus diesem Anlaß unter der Überschrift »Die Juden sind schuld«
in der Wochenzeitung Das Reich erschien, nahm daher eine ominöse Ähnlichkeit
mit dem »Hepp, hepp« der Judenpogrome an. (Ebd., 1987, S. 466-467).Und
was »der Osten« bedeutete, konnte keinem deutschen Soldaten und keinem
dort tätigen Zivilisten vollständig verborgen sein. Er bedeutete jedenfalls
»Ghetto« und nicht etwa bloß nach Analogie von Theresienstadt
in Böhmen, wo eine Anzahl von alten und privilegierten Juden ein zwar abgesondertes,
aber doch erträgliches Dasein führte, soweit das Lager nicht als Durchgangsstation
für Transporte nach Auschwitz benutzt wurde. Zwar scheint es für kurze
Zeit den Plan gegeben zu haben, in der Nähe des Bug ein größeres
Gebiet für einen regelrechten »Judenstaat« zu reservieren, aber
er wurde bald aufgegeben, und die deportierten Juden konnten nirgendwo Platz finden
als in den furchtbar übervölkerten, hungernden, vom Fleckfieber heimgesuchten,
durch Mauern abgeschlossenen Ghettos wie in Warschau oder in Lodsch, das nun Litzmannstadt
hieß, oder aber in eigens errichteten Konzentrationslagern. Dort wurde wieder
zum Endpunkt, was der Ausgangspunkt des jüdischen Geschicks in der Neuzeit
gewesen war: das »Schtetl«, aus dessen noch mittelalterlicher Enge
Hunderttausende von Juden ausgezogen waren, um im kultivierten Westen Deutsche,
Franzosen und US-Amerikaner oder auch Zionisten zu werden, und das nun als ein
nur allzu modernes Konzentrationslager wieder ihr Aufenthaltsort wurde.
(Ebd., 1987, S. 467-468).Wo die deutsche Wehrmacht aber direkt
auf das sowjetische Judentum mit seinen immer noch weithin geschlossenen Siedlungsgebieten
traf, ist eine weitere Unterscheidung angebracht, die in der Regel durch den Terminus
Endlösung verwischt wird. Es handelt sich um die Aktionen der »Einsatzgruppen«
der SS, die bekanntlich den vordringenden Armeen in der Sowjetunion auf dem Fuße
folgten und die viele Hunderttausende von Juden »erledigten«, wie
ihre Führer sich in den Ereignismeldungen UdSSR auszudrücken
pflegten, Meldungen im übrigen, die keineswegs ausschließlich oder
auch nur vorwiegend die immer wieder zitierten und kaltherzig konstatierenden
Sätze über Massentötungen enthalten, sondern auch Nachrichten über
Erschießungsaktionen des abziehenden NKWD sowie informative, oftmals für
eine bessere Behandlung der russischen und ukrainischen Bevölkerung plädierende
Lageberichte. Auch hier ist eine Vorfrage zu stellen, die in der Literatur sehr
häufig übergangen wird. Nicht nur die Einsatzgruppen selbst, sondern
nicht wenige Angehörige der Wehrmacht bis zu den Generälen hinauf haben
in Berichten, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, die Juden
für die Hauptträger des Partisanenkampfes erklärt, und daher wollten
sie die Judenaktionen als Repressalie verstanden wissen. Die bekannten Erlasse
der Feldmarschälle von Reichenau und von Manstein und ähnliche offizielle
Verlautbarungen gehen von dieser Voraussetzung aus und lassen zum Teil überdies
erkennen, wie lebendig die Erinnerung an die Zeit des deutschen Bürgerkrieges
und des Kampfes zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten während der
Weimarer Zeit noch war. Es wäre in der Tat sehr sonderbar gewesen, wenn nicht
zahlreiche Juden Stalins Befehl zur Partisanentätigkeit befolgt hätten.
Aber für die Aktionen der Einsatzgruppen war gerade kennzeichnend, daß
nicht nur die Bürgerkriegsproportion des 1:100 nicht selten überschritten
wurde, sondern daß man die Partisanen oder die Vernichtungsbataillone der
Roten Armee ohne jede weitere Prüfung mit den Juden identifizierte. So waren
die Prämissen des Blutbades in der Schlucht von Babij Jar bei Kiew, dem 33000
Juden zum Opfer fielen, ein großer Brand sowie umfangreiche Sprengungen
in der Stadt, bei denen mehrere hundert deutsche Soldaten den Tod gefunden hatten.
Aber Urheber war ein Vernichtungsbataillon der Sowjetarmee gewesen, und es gab
nicht die geringste Wahrscheinlichkeit, daß es ausschließlich oder
auch nur überwiegend aus Juden bestanden hätte. In der Literatur sind
die Meinungen über die jüdische Beteiligung am Partisanenkampf geteilt:
Die westlichen Werke heben die Passivität der Juden hervor, die sich meist
widerstandslos zur Erschießung hätten führen lassen; die kommunistische
Literatur dagegen ist voll von Berichten über heroische Aktivitäten
- nicht zuletzt im Kampf gegen jüdische »Kollaborateure« und
»Verräter« -, während deutsche Berichte bald das eine, bald
das andere akzentuieren. In zahlreichen Fällen konnte jedoch, wie gerade
aus den Ereignismeldungen unwidersprechlich hervorgeht, von Repressalien überhaupt
nicht die Rede sein, sondern Tausende und Zehntausende von Juden wurden zusammengetrieben
und von SS-Männern und manchmal auch von einheimischen Hilfskräften
erschossen. Die Gesamtzahl der Opfer der Einsatzgruppen in der UdSSR wird von
Gerald Reitlinger auf über eine Million, von Raul Hilberg auf 1,3 und von
Krausnick-Wilhelm auf 2,2 Millionen geschätzt! Gerade wenn man sich die Taten
des NKWD vor Augen hält und sich vergegenwärtigt, daß Katyn mit
Sicherheit nur ein Fall unter anderen Fällen war, wird man zu dem Ergebnis
kommen müssen und dürfen, daß die Aktionen der Einsatzgruppen
schlimmer waren als diejenigen des NKWD. Der NKWD hatte die führende Schicht
der Polen zu töten gesucht, die in seinen Augen gegenrevolutionär war;
die Einsatzgruppen aber taten im fremden Lande nun dasjenige, was in Deutschland
zu tun unmöglich war: sie rotteten tendenziell die Masse der als revolutionär
betrachteten Bevölkerung aus. Wenn die Gegenrevolutionäre sich die Revolutionäre
mit aller Konsequenz zum Vorbild nehmen, müssen sie weit schlimmere, weil
quantitativ umfassendere Taten begehen. Aber daß Kommunisten und Nationalsozialisten
auch hier nicht einfach die Idealtypen von Revolution und Gegenrevolution verkörperten,
wurde durch die Tatsache klar, daß in Wahrheit nur ein Teil sogar der sowjetischen
Juden der revolutionären, d.h. stalintreuen Bevölkerung zuzuzählen
war, während umgekehrt auch zahlreiche Russen und Ukrainer sich mit dem Sowjetstaat
identifizierten. (Den Einsatzgruppenführern fehlte nicht durchweg ein Bewußtsein
dieses Tatbestandes. So heißt es in einem Bericht der Einsatzgruppe C vom
17. September 1941: »Selbst dann, wenn eine sofortige hundertprozentige
Ausschaltung des Judentums möglich wäre, würde dadurchj noch nicht
der politische Gefahrenherd beseitigt. Die bolschewistische Arbeit stützt
sich auf Juden, Russen, Georgier, Armenier, Letten, Ukrainer ...«, zitiert
von Hilberg, a.a.O., S. 244). Auf der anderen Seite wandte sich Stalin ebenfalls
gegen ganze Bevölkerungen wie die Wolgadeutschen, die er, nach Chruschtschovs
Worten (vgl. a.a.O.), »mitsamt allen Kommunisten und Komsomolzen«
deportieren ließ, weil er in ihnen potentielle Helfer des Feindes sah. Auch
hier lag ein Überschießen, eine Verallgemeinerung, eine kollektivistische
Schuldzuschreibung vor, aber die Zahl der Wolgadeutschen war vergleichsweise gering,
und es genügte, sie lediglich zu verschicken. Daher sind die Aktionen der
Einsatzgruppen das radikalste und umfassendste Beispiel einer präventiven
und über alle konkreten Erfordernisse der unmittelbaren Kriegführung
weit hinausgehenden Bekämpfung von Feinden, und Nikolajewsk wie Katyn mußten
als Aktionen von weit geringerer Schrecklichkeit erscheinen! Vor allem aber standen
diese Massentötungen nach der Intention des Urhebers und im Bewußtsein
der wichtigsten Beteiligten innerlich mit dem letzten und abschließenden
Stadium in enger Verbindung, der quasi-industriellen Massentötung in Vernichtungslagern
wie Auschwitz-Birkenau, Treblinka und Belzec. (Ebd., 1987, S. 468-470).Nun
ist freilich die Faktizität dieser letzten und äußersten Stufe,
der Tötung von etwa drei Millionen Juden, welche durchweg nicht aus Partisanengebieten
der Sowjetunion stammten, in den Gaskammern der Vernichtungslager von einigen
Autoren bestritten worden, während die Aktionen der Einsatzgruppen noch von
niemandem in Abrede gestellt worden sind. Diese Literatur stammt keineswegs ausschließlich
von Deutschen oder von Neofaschisten!(**)
Die Beweisführung besteht in der Regel darin, daß die Echtheit von
zentralen Dokumenten wie etwa des Protokolls der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar
1942 in Zweifel gezogen wird oder daß die Autoren auf die Widersprüchlichkeit
von Zeugenaussagen und die großen Unterschiede zwischen den Zahlenangaben
der Experten hinweisen. Nicht selten wird behauptet, Massenvergasungen (**)
dieses Umfangs seien mit den vorhandenen Mitteln technisch nicht möglich
gewesen. Aber selbst wenn man sich angesichts dieser Argumente des Urteils enthielte
und die zahlreichen weiteren Zeugnisse - darunter diejenigen von Eichmann (vgl.
Rudolf Aschenauer, Ich, Adolf Eichmann, 1980, S. 52), von dem Auschwitz-
Kommandanten Höß und von zahlreichen Insassen der Lager - unberücksichtigt
ließe, bleibt das Faktum des Todes von vielen Hunderttausenden und das weitere
Faktum, daß ein auffallend großer Teil dieser Toten Juden waren (**).
(Ebd., 1987, S. 470).Am 17. Februar 1942 sagte Hitler im Führerhauptquartier
zu seinen Tischgästen, unter denen sich auch Heinrich Himmler befand: »Das
Phänomen der Antike -der Untergang der antiken Welt - war die Mobilisierung
des Mobs unter dem Motto Christentum, wobei dieser Begriff mit Religion so wenig
zu tun hatte, wie der marxistische Sozialismus mit der Lösung der sozialen
Frage .... 1400 Jahre hat das Christentum gebraucht, um sich zur letzten Bestialität
zu entwickeln. Wir dürfen deshalb nicht sagen, daß der Bolschewismus
schon überwunden ist. Je gründlicher aber die Juden herausgeworfen werden,
desto rascher ist die Gefahr beseitigt. Der Jude ist der Katalysator, an dem sich
die Brennstoffe entzünden. Ein Volk, das keine Juden hat, ist der natürlichen
Ordnung zurückgegeben .... Würde die Welt auf einige Jahrhunderte dem
deutschen Professor überantwortet, so würden nach einer Million Jahren
lauter Kretins bei uns herumwandeln: Riesenköpfe auf einem Nichts von Körper.«
(Vgl. a.a.O.). Was Adolf Hitler also mit dem Wort »Jude« eigentlich
meinte, ist nichts anderes, als was fast alle Denker des 19. Jahrhunderts mit
positivem Akzent den Fortschritt genannt hatten, jenen Komplex von wachsender
Naturbeherrschung und Naturentfremdung, von Industrialisierung und Handelsfreiheit,
von Emanzipation und Individualismus, den erstmals Nietzsche und nach ihm einige
weitere Lebensphilosophen wie Ludwig Klages und Theodor Lessing für eine
Gefährdung des Lebens erklärt hatten. Für Hitler ist dieses Leben
identisch mit der natürlichen Ordnung, d.h. der zugleich bäuerlichen
und kriegerischen Struktur der Gesellschaft, die nach seiner Meinung im gegenwärtigen
Japan noch auf klassische Weise gegeben ist, während sie in Europa zuerst
von der Friedensutopie des Christentums und dann durch eine maßlose Industrialisierung
mit ihren Krisen- und Zersetzungserscheinungen gefährdet wurde. Hitler hat
also den gleichen weltgeschichtlichen Prozeß im Auge, der für Marx
zugleich Fortschritt und Niedergang gewesen war, jenen Prozeß, den man die
Intellektualisierung der Welt nennen könnte. Aber trotz einiger Ansätze
waren Marx und Nietzsche, Lessing und selbst Klages immer weit von der Behauptung
entfernt geblieben, es lasse sich eine konkrete, menschliche Ursache dieses Prozesses
aufweisen. Hitler jedoch tat diesen Schritt, der eine radikale Umkehrung aller
bisherigen Ideologie war, aber selbst nicht mehr Ideologie in einem ursprünglichen
Sinne genannt werden sollte, weil er einer Menschengruppe die Macht zuschreibt,
einen transzendentalen Prozeß hervorzurufen. Dennoch war die These nicht
etwa bloß unsinnig, denn die Juden hatten schon als »Volk der Schrift«
und dann als eine durch die Emanzipation scheinbar besonders geförderte und
in Wahrheit besonders tief getroffene Gruppe in der Tat eine hervorstechende Beziehung
zu jener lntellektualisierung, aber sie waren nicht Ursache, sondern Erscheinungsform.
Insofern war es nicht ohne Konsequenz, daß Hitler in seiner Verteidigung
des Krieges als unverzichtbaren Teils der natürlichen Ordnung die genozidalen
Tendenzen des modernen Krieges vor allem gegen die Juden richtete. Aber ein Genozid,
der in dieser Absicht erfolgt, ist kein bloßer Genozid mehr. Wie sehr für
Hitler die Umkehrung der Geschichtsphilosophie, die Verteidigung der natürlichen
Ordnung und die Revolutionserfahrung von 1918 Hand in Hand gingen, wird unwidersprechlich
klar, wenn noch ein Satz hinzugenommen wird, den er am 22. Juli 1941 zu dem kroatischen
Marschall Kwaternik sagte: »Wenn auch nur ein Staat aus irgendwelchen Gründen
eine jüdische Familie bei sich dulde, so würde diese der Bazillusherd
für eine neue Zersetzung werden.« (Vgl. Andreas Hillgruber, Staatsmänner
und Diplomaten bei Hitler - Vertrauliche Aufzeichnungen über Unterredungen
mit Vertretern des Auslandes 1939-1941, 1967, S. 614). Zwar erwähnte
er im folgenden Madagaskar und Sibirien als mögliche Aufenthaltsräume
für die europäischen Juden. Aber Madagaskar war ihm schon verschlossen,
und Sibirien sollte ihm bald ebenso verschlossen sein. Wenn er die Juden aus Deutschland
und dem übrigen Europa nach Polen hätte bringen lassen, damit sie dort
in Ghettos lebten, so wäre er weiter nichts als ein Schwätzer gewesen.
Deutsche Geisteskranke hatte er zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Kwaternik
bereits durch Gas töten lassen, und es ist durchaus möglich, daß
diese Methode ihm besonders »human« erschien. Wer Hitler ernst nimmt,
kann die Vernichtungsaktionen von Auschwitz und Treblinka und auch die Gaskammern
nicht leugnen. Das bedeutet nicht, daß er alle Zahlenangaben akzeptieren
muß, was sowieso eine Unmöglichkeit wäre. Hinsichtlich Auschwitz
bewegten sich die meisten Schätzungen zwischen vier Millionen und einer Million,
bis die offizielle Festlegung auf 1 bis 1,5 Millionen erfolgte. (Ebd., 1987,
S. 470-472).Aber es ist nicht zu bestreiten, daß diese transzendentale
Vernichtung in der größten Verborgenheit vor sich ging. Wer, wie Hilberg,
die Meinung vertritt oder zu suggerieren sucht, alle Mitglieder des Wirtschafts-
und Verwaltungshauptamtes der SS oder sogar alle Eisenbahner, die Züge nach
Auschwitz abfertigten, müßten von den Gaskammern gewußt haben,
der sollte konsequenterweise leugnen, daß der »Befehl Nr. 1«,
niemand dürfe mehr wissen, als für die Ausführung seiner unmittelbaren
Aufgaben unbedingt erforderlich sei, die Menschen noch mehr voneinander trennte,
als es die Arbeitsteiligkeit der modernen Gesellschaft sowieso tut, und daß
hundert Spezialisten Panzerwagen bauen können, während Tausende von
anderen Spezialisten des Glaubens sind, sie hätten Einzelteile für Raupenschlepper
produziert. Hilberg selbst berichtet davon, daß Frau Schirach in Amsterdam
zur Zeugin einer nächtlichen Zusammentreibung von Juden geworden sei und
sich deshalb so sehr erregt habe, daß sie ihrem Mann davon berichtete. Dieser
habe ihr geraten, bei ihrem nächsten Besuch im Hauptquartier den Führer
selbst auf solche »Mißstände« aufmerksam zu machen. Hitler
habe ihr aber nur »ungnädig« zugehört und nach einem »Wortwechsel«
habe das Ehepaar Schirach den Raum verlassen. Und der neben Rommel berühmteste
der deutschen Panzergenerale, Guderian, sagte noch im März 1945 in offenkundiger
Aufrichtigkeit vor Vertretern der Presse, er habe lange im Osten gekämpft,
aber er habe nie etwas von den »Teufelsöfen, Gaskammern und ähnlichen
Erzeugnissen einer krankhaften Phantasie« bemerkt, mit denen ein Befehl
des Marschalls Schukov die »Haßgefühle der primitiven Sowjetsoldaten«
aufzustacheln versuche. (Ebd., 1987, S. 472-473).Die Endlösung
ist ohne Zweifel die extremste und kennzeichnendste unter allen Taten des Nationalsozialismus,
aber ihre Verborgenheit gehört ebenso wesentlich dazu wie jene Umkehrung
der überlieferten Geschichtsphilosophie, die öffentlich vorzutragen
auch Hitler niemals wagen durfte. Als tendenziell vollständige Vernichtung
eines Welt-Volkes unterscheidet sie sich wesentlich von allen Genoziden
und ist das genaue Gegenbild zur tendenziell vollständigen Vernichtung einer
Welt-Klasse durch den Bolschewismus, und insofern ist sie die biologistisch
umgeprägte Kopie des sozialen Originals. Aber eben deshalb ist sie keine
bloß biologische Vernichtung, sondern sie bedeutet eine Entscheidung
im Hinblick auf den Geschichtsprozeß im ganzen, eine Entscheidung gegen
den Fortschritt, aber auf der Basis fortschrittlicher Wirklichkeiten, während
der Bolschewismus eine Entscheidung für den Fortschritt war,
aber in enger Verknüpfung mit sehr zurückgebliebenen Realitäten.
Trotzdem ist die Endlösung nicht die einzige Perspektive, in der das
Verhältnis von Nationalsozialismus und Bolschewismus gesehen werden darf.
Bolschewismus und Nationalsozialismus waren immer Gegensätze, und sie blieben
es bis zum Ende, aber sie waren doch zu keinem Zeitpunkt einander auf kontradiktorische
Weise entgegengesetzt, und je mehr sich der Krieg seinem Ende näherte, um
so stärker wurde ein »Wechsel der Merkmale« erkennbar.
(Ebd., 1987, S. 473).Wortzusammensetzungen
geben nur dann einen klaren Sinn, wenn der Akzent wirklich auf dem Substantiv
liegt und wenn das hinzugefügte Adjektiv bloß eine zusätzliche,
wenngleich wesentliche Bestimmung zum Ausdruck bringt. Der Nationalsozialismus
war indessen nie primär ein Sozialismus, d.h. eine hauptsächlich von
den Motiven einer inneren Klassenauseinandersetzung bestimmte Bewegung, sondern
er war ein Sozialnationalismus des faschistischen Typs, und zwar in dessen radikalster
Erscheinungsform. (Ebd., 1987, S. 478-479). **
**
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**
**
**
Schlußbetrachtung: Vom europäischen
Bürgerkrieg 1917-1945 zum Weltbürgerkrieg 1947-1990Heute
braucht man nicht mehr zu fordern, daß die Welt sich immer weiter von der
Epoche des Faschismus und des europäischen Bürgerkriegs entfernen müsse,
denn dieses Sich-Entfernen ist längst eine unübersehbare Realität.
Aber dadurch ist es keineswegs sicher geworden, daß die Welt einer konfliktfreien
oder auch nur konfliktarmen Zukunft entgegengeht; nur der mit allen technischen
Mitteln geführte Krieg zwischen gleichrangigen Großmächten ist
undenkbar und praktisch unmöglich geworden. Ein definitives historisches
Urteil über den Gewaltsozialismus, der 1917 in Rußland die macht eroberte,
und auch über den Gewaltnationalismus, der sich unter dem Namen Nationalsozialismus
in Deutschland durchsetzte, wird erst gefällt werden können, wenn deutlich
geworden ist, welche Folgen die fessellose »kapitalistische Globalisierung«
und der stetig voranschreitende Liberalismus nach sich gezogen haben. (Ebd.,
1987, S. 502).Wer die neuartigen und großen Probleme des
21. Jahrhunderts in die Fragestellungen und Emotionen des 20. Jahrhunderts einzuzwängen
sucht, wer also etwa die Termini »Kommunismus« und »Faschismus«
benutzt, obwohl bei den politischen Gegnern die betreffende Selbstbezeichnung
nicht gegeben ist und wesentliche Differenzen erkennbar sind, tut der Zukunft
einen schlechten Dienst. Gewiß gibt es in der Geschichte Kontinuitäten
und Renaissancen, aber der Bolschewismus Lenins und Stalins und erst recht der
Faschismus Mussolinis und Hitlers sind seit 1991 so sehr vergangen, daß
sie nun endgültig zu Gegenständen wissenschaftlichen Nachdenkens statt
zu Objekten oder Vorwänden parteipolitischer Polemik werden sollten.
(Ebd., 1987, S. 503).
Brief von François Buret an Ernst Nolte
Lieber
Herr Kollege,
| | Paris, den 3.
April 1996
|
Man muß den Bann dieses magischen
Gedankengangs brechen; darum bereue ich mein Tun .... (Ebd., 1987 bzw. 1997,
S. 448).Was auch immer die jeweilige Situation der deutschen und
französischen Historiker hinsichtlich des Verständnisses vom 20. Jahrhundert
war, ist es klar, daß die Obsession des Faschismus und damit des Antifaschismus
von der kommunistischen Bewegung als Mittel instrumentalisiert worden ist, um
die eigene Realität vor den Augen der öffentlichen Meinung zu verbergen.
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, diese Sichtweise, welche die Macht einer
Theologie erlangt hat, in Frage zu stellen, um sich der realen Geschichte des
Faschismus und des Kommunismus zu nähern. In dieser Hinsicht haben Sie den
Weg gebahnt, und mit dem Verfließen der Zeit wird das in zehn oder fünfzig
Jahren, wenn wie mehr Abstand gewonnen haben, für jedermann klar sein.
(Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 550).Mit
vorzüglicher Hochachtung
| | François
Furet
| Aus dem Französischen von Klaus
Jöken und Ernst Nolte. (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 553).
Zitate:
Hubert Brune, 2007 (zuletzt aktualisiert: 2009). 
Anmerkungen:
Das Liberale System ist laut Ernst
Nolte u.a. dadurch charakterisiert, daß zu ihm wie selbstverständlich
auch der Links-Sozialismus (z.B. Kommunismus, Marximus u.ä.) und der Rechts-Sozialismus
(z.B. Faschismus, Nationalsozialismus [Radikalfaschismus, so Nolte]
u.ä.) gehören. Erst viel später wurde mir der Begriff des
»Liberalen Systems« geläufíg, welches in seinem Ursprung
das »europäische System« des Neben- und Miteinanders geschichtlicher
Kräfte ist, die zunächst den Gegner vernichten wollen und sich doch
damit begnügen müssen, ihn zu schwächen und zurückzudrängen,
um dann an seiner Seite einen Platz einzunehmen, der den eigenen Erwartungen nicht
entsprach, der aber das Ganze reicher und vielfältiger sein läßt,
als der Teil es mit seinem Abolutheitsanspruch je hätte sein können.
So erging es dem Protestantismus, der Aufklärung, dem Positivismus und der
Lebensphilosophie, und schon in der Einheit des »mittelalterlichen«
Katholizismus gab es eine Spaltung oder - besser - eine Differenzierung zwischen
Staat und Kirche, zwischen Monarchie und Adel, zwischen Bürgerstädten
und Landbevölkerung. Bis in die jüngste Zeit ist keiner dieser Faktoren
völlig untergegangen .... (Ernst Nolte, Der kausale Nexus, 2002,
S. 340-341 **).
Vgl. auch die im Liberalen System enthaltenen Liberalismus
und Liberismus.Der
Begriff Liberismus sucht ein bestimmtes Entwicklungsstadium
dessen zu fassen, was ich das »Liberale
System« genannte habe. »Liberismus« ist ein Entwicklungsmoment
dieser vielpoligen Gesellschaft, mit dem der Liberalismus in gewisser Weise totalitär
wird. Aber der totalitäre Liberalismus weist grundsätzlich andere Merkmale
auf als andere Totalitarismen: er ist hedonistischer Individualismus und damit
die Verneinung des Begriffs der Pflicht. Insofern ist der liberale Totalitarismus
von präzendenzloser Art. (Ernst Nolte, in: JF,
03.07.1998 **).
Der Liberalismus ist ja schon von seinem Anfang an
verknüpft mit dem Glauben an den Individualismus und tendiert zum Anarchismus;
darum verwundert es nicht, daß er, indem er immer totalitärer wird
- als Liberismus, so Nolte -, den endgültigen Untergang der Gemeinschaft
bedeutet. Darüber hinaus ist der Liberalismus der Grund für sein eigenes
Verschwinden, denn er muß ja gemäß seines Selbstverständnisses
auch tolerant gegenüber denjenigen sein, die ihn abschaffen. François
Noël Babeuf
(1760-1797, hingerichtet), genannt Gracchus, entwickelte sozialrevolutionäre
Ideen einer »Republik der Gleichen«, in der das Privateigentum abgeschafft
werden sollte. Nach Fehlschlag seines gegen die Direktorialregierung gerichteten
Umsturzversuchs im Mai 1796 wurde er 1797 mit einigen Mitverschwörern zum
Tode verurteilt und hingerichtet. Babeufs Ideen wirkten auf den europäischen
Kommunismus.Internationale als die internationalen
sozialistischen (bzw. inter-nationalsozialistischen!) Vereinigung im Rahmen
der Arbeiterbewegung: (1) seit 28.09.1864 I. Internationale; (2) seit Juli 1889
II. Internationale; (3) seit März 1919 III. Internationale; (4) seit September
1938 IV. Internationale.Robert Conquest
zitiert in seinem »Harvest of Sorrow«, London 1986, eine höchst
charakteristische Wendung aus eienm sowjetischen Roman von 1934, welche sich auf
die Kulaken (ukrainische Bauern; sie waren eines der vielen
Beispiele, die schuldig bzw. ein »Klassenfeind« waren, weil sie ein
Kuh besaßen, und deshalb als »Klasse« verrnichtet wurden; HB) bezieht: »Not one of them was guilty of anything, but they belonged
to a class that was guilty of everything« (S. 143). In schweren sozialen
Krisensituationen drängt sich eine solche Auffassung den Benachteiligten
gegenüber dem »Klassenfeind« geradezu auf, während der Ausweitung
der »kollektivistischen Schuldzuschreibung« auf ein Volk oder eine
Kultur in aller Regel ein erhebliches Maß an konstruierender Reflexion vorangehen
wird. Die Kulaken freilich waren sicher nicht Opfer der »Dorfarmut«,
sondern eines Entschlusses der Staatspartei. (Ernst Nolte, Der europäische
Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987,
S. 508, Anmerkung 68).Kommunistische
Autoren setzen den Gehalt des Begriffs mit großer Selbstverständlichkeit
voraus, sprechen gewöhnlich lieber von »Weltrevolution«, da für
sie die Feinde im Grunde »Agenten des Kapitals« und allenfalls »Kleinbürger«
sind; größeres Gewicht hat der Begriff bei Ernst Jünger (1895-1998)
und Carl Schmitt (1888-1985); in der wissenschaftlichen Literatur wurde er zuerst
von Hanno Kesting und Roman Schnur verwendet. (Ernst Nolte, Der europäische
Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987,
S. 508, Anmerkung 71).Schreckbilder
und Schreckgespenster waren im übrigen während der Weimaer Zeit
keineswegs auf vdie angeblich besonders ängstlichen Kleinbürger
beschränkt. So sagte z.B. Anfang 1929, als noch kaum ein Mensch Hitler ernst
nahm, der kommunistische Abgeordnete Stöcker im Reichstag: »Im Wehretat
stecken Hunderte von Millionen für geheime Aufrüstung. Wieviel Panzerzüge
besitzt denn die Reichsbahn, und wie viele davon sind schon auf die russische
Gleisbreite umgestellt?« Bei den nichtkommunistischen Abgeordneten
rief diese Aussage »schallende Heiterkeit« hervor. (Ernst Nolte,
Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus,
1987, S. 511, Anmerkung 33).Vgl. hierzu auch:
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 226, wo das Zitat ebenfalls zu
finden und in der Fußnote angegeben ist: Zitiert nach Ernst Nolte,
Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus,
1987, S. 339. (Peter Sloterdijk, ebd.).Vgl.
hierzu auch: Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 226, wo das Zitat
ebenfalls zu finden und in der Fußnote angegeben ist: Zitiert nach
Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus
und Bolschewismus, 1987, S. 89 und 513f.. (Ebd.). Ernst
Nolte: Die Äußerung wird von David Shub (Lenin, 1957)
folgedermaßen zitiert: »Um unsere Feinde erfolgreich zu bekämpfen,
müssen wir unseren eigenen sozialistischen Militarismus haben. Von den hundert
Millionen Einwohnern in Sowjetrußland, müssen wir neunzig davon für
uns gewinnen. Was den Rest anbetrifft, so haben wir ihnen nichts zu sagen; sie
müssen ausgerottet werden.« (Grigorij Sinovjew). Als Fundstelle wird
angegeben: »Severnaia Kommuna«, Abendausgabe vom 18. September 1918,
S. 375. .... Weil diese Äußerung trotz der Quellenangabe auf den ersten
Blick tatsächlich unglaubwürdig erscheint, habe ich mir große
Mühe gegeben, sie nachzuprüfen. .... Das Zitat David Shubs erwies sich
als essentiell korrekt. Es findet sich allerdings in der Nr. 109 vom 19. September
1918 auf S. 2 (**)
... (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus
und Bolschewismus, 1987, S. 513-514, Anmerkung 41). »Wir
und sie können nicht auf einem Planeten leben. Wir brauchen einen eigenen
sozialistischen Militarismus zur Überwindung unserer Feinde. Von den hundert
Millionen der Bevölkerung in Sowjetrußland, müssen wir neunzig
für uns gewinnen (wörtlich: hinter uns herziehen). Mit den übrigen
haben wir nicht zu reden; wir müssen sie ausrotten. ...« (Grigorij
Sinovjew, in: »Severnaia Kommuna« Nr. 109 vom 19. September 1918,
S. 2, zitiert in: Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945
- Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 514). **Seeds
of Conflict, Series 4: »The Opposition at Home and Abroad«, Band
1, S. 8 (Nachdruck: 1975). Einen bemerkenswerten Beitrag zur Bestimmung des qualitativ
Neuartigen im bolschewistischen Terror gab einige Jahre später J. Steinberg,
der im Winter 1917/'18 als linker Sozialrevolutionär der Justizkommissar
im Rat der Volkskommissare gewesen war. In seinem Buch »Gewalt und Terror
in der Revolution (Oktoberrevolution oder Bolschewismus)«, Berlin 1931,
schreibt er: »... Ich will nur einen Akt der sozialistischen Staatsgewalt
erwähnen, der der künftigen Selbstjustiz von oben (also nicht von unten)
den Weg bahnte. Es war die Erklärung vom Dezember 1917 gegen die bürgerlich-liberale
Kadettenpartei. Die letztere wurde »außerhalb des Gesetzes gestellt«.
... Das Dekret bedeutete, daß von nun an keine reale Person wegen eines
realen Verbrechens angeklagt wurde und daß eine politische und soziale Abstraktion
(die Kadettenpartei) dem allgemeinen Verdacht, der allgemeinen Wut ausgeliefert
wurde, daß ferner die zu dieser Abstraktion gehörenden Menschen als
lebende, leidende Wesen zu existieren aufhörten .... Mit diesem mit dem Geist
des Sozialismus in schreiendem Widerspruch stehenden Akt sagte man den Massen
zum ersten Male: Bei euren gegenwärtigen oder künftigen Leiden seid
ihr nicht mehr verpflichtet, nach der Schuld der Schuldigen zu forschen. ....
Ihr könnt einfach an einem gegebenen Sündenbock Vergeltung üben,
euch direkt rächen und eure Feinde wie Kriminalverbrecher strafen und vernichten.
Erst durch dieses Dekret der Räteregierung wurde die gegenseitige Haftpflicht
und die Institution der Festnahme von Geiseln, die jetzt, wie ein eiserner Reifen,
die ganze Revolution umklammern, geschaffen.« (S. 35). Zur Frage
der Vergleichbarkeit von Massenverbrechen ist die folgende Äußerupg
von Wichtigkeit, die dem Bulletin des Zentralkomitees der Partei der linken Sozialrevolutionäre
Nr. 1 vom Januar 1919 entnommen ist: »Im Gouvernement Tambov fand eine absolut
spontane Erhebung in 40 Gemeinden statt. Man unterdrückte sie in der unmenschlichsten
Weise. Panzerautos und giftige Gase wurden in Anwendung gebracht ...« (S.
71). Auf S. 329 bezeichnet der ehemalige Volkskommissar Lenin mit Nachdruck als
»den Urheber des Terrors«. (Ernst Nolte, Der europäische
Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987,
S. 517, Anmerkung 5). Die
russische Revolution und die sozialistische Internationale. Aus dem literarischen
Nachlaß von Paul Axelrod, Jena, 1932, S. 180, 183, 186f.. (Ernst Nolte,
Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus,
1987, S. 517, Anmerkung 6). Auch
hier tut man indessen, sich den entgegengesetzten Extremismus vor Augen zu halten,
etwa die These von Theodor Lessing, die einzige Gefahr, die die Welt bedrohe,
sei die weiße rasse, eine Äußerung, die Alfred Rosenberg auf
dem Nürnberger Reichsparteitag von 1927 scharf attackierte. (Vgl. Der
Reichsparteitag der NSDAP, Nürnberg, 19.-21. August 1927 - Der Verlauf und
die Ergebnisse der Beratungen, Hrsg.: Alfred Rosenberg & Wilhelm Weiß,
1927, S. 37). (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945
- Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 521, Anmerkung 25). »Zu
einem einzigen Staat haben wir kein Verhältnis gesucht und wünschen
auch, zu ihm in kein engeres Verhältnis zu treten: Sowjetrußland. Wir
sehen im Bolschewismus mehr noch als fürher die Inkarnation des menschlichen
Zerstörungswillens, Wir machen für diese grauenhafte Ideologie der Vernichtung
auch nicht das russische Volk als solches verantwortlich. Wir wissen: Es ist eine
kleine jüdisch-intellektruelle Oberschicht, die ein großes Volk in
den Zustand dieses Wahnwitzes gebracht hat. Wir stehen daher jedem Versuch einer
Ausbreitung des Bolschewismus, ganz gleich, wo er auch stattfindet, mit Abscheu,
und dort, wo er uns selbst bedroht, in Feindschaft gegenüber ...« (Adolf
Hitler, Rede am 20.02.1938). (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg
1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 528-529, Anmerkung
17).Eine aufschlußreiche
Auseinandersetzung des Hauptpropagandisten der KPD mit der nationalsozialistischen
Propaganda ist Willi Münzenberg, Propaganda als Waffe, 1937.
(Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus
und Bolschewismus, 1987, S. 536, Anmerkung 15).Curt
Geyer, führendes Mitglied der linken USPD, berichtet in seinen Lebenserinnerungen,
daß er bei einem seiner Aufenthalte in Moskau von einer in Lumpen gekleideten
Dame des ehemaligen Bürgertums angesprochen worden sei, die ihn angefleht
habe, sie zu heiraten, damit sie diesem Elend entkomme. (Ernst Nolte, Der
europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus,
1987, S. 534, Anmerkung 14).Es
ist in der Tat auffällig, daß sich nicht wenige Ausländer unter
diesen Revisionisten befinden, darunter ehemalige Insassen von deutschen Konzentrationslagern
wie Paul Rassinier. Die Motive sind unterschiedlich, aber häufig ehrenwert:
Abneigung gegen eine angebliche Fortsetzung bloßer Kriegspropaganda (!!!),
Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern (!!!),
Weigerung, dem toten Gegner Fußtritte zu geben (!!!).
Meist widerlegen sich diese Autoren aber durch unsinnig übersteigerte Thesen
selbst, so Faurisson, wenn er behauptet, niemals habe Hitler befohlen oder zugelassen,
daß irgend jemand wegen seiner Rasse oder seiner Religion getötet wurde.
Gleichwohl stände es um die etablierte Literatur besser, wenn sie
sich mit den Auffassungen dieser Autoren ... sachlich auseinandersetzte, statt
immer bloß von »Rechtsradikalen« zu sprechen So sind nicht nur
gegen das Protokoll, sondern auch gegen die »Wannsee-Konferenz« ernste
Zweifel vorgebracht worden, die meines Wissens nirgendwo in der Literatur gründlich
erörtert werden. Nicht nur fehlt in der Anwesenheitsliste die wichtigste
Person, Reinhard Heydrich, sondern es ist auch weder die Zeit des Beginns noch
diejenige des Endes vermerkt. Vor allem aber waren der 19. und 20. Januar sehr
wichtige Tage in Prag, nämlich Tage einer Regierungsumbildung, bei welcher
der amtierende Reichsprotektor schwerlich hätte abwesend sein können.
Der Angriff meldete am 21.01.1942 unter »Prag 20. Januar«,
der stellvertretende Reichsprotektor habe um 19.00 Uhr die Mitglieder der neuen
Regierung empfangen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Heydrich auf dem Luftwege
am 20. bis 19.00 Uhr wieder in Prag sein konnte, und es ist sogar wahrscheinlich,
da auch Eichmann mit großer Selbstverständlichkeit von dieser Konferenz
spricht (vgl. Rudolf Aschenauer, Ich, Adolf Eichmann, 1980, S. 50ff.; vgl.
auch Günther Deschner, Reinhard Heydrich, 1977, S. 25f.). Aber es
bleibt beklagenswert, daß die elementare regel der Wissenschaft »audiatur
et altera pars« (= »gehört werde auch der
andere Teil«; HB) in der etablierten Literatur so weitgehend
außer Kraft gesetzt zu sein scheint (das scheint nicht
nur, sondern ist eindeutig auch so! Geschichtswissenschaft ist bei uns keine Wissenschaft
mehr, sondern nur noch Religion bzw. Theologie und darin bedeutet »Theo«
Siegerjustiz]! HB). Rundum erfreuliche Zeuignisse eines Willens zur
Objektivität sind - außerhalb des Rahmens einer Erörterung der
»Endlösung« - die Bücher des us-amerikanischen Historikers
Alfred M. de Zayas (für die Zeit vor 1945: Die Wehrmacht-Untersuchungsstelle
- Deutsche Ermittlungen über alliierte Völkerrechtsverletzungan im Zweiten
Weltkrieg, 1984). Aber gerade sie machen auch wiederum die qualitative Differenz
anschaulich. (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945
- Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 541-542, Anmerkung 26).Der
Frage der technischen Ausführbarkeit ist seit einiger Zeit viel Aufmerksamkeit
zugewendet worden; affirmativ von Werner Wegner (Keine Massenvergasungen in
Auschwitz? Zur Kritik des »Leuchter-Gutachtens«, in: Die
Schatten der Vergangenheit - Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus,
Hrsg.: Uwe Backes / Eckhard Jesse / Rainer Zitelmann, 1990, S. 450-476); negativ
bezüglich der von »Augenzeugen« genannten Zahlen in verschieden
Arbeiten von Carlo Mattogno (vgl. Grundlagen zur Zeitgeschichte, Hrsg:
Ernst Gauss [= Germar Rudolf], 1994). Auch die weitaus detaillierteste, aber dem
Titel nur partiell entsprechende Untersuchung verhält sich gegnüber
den Zahlenangaben der Sonderkommandos kritisch, nämlich das monumentale Buch
von Jean-Claude Pressac, Technique and Operation of the Gas Chambers, 1989.
(Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus
und Bolschewismus, 1987, S. 542, Anmerkung 27).Die
Literatur über die »Endlösung« stammt zum weit überwiegenden
Teil von jüdischen Autoren. Sie ist daher begreiflicherweise ganz auf ein
einfaches »Täter-Opfer-Schema« fixiert; insofern zweifellos mit
Recht, als die Initiative Hitlers bzw. des Nationalsozialismus hinsichtlich der
Juden außer Zweifel steht, nicht erst seit 1939, und weil die »Judenräte«
tatsächlich ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft an den Tag legten.
Aber andere Aspekte geraten dadurch leicht aus dem Blick und werden oftmals nur
in Nebenbemerkungen oder manchmal in aktuell-politischen Auseinandersetzungen
zwischen den Autoren greifbar. So bemerkt Gilbert, a.a.0., die Mordkommandos hätten
in Rußland wirksame Unterstützung gefunden, denn die Juden seien »von
einer extrem feindlichen Landbevölkerung« umgeben gewesen, so daß
sie bisweilen schon getötet worden seien, ehe die Einsatzgruppen eintrafen;
außerdem hätten viele Pogrome durch »einheimische Antisemiten«,
rumänische Truppen u.s.w. stattgefunden. (S. 76) Der internationale Charakter
des Antisemitismus und eines Teils der »Endlösung« wird so immerhin
nicht vollständig übergangen. Reuben Ainsztein wiederum arbeitet die
Aktivität der jüdischen Widerstandskämpfer in der Polemik gegen
das Konzept »wie Schafe zur Schlachtbank. so stark heraus, daß er
sich gegen diejenigen jüdischen Autoren wenden muß, die seine Auffassung
für eine Unterstützung nationalsozialistischer Behauptungen erklären.
Es sollte also, weil der Begriff des »jüdischen Bolschewismus. unrichtig
ist, das starke Engagement vieler Juden für die Sache des Kommunismus während
des Krieges nicht in Abrede gestellt werden. (»Jewish Resistance in Nazi
Occupied Europe with a historical survey of the Jew as fighter and soldier in
the Diaspora«, 1974, S. XVII f., 913.) Ainsztein scheut sich auch nicht,
einen Satz Chamberlains zu zitieren, der im allgemeinen als eine Art Eigentum
der rechtsradikalen Literatur angesehen und tabuisiert wird: die US-Amerikaner
und die Weltjuden hätten ihn in den Krieg gezwungen. (S. 873, nach den Forrestal
Diaries vom 27. Dezember 1945.) Ein von den in Deutschland vorherrschenden
Darstellungen abweichendes Bild zeichnet auch - in erster Linie hinsichtlich Frankreichs
- Arno Lustiger in seinem Buch »Zum Kampf auf Leben und Tod! Das Buch vom
Widerstand der Juden 1933-1945«, 1994. So sollte zwar die »jüdische«
Literatur grundsätzlich auch gegen die angeblich »rechtsradikale«
Literatur abgewogen werden, sofern diese nicht bloß propagandistisch ist,
aber wesentliche Gewinne an Einsicht wären schon dann zu erwarten, wenn die
»jüdische« Literatur unbefangen zur Kenntnis genommen würde.
So wurde in den »Heften von Auschwitz« Nr. 811964 berichtet, im Juli
1944 seien 400 Männer aus einem Transport griechischer Juden dazu bestimmt
worden, die Leichen aus den Gaskammern zu ziehen und zu verbrennen; da sie sich
geweigert hätten, seien sie allesamt vergast und verbrannt worden. In der
»Voice of Auschwitz Survivors in Israel« (Nr. 36, Oktober 1986, S.
27 ff.) wird jedoch nachgewiesen, daß es sich um ein bloßes Gerücht
handelt. Aber sogar an weit weniger versteckter Stelle, wie in der New York
Review of Books, findet sich gelegentlich eine Darstellung, in der sehr kritisch
über die »conventional ethnic stereotypes - of German murderers, Jewish
victims and Polish bystanders and collaborators« sowie über den »exclusive,
martyrological approach« geurteilt wird, welcher der »immensely complex
world of Eastern Europe« nicht gerecht werde. (Norman Davies: »The
Survivor's Voice«, in »The New York Review of Books«, Vol. XXIII,
Nr. 18 vom 20. II., 1986, S. 21-23.) Erst wenn die Regeln der Zeugenvernehmung
allgemeine Anwendung gefunden haben und Sachaussagen nicht mehr nach politischen
Kriterien bewertet werden, wird für das Bemühen um wissenschaftliche
Objektivität in bezug auf die »Endlösung« sicherer Grund
gewonnen sein. (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945
- Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 542, Anmerkung 29).Der
Historikerstreitwurde ausgelöst durch einen von Ernst Nolte (1923-2016)
für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 06.06.1986 geschriebenen
Artikel. Dem Text lagen Gedanken zu Grunde, die er bereits am 24. Juli 1980 in
einem Artikel der FAZ geäußert hatte. Wer die Hitlersche Judenvernichtung
nicht in einem bestimmten Zusammenhang sehe, so schrieb Nolte, verfälscht
die Geschichte, denn Auschwitz resultiert nicht in erster Linie aus
dem überlieferten Antisemitismus und war im Kern nicht ein bloßer »Völkermord«,
sondern es handelte sich vor allem um die aus Angst geborene Reaktion auf die
Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution. Außerdem meinte
Nolte: Es wird sich kaum leugnen lassen, daß Hitler gute Gründe
hatte, von dem Vernichtungswillen seiner Gegner sehr viel früher überzeugt
zu sein als zu dem Zeitpunkt, wo die ersten Nachrichten über die Vorgänge
in Auschwitz zur Kenntnis der Welt gelangt waren. Denn
bereits vor dem 1. September 1939 - also: vor Kriegsausbruch - hat Chaim
Weizmann als Präsident des jüdischen Weltkongresses und der Jewish Agency
for Palestine offiziell geäußert, daß: die Juden
in aller Welt in diesem Krieg auf der Seite Englands kämpfen würden.
Dies begründe nach Noltes Meinung die These, daß Hitler die Juden
als Kriegsgefangene
behandeln und internieren durfte. (Rudolf Augstein
u.a.: Historikerstreit, 1987, S. 24). Einen weiteren Anstoß der Debatte
bedeutete für die Kritiker das Buch Zweierlei Untergang des Historikers
Andreas Hillgruber (1925-1989). In dem Buch parallelisierte Hillgruber den Holocaust
mit dem Zusammenbruch der Ostfront und der danach erfolgten Flucht und Vertreibung.
Der Historikerstreit wurde also zweimal, d.h. durch zwei Artikel von Nolte
in der FAZ (24.07.1980, 06.06.1986) ausgelöst, obwohl ihm ja Gedanken aus
dem Artikel vom 06.06.1986 zugrunde liegen. Der Wissenschaftler behauptet darin,
der Archipel Gulag habe das logische und faktische Prius vor Auschwitz,
das heißt, der Rassenmord der Nationalsozialisten sei nur aus
Furcht vor dem älteren Klassenmord der Bolschewisten entstanden.
Der Mord an den Juden, der schon in seinen älteren Thesen nicht zum Wesenskern
des Faschismus gerechnet wurde, sei nur eine überschießende Reaktion
auf die Gräuel der Oktoberrevolution und habe damit einen rationalen
Kern. Diese These erweiterte er zur Behauptung eines europäischen
Bürgerkriegs von 1917 bis 1945. Nolte rückt hier Kommunismus,
Faschismus und Nationalsozialismus recht eng aneinander, weshalb seine Thesen
nach Meinung der Kritiker auf eine nivellierende Variante der Totalitarismusthese
oder gar Geschichtsrevisionismus hinauslaufen. Auch stilisiert er den von jüdischer
Seite als Reaktion auf antisemitische Ausschreitungen gestarteten Boykott deutscher
Waren im Ausland und die Bekanntgabe einer Kriegserklärung für
einen Finanz- und Wirtschaftskrieg im Daily Express vom 24.03.1933 sowie die Loyalitätsbekundung
Chaim Weizmanns von 1939 für England zur Kriegserklärung der Juden an
das Deutsche Reich und erklärt so die mit Kriegsbeginn eskalierende Judenverfolgung
des NS-Regimes als eine Gegenmaßnahme. - Gerade diejenigen,
die am meisten und mit dem negativsten Akzent von »Interessen« sprechen,
lassen die Frage nicht zu, ob bei jenem Nichtvergehen der Vergangenheit auch Interessen
im Spiel waren oder sind. Etwa die Interessen der Verfolgten und ihrer Nachfahren
an einem permanenten Status des Herausgehoben- und Privilegiertseins. Die Rede
von der »Schuld der Deutschen« übersieht allzu geflissen die
Ähnlichkeit mit der Rede von der »Schuld der Juden«, die ein
Hauptargument der Nationalsozialisten war. Alle Schuldvorwürfe gegen »die
Deutschen«, die von Deutschen kommen, sind unaufrichtig, da die Ankläger
sich selbst oder die Gruppe, die sie vertreten, nicht einbeziehen und im Grunde
bloß den alten Gegnern einen entscheidenden Schlag versetzen wollen.
(Ernst Nolte, Die Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: F.A.Z., 06.06.1986
**). |