Der
nehmende Staat
Auf den ersten Blick erscheint im Verhältnis
zwischen den Staaten und ihren Gesellschaften nichts so normal wie die Tatsache,
daß sich die öffentliche Hand am produktiven wie am konsumtiven »Leben«
der Gesellschaft durch alle Arten von Steuererhebung und Abgabenerzwingung »beteiligt«.
Der Steuerstaat ist eine Instanz, die praktisch bei allen Geschäften seiner
Bürger als nehmende Partei im Spiel ist. Er bildet die Idealbesetzung für
die Rolle des unsichtbaren Dritten bei jedem bilateralen Tausch. In Gemeinwesen
des in Europa heute dominierenden Typs wird kaum irgendwo ein Tag bezahlter Arbeit
geleistet, ohne daß der Fiskus auf seinem Vorrecht besteht, den Ertrag derselben
mit einer Steuer zu belasten. Auch der Konsum wird punktgenau erfaßt. Es
wird keine Zigarette geraucht, ohne daß der Finanzminister aus dem grauen
Dunst seinen Vorteil herausliest, es wird kein Glas Wein getrunken, ohne daß
der Fiskus mit angeheitert würde. Es wird von »Menschen unterwegs«,
man sagt auch: von Mobilitätskonsumenten in eigenen Fahrzeugen, kein Kilometer
zurückgelegt, ohne daß die staatliche Seite dabei das Ihre kräftig
geltend macht. Man kann keine Suppe auswärts essen und keine Nacht in einem
Hotel verbringen, ohne daß der Fiskus seine Hand auf die Rechnungen legt.
In früheren Zeiten nahm der französische Fiskus die Zahl der Fenster
an Häusern zum Vorwand, um den Ausblick mit einer Steuer zu belegen, er zählte
die Kamine an einem Gebäude, um von ihrer Anzahl die Höhe der Abgabe
für das menschliche Wärmebedürfnis abzuleiten. Die preußische
Staatsweisheit ersann die Mahl- und Schlachtsteuern (die bis 1873 erhoben wurden),
um überall den Fiskus mit zu Tisch zu bitten, wo Bürger Brot und Fleisch
verzehrten. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 12-13). An Begründungen für den Steuerzwang
hat es nie gefehlt - von alters her führten die Schatzverwalter jedes nur
denkbare Argument ins Feld - vom Willen der Götter bis zur Not des Vaterlandes.
Unsere Gewöhnung an die Zumutung, an die immer durchschlagend bewiesenen
staatseigenen Wahrheiten zu glauben, reicht bis in alte Schichten unseres Daseins
als politische Wesen. Fiskalische Unterwerfungsübungen gehen bis auf frühe
Staatsbildungen zurück, und die Resignation der Geber reicht tief, trotz
gelegentlicher Rebellionen (»No taxation without representation!«).
Auch die gegenwärtigen Zustände fügen sich in das Kontinuum der
widerspenstigen Ergebung ins fiskalische Schicksal ein. Schwerlich läßt
sich ein Tatbestand des zeitgenössischen Lebens benennen, der so hintergrundwirksam
wäre wie die konfuse Überzeugung: daß es dem Staat eben irgendwie
zukommt, bei allen Vorgängen unseres ökonomischen und vitalen »Stoffwechsels«
auf seine Weise mit im Spiel zu sein - und im Spiel sein, das heißt hier:
eine Prä. mie auf alles nehmenHätte der Gedanke, die Gewährung
von Bürgerrechten sei gegen die Erfüllung von Bürgerpflichten aufzurechnen,
je einer Illustration bedurft, sie würde durch den Hinweis auf die aktuelle
Steuerlast der einzelnen, der Haushalte, der Betriebe und der Körperschaften
geliefert. Seit langem wird diese Bürde wie eine natürliche Gegebenheit
hingenommen; nur libertäre Querulanten mukken hin und wieder gegen das fiskalische
Fatum auf. Damit wir uns recht verstehen: Es steht außer Frage, daß
der Staat, der autoritäre wie der freiheitliche, eine hinreichend gefüllte
Schatztruhe braucht, um seinen Aufgaben nachkommen zu können. Er wird
an so vielen Fronten zum Tätigwerden berufen: als Befehlshaber einer Streitmacht,
als Bürge für die Sicherheit seiner Schutzbefohlenen im Inneren, als
Organisator von Infrastrukturen, als oberster Präfekt des Schulwesens, als
Schutzherr des Rechtssystems, als Wächter über die Orthographie sowie
als Dienstherr zahlloser sonstiger Ordnungsfunktionen - nicht zuletzt als Garant
seines Engagements für die Benachteiligten und Schwachen -, so daß
kein Bürger sich der Einsicht entziehen kann, er müsse seine Taschen
für den schwer beanspruchten großen Bruder öffnen. Zur Fülle
der Aufgaben kommt hinzu, daß der Staat als Kommandeur eines stehenden Heeres
eigener Bediensteter auf dem Posten sein muß. Mit gut viereinhalb Millionen
Beschäftigten ist der Öffentliche Dienst hierzulande der lebende Beweis
dafür, daß der Staat bei der Schaffung von Arbeitsplätzen im eigenen
Hoheitsgebiet geradezu kreativ zu werden vermag. Man kann dem heutigen Staat alles
mögliche vorwerfen, nur das eine nicht: daß er die Seinen vergäße.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 13).
Adolph Wagner hat bereits um 1860 die Aufblähung
des Öffentlichen Dienstes durch den Parallelismus zwischen dem »Gesetz
der Ausdehnung der Staatstätigkeit« und dem »Gesetz der wachsenden
Ausdehnung des öffentlichen Finanzbedarfs« (»Wagnersches Gesetz«)
prophezeit. Selbst dieser hellsichtige Gelehrte konnte das Wachstum der Staatsausgaben
von 1876 bis heute um das mehr als 50fache ebenso wenig vorhersehen wie den Anstieg
des Anteils der Staatausgaben am Volkseinkommen von 12,6% im Jahr 1881 auf 53,3%
im Jahr 1994. (**|**|**).
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 13-14).
Der nehmende StaatBei der Nahme von Gütern, die in
den Fiskus neuzeitlicher Staatswesen fließen können, sind prinzipiell
vier verschiedene Modi der Aneignung und ebenso viele Optionen zur Begründung
des Nehmens seitens der staatlichen Agenturen in Ansatz zu bringen. Sind diese
explizit benannt, kann man sich ein Urteil darüber bilden, welche von ihnen
für ein demokratisches Gemeinwesen akzeptabel sind.(1)
An erster Stelle sind die »Plünderungen« in kriegerisch
- beutemacherischer Tradition zu nennen. ....(2)
Der zweite Modus der Beschaffung und Begründung von Staatseinnnahmen
ergibt sich aus der autoritär-absolutistischen Tradition der »Auflagen«.
Auf sie geht der größte Teil der aktuellen Steuerkultur zurück.
.... Bekanntlich hatte die Fiskalität des absolutistischen Staats das Bürgertum
und die ärmeren Schichten der Bevölkerung gewohnheitsmäßig
stark zur Kasse gebeten, indessen die Vermögen von Adel und Klerus über
lange Zeit kaum angetastet wurden. Für die Moderne ist charakteristisch,
daß die Wohlhabenden in puncto Steueraktivität an die Spitze
rückten. .... Um die Prozeduren der zeitgenössischen Fiskalität
zu würdigen, ist daran zu erinnern, daß sie noch immer in direkter
Kontinuität aus den absolutistischen Traditionen hervorgehen. ....(3)
Das dritte Verfahren zur Beschaffung und Begründung von Steuern stützt
sich im modernen Gemeinwesen auf das Motiv der »Gegenenteignung«,
das bis in die jüngere Zeit der sozialistischen und linksradikalen Auffassungen
von der Rolle des Fiskus in der kapitalistischen Gesellschaft prägend war.
Der Vorstellung der »Gegenenteignung« liegt die bekannte Devise von
der »Enteignung der Enteigner« zugrunde, mit welcher die Linke des
19. Jahrhunderts bis weit ins bürgerliche Lager hinein Sympathien erwarb.
.... Weist man für die Gegenwart das vergilbte Dogma der Exproproation der
Werktätigen durch die Arbeitgeberseite zurück, ist der gängigen
Steuerbegründung sozialistischen Stils der Boden entzogen. Der Mythos vom
Diebstahl der Reichen an den Armen und vom moralisch legitimen Gegendiebstahl
des sozial engagierten Staats zugunsten der Benachteiligten hält in unseren
Breiten und unter heutigen Umständen der Überprüfung nicht stand
(falls er je dazu taugte, das angeblich systembestimmende Verhältnis von
Kapital und Arbeit zu deuten. Angeblich deswegen, weil in der modernen Eigentumswirtschaft,
die man konventionell und oft irreführend »Kapitalismus« nennt,
die wirkliche Primärrelation, die das Wirtschaftsleben dynamisiert, nicht
der symbiotische Antagonismus von Kapital und Arbeit ist, sondern der von Gläubigern
und Schuldnern.) ....(4)
Der vierte Weg zur Beschaffung und Begründung von Einnahmen der öffentlichen
Hand wird durch die Tätigkeit von Spendern und Stiftern in philantropischer
Tradition eröffnet. Die moderne Philanthropie fließt aus der christlichen,
humanistischen, solidarischen und volksmoralischen Überzeugung, daß
es den Habenden gut ansteht, den Nicht-Habenden und den Organisationen ihrer Helfer
- bis hinauf zur Steuerkasse - einen angemessenen, also nicht unbedeutenden Teil
ihrer Überschüsse abzutreten: sei es aufgrund des Solidaritätsgefühls,
das Erfolgreiche an den Schicksalen der weniger Glücklichen Anteil nehmen
läßt, sei es aufgrund des schlechten Gewissens, das oft als moralischer
Schatten auf das Leben der Bevorzugten fällt.Das
aktuelle Fiskalsystem läßt sich nur als ein Amalgam aus dem zweiten
(siehe 2 **) und
dritten (siehe 3 **)
Modus der der Steuerrechtfertigung verstehen. Bei dieser Betrachtung springt die
profunde innere Widersprüchlichkeit dieses Konstrukts ins Auge: Zur einen
Hälfte ist es nach wie vor autoritär-obrigkeitlich bestimmt und in der
Auflagen-Praxis vordemokratischer Staatswesen verankert - was sich nicht zuletzt
in der Kontinuität der Finanzverwaltungen vom Spätabsolutismus bis heute
zeigt. In seiner anderen Hälfte stützt es sich weiterhin auf die Gegenenteignungslogik
des sozialistischen Umverteilungsdenkens, das es irgendwie geschafft hat, sich
mit den Versprechen der sozialen Marktwirtschaft zu verbinden - was nicht allzusehr
verwundert, wenn man zur Kenntnis nimmt, daß »soziale Marktwirtschaft«
von Anfang an ein Deckname war für den mischwirtschaftlichen Semi-Sozialismus
der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg unter christlich- Konservativer Bemäntelung.
Bei ihrer Fusion erzeugen die beiden Komplexe einen Block, der für die gebende
Seite keine andere Option als die Unterwerfung übrig läßt. Die
Widersprüchlichkeit zwischen der spät - absolutistischen und der semi-sozialistischen
Steuermotivierung wird durch den Umstand verdeckt, daß beide dank ihrer
gemeinsamen demokratiefernen Vision von der Rolle der Staatlichkeit aufeinander
zugehen können. De facto kommen sie sich bis zur Verwechselbarkeit
der Standpunkte nahe: Hier die alt-etatistische Konzeption des Staats als einer
wohltätigen Ordnungsmacht, die sich selbst Autorität zubilligt, indem
sie vorgibt, von oben eingesetzt zu sein; dort die neu-etatistische Konzeption
des Staats als einer moralisch autorisierten Agentur der umfassenden sozialen
Fürsorge. In psychopolitischen Ausdrücken gesprochen: Der paternalistische
Staat von einst und der maternalistische Staat von heute verstehen sich blind
und ergänzen sich zu einer unwiderstehlichen Bevormundungs- und Betreuungsmaschine.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 17-23).Im
Steuersystem der modernen Staaten (einige Kantone der schweizerischen Urdemokratie
vielleicht ausgenommen) überlebt unbemerkt der Absolutismus. Vom Ohr der
Steuerbehörden ist der Satz, wonach ale Gewalt vom Volke ausgeht, nie gehört
worden. Die okkulte Wahrheit des herrschenden Finanzsystems lautet vielmehr: Alle
Gewalt geht vom Fiskus aus Weil souverän ist, wer über die Zwangsvollstreckung
entscheidet - also über den Ernstfall der Steuerschuld gegenüber dem
Staat (als ob es die gäbe! Wer »Schuld«
sagt, will betrügen, stehlen! HB) -, ist der Fiskus der wahre
Souverän der modernen Gesllschaft. Begriffe wie »Volkssouveränität«
oder »Bürgermacht« sind in dieser Sphäre bisher nicht eingedrungen.
Sogar die Idee einer nachträglichen Kontrolle des Fiskus durch den Bürger
steht nach wie vor auf schwachen Füßen. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 24-25).Nach Angaben
des Bundes der Steuerzahler beträgt die Summe der verschwendeten öffentlichen
Gelder in Deutschland nicht weniger als 30 Milliarden Euro pro Jahr, was rund
einem Zehntel des Bundehaushalts entspricht. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 25).Die De-Automatisierung
des fiskalischen Abläufe würde die Zurückdrängung des zweiten
(**) und dritten (**)
Modus vor Steuermotivierung nach sich ziehen und unvermeidlich den vierten (**)
Modus stärken. Nur sie würde aus dem fiskalischen Mittelalter herausführen,
in dem wir in quasi ungebrochener Kontinuität leben. Allein sie könnte
das mental ebenfalls »mittelalterliche« Phänomen der Steuerflucht
eindämmen, die ja nichts anderes besagt, als daß zahlreiche Wohlhabende
sich noch immer für Adlige halten, die nicht einsehen, warum ausgerechnet
sie für das Gemeinwesen etwas (etwas? HB)
erübrigen sollten - über die Wohltat ihrer bloßen Gegenwart hinaus.
Die im Januar und Februar 2010 bekannt geworden en Vorgänge um den illegalen
Handel der BRD-Behören mit gestohlenen Daten über Stuerflüchtlinge
und ihre ausländischen Konten lassen erkennen, wie sich ein strukturell absolutistischer
Fiskus mit einer mental mittelalterlich gebliebenen Kaste von Besitzenden konfrontiert
sieht. Die großen Steuerhinterzieher und Steuerflüchtlinge bringen
durch ihr Verhalten zum Ausdruck, daß sie nicht verstanden haben, auf welcher
Geschäftsgrundlage sie dem nationalen (nicht nationalen,
sondern sozialistischen! HB) Gemeinwesen sechs-, sieben- und
achtstellige Euro-Beiträge »schulden« könnten. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 26).Von
der Geste des Spenders läßt sich ohne großen Aufwand zeigen,
daß sie die einzige Form von Zuwendung an den Staat ist, die einer sich
selbst ernst nehmenden Bürgergesellschaft zu Gesicht steht. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 27).Der
Neuordnung des fiskalischen Geschehens wird sich nur widersetzen, wer von vornherein
auf eine stichhaltige Steuerbegründung verzichtet. Einen solchen Verzicht
leistet ohne Skrupel, wer offen für die vorgeblich gutartige Despotie des
leviathanischen Wohlfahrtsstaats eintritt, erst recht, wer in der paranoischen
Tradition des Marxismus die rechtsstaatlichen Verfassungen als bloße freiheitlich
getarnte Herrschaftsappartae des kapitalbesitzenden »Klasse« zu durchschauen
meint. Im letzteren Fall wäre es nur konsequent, sich ganz auf die Intensivierung
des dritten (**) Modus von Steuerbegündung
zu konzentrieren und bedingungslos auf die Karte »Enteignung der Enteigner«
zu setzen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 27).Wahrschienlich würden heute schon sehr bescheidene
Kompromißmodelle dramatische Veränderungen amgebenden Verhalten der
Bürger hervorrufen. Kleine Änderungen des Steuerrechts könnten
den moralischen Tonus des Gemeinwesens entscheidend modifizieren .... Um es noch
einmal zu sagen: Es geht nicht um Steuersenkungen für geizige Wohlhabende,
die dem Gemeinwohl den Rücken gekehrt haben, sondern um die ethische Intensivierung
und Verlebendigung von Stueren als Gaben des Bürgers an das Gemeinwesen.
Ohne Zweifel würde diese an erster Stelle dem Bildungswesen zugutekommen,
zu dessen Prorität sich Politiker aller Parteien an Sonntagen gern bekennen
- um es an Werktagen mit seinen chronischen Defiziten allein zu lassen. Die zum
gezielten Geben befreiten Bürger würden die nötigen Investitionen
in die Bildung als die Zukunftsgarantin des Gemeinwesens auf keinen Fall versäumen.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 29).Was
die psychopolitischen Wirkungen einer solchen anscheinend bloß semantischen
Änderung des Steuerbegriffs angeht, wären sie kaum zu überschätzen.
Zahllose Bürger würden die Schönheit des Gebens neu für sich
entdecken - in der direkten Zuwendung zu den Bildungsaufgaben ebenso wie zu vielen
anderen ihrem Verständnis nach einleuchtenden Motiven wie dem Umweltschutz,
der medizinischen Forschung, der Stadtentwicklung, dem Tierschutz und einer Vielzahl
anderer Engagements. Nach einer langen Ära erzwungener Passivität würden
die endlich als Geber anerkannten wirklichen Finanzierer des Gemeinwesens wieder
erfahren, was lebendiges Verantwortlichsein für innerlich mit vollzogene,
durch eigene Spenden persönlich »besetzte« Projekte bedeutet.
Die neuen Geber würden begreifen, was es für eine moralische und politische
Absurdität ist, wenn das Steuernzahlen, der Sache nach die intensivste Zuwendung
des Bürgers zu seinem Staat, dem Verfahren nach sein passivstes, ohnmächtigstes
und wÜrdelosestes Moment darstellt. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 30).
Die neuen sozialen FragenEs gibt sie also, die neue soziale
Frage - der eingangs erwähnte Gemeinplatz hat eine Grundlage in der Sache.
Wie bei den übrigen Gemeinplätzen ist aber auch bei diesem zu bemerken,
daß er durch seine allzu glatte Evidenz das Nachdenken eher paralysiert
als anregt. In Wahrheit haben wir es nicht bloß mit der einen sozialen Frage
zu tun, die heute das Mediengespräch dominiert: Wie konnte es kommen, daß
mitten in der» Überflußgesellschaft« umJohn Kenneth Galbraiths
ominösen Ausdruck aus den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufzugreifen
- eine wachsende Schicht von Ausgemusterten, Prekären und »Überflüssigen«
entstand - und was ließe sich tun, um deren Desintegration zu mildern? Gleichzeitig
mit dem neuen Unterschichtproblem, das den größten Teil der politischen
Aufmerksamkeit bindet, ist eine zweite soziale Frage aufgetaucht, von der man
annehmen darf, daß sie demnächst die erste an Explosivität übertreffen
wird. Nennen wir sie provisorisch: das Phänomen der erodierenden Mitte (alternativ:
die Entfremdung zwischen den Staatsbürgern und dem politischen System). Die
Unheimlichkeit dieser Entwicklung verrät sich darin, daß sie keineswegs
allein den glücklosen unteren Rand der Gesellschaft betrifft, sondern ihren
Kern und ihre aktive Mehrheit. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 30-31).Die zweite
soziale Frage ist weniger leicht auf den Begriff zu bringen als die erste, da
sie sich unter sehr verschiedenen Titeln vorstellt. Einige Kommentatoren sprechen
vom Verschwinden des Bürgertums, andere von der Desertion der Eliten, wieder
andere von der Verstimmung der Leistungsträger. Häufig ist auch von
wachsender Staatsverdrossenheit in weiten Kreisen der Bevölkerung die Rede,
insbesondere bei den sozialstaatsskeptischen Mittelschichten, die seit langem
ein teures System von Alimenten finanzieren, von dem sie selbst wahrscheinlich
nie profitieren werden. Politologen haben den fortschreitenden Schwund der Loyalitäten
zwischen Parteien und Wählerschaften ins Auge gefaßt. Leitartikler
bemerken den zunehmenden Ekel der Bürger vor dem Autismus der politischen
Klasse. Demographen konstatieren nicht nur eine Senilisierung und Schrumpfung
der Populationen mitsamt ihrem direkt steueraktiven Segment, sondern auch eine
zunehmende Auswanderungsneigung bei den Jungen und Smarten. Ein wichtiger Teil
derer, die morgen hier zu den Eliten hätten zählen sollen, sitzt auf
gepackten Koffern oder lebt bereits irn Ausland, namentlich in den Ländern
der anglophonen Welt. Unter den 650000 Menschen, die jährlich der Bundesrepublik
Lebewohl sagen, befinden sich 150000 Hochqualifizierte, die für den nationalen
Arbeitsmarkt verloren sind und bis auf weiteres durch keine entsprechende Zuwanderung
ersetzt werden. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 31).Wohin man auch sieht, die Malaise ist bis
in die feinsten Ritzen des sozialen Gefüges vorgedrungen. Einer der aufmerksamsten
Beobachter der wachsenden Entfremdung zwischen dem Staat und seinen Bürgern
hat jüngst von einer »staatsbürgerlichen Migräne« gesprochen,
die - nach der hier vertretenen These - vor allem durch die »Hydra«
des ausufernden Steuerstaats verursacht wird. (Vgl. Paul Kirchhof, Das Gesetz
der Hydra - Gebt den Bürgern ihren Staat zurück! ,2008, S. 34.)
Kirchhofs Ideen zur Steuerreform (auch jene, die er im Vorfeld der Wahlen von
2005 zu popularisieren versuchte) bleiben ihrer Denkform nach nehmerzentriert
und sind strikt vom staatlichen Bedarf her gedacht. In ihren Prinzipien (Senkung,
Vereinfachung, Transparenz, Aufhebung der Privilegien) drücken sie jedoch
ein hohes Maß an Verständnis für die Geberseite aus. Gelegentlich
geht Kirchhof bis an die Grenze der systemsprengenden Kühnheit: »Der
Gedanke, der Steuerzahler selbst möge über die maßvolle und gleichmäßige
Steuerlast und damit über die Staatsaufgaben entscheiden, bleibt faszinierend.
Der Weg von einem Faszinosum zu einer privilegienfeindlichen Rechtswirklichkeit
ist vorgezeichnet« (ibid., 5.193). Anläßlich eines öffentlichen
Streitgesprächs in einem Forum des Bundestags in Berlin am 5. Juli 2010 unter
der Moderation von Frank-Walter Steinmeier hat sich Kirchhof zwar gegen meine
These vom zu wünschenden freiwilligen Charakter der Steuer ausgesprochen,
jedoch die Idee einer »Kultur des Gebens im Steuerrecht« aufgegriffen
und in einem dort vorgelegten Thesenpapier elaboriert. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 31-32).Die
Formulierungen für das große Unbehagen in der aktuellen Staatlichkeit
sind so divers, daß es eines gewissen AbstraktionsvermÖgens bedarf,
um zu begreifen, daß man es stets mit demselben Komplex zu tun hat. In all
ihren Aspekten weisen die vielfältigen Miseren auf einen basalen Befund zurück:
Immer mehr Menschen können sich des Eindrucks nicht erwehren, es habe keinen
Sinn mehr, sich für das Gemeinwesen einzusetzen. Längst haben sie die
Empfindung, einem blinden Monstrum gegenÜberzustehen, das sich nur noch um
seine eigenen Betriebsgesetze kümmert. Was auch immer die Bürger für
das Allgemeine erÜbrigen, die nehmende Staatsmaschine ist so konstruiert,
daß sie sich für ihre Abhängigkeit von Zuwendungen seitens einer
aktiv anteilnehmenden Bürgergesellschaft blind stellen muß. Blind verfährt
die Maschine nicht nur darin, daß sie ihren Routinen ohne Rücksicht
auf die Leistungen der gebenden Seite folgt: Für sie existiert in Wahrheit
gar keine gebende Seite, sondern nur eine besteuerbare Bevölkerung, von welcher
sie selbst einseitig festlegt, wie viel sie ihm schuldet. Blind ist die große
Maschine auch in der Theorie. Ja, schon die Behauptung, es gebe so etwas wie eine
valide Theorie der Steuerrechtfertigung, wäre eine freundliche Übertreibung
- es gibt nur Lehrstühle für Finanzwissenschaft und Steuerrecht, die
sich zum Fiskus verhalten wie die Theologen zur Dreieinigkeit. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 32).Wer
jüngere Literatur zu Steuerrecht und Staatsfinanzen aufblättert, stößt
auf einen Bodensatz von etatistischen Platitüden, die ausschließlich
vom faktischen Bedarf der öffentlichen Hand handeln. Nirgends ist auch nur
eine Spur von zeitgemäßer Herleitung der Steuer zu entdecken - und
zeitgemäß wäre, wie gesagt, eine solche Herleitung allein dann,
wenn sie die Geberqualitäten der steueraktiven Bevölkerung ins Zentrum
rückte. Vom Geber weiß die staatliche Seite bis heute aber gerade so
viel, wie sie wissen muß, um dessen voraussichtliche Belastbarkeit im nächsten
und übernächsten Jahr abzuschätzen. Jedoch: Daß den Routinen
des staatlichen Nehmens stets eine in riskanter Tätigkeit erwirtschaftete
Geber-Leistung gegenübersteht, die von Monat zu Monat, von Quartal zu Quartal,
von Jahr zu Jahr neu erbracht werden will: das nimmt der staatliche Pol heute
wie früher nur dann zur Kenntnis, wenn sogenannte »Steuerausfälle«
die Automatismen der nehmenden Hand zu stören drohen. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 32-33).Wollte
man für die Automatik des staatlichen Nehmens und die ihm inhärente
Mentalität einen kompakten Ausdruck finden, er müßte »Gebervergessenheit«
lauten. Im Jargon der Soziologen würde man sagen: Das Fiskalsystem hat das
Stadium der Selbstbezüglichkeit erreicht und sich von den Intentionen der
Bürger abgekoppelt. Es betrachtet die zahlende Seite bloß als seine
Umwelt, zu der es ausschließlich durch systemeigene Schemata Zugang gewinnt.
Die Bürger bilden für den Fiskus eine Randbedingung seines Funktionierens,
so wie die Kuh die Randbedingung des Milcherzeugungssystems ist. Die nehmende
Maschine weiß nicht mehr, wer diejenigen sind, bei denen sie sich bedient.
Sie hat es tatsächlich nie gewußt noch jemals wissen wollen. Wenn die
Dinge bleiben, wie sie sind, wird sie es auch in Zukunft nicht zur Kenntnis nehmen.
Im übrigen spricht viel dafür, daß die Marxsche Mehrwerttheorie
in ihrem sinnvoll rekonstruierbaren Anteil eine erste Form einer Theorie der Gebervergessenheit
war, und zwar für das Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern.
Auch die letzteren waren, vor allem in der Frühphase der Industrialisierung,
in bezug auf ihre Betriebe als eine gebende Seite zu verstehen, ohne daß
die Unternehmen dies durch adäquate Löhne zu würdigen wußten.
Wo diese anfängliche Form von Gebervergessenheit revidiert wurde - nicht
zuletzt unter dem Druck der Gewerkschaftsbewegungen -, entstanden sozialpolitisch
und unternehmensethisch plausiblere Verhältnisse zwischen »Kapital«
und »Arbeit«. Diese Beobachtungen lassen sich nicht mit der
systemtheoretischen Auskunft erledigen, die Subsysteme »Politik« und
»öffentliche Finanzen« hätten sich in der Moderne eben »ausdifferenziert«
und könnten nur noch ihren internen Parametern gemäß funktionieren.
In Wahrheit zeigt sich ein anderes Bild: Wo reales Geld im Verkehr zwischen Staat
und Bürgern fließt, stößt die »Ausdifferenzierung«
an Grenzen. Konkretes Geben und konkretes Nehmen sind keine unpersönlichen
Abläufe in einem automatisierten Funktionssystem, sondern diskrete Dramen,
die nach Darstellung in hinreichend sensiblen Begriffen verlangen. Mit funktionalistischen
Abstraktionen ist die Transaktion zwischen der nehmenden Hand und der gebenden
Seite ebenso wenig begreiflich zu machen wie mit dem verklemmten Idealismus der
hierzulande gängigen Kommunikationstheorien. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 33-34).Die vergessenen
Geber-Bürger ihrerseits nehmen sehr deutlich ~wahr, welches Spiel mit ihnen
gespielt wird. Sie machen sich keine Illusionen mehr über die Tatsache, daß
aus Staatsbürgern Träger von Steuernummern geworden sind. Viele von
ihnen teilen die Empfindung, sie seien nur noch Positionen auf einer Liste nützlicher
Idioten. Zieht man Bilanz, führt die zweite soziale Frage letztlich I auf
den Befund zurück, daß die Routinen eines anachronistisch , begründeten
und psychopolitisch falsch konstruierten Steuerstaats mit der Zeit unvermeidlich
die kollektive Demoralisierung hervorrufen. Die unbefragte (und wie man in der
aktuellen Debatte beobachten konnte: durch kritische Theoretiker vor kritischen
Fragen militant geschützte) Zwangsnatur der Steuern und Abgaben zieht die
Zerstörung aller Ansätze zur Entstehung einer freiheitlichen staatsbürgerlichen
Geberkultur nach sich. Deren Verkümmerung - herbeigeführt durch eine
systemautistische, taktlose und überdehnte Staatlichkeit - hat unmittelbare
Auswirkungen auf das notleidende Gemeinwohlbewußtsein. Wo dieses heute noch
Lebenszeichen sendet, tut es dies in der Regel eher den staatlichen Mechanismen
zum Trotz als durch diese gefördert. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 34).Es wäre freilich
ungerecht, die Gebervergessenheit des Steuerstaats allein auf das Konto der Fiskalbürokratie
zu setzen. Gebervergessenheit existiert auch in der Gesellschaft selbst - zumindest
auf einem ihrer ideologischen Flügel. Sie zeigt sich typischerweise in dem
stark politisierten Segment, welches traditionell das lebhafteste Interesse an
einem umverteilungsfähigen Staat ausdrückt bei den Empfängern von
Transferleistungen und bei der großen Schar ihrer politischen, journalistischen,
akademischen und therapeutischen Anwälte. Für diese hochmotivierten
Interessenvertreter - die man sehr zu Unrecht »Gutmenschen« nennt
- ist Staatsgeld wesensmäßig Geld ohne Eigenschaften und Dispositionsmasse
ohne Herkunftsappellation. Sie alle rechnen am liebsten mit einem Geld, das es
gibt, weil es gebraucht wird, und das vorhanden ist, weil der Staat es sich holt.
Man versteht sehr gut, wieso es eine wirkungsvolle Allianz zwischen dem nehmenden
Staat und seinen ihn zum Nehmen auffordernden Mandanten gibt - und warum beide
sich so sehr gegen jeden Hinweis auf die Fragwürdigkeit des bestehenden Systems
zur Wehr setzen. Der erste nimmt, wo immer etwas zu holen ist, und die zweiten
rufen ihm zu, wo noch mehr zu holen wäre. Fiskalisten und Sozial-Lobbyisten
aller Couleur zeigen seit jeher ein massives Interesse daran, aus »geholtem«
Geld Niemandsgeld zu machen - Geld ohne Fingerabdruck eines Gebers, Geld, das
aufgrund seiner scheinbaren Herkunftslosigkeit geeignet ist, als reine Etatmasse
durch die Hände von Umverteilern zu fließen. Hat Geld als Zahlungsmittel
immer schon eine abstrakte Seite, wird es als liquide Masse in der Staatskasse
noch um eine Stufe abstrakter, weil es dort in den Zustand purer polyvalenter
Verfügbarkeit versetzt ist. Auf diese Weise wird es zu Niemandsgeld und Jedermannsgeld
zugleich - ein ideales Mittel zur Subventionierung, Privilegierung und Bestechung
von Partei-Klienten, die Selbst-Alimentierung der helfenden Klasse nicht zu vergessen.
Dank seiner willkommenen Abstraktheit wandert es in die Hände von Empfängern,
die a priori von der Frage entlastet sind, woher die Beträge stammen.
Jedermannsgeld kommt scheinbar jedem Interessenten zu, weil Geld ohne Eigenschaften
sein Vorhandensein vorgeblich nur dem allgemeinen Wertschöpfer, der »Gesellschaft«,
verdankt, will sagen, unterschiedslos allen Mitgliedern des mysteriösen Kollektivs.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 34-35).Insbesondere
die konservative Linke war seit jeher an der Destillation eines Geldes in staatlicher
Hand interessiert, dem man es nicht mehr ansehen sollte, aus welchen Taschen es
kam. Vergessen wir nicht anzumerken, daß die Anonymisierung von Geldern
in der öffentlichen Hand zunächst eine progressive Funktion erfüllt:
Sie objektiviert die Staatsfinanzen und emanzipiert sie von »feudalen«
Geberaufträgen. Wenn aber die Anonymisierung die Schwelle von der gebotenen
Diskretmachung der Geberseite zur völligen Gebervergessenheit überschreitet,
wird sie kontraproduktiv. Von da an entsteht aus dem kleineren Übel das größere:
Indem sie am fiskalischen Geld jede Herkunftsspur tilgt, erzeugt die Anonymisierung
der Steuern Demoralisierung bei der gebenden und Wirklichkeitsverlust bei der
nehmenden Seite. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 35-36). |  1)
6,1% zahlen 70% der Steuern; 2)
24,4% zahlen 30% der Steuern; 3) 19,5%
sind von Steuern befreit; 4) 50% sind zu
100% Sozialfälle.1+
2)
30,5% Steueraktive; 3
+ 4)
69,5% Steuerneutrale, - passive. |
 1)
70% der Steuern von 6,1% bezahlt; 2)
30% der Steuern von 24,4% bezahlt.1+
2) 100% der Steuern
von 30,5% bezahlt. |
|
Die antibourgeoise Polemik auf dem altlinken
Flügel der heutigen Gesellschaft verkennt, wie sehr sich das Schwergewicht
der Bürgerleistungen für den Staat im Laufe des letzten Jahrhunderts
zur Mitte hin, insbesondere zur oberen Mitte, verschoben hat. Um in Zahlen
zu reden: Von der Gesamtpopulation der Bundesrepublik Deutschland, die
aktuell rund 82 Millionen Menschen zählt (offiziell!
Illegale werden ja nicht mitgezählt! HB), gehen gegenwärtig
circa 41 Millionen Menschen Einkünfte erbringenden Tätigkeiten
nach. In diesen Zahlen kommt die Generationen-Staffelung der Gesellschaft
in Sicht, da die nicht-berufstätige größere Hälfte
überwiegend aus Jungen und Alten besteht, die ins Arbeitsleben noch
nicht beziehungsweise nicht mehr eingegliedert sind, somit aus realen
ehemaligen und möglichen künftigen fiskalischen »Leistungsträgern«,
um das ominöse Wort zu benutzen. Das untere Drittel der aktuell Berufstätigen,
etwa 16 Millionen Arbeitnehmer, erzielen so niedrige Einkommen, daß
sie von direkten Steuern befreit sind. Bleiben also auf der Haben-Seite
die 25 Millionen Haushalte, die den Kern der aktuell aktiven Steuerbürgerschaft
in der BRD bilden. Von ihnen bringt das obere Fünftel, also fünf
Millionen Haushalte und Einzelpersonen, circa 70 Prozent der Einkommensteuern
auf, indessen ungefähr 20 Millionen Steuerzahler sich die restlichen
30 Prozent teilen. (**).
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010,
S. 36).
Da die Einkommensteuern nur einen Teil des fiskalischen Gesamtvolumens
ausmachen, obschon nach wie vor den beträchtlichsten Posten, indessen
die übrigen Steuerkategorien, insbesondere die Umsatzsteuer und die
Konsumsteuern, das Übergewicht der Staatseinnahmen bilden, ist es
legitim zu fragen, von welcher Seite und auf welche Weise die übrigen
Summen aufgebracht werden. Bei nüchterner Betrachtung der Tabellen
ergibt sich ein eindeutiger Befund: Auch alle anderen Kategorien von Steuern
- die Umsatzsteuer, die Erbschaftsteuer, die Gewerbesteuer, die Kapitalertragsteuer,
die Mineralölsteuer usw. (wir sind ... so glücklich, 36 Arten
von Steuern unterscheiden zu dürfen) - laufen summa summarum
immer wieder auf die gleiche Gruppe zu. Das ist nicht erstaunlich, da
die kritischen 25 Millionen aufgrund ihrer größeren Konsum-
und Verkehrsintensität und ihrer fast exklusiven Betroffenheit von
vermögensbezogenen Abgaben auch bei diesen Kategorien naturgemäß
den Löwenanteil erbringen. Andererseits sind die Beiträge der
übrigen Zahler auf dem Gebiet der flächendeckend erhobenen Konsum-
und Mehrwertsteuern nicht ganz zu vernachlässigen. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 36-37).
Im Blick auf diese Gruppe
der Steueraktiven möchte man den zeitweilig außer Dienst gestellten
marxistischen Begriff vom »falschen Bewußtsein« reaktivieren
und die Frage stellen: Warum gibt es bei diesen vielen Zahlern bis heute kaum
eine Spur von kollektivem Bewußtsein? Warum ist das effektive Geberkollektiv
im heutigen Gemeinwesen bisher so gut wie ohne jede adäquate politische Artikulation
geblieben? Warum zögert diese Gruppe, sich ihr gemeinsames Merkmal bewußt
zu machen, und wieso läßt sie zu, daß sich ihr politischer Ausdruck
in dem bestehenden Parteiensystem zersplittert? Die Antwort lautet wohl: weil
die politische Semantik unserer Zeit - und folglich auch die herkömmliche
Parteienrhetorik - noch immer an die Sprachspiele des 19. und frühen 20.
Jahrhunderts gebunden ist, die vom Konflikt zwischen Liberalismus und Sozialismus
bestimmt waren. An den Fronten dieses semantischen Bürgerkriegs war von allem
möglichen die Rede - nur nicht von den Tatsachen der Gabe. Inzwischen ist
es an der Zeit, einer tieferen ethischen Evidenz Platz zu machen, die früher
oder später auch eine politische Wahrheit werden muß: daß »Ausbeutung«,
falls es sie in unseren Breiten noch gibt, weder durch Gegenausbeutung noch durch
Zwangscaritas überwunden wird, sondern durch die Kultur der Gabe. Deren Verwirklichung
wird bis auf weiteres durch das System der Zwangsbesteuerung verdeckt. Dieses
verhindert die Einsicht, in welchem Maß die Steuern selbst schon Gaben sind,
die darauf warten, endlich als solche begriffen zu werden. Die Neubeschreibung
der sozialen Tatsachen aus der Sicht der gebenden Seite ist ein notwendiger Schritt
zu der Verwandlung der Gesellschaft im ganzen. Es wäre absurd, dieses Ziel
durch die Gründung einer neuen Partei am rechten Rand des politischen Spektrums
verwirklichen zu wollen. Was fehlt, ist nicht eine neue konservative Partei, sondern
eine neue Leidenschaft für die Verdeutlichung der gebenden Tugenden inmitten
der vorhandenen Strukturen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 37).
Unterwegs zu einer Ethik des GebensMüssen wir nicht
eine gemeinsame äußere Bedrohung verspüren, ehe wir intern füreinander
einstehen? Brauchen wior nicht ein effektives Feindbild, bevor wir uns reell miteienander
solidarisieren? Wenn solche Unterstellungen zulässig sind, darf man auch
den gedanken wagen, man sei der Wahrheit am nächsten, wenn man die unvornehmen
Annahmen hinsichtlich der Beweggründe menschlichen Sozialverhaltens favorisiert
- Angst, Gier, Neid, Ressentiment und Lust an der Erniedrigung des Mitmenschen.
Dies zugegeben, ist es dann niicht politisch gerechtfertigt, diese real existiertende
»Gesellschaft von Teufeln«, Kantianisch klug und pädagogisch
realistisch, auch steuergesetzlich streng an die Kandare zu nehmen? (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 39-40).Das
alles gehört in einen Bezirk anthropologischer Spekulation, über deren
Legitimität oder Illegitimität nichts vorentschieden ist. Ich möchte
freilich umgehend erklären, warum ich diese allzupopuläre Anthropologie
der primären Gier, die weit verbreitete Dogmatik des Nichts-zu-geben-Habens
und die bequeme Überzeugung von der überwiegend niederträchtigen
Motiviertheit menschlichen Verhaltens (worin bürgerliche »Konservative«
[Anführungszeichen von mir; HB] und altgediente
Linke längst konvergieren) für von Grund auf falsch halte - und nicht
nur für falsch, sondern für ethisch prekär und sozialklimatisch
verheerend. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 41).Ich wollte nichts anderes sagen, als daß das
Gemeinwesen mittels einer weit ausgebauten und psychopolitisch klug gesteuerten
Geberkultur auf thymotischer und freiheitlicher Grundlage durchaus nicht hinter
das aktuelle Niveau zurückzufallen bräuchte, ja daß es möglicherweise
leistungsfähiger würde als das System, das wir zur Stunde kennen, vor
allem aber: daß das alternative Projekt - nach der Metamorphose in ein erweitertes,
motivational vertieftes und diskret personalisiertes Spendewesen - um ein Vielfaches
vitaler, humaner und wirksamer geriete, als ess in den heute dominierenden dumpfen
anonymen, ineffizienten, verschwenderischen und ausbeutungsoffenen Zwangsroutinen
jemals sein kann. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 41).
Nur ein System der Freiwilligkeit - selbst wenn dieses vorerst
nur einen kleinen Teil der öffentlichen Haushalte ausmachte und für
eine unbestimmt lange Übergangszeit mit zwangssgesicherten Abgaben
kombiniert bliebe - kann der Population im ganzen ihre moralische Lebendigkeit
wiedergeben. Allein die Wende zu einer Kultur der Gabe und der Geber-Anerkennung
kann sie aus ihrer Wohlstandsverdrossenheit befreien. Menschen, die sich
auf die Geberseite stellen, erwachen moralisch zum Leben. Das ist tatsächlich
so, und wer es nicht aus eigener Erfahrung weiß, hat als Moralsubjekt
noch gar nicht zu existieren begonnen - er ist im Vorleben steckengeblieben,
in dem man immer darauf wartet, daß die anderen etwas für uns
tun. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 41-42).
Jedoch:
Auch die moralisch Erwachsenen bekommen Lust, den Krempel hinzuwerfen, wenn sie
kontinuierlich zum Abgeben genÖtigt werden, indessen ihnen von der nehmenden
Seite nichts anderes entgegenkommt als die Aussicht auf noch längere Formulare,
noch tiefere Demütigungen, noch umfassendere Nachzahlungen. Dabei sind die
Befunde über den Zustand unseres Gemeinwesens seit längerem evident.
Jeder Besucher, der von außen kommt, nimmt die moralische Klimakatastrophe,
die unsere politische Kultur kennzeichnet, als das erste wahr, was einem bei der
Einreise in die Wohlstandzone entgegenschlägt: Den Ankommenden ist unbegreiflich,
warum die materiell reichste Gesellschaft der Geschichte, die heutige und hiesige,
zugleich die mürrischste, die unzufriedenste und mißtrauischste ist,
die es in Friedenszeiten jemals gab. Mit diesem Klimaproblem wollen sich seine
Verursacher nicht befassen. Von ihren eigenen moralischen Emissionen machen sie
sich keinen Begriff, und über deren Ursachen und Wirkungen weigern sie sich
nachzudenken. Der Grund der großen Verstimmung ist gleichwohl mit Händen
zu greifen: Er liegt in der systematischen Entwürdigung der Geber durch die
organisierten Nehmermächte. Sie geht auf die chronische Demütigung zurück,
durch welche man den Bürgern in der breiten Mitte, die mit ihren zu Abgaben
degradierten Gaben nahezu alles ermöglichen, was die soziale Welt zusammenhält,
chronisch unterstellt, sie müßten mit Gewalt gezwungen werden, zu tun,
was sie aus freien Stük ken niemals täten. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 42).Woher
nimmt diese pessimistische Soziologie ihre Gewißheiten? Seit jeher ist der
Pessimismus die Ausrede derer, die sich, wenn es um die lieben Mitmenschen geht,
ausschließlich auf den Zwang verlassen wollen - in diesem Punkt finden Augustinus,
Hobbes und Lenin, die Meisterdenker der Herrschaft durch den Schrecken, auf einer
gemeinsamen Linie zusammen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 42).In jedem authetischen Austausch
zwischen Menschen ist der Vorsprung des Gebens uneinholbar. Gerechtigkeit kann
nur jenseits der Symmetrie von Nehmen und Geben gedacht werden. Sie läßt
sich nie ohne Ungleichheit und Einseitigkeit vorstellen. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 45).
Das niedere Denken hat - nicht nur wegen der
unzureichenden Rezeption der Derridaschen Impulse, aber mittelbar auch
ihretwegen - die altlinken Milieus unseres Landes fest im Griff, und im
übrigen Europa steht es um sie in keiner Hinsicht besser. Das Zentrum
der Gebervergessenheit liegt heute paradoxerweise auf dem linken Flügel
- paradoxerweise, weil die klassische Linke ja ein besonderes Sensorium
für »Ausbeutung«, das heißt für unbedanktes
Geben besitzen müßte. Jedoch sucht sie das Unbedankte und Nicht-Anerkannte
immer noch dort, wo man es im 19. Jahrhundert entdeckt hatte - in der
Unterbezahlung der Lohnabhängigen sowie in der Geringschätzung
des Beitrags, den alle Arten von »anderen« zum Gelingen des
sozialen Lebens leisten. Die Vorsprecher dieser Tradition kennen bis heute
keine Scheu, die vielen Millionen direkt Steueraktiven in der breiten
Mitte der heutigen Gesellschaft, die zahlreichen mittelständischen
Unternehmer, die Selbständigen und die neuen Kreativen, die jetzt
zu den kräftigen Einzahlern in die Gemeinschaftskasse zählen,
unter ihre alte automatisierte Feind-Adresse zu fassen: alles bloß
gierige, hoffnungslose, räuberische Bourgeoisie. Von diesen Gruppen
und ihren Leistungen erwartet die altlinke Reaktion alles mögliche,
nur nichts, wodurch bewiesen würde, daß Menschen gerade in
reichen, ausdifferenzierten und individualisierten Gesellschaften füreinander
etwas übrig haben, selbst wenn sie ihre eigenen Interessen nie aus
dem Auge verlieren. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 46).
Bei einer solchen
dogmatisch negativen Grundhaltung ist es nur konsequent, wenn die sozialen Sozialpessimisten
ihre Hoffnungen ausschließlich auf den Ausbau der autoritären Fiskalität
setzen. Diese Liebhaber der Zwangsmacht - ein luzider Interpret nannte ihre Mission
die »autoritär-karitative Verteilung« (Wilhelm Röpke, Die
Lehre von der Wirtschaft, 1937, S. 249) - stehen, zusammen mit den anderen
Agenten der Staatsüberlastung, an der Quelle der bedrohlichsten Fehlentwicklung
im System der öffentlichen Finanzen unserer Zeit. Sie sind es, die das Krankheitsmuster
des Zwangsfiskalismus, die objektiv fahrlässige, in der Sache längst
als kriminell einzustufende Staatsverschuldung in allen Industrieländern,
bis in immer näher an den Absturz führende Zustände vorantreiben.
Sie haben es so weit gebracht, daß die Staatsbankrottvermeidung heute wie
eine politische Utopie erscheint. , Dennoch wird man nicht eines Tages behaupten
können, die wohlmeinenden Fiskalisten hätten nicht gewußt, was
sie tun. Die Maxime ihres HandeIns liegt offen zutage: Ihre eigene schöne
Moral ist ihnen die Demoralisierung der übrigen Gesellschaft wert.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 46-47).Mir
scheint, es ist an der Zeit, mit den misanthropischen Phantasiesystemen linksreaktionären
Ursprungs zu brechen - so nobel ihre Motive anfangs gewesen sein mögen. Wir
haben genug erlebt, um endlich ein neues Kapitel im Buch des Zusammenlebens von
Menschen in modernen Gemeinwesen aufzuschlagen. Einen in meinen Augen unentbehrlichen
Leitsatz, der ganz am Anfang des neuen Kapitels stehen muß, habe ich in
den nachfolgenden Interviews und Essays mehrmals wiederholt, ich betone ihn auch
hier: Der Mensch ist zwar ein vom Habenwollen geprägtes Geschöpf, und
es gibt keine Wirtschaftstheorie, die dies nicht unter ihre Axiome rechnet, doch
ist er immer auch als ein von Grund auf anteilnehmendes Wesen zu denken, dessen
affektives Repertoire durch Empathie, Stolz, Generosität und Gebenwollen
mitbestimmt ist. Man befindet sich ethisch, anthropologisch, soziologisch und
nicht zuletzt ökonomisch auf einem gefährlichen Irrweg, gefährlich,
weil selbstwahrmachenden Effekten unterworfen, wenn man den Menschen bloß
als ein Bündel von niederen Antrieben und Defiziten beschreibt: ein kümmerliches
Wesen, das überwiegend von Angst bewegt würde, wie bei Hobbes, von Haß
auf den Mitmenschen, wie bei Pascal, von Aneignungsgier, wie bei Proudhon und
Marx, von Neid und Eifersucht, wie bei Girard, von Mängelmitgiften überhaupt,
wie bei Gehlen. Die konservativ-realistischen dunklen Menschenbilder haben in
eng definierten Kontexten ihre Berechtigung. Sie können trotz problematischer
Primärwirkungen aufklärerische Nebenwirkungen freisetzen - weswegen
sie vom Hauptstrom modernen Denkens nicht zu trennen sind. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 47-48).In
einer kompletteren Sicht wird man die Menschen als Doppelwesen anerkennen, in
denen Mängel und Überschüsse miteinander ringen. Die Psyche agiert
permanent in einem Parallelogramm aus gierhaften und stolzhaften Regungen - griechisch
gesprochen im Kraftfeld von Eros und Thymos. Der Eros ist nehmend
gepolt und strebt nach Aneignung ohne Rücksicht auf Vornehmheit. Nicht ohne
Grund ist er heute der Gott der Massenkultur, in der sich alles um das entgrenzte
Begehren dreht. In seinem Einflußbereich wird die Elite zur Prominenz herabgesetzt,
und Prominenz erscheint als Lohn der Gier. Der Thymos hingegen bleibt, heute wie
immer, gebend ausgerichtet und folgt vornehmen bzw. prestigerationalen Motivationen.
Daher steht er der high culture und dem aristokratischen Verhaltenscodex vergangener
Gesellschaftsordnungen näher. Zahllose Beispiele aus bürgerlicher Zeit
bezeugen jedoch die Möglichkeit und Wirklichkeit von Generosität im
Umgang zwischen den gewöhnlichen Leuten. Sie demonstrieren die Gegenwart
der Großzügigkeit auch bei den Armen und Ärmsten. Ja, gerade jüngere
sozialpsychologische Studien zeigen, daß es die Ärmeren sind, die sich
die Chance zu großzügigem und solidarischem Verhalten am wenigsten
nehmen lassen wollen. Das Abenteuer der höheren Moral ist nur durch die zivilisatorische
Macht des Thymos begreiflich zu machen - vor allem, wenn die Ausweitung der Empathie
- Zone ihm zu Hilfe kommt. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die
gebende Seite, 2010, S. 48).Daher erübrigt es sich, über
die neuerdings wieder viel zitierten animal spirits in der Ökonomie
zu grübeln. Die regierenden Geister reduzieren sich auf die beiden Primärkräfte,
die erotisch-habenwollenden und die thymotisch-gebenwollenden. Beide kennen vielfältige
Deklinationen durch die Widerstände des Realen. Wer diese Grundkräfte
und ihre Brechungen studiert, gewinnt einen zuverlässigen Leitfaden durchs
Labyrinth der Leidenschaften, ökonomisch wie außerökonomisch.
Das hat die antike philosophische Psychologie gewußt, und das haben die
neuzeitlichen Psychologien des Unbewußten wie auch die gängigen Sozialpsychologien
vergessen, als sie sich auf eine verkürzte Mängelwesendogmatik und eine
verstümmelte Anthropologie des Wunsches und des Neides festlegten. (**).
Daher dürfte klar sein, warum man auf dem Weg zu einer politischen Ethik
für das 21. Jahrhundert keinen Schritt weiterkommt, solange man sich an die
Dogmen der Armseligkeitsanthropologie klammert - so begreiflich dieser Reflex
auch sein mag. Er verführt dazu, am Unhaltbaren Halt zu suchen. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 48-49). Vgl.
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 9-73 (**),
insbesondere S. 51f., wo ich die Prämissen einer Ökonomie der Generosität
im Anschluß an Nietzsche und Bataille andeute. Naturgemäß bewegen
sich meine Überlegungen auf einem Feld, das zuerst Marcel Mauss umrissen
hatte und auf dem Jacques Derrida in jüngerer Zeit neue Markierungen gesetzt
hat. Ich darf daran erinnern: Der generöse Sozialist Marcel Mauss ist der
Autor, der in meinem Sphären-Projekt (1998-2004
**)
das letzte Wort hat. Ich lasse am Ende des dritten Bandes einen Historiker auftreten,
der über die Sphären insgesamt den Verdacht äußert,
deren »Autor habe eigentlich eine Universalgeschichte der Großzügigkeit
schreiben wollen«. Das Sphären-Projekt, vermutet er, sei eine
lange Paraphrase über den kategorischen Imperativ nach Marcel Mauss: »Wir
sollen aus uns herausgehen und uns in Geschenken verwirklichen, in freiwilligen
wie in obligatorischen, denn darin liegt kein Risiko.« Die moralische Leitidee
von Mauss lautete, die Menschheit möge die Kunst des Teilens erlernen - von
der handelt sein klassisches Werk über die Gabe. Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären
III. Plurale Sphärologie, Schäume, 2004, S. 885.
Die
traditionelle Sozialdemokratie, als Partei verstanden - ich habe sie immer als
mein Verwandtschaftssystem angesehen (aber wer glaubt Ihnen
das? HB) -, liegt ideell am Boden, weil sie in sozialethischer Hinsicht
keinen neuen Gedanken zu fassen vermochte. Sie war allzulange unfähig, ihren
Wortschatz zu erneuern. Sie hat es nicht gelernt, das Wortfeld der Großzügigkeit
in ihre Sprache zu intergrieren und die Verben des Gebens zu konjugieren. Sie
ist in den zeitgenössischen psychischen und psychopolitischen Tatsachen nicht
mehr zu Hause. In der alten Unzufriedenheit bewegt sie sich weiterhin wie der
Fisch im Wasser, auf dem Boden der gebenden Tugenden humpelt sie - ich wünsche,
sie würde bald wieder aufrecht gehen lernen. Wenn sie sich künftig wieder
deutlicher als» Partei der kleinen Leute« (Sigmar Gabriel auf einem
SPD-Parteitag im September 2010) profilieren möchte, muß man um ihre
Fähigkeit zur Zeitgenossenschaft weiter fürchten. Sie weiß nicht
mehr genug von den in unserer Hemisphäre schon sehr zahlreichen Menschen,
die aus dem Ärgsten heraus sind und sich nach Projekten, Bündnissen
und Szenen umsehen, in denen sie ihre soziale Phantasie, ihr Geberbewußtsein,
ihre stolzen und schöpferischen Impulse verwirklichen können. Zu lange
hat sie auf eine »realistische« Soziologie und auf eine abgeschlagene,
vom gutsituierten Ressentiment diktierte Sozialphilosophie gehört. Und je
weiter man heute nach links schaut, desto reaktionärere Konzepte blicken
zurück. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 49-50). Und je weiter
man heute nach links schaut, desto reaktionärere Konzepte blicken zurück.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 50).Die
zweite neue soziale Frage (**)
ist nur zu beantwirten, wenn man die zweite Gbervergessenheit in der aktuellen
politischen Kultur überwindet - so wie die Arbeiterbewegung die Gbeervergessenheit
der älteren Unternehmerbourgeosie überwand. Niemand wird glauben, dies
werde sich von selbst und über Nacht vollziehen. Das kommende Jahrhundert
gehört einem Titanenkampf zwischen der Vernunft der Großzügigkeit
und den Berechnungen des niederen Denkens. Wenn die großzügie Ethik
ihn gewinnen kann, so deswegen, weil der wachsende Druck gegenseitiger Abhängigkeit
der globalen Spieler in ihre Richtung wirkt. Die Weltgesellschaft wird ein Patchwork
thymotischer Kommunen sein, oder sie wird nicht sein. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 50-51).
Das Gemeinwesenbewußtsein kann sich auf
breiter Front nur regenerieren, wenn es gelingt, ein von Grund auf verändertes
soziales Klima zu erzeugen, das es erlaubt, die effektiv gebenden Instanzen
unserer Tage ins Zentrum zu rücken. Das sind nicht mehr die guten
alten Proletarier, die im Verhältnis zu den Fabrikherren den kürzeren
zogen, solange sie nicht gelernt hatten, ihre Interessen in mächtigen
Assoziationen geltend zu machen. Es sind nicht die Arbeitslosen, die Marginalen
und Prekären von heute, die man bis auf weiteres überwiegend
auf der Seite der Empfänger von staatlichen Hilfen finden wird ....
Es sind jetzt die effektiven Geber auf allen Stufen des Gemeinwesens,
die in letzter Instanz das ganze Gewicht der geldvernetzten, wissensvernetzten
und empathievernetzten sozialen Konstrukte tragen, es sind die kleinen,
mittleren und großen Zahler direkter und indirekter Steuern, die
Spender, die Sponsoren, die Stifter, die freiwilligen Helfer, die Netzwerker,
die Ideengeber und sämtliche bekannten und unbekannten Kreativen
auf allen Spielfeldern der Wirksamkeit, die mit ihren Zahlungen, Impulsen
und Ideen das Gemeinwesen bereichern. Die Zeiten sollten vorüber
sein, in denen die alten und neuen Geber diffamiert werden - etwa durch
gut gemeinte, doch törichte und verrottete Formeln wie »Klassenkampf
von oben«. Für die reaktionär phantasierende Linke mögen
die Besserverdienenden noch immer ihren bevorzugten Feind darstellen;
sie mag ruhig weiter ihren Groll kultivieren und ihren Revolver ziehen,
wenn sie das Wort »Leistungsträger« nur hört. Realisten
und freiere Geister richten ihren Blick auf die riesenhafte Wirklichkeit
der gebenden Mitte, die in ihrem oberen Segment an die Wohlhabenden rührt.
Um so besser für alle, wenn viele von den Reichen sich dieser Mitte
anschließen, indem auch sie kraft ihrer Geberqualitäten den
Pool des Gemeinsamen verstärken. Im Sommer 2010 hat die von Bill
Gates und Warren Buffett angeregte historisch beispiellose Initiative
»The Giving Pledge«, nach welcher die Superreichen in aller
Welt die Hälfte ihres Vermögens für Gemeinwohlaufgaben
spenden sollen, weltweit für Aufsehen gesorgt (in Europa hingegen
eher hämisches Abwinken provoziert); sie hat die neuerdings zirkulierenden
Ideen zu einem »Philanthrokapitalismus« mit konkreten Beispielen
untermauert. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 51).
Die zahllosen
Akteure In diesem Bereich bilden das Ensemble der Gruppen, die heute einen Anspruch
auf Vertretung durch visionäres politisches Denken erheben dürfen -
so wie das Industrieproletariat des 19. Jahrhunderts ein gutes Recht auf intellektuelle
Vertretung durch die theoretische Avantgarde seiner Zeit besaß. .... Obwohl
alle Parteien darum wetteifern, für die Mitte zu sprechen, hat die reale
Mitte heute keine Vertretung. Sie ist kaum besser organisiert als ein Schwarm
von Blättern in einem von allen Seiten kommenden Wind. In Wahrheit bildet
sie genau jene Multitude, die kreative Vielheit, von der nostalgische Immer-noch-Kommunisten
wie Negri, Hardt, Zizek und einige andere ... begrifflich hilflos träumen.
Diese Autoren suchen die schöpferischen Vielen, unverbesserlich romantisch,
weiterhin an den vorgeblich subversiven unteren Rändern der Gesellschaft
- dem zähen Vorurteil folgend, wonach ein neues »revolutionäres
Subjekt« nur aus dem Widerspruch der Erniedrigten und Beleidigten zum »Bestehenden«
hervorgehen könne. Indem sie einer verbrauchten Radikalitätsfolklore
nachhängen, versäumen sie zu begreifen, daß das Objekt ihrer Suche
dort lebt, wo sie nie hinsehen: im erodierenden Zentrum der aktiven Populationen.
Mitte sein heißt heute: riskieren, zwischen zwei Undankbarkeiten zerrieben
zu werden. Doch selbst die romantischen Sucher nach der verlorenen »radikalen
Politik« und die Anwälte der »drastischen Umverteilung«
sollten früher oder später fähig sein, einzusehen, daß die
gebende Mitte heute den Kern des Prinzips des Gemeinsamen bildet. Was die mechanische
Ausbeutung der Produktiven durch die Hydra angeht, ist das Nötige gesagt.
Die Sonne scheint auch hier über nichts Neues, solange sie keine Alternative
hat. Die neue Idee ist ausgesprochen: Es ist an der Zeit, den sozialen Zusammenhang
von der Gabe her zu denken. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 52-53). -
DOKUMENTATION -
Die ganze Welt schien reif für die Sozialdemokratie(Gespräch;
zuerst in: Wirtschaftswoche, Wir Tropen-Krulls, 19.05.2005 )Die
besten aller Verlierer sein wollen - das war der Gründungsmythos der Bundesrepublik
Deutschland. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 58).Weil wir genug Zeit hatten, die Formel zu verinnerlichen,
daß wir als militärische und moralische Verlierer des Weltbürgerkrieges
dennoch seine ökonomischen Gewinner sein werden. Nichts anderes war das Betriebsgeheimnis
der alten Bundesrepublik: politische Demut, kombiniert mit triumphaler Wirtschaftsexpansion.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 58).Houellebecq
hat den empfindlichen Punkt getroffen: Das Signum der globalisierten Welt ist
die »Ausweitung der Kampfzone«. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 59).Nach
1945 haben wir von Nationalsozialismus auf Sozialnationalismus umgestellt, parteiübergreifend
(**|**|**|**).
Folglich konnte damals der einzige real existierende Beinahe-Sozialismus der Welt
auf deutschem Boden entstehen, in Form der guten alten Bundesrepublik Deutschland.
Die DDR lieferte hierzu die Parodie. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 60). (Anmerkung
überspringen!) War
der Nationalsozialismus primär ein Sozialismus und sekundär ein Nationalismus
oder primär ein Nationalismus und sekundär ein Sozialismus? Seinem Namen
nach ist die Antwort eindeutig: primär ein Sozialismus und sekundär
ein Nationalismus. Man könnte aber auch meinen, daß er primär
ein Nationalismus und sekundär ein Sozialismus war, oder?Wortzusammensetzungen
(Kompositionen) haben nur dann einen klaren Sinn, wenn auf einem der Morpheme
oder Morphemfolgen (Wörter) der Akzent liegt, wodurch sowohl die Wortart
als auch die Flexionsklasse bestimmt wird, und das ist im Deutschen immer das
letzte Morphem bzw. die letzte Morphemfolge der Komposition. So liegt z.B. in
der Komposition Nationalsozialismus der Akzent auf der Morphemfolge
(dem Wort) Sozialismus, das sowohl die Wortart als auch die Flexionsklasse
bestimmt. Der Philosoph und Historiker Ernst Nolte: Wortzusammensetzungen
haben nur dann einen klaren Sinn, wenn der Akzent wirklich auf dem Substantiv
liegt und wenn das hinzugefügte Adjektiv bloß eine zusätzliche,
wenngleich wesentliche Bestimmung zum Ausdruck bringt. Der Nationalsozialismus
war indessen nie primär ein Sozialismus, d.h. eine hauptsächlich von
den Motiven einer inneren Klassenauseinandersetzung bestimmte Bewegung, sondern
er war ein Sozialnationalismus des faschistischen Typs, und zwar in dessen radikalster
Erscheinungsform. (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg
1917-1945, 1987, S. 478-479 **).
Nolte meint offenbar, daß der Nationalsozialismus primär ein Sozialnationalismus
und nur sekundär ein Nationalsozialismus, aber eben doch beides war, während
Sloterdijk behauptet, daß der Sozialnationalismus der Nachfolger des Nationalsozialismus
sei (**).
Recht gebe ich Nolte insofern, als daß der Nationalsozialismus beides war
- nämlich primär ein Sozialnationalismus und sekundär ein Nationalsozialismus
-, jedoch war er beides auf so sehr ähnliche Weise, daß ein Unterschied
kaum zu erkennen ist. Der Nationalsozialismus war - linguistisch gesprochen -
ein Sozialismus nationalistischer Art, und er war - historisch gesprochen - ein
Nationalismus sozialistischer Art. Für Nolte war er die am meisten
links stehende der rechten Parteien ..., der fast ebenso viele linke wie rechte
Züge aufwies. (Ernst Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 362
**).
Und sein Hauptfeind wiederum, der in Rußland siegreiche Kommunismus,
... war die am meisten rechte der linken Parteien (ebd, S. 362 **).
Auch meine Analyse kam immer schon und kommt immer noch eindeutig zu diesem
Schluß. Der Bolschewismus (Sowjetismus, ob als Leninismus, Stalinismus u.s.w.
oder auch als Maoismus u.v.a.) war selbstverständlich kein Kommunismus,
sondern gab nur vor, einer zu werden, und war in Wirklichkeit ein russischer (in
China ein chinesischer u.s.w.), also nationaler Sozialismus, der schon wegen der
drohenden Unruhen einen Sozialismus (mit Aussicht auf das Paradies [den Kommunismus],
worauf seine christlich-orthodox und islamisch geprägten Einwohner zumindest
ansprechbar waren), zulassen mußte und nur über diesen Umweg sein eigentliches
Ziel - den sozialen Nationalismus - verfolgen konnte (man denke nur z.B. an die
Russifizierung des gesamten Sowjetreiches) - kurz: der Bolschewismus war primär
ein Nationalsozialismus und sekundär ein Sozialnationalismus. So war er das
eine mehr aus Gründen der Sachzwänge und das andere mehr
aus Gründen der Zielvorstellungen. Exakt umgekehrt war es bei Hitler und
seiner Bewegung - nicht umsonst verstand sich Hitler als Anti-Lenin
(**|**|**).
Der von Lenin begründete Bolschewismus war primär ein Nationalsozialismus
und sekundär ein Sozialnationalismus, und der von Hitler begündete Nationalsozialismus
war primär ein Sozialnationalismus und sekundär ein Nationalsozialismus.
So, als hätte Hitler zu Lenin gesagt: Ich zeige dir, wie das geht, was
du niemals kannst.Die spiegelverkehrten Seiten
von Nationalsozialismus und Bolschewismus machen aber trotzdem die sehr gravierenden
Unterschiede in den Entwicklungsstufen der sie betreffenden Länder deutlich:
hier Deutschland als die weltweit führende Nation in allem (ob in
Kultur-, Wissenschaft, Technik Wirtschaft oder sonstigem **)
und dort Rußland bzw. die Sowjetunion als frühmittelalterliches
Zwangsssystem und vorindustrieller Gefängnisstaat (keine Nation, sondern
ein Gefängnis), in dem außer Terror und Gewalt nichts funktionierte.Lenin
hat hat den Kapitalismus (den Liberalismus, das Recht auf Eigentum, die Markwirtschaft
u.s.w.) wegen der auch diesbezüglichen Schwäche Rußlands
(Weltrang 100 [geschätzt]) abgeschafft; Hitler hat den Kapitalismus
(den Liberalismus, das Recht auf Eigentum, die Markwirtschaft u.s.w.) wegen der
auch diesbezüglichen Stärke Deutschland (Weltrang 1 **)
nicht abgeschafft, ja auch gar nicht abschaffen wollen, weil er dadurch
ja noch mehr Macht gewinnen konnte.Deutschland
und Rußland unterscheiden sich in ihren Entwicklungen wie z.B. Tag
und Nacht. Kein Wunder, daß Lenin von Deutschland absolut begeistert
war und Hitler von Rußland absolut nicht. Lenin und später auch
Stalin wollten Rußland industrialisieren, auf Westniveau bringen
- mit Gewalt! Hitler wollte Deutschland vom Weltrang 1 (**)
zwar nicht auf einen niedrigeren Rang bringen, aber von diesem Rang aus gibt
es nur niedrigere Ränge, d.h. wenn man hier etwas ändern will, kann
es nur in eine Richtung gehen, und die Tatsache, daß andere Länder
Deutschland um seinen Weltrang 1 beneideten, gierig nach ihm waren, ihn um jeden
Preis haben wollten, und die andere Tatsache, daß Hitler seine Ideologie
auch mit Gewalt in die Praxis umgesetzt sehen wollte, führten dazu, daß
nach dem 2. Weltkrieg Deutschland seinen Weltrang 1 an die USA abgeben mußte.Um
auf Sloterdijks Aussage zurückzukommen (**):
War es wirklich so, wie Sloterdijk behauptet, daß nach dem Ende des
2. Weltkrieges in Deutschland von Nationalsozialismus auf Sozialnationalismus
umgestellt (**)
worden ist, wenn doch schon der Nationalsozialismus selbst primär ein Sozialnationalismus
und nur sekundär ein Nationalsozialismus war? Die zwei Hauptideologien im
Deutschland-der-Besatzer waren doch die der angelsächsisch dominierten
Ideologie (der Globalkapitalismus mit dem Ziel: Ein Weltmarkt in möglichst
wenigen Händen [zuletzt: in nur einer Hand {?}]) und die der sowjetsch dominierten
Ideologie (der Bolschewsismus, der, wie gesagt, primär ein Nationalsozialismus
und sekundär ein Sozialnationalismus war). Zwischen diesen beiden Hauptideologien
stand die alte Bundesrepublik von ihrem Anfang an, während die DDR
von ihrem Anfang an nur dem Bolschewismus der Sowjets zu gehorchen hatte. Wer
die alte Bundesrepublik noch bewußt erlebt hat, weiß, daß
die Bolschewisten hier immer mehr Einfluß bekamen: je reicher die BRD wurde,
desto einflußreicher wurde bei ihr die DDR, d.h. die Ideologie der Bolschewisten.
Sloterdijk hätte also eher so formulieren sollen: Nach dem Ende des 2.
Weltkrieges wurde in Deutschland von einem Nationalsozialismus, der primär
ein Sozialnationalismus und sekundär ein Nationalsozialismus war, einerseits
auf einen Bolschewismus, der primär ein Nationalsozialismus und sekundär
ein Sozialnationalismus war, und andererseits auf einen Globalkapitalismus, der
immer mehr durch diesen Bolschewismus gelähmt wurde, umgestellt. Und
nach dem Mauerfall (09.11.1989) hat sich diese Entwicklung - für viele wider
Erwarten - sogar noch enorm verstärkt, und zwar auch oder sogar besonders
zugunsten des Bolschewismus (so, als hätte er doch noch, nämlich
durch sein Ende, durch seine Öffnung gesiegt!),
weil ja die Ideolgie nicht verschwunden ist, sondern sich mehr denn je verbreitet
und (wieder) verbündet hat (wo Liberalismus ist, da ist auch Sozialismus
- und wenn sich diese beiden Todfeinde verbünden, ist ihr Kampf
erst recht nicht vorbei!).Hat sich 1990 wirklich
die DDR der BRD oder nicht viel eher die BRD der DDR angeschlossen? Hat seit
Ende des Kalten Krieges bei uns nicht der Bolschewismus mehr Sieg davongetragen
als der Globalkapitalismus? Und das in einer Zeit, in der kein einziger Arbeitnehmer
mehr ausgebeutet wird, aber sogar auch die Herrschenden so tun, als wäre
es noch so, damit sie die Mittelschicht immer mehr ausbeuten, ja fristgerecht
enteignen und dabei auch noch ihr schlechtes Gewissen beruhigen
können. Das, was noch zur Zeit der Ausbeutung der Arbeitnehmer durch die
privaten Unternehmer rechte und linke Ideologie und
Politik war, hat sich längst geändert, nämlich umgedreht in einer
Übergangszeit bis hin zu der Zeit der Ausbeutung der Mittelschicht durch
den staatlichen Unternehmer (das kleptokratische Monster Leviathan),
die immer noch andauert und hoffentlich bald zu Ende gehen wird. Deswegen ist
Sloterdijks Unterscheidung in Altlinke (**|**|**)
und Neulinke (heutige Linke = frühere Rechte) richtig
und zu ergänzen: Altrechte und Neurechte (heutige
Rechte = frühere Linke). Welche Partei vertritt denn bei uns heute wirklich
die Interessen der Mittelschicht? Eindeutige Antwort: Keine! Aber alle Herrschenden
bei uns reden so, als ob sie sie verträten, um anschließend wieder
die Steuern zu erhöhen und ihre eigenen Schulden allen Mittelschichtlern
und deren Nachwuchs in immer größer werdenden Ausmaßen zuzuschieben,
aufzubürden. Unsere Herrschenden lügen mehr als alle Herrschenden vor
ihnen. Heute sind Rechte verboten, weil sie, nämlich als Neurechte
(heutige Rechte = frühere Linke), genau das sind, was früher
die Linke, also die Altlinke, war: die Partei der Ausgebeuteteten.
Genau davor haben unsere Herrschenden am meisten Angst, und genau deshalb
- und nur deshalb - sind Rechte verboten! Die Ausgebeuteten kommen heute
aus der Mittelschicht! Und nur aus ihr! Meine Forderung lautet: Laßt
die Interessen der Mittelschicht zu! Laßt ihre Partei zu! Laßt ihre
Rechte zu! Laßt die Rechte zu! Eure Angst vor der Revolution
der gebenden Hand, dem Aufbruch
der Leistungsträger u.s.w. ist - wie immer - Angst vor dem Machtverlust
und sonst nichts! (HB).
Wenn Sie ein
so häßliches Wort wie »Eigennutz« verwenden, brauchen Sie
sich über das Ergebnis nicht zu wundern. Man müßte die Frage anders
formulieren: »Glauben Sie, daß Menschen eher unternehmerisch werden,
wenn sie die Früchte ihrer eigenen Arbeit genießen können?«
- und schon haben Sie 67 Prozent Bejahung, oder mehr. Das Wort »Eigennutz«
dürfte man erst ins Feld führen, wenn man zuvor über zwei Generationen
hin Nietzsches Grundeinsicht in den Schulen gelehrt hätte, daß der
Egoismus oft nur das moralische Pseudonym unserer besten Energien ist. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 60).Die
Konsumgesellschaft frißt ihre Kinder, wen wundert es? (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 61).
Ich erzähle gern die Geschichte des deutschen Wirtschaftsromans
Fortunatus, anonym 1509 zu Augsburg erschienen. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 62).
Es ist nicht ganz einfach,
vor unseren christlich-miserabilistischen Hintergrund ein positives Verhältnis
zum Reichtum zu entwickeln (das ist Nietzscheanismus
bzw. erinnert an Nietzsche, der hier allerdings statt »Reichtum«
»Übermensch« geschrieben hätte; vgl. auch: »Nietslot«;
HB).. Wir sprechen lieber Arme selig als Millionäre. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 63).Die
gute Nachrhicht heute lautet: Die Renaissance ist nicht vorüber. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 64).Der
Wille zu schützen ist zunächst ganz richtig. Man muß begreifen,
daß Immunität einen unverzichtbaren systemischen Wert darstellt. Lebende
Körper bilden Immunsysteme aus, um sich gegen Invasoren zur Wehr zu setzen.
Auch der Nationalstaat erbrachte mit seiner eifersüchtigen Aufmerksamkeit
auf Symbole und Grenzen sowie mit seinem Stolz auf die heimischen Klassiker die
typischen Aufgaben eines politischen Immunsystems. Seine wichtigste Leistung bestand
darin, daß er die internen Verlierer halbwegs zu integrieren wußte.
Größere politische Systeme können nur überleben, wenn ihnen
die Verliererintegration irgendwie gelingt. Das haben die Römer vorgemacht
mit ihrer Brot-und-Spiele-Politik, die nichts anderes war als eine erste Massenkultur,
mit dem Zweck, die Ruhigstellung des städtischen Pöbels zu bewerkstelligen.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 65).Wir
wissen, man kann nicht alle Menschen in neue Nomaden und Global Player verwandeln.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 66).Die
politische Heimat ist das Sekundäre und notfalls entbehrlich, das Wohnen
hingegen ist ein primärer anthropologischer Imperativ. .... Menschen sind
so gebaut, daß sie, um nicht verrückt zu werden, in guten Redundanzen
eingebettet sein müssen - das nennt man Gewohnheiten. Wir leben auf einem
Sockel von Gewohnheiten - nur von dem Basislager der Üblichkeiten und Verläßlickeiten
aus können wir in das Nicht-Redundante, Außergewöhnliche, Seltene
vorstoßen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 66).Weltoffenheit entsteht nur, wenn Menschen
so etwas wie ein operationsfähiges Zuhase haben, das heißt: wenn sie
richtig wohnen. .... Im Heideggerschen Sinne des leisen In-der-Welt-Seins-an-
einer-betsimmten-Stelle. Menschen sind darauf angewiesen, bei sich zu Hause zu
sein. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 66).
Kapitalismus ist ein janusköpfiger Prozeß(Gespräch;
zuerst in: Tages-Anzeiger, Die Welt als großhelvetisches
Experiment, 27.05.2005 )Geschichte,
im engeren Sinn, nenne ich die Periode, in der die einseitigen expansiven Operationen
der Europäer mit echten Erfolgsaussichten ausgestattet waren (vgl.
dagegen meine Definition für Geschichte
i.e.S. [**|**|**];
HB). Das ist die Ära zwischen der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus,
1492, und der Etablierung der ersten globalen Weltwirtschaftsordnung mit dem Währungsabkommen
von Bretton Woods, 1944. In ihr hat sich dank der europäischen Expansion
das erste echte Weltsystem durchgesetzt (**).
Wenn man Weltgeschichte als den Vollzug der Globalsisierung definiert, dann wird
auch der ... Satz plausibel: Geschichte ist die Erfolgsphase des Unilateralismus
(**). (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 68). Das
ist mir etwas zu westlich, zu okzidentalistisch gedacht. Sloterdijk
denkt hier zu wenig in kulturgeschichtlichen Dimensionen. Beispielsweise
hatten auch die Ägypter, die Chinesen und vor allem die Römer zum Zeitpunkt
ihrer größten Ausdehnung überhaupt keinen Zweifel daran, daß
sich ihre Macht bis zum Ende der Welt, wie sie es sich vorstellten
(das ist kulturgeschichtlich entscheidend!), ausgedehnt hatte, daß sie
also die Welt beherrschten. Daß es auch Gebiete gab, die von ihnen nicht
beherrscht wurden (der freie, große Teil Germaniens z.B.), war ihnen bewußt,
spielte aber bei ihrer Interpretation, die Welt zu beherrschen, keine
Rolle, weil eine solche Interpretation von der Macht, den Machtverhältnissen
ausgeht - und das ist auch heute nicht anders. Auch die früheren,
auch die nichteuropäischen Expandierer verstanden sich zu den entsprechenden
Zeiten als Welt-Eroberer und ihre daraus resultierenden Imperien als
ein echtes Weltssystem, obwohl ja, wie Sloterdijk richtig sagt, das
erste echte Weltssystem (echt heißt in diesem Zusammenhang
für mich: im Sinne naturwissenschaftlicher Überprüfbarkeit!) erst
ab 1492 von den Europäern durchgesetzt wurde und (hier setzt
mein zweiter Kritikpunkt an) immer noch wird, denn nach meiner Deutung ist dieser
Prozeß - trotz Bretton Woods und Atombombe - noch nicht beendet.
(HB).
Im Unterschied zu Leidenschaften und Kränkungen
machen Interessen fast immer klug. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand
und die gebende Seite, 2010, S. 70).Der
Handlungsstil der heute maßgebenden Akteure wird postheroisch (**),
das heißt, es kommen immer weniger Helden und Romantiker an die Macht. Der
Postunilateralismus (**)
zieht den Postheroismus (**)
nach sich. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 70). Die
Vorsilbe Post (post) muß nach meinem Dafürhalten
unbedingt durch die Vorsilbe Spät (spät) ersetzt
werden, also in Sloterdijks Beispielen: postheroisch durch spätheroisch,
Postunilateralismus durch Spätunilateralismus und
Postheroismus durch Spätheroismus (**);
denn, wie schon gesagt, weder das Heroische noch das Unilaterale ist zu Ende.
Geschichte ist auch nicht oder jedenfalls nicht nur die Erfolgsphase des
Unilateralismus, wie Sloterdijk meint (**).
Vgl. meine Definition für Geschichte als: Geschichte i.w.S., Geschichte,
Geschichte i.e.S. (**|**|**|**)
und außerdem meine vorherige Anmerkung (**).
Ich finde, daß Sloterdijk diesbezüglich denselben Denkfehler macht
wie alle Zeitgenossen einer Spätmoderne (**),
und weil er Abendländer ist, diesen Fehler auf spezifisch abendländische
(faustische!) Weise, also z.B. mit sehr viel Dynamik und darum auf besonders fatale
Weise begeht! Es mag sein, daß es dem Abendland - also dem sogenannten Westen
- gelingen wird, das erste echte Weltsystem, den Postheroismus,
den Postunilateralismus u.ä. spätmoderen Vorstellungen zu
verwirklichen. In allen anderen Kulturen aber führten derartrige Verwirklichungen
bisher stets - früher oder später - in ein Chaos, zu einem Machtwechsel
(oft sogar fremdkultureller Art), in ihre Vereisung, ihre Erstarrung, oft sogar
ihren endgültigen Untergang, ihr Ende, ihren Tod. Das annschaulichste Beispiel
hierfür liefert - wohl nicht zufällig - jenes von Europäern
gegründete Imperium: Rom! (HB).
Früher gab es
interantionale Beziehungen. Heute ist die Welt interkantonal strukturiert. Es
gibt keine Nationen mehr (noch gibt es sie, und es wird
sie, falls sie wirklich überwunden werden sollten, noch für gewisse
geben, ja sogar geben müssen; HB), es gibt nur noch Kantone (schön
wärs ja; HB), die das ersetzen, was man früher Nationen
nannte. Ein Teil der europäischen Malaise gründet darin, daß die
Menschen noch nicht verstanden haben, daß die Zukunft den Kantonen und nicht
den Nationen gehört. In Europa - wie auf der Welt insgesamt - versucht man,
ein großhelvetisches Experiment (**)
durchzuführen. Überall dort, wo das große Wohlfahrtstreibhaus
seine klimatischen Verhältnisse und Bedingungen durchgesetzt hat, tritt eine
Interkantonalverfassung ein (meistens
muß der Krieg nachhelfen, aber schon zu Zeiten von Roms Cäsaren sagte
man ja nicht mehr Krieg, sondern Befriedung; HB).
... Wir befinden uns in einer neuen Situation, in der die konföderierten
Staaten von Europa entstehen: Diese basieren auf der unsichtbaren Gleichung von
Nation und Kanton. .... Immer wenn eine solche konföderierte Struktur im
Auftauchen begriffen ist, bietet sich auch die Chance zu entdecken, daß
es eine entlastete, eine schwache Form von Anatomie geben kann. Auf der höheren
Ebene, an der Außengrenze des Verbundes, entstehen um so rigidere Abgrenzungen.
Der Kanton selber wird zu einer relativ entpolitisierten, in einem guten Sinne
öffentlichen Zone, in der ein hohes Maß an Zivilität eintritt:
Man muß hier nicht mehr über Fragen von Sein und Nichtsein diskutieren.
Dies kommt einer Entlastung von den höchsten Formen de Politischen gleich.
Im Binnenraum setzt sich - und das meine ich, wenn ich vom sozialen Treibhauseffekt
rede - ein ganz anderer Modus des Realitätsmanagements durch. Während
man an der Außenraumgrenze, wo die großen Schutz- und Immunsysteme
wirksam sind, über Grundsätzliches streitet, streitet man im Innern
nur noch über kulturelle Differenzen und Präferenzen, das heißt
über Fragen der Moral und des Geschmacks (wie tödlich
- langweilig! HB). (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die
gebende Seite, 2010, S. 71-72).Kapitalismus ist
ein janusköpfiger Prozeß, der nach außen hin Härte erzeugt
und nach innen hin verwöhnt mit künstlichen Tropen des Konsums. Man
stellt die Temperatur im Innern des großen Genußtreibhauses relativ
hoch ein, damit sich die Menschen in Orchideen oder sonstige Schling- und Verschlingpflanzen
verwandeln. Nach außen hingegen stellt man sie tief auf Ungemütlichkeit
ein. Dieses thermopolitische Netz ist die neue Biopolitik oder Anthropopolitik.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 72).Ich
stelle die unvermeidliche Kritik an der Globalisierung nicht in Frage, ich naturalisiere
sie bloß. Wie der Körper auf eine Infektion mit Fieber reagiert, so
reagieren bestimmte imaginäre Systeme auf Invasion mit Xenophobie (und
selbst dann, wenn Außerirdische kämen, wäre die Immunreaktion
auf sie nur »Xenophobie«, nicht wahr? HB). ... Da diese
Phase irgendwann überwunden sein wird (aha - also doch!
HB), kann man von einer Kinderkrankheit sprechen. Dieser Begriff zeigt
übrigens eine erbauliche Perspektive auf: Einerseits weist er auf eine unvermeidliche
Reaktion auf eine unvermeidliche Irritation hin, andererseits ordnet er sie in
eine Biographie ein. Wie unser Immunsystem zum Lernen durch die Umwelt verdammt
ist, so ist auch unser Denken zum Lernen durch das Reale verurteilt. Das ist Evolution
(aber das ist auch und zuerst einmal Schopenhauerianismus
und dann noch mehr Nietzscheanismus und zuletzt auch ein wenig Sloterdijkianismus;
vgl. auch: »Schonietslot«;
HB). Man kann nur vorwärts, nicht rückwärts leben.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 73).
Wir lebten in einer Friovolitätsepoche(Gespräch;
zuerst in: Neue Zürcher Zeitung,
29.11.2008 )Wenn
das so ist, würde ich dafür plädieren, daß sie (die
Wirtschaftsnobelpreisträger sind gemeint; HB) die Nobelpreise
zurückgeben, denn die wurden fast alle für Arbeiten vergeben, die auf
rationalistischen Idealisierungen und mathematischem Bluff beruhten. Man muß
endlich auch die Wirtschaftswissenschaften als Wissenschaften vom Irrationalen
rekonstruieren, als eine Theorie des leidenschaftsgetriebenen und zufälligen
Verhaltens. .... Der wirkliche Mensch, wie er außerhalb der theoretischen
Modelle erscheint, lebt durch die Leidenschaften, aus dem Zufall und dank der
Nachahmung. Für aufklärerisch gesinnte Menschen enthalten diese Diagnosen
starke Zumutungen. Wir wollen als vernünftig, organisiert, selbstdurchsichtig
und originell gelten und sind in Wahrheit unberechenbar, chaosanfällig, trüb
und repetitiv. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 75-76).Ungleichheiten haben dort am stärksten zugenommen,
wo sich der Staat am meisten einschüchtern ließ. Bei uns ging das so
weit, daß der Staat unter dem Druck der Ideologien seine Definition als
Hüter des Gemeinwohls vergessen hat. Er stellte sich ohnmächtig und
verlor seine effektive Definition aus dem Auge. Unseligerweise mißversteht
man den Sozialismus seit langem bloß als Parteiprogramm oder als soziale
Bewegung, in Wahrheit ist der moderne Staat per se funktional sozialistisch
oder besser semisozialistisch, so wie die moderne Gesellschaft per se kapitalistisch
funktioniert. Aus der Verkennung dieser Sachlage durch die politische Klasse erklärt
sich ein Gutteil der aktuellen Staatsschwäche. Man hielt den Sozialismus
für historisch widerlegt und begriff nicht, daß er keine Ideologie
ist, die kommen und gehen kann, sondern die funktionale Dimension der Staatlichkeit
selbst darstellt, mit der das Gemeinwesen steht und fällt. Ein Politiker
auf der Höhe wäre jemand, der den klaren Blick auf dieses Szenario besitzt.
Er würde verstehen, daß der erfolgreiche Staat eine semisozialistische
Agentur ist, die sich Jahr für Jahr die Hälfte des Bruttoinlandprodukts
holt, um ihre Ordnungs- und Umverteilungsaufgaben zu erfüllen. Das kann sie
nur im Bündnis mit einer belastbaren Ökonomie, die sich die regelmäßige
Schröpfung gefallen läßt. Bei einer Staatsquote
um fünfzig Prozent (**|**|**|**|**)
ist die öffentliche Hand nicht so jämmerlich, wie sie seit langem tut.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 76-77).Wir
werden sehen, ob die massiven Staatshilfen und Konjunkturprogramme, die überraschenderweise
über Nacht auf die Beine gestellt werden konnten, die gewünschten Wirkungen
zeitigen. Ein positiver Effekt ist schon jetzt evident: Der dumpfe Riese Politik
wacht auf. Inzwischen weiß man auch etwas besser als nach dem Schwarzen
Freitag, wie man mit Panikökonomie und Abschwung umgeht. Im Alltag muß
der Staat als Steuersouverän permanent den Balanceakt zwischen zwei gleich
gefährlichen Suggestionen meistern. Die eine sagt: Erhöhe die Steuern,
damit die Umverteilungsmasse wächst, die andere: Senke die Steuern, damit
die Konjunktur in Schwung kommt. Aber das ist die Essenz der Moderne selbst
das ständige Hin und Her zwischen Entlastung und Wiederbelastung. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 77).Das
englische Wort »Commonwealth« und das deutsche »Gemeinwohl«
drücken die moralische Intuition aus, daß es Formen von Wohlergehen
gibt, die man nur gemeinsam erlangt. Beide Wörter spielen auf eine immunsystemische
Bedeutung des Sozialen an, in ihnen klingt der Zusammenhang zwischen Gesundheit,
Wohlstand und Gemeinsamkeit mit. Leider sind in der Ära des eingeschüchterten
Staats und der blühenden individualistischen Illusion Politiker selten, die
hieran mit Autorität erinnern könnten. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 77).Man
redet heute viel zu viel von der Gier der Reichen. In meinem persönlichen
Umgang mit großen Wirtschaftsleuten beobachte ich, daß die simple
Psychologie des Bereicherungstriebs bei ihnen nicht greift. Von einem bestimmten
Vermögensvolumen an ändert sich die psychische Dynamik, der wohlhabende
Mensch wechselt von der Gier zum Stolz. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 78).Es gibt natürlich
auch einen Oligarchismus, der gierig und kläglich bleibt. Oder wie unsere
Großmütter sagten: »Ein reicher Mann ist ein armer Mann mit viel
Geld.« Für die Menschen, die ihren Wohlstand verinnerlicht haben, trifft
diese Bemerkung aber nicht mehr zu. Sie führen den Beweis, daß Menschen
ebenso Geber sein wollen wie Nehmer. Das Geben ist die Grundlage für die
Ökonomie der Geltung, und wer Prestigekapital bilden will, muß als
Geber auffällig werden. So entstehen philanthropische und kulturelle Engagements.
Warren Buffett und Bill Gates etwa haben sich in einem Akt kathartischer Selbststeigerung
von einem großen Teil ihres Vermögens getrennt. Das sind keine kleinbürgerlichen
Gier-Gesten, sondern neoaristokratische Stolz-Gesten (da
ist er wieder: der Nietzscheanismus; vgl. auch: »Nietslot«;
HB). Man muß sich davor hüten, die Vorgänge in der Welt
des Reichtums immer nur durch die kleinbürgerliche Brille zu sehen.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 78).
Unruhe im Kristallpalast (Gespräch;
zuerst in: Cicero,
01 / 2009 )
Verschwendung für alle
(Gespräch;
zuerst in: Psychologie heute,
Die Welt da draußen und unsere kommunikativen Utopien, 10 / 2009
)Das
Monadenkonzert kam einzig durch Gottes prästabilierte Harmonie zustande.
Hingegen müssen die aktuellen Monaden, die Mensvchen in ihren Wltinseln,
den Zusammenhang mit anderen in eigner Aktivität herstellen. Deswegen ja
auch dieser ungeheure Akzent auf dem Wort Kommunikation, das allen sensiblen Zitgenossen
längst zum Halse raushängt - gleichwohl beschreibt es eine ununterdrückbare
Realität. In den Prozessen der Inselbildung in den postmodernisierten
(**) Gesellschaften
haben die technischen Medien eine so herausragende Bedeutung gewonnen, weil sie
es den Menschen nämlich ersst ermöglichen, den Welteffekt hervorzurufen,
den ihre Insel erreichen muß. Die Menschen haben Welt in dem Maße,
wie sie von etwas relativ Vollständigem umgeben sind. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 87). Die
Vorsilbe Post (post) muß unbedingt durch die Vorsilbe
Spät (spät) ersetzt werden, also in Sloterdijks
Beispielen: postmodernisierten durch spätmodernisierten,
(**); denn es
gibt noch keine Postmoderne - was wir erleben, ist keine Postmoderne
(noch nicht!) , sondern eine Spätmoderne.
In meiner obigen Anmerkung (**)
habe ich mit Bezugnahme auf ander Beispiele hierauf bereits hingewiesen. Der Prozeß
der Moderne ist noch nicht zu Ende (noch nicht!). Sloterdijk denkt in dieser
Hinsischt zu voreilig!
Jede Insel ist ein Weltmodell.
Und ein Modell muß alles repräsentieren, was eine Welt zur Welt macht,
es bedarf also einer Art ontologischer Vollständigkeit. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 87).Wir
können sowieso nicht »da draußen« sein (nein?
HB). »Welt« ist kein gültiger Name für einen realen
Auefenthaltsort. Das ist zugleich mien Einwand gegenüner Martin Heidegger
unds einem Ausdruck »In-der-Welt-Sein«,
der eine gernzenlose ontologische Ekstase bezeichnet. Wirt müssen diese Wendung
abmildern zu dem Begriff »In-Spären-Sein«. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 87).Erst
die bewohnte Sphäre liefert die Zwischengröße zwischen der totalen
Ekstatse in der Welt und der totalen Enstatse im Kokon. Der völlig kokonisierte
Mensch wäre derjenige, der dem »In-der-Welt-Sein«
die vollkommenste Absage erteilt hätte und dem es gelungen wäre, sich
auch in der Erwachsenenposition wieder sozusagen zu fötalisieren. Er zwingt
die Mitwelt, Mutterschoßeigenschaften zu entwickeln. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 87-88).In
meinen Augen erzeugt der Kapitalismus so etwas wie eine Anthropdizee, das heißt,
er holt an den Menschen Wesenszüge hervor, die altent immer schon angelegt
sind. Zum Beispiel die antisoziale Tendenz. Durch die moderne Technologie wird
ein einzigartiges Experiment möglich, in dem beide Grundstrebungen, die soziale
wie die antisoziale, neu ausbalanciert werden. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 89).Eine der
erstaunlichsten leistungen unserer Zivilisation besteht offenkundig darin, daß
es uns gelingt, Sedimente von Jahrmillionen in hundert Jahren wegzupusten. Diese
Mobilmachungsleistung ist noch nicht geung gewürdigt worden. Sie ist das
Hintergrundfeuerwerk der gegenwärtigen Zivilisation .... (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 89).In
Wahrheit sind wir alle Feuerwerker. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand
und die gebende Seite, 2010, S. 90).Wonach wir künftig
suchen, ist eine technische Utopie für die Art der Postfossilität, ein
Energiesystem, das dem Feuerwerkscharakter des modernen Modus vivendi stabilisiert
und sogar noch potenziert - ohne die fatalen ökologischen Probleme heraufzubeschwören,
die mit der »Fossilkultur« (Anführungszeichen
von mir; HB) verbunden sind. Diese Utopie könnte nur dadurch verwirklicht
werden, daß die Menschheit, verterten durch ihre technische Avantgarde,
das Projekt der technologischen Moderne fortführt (**)
- welches ... lautet: Sieg über die Sonne. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 90). Hier
gibt Sloterdijk ja sogar zu - wenn auch nur indierkt (!) - , daß die Moderne
noch nicht zu Ende ist (vgl. seine spekulativen Aussagen über die sogenannte
Postmoderne [**]
und dazu meine Anmerkung [**]),
wie ich immer wieder betonen muß. Sloterdijk wäre mir wesentlich sympathischer,
wenn er - wenigstens vorübergehend - seine Spekulationen über die Postmoderne
(**) aufgeben würde!
Er kann offenbar die Post (als Vorsilbe!) nicht abwarten!
Beispielsweise
soll im Fusionsreaktor-Forschungszentrum ... ganz ersnthaft an der Sonnenmaschine
gearbeitet werden - auch wenn die Kernfusion letztlich physikalisch nicht ganz
dasselbe sein wird wie die Prozesse, die im Inneren der Sonne ablaufen. Der Sache
nach ist die Moderne eine heliotechnische Unternehmung. Und daran hängt die
utopische Valenz des 21. Jahrhunderts (**)
und des Modus vivendi einer voll dynamisierten, hyperkonsumistischen Menschheit.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 90).Ich
glaube, es würde zumindest einen entscheidenden Zug beibehalten vom alten
Lebensgefühl der fossilenergetischen Feuerwerkszeit: Nämlich dieses
Empfinden, daß die Energiebilanz des Einzellebens grenzenlos negativ sein
darf. Das heißt, es fließt dem Menschen aus einer nicht näher
identifizierten Quelle unerschöpflich Energie zu. Im übrigen würden
dann immer mehr Menschen lernen müssen, mit Überfluß umzugehen.
Und das ist psychologisch sehr, sehr schwierig. Denn in dem Augenblick, wo die
Menschen mehr haben als das Nötigste, fangen sie an, sich zu vergleichen
mit solchen, die noch mehr haben. Daraus entwickeln sie Mangelgefühle zweiter
Ordnung, die aus dem Vergleich stammen. Der Mangel erster Ordnung wird in der
Wohlstandskultur außer Kraft gesetzt - um so wütender wird er als Mangel
zweiter Ordnung wieder eingeklagt. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand
und die gebende Seite, 2010, S. 90-91).In dieser Situation
muß in der modernen Kultur die Funktion Weisheit eingreifen. Ich bin sicher,
so etwas wie ein AUttauche;; e1~er~~uen Weisheitskultur steht unmittelbar bevor.
Sie setzt genau an der kritischen Alternative an: Entweder begreifen die Menschen
ihre postmaterielle Chance, oder sie fallen auf das sozialpsychologische Teufelswerk
eines Mangels zweiter Ordnung herein, der gegenwärtig an allen Fronten der
Gesellschaft aufgeheizt wird. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 91).Auf der einen Seite ist die
materielle Sättigung erreicht, und das Mehrwollen wird nur noch durch eine
künstliche Mangelideologie weiter gesteigert. In dem Moment, wo viel vorhanden
ist, kann man natürlich unendlich viel nachfordern. Wer da nicht aufpaßt,
gerät in die Unzufriedenheitsfalle, die gerade in der Reichtumskultur so
weit aufklafft wie nie zuvor. Was man schon daran erkennt, wie in der reichen
Welt Armut definiert wird. Wer weniger als sechzig Prozent des sogenannten Durchschnittseinkommens
bezieht, gilt hieraIs arm. Ein vollkommener Wahnsinn, wenn man bedenkt, wie die
Verhältnisse in der Sphäre der absoluten Armut sich darstellen, also
in der Sphäre der Bedürfnisse erster Ordnung. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 91).Die
moderne Massenkultur exekutiert die Tendenz zur Veräußerlichung der
Innenwelten. Wir haben eine mediale Bilderwelt geschaffen, die dem einzelnen die
Traumarbeit, die mythologische Arbeit abnimmt, indem sie fertige Traumbilder für
die fehlenden eigenen Imaginationen anbietet. Wer sich dem entziehen will, kann
nur durch eine Art Roß-und-Reiter-Spiel in bezug auf sich selbst in die
dominierende Position kommen. Ein Leben führen heißt ja nichts anderes,
als daß sich die Person gegenüber ihrem vitalen Grund sozusagen in
den Sattel schwingt und das eigene Leben in Roß und Reiter aufspaltet. Der
Reiter wäre als derjenige, der das Leben führt, und das Leben selber
ist das geführte Roß. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand
und die gebende Seite, 2010, S. 91-92).Wir finden solche Metaphern
bereits bei Platon, wenn er in der Politeia sagt, daß eine innere Aristokratie
dem inneren Mob Zügel anlegen müsse, damit nicht das viele Schlechte
in uns an die Macht kommt, sondern das wenige Gute. Wir haben es mit einem über
2000 Jahre sich hinstreckenden Kontinuum an selbstbeherrschungsmetaphern zu tun,
die notwendigerweise dann auftreten, sobald beobachtet wird, daß es in höheren
Kulturen nicht mehr genügt, einfach so heranzuwachsen, sondern daß
regelrecht Erziehung stattfinden muß. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 92).Darum entsteht das
Reich der Pädagogen, in dem wir seit der Antike leben und das heute durch
die Psychologen ergänzt wird. Es beweist, daß die traditionelle Passung
zwischen den Kulturen und den Individuen verlorengegangen ist. Vor allem jene,
die 1. höhere Leistungen erbringen sollen, müssen einen jahrzehntelangen
Anpassungsvorgang durchlaufen, sie müssen so lange geschliffen werden, bis
sie imstande sind, die unwahrscheinlichen Leistungen zu erbringen, die die höheren
Kulturen von ihnen erwarten. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 92).Die Verwandlung der Welt in
ein Trainingslager ist seit 3000 Jahren im Gang - und die Ära der Globalisierung
wird dieses Merkmal noch verstärken. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 92).Es gibt beim Menschen
keine ursprüngliche Passivität. Wie alle Lebewesen ist der Mensch zunächst
und zumeist innerhalb seines Wirkungskreises ganz auf Tätigkeit ausgelegt.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 92).Jedes
Lebewesen ist der Höhepunkt einer Erfolgsgeschichte des Etwas-tun-Könnens,
einer Ausdehnungsgeschichte von Kompetenzen und Kräften und Ausgriffen. Aber
es gibt in den menschlichen Kulturen die bedauerlicherweise schon sehr alten politischen
und psychosozialen Mechanismen, die die Individuen unter ihre Möglichkeiten
drücken: jahrtausendelange Versklavungen, jahrtausendelange Niederlagen der
Intelligenz, an denen die sogenannten religiösen Überlieferungen ein
gut Teil der Mitschuld tragen. Denn in den religiösen Seelensteuerungssystemen
ist viel Entmutigungsmythologie enthalten, es wird in ihnen oft eine gefährliche
Unterwerfungs- und Schwächungsmythologie überliefert. Überdies
haben wir in den Hochkulturen gut 3000 Jahre Welt- und Lebensverneinung zu verbuchen.
Die Umstellung der Spiritualität auf Bejahungswerte ist erst vor wenigen
Jahrhunderten erfolgt. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 92-93).Die expansiven Weltreligionen, vor allem
Buddhismus und Christentum, aber auch der Hinduismus, waren zumeist ganz mißverständlich
Doktrinen der Welt- und Lebensverneinung. Erst vor relativ kurzer Zeit, in Europa
vielleicht beginnend mit der Renaissance und eigentlich erst mit der Aufklärung
im 18. Jahrhundert, wurden die Vorzeichen von Minus auf Plus umgestellt.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 93).Es
ist im wesentlichen der Übergang von einer Metaphysik des Mangels auf die
gelassene Feststellung der Fülle. Diese Kehre zu einer Weltauffassung im
Geist des Fülledenkens hat in jüngerer Zeit das Denken in planetarischem
Maßstab verändert. Aufgrund dieser Umstellung auf Lebensbejahung ist
Friedrich Nietzsche eine Jahrtausendfigur. Sein großes Anliegen ist es gewesen,
die Selbstlosigkeitsaskesen, die Welt- und Lebensverneinungsübungen zu ersetzen
durch Steigerungs- und Kreativitätsaskesen sowie durch Übungsformen
der Welt- und Lebenszugewandtheit. Er hatte begriffen: Die Welt ist kein Ort,
der von sich aus zur Magersucht einlädt. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 93).Man muß
lernen, den Reichtum als neue Grundgegebenheit zu erfassen. Doch eine Reichtumskultur
braucht Weisheit im Hinblick auf ihre internen Gefährdungen - sie muß
wissen, daß alles, was an Reichtum hinzugewonnen worden ist, im Nu durch
die Wettbewerbe der Unersättlichkeit entwertet werden kann. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 94).Die
Ermutigung erzeugt der einzelne nicht aus sich selber. Ermutigung ist in Allianzen
eingebettet. Ermutiger sind öffentliche Instanzen. Es sind die vorbildlichen
Menschen, und die muß man sich suchen. Das heißt, man muß den
Trainer finden, dem man vertraut. Der Trainer ist derjenige, der dir sagen darf:
Du mußt dein Leben ändern. So etwas lasse ich mir nur von demjenigen
sagen, von dem ich aufgrund einer intuitiven Vorwegnahme zu wissen glaube, daß
er das Recht hat, einen solchen Satz zu äußern. Wenn er mich in der
zweiten Person Singular anspricht, darf keine Anmaßung im Spiel sein. Das
kann nur der vorbildliche Mensch, und solche Menschen melden sich jetzt in der
Krise der Moderne, die ja auch eine Krise der Vorbilder ist, allmählich zurück.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010,
S. 94).Wir hatten jahrhundertelang fragwürdige Vorbilder.
Zum Beispiel das Vorbild des selbstzerstörerischen Künstlers, der vor
lauter Intensität seine Kerze an beiden Enden anzündet und sich in einer
Art fröhlicher Selbstzerstörung so früh wie möglich aus der
Welt schafft. Oder der faustische Unternehmer, der nie zur Ruhe kommt, und der
neureiche Spekulant, der das Wort »genug« nicht mehr gebrauchen kann.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 94).Die
nächstliegenden Modelle sind die Sportler. Das sind diejenigen, die aufgrund
eines persönlichen Ehrgeizes oder einer Kombination von Ehrgeiz und Talent
sich aus der Menge herausheben und unglaubliche Anstrengungen auf sich nehmen,
um die Grenze des Möglichen im physischen Bereich weiter hinauszurücken.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 94).Sie
erlangen nicht das Unmögliche, aber sie rücken die Grenzen des Unwahrscheinlichen
hinaus. Daneben haben wir auch in unserer Zeit die großen Helfer, das heißt
Menschen, die stark für andere sind. Sie sind in der modernen Welt bereits
allgegenwärtig. Im Grunde geht die ganze Bewegung in Richtung auf das, was
Nietzsche die schenkenden Tugenden genannt hat. Weg von der Seinsweise der Gier
- hin zur Seinsweise der Großzügigkeit. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 94).In der Tat,
weil das Individuum dann aus dem Schein und der Wirklichkeit der Mangelkultur
austritt und übergeht in eine Welt der Fülle, in der ein anderes Verhaltensgesetz
gilt. Sobald das Gesetz des Mangels außer Kraft gesetzt wird, wechselt der
einzelne von der Rolle des Nehmers ohne Grenzen über in die Position des
Gebers. Das bringt die entscheidende Wandlung. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 95).Meine Wahl
entspringt einer lebensgeschichtlich gewachsenen Präferenz. Man kann sich,
einen gewissen Freiheitsinstinkt vorausgesetzt, gegen die Opferreligion entscheiden,
die uns von allen Seiten nahegelegt wird, man kann gegen die Genugtuung an der
eigenen Depression Stellung nehmen. In unserer Kultur gibt es einen gut eingespielten
Teufelskreis, der bewirkt, daß es sich viele Menschen bequem machen in einer
Negativität, die sich selber immer wieder recht gibt. Wer diesen Zirkel erkannt
hat, kann ihn auchverlassen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 95).Es ist sicher leichter, ihn
zu erkennen, als ihn zu sprengen. Denn die Genugtuungen, die man beim Laufen in
diesem Zirkel erhält, sind groß. Man glaubt ja auch leicht, daß
man auf der Seite der moralisch Besseren steht, wenn man bei den tristen Menschen
ist und mit ihnen im Zirkel der Negativität lebt. Dies ist aber die schlimmste
Verführung, weil damit eine geistige Lustprämie auf Negativität
ausgesetzt wird, die man nicht so gerne aus der Hand gibt. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 95).Eine
globale Bescheidenheitsrevolution ... würde auf ein Ethos der menschheitsweiten
Selbstbeschränkung hinauslaufen .... Eine Utopie der Verschwendung für
alle läßt sich nur aufrechterhalten, wenn sich das geotechnische, weitgehend
unverstandene Projekt der Moderne, aus der Erde eine Sonne zu machen, verwirklicht
(**). (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 95).Ich
selber bin ein Mensch des Verschwenungszeitalters, und ich bin sentimentaler Regungen
zugänglich. Darum würde ich gerne Verschwendung für alle anbieten,
wohl wissend, daß das unmöglich ist. Jedoch: Einen politischen Aspekt
der Schwankung zwischen Bescheidenheit und Verschwendung sollten wir nicht übersehen:
Die Bescheidenheit für alle wäre nur auf dem Wege einer planetarischen
Ökodiktatur zu verwirklichen. Man sollte rechtzeitig dafür sorgen, daß
eine solche nicht notwendig wird. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand
und die gebende Seite, 2010, S. 96).
Kapitalismus und Kleptokratie(zuerst
in: F.A.Z, Die
Revolution der gebenden Hand, 10.06.2009 )
Tragische Sozialdemokratie(zuerst
in: Cicero,
Aufbruch der Leistungsträger, 11 / 2009 )Sozialdemokratie
ist zugleich eine Systemformel: Sie beschreibt genau die politisch ökonomische
Ordnung der Dinge, die den modernen Staat als Steuerstaat, als Infrastrukturstaat,
als Rechtsstaat und nicht zuletzt als Sozialstaat und Therapiestaat definiert.
Man hat es infolgedessen in der systemischen Wirklichkeit der westlichen Nationalstaaten
immer mit zwei Sozialdemokratien zu tun, die man sorgfältig auseinanderhalten
sollte, wenn man der Verwirrung entgehen will. Wir begegnen überall einer
phänomenalen und einer strukturellen, einer manifesten und einer latenten
Sozialdemokratie, einer, die als Partei auftritt, und einer, die in die Definitionen,
Funktionen und Prozeduren der modernen Staatlichkeit als solcher mehr oder weniger
irreversibel eingebaut ist. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 106).Die nominellen Sozialdemokraten
hingegen hatten von den Tagen Schröders an politischer Reife demonstrieren
wollen, indem sie tapfer selbstzerstörerisch die unumgänglich »notwendige«
Reformpolitik praktizierten, von welcher der listig träge Kanzler Kohl stets
die Finger gelassen hatte. Aus dieser Sicht war es Gerhard Schröder, der
aufgrund seiner nicht-lethargischen Qualitäten den Niedergang seiner Partei
einleitete. Man muß begreifen: Seit den Tagen Helmut Kohls herrscht im Bundestag
nicht bloß das Gesetz der Wählerverwirrung durch Programmvertauschung
zwischen links und rechts, auch der Begriff Opposition hat einen neuen Sinn angenommen:
Opposition ist längst nicht mehr das, was die Nichtregierungsparteien treiben.
Opposition wird wirksam nur noch durch die aktuelle Regierung ausgeübt, und
zwar dadurch, daß sie ihrer möglichen Nachfolgerin die Probleme hinterläßt,
an denen sie zuverlässig scheitert. In diesem Sinne brachte die Merkel- Wahl
von 2005 eine späte Genugtuung für den Vater aller Lähmungen. Auf
seinen Spuren zog seine natürliche Tochter ins Kanzleramt ein. Man lernt
daraus: Der lethargokratische Politiker wird mittelfristig belohnt, weil er und
seine Nachfolger die besten Chancen haben, die nächste Wahl zwar zu verlieren,
aber dafür die übernächste zu gewinnen. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 107).Ein
suspektes Sprichwort behauptet, es gäbe Leute, die den Wald vor lauter Bäumen
nicht sehen. Ob so etwas vorkommt, sei bis auf weiteres dahingestellt. Sicher
ist aber, daß es Leute gibt, die vor lauter Parteien den Staat nicht sehen.
Solche Leute sehen auch vor lauter Mangelalarm die unglaublichen Reichtümer
nicht, die heute wie gestern durch die öffentliche Hand gesammelt und zur
Umverteilung gebracht werden. Man redet von »leeren Kassen« und beschreibt
damit eine Staatlichkeit, die Jahr für Jahr rund 1000 Milliarden Euro vereinnahmt
und verteilt. Solche Staatsblindheit gilt besonders für die diskutierende
Klasse, an ihrer Spitze eine Anzahl von »kritischen« Soziologen, in
Frankfurt und anderswo, die seit Jahrzehnten die scheinplausible These verbreiten,
wir lebten unter der Knute des Neo-Liberalismus und des »ökonomischen
Horrors« .... (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 107-108).Die Wesensgleichheit zwischen objektiver
Sozialdemokratisierung und starker Steuerstaatlichkeit geht hierzulande bis in
die Bismarkzeit zurück, als der Eiserne Kanzler den Forderungen seiner Widersacher
im preußischen Parlament entgegenkam, um sie spöttisch zu neutralisieren.
Doch hat auch die Wilhelminische Ära das ihre zur Etablierung des modernen
Fiskalsystems beigetragen, als mit den Miquelschen Finanzreformen 1891/93
die progressive Einkommenssteuer in Preußen heimisch wurde. Seither läßt
sich mit gutem Grund die These vertreten, der moderne Steuerstaat sei per se
das Vollzugsmedium des objektiven Sozialdemokratismus. Zugespitzt gesagt: Der
durch sein Fiskalprinzip ermächtigte Umverteilungsstaat aktuellen Typs verkörpert
essenziell eine krypto-semi-sozialistische Struktur. Aus Hegelscher Sicht dürfte
man hinzufügen, dies könne und dürfe auch gar nicht anders sein,
sofern die Staatlichkeit als solche das Organon des Allgemeininteresses verkörpert.
Die sichtbare Hand des Allgemeinorgans, verkörpert durch den empirischen
Finanzminister, greift dem wirtschaftenden Bürgern mit einiger sittlicher
Berechtigung regelmäßig in die Tasche, um sie zu einer kräftigen
Abgabe ans Ganze zu bewegen. Für einen Philosophen deutsch-idealistischer
Provinzienz bereitet es nicht die geringste Schwierigkeit, das aktuelle System
starker Steuerstaatlichkeit als real existierenden Semisozialismus zu definieren.
Um aber den fiskalisch basierten Semisozialismus in seiner Eigenart zu begreifen,
muß man zwei Dinge stets in Betracht ziehen: zum einen, daß seine
Existenz von allen Akteuren strikt geleugnet wird - von den Linken, weil sie andernfalls
erklären müßten, mit welcher Begründung sie chronisch mehr
wollen, von den Rechten, weil sie sonst zugeben müßten, daß sie
im wesentlichen längst heimliche Linke sind. Zum anderen ist für den
realen Semisozialismus bezeichnend, daß er bisher ausschließlich in
nationalstaatlichen Formen praktizierbar war. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 108-109).Der
Grund hierfür ist leicht zu nennen: Schon das späte 19. Jahrhundert
hat die beiden großen Impuls-Ideen der neueren Zeit, den nationalen und
den sozialen Imperativ, zu mehr oder weniger effektiven, auch zum Teil fatalen,
Synthesen zusammengebaut. Infolgedessen ist der moderne Staat bis heute strukturell
nationalsozial oder sozialnational ausgerichtet. Als Nationalstaat formatiert
er die Solidargemeinschaft zu einem »Volk« mit gemeinsamen Schicksalen
und Symbolen, als Sozialstaat formatiert er das Volk zu einer operativen Solidargemeinschaft,
und zwar temporal als Zusammenhang der Generationen und funktional als Zusammenhang
von Volk und Eliten. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 109).Dieses System stößt seit einer
Weile an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. In seiner erhöhter Migration,
also intensiverer Zuwanderung, zunehmender Elitenabwanderung und demographischer
Ausdünnung macht der moderne Staat die irritierende Entdeckung, daß
es mit der sozialnationalen Synthese allein auf Dauer nicht mehr getan ist. Seiher
lautet die Aufgabe für den Staat, der sich und seine Populationen reproduzieren
will: Es gilt, eine Integrationsformel höherer Stufe zu finden, kraft welcher
eine zunehmend heterogene Staatsbevölkerung als Leistungsträgergemeinschaft
jenseits der divergierenden Herkunftskulturen bestimmt wird. Diese Formel kann
nur durch einen neuen »Gesellschaftsvertrag« zustande kommen, der
die Leistungsträger aller beteiligten Seiten in die Mitte der sozialen Synthesis
rückt. An dieser Problemfront engagieren sich seit einer Weile die weitsichtigeren
Teile der Bürgergesellschaft und der Staatlichkeit, denen eines völlig
klar ist: Das soziale Band von morgen wird durch die Investitionen und Integrationen
geknüpft, die hier und heute geschehen. Wird die vorausschauende Pflege dieses
Bandes vernachlässigt, bringt man durch Unterlassungen von heute den Zerfall
von morgen auf den Weg. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die
gebende Seite, 2010, S. 109-110).Wenn schon die zweite Große
Koalition (der BRD; HB) ... verhängnisvoll
war, weil sie den Volksparteien das Genick brach, so könnten die vielfältigen
Koalitionsfiguren, die sich für die Zukunft abzeichnen, erst recht fatale
Folgen zeitigen, weil sie die Italienisierung der Verhältnisse in unserem
Land vorantreiben. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 112).Die Antithese zwischen der Linken und
den Liberalen ist überaus bedeutungsvoll, um nicht zu sagen zukunftsentscheidend,
weil sich in ihr eine bisher systematisch verschleierte Polarisierung der Gesellschaft
in nie zuvor gesehener Klarheit artikuliert. .... Ihre Rolle im System bestimmt
sich vielmehr durch ihre Stellung im fiskalisch-monetären Prozeß und
im staatlich gesteuerten Umverteilungsgeschehen. Hier finden wir in dem einen
Lager die Steueraktiven, die den Fiskus mit ihren Abgaben bereichern, im anderen,
vorsichtig gesprochen, die Steuerneutralen (Steuerpassiven,
um im Bild de Polarisierung zu bleiben! HB) die überwiegend von
Transferleistungen profitieren. An der neuen politischen Front stoßen also,
um die Sache technischer auszudrücken, zwei finanzpolitische Großgruppen
aufeinander: hier die Transfermassengeber, die aufgrund von unumgehbaren Steuerpflichten
die Kassen füllen, dort die Transfermassennehmer, die aufgrund von sozialpolitisch
festgelegten Rechtsansprüchen die Kassen leeren. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 113-114).
Eingeweide des Zeitgeistes(Gespräch;
zuerst in: Der Spiegel,
26.10.2009 )Faktisch
haben die Habermasianer es fertiggebracht, den zwanglosen Zwang des besseren Arguments
durch den sehr zwangvollen Zwang der schnelleren Denunziation zu ersetzen - und
wo sich Denunzianten zu Wort melden, ist die Debatte vorbei, bevor sie begonnen
hat. Es werden hierzulande keine Argumente, sondern Anschuldigungen ausgetauscht.
Wie im Fall von Thilo Sarrazin - kaum war der erste Protest gegen seine gepfefferten
Thesen erschienen, haben alle Späteren ihre Empörung vom Vorempörer
abgeschrieben. Mich ärgert so etwas, es kommt mir vor wie organisierte Feigheit
vor der Wahrheit. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 116).Als Zeitdiagnostiker ist es mein Beruf,
in den Eingeweiden des Zeitgeistes zu lesen. Wie viele andere Zeitgenossen ziehe
ich seit einem Jahr Konsequenzen aus der Finanzkrise - und mache mir Gedanken
über die vielbeschworene Wiederkehr des Staates. Ich setze aber den Akzent
an einer Stelle, die viele lieber nicht beleuchten. Ich gehe der Frage nach, woher
überhaupt der plötzlich wieder stark scheinende Staat seine Stärke
nimmt - und die Antwort heißt: Sie beruht auf der Zwangsbesteuerung.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 116).Ich
glaube, daß wir den Steuerstaat und mit ihm das ganze öffentliche Zusammensein
nur dann reformieren können, wenn wir uns dem Staat gegenüber nicht
als Schuldner, sondern als Geber begreifen. Ich möchte dem gebenden Bürger
einen Rahmen für eine veränderte Selbstauffassung anbieten. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 116). |  1)
6,1% zahlen 70% der Steuern; 2)
24,4% zahlen 30% der Steuern; 3) 19,5%
sind von Steuern befreit; 4) 50% sind zu
100% Sozialfälle.1+
2) 30,5% Steueraktive; 3
+ 4) 69,5% Steuerneutrale,
- passive. |
 1)
70% der Steuern von 6,1% bezahlt; 2)
30% der Steuern von 24,4% bezahlt.1+
2) 100% der Steuern
von 30,5% bezahlt. |
|
Stolz
ist ... ein Weckruf, der darauf hinweist, daß die Gesellschaftsmaschine
bis auf weiteres nur von den Leistungen der Steueraktiven lebt, und die bilden
eine relative Minderheit. Leider hat man bei uns die Tatsachen und die Zahlen
in den Keller gesperrt. Rund 25 Millionen Menschen zahlen in Deutschland in nennenswertem
Umfang Steuern, sofern man von den Konsumsteuern absieht. Rein fiskalisch gesehen
sind diese 25 Millionen die Leistungsträger, die den Rest der 83-Millionen-Population
(offiziell! Illegale werden ja nicht mitgezählt!
HB) in Deutschland mittragen. (**).
Nicht nur Junge und Alte, was völlig in Ordnung ist, sondern auch ein wachsendes
Heer an Leistungsfernen, die, da sind sich die Experten einig, tendenziell nie
wieder in der Leistungszone auftauchen werden, weil sie durch das Transfersystem
in eine maligne Abhängigkeit gelockt werden. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 117).Bösartig
ist, was sich weder von selbst noch durch die laufende Behandlung bessert. Wir
haben auf Kosten der Steueraktiven ein einzigartiges Umverteilungssystem geschaffen,
das zudem enorme latent illegale Subventionen in bestimmte Industrien kanalisiert.
Man wartet seit längerem auf eine umfassende Darstellung der Verhältnisse,
doch bei solchen Themen schläft unsere Kritische Theorie den kritischen Schlaf
der Gerechten. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 117).Riefe ich zur Demontage des Sozialstaates auf, was
ich in keiner Weise tue, wäre die Empörung mancher Kritiker wohl erklärbar.
Doch mir ging es um etwas völlig anderes, nämlich den sozialpsychologischen
Umbau der Gesellschaft oder besser um eine psychopolitische Umstimmung. Ich möchte
darauf hinwirken, daß das Klima, in dem die Bürger a priori
als Schuldner des Staates gesehen werden, abgelöst wird durch ein alternatives
Klima, in dem sich alle darüber Rechenschaft ablegen, wer die gebenden Gruppen
sind. Außerdem würden sich in einer Geberkultur die Aktiven besser
um das kümmern, was aus ihren Spenden wird - sie würden ihre Gelder
zum Teil selber an bestimmte Gemeinwohladressen fließen lassen. Jetzt aber
herrscht nur dumpfe Hinnahme der Abgaben und ebenso dumpfer hintergründiger
Widerstand. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 117).Ich möchte eine Gesellschaft voranbringen, die
auf einem Wettbewerb stolzer Geber beruht und nicht auf der dumpfen Konfiskation
von geschuldeten Gütern. In den Stadtstaaten der Antike haben die Wohlhabenden
den großen Rest des Gemeinwesens ganz selbstverständlich mitgetragen,
aber nicht aufgrund von Schuldgefühlen, sondern weil das Wertsystem sie dazu
motivierte. Deren Aktivitäten wurden als ein »euergetisches System«
beschrieben, ein Netzwerk der »guten Werke«. Das klingt fürs
Erste nach Neuem Testament, aber der zugrundeliegende Gedanke reicht weiter zurück.
Im Übrigen ist dieser antike Gedanke in den USA, wo unter christlichem
Gewand viel mehr römische Motive wiederaufgenommen wurden, als Europäer
erkennen, zu neuem Leben erwacht, denn dort gibt es in spektakulären Formen,
was hier nur ganz diskret passiert: ein neues euergetisches Netzwerk und einen
lebhaften Großzügigkeitswettbewerb der Wohlhabenden, weit über
die Steuerpflichten hinaus. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 118).Technisch gesehen ist die
Krise vor allem durch die abstruse Niedrigzinspolitik der Zentralbanken ausgelöst
worden, wodurch das Anlagekapital dazu verführt wurde, sich auf alles zu
stürzen, was mehr als null bringt. Etwas anderes ist die Frage nach der psychopolitischen
Steuerung der Kultur im Ganzen, und auf diesem Feld trifft die Feststellung zu,
daß die Balance zwischen Gier und Stolz völlig verlorengegangen ist.
Würden wir den Akzent auf die stolzen, die gebenden Tugenden zurückverlagern,
würden wir mit der Zeit eine andere Zivilisation ansteuern. Die wäre
nicht notwendigerweise postkapitalistisch, aber sie würde das jetzige gierbetonende
System hinter sich lassen. Solange wir eine solche Umstimmung nicht erreichen,
bleibt nur der unvornehme Steuerzwang, um die Menschen an ihre vornehmeren Aufgaben
zu erinnern. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 119).Der Staat ... als nehmende und
umverteildende Hand letzter Instanz in unserem Weltentwurf unübertroffen.
Bei einer Staatsquote von über fünfzig Prozent (**|**|**|**|**)
kann es nicht ausbleiben, daß der Staat die größte Wirtschaftsmacht
darstellt. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 119).Kohl hat den Begriff der Opposition neu definiert:
Opposition beschreibt nicht mehr die Funktion der Nichtregierungsparteien. Opposition
wird wirksam nur von der aktuellen Regierung ausgeübt, indem sie ein Chaos
hinterläßt, an dem die Nachfolgeregierung mit Sicherheit scheitert.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 120).
Ich habe nie etwas anderes als die SPD wählen können
(aber wer glaubt Ihnen das? HB), aus familiären
und persönlichen Gründen, nicht unbedingt aus philosophischen. Aber
es gibt einen Trost: Die objektive Sozialdemokratisierung der Staatsstruktur sorgt
dafür, daß man die Sozialdemokratie als Partei während ihres Aufenthalts
im Oppositiossanatorium vorübergehend entbehren kann. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 120).
Ansichten der Finanzkrise
(Gespräch;
zuerst in: Profil,
Ein riesiges Wettbüro für das legale Glücksspiel, 21.12.2009)Am
15. September 2008 ... wurde ... der Offenbarungseid über die Verfehltheit
einer Niedrigzinspolitik geleistet, mit der fast ein Jahrzehnt lang die sogenannten
Selbstheilungskräfte des Marktes stimuliert werden sollten. Seither weiß
man noch besser, was man auch vorher wissen konnte: Die Weltwirtschaft ist ein
Ungleichgewichtssystem, das sich durch die chronische Flucht nach vorn stabilisiert
- von einer Instabilität zur nächsten. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 121).Ich würde
den Ausdruck »Kapitalismus« hier lieber in Anführungszeichen
setzen, weil die von Spekulation geprägten Krisenvorgänge, mit denen
wir es zu tun haben, das reale Kapitalsystem nicht authentisch abbilden. Nach
der Marxschen Definition findet Kapitalverwertung statt, indem Geld auf dem Umweg
über die Ware zu mehr Geld wird. Die klassische Kapitalismustheorie ist an
die Warenmetamorphose gebunden und daher produktionszentriert. In den vergangenen
Jahrzehnten ist aber eine gespenstische Sonderentwicklung im Bereich der Finanzwirtschaft
in Gang gekommen, bei welcher Geld auf dem Umweg über Geld zu mehr Geld werden
soll, ohne daß das Geld sich in Kapital verwandelt das heißt, ohne
daß es jemals die Sphäre der Produktion berührt. Das alles spielt
sich in hermetischen Clubs ab - dort sind Zentralbanken, Geschäftsbanken
und Fonds unter sich und betreiben ein riesiges Wettbüro für das legale
Glücksspiel, das vorgibt, die Wirtschaft selbst zu sein. Die Schlüsselrolle
in diesem System liegt naturgemäß bei den Zentralbanken, die mit ihrer
aberwitzigen Politik des billigen Geldes ihre Mitspieler zur Spekulation verführen.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 121-122).Die
Geschäftsbanken wurden von den Zentralbanken regelrecht genötigt, auf
die Droge Billiggeld einzusteigen. Vorgeblich hoffte man, mit leichtem Geld die
reale Wirtschaft anzukurbeln, in Wahrheit hat man den Spekulationsmarkt beflügelt.
Denn was ist Spekulation? Sie bedeutet, kostenloses Geld, das man nicht braucht,
aber so nebenher mitnimmt, in Geschäfte zu stecken, von denen man nichts
versteht, die man aber so nebenher betreibt - vorausgesetzt, sie bringen mehr
als ein Prozent, und jedes vernünftige Geschäft sollte doch mehr als
ein Prozent Rendite abwerfen. Sie und ich, wir haben keinen Zugang zum Schalter
einer Zentralbank, aber hätten wir ihn, würden wir nicht anders handeln
als die Spekulanten, weil niemand so dumm ist, sich die Geschenke der obersten
Geldmacher entgehen zu lassen. Deshalb hat es überhaupt keinen Sinn, hier
mit sozialpsychologischen Kategorien wie »Gier« zu operieren - es
geht um völlig rationales Verhalten. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 122).Eine Begleiterscheinung
der Lehman-Krise war darum die fast gerührte Rückwendung zu dem Phänomen
Realwirtschaft. Dieses Wort feierte im Herbst 2008 ein triumphales Comeback. Alle
hatten plötzlich ein warmes Timbre in der Stimme, wenn sie es aussprachen.
»Realwirtschaft«, das war mit einem Mal der utopische Horizont, das
war der gute alte ehrliche Kapitalismus, in dem Geld gegen wirkliche Waren und
wirkliche Dienstleistungen getauscht wird. In ihm schien die ökonomische
Welt noch in Ordnung zu sein, und von ihm sollte die Heilung für die spekulativen
Tumore kommen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 122).Man übersieht gern, daß auch die Realwirtschaft
von jeher durch und durch kreditabhängig ist. Fast alle Unternehmen machen
Schulden, und wer Schulden hat, steht unter Zinsstreß, weil er ständig
seine Schuldentilgungsfähigkeit und damit seine Profitabilität beweisen
muß. Wer das nicht schafft, wird vom Marktgeschehen ausradiert. Die aktuelle
Krise war ja vor allem ein großes wirtschaftspolitisches Seminar über
diesen Punkt, ein Seminar, das absurderweise überwiegend von denselben Leuten
geleitet wurde, die ihre Inkompetenz schon zuvor kräftig unter Beweis gestellt
hatten. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 122-123).Immerhin gibt es jetzt einen Konsens darüber,
daß ein zweites Desaster à la Lehman verhindert werden sollte.
Die meisten Experten, auch in den USA, tendieren heute zu der Meinung, daß
es ein Fehler war, die Bank fallenzulassen. Boshaftere Beobachter meinen, dies
sei eine kalkulierte Maßnahme im Weltwirtschaftskrieg der USA gegen den
Rest der Welt gewesen. Ich halte diese Theorie für eine Überinterpretation.
Es mag wohl einen Weltwirtschaftskrieg geben, aber ich sehe keinen Generalstab,
der fähig wäre, die Megapleite als Kriegswaffe einzusetzen. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 123).Noch
einmal: Das Kapitalsystem bedeutet zinsstreßgetriebenes Wirtschaften, das
immer mit einem Fuß in realen Produktionen und realen Dienstleistungen steht.
Das Finanzsystem hingegen wäre eher mit einem seriös camouflierten Kasino
zu vergleichen. »Kapitalismus« ist ohne Krisen nicht zu denken: Es
kommt unweigerlich immer wieder zu technischen Innovationen, bei denen alle mitmachen
müssen, um ihre Unternehmenswerte zu verteidigen. Gleichwohl ist von vornherein
klar, daß sich gut ein Viertel der innovierenden Wettbewerber nicht werden
halten können sie fallen den typischen Überkapazitätskrisen zum
Opfer. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 123).Die »Standardkrise« jedenfalls wird mit
Darwins Logik gut verständlich, insofern der Darwinismus ein elegantes Instrument
zur Deutung des Unterschieds zwischen längeren und kürzeren Erfolgsgeschichten
bei Arten, Unternehmen und Kulturen darstellt. Die weniger anpassungstüchtigen
unter den Wettbewerbern werden früher eliminiert. Diese robuste Krisentheorie
zählt seit dem 19. Jahrhundert zum Basiswissen der Ökonomie. Die Blasenproblematik
gehört aber einer ganz anderen Ordnung von Phänomenen an. Blasen können
nur dann anschwellen und platzen, wenn kurzfristig bestätigte, längerfristig
illusorisch überhöhte Gewinnerwartungen in der Welt sind, die an das
Temperament der Spielernaturen unter den Marktteilnehmern appellieren. Für
kurze katastrophische Pulsationen ist Darwins Logik nicht zuständig.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 123-124).In
den typischen Überproduktionskrisen verschwinden zwanzig bis dreißig
Prozent der Wettbewerber vom Markt, die übrigen teilen ihn bis zur nächsten
Innovationswelle unter sich auf. Solche Standardkrisen führen in der Regel
dazu, daß eine begrenzte Anzahl von Beschäftigten, wie man sagt, »freigesetzt«
wird, was unmittelbar die Sozialpolitik auf den Plan ruft: Wer Kapitalismus sagt,
sagt darum auch Sozialpolitik. Sobald man sich für eine Wirtschaftsform entschieden
hat, die nicht primär sozial denken kann, sondern zunächst nur Überlebenskämpfe
zur Werterhaltung von Produktivkapital forciert, sind Freisetzungseffekte unvermeidlich.
Im seIben Maß wird Sozialpolitik unverzichtbar. Folglich muß ein System
geschaffen werden, das die unvermeidlichen Verlierer der Krisen durch Sozialhilfen,
Arbeitslosengeld, Umschulungsprogramme reintegriert und sie durch Umleitung in
neue Beschäftigungsverhältnisse bindet. Man könnte sagen: Standardkatastrophen
werden durch Standardkompensationen abgefedert. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 124).Die alten
Kulturnationen Europas sind mit starken inneren Kohäsionskräften und
entsprechend massiven Solidaritätskonzepten ausgestattet; Gefährlich
ist die Situation viel eher in den Nationen der dritten, vierten oder fünften
Generation - in den improvisierten Nationen, die erst im Lauf des 20. Jahrhunderts
entstanden sind. Sie haben sich als Kulturnationen nicht gefestigt, sie kennen
daher keine nationweit wirksamen Solidaritätsgefühle und keine volksgemeinschaftlichen
Bindungen. Große Teile von ihnen bleiben weiterhin stammeskulturell gegliedert.
Man konnte das exemplarisch beim Zerfall von Jugoslawien beobachten, als gewisse
neotribalistische Reaktionsmuster aufbrachen. Dem Sozialismus ist nirgendwo eine
effektive Nationenbildung geglückt, weshalb nach dessen abruptem Ende massive
Desolidarisierungsphänomene zutage traten. Paradoxerweise gehörte Solidarität
nie zu den Stärken der sozialistischen Systeme, sie zeigt sich eher in alten,
bürgerlich geprägten Kulturnationen und in religiösen Gruppen.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010,
S. 124-125).Die westlichen Nationen älteren Typs verfügen
über relativ gut ausgebaute Institutionen der Umverteilung. In Deutschland
etwa gehen sie bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurück, als Bismarck
die vernünftig erscheinenden Forderungen der Sozialdemokratie zur herrschenden
Politik machte. In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts führte Preußen
die progressive Einkommensteuer ein, etwas, woran Bürgertum und Aristokratie
vorher nur mit Grauen zu denken vermocht hatten. Die Errungenschaften des Sozialstaats
sind tief in unser Moralgefühl eingesickert, und hinter diese Standards wird
man bei uns nicht so leicht zurückfallen. In den Ländern, in denen es
ohnehin nie effiziente Sozialsysteme gab, wird jedoch die neue soziale Frage unter
dem Druck der Verhältnisse im 21. Jahrhundert heftiger aufbrechen.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 125).Von
Naturgesetzlichkeit kann bei diesem Miteinander keine Rede sein. Historisch betrachtet,
hat sich die Zivilgesellschaft ausschließlich in einigen alteuropäischen
Nationen parallel zur Geld- und Kreditwirtschaft entwickelt. Der aktuelle asiatische
Gegenentwurf spricht für sich: Im fernöstlichen Machtbereich sind Formen
des autoritären Kapitalismus entwickelt worden, die im Lauf der Zeit durchaus
zur Herausforderung des westlichen way of life avancieren könnten. Japan
pflegt seit langem einen strukturierten Kapitalismus auf der Basis einer kaiserlich
- staatlichen Planwirtschaft. In Südkorea wurde eine Marktgesellschaft per
Entwicklungsdiktatur implantiert und erst nach Erreichen einer gewissen Wohlstandsschwelle
in eine formale Demokratie überführt. Und schließlich gibt es
den extrem bedeutsamen Modellfall Singapur, wo Lee Kuan Yew eine Art benigner
Wohlstandsdiktatur installierte. Nach seiner Analyse ruht die westliche Kultur
auf drei Grundpfeilern: der geldwirtschaftlich-kapitalistischen Produktionsweise,
dem wissenschaftlich-technologischen Zugriff auf die Natur und der demokratisch
- individualistischen Lebensform. Davon hat er die ersten beiden Elemente übernommen,
an die Stelle des dritten tritt in dem eher holistischen Wertgefüge Asiens
eine konfuzianische Sozialethik mit einem starken paternalistisch-autoritären
Element. Lee Kuan Yew nimmt für sich in Anspruch, vom Sessel des wohlmeinenden
Patriarchen aus die Entwicklung seines Landes besser steuern zu können, als
es auf Basis einer demokratischen Gremienkultur möglich wäre. Er weiß
mithin sehr genau, daß Demokrtaie und Kapitalismus voneinnander trennbare
Größen sind. Teng Xiaoping wußte das, als er die maoistische
Ara in China für beendet erklärte. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 125-126).Der große
Verlierer des letzten Jahrzehnts ist in der Tat der Freiheitsgedanke altliberalen
Stils. Immer mehr Menschen sind empfänglich für den Tausch von Freiheiten
gegen Annehmlichkeiten, so als könne es Wohlfahrt für sie auf Dauer
nur um den Preis von Gefügigkeit geben. Auf dieses Thema bin ich im abgelaufenen
Jahrzehnt häufig zurückgekommen: Ich war von Anfang an entsetzt über
die Leichtigkeit, mit der man hierzulande bereit war, sich einer von hysterischen
Spießern formulierten Security-Agenda zu unterwerfen. Der überwiegend
konservative Zeitgeist der Gegenwart manifestiert sich darin, daß die Bilanz
unserer Errungenschaften an Liberalität und Komfort keinen positiven Widerhall
im Inneren der Menschen mehr findet, vermutlich, weil der öffentliche Raum
zu sehr von Verunsicherungen imprägniert ist. Hier liegt ein zivilisatorisches
Paradoxon vor: Die in welthistorischer Perspektive bestversorgten und bestgesicherten
aller Populationen sind zugleich die ängstlichsten und die mürrischsten.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010,
S. 126).Und wir wollen niemandem zuhören, der es uns sagt.
Unsere mediale Konstruktion der Wirklichkeit bringt es mit sich, daß der
Konsum von Streßthemen ständig zunimmt. Die Aufmerksamkeit der Massen
ist ein Gut, das exklusiv von den großen Medien bewirtschaftet wird. Diese
Entwicklung geht letztlich auf den August 1914 zurück, als die militärische
Mobilmachung mit eine1 Unterwerfung der Bewußtseine unter die mediale Dauerhysterie
gekoppelt wurde. Das ergab die erste Totalsynchronisation der kollektiven Aufmerksamkeit.
Von diesem Standard des Informations~ gegen die eigene Bevölkerung sind wir
auch in Friedenszeiten nie wieder abgegangen. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 126-127).Schon
im 19. Jahrhundert wurde Unternehmensführung in vielen Fällen als Auftragstätigkeit
vergeben. Damit entstand ein Sondertypus des leitenden Angestellten, von dem man
bis heute - vor allem auch nach der Krise - gern vermutet, daß er für
Geld zu jeder Schandtat bereit sei. Ich bin nicht sicher, ob solche Unterstellungen
beschreibende Kraft haben. Manager sind, wie der Name sagt, Haushaltungsangestellte:
Sie haben eine Menage erfolgreich zu führen, was eine gewisse Loyalität
gegenüber dem ihnen anvertrauten Haus voraussetzt. Daß auch dem modernen
Manager das Hemd näher ist als der Rock, war immerhin öfter zu beobachten.
Mir scheint jedoch, daß die vielgenannte Gier der Manager eine volkspsychologische
Projektion ist, die für die Beschreibung des Seelenhaushalts solcher Menschen
nicht den geringsten Aussagewert hat. Es handelt sich bei ihnen ja zum großen
Teil um Spielernaturen mit einem Drang zur Macht und deren Insignien. Man könnte
sie eher als Abenteurer ansehen, die sich in die Unternehmenswelt verirrt haben.
Wären sie nur großformatige Knauserer, wie man oft unterstellt, dann
hätten sie es nie zu höheren Positionen gebracht. Herabsetzungsphantasien
sind bei der Krisenbewältigung nicht hilfreich, sie vergrößern
lediglich die Kluft zwischen der Denkweise der kleinen Leute und den Sorgen derer,
die ganz oben stehen. Es gehört zum mentalen Elend unserer Gesellschaft,
daß die Einfühlung in Verantwortungsträger in Zeiten der Krise
versagt. Man sollte sich vor pauschalen Skrupellosigkeitsvorwürfen in bezug
auf Manager oder Politiker hüten - die machen gelegentlich auch etwas richtig.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 127).
Von Zauberern und Philanthropen(Gespräch;
zuerst in: Süddeutsche Zeitung,
Zukunft, 03.01.2009 )»Krisis«
meint den Entscheidungskampf eines Organismus, aus dem dieser entweder als überlebender
Sieger oder als toter Verlierer hervorgeht. Nein. Nach dieser Definition ist der
Zustand, in dem wir uns befinden, keine Krise. Denn, und darüber sind sich
alle einig, das Resultat der jetzigen Krise kann nur die nächste Krise sein.
Das Beste, was wir erreichen können, ist eine Vertagung der Endkrise oder
besser: das Außerkraftsetzen der Endkrise durch die permanente Krise. Um
bei medizinischen Redeweisen zu bleiben: Wir beobachten an der heutigen Ökonomie
einen chronischen Defekt. Für den chronisch Multimorbiden - und um einen
solchen handelt es sich bei der modernen Gesellschaft - gibt es keine Krise mehr,
die zur Gesundung führen könnte. Was uns bleibt, sind Maßnahmen,
um lebensgefährliche Verschlechterungen des Befunds zu dämpfen oder
zu verschleiern. Wir bewegen uns im Bereich der palliativen Medizin, die Symptome
mildert, nicht heilt. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 128).Vor Jahren benutzte Altbundeskanzler Helmut
Schmidt im Blick auf das Verhältnis von Finanzwesen und produzierender Wirtschaft
eine schöne Metapher: Geldmengen müßten eine Art Kleid sein, das
einem Körper angemessen wird. Es sollte eher locker fallen, casual, wie man
sagt. Nun hat sich aus dieser lockeren Finanz-Couture eine aberwitzige, gespenstische
Umhüllung entwickelt, die haltlos im Raum flattert. Es gibt Schätzungen,
die selbst typischerweise unscharf sind: Die eine nimmt an, die Finanzwirtschaft
habe sich im Faktor eins zu zehn gegenüber der Realwirtschaft aufgebläht,
die andere sagt, im Faktor eins zu fünfzig. Zur Maßlosigkeit gehört,
daß man nicht einmal mehr sagen kann, in welchen Dimensionen man sie sich
vorstellen soll. Daraus folgt alles übrige, vor allem das Gefühl einer
bodenlosen Werte-Inflation, die sich nicht nur auf ökonomische Güter,
sondern auf sämtliche Wertskalen bezieht. Man weiß nicht mehr, was
groß und klein, was viel und was wenig ist. Von Stabilität wagt niemand
mehr zu sprechen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 128-129).Unser System schwingt durch die Extreme
von Enge- und Weite-Gefühlen, anders formuliert: von Ernst und Frivolität.
Die eigentlichen Opponenten sind also Enge-Zustände wie Sorge und Knappheitserleben,
die zur Selbstbeschränkung motivieren, und Weiteempfindungen bis hin zur
Illusion, fliegen zu können. .... Sie erlaubte den Adlerflug der Gier über
einer ungeheuren Landschaft von Gewinnen. Die maßgebliche Antithese ist
also das Hin und Her zwischen der angstgetönten Sorge und dem Rausch des
Leichtsinns. Letzterer tritt ein, wenn man den Widerstand des Realen nicht mehr
spürt. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 129).Wenn ...die us-amerikanische Zentralbank Geld für
null Zinsen emittiert, muß der vernünftige Global Player - beinahe
hätte ich gesagt: Global Prayer - zugreifen, weil er sich sonst einen Nachteil
gegenüber denen einhandelt, die das Geld mitnehmen. Die Finanzkrise hat ihren
Grund in technischen Fehlern der Zentralbanken. Hinter ihr steht der Streit zwischen
einem inflationistischen und einem anti-inflationistischen Kurs in der Geldpolitik.
Was wir heute erleben, ist eine Folge davon, daß sich die Inflationisten
beziehungsweise die Schuldenakrobaten auf ganzer Linie durchgesetzt haben.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 130).Wenn
die US-Notenbank zur Behebung der Defizite die Rotationspressen laufen und zusetzliche
Trillionen Dollar ausspucken läßt, kann man mit Händen greifen,
wie die Umwertung aller Werte funktioniert. Dabei sind keine perversen Cäsaren
am Werk, keine aufgeblasenen Übermenschen, die auf den Kopf stellen, was
die Menschheit bis gestern für gut und richtig hielt. Die heutige Wertekrise
ist das Werk grauer Bürokraten, die meinen, man könne dem Verlust an
Vertrauen mit der Emission von Scheingeld abhelfen. .... Sie sind nicht ohnmächtig,
sondern sie sind Somnambule, Schlafwandler, die nichts aufweckt. In ihrem Weitermachen
auf dem falschen Kurs liegen die Quellen aller Demoralisierung. Auch unsere Regierung
ersetzt, wie fast alle anderen, fehlendes Geld durch Scheingeld. Sie versucht,
mit einer energisch kaschierten Inflationsstrategie die Turbulenz zu meistern,
die bereits eine Inflationskrise ist. Fällt Ihnen auf, daß in der ganzen
Debatte nie das Wort Inflation fiel? (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 130).Der eigentliche Held
des Neoliberalismus ist Harry Potter. .... Weil die Potter-Romane die Fibel einer
Welt ohne Realitätsgrenze darstellen. Sie überredeten eine ganze Generation,
den Zauberer in sich zu entdecken. Das englische Wort »Potter« bedeutet
übrigens »Töpfer«, einen Handwerker, der Hohlkörper
verfertigt. Nur Verlierer glauben heute noch an die Arbeit, die übrigen betreiben
magische Töpferei und lassen ihre strukturierten Produkte fliegen. .... Gefäße
sind Medien, die aufnehmen, um abzugeben. Martin Heidegger hat in einer tiefsinnigen
Betrachtung über das Wesen der »Dinge« am Beispiel eines Kruges
ausgeführt, wie der seine Funktion nur in dem Maß erfüllt, als
er hohl ist, mithin gefüllt werden kann. Was er erhält, gibt er in der
Gebärde des Schenkens weiter. Der moderne Mensch hat den Schnabel des Kruges
verstopft. Da fließt nichts mehr hinaus, das geht auf Dauer nicht gut.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 130-131).Zaubern
ist eine Tätigkeit, die das Verhältnis von Ursache und Wirkung verdunkelt.
Die Verwirrung beginnt, wenn die Wirkung die Ursache maßlos übertrifft
- ökonomisch gesprochen, wenn der Profit in keinem Verhältnis mehr zur
Leistung steht. Genau diese Unverhältnismäßigkeit prägt die
Grundstimmung der vergangenen Jahrzehnte. Zahllose wollten aus einer Wirklichkeit
aussteigen, in der man für 40 Stunden Arbeit pro Woche kaum ein Durchschnittseinkommen
erreicht, während man durch ein paar Stunden Magie in die Runde der Superreichen
aufgenommen wird. Wir haben eine gefährliche Rechenart erfunden. An die Stelle
von prosaischen Gleichungen treten wunderbare Ungleichungen. Das ruiniert den
Sinn für Adäquation. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 131).Auch die Erziehung bricht
zusammen, sobald die Wenn-dann-Logik außer Kraft gesetzt wird. Sie können
Ihren Kindern heute nur noch schwer erklären, daß, wenn sie sich so
und so verhalten, dies oder jenes folgt. Es folgt ja nichts, wenn alles geht.
Unser Sinn für Wenn-dann-Sequenzen ist ebenso demoliert wie der für
Proportionen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 131).Die Reichen wollen sich selber retten, das ist evident.
Es könnte aber sein, daß sie hierzu nebenbei die übrige Welt retten
müssen. Die Frage ist also, ob eine philanthro-kapitalistische Makropolitik
im Zusammenspiel mit einem spendablen Welt-Steuerstaat global lebbare Verhältnisse
herbeiführen kann. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die
gebende Seite, 2010, S. 132).Die Erde wird die 50 Millionen
Jahre bis zum nächsten großen Meteoriteneinschlag auch ohne uns, unsere
Yachten und Luxusresorts bewältigen. Sie braucht uns nicht. Wir hingegen
brauchen sie, als Ressource und als Basis für unser Zivilisationstreibhaus.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 132).In
Treibhäusern gilt der Primat des Inneren. Genau das ist die Lage der technischen
Kultur vis-à-vis der Natur. Diese muß künftig als Teil der Zivilisation
internalisiert werden. Der Mensch der prähistorischen und historischen Zeiten
(**) konnte seine Dramen
vor dem Hintergrund einer Natur aufführen, von der man dachte, sie werde
nie reagieren. Man ließ seine Abfälle praktisch folgenlos irgendwo
liegen, die Hufeisen der römischen Kavallerie stecken ja heute noch im deutschen
Schlamm. Doch wir haben die glücklichen Jahrtausende humaner Expansion hinter
uns. Natur war das Außen, in dem unser Handeln scheinbar spurlos verschwand.
Diese Auffassung ist für immer dahin. Mit einem Mal funktionieren unsere
Externalisierungen nicht mehr, die Abfälle kehren zurück, der Wahnsinn
verpufft nicht mehr in der Weite der Ozeane. Nun zeigt sich, daß die Natur
ein Gedächtnis hat, sie sammelt Eindrücke, sie erinnert sich an uns.
Jetzt müssen wir uns mit einer bedrohlich erinnerungsfähigen, scheinbar
immer rachelüsterneren Natur zusammenraufen. In diesem Punkt werden die Reichen
einen hohen Beitrag zu leisten haben, sie hatten ja auch beim Externalisieren
ihrer Handlungsfolgen die Nase vorne. .... Bei einem ökologischen
Jüngsten Gericht (**)
wird den Reichen, die für die Umwelt etwas taten, im günstigsten Fall
verziehen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 132-133). Die
Geschichte ist aber (noch) nicht zu Ende (vgl. die vielen Beiträge
zum Thema Ende der Geschichte?),
wenn man meiner und nicht Sloterdijks Definition für Geschichte folgt! Vgl.
meine Definition für Geschichte als: Geschichte i.w.S., Geschichte, Geschichte
i.e.S. (**|**|**|**).
Sloterdijk sieht in der Geschichte lediglich Abfolgen von Tragödien oder
Epen und sagt: »Geschichte ist die Erfolgsphase des Unilateralismus«
(**|**)
- und das ist meiner Meinung nach zu westlich, zu okzidentalistisch
gedacht (**).
Die Definition nämlich, daß Geschichte nur in der Form der Tragödie
oder des Epos (**)
geschehe, scheint mir, obwohl sie eine sehr interessante und gut durchdachte ist,
etwas zu eng zu sein - oder gibt es auch sogar eine Geschichte im engsten Sinne?
Die Geschichte im weiteren Sinne ist eine anthropologische Geschichte und
kann deshalb so lange nicht zu Ende sein, wie der Mensch existiert; folglich
kann es bei der Frage, ob die Geschichte zu Ende sei oder nicht, nur um die Geschichte
im engeren Sinne gehen. (**).
Es ist aber noch keines der historischen Existenzialien (**|**)
völlig verschwunden, und deswegen kann auch die Geschichte im engeren
Sinne noch (noch!) nicht zu Ende sein. Menschen haben schon oft gedacht,
ja geglaubt (und zwar interessanterweise immer dann, wenn ihre Kultur
auf ihrem Zivilisationshöhepunkt war), die Geschichte sei zu Ende:
sie sind dann Opfer der (fremdkulturellen Mächte der) Geschichte geworden.
Vielleicht wird das ja zukünftig durch uns Abendländer anders werden
- denn wir faustischen Abendländer sind ja ohnehin ganz außergewöhnliche
Menschen - , aber die Betonung liegt eben auf dem Zeitwort werden,
weil gegenwärtig das Ende der Geschichte nicht in Sicht ist und also, wenn
überhaupt, erst in der Zukunft erreicht werden wird oder gar nicht.
Seit
3000 Jahren ist ein Imperativ in der Welt, der Menschen verbietet, weiterzumachen
wie bisher. Schon die brahmanischen Asketen Altindiens haben so empfunden. Mit
dem Aufblühen der Karmalehre entwickelte sich die Vorstellung vom Rad der
Wiedergeburten - mit der Folge, daß eine Kultur des metaphysischen Pessimismus
aufkam. Aus ihr ging unter anderem der Buddhismus hervor, der nicht umsonst gerade
zur Weltreligion der Gegenwart wird. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 133-134).
Worauf beruht der Steuerstaat?(Gespräch;
zuerst in: Süddeutsche Zeitung,
Wider die Verteufelung der Leistungsträger, 05.01.2010 )Ich
rege ein ernstes Gedankenexperiment an, denn die Umstellung von Zwang auf Freiwilligkeit
stellt in meinen Augen eine der wichtigsten psychopolitischen und moralischen
Fragen der Zukunft dar, in Steuerfragen wie in ökologischen Angelegenheiten.
Wir leben nicht mehr in absolutistischen Verhältnissen, und Bürger sollen
nicht wie Untertanen behandelt werden. Also muß man über das Phänomen
der Steuern, sprich der Gemeinwohlleistungen in Zivilgesellschaften, von Grund
auf neu nachdenken. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 135).Wenn Sie die Bestimmungen über das
Finanzwesen im deutschen Grundgesetz nachlesen, Artikel 104 ff. (**),
fällt auf, daß die Väter des Grundgesetzes nicht einmal den Versuch
einer demokratischen Neubegründung von Steuern und Abgaben ins Auge gefaßt
haben. In diesem Punkt dachten sie in einer staatsabsolutistischen Kontinuität,
die in aller Stille aus der Wilhelminischen Ära über die Weimarer Republik
und das Dritte Reich hinweg wirkte. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand
und die gebende Seite, 2010, S. 135).Das
Wort »brauchen« kann autoritär und obrigkeitlich ausgelegt werden;
Reste dieser absolutistischen Tradition sind bei uns virulenter, als man vermutet
hätte. Das staatliche »Brauchen« kann auch sozialistisch ausgelegt
werden: Wenn Eigentum Diebstahl ist, wie die altlinke Vulgata lehrt, dann dürfte
ein kräftiges Maß an Gegendiebstahl legitim sein - auch diese Tradition
ist bei uns noch auf diffuse Weise mächtig, nicht zuletzt beim akademischen
und sozialkritischen Kleinbürgertum, das seine antikapitalistischen Stimmungen
nie überprüft hat. Und schließlich könnte die Idee, daß
der Staat finanzielle Hilfe seitens der Bürger braucht, mit einer demokratischen
Neubegründung der zivilen Großzügigkeit zugunsten des Gemeinwesens
ausgelegt werden. Diese dritte zivile Interpretation der Steuern vermisse ich
auf der ganzen Linie. Wir haben uns in fiskalischen Dingen so sehr an die Zwangsabgabenkultur
angepaßt, die alt-autoritäre wie die semi-sozialistische, daß
über Alternativen nicht einmal mehr nachgedacht wird, weder bei den Begründungen
noch bei den Prozeduren. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die
gebende Seite, 2010, S. 135-136).Es geht mir um den Grundzug
unseres Steuersystems, daß es den Gaben- oder Spendencharakter der zivilen
Steuer absichtlich ausblendet und stattdessen nur ihren Zwangs-, Pflicht- und
Schuldcharakter hervorhebt. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 136).In der Schweiz stimmen die
Bürger seit langem über die Höhe ihrer Steuern ab, ohne daß
es je zu Hungersnöten gekommen ist. Ich gehe von der anthropologischen These
aus, daß Menschen mehr sind als nur gierige Nehmer. Sie müssen sowohl
als nehmende wie als gebende Wesen aufgefaßt werden. Wir machen uns einer
groben Vereinseitigung schuldig, wenn wir die gebende Dimension im menschlichen
Wirtschafts- und Sozialverhalten nicht gebührend herausstellen. Diese Ausblendung
des Gebens ist ein dumpfes Erbe des 19. Jahrhunderts. Damals kam die These in
Umlauf, das Bürgertum, genauer: die Klasse der »Working Rich«,
der unternehmerischen Wohlhabenden, sei nichts anderes als die Fortsetzung der
asozialen Feudal-Aristokratie mit den Mitteln des Unternehmenskapitals. Dies wurde
zu einer fixen Idee, deren Schädlichkeit sich im Laufe des 20. Jahrhunderts
erwiesen haben sollte. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 137).Ich habe in meinem Beitrag in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung, mit dem ich im Juni 2009 (**)
die Debatte in Gang gebracht habe, ein wenig leichthändig angedeutet, daß
gut die Hälfte der Einkommensteuern durch eine relativ kleine Minderheit
von Zahlern erbracht wird. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die
gebende Seite, 2010, S. 137). |  1)
6,1% zahlen 70% der Steuern; 2)
24,4% zahlen 30% der Steuern; 3) 19,5%
sind von Steuern befreit; 4) 50% sind zu
100% Sozialfälle.1+
2)
30,5% Steueraktive; 3
+ 4)
69,5% Steuerneutrale, - passive. |
 1)
70% der Steuern von 6,1% bezahlt; 2)
30% der Steuern von 24,4% bezahlt.1+
2) 100% der Steuern
von 30,5% bezahlt. |
|
Ein
Blick in die Statistik verrät: Die oberen zehn Prozent der Steuerbürger
leisten mehr als 50 Prozent der Einkommensteuern, und die oberen 20 Prozent über
70. Einige Kritiker haben sich über diesen Hinweis maßlos aufgeregt,
als hätte ich ihnen die Möglichkeit wegnehmen wollen, die Wohlhabenden
anzuklagen. Man hat gefolgert, ich würde mich nur für die Schicksale
der wenigen erwärmen und den Rest ignorieren. Das Mißverständnis
könnte nicht größer sein. Mit dem Begriff »Leistungsträger«
verbinde ich eine strikt technische Definition: Er steht für die 25 Millionen
Steueraktiven, die zur Stunde praktisch die Gesamtheit des Steueraufkommens in
der Bundesrepublik tragen - bei einer Gesamtpopulation von 82 Millionen Einwohnern.
(**|**).
.... Man verschweigt .. .gern, daß die an den Konsum gebundenen Steuern
nicht gleichmäßig von der gesamten Bevölkerung aufgebracht werden.
Der Löwenanteil entfällt auch hier wieder auf die Bezieher der höheren
und mittleren Einkommen, weil diese sich naturgemäß als die konsumintensiveren
Haushalte hervortun. Wenn es ans Zahlen geht, ob Einkommensteuer, Mehrwertsteuer,
Erbschaftsteuer, Kapitalertragsteuer, Mineralölsteuer und so weiter, läuft
es immer wieder auf dieselbe Gruppe hinaus. Im wesentlichen dreht sich alles um
die kritischen 25 Millionen, nicht zuletzt um deren oberes Drittel, ohne dessen
fiskalische Feuerkraft unser politisches Modell unhaltbar wäre. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 137-138).Was
Plünderungen angeht, denken bei uns viele noch immer ganz anders herum. Die
größeren Steueraktiven werden als Ausbeuter beargwöhnt, denen
nur Recht geschieht, wenn man sie stark belastet. Die Mißdeutung der Unternehmenskultur
ist bei uns ein alter Reflex. Man denunziert allzu gern diejenigen, die etwas
zu geben haben, indem man behauptet, sie hätten nur zu geben, weil sie vorher
gestohlen haben. Der Glaube an die Legitimität des Gegendiebstahls hat den
Bankrott des Sozialismus in den dumpferen Bewußtseinsschichten überlebt
- nicht zuletzt bei den intellektuell stehengebliebenen Soziologieprofessoren,
die sich in der aktuellen Debatte zu Wort gemeldet haben. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 138).Wen
wundert es, wenn im Klima der einseitigen Gier-Theorie viele Leute wirklich so
werden, wie die Kritiker behaupteten? In anderen Nationen läßt sich
die Gegenprobe machen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die
gebende Seite, 2010, S. 138).Meine Vorschläge haben ein
philosophisches Motiv, aber auch eine autobiographische Note. Ich bin prinzipiell
überzeugt, es tut den modernen Gesellschaften nicht gut, wenn man die gebende
Dimension in der menschlichen Psyche kleinredet. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 139).Ich komme
aus bescheidenen Verhältnissen und stelle doch seit einer Weile mit einer
Mischung aus Genugtuung und Verwunderung fest, daß ich in die Lage gekommen
bin, nicht nur Bagatellbeträge an die Finanzbehörden abzugeben. Ich
meine, es paßt zu einem Philosophen, wenn er versucht, Verwunderung theoretisch
zu bewältigen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 139).Ich kann seitens der Freien Demokraten
nicht den geringsten Ansatz einer positiven Resonanz auf meine Thesen beobachten.
Mit Genugtuung habe ich hingegen wahrgenommen, daß der neue Bundesfinanzminister
sich offenkundig für meine Überlegungen interessiert, andernfalls hätte
er mich nicht vor kurzem nach Berlin zu einer Aussprache eingeladen. .... Wir
kamen terminlich nicht zusammen. Aber ich hoffe, wir holen es nach. .... ch würde
ihm sinngemäß das Gleiche sagen wie Ihnen heute. Das soziale Band erodiert,
wenn man die Leistungen der Steueraktiven zu einem zwanghaften Automatismus herabdrückt
- als wären die Tüchtigen auf eine mysteriöse Weise strafbar. ....
Von der Weisheit der Steuersenkungspolitik bin ich nicht a priori überzeugt.
Wir können einzelne Steuern- oder Abgabenvorschläge, wie ich lieber
sagen würde - ohne weiteres höher ansetzen, wenn die kollektiven klimatischen
Voraussetzungen stimmen. Es käme darauf an, den Stärkeren zu erklären,
warum im Blick auf diese oder jene Aufgabe eine Zusatzanstrengung öffentlicher
Großzügigkeit plausibel ist. .... Man darf nicht länger mit der
Fiktion daherkommen, die Leistungsträger täten zu wenig und müßten
noch mehr Druck kriegen. Aber die Starken bei ihrer Stärke aufrufen, das
ist sinnvoll. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 139-140).Die meisten Parteipolitiker interessieren sich
sehr wenig für die Gedanken und Gefühle der Leute, deren Geld sie ausgeben.
In Steuerfragen denken sie nach wie vor rein etatistisch. Sie glauben an die wohlmeinende
Kleptokratie, kaum anders als die Fürsten und die fiskalische Obrigkeit von
einst. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 140).
Steuern sind das zentrale moralische Phänomen unserer Zivilisation(Gespräch;
zuerst in: Stern,
Der Philosoph und die elende Ideologie, 07.01.2010 )Ich
liebe die Zuspitzung. Das ist eine Nuance, auf die es mir ankommt. Zuspitzung
heißt, daß man die Dinge bis zur Kenntlichkeit vorantreibt. .... Ich
mache nie bunt schillernde Sätze, ich drücke mich nur gut aus. Gewisse
Leute, die sich schlechter ausdrücken, halten das vielleicht für schillernd.
Wenn ich Metaphern benutze, so nur, um deutlicher zu reden. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 141).Was
(von Peter Sloterdijk) bleiben sollte, ist die Idee
der Alllgemeinen Immunologie. In den letzten zehn Jahren kreist meine Arbeit um
die Denkfigur, daß Menschenleben immer in drei Immunsysteme eingebettet
sind: Das erste Immunsystem, das wir entwickelt haben, als wir vor 5° 000
Jahren Kulturwesen wurden, waren die Rituale, die uns halfen, mit den Toten und
den Göttern zu verhandeln. Aus dem Komplex der Riten hat sich bei den Römern
vor mehr als 2000 Jahren das Rechtssystem abgelöst und zu einem sozialen
Immunsystem eigener Art herausgebildet. Vor hundert Jahren schließlich hat
man entdeckt, daß jeder Organismus ein Abwehrsystem besitzt, das ihm die
Auseinandersetzung mit der mikrobischen Umwelt erlaubt. Seither stellt sich die
Aufgabe, die drei Immunsysteme zusammenzudenken. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 141).Ich sage
ja, Religionen als solche gibt es nicht, es gibt nur symbolische oder rituelle
Immunsysteme, die manchmal die Form von »Religion« annehmen. Diese
symbolischen Immunsysteme haben die Aufgabe, uns gegen ein Übermaß
an Weltoffenheit abzuschirmen. Der Mensch ist ein Wesen, das zuviel Voraussicht
hat. Das allgemeine Merkmal von Immunsystemen besteht ja darin, daß sie
Verletzungen antizipieren. Sie sind verkörperte Schadenserwartungen. Der
Körper weiß schon im voraus, daß ich mich verletzen werde, und
hat dafür den Blutgerinnungsmechanismus vorgesehen. Das Rechtssystem weiß
schon, daß mir Unrecht geschehen wird, und es hält Entschädigungen
und Bußen bereit, selbst wenn mir bis heute nichts passiert ist. Das Weisheitssystem
weiß schon, daß den Menschen der Tod bevorsteht, und es integriert
dieses Ereignis in eine rituelle Ordnung. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 141-142).Seit dem Ersten
Weltkrieg ist die Wirklichkeitsverfassung des Westens dadurch bestimmt, daß
Massenmedien über Nacht ganze Populationen in künstliche Aufregungen
versetzen. Das übt die moderne Gesellschaft täglich mit ihren Nachrichtenritualen.
Mit ihrer Hilfe wird ständig der Erregungspegel der Gesellschaft justiert.
wir erhalten täglich eine Liste von Erregungsvorschlägen und dürfen
entscheiden, worüber wir uns echauffieren wollen. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 142).Es
wäre besser, einzusehen, daß Steuern das zentrale moralische Phänomen
unserer Zivilisation sind. Das aktuelle Steuersystem liefert die effiziente sozialdemokratische
Alternative zum Prozedere der russischen Revolution: Lenin beschlagnahmte bekanntlich
alles Produktiveigentum ein für allemal und mußte dann zusehen, wie
die Wirtschaft zerfiel. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die
gebende Seite, 2010, S. 142-143). |  1)
6,1% zahlen 70% der Steuern; 2)
24,4% zahlen 30% der Steuern; 3) 19,5%
sind von Steuern befreit; 4) 50% sind zu
100% Sozialfälle.1+
2)
30,5% Steueraktive; 3
+ 4)
69,5% Steuerneutrale, - passive. |
 1)
70% der Steuern von 6,1% bezahlt; 2)
30% der Steuern von 24,4% bezahlt.1+
2) 100% der Steuern
von 30,5% bezahlt. |
|
Unser
System begnügt sich damit, jährlich etwa die Hälfte der nationalen
Wertschöpfung in die Umverteilung zu bringen - in der Bundesrepublik Deutschland
rund eine 1 Billion Euro. Die werden weit überwiegend von den 25 Millionen
Menschen aufgebracht, die in unserem Land die Kerngruppe der Steueraktiven darstellen
(sowie von den Zwangsversicherten) und die man im Sinn der Finanztheorie die Leistungsträger
nennt. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 143).Ich plädiere dafür, sich vorzustellen,
wie es wäre, wenn dieselben Beträge, die jetzt aufgrund der jährlichen
Zwangskonfiskation eingebracht werden, auf der Basis von freiwilligen Abgaben
zustande kämen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 143).Ich glaube, was ich sehe. Faktisch finanzieren
sie (die Leistungsträger; HB) ihn (den
Sozialstaat; HB). (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die
gebende Seite, 2010, S. 143).Angst ist keine akzeptable Grundlage
für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, die vorgibt, sie sei eine Demokratie.
Die reale Solidargemeinschaft mit fiskalischen Zwangsmaßnahmen herstellen
zu wollen ist ein blamabler Ansatz. Ich fand die von mir ausgelöste Debatte
in diesem Punkt sehr bezeichnend. Ich sage: Gebt freiwillig! Und es schallt zurück:
»Nein, wir wollen gezwungen werden. Wir wollen nicht wollen, wir wollen
müssen.« Das zeigt, die Leute glauben, sobald der staatliche Zwang
fehlt, lösen sich alle Bindungen über Nacht auf. Ich behaupte dagegen,
diese ganze asoziale Tendenz, diese elende Ideologie die bei sich und den anderen
nur die Gier kennt, diese billige Greedy-Pig-Psychologie in den Köpfen
von Soziologen und Politologen, das alles beweist nur eines, nämlich, daß
wir im Lauf des 20. Jahrhunderts einem falschen Menschenbild aufgesessen sind.
Man glaubt, der Mensch ist das Tier, das soviel wie möglich nimmt. Man kommt
gar nicht mehr auf den Gedanken, die Menschen in ihren Geberqualitäten ernst
zu nehmen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 143).Ob Sie es glauben oder nicht, bei mir läuft
das anders. Erstens habe ich einen Steuerberater, der früher selber Finanzbeamter
war. Ich habe ihn gelegentlich im Verdacht, dat5 er immer noch tür die andere
Seite arbeitet - und im Grunde finde ich das ganz gut. Zweitens bin ich manchmal
stolz darauf, daß ich größere Beträge an das Finanzamt abführe.
Kurzum, ich behaupte, die vorherrschende Greedy-Pig-Psychologie führt
in die Irre - übrigens ein Fachausdruck, der besagt: Solange Menschen mit
den gröberen Antriebssystemen arbeiten, funktionieren sie noch überwiegend
giergesteuert. Sobald sie aus dem Gröbsten heraus sind, stellen sie auf prestigegesteuertes
Verhalten um. Und in dem Augenblick, wo sich eine prestigebewegte Gesellschaft
ausbildet, wie etwa in den USA, können Sie sofort beobachten, wie ein Wettbewerb
auf der Seite des Gebens einsetzt. Im Jahr 2008 haben einzelne Spender und philanthropische Gesellschaften in Amerika über 300 Milliarden Dollar aufgebracht, fast soviel wie
der Berliner Bundeshaushalt. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 143-144).Es geht um die Abschaffung
einer Beengung, die den Gebern nicht gerecht wird. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 144).Ich denke
aus allen Situationen, am besten vom Rand her, und Rand gibt es oben wie unten.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 144).Es
geht nicht um die Großmut von Aristokraten, sondern um die Tatsache, daß
es in der bürgerlichen Gesellschaft vorwiegend die gebenden Menschen sind,
die die Dinge voranbringen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 141).Auch das Geld, das mir rechtmäßig
zusteht, ist letztlich ein Geschenk der Solidargemeinschaft an mich. Nein. Eine
Zwangsabgabe. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 144).Es muß ein Zwang sein, damit es etwas taugt.
Was würden Sie sagen, wenn der staatlich gezwungene Geber seine Gabe mit
dem Gefühl aus der Hand gibt, dies sei sein freiwilliger Beitrag zum Gemeinwohl
- zufällig in gleicher Höhe wie der letzte Steuerbescheid? Wo bleibt
dann der beleidigte Nehmer? Sie fühlen sich offenbar gerne in die Lage der
Erniedrigten und Beleidigten ein? (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand
und die gebende Seite, 2010, S. 145).Sie verwechseln Philosophie
mit Diakonie. Auch ich kann die Perspektive der Erniedrigten und Beleidigten einnehmen,
und ich denke selbstverständlich auch in ihrem Interesse, aber ich vergesse
dabei nicht die Perspektive derer, die mit ihren Gaben, die wir gedankenlos Steuern
nennen, das ganze System erst möglich machen. Ich kann nichts dafür:
Die Philosophie steht für den ganzen Zusammenhang. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 145).
Dankesschreiben
von Finanzamt(Gespräch;
zuerst in: Enorm,
Wirtschaft für den Menschen, 3 / 2010 )Reichtum
macht verlegen, weil er moralisch nicht ohne weiteres einzuordnen ist. Mit dieser
Erfahrung leben bürgerliche Menschen seit dem 17. Jahrhundert, Menschen also,
die zu eigenen Lebzeiten zu Reichtümern gekommen waren und mit der Tatsache
ihres Wohlstands noch nicht umzugehen wußten. Adelige älterer Zeit
wurden in ihre Daunen hineingeboren und kannten nichts anderes als Luxus und Privilegien
- sie gerieten ab dem 18. Jahrhundert eher in die Verlegenheit, ihrem verlorenen
Reichtum nachzutrauern, indessen die reichgewordenen Bürger Stellung nehmen
mußten zu der Tatsache, daß sie jetzt zu den happy few gehörten,
obwohl sie mental oft noch nicht reif dafür waren. Die Philanthropie war
eine der Möglichkeiten, wie bürgerliche Menschen das Reichwerden psychisch
und metaphysisch verarbeiten konnten. ... Sie ist zunächst vor allem eine
Kompensation, aber zugleich der Versuch, in die Rolle des guten Reichen hineinzuwachsen.
Philanthropie war das moralische Spalier, an dem die Seele des reich gewordenen
Menschen sich emporranken wollte. Der neue gute Reiche ist unweigerlich Philanthrop,
der vor seiner Mitwelt darstellen will, daß er moralisch auf Höhe seines
Wohlstandes steht. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 147).Zuerst durch einen Trick, den die calvinistische
Prädestinationslehre bereitgestellt hatte: Im Calvinismus wurde der irdische
Geschäftserfolg als Hinweis darauf interpretiert, daß der eigene Name
im Jenseits auf der Liste der Erwählten aufgeführt ist - man gehört
also nicht zur massa perditionis, wie es beim Kirchenvater Augustinus so
schön heißt, sprich zur Verlustmasse, zum weggeworfenen »Klumpen«
- der christliche Gott ist bekanntlich Töpfer, als solcher hat er das Vorrecht,
die mißratenen Stücke wegzuwerfen. Der theologische Trick Calvins drückte
einen so wirkungsvollen wie bösartigen Aberglauben aus: Als ob Gott es nötig
haben könnte, seine Ratschlüsse in puncto Erwählung durch Winke
mit dem materialistischen Zaunpfahl kundzutun! Doch solange der Reichtum, vor
allem in der calvinistischen Welt, unter einer starken metaphysischen Optik interpretiert
wurde, war es unumgänglich, ihn als Zeichen von drüben zu lesen und
ihn hierdurch zu christianisieren. Damit waren die Weichen gestellt zu einer Ethik
des Weitergebens. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 147).Vergessen wir nicht: Wenn man früher
den Begriff »die Reichen« verwendete, waren immer müßige
Reiche gemeint - Menschen, die außerhalb der Arbeitssphäre standen.
Das war naturgemäß die Klasse der Erben - die aristokratischen zuerst,
später auch die Erben von neuen bürgerlichen Vermögen, die nicht
ohne Grund fortunes heißen. Im 19. Jahrhundert erfolgt dann der tiefe Einschnitt,
der die aktuellen Verhältnisse von allen früheren trennt: Der typische
Reiche unserer Zeit ist ein »arbeitender Reicher« - die US-Amerkaner
nennen ihn geradeheraus warking rich - , wohl aus dem sicheren Instinkt,
daß diese Figur ein anthropologisches Wundertier darstellt, für das
es historisch kein Beispiel gibt. Die Reichen der Vergangenheit waren unvermeidlich
Parasiten, Ausbeuter und Günstlinge dubioser Gottheiten wie der Fortuna,
die nie verrät, warum sie den einen bevorzugt und die anderen leer ausgehen
läßt. In der beginnenden Neuzeit jedoch sollte Reichtum mit einem Mal
als Zeichen der Erwählung und schließlich sogar als Lohn für eigene
Verdienste interpretiert werden. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand
und die gebende Seite, 2010, S. 147).Wie jeder Berufstätige
weiß: Bloße Arbeit als solche kann nicht gut die Quelle des Reichtums
sein. Der Ölmagnat, Sponsor und fromme Baptist John D. Rockefeller hat das
in seinem bekannten Diktum zum Ausdruck gebracht: »Wer den ganzen Tag arbeitet,
hat keine Zeit, Geld zu verdienen.« Die starke Pointe verrät unverblümt,
warum die Herleitung des Reichtums aus der Arbeit nicht schlüssig ist. Folglich
muß sich der Reiche etwas einfallen lassen, um sich vor der Mitwelt von
der Erfolgsschuld freizukaufen. Und das geschieht in der Regel durch philanthropische
Gesten. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 147-148).Karl Marx hat von Pierre-Joseph Proudhon den
Satz übernommen: »Eigentum ist Diebstahl«. Die in der historischen
Linken bis heute beliebte Diebstahls-These wurde von Marx weiterentwikkelt, indem
er der Frage nachging: Woher stammt der Profit des Unternehmers? Seine Antwort:
Profit entsteht durch die Unterbezahlung der Produzenten, der Arbeiter. Anders
gesagt: Der Kapitalist profitiert, weil er nur einen Teil des geschaffenen Werts
an die Schaffenden auszahlt und eine übertrieben große Portion für
sich behält. Die Diagnose war moralisch und politisch explosiv: Nach ihr
wäre überall der ungleiche Tausch an der Macht. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 148).Der
Tausch ist nicht mehr ganz ungerecht, sobald der Arbeiter von seinem Lohn anständig
leben kann. Das ist heute überwiegend der Fall? Für die Wohlstandszone
der Welt dürfte es fast zutreffen. Man erkennt das daran, daß hier
auf hohem Niveau weiter gestritten wird, was »anständig leben«
bedeutet. Weshalb das Proletariat in seiner bisherigen Form keine Rolle mehr
spielt? Richtig. Im 19. Jahrhundert fungierte das Proletariat
als eine Art unfreiwilliger Sponsor der bürgerlichen Gesellschaft. Systemisch
gesprochen: In allen Gesellschaften gibt es eine Gruppe, die, freiwillig oder
unfreiwillig, die Rolle des stärkeren Gebers ausfüllt. Es waren die
kritischen Theorien von Marx bis Andre Gorz, die auf die Absurdität aufmerksam
machten, daß die Armen die Geber für die Reichen sein sollen. ....
Im aktuellen System sind die manifest Ärmeren unverkennbar in die Position
der Nehmenden übergewechselt - weswegen die Diskurse der traditionellen Linken
heute ins Leere greifen. Folglich bietet sich ein anderer Ansatz an - im Rückgriff
auf den Soziologen Marcel Mauss, der in der Gabe das primäre soziale Band
erkannt hat. Das Phänomen Gabe ist von den alten kritischen Theorien unterschätzt
worden, weil sie sich auf den Tausch konzentrierten. Ich meine hingegen, wir müssen
den sozialen Zusammenhalt von der Gabe her denken - und zwar auch von der einseitigen
Gabe her. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 148-149).Wenn man sich auf den Tausch fixiert, gerät
man schnell auf moralisch schwieriges Gelände. Man stellt dort ja immer Ungleichungen
fest: Der eine gibt mehr als der andere - und bekommt nicht so viel zurück,
wie er gegeben hat. Die Tauschanalyse ist problematisch, weil sie eine Matrix
für die Erzeugung von Unzufriedenheit darstellt. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 149).Jedenfalls
könnten wir alle gebende Wesen sein, wenn die kulturellen Prämissen
es begünstigen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 149).Letztlich hängt alles von dem Menschenbild
ab, das die Kultur bereithält. Solche Bilder sind nicht, wie manche Fotografen
glauben, Abbildungen oder Nachbildungen des Realen, sie sind Vorbildungen oder
Gußformen, in die man reale Materie einfüllt. Wenn wir uns selbst als
ein Bündel von Defiziten beschreiben, als gierige Autisten, die überwiegend
von Angst und Hunger bewegt werden, so hat das einen selbstwahrmachenden Effekt.
Wir dürfen uns darum nicht mehr in der Weise kleindenken, wie es die sogenannten
»Realisten« (Anführungszeichen von mir;
HB) taten und tun. Wenn wir dieser Spur folgen, landen wir bei den schwarzen
Anthropologien, die in Europa zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert entwickelt
wurden. Von Thomas Hobbes, der den Krieg aller gegen alle behauptete, läuft
eine direkte Linie zu Adolf Hitler, der an die grausame Göttin Natur zu glauben
vorgab. »Es reicht nicht für alle«: So lautete die Botschaft
der Hitler-Natur an die übrige Welt - darum müssen wir rücksichtslos
für das Unsere sorgen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 149-150).Es ist die Botschaft derer,
die vom Menschen nichts halten. Auch ein Großteil der Marxisten gehörte
in diese Linie. Lenin war überzeugt, daß man die jetzt Lebenden in
Rußland bis auf wenige Ausnahmen ausrotten und mit den Überlebenden
eine neue Menschheit starten sollte, in der die besseren Eigenschaften herangezüchtet
würden. In Wahrheit ging das auf eine katastrophale anthropologische Fehlkonzeption
zurück. In den vergangenen 300 Jahren hat man den Menschen im allgemeinen
und den Bürger im besonderen einseitig als Nehmewesen diffamiert - anstatt
den Menschen von vornherein als bipolare Größe zu definieren, nehmend
und gebend. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 150). Aber was genau macht den Menschen zu einem gebenden
Wesen? Ich würde dies fürs erste mit einem Naturalismus des Sozialen
begründen. Wir haben in den vergangenenJahrhunderten viel über die antisozialen
Tendenzen im Menschsein nachgedacht. Immanuel Kant nannte es die ungesellige Geselligkeit
des Menschen. Arthur Schopenhauer prägte das Bild von den frierenden Stachelschweinen,
die sich nur gegenseitig weh tun können, wenn sie sich zusammendrängen.
Die heutigen Banker glauben an den Primat der Gier - und Journalisten in aller
Welt reden ihnen nach dem Mund. Und doch sind das alles einseitige Stilisierungen
und interessierte Fälschungen. Übersehen haben diese düsteren Anthropologen,
daß es tausend und drei gute Gründe für das Kooperieren gibt,
ja daß die Großzügigkeit ebenso im Menschen steckt wie die Gier.
Den größten Teil ihrer Evolution haben die Menschen als Familientiere
in kleineren Horden erworben. Unsere gesamte biologisch-moralische Grundausstattung
übernehmen wir aus einer Zeit, in der es für uns lebenswichtig gewesen
ist, uns in den anderen einfühlen zu können. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 150).Es
gibt beim homo sapiens eine geradezu erschütternd breite neurologische
Grundlage der Einfühlungskraft und der anteilnehmenden Gestimmtheit. Dies
meint eine Fähigkeit, die nicht über den Verstand, die reflektierende
Vernunft, das Kalkül verläuft, sondern über die emotionale Anschlußfähigkeit
hinsichtlich der Zustände des anderen. In der Regel ist die Einfühlung
schneller als jede Berechnung. In der modernen Erwerbsgesellschaft wurden diese
Eigenschaften eher wegtrainiert als kultiviert. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 150-151).Mir
geht es um eine Umstimmung des kollektiven Klimas. Eigentlich betreibe ich seit
vielenJahren nichts anderes als philosophische Umstimmungsarbeit - mit dem paradoxen
Ergebnis, daß die Vorsprecher der Verstimmten mit noch größerer
Verstimmung reagieren. Mein Umstimmungsversuch zielt auf vertieften sozialen Zusammenhalt
und ethisch akzeptablere Lebensgefühle. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 151).Tatsächlich,
in mein Projekt fließt manches ein von dem, was man im Kommunismus Solidarität
genannt hat oder im Christentum Nächstenliebe. Oder in buddhistischer Perspektive
Mitgefühl. Die klassischen moralischen Impulse sind in meinem Ansatz allesamt
mit gemeint. Umstimmung bezieht sich auf alles, was uns daran hindert, die partizipativen
Eigenschaften zu stärken. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand
und die gebende Seite, 2010, S. 151).Natürlich können
die Menschen zum Geben erzogen werden. Wenn sie nicht zum Geben erzogen wurden,
werden sie zum Geben gezwungen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand
und die gebende Seite, 2010, S. 151). |  1)
6,1% zahlen 70% der Steuern; 2)
24,4% zahlen 30% der Steuern; 3) 19,5%
sind von Steuern befreit; 4) 50% sind zu
100% Sozialfälle.1+
2)
30,5% Steueraktive; 3
+ 4)
69,5% Steuerneutrale, - passive. |
 1)
70% der Steuern von 6,1% bezahlt; 2)
30% der Steuern von 24,4% bezahlt.1+
2) 100% der Steuern
von 30,5% bezahlt. |
|
Die
unfreiwillige Geberfunktion hat sich binnen der letzten anderthalb Jahrhunderte
von den Proletariaten zu den Mittelschichten verschoben. Der zeitgenössische
Steuerstaat stützt sich ja gerade nicht auf die Geringverdiener und all diejenigen,
die zum Fiskus wenig oder nichts beitragen, die Arbeitslosen inbegriffen. Statt
dessen sind es die rund 25 Millionen Haushalte, die als efffektive Nettoeinzahler
beim deutschen Fiskus das System tragen. Im Zentrum des sozialen Lebens steht
heute die steueraktive Mittelschicht, die mit ihren oberen ein oder zwei Prozent
in die Gruppe der reichen Leute hineinragt. Und an diesem oberen Rand des steueraktiven
Segments findet man eine bemerkenswerte Anzahl von Personen, die offensichtlich
der Maxime folgen, daß einfaches Zahlen an den Staat nicht genügt.
Man redet zur Zeit viel über geheime CDs mit den Namen von Steuerflüchtlingen,
mir schiene es klüger, man erstellte eine Kassette mit den Namen derer, die
freiwillig mehr geben. .... Sie sind diejenigen, die mehr geben, als sie müßten,
zuweilen sehr viel mehr. Indem sie spenden, sponsern, stiften und helfen. Zugleich
verkörpern diese Philanthropen eine innere Haltung, die Sie in Ihrem utopischen
Gegenentwurf zum Fiskalstaat der gesamten steueraktiven Bevölkerung vorschlagen.
Aus mißmutigen Steuerzahlern soll eine Gesellschaft freiwilliger Geber werden.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 151-152).Ich
mache ambivalente Erfahrungen: Einerseits treffe ich nicht wenige Leute, die mir
sagen, sie würden sofort mehr geben, wenn man es in anständiger Form
von ihnen verlangte. Andererseits spreche ich auch mit Personen, die mir sagen:
Ich finde Ihre Idee sympathisch, aber ich habe in meinem Leben schon so viel Zwangssteuern
bezahlt, daß es mir ein für allemal reicht. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 152).Ich
frage mich aber, wie es dazu kommt, daß viele Menschen, deren Lebenssteuerbilanz
bedeutend ist, so verbittert sind und sich auf der Seite der Geplünderten
sehen. Für diese Leute fehlt offensichtlich ein Gegenstück dessen, was
früher die Arbeiterbewegung für die einfachen Arbeiter gewesen ist.
Diese Bewegung hat neben der Herbeiführung von halbwegs anständigen
Löhnen etwas geschaffen, was man vorzeiten Klassenbewußtsein nannte:
Ein stolzes Bewußtsein davon, daß der Produzent letztlich auf der
gebenden Seite steht. Daß er nicht ein Schuldner der Gemeinschaft ist, sondern
deren Förderer. Das war die große psychopolitische Leistung der klassischen
Arbeiterbewegungen. Wir sollten diese schon deswegen nicht vergessen, weil wir
heute eine analoge Geberbewegung stiften müssen, die mehr von der breiten
Mitte als vom unteren Rand getragen wird. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 152).»Alle Räder
stehen still, wenn dein starker Arm es will«, heißt es im klassischen
Arbeiterlied. Inzwischen haben wir es jedoch mit einer zum permanenten Geben genötigten
Mitte zu tun, der jede adäquate Artikulation ihres faktischen Geberseins
vorenthalten ist. Warum ist das So? Weil sie zu einer Art von Zwangsphilanthropie
auf monatlicher Basis genötigt werden, die rein mechanisch erfolgt. Oder
erhalten Sie etwa am Jahresende einen Brief vom Finanzamt: »Sehr geehrter
Steuerzahler, wir sprechen Ihnen hiermit unsere Anerkennung dafür aus, daß
Sie auch in diesem Jahr wieder einen fünfstelligen oder sechsstelligen Betrag
für das Gemeinwesen erübrigt haben!« Statt dessen ist die Atmosphäre
geschwängert von dem Verdacht, dieser Steueruntertan hätte noch mehr
geben können, wenn man ihn besser überwacht und stärker ausgepreßt
hätte. Diese Herausholmentalität verdeckt die Tatsache, daß das,
was die Bürger für den Staat erübrigen, durchaus keine Schulden
des Bürgers beim Staat sind, sondern vielmehr Gaben, die auf der Grundlage
staatsbürgerlicher Anteilnahme erbracht werden - obschon bisher überwiegend
in aufgenötigter Form. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 153).Der zeitgenössische
Steuerstaat ist demnach undemokratisch? In Wahrheit erleben wir im heutigen
Finanzwesen gleichzeitig vor- und nachdemokratische Zustände. Wir gehen einerseits
zurück in die absolutistische, spätfeudale Fiskalität, indem der
Staat einseitig nimmt, nimmt, nimmt, ohne zu argumentieren. Andererseits bewegen
wir uns längst weit voraus in die Fiskalität eines postdemokratischen
Gemeinwesens - erkennbar an dem wahnwitzigen Zustand der Staatsschulden, durch
den die nächsten hundert Jahre Zinsendienst vorprogrammiert sind - bis hin
zur Enteignung der Ungeborenen. Was gegenwärtig überhaupt nicht vorkommt,
ist der Gedanke, daß die Bürger nicht die Schuldner des Gemeinwesens
sind, sondern seine Sponsoren. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und
die gebende Seite, 2010, S. 153).Vielen Menschen fehlt das
Gebergefühl, weil sie in der Demokratie nicht angekommen sind - oder besser
gesagt, weil die Demokratie bei ihnen nicht angekommen ist. Und zwar deswegen
nicht, weil ihnen im Augenblick ihrer stärksten Anteilnahme am Gemeinwesen,
nämlich beim Zahlen von Steuern, die vollkommene Fremdbestimmung widerfährt.
Wählen dürfen wir nur alle vier Jahre. Steuern zahlen wir jeden Monat.
Aber der Augenblick des Steuerzahlens ist nie mit dem Dank des Gemeinwesens an
den Geber verbunden. Es geht dabei genauso zu, wie man sich den ausbeuterischen
Unternehmer im 19. Jahrhundert vorstellte: Der dachte doch tatsächlich, ihm
stehe der Mehrwert des vom Arbeiter erzeugten Gutes zu. Genauso meint heute der
Fiskus, ein Anrecht darauf zu haben, bei allen, die Geld verdient haben, sofort
einen bemerkenswerten Anteil abzuschöpfen. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 153-154).Solange
die staatlichen Strukturen bestehen, wie sie bestehen, gibt es keine Gelegenheit,
herauszufinden, wie Menschen sich entwikkeIn würden, wenn sie aus dem fiskalischen
Zwangssystem entlassen wären. Eine ähnliche potentielle Kulturrevolution
stellt das Konzept eines Grundeinkommens dar, das in verschiedenen Varianten diskutiert
wird. Von der Geste her ist das durchaus eine Angelegenheit nach meinem Herzen.
Das wäre ein Ernstfall dessen, was ich mit dem Begriff Umstimmung beschreibe.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 154).Ein
womöglich sogar bedingungsloses Grundeinkommen könnte den Menschen ein
existentiell verändertes Lebensgefühl bescheren? Ohne Zweifel. Das
Problem ist aber, daß wir damit eine Form von Privilegien-Nationalismus
erzeugen würden, der weltweit anstößig wäre - vorausgesetzt,
das Projekt wäre finanzierbar. Was wäre am unbedingten Grundeinkommen
so anstößig? Wir würden damit sämtliche Menschen beleidigen,
die in Armut leben und die nichts anderes kennen als den langen Umweg über
die Arbeit zum Wohlstand. Ein neuer Sozialismus in einem Land wäre eine Provokation,
die den Einwohnern Deutschlands nicht guttäte. Man könnte sich des Ansturms
von Einwanderern nicht mehr erwehren. Überdies sollten wir nicht vergessen,
daß Menschen Wesen sind, die auf das Streben nach Genugtuung über eigene
Leistung nicht verzichten können. Dies steht im Widerspruch zu der verwöhnenden
Tendenz, die in der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens steckt. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 154-155).
Seien wir realistisch: Die moderne Kreativität ist ein Nebeneffekt von Aufstiegswillen
und Zinsstreß. Wer mit diesen psychopolitischen Motiven spielt, geht Risiken
ein, die kaum geringer wären als die der russischen Revolution. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 155).Auf
dem Zeichenbrett scheint alles möglich. Doch wir haben noch kein Labor für
experimentelle Politik und hypothetische Geschichtsschreibung entwickelt. Wir
können nur hoffen, es werde demnächst Länder geben, die mutig genug
sind, radikal neue Dinge zu versuchen. Wir bräuchten Prototypen von Gesellschaften,
die den Versuch unternehmen, vollständig von Zwangssteuer auf Philanthropie
umzustellen. Ebenso wie wir sehr bald Länder brauchen, die ihre Wirtschaft
zu 100 Prozent auf erneuerbare Energiequellen umstellen. Erst nach dem Experiment
würde man wissen, warum es nicht funktioniert, falls sich zeigt, daß
es nicht funktioniert. Welche Länder kämen dafür in Frage?
Bis zur Größe eines deutschen Bundeslandes oder einer europäischen
Nation sollte man experimentelle Politik durchaus vorantreiben können. Grundsätzlich
kommen hierfür nur die reichen Länder in Frage, womit wir wieder zu
unserem Ausgangspunkt gelangen: Dem Reichtum fällt künftig in sozialpolitischer
wie in weltpolitischer Perspektive eine ungeheure Bedeutung zu. Der Reichtum hat
jetzt die Verantwortung dafür, daß das ganze nicht im Chaos endet.
Noch mehr als früher müssen wir die Starken bei ihren Stärken ansprechen.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 155).
Letzte Ausfahrt Empörung. Über Bürgerausschaltung in Demokratien(
zuerst in: Der Spiegel,
Der verletzte Stolz, 08.11.2010 )Über
Bürgerausschaltung in Demokratien Wann immer Politiker und Politologen sich
über den Zustand einer modernen res publica Gedanken machen, drängen
Reminiszenzen an das alte Rom sich auf. Das widerfuhr auch jüngst dem glücklosen
deutschen Außenminister, als er, um den in seinen Augen allzu üppigen
Sozialstaat unseres Landes zu kritisieren, auf den Gedanken verfiel, die heutigen
Verhältnisse mit den Niederungen der »spätrömischen Dekadenz«
zu vergleichen. Welche Vorstellungen er hiermit verband, konnte nie genau ermittelt
werden. Vielleicht waren dem Gast an der Spitze des Auswärtigen Amts vage
Erinnerungen an das System des kaiserzeitlichen Plebs-Managements durch Gladiatorenspiele
in den Sinn gekommen, möglicherweise dachte er auch an die obligatorischen
Getreidespenden für die arbeitslosen Massen der antiken Metropole. Beides
wären Nachklänge des hastigen Geschichtsunterrichts, den die meisten
deutschen Gymnasiasten des Jahrgangs 1961 (Westerwelle u. a.) genossen. Sie enthalten
nichts, was zu Besorgnis Anlaß gäbe. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 156).Immerhin,
der Hinweis auf die »spätrömische Dekadenz« im Mund eines
deutschen Politikers war nicht nur ein Symptom von standesgemäßer Halbbildung.
Er war auch nicht bloß ein Symptom von verbalem Draufgängertum, das
bei einer gewissen Klientel Eindruck machen sollte. Er enthielt eine Reihe von
gefährlichen Implikationen, denen der Redner ohne Zweifel ausgewichen wäre,
hätte er sie sich bewußt gemacht. Das römische Brot-und-Spiele-System
war ja nicht weniger gewesen als die erste Ausgestaltung dessen, was man seit
dem 20. Jahrhundert als »Massenkultur« bezeichnet. Es symbolisierte
die Wende von der gravitätischen Senatorenrepublik zum postrepublikanischen
Theaterstaat mit einem kaiserlichen Mimen im Zentrum. Dieser Übergang war
unausweichlich geworden, seit das römische Imperium nach seiner Konversion
zur cäsarischen Monarchie mehr und mehr auf die Eliminierung von Senat und
Volk aus der Regelung der öffentlichen Angelegenheiten zusteuerte. In dieser
Sicht war die vielzitierte römische Dekadenz nichts anderes als die Kehrseite
der politischen Bürgerausschaltung, die mit der Machtübernahme durch
eine Junta von imperialen Berufspolitikern einherging. Sie ist nur angemessen
zu begreifen, wenn man in ihr das Symptom der Auflösung von republikanischem
Leben in Verwaltung und Unterhaltung erkennt. Während die Reichsverwaltung
sich zunehmend in Formalien verstrickte, setzte sich auf der Seite der Unterhaltung
namentlich in den Arenen rund um das Mittelmeer und bei den Festen der
metropolitanen Oberschicht der Trend zur Verrohung und Enthemmung durch.
Das Miteinander von Verwaltungsstaat und Unterhaltungsstaat antwortete auf einen
Weltzustand, in dem die Machtausübung nur noch durch die weitgehende Entpolitisierung
der Reichspopulationen gesichert werden konnte. (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 156-157).Das
Spiel mit römischen Reminiszenzen rührt früher oder später
an gefährliche Materie. Wer Rom erwähnt, sagt zugleich res publica,
und wer von dieser spricht, sollte nicht versäumen, nach dem Geheimnis ihrer
Anfänge zu fragen. Mochten auch die Cäsaren ihre Dekrete nach wie vor
mit der geheiligten Formel »Senat und Volk von Rom« (SPQR) absegnen
es stand doch fest, daß beide Instanzen so gut wie völlig entmachtet
waren. Versuchen wir also zu erklären, wie es kam, daß die exemplarische
»öffentliche Sache« Alteuropas mit einem bedenkenswerten Affektsturm
begann: Der Sohn des letzten römisch-etruskischen Königs, Tarquinius
Superbus junior, war auf die Reize einer jungen römischen Matrone namens
Lucretia aufmerksam geworden, nachdem er durch die Prahlereien ihres Gatten Collatinus
von deren Schönheit und Sittsamkeit erfahren hatte. Offensichtlich wollte
er nicht hinnehmen, daß ein Untergebener erotisch glücklicher sein
sollte als er selbst, der Sproß aus königlichem Haus. Der Rest ist
dank Livius Weltgeschichte und dank Shakespeare Weltliteratur: Der junge Tarquinius
dringt in Lucretias römische Wohnung ein und nötigt sie durch eine infame
Erpressung, in ihre Vergewaltigung einzuwilligen. Nach der erlittenen Entehrung
ruft die junge Frau ihre Verwandten zusammen, berichtet ihnen von den Vorfällen
und erdolcht sich vor den Augen der Versammelten. Eine beispiellose Welle der
Erschütterung verwandelt nun das harmlose Hirten- und Bauernvolk der Römer
in eine revolutionäre Menge. Tarquinius Superbus wird vertrieben, die etruskische
Vorherrschaft ist für immer beendet. Nie wieder werden Hochmütige an
der Spitze des Gemeinwesens geduldet sein. Der Name des Königs wird für
alle Zeiten geächtet nicht nur ad personam, sondern im Hinblick
auf die monarchische Funktion als solche. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 157-158).Aus der Konvulsion
der Bürger erwächst eine folgenschwere Idee: Die Gemeinwesenlenkung
wird künftig allein von Römern ausgeübt werden, sie wird pragmatisch
und profan erfolgen. Zwei Konsuln halten sich gegenseitig in Schach, ihre jährliche
Neuwahl beugt jeder erneuten Verwechslung von Amt und Person vor. Der religiöse
Überbau implodiert, bis auf die Staatsorakel, ohne dies es auch in der Republik
nicht geht; für immer bleibt die königliche Superbia verbannt. Die produktiven
Energien des Hochmuts werden auf das Format des Strebens nach Ansehen durch Vortrefflichkeit
zurückgeschraubt, wie in Meritokratien üblich. Aufgrund dieser Beschlüsse
setzt sich im Jahr 509 vor Christus die am klügsten konstruierte republikanische
Maschine der Menschheitsgeschichte in Gang; durch die nachträgliche Hinzufügung
des Volkstribunenamts erlangt sie einen unüberbietbaren Grad an Effizienz.
Eine Erfolgsstory ohnegleichen beginnt, bis, fast ein halbes Jahrtausend später,
die Überdehnung des römischen Machtkomplexes den Übergang zu neo
- monarchischen Verhältnissen erzwingt. (Peter Sloterdijk, Die nehmende
Hand und die gebende Seite, 2010, S. 158).Eine bedeutsame Information
sollte der heutige Leser dieser Geschichte festhalten: Die Lucretia-Legende handelt
von der Geburt der res publica aus dem Geist der Empörung. Was man
später Öffentlichkeit nennen wird, ist anfangs ein Epiphänomen
des Bürgerzorns. Aus dem Unmut der zusammenströmenden Menge bildete
sich das erste Forum. Die erste Tagesordnung umfaßte nur einen einzigen
Punkt: die Zurückweisung einer herrscherlichen Infamie. Aus ihrer synchronen
Erregung über den zügellosen Hochmut der Machthaber lernten die einfachen
Leute, daß sie von nun an Bürger heißen wollen. Der consensus,
mit dem alles anfängt, was wir bis heute öffentliches Leben nennen,
war die zivile Einmütigkeit hinsichtlich eines unerträglichen Affronts
gegen die ungeschriebenen Gesetze des Anstands und des Herzens. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 158).Um
das Entscheidende noch einmal zu sagen: Was wir jetzt mit dem griechischen Ausdruck
»Politik« umschreiben, ist ein Derivat des Ehrsinns und der stolzen
Regungen gewöhnlicher Menschen. Für das Spektrum der stolzverwandten
Affekte hält die alteuropäische Tradition den Ausdruck thymós
bereit. Auf der thymotischen Skala der menschlichen Psyche erklingen viele
Töne von Jovialität, Wohlwollen und Generosität über
Stolz, Ambition und Trotz bis hin zu Empörung, Zorn, Ressentiment, Haß
und Verachtung. Solange eine politische Kommune von ihrem Stolzzentrum her gelenkt
wird, stehen Fragen von Ehre und Ansehen im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit.
Die Unverletztheit der zivilen Würde gilt als höchstes Gut. Der öffentliche
Argwohn wacht darüber, daß Arroganz und Gier, die immer virulenten
Hauptmächte der Gemeinheit, in der res publica niemals die Oberhand
gewinnen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite,
2010, S. 158-159).Es dürfte klar sein, warum es nicht unverfänglich
ist, in unseren Tagen von römischer Dekadenz zu sprechen und aktuelle Zustände
mit ihr gleichzusetzen. Wer so redet, bekennt sich implizit zu der Auffassung
oder der Befürchtung, daß auch auf die moderne Republik wie
sie vor gut zweihundert Jahren aus dem monarchiekritischen Zorn der nordamerikanischen
und französischen Revolutionen hervorgegangen war zu gegebener Zeit
eine postrepublikanische Phase folgen werde. Typischerweise wäre auch diese
durch das erneute Miteinander von Brot und Spielen charakterisiert, oder, um zeitgemäß
zu reden, durch eine Synergie von Sozialstaat und Sensationsindustrie. Es läßt
sich nicht leugnen, daß die Vorboten solcher Doppelwirtschaft allgegenwärtig
sind. Lesen wir nicht seit geraumer Weile die Zeichen, die für die Rückentwicklung
des öffentlichen Lebens auf Administration und Entertainment sprechen
Wärmedämmung für Ministerien und Casting-Shows für Ambitionen?
Hat nicht der von Großbritannien ausgehende Diskurs über »Postdemokratie«,
also der Gedanke, daß Bürgerbeteiligung durch die höhere Kompetenz
politischer Spitzenentscheider eingespart werden kann, diskret die Parteizentralen
und soziologischen Seminare in der westlichen Hemisphäre erobert? Sind nicht
Unzählige schon wieder existentiell in Deckung gegangen, wie einst die antiken
Stoiker und Epikuräer, und haben sich darauf eingerichtet, daß Bürokratie,
Spektakel und private Sammlungen jetzt die letzten Horizonte markieren?
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 159).Man
könnte aus diesen Beobachtungen den vorschnellen Schluß ziehen, die
postdemokratischen Tendenzen hätten sich in der Dämmerung der zweiten
republikanischen Ära, die wir die politische Moderne nannten, bereits auf
ganzer Linie durchgesetzt. Dann bliebe uns, den Bewohnern der zweiten res publica
amissa (des preisgegebenen Gemeinwesens) erneut nichts übrig als das
Warten auf die Cäsaren und auf deren billige Ausgaben, die Populisten,
sofern Populismus heute den Beweis liefert, daß Cäsarismus auch mit
Komparsen funktioniert. Also hätte Oswald Spengler mit seiner gefährlichen
Suggestion Recht behalten, man müsse Dekadenztheoretiker sein, um als Zeitdiagnostiker
auf der Höhe der Phänomene zu stehen? (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 159-160). Doch
so anregend rhapsodische Überlegungen dieser Art sein mögen: Wir sind
in dieser Angelegenheit besser beraten, wenn wir uns vom Elan der großen
Analogie nicht mitreißen lassen. Zwar fehlt es nicht an Hinweisen darauf,
daß wir postrepublikanischen und postdemokratischen Zuständen entgegengehen.
Deren signifikantestes Symptom, die erneute Bürgerausschaltung durch eine
monologisch in sich verschränkte Staatlichkeit, ist heute auf breiter Front
zu diagnostizieren. Daß Politik hierzulande immer mehr dem Monolog eines
Autistenclubs nahekommt, zeigt die aktuelle Linie der schwarz-gelben Regierung
in Fragen der Atomenergie. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die
gebende Seite, 2010, S. 160). Wer aber geglaubt hätte,
die Bürgerausschaltung in der zweiten postrepublikanischen Situation werde
so reibungslos verlaufen wie nach der Etablierung des antiken Cäsaren-Regimes,
sähe sich getäuscht. In diesem Punkt ist die historische Analogie nicht
schlüssig aus einem Grund, über den man sich noch immer aus alten
Quellen am besten informiert. Die klassischen Autoren Griechenlands besaßen
vom Menschen als zugleich erosbewegtem und stolzbewegtem Wesen ein ungleich tieferes
Verständnis als die Modernen, weil die letzteren sich mehrheitlich damit
begnügten, die menschliche Psyche allein aus der Libido, dem Mangel und dem
Habenwollen zu deuten. Zu Fragen des Stolzes und der Ehre fällt ihnen seit
über hundert Jahren nichts mehr ein. Folglich nimmt es nicht wunder, wenn
heute weder Politiker noch Psychologen Rat wissen, sobald sie es mit öffentlichen
Regungen der vergessenen Stolzkomponente im menschlichen Seelenhaushalt zu tun
bekommen. Wer sich im Panorama der politischen Unruhen in Europa umsieht, besonders
an den deutschen Krisenherden, sollte sich eines möglichst schnell klarmachen:
Wenn heute die Bürgerausschaltung trotz aller Aufgebote an Expertokratie
und Amüsierkultur nicht ganz gelingt, so darum, weil man die Rechnung ohne
den Bürgerstolz gemacht hat. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand
und die gebende Seite, 2010, S. 160-161). Mit einem Mal steht
er wieder auf der Bühne der thymotische Citoyen, der selbstbewußte,
informierte, mitdenkende und mitentscheidungswillige Bürger, männlich
und weiblich, und klagt vor dem Gericht der öffentlichen Meinung gegen die
mißlungene Repräsentation seiner Anliegen und seiner Erkenntnisse im
aktuellen politischen System. Er ist wieder da, der Bürger, der empörungsfähig
blieb, weil er trotz aller Versuche, ihn zum Libido-Bündel abzurichten, seinen
Sinn für Selbstbehauptung bewahrt hat, und der diese Qualitäten manifestiert,
indem er seine Dissidenz auf öffentliche Plätze trägt. Wie über
Nacht ist er wieder unter uns, der unbequeme Bürger, der sich weigert, ein
politischer Allesfresser zu sein, duldsam und fern von »nicht hilfreichen«
Meinungen. Lange hatte man ihn nicht mehr gesehen diesen informierten und
empörten Bürger, der plötzlich, man begreift nicht wie, auf den
Gedanken verfiel, den Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes (**)
auf sich selbst zu beziehen, wonach alle Staatsgewalt vom Volk ausgehe. Was ist
in ihn gefahren, wenn er das mysteriöse Verfassungsverbum »ausgehen«
als die Anweisung versteht, seine vier Wände zu verlassen, um zu bekunden,
was er will und weiß und fürchtet? (Peter Sloterdijk, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 161). In Momenten
wie dem gegenwärtigen schadet es nicht, sich darauf zu besinnen, daß
die ursprüngliche res publica selbst ein Derivat der psychopolitischen
Primäraffekte Stolz und Empörung war. Wie bemerkt, stand an der Quelle
des römischen Gemeinwesengefühls die Unwilligkeit, die allzu kraß
gewordene Arroganz der Herrschenden länger zu dulden. Trotz aller Differenzen
zwischen antiken und modernen Situationen muß man nach dem vergleichbaren
Aspekt nicht lange suchen. Auch heute sehen zahllose Bürger Grund, sich über
die Anmaßung der Herrschenden zu erregen. Selbst wenn die Anmaßung
anonym geworden ist und sich in den sachzwanggetriebenen Systemen versteckt
die Bürger, insbesondere in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler und als Adressaten
hohler Reden vor Wahlen, spüren doch hin und wieder deutlich genug, welches
Spiel mit ihnen getrieben wird. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand
und die gebende Seite, 2010, S. 161).Verstehen wir nun, wieso
der Traum der Systeme Ungeheuer gebiert? Die Ungeheuer sind die leibhaftigen Bürger,
die sich dem postdemokratischen Gebot der Bürgerausschaltung widersetzen.
Daß diese plötzliche Renitenz erklärungsbedürftig ist, wird
man zugeben. Warum nur können die Leute mit einem Mal nicht auf den ihnen
zugedachten Plätzen ruhighalten? Wieso ist auf ihre systemrelevante Lethargie
kein Verlaß mehr? Und was ist an ihrer Funktion so schwer zu verstehen?
In der repräsentativen Demokratie werden Bürger von ihren enormen
fiskalischen Aufgaben abgesehen in erster Linie als Lieferanten von Legitimität
für Regierungen gebraucht. Deswegen werden sie in weitmaschigen Abständen
zur Ausübung ihres Wahlrechts eingeladen. In der Zwischenzeit können
sie sich vor allem durch Passivität nützlich machen. Ihre vornehmste
Aufgabe besteht darin, durch Schweigen Systemvertrauen auszudrücken.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 161-162).Begnügen
wir uns, um höflich zu sein, mit der Feststellung, daß solches Vertrauen
zu einer knappen Ressource geworden ist. Sogar Berliner Hofpolitologen sprechen
von der manifesten Entfremdung zwischen der politischen Klasse und der Bevölkerung.
Noch scheuen die Experten vor der harten Diagnose zurück, wonach die Politik
der nützlichen Entpolitisierung des Volks vor dem Scheitern steht.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 162).An
dieser Stelle mag es sinnvoll sein, nachzufragen, wie den Römern der Cäsarenzeit
ihr Entpolitisierungskunststück gelang, während es den heutigen gewählten
Postdemokraten aus den Händen zu gleiten droht. Die Antwort ist umweglos
zu finden: Den kaiserzeitlichen Eliten stand über lange Zeit die Möglichkeit
offen, den thymotischen Ansprüchen ihrer Bürgerwelt halbwegs brauchbare
Ersatzangebote zu machen trotz handfester Anzeichen postrepublikanischer
Dekadenz: Sie verstanden sich darauf, im civis romanus den Stolz auf die
zivilisatorischen Leistungen des Imperiums zu wecken; sie banden die Völker
der Peripherie durch römische soft power an das Zentrum; sie waren
klug genug, den haltlosen Massen in den Städten die Teilhabe am theatralischen
Narzißmus des Kaiserkults zu gewähren. Im Vergleich hiermit springt
die Hilflosigkeit unserer politischen Klasse in allen Belangen des thymotischen
Haushalts ins Auge. Sie hat den Bürgern oft nicht mehr zu bieten als die
Aussicht auf Teilhabe an ihrer eigenen Kläglichkeit ein Angebot, auf
das die Bevölkerung in der Regel nur im Karneval und bei Aschermittwochsreden
eingeht. Wird die Frage gestellt, wie das breite Volk auf die Performance der
Regierenden reagiert, verzeichnen Meinungsforscher seit einiger Zeit am häufigsten
die Auskunft: mit Verachtung. Unnötig zu sagen, daß dieses Wort zum
elementaren Vokabular der thymotischen Analyse gehört. Wenn die Bezeichnung
für den Minuspol der Stolz-Skala so häufig und so heftig gebraucht wird
wie zur Stunde, dürfte begreiflich werden, in welchem Maß die psychopolitische
Regulierung unseres Gemeinwesens aus dem Ruder läuft. (Peter Sloterdijk,
Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 162-163).Der
Traum der Systeme gebiert Ungeheuer: Das erleben die Regierenden auf ihre Weise,
sobald unzufriedene Bürger sich ihren Projekten und Prozeduren in den Weg
stellen. Es überrascht nicht, wenn Verachtung spontan auf Verachtung antwortet.
Der unwillkommenen Bürgerdissidenz trat man in Stuttgart und Berlin erschrocken
mit Großaufgeboten von Polizei und Schimpfworten entgegen. So also sieht
es aus das dunkle Etwas, von dem alle Staatsgewalt ausgeht? »Berufsprotestierer,
Freizeitanarchisten, Stimmungsdemokraten, Altersegoisten, Wohlstandsverwahrloste!«
In diesen Vokabeln faßten die Landesregierung und ihre Alliierten in der
Hauptstadt ihre Eindrücke von den Zehntausenden zusammen, die gegen ein zerbröckelndes
Großprojekt auf die Straße gingen. Soll man diese Wortwahl dadurch
entschuldigen, daß die Sprecher unter Schock standen? Im Gegenteil, man
schuldet diesen Politikern Dank, daß sie endlich aussprachen, wie sie über
die Bürger denken. Bemerkenswerterweise war ein wichtiger Teil der manchmal
seriösen Presse bereit, sich in die bedrängte politische Klasse einzufühlen:
»Wutbürger« nannte man jüngst die neuen Protestierer
was eine kluge Prägung gewesen wäre, hätte sie die Erinnerung an
den ursprünglichen Zusammenhang von Empörung und Republik beschworen.
Leider diente sie im aktuellen Gebrauch nur dazu, die lästigen Dissidenzfliegen
zu verscheuchen. Man sieht jedenfalls: Manche Journalisten wissen, wie sie das
Ihre zum Werk der Bürgerausschaltung beizutragen können. (Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 163). Es
sollte nicht bei Verbalattacken gegen das dunkle Etwas bleiben. Mit Schlagstöcken
und Tränengas antwortete die verschreckte Kaste auf resolute Argumentierer
aus dem Volk, die Unstimmiges in den Plänen für den neuen Stuttgarter
Bahnhof entdeckt hatten. Mit der Einleitung eines Parteiausschlußverfahrens
reagierte die altehrwürdige SPD auf ein bewährt robustes Mitglied, das
unter Aufbietung ausführlicher Beweise Unstimmiges in der deutschen Zuwanderungspolitik
aufdeckte und dabei Tatsachen vortrug, die ohne genetische Begründungsversuche
solider dastehen als mit diesen. Beide Male hieß es, man habe sich die notwendigen
Reaktionen, das Zuschlagen und das Ausschließen, nicht leicht gemacht. Bürgerausschaltung
als Beruf das ist gelegentlich noch härter als das übliche Bohren
von harten Brettern. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 163-164).Wer versucht, inmitten der Polemiken
Beobachterruhe zu wahren, gewinnt ein Bild, das die verschiedenen Konfliktherde
zu einer kohärenten Szene zusammenzieht: Auf breiter Front sieht man dieselben
Bunkerreflexe gegen die Störung der Routinen, dasselbe Ausweichen ins Mobbing
gegen die Träger »unerwünschter Meinungen«, dasselbe Unbehagen
an der Wortergreifung der Unberufenen, dieselbe Verwechslung von Verstopfung mit
Charakterfestigkeit. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 164).Über so viel eingehauste Dumpfheit
kann nur eine genauere Analyse des politischen Systems und seiner Paradoxien hinausführen.
Diese würde beginnen mit der Erklärung, warum die moderne repräsentative
Demokratie in der Regel außerstande ist, zu bewirken, was den Cäsaren
noch scheinbar spielend gelang: Diese waren jahrhundertelang imstande, den systemischen
Imperativ der postrepublikanischen Bürgerausschaltung mit dem psychopolitischen
Imperativ der thymotischen Bürgerbefriedigung zu verbinden. Die Modernen
scheitern an dieser Aufgabe, seit ihnen die Ausflucht in die nationale Selbstüberhöhung
nicht mehr so leicht fällt wie vor hundert Jahren. Daher stehen ihnen nur
zwei Auswege offen, von denen einer ökonomisch ruinös, der andere psychopolitisch
unberechenbar ist: die Bürgerausschaltung durch Stillhalteprämien und
die Bürgerlähmung durch Resignation. Wie Prämien funktionieren,
weiß jeder, der die aktuellen Debatten über den Alimentenstaat beobachtet.
Auch wie die Resignation erzielt wird, ist kein Geheimnis. Diese gleicht oberflächlich
der Zufriedenheit unter einer guten Regierung. Sie unterscheidet sich von ihr
durch die mutlos grollende Stimmung, nach deren Urteil die da oben im Grunde doch
alle gleich sind. In solchem Klima können Wahlbeteiligungen, wie in den USA
üblich, auf unter 50% absinken, ohne daß die politische Klasse Grund
sähe, sich zu beunruhigen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand
und die gebende Seite, 2010, S. 164).Bürgerausschaltung
mittels Resignation ist ein Spiel mit dem Feuer, da sie jederzeit in ihr Gegenteil,
die offene Empörung und den manifesten Bürgerzorn umschlagen kann. Hat
der Zorn erst einmal sein Thema gefunden, läßt er sich nicht mehr leicht
davon ablenken. Für die politische Klasse kommt die Erschwerung hinzu, daß
die moderne Bürgerausschaltung sich als »Einbeziehung« des Bürgers
präsentieren will. Dessen Entpolitisierung muß mit so viel restlicher
Politisierung verbunden bleiben, wie zur Selbstreproduktion des politischen Apparats
nötig ist. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 164-165). In keiner Hinsicht sind die Bürger
unserer Hemisphäre so ausgeschaltet wie in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler.
Es ist dem modernen Staat gelungen, seine Angehörigen im Moment ihrer materiellsten
Zuwendung zum Gemeinwesen, im Augenblick ihres Einzahlens in die gemeinsame Kasse,
die passivste Rolle aufzudrängen, die er zu vergeben hat: Statt die Geberqualität
der Zahlenden zu hervorzuheben und den Gabe-Charakter von Steuern respektvoll
zu betonen, belasten die modernen Fiskalstaaten ihre Steuerzahler mit der entwürdigenden
Fiktion, sie hätten bei der öffentlichen Kasse massive Schulden, so
hohe Schulden, daß sie dieselben nur in lebenslangen Raten tilgen können.
Im Zentrum des modernen Bürgerausschaltungsgeschehens findet man ein psychopolitisch
völlig falsch konstruiertes Steuerwesen. Es raubt den steueraktiven Bürgern
den Stolz und drängt sie in die Position von ewigen Schuldnern des Leviathans.
Je leistungsfähiger sie sich zeigen, desto tiefer stehen sie in der Kreide,
je mehr sie zu geben haben, desto mehr sind sie im Minus. Im übrigen werden
die Steuerbürger neuerdings nicht nur im Augenblick ihres Einzahlens in die
Gemeinschaftskasse zur Passivität verdammt, sie erleiden eine Passivität
zweiten Grades, seitdem der Staat sie hinterrücks an die Galeere der öffentlichen
Schulden gefesselt hat. Ohne zu begreifen, wie ihnen geschah, sehen sich die Gebenden
in eine Schicksalsgemeinschaft neuen Typs verstrickt. Sie bilden ab sofort eine
Kollektivschuldgruppe, die morgen und bis zu ihrem letzten Atemzug für das
bezahlen werden, was die Bürgerausschalter von heute ihnen aufbürden.
Man sage nicht, die heutige Politik habe keine Visionen mehr. Noch gibt es eine
Utopie für unser Gemeinwesen. Wenn das Glück auf unserer Seite ist und
alle alles tun, was in ihrer Macht steht, gelingt am Ende sogar das Unmögliche,
die Staatsbankrottvermeidung. Sie ist von nun an der rote Stern am Abendhimmel
der Demokratie. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 165).Unzählige Kommentare haben seit der
2008 aufgebrochenen Finanzkrise (**)
die Gefährlichkeit der Spekulation an den Finanzmärkten beschworen.
Von der gefährlichsten der Spekulationen war nie die Rede: Die meisten heutigen
Staaten spekulieren, durch keine Krise belehrt, auf die Passivität der Bürger.
Westliche Regierungen wetten darauf, daß ihre Bürger weiter in die
Unterhaltung ausweichen werden; die östlichen wetten auf die unverwüstliche
Wirksamkeit offener Repression. Man muß kein Prophet sein, um zu ahnen,
in welchem Maß die Zukunft vom Wettbewerb zwischen dem euro-amerikanischen
und dem chinesischen Modus der Bürgerausschaltung bestimmt sein wird. Beide
Verfahren gehen davon aus, man könne das Aufklärungsgebot der Repräsentation
von positivem Bürgerwillen und gutem Bürgerwissen im Regierungshandeln
umgehen, indem man weiter mit hoher Bürgerpassivität rechnet. Das ging
bisher erstaunlich gut: Sogar nach der mißglückten Kopenhagener Weltklimakonferenz
von 2009 widmeten sich die Bürger Europas in jenem fatalen Dezember lieber
ihren Weihnachtseinkäufen als der Politik; sie zogen es vor, mit vollen Tüten
nach Hause zu kommen, statt ihre mit leeren Händen zurückgekehrten »Vertreter«
zumindest symbolisch so zu teeren und zu federn, wie sie es verdient hätten.
(Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 166).Auch
ohne divinatorische Begabung kann man wissen: Dergleichen Spekulationen werden
früher oder später zerplatzen, weil keine Regierung der Welt im Zeitalter
der digitalen Zivilität vor der Empörung ihrer Bürger in Sicherheit
ist. Hat der Zorn seine Arbeit erfolgreich getan, entstehen neue Architekturen
der politischen Teilhabe. Die Postdemokratie, die vor der Tür steht, wird
warten müssen. (Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende
Seite, 2010, S. 166). |