Abgrenzung des WestensDie
Kernstaaten der Europäischen Union sind Deutschland und Frankreich; um sie
gibt es zunächst eine innere Gruppierung aus Belgien, den Niederlanden und
Luxemburg, die sämtlich übereingekommen sind, untereinander alle Schranken
im Verkehr von Waren und Menschen abzubauen; sodann andere Mitgliedsländer
wie Italien, Spanien, Portugal, Dänemark, England, Irland und Griechenland;
Staaten, die 1995 Mitglied wurden (Österreich, Finnland, Schweden); und jene
Länder, die zu diesem Zeitpunkt assoziierte Mitglieder waren (Polen, Ungarn,
Tschechien, Slowakei, Rumänien, Bulgarien). Es war Ausdruck dieser Realität,
daß im Herbst 1994 sowohl die Regierungspartei
in Deutschland als auch französische Spitzenpolitiker Vorschläge zu
einer Differenzierung der Union machten. Der deutsche Plan sah vor, daß
der »harte Kern« der Union aus den ursprünglichen Mitgliedern
minus Italien bestehen solle und daß »Deutschland und Frankreich den
Kern des harten Kerns bilden« sollten. ( ).
Die Länder des harten Kerns sollten den Versuch unternehmen, so schnell wie
möglich eine Währungsunion einzugehen und ihre Außen- und Verteidigungspolitik
zu integrieren. Fast gleichzeitig schlug der französische Ministerpräsident
Edouard Balladur eine dreiteilige Union vor: Die fünf pro-integrationistischen
Staaten sollten den Kern bilden, die anderen derzeitigen Mitgliedsstaaten einen
zweiten Ring um diesen Kern und die neuen, beitrittswilligen Staaten einen äußeren
Kreis. In der Folge erläuterte der französische Außenminister
Alain Juppé dieses Konzept und proponierte »einen äußeren
Kreis von Partner-Staaten, einschließlich Osteuropa; einen mittleren
Kreis von Mitgliedsstaaten, die auf bestimmten Gebieten (einheitlicher Markt,
Zollunion u.s.w.) gemeinsame Regelungen akzeptieren müßten; und mehrere
innere Kreise einer verstärkten Solidarität, bestehend aus
Ländern, die willens und imstande wären, auf Gebieten wie Verteidigung,
Außenpolitik, Währungsintegration und so fort ein schnelleres Tempo
als die anderen einzuschlagen. Andere politische Führer schlugen andere Arten
von Arrangements vor; sie alle konzipierten jedoch eine innere Gruppierung von
enger assoziierten Staaten und daneben äußere Gruppierungen von Staaten,
die mit dem Kernstaat immer weniger stark integriert wären, bis zu der Grenze,
die Mitglieder von Nichtmitgliedern trennen würde. Die Festigung dieser Grenze
in Europa ist eine der größten Herausforderungen geworden, vor denen
der Westen nach dem Kalten Kriege steht. Während des Kalten Krieges hat Europa
als ein Ganzes gar nicht existiert. Mit dem zusammenbruch des Kommunismus erwies
es sich jedoch als notwendig, die Frage zu stellen und nach deren Antwort zu suchen:
|
Abbildung 8) Ostgrenze der westlichen Kultur bzw. Zivilisation.
| Europas Grenzen im Norden, Westen und Süden
werden durch große Gewässer gezogen, von denen das südliche klar
unterscheidbare Kulturen trennt. Aber wo endet Europa im Osten? Wer soll
als Europäer und damit als potentielles Mitglied der Europäischen Union,
der NATO und vergleichbarer Organisationen gelten? Die zwingendste und gründlichste
Antwort auf diese Fragen liefert die große historische Scheidelinie, die
... westlich-christliche von muslimischen und orthodoxen Völkern trennt.
Diese Linie geht auf die Teilung des Römischen Reiches im 4. Jahrhundert
und auf die Errichtung des Heiligen Römischen Reiches im 10. Jahrhundert
(durch die deutschen Sachsen-Kaiser )
zurück. Ihren gegenwärtigen Verlauf nimmt sie ... im Norden ... entlang
der heutigen Grennze zwischen Finnland und Rußland und den baltischen Staaten
(Estland, Lettland, Litauen) und Rußland, durch das westliche Weißrußland,
durch die Ukraine, wo sie den unierten Westen vom orthodoxen Osten trennt ( ),
durch Rumänien zwischen Transsylvanien mit seiner katholisch-ungarischen
Bevölkerung und dem Rest des Landes, und durch das frühere Jugoslawien
entlang der Grenze, die Slowenien und Kroatien von den anderen Republiken trennt.
Auf dem Balkan fällt die Linie natürlich mit der historischen Grenze
zwischen dem österreichisch-ungarischen und dem osmanischen Reich zusammen.
Diese Linie ist die kulturelle Grenze Europas, und in der Welt nach dem Kalten
Krieg ist sie auch die politische und wirtschaftliche Grenze Europas und des
Westens. Ein kultureller Ansatz liefert eine klare und eindeutige Antwort auf
die Frage, die Westeuropäer bewegt: Wo hört Europa auf? Es hört
dort auf, wo das westliche Christentum aufhört und Orthodoxie und Islam beginnen.
Das ist die Antwort, die Westeuropäer hören wollen, die sie mehrheitlich,
wenngleich sotto voce bestätigen und die von verschiedenen führenden
Intellektuellen und Politikern ausdrücklich bekräftigt wird. Wie Michael
Howard ( )
ausführt, ist es unerläßlich, die in den Sowjetjahren verwischte
Unterscheidung zwischen Mitteleuropa und dem eigentlichen Osteuropa zu berücksichtigen.
Mitteleuropa umfaßt »die Länder, die einst Teil des christlichen
Abendlandes waren; die alten Länder des Habsburgerreiches, Österreich,
Ungarn und die Tschechoslowakei, dazu Polen und die östlichen Grenzmarken
Deutschlands. Die Bezeichnung Osteuropa sollte jenen Regionen vorbehalten
bleiben, die sich unter der Ägide der orthodoxen Kirche entwickelten: die
Schwarzmeer-Gemeinschaften Bulgarien und Rumänien, die erst im 19. Jahrhundert
aus osmanischer Herrschaft entlassen wurden, und die europäischen
Teile der Sowjetunion.« Die erste Aufgabe Westeuropas muß es nach
Howard sein, »die Völker Mitteleuropas wieder in unsere kulturelle
und wirtschaftliche Gemeinschaft zu integrieren, in die sie von Rechts wegen gehören
...«. Eine »neue Bruchlinie« sieht zwei Jahre später Pierre
Bahar ( )
entstehen, »eine im wesentlichen kulturelle Scheidelinie zwischen einem
Europa, das vom westlichen Christentum (römisch-katholisch oder protestantisch)
geprägt ist, auf der einen Seite, und einem Europa, das vom Ostchristentum
und islamischen Traditionen geprägt ist, auf der anderen Seite.« Ähnlich
erblickt ein prominenter Finne ( )
die entscheidende Teilung in Europa ... in der »alten kulturellen Bruchlinie
zwischen Osten und Westen«, die »die Länder des einstigen östereichisch-ungarischen
Reiches sowie Polen und die baltischen Staaten« in das Europa des Westens
einbezieht und die anderen osteuropäischen und Balkan-Länder ausschließt.
Dies sei, pflichtet ein prominenter Engländer ( )
bei, »die große religiöse Scheidelinie ... zwischen der Ost-
und der Westkirche; grob gesagt, zwischen den Völkern, die ihr Christentum
direkt von Rom oder durch keltische oder germanische Mittler empfingen, und den
Völkern im Osten und Südosten, zu denen es über Konstantinopel
(Byzanz) kam. ( ).
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 250-254). Vgl.
auch: Abendland-Europa ( ),
Europa ( )
und Europäismus ( ).
Was die Länder, die in der Abwendung vom Kommunismus und der
Hinwendung zu demokratischer Politik und Marktwirtschaft wesentliche Fortschritte
gemacht haben, von jenen trennt, in denen das nicht der Fall ist, ist die »Grenze
zwischen Katholizismus bzw. Protestantismus auf der einen Seite und Orthodoxie
auf der anderen Seite«. Schon vor Jahrhunderten, behauptet der litauische
Präsident, hätten die Litauer zwischen »zwei Kulturen« wählen
müssen: »Sie optierten für die lateinische Welt, bekehrten sich
zum römischen Katholizismus und entschieden sich für eine auf dem Recht
basierende Form staatlicher Organisation«. In ähnlichem Sinne sagen
auch Polen, daß sie Teil des Westens sind, seit sie sich für das lateinisches
Christentum und gegen Byzanz entschieden haben. In den osteuropäischen orthodoxen
Ländern hingegen betrachten die Menschen das neue Argumentieren mit dieser
kulturellen Bruchlinie mit sehr gemischten Gefühlen. Einerseits erkennen
Bulgaren und Rumänen die großen Vorteile, die es mit sich bringt, Teil
des Westens zu sein und in seine Institutionen einbezogen zu werden, Andererseits
identifizieren sie sich mit ihrer eigenen, orthodoxen Tradition und, im falle
Bulgariens, mit ihrer traditionell engen Beziehung zu Rußland. (S.
P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 254).Die
Identifikation Europas mit der westlichen Christenheit liefert ein klares Kritrium
für die Zulassung neuer Mitglieder zu westlichen Organisationen. die primäre
Institution des Westens in Europa ist die europäische Union .... Bei der
Erweiterung der EU-Mitgliedschaft werden eindeutig jene Staaten vorgezogen, die
kulturell westlich ... sind. Bei Anwendung dieses Kriteriums würden die Visegrád-Staaten
(Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn), die baltischen Republiken, Slowenien, Kroatien
und Malta letzten Endes EU-Mitglieder werden, und die Europäische Union würde
sich mit dem wesentlichen Kulturkreis decken, wie er historisch in Europa existiert
hat. Ein ähnliches Ergebnis gebietet die Logik der Kulturkreise im Hinblick
auf die Erweiterung der NATO. .... Die USA und westeuropäische Länder
bildeten die NATO zur Abwehr und nötigenfalls zur Vereitelung einer weiteren
sowjetischen Aggression. In der Welt nach dem Kalten Krieg ist die NATO die Sicherheitsorganisation
des westlichen Kulturkreises. ( ).
.... Als Sicherheitsorganisation des Westens steht die NATO ... allen westlichen
Ländern offen, die ihr anzugehören wünschen und gewisse Grundvoraussetzungen
in bezug auf militärische Kompetenz, politische Demokratie und zivile Kontrolle
des Militärs erfüllen. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen,
1993-1996, S. 255-256).Rußland sträubte sich heftig
gegen jede Erweiterung der NATO, wobei eher liberale und pro-westliche Russen
den Standpunkt vertraten, eine Erweiterung werde nationalistischen und antiwestlichen
politischen Kräften in Rußland mächtigen Auftrieb geben. Aber
eine NATO-Erweiterung, die auf Länder beschränkt ist, welche historisch
Teil der westlichen Christenheit sind, garantiert Rußland auch, daß
der NATO nicht Serbien, Bulgarien, Rumänien, Moldau, Weißrußland
angehören, auch nicht die Ukraine ( ),
solange die Ukraine geeint bleibt. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen,
1993-1996, S. 257).Die Nützlichkeit einer Unterscheidung von
Ländern nach Maßgabe ihres Kulturkreises ist am Beispiel der baltischen
Republiken evident. Sie sind die einzigen früheren Sowjetrepubliken, die
in bezug auf ihre Geschichte, Kultur und Religion eindeutig westlich sind, und
ihr Schicksal ist immer schon ein Hauptanliegen des Westens gewesen. Die USA haben
deren Einverleibung in die Sowjetunion niemals anerkannt, beim Zusammenbruch der
Sowjetunion ihren Weg in die Unabhängigkeit unterstützt und darauf gedrungen,
daß die Russen den ausgehandelten Zeitplan für den Abzug ihrer Truppen
aus den drei Republiken einhielten. Die Botschaft an die Russen lautete, sie müßten
einsehen, daß das Baltikum außerhalb jeglicher Einflußsphäre
liegt, die sie mit Blick auf andere frühere Sowjetrepubliken vielleicht zu
errichten wünschten. Diese Leistung der Administration Clinton war nach den
Worten des schwedischen Ministerpräsidenten »einer ihrer wichtigsten
Beiträge zur Sicherheit und Stabilität in Europa« und half den
russischen Demokraten durch die Klarstellung; daß alle revanchistischen
Ambitionen extremer russischer Nationalisten angesichts des, expliziten westlichen
Engagements für die baltischen Republiken aussichtslos sind.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 257-258).Während
die Erweiterung der Europäischen Union und der NATO viel Aufmerksamkeit auf
sich gezogen hat, wirft die kulturelle Umgestaltung dieser Organisationen auch
die Frage nach ihrer möglichen Verkleinerung auf. Ein nichtwestliches Land,
Griechenland, gehört beiden Institutionen an, und ein anderes nichtwestliches
Land, die Türkei, gehört der NATO an und bewirbt sich um Aufnahme in
die Europäische Union. Diese Beziehungen waren eine Frucht des Kalten Krieges.
Haben sie nach dem Kalten Krieg in der Welt der Kulturkreise überhaupt noch
einen Platz? (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996,
S. 258).Die Türkei ist ein zerrissenes
Land ( ),
ihre Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union ist problematisch ( ),
ihre Mitgliedschaft in der NATO wird von der Wohlfahrtspartei bekämpft. Die
Türkei wird jedoch wahrscheinlich in der NATO bleiben, sofern nicht die islamistische
Wohlfahrtspartei einen triumphalen Wahlsieg erringt oder das Land auf andere Weise
das Erbe Atatürks verwirft und sich als Führer des Islam definiert.
Das ist denkbar und mag für die Türkei sogar wünschenswert sein,
ist aber in naher Zukunft unwahrscheinlich. Wie immer ihre Rolle in der NATO sich
gestalten wird, die Türkei wird in zunehmendem Maße ihre Sonderinteressen
auf dem Balkan, in der arabischen Welt und in Zentralasien verfolgen.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 258).
Griechenland ist nicht Teil des westlichen Kulturkreises, aber es war die
Wiege der klassischen (antiken )
Kultur, die wiederum eine wichtige Quelle der westlichen Kultur war. In ihrem
Widerstand gegen die Türken haben die Griechen sich in der Geschichte immer
wieder als Vorhut des Christentums verstanden. Im Unterschied zu Serben, Rumänen
oder Bulgaren ist ihre Geschichte eng mit der Geschichte des Westens verflochten.
Trotzdem ist Griechenland zugleich eine Anomalie, der orthodoxe Außenseiter
in westlichen Organisationen. Es ist nie ein bequemes Mitglied der EU oder der
NATO gewesen und hat Schwierigkeiten gehabt, sich auf die Grundsätze und
Gepflogenheiten in beiden Organisationen einzustellen. Von Mitte der 1960er bis
Mitte der 1970er Jahre wurde es von einer Militärjunta beherrscht und konnte
der Europäischen Gemeinschaft erst nach seinem Übergang zur Demokratie
beitreten. Griechische Spitzenpolitiker scheinen es oft bewußt darauf anzulegen,
von westlichen Normen abzuweichen oder westliche Regierungen gegen sich aufzubringen.
Das Land war ärmer als andere Mitglieder der EG und derNATO und verfolgte
oft eine Wirtschaftspolitik, die den in Brüssel herrschenden Standards Hohn
zu sprechen schien. Der Ratsvorsitz Griechenlands in der Union 1994 war für
andere Mitglieder eine große Strapaze, und Stimmen in Westeuropa bezeichnen
privat die Mitgliedschaft Griechenlands in der EU als Fehler. In der Welt nach
dem Kalten Krieg ist die Politik Griechenlands zunehmend von der des Westens abgewichen.
Seine Blockade Makedoniens wurde von westlichen Regierungen energisch abgelehnt
und führte dazu, daß die Europäische Kommission vor dem Europäischen
Gerichtshof die Verurteilung Griechenlands betrieb. Bei den Konflikten im früheren
Jugoslawien verfolgte Griechenland eine andere Politik als die wichtigsten westlichen
Mächte, unterstützte aktiv die Serben und verstieß eklatant gegen
die von der UNO verhängten Sanktionen gegen Serbien. Mit dem Ende der Sowjetuuion
und der kommunistischen Bedrohung sieht Griechenland gemeinsame Interessen mit
Rußland in der Opposition gegen den gemeinsamen Feind, die Türkei.
Es hat Rußland eine bedeutende Präsenz im griechischen Teil Zyperns
eingeräumt, wo Russen wie Serben mit Rücksicht auf die »gemeinsame
östlich-orthodoxe Religion« willkommen sind. 1995 gab es auf Zypern
etwa 2000 Unternehmen in russischem Besitz, es erschienen russische und serbokroatische
Zeitungen, und die griechisch-zypriotische Regierung war dabei, große Mengen
an Waffen von Rußland zu kaufen. Auch erkundete Griechenland zusammen mit
Rußland die Möglichkeit, Erdöl aus dem Kaukasus über eine
bulgarisch-griechische Pipeline unter Umgehung der Türkei und anderer muslimischer
Staaten ans Mittelmeer zu transportieren. Insgesamt hat die griechische Außenpolitik
eine stark orthodoxe Ausrichtung gewonnen. (S. P. Huntington, Kampf der
Kulturen, 1993-1996, S. 258-260).
Die Ukraine ist ein gespaltenens
Land ( )
mit zwei unterschiedlichen Kulturen. Die kulturelle Bruchlinie zwischen
dem Westen und der Orthodoxie verläuft seit Jahrhunderten durch das
Herz des Landes. In der Vergangenheit war die Westukraine abwechselnd
ein Teil Polens, Litauens bzw. des österreichisch-ungarischen Kaiserreiches.
Ein sehr großer Teil ihrer Bevölkerung bekennt sich zur Unierten
Kirche, welche zwar orthodoxe Riten praktiziert, aber die Autorität
des Papstes anerkennt. Seit jeher haben die Westukrainer Ukrainisch gesprochen
und sind stark nationalistisch eingestellt gewesen. Das Volk der Ostukraine
war dagegen stets ganz überwiegend orthodox und sprach immer schon
zu einem großen Teil Russisch. Russen machen 25 Prozent (laut
Harenberg: 22 Prozent), russische Muttersprachler 31 Prozent der
ukrainischen Gesamtbevölkerung aus. .... Die Unterschiede zwischen
der Ost- und der Westukraine manifestieren sich in der Einstellung ihrer
Menschen. .... Die Ost-West-Spaltung der Ukraine zeigte sich besonders
dramatisch bei den Präsidentschaftswahlen von 1994. .... Ein (us-)amerikanischer
Experte sagte über die Wahl, sie spiegele geradezu exemplarisch »die
Spaltung zwischen europäisierten Slawen in der Westukraine und der
russisch-slawischen Vision von dem, was die Ukraine sein sollte. Das ist
keine ethnische Polarisierung, das sind unterschiedliche Kulturen.«
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 264-266).
Ein
russischer General meinte: »Die Ukraine, oder vielmehr die Ostukraine wird
in fünf oder zehn oder fünfzehn Jahren wieder zurückkommen. Die
Westukraine kann der teufel holen!« Eine solche Rumpfukraine, uniert
und westlich orientiert, wäre jedoch nur lebensfähig, wenn sie die starke
und effiziente Unterstützung des Westens hätte. eine solche Unterstützung
wiederum dürfte es nur dann geben, wenn die Beziehungen zwischen dem Westen
und Rußland sich drastisch verschlechterten und Ähnlichkeit mit denen
während des Kalten Krieges bekämen. Das dritte und wahrscheinlichste
Szenario ist, daß die Ukraine geeint und zweigeteilt bleibt, unabhängig
und doch generell eng mit Rußland zusammenarbeitend. Sobald einmal die Übergangsfragen
bezüglich der Kernwaffen und der Streitkräfte geklärt sind, werden
die gravierendsten längerfristigen Probleme die wirtschaftlichen sein, und
ihre Lösung wird durch eine teilweise gemeinsame Kultur und durch enge persönliche
Bande erleichtert werden. Wie John Morrison ( )
hervorgehoben hat, ist die russisch-ukrainische Beziehung für Osteuropa,
was die deutsch-französische Beziehung für Westeuropa ist. Und so wie
diese den Kern der Europäischen Union bildet, ist jene der unabdingbare Kern
für den Zusammenhalt der orthodoxen Welt. (S. P. Huntington, Kampf
der Kulturen, 1993-1996, S. 268-269).
Groß-China und seine Sphäre des gemeinsamen Wohlstandes
Für
die chinesische Regierung sind Menschen chinesischer Abstammung, selbst wenn sie
Bürger eines anderen Landes sind, Mitglied der chinesischen Gemeinschagt
und unterstehen daher in einem gewissen Maße der Autorität der chinesichen
Regierung.. Chinesische Identität wird also rassisch definiert. Chinesen
sind alle, die, wie es ein Wissenschaftler der Volksrepublik China ausdrückte,
»Rasse, Blut und Kultur« Chinas gemeinsam haben. .... Diese Identität
ist immer schon auch mit unterschiedlichen Beziehungen zu den zentralen Autoritäten
des chinesischen Staates vereinbar gewesen. Dieses Gefühl der kulturllen
Identität erleichtert und wird verstärkt durch die Ausweitung der wirtschaftlichen
Beziehungen der verschiedenen Chinas untereinander. Diese waren ihrerseits ein
wesentliches Element bei der Förderung des rapiden Wirtschaftswachstums in
Festlandchina und anderswo, was wiederum den materiellen und psychologischen Anstoß
zur Stärkung einer chinesischen Identität gegeben hat. (S. P.
Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 270-271). Vgl.
Tabelle bzw. Abbildungen      »Groß-China«
ist also nicht einfach ein abstraktes Konzept. Es ist eine rapide wachsende kulturelle
und wirtschaftliche Realität und beginnt auch politisch Realität zu
werden. Chinesen waren verantwortlich für die in den 1980er und 1990er Jahren
zu beobachtende dramatische wirtschaftliche Entwicklung auf dem Festland, bei
den Tigern (von deren vieren drei chinesisch sind) und in den südostasiatischen
Ländern, deren Volkswirtschaft von Chinesen dominiert wird. Die Wirtschaft
Ostasiens ist zunehmend chinazentriert und chinesisch dominiert. Chinesen aus
Hongkong, Taiwan und Singapur haben viel von dem Kapital beigesteuert, das für
das Wachstum auf dem Festland in den 1990er Jahren verantwortlich war. Anderswo
in Südostasien dominierten Auslandschinesen die Volkswirtschaft ihrer jeweiligen
Länder. Anfang der 1990er Jahre machten Chinesen 1 Prozent der Bevölkerung
der Philippinen aus, waren aber für 35 Prozent der Umsätze der einheimischen
Firmen verantwortlich. In Indonesien stellten Mitte der 1980er Jahre Chinesen
2 bis 3 Prozent der Bevölkerung, besaßen aber knapp 70 Prozent des
privaten einheimischen Kapitals. 17 der 25 größten Unternehmen wurden
von Chinesen kontrolliert, und ein einziger chinesischer Konzern war angeblich
für 5 Prozent des indoneischen BIP verantwortlich. Anfang der 1990er Jahre
machten Chinesen 10 Prozent der Bevölkerung Thailands aus, besaßen
aber neun der zehn größten Unternehmensgruppen und waren für 50
Prozent des BIP verantwortlich. Chinesen stellen etwa ein Drittel der Bevölkerung
Malaysias, dominieren aber fast vollständig die Wirtschaft. ( ).
Außerhalb Japans und Koreas ist die ostasiatische Wirtschaft grundsätzlich
eine chinesische Wirtschaft. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen,
1993-1996, S. 271). Vgl. Tabelle bzw. Abbildungen     
Das Entstehen einer großchinesischen Sphäre des gemeinsamen
Wohlstandes wurde erheblich erleichtert durch ein »Bambusgeflecht«
familiärer und persönlicher Beziehungen und eine gemeinsame
Kultur. Auslandschinesen sind viel besser als Westler oder Japaner gerüstet,
in China Geschäfte zu tätigen. In China hängen Vertrauen
und Engagement von persönlichen Beziehungen ab, nicht von Verträgen,
Gesetzen oder anderen juristischen Dokumenten. Westliche Geschäftsleute
finden es einfacher, in Indien Geschäfte zu machen als in China,
wo die Unantastbarkeit einer Abmachung von der persönlichen Beziehung
zwischen den Parteien abhängt. China, so bemerkte 1993 ein führender
Japaner neidvoll, profitiere von einem grenzenlosen Netzwerk chinesischer
Kaufleute in Hongkong, Taiwan nd Südostasien«. ( ).
Ein (us-)amerikanischer Geschäftsmann
pflichtet bei: »Die Auslandschinesen besitzen das unternehmerische
Geschick, sie beherrschen die Sprache, und sie nützen das Bambusgeflecht
ihrer familiären Beziehungen für Kontakte. Das ist ein enonner
Vorsprung gegenüber jemanden, der immer erst Rücksprache mit
der Firmenleitung in Akron oder Philadelphia halten muß.«
( ).
Die Vorteile von Nicht-Festlandschinesen im Umgang mit dem Festland bringt
auch Lee Kuan Yew zum Ausdruck: »Wir sind ethnische Chinesen. Wir
teilen gewisse Merkmale aufgrund gemeinsamer Herkunft und Kultur. Menschen
empfinden eine natürliche Verbundenheit mit jenen, die ihre physischen
Eigenschaften teilen. Dieses Gefühl der Nähe verstärkt
sich, wenn sie auch eine gemeinsame kulturelle und sprachliche Basis haben.
Das bedeutet leichtere Kontaktaufnahme und Vertrauen, was die Grundlage
jeder Geschäftsbezieung ist.« ( ).
Ende der 1980er und in den 1990er Jahren vermochten ethnische Auslandschinesen
einer skeptischen Welt zu beweisen, daß quanxi-Verbindungen
durch dieselbe Sprache und Kultur mangelnde Rechtsstaatlichkeit und Transparenz
von Gesetzen und Regeln wettmachen können«. Die Verwurzelung
einer wirtschaftlichen Entwicklung in einer gemeinsamen Kultur rückte
bei der Zweiten Weltkonferenz chinesischer Unternehmer im November 1993
in Hongkong ins Rampenlicht; die Veranstaltung wurde als »Feier
des chinesischen Triumphalismus in Anwesenheit ethnisch chinesischer Geschäftsleute
aus der ganzen Welt« beschrieben. In der sinischen Welt fordert,
wie anderswo auch, kulturelle Gemeinsamkeit das wirtschaftliche Engagement.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 272-273).
Vgl. Tabelle bzw. Abbildungen     
Der
Rückgang des westlichen Wirtschaftseinsatzes in China nach den Ereignissen
auf dem Platz des Himmlischen Friedens und im Anschluß an ein Jahrzehnt
rapiden chinesischen Wirtschaftswachstums bot Auslandschinesen Gelegenheit und
Anreiz, aus ihrer gemeinsamen Kultur und persönlichen Kontakten Kapital zu
schlagen und in China stark zu investieren. Das Ergebnis war eine dramatische
Ausweitung der wirtschaftlichen Gesamtverflechtung zwischen den einzelnen chinesischen
Gemeinschaften. 1992 kamen 80 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen
in China (11,3 Milliarden $) von Auslandschinesen, vor allem aus Hongkong (68,3
Prozent), aber auch aus Taiwan (9,3 Prozent), Singapur, Macao und anderswo. Dagegen
betrug der Anteil Japans 6,6 Prozent und der der USA 4,6 Prozent. Von den akkumulierten
ausländischen Gesamtinvestitionen in Höhe von 50Milliarden $ stammten
67 Prozent aus chinesischen Quellen. Genauso eindrucksvoll war das Handelswachstum.
Taiwans Exporte stiegen von fast Null 1986 auf 8 Prozent von Taiwans Gesamtexporten
1992, was einer jährlichen Expansionsrate von 35 Prozent entsprach. Singapurs
Exporte nach China stiegen 1992 um 22 Prozent, verglichen mit dem Gesamtwachstum
seiner Exporte um kaum 2 Prozent. Murray Weidenbaum bemerkte 1993: »Trotz
der gegenwärtigen Dominanz der Japaner in der Region ist die chinesisch gestützte
Wirtschaft Asiens dabei, sich rapide als neues Epizentrum der Industrie, des Handels
und des Geldwesens zu entwickeln. Dieses strategische Gebiet verfügt über
erhebliche Mengen von Technologie und Gewerbepotential (Taiwan), hervorragendes
untemehmerisches Marketing- und Service-Know-how (Hongkong), ein gutes Kommunikationsnetz
(Singapur), einen riesigen Pool an Finanzkapital (alle drei) und sehr große
Reserven an Land, Ressourcen und Arbeitskraft (Festlandchina). ( ).
Darüber hinaus war Festlandchina natürlich der potentiell größte
aller expandierenden Märkte, und Mitte der 1990er Jahre waren Investittionen
in China zunehmend auf Verkäufe auf diesem Markt sowie Exporte aus ihm orientiert.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 273-274). Vgl.
Tabelle bzw. Abbildungen     
Der Westen und der Rest: Interkulturelle Streitfragen
Westlicher Universalismus
Auf der Makrobene ist die
ausschlggebende Teilung die zwischen »dem Westen« und »dem Rest«,
wobei der heftigste Zusammenprall zwischen muslimischen und asiatischen Gesellschaften
einerseits und dem Westen andererseits stattfindet. Die gefährlichen Konflikte
der Zukunft ergeben sich wahrscheinlich aus dem Zusammenwirken von westlicher
Arroganz, islamischer Unduldsamkeit und sinischen (chinesischen)
Auftrumpfen. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S.
291). Als einzige aller Kulturen hat der Westen einen wesentlichen
und manchmal verheerenden Einfluß auf jede andere Kultur gehabt. Das durchgängie
Charakteristikum der Welt der Kulturkreise ist infolgedessen das Verhältnis
zwischen der Macht und Kultur des Westens und der Macht und Kultur anderer Kreise.
In dem Maße, wie die relative Macht anderer Kreise zunimmt, schwindet die
Anziehungskraft der westlichen Kultur, und nichtwestliche Völker wenden sich
mit zunehmender Zuversicht und Engagiertheit ihrer eigenen, angestammten Kultur
zu. Das zentrale Problem in den Beziehungen zwischen dem Westen und dem Rest ist
folglich die Diskrepanz zwischen den Bemühungen des Westens, speziell Amerikas,
um Beförderung einer universalen westlichen Kultur und seiner schwindenden
Fähigkeit hierzu. Der Zusammenbruch des Kommunismus verschärfte diese
Diskrepanz, weil er den Westen in der Auffassung bestärkte, seine Ideologie
des demokratischen Liberalismus habe weltweit gesiegt und sei daher weltweit gültig.
Der Westen und besonders die USA, die immer eine Nation mit Sendungsbewußtsein
gewesen sind, sind überzeugt, daß die nichtwestlichen Völker sich
für die westlichen Werte-Demokratie, freie Märkte, kontrollierte Regierung,
Menschenrechte, Individualismus, Rechtsstaatlichkeit - entscheiden und diese Werte
in ihren Institutionen zum Ausdruck bringen sollten. Minderheiten in anderen Kulturen
haben diese Werte übernommen und fordern sie, aber die dominierenden Einstellungen
ihnen gegenüber in nichtwestlichen Kulturen reichen von verbreiteter Skepsis
bis zu heftigem Widerstand. Was für den Westen Universalismus ist, ist für
den Rest der Welt Imperialismus. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen,
1993-1996, S. 291-292).Der Westen versucht und wird weiter versuchen,
seine Vormachtstellung zu behaupten und seine Interessen dadurch zu verteidigen,
daß er diese Interessen als Interessen der »Weltgemeinschaft«
definiert. Dieses Wort ist das euphemistische Kollektivum (Ersatz für »die
Freie Welt«), um Handlungen, die die Interessen der USA und anderer westlicher
Mächte vertreten, weltweit zu rechtfertigen. Der Westen unternimmt heute
zum Beispiel den Versuch, die Volkswirtschaften nichtwestlicher Gesellschaften
in ein weltweites Wirtschaftssystem zu integrieren, das er dominiert. Durch den
IWF und andere internationale Wirtschaftsinstitutionen fördert der Westen
seine wirtschaftlichen Interessen und zwingt anderen Nationen die Wirtschaftspolitik
auf, die er für richtig hält. Dabei würde der IWF in jeder Meinungsumfrage
unter nichtwestlichen Völkern zwar die Unterstützung von Finanzministern
und ein paar anderen Leuten finden, aber eine überwältigend ungünstige
Beurteilung durch praktisch alle anderen Menschen erfahren, die Georgi Arbatovs
Beschreibung der IWF-Bürokraten zustimmen würden: »Neobolschewisten,
die es lieben, anderer Leute Geld zu expropriieren, undemokratische und fremde
Regeln des wirtschaftlichen und politischen Verhaltens aufstellen und die wirtschaftliche
Freiheit ersticken«. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen,
1993-1996, S. 292-293).Nichtwestler zögern
nicht, auf die Unterschiede zwischen westlichen Prinzipien und westlicher Praxis
zu verweisen. Heuchelei, Doppelmoral und ein allfälliges »aber nicht«
sind der Preis universalistischer Anmaßungen. Die Demokratie wird gelobt,
aber nicht, wenn sie Fundamentalisten an die Macht bringt; die Nichtweitergabe
von Kernwaffen wird für den Iran und den Irak gepredigt, aber nicht für
Israel; freier Handel ist das Lebenselixier des Wirtschaftswachstums, aber nicht
in der Landwirtschaft; die Frage nach den Menschenrechten wird China gestellt,
aber nicht Saudi-Arabien; Aggressionen gegen erdölbesitzende Kuwaitis werden
massiv abgewehrt, aber nicht gegen nicht-ölbesitzende Bosnier. Doppelmoral
in der Praxis ist der unvermeidliche Preis für universalistische Prinzipien.
Nachdem sie ihre politische Unabhängigkeit erreicht haben, wollen nichtwestliche
Gesellschaften sich auch der wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen
Vormachtstellung des Westens entziehen. Ostasiatische Gesellschaften sind dabei,
wirtschaftlich mit dem Westen gleichzuziehen. Asiatische und islamische Länder
suchen nach Rezepten, um dem Westen militärisch Paroli zu bieten. Die universalen
Bestrebungen der westlichen Zivilisation, die schwindende relative Macht des Westens
und das zunehmende kulturelle Selbstbewußtsein anderer Kulturkreise garantieren
generell schwierige Beziehungen zwischen dem Westen und dem Rest. (S. P.
Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 293).Die realistische
Theorie der internationalen Beziehungen lautet, die Kernstaaten nichtwestlicher
Zivilisationen sollten koalieren, um der beherrschenden Macht des Westens Paroli
zu bieten. In einigen Gegenden ist dies auch geschehen. Eine allgemeine antiwestliche
Koalition jedoch dürfte in unmittelbarer Zukunft unwahrscheinlich sein. Die
islamische und die sinische Kultur unterscheiden sich grundlegend voneinander,
was Religion, Kultur, Gesellschaftsstruktur, Traditionen, Politik undAuffassungen
über ihre Lebensweise betrifft. Wahrscheinlich hat jede dieser beiden Kulturen
an sich weniger mit der anderen gemein, als sie mit der westlichen gemein hat.
Doch erzeugt in der Politik ein gemeinsamer Feind gemeinsame Interessen. Islamische
und sinische Gesellschaften, die im Westen ihren Gegenspieler sehen, haben Grund,
miteinander gegen den Westen zu kooperieren, wie es sogar die Alliierten und Stalin
gegen Hitler taten. Diese Kooperation zeigt sich bei einer Vielzahl von Fragen;
zu ihnen gehören Menschenrechte, Wirtschaft und vor allem die Anstrengungen
von Gesellschaften beider Zivilisationen, ihr militärisches Potential auszubauen,
besonders Massenvernichtungswaffen und deren Trägersysteme, um so der militärischen
Überlegenheit des Westens bei konventionellen Waffen zu begegnen. Anfang
der 1990er Jahre bestand eine - unterschiedlich intensive - konfuzianisch-islamische
Schiene zwischen China und Nordkorea auf der einen Seite und Pakistan, Iran, Irak,
Syrien, Libyen und Algerien auf der anderen, um in diesen Fragen dem Westen entgegentreten
zu können. Die Streitfragen, die den Westen und diese anderen Gesellschaften
spalten, werden international zunehmend wichtiger werden. Drei von ihnen betreffen
die Bemühungen des Westens, (1.) durch eine
Politik der Nichtweitergabe bzw. der Verhinderung der Weitergabe von nuklearen,
biologischen und chemischen Waffen (»ABC-Waffen«) und ihren Trägersystemen
seine militärische Überlegenheit zu behaupten, (2.)
durch das Dringen auf Achtung der westlich verstandenen Menschenrechte und Übernahme
einer westlich geprägten Demokratie in anderen Gesellschaften westliche politische
Werte und Institutionen zu fördern und (3. )
durch eine Beschränkung der Anzahl von Nichtwestlern, die als Einwohner oder
Flüchtlinge zugelassen werden, die kulturelle, soziale und ethnische Integrität
westlicher Gesellschaften zu schützen. Auf allen drei Gebieten hatte der
Westen und hat er weiterhin Schwierigkeiten, seine Interessen gegen die Interessen
nichtwestlicher Gesellschaften zu verteidigen. (S. P. Huntington, Kampf
der Kulturen, 1993-1996, S. 294-296).Seit dem Zweiten Weltkrieg
sind Kernwaffen auch die Waffen, mit der die Schwachen ihre konventionelle Unterlegenheit
kompensieren. .... Irgendwann ... werden einige wenige Terroristen imstande sein,
massive Gewalt und massive Zerstörung zu produzieren. beide für sich
sind terroristen und kernwaffen die Waffen der nichtwestlichen Schwachen. Sofern
und sobald sie kombiniert werden, werden die nichtwestlichen Schwachen stark sein.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 299).Der
Westen tritt für Nichtweitergabe ein, weil diese in seinen Augen dem Interesse
aller Nationen an internationaler Ordnung und Stabilität entspricht. In den
Augen anderer Nationen jedoch dient Nichtweitergabe dem Interesse des Westens
an seiner eigenen Hegemonie. Daß dem in der Tat so ist, zeigen die Differenzen
über Waffenweitergabe zwischen dem Westen und speziell den USA auf der einen
Seite und regionlen Mächten, deren Sicherheit durch Waffenweitergabe tangiert
wird, auf der anderen Seite. .... Im Laufe der Zeit wird die Politik der USA übergehen
von der Verhinderung der Weitergabe zur angepaßten Weitergabe und - sofern
die Regierung die Geisteshaltung des Kalten Krieges überwinden kann - zur
potentiellen Nutzbarmachung der Weitergabe für die Interessen der USA und
des Westens. Bis heute (1995) bleiben jedoch die USA und der Westen einer Politik
der Rüstungsverhinderung verhaftet, die zum Scheitern verurteilt ist.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 304 und 307).Asiatische
Publizisten erinnerten den Westen wiederholt daran, daß die alte Zeit der
Abhängigkeit und Subordination vorüber sei und daß jener Westen,
welcher in den 1940er Jahren die Hälfte des Weltsozialprodukts erwirtschaftete,
die Vereinten Nationen dominierte und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
verfaßte, der Geschichte angehöre. (S. P. Huntington, Kampf
der Kulturen, 1993-1996, S. 309-310).Alles in allem macht ihre
wachsende wirtschaftliche Stärke die asiatischen Länder zunehmend immun
gegen westlichen Druck in Sachen Menschenrechte und Demokratie. Richard Nixon
schrieb 1994: »Heute sind angesichts der wirtschaftlichen Macht Chinas US-amerikanische
Belehrungen über Menschenrechte unklug. In zehn Jahren werden sie irrelevant
sein. In zwanzig Jahren werde sie lachhaft sein.« Jedoch könnte zu
jenem Zeitpunkt die wirtschaftliche Entwicklung Chinas westliche Belehrungen unnötig
gemacht haben. Heute stärkt das Wirtschaftswachstum asiatische Regierungen
gegenüber westlichen Regierungen. Mittelfristig wird es auch asiatische Gesellschaften
gegenüber asiatischen Regierungen stärken. Falls die Demokratie sich
in asiatischen Ländern ausbreitet, dann deshalb, weil das erstarkende asiatische
Bürgertum und die Mittelschichten wollen, daß sie es tut. (S.
P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 311).Im
Gegensatz zu der Vereinbarung über die unbefristete Verlängerung des
Atomwaffensperrvertrages haben westliche Bemühungen um die Förderung
von Menschenrechten und Demokratie in UN-Organisationen generell nichts gebracht.
Mit wenigen Ausnahmen wie etwa der Verurteilung des Irak wurden Menschenrechtsresolutionen
in Abstimmungen der UNO fast immer abgelehnt. Abgesehen von einigen lateinamerikanischen
Ländern zögerten andere Regierungen, sich Bemühungen um die Förderung
von etwas anzuschließen, was vielen als »Menschenrechts-Imperialismus«
erscheint. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 312).Die
Unterschiede zwischen dem Westen und anderen Kulturen in der Frage der Menschenrechte
und das begrenzte Vermögen des Westens seine diesbezüglichen Ziele zu
rreichen, wurden bei der 2. Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien im Juni
1993 ganz deutlich. Auf der einen Seite standen die europäischen und nordamerikanischen
Länder; auf der anderen Seite gab es einen Block von etwa fünfzig nichtwestlichen
Staaten. .... Folgende Streitfragen trennten diese Länder entlang kulturellen
Fronten: Universalität oder kultureller Relativismus in bezug auf Menschenrechte;
relativer Vorrang von wirtschaftlichen und sozialen Rechten einschließlich
des Rechts auf Entwicklung oder von politischen und Bürgerrechten; die Verkuüpfung
von Wirtschaftshilfe mit politischen Bedingungen; die Ernennung eines UN-Hochkommissars
für Menschenrechte; der Umfang, in dem die nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen
(NGOs), die gleichzeitig in Wien tagten, an der internationalen Konferenz teilnehmen
durften; die besonderen Rechte, die von der Konferenz bekräftigt werden sollten,
sowie die speziellere Frage, ob man dem Dalai Lama eine Rede vor der Konferenz
erlauben und Menschenrechtsverletzungen in Bosnien explizit verurteilen solle.
In diesen Streitfragen gingen die Ansichten zwischen den westlichen Ländern
und dem asiatisch-islamischen Block weit auseinander. Zwei Monate vor der Wiener
Konferenz trafen die asiatischen Länder in Bangkok zusammen und verabschiedeten
eine Erklärung, in der betont wurde, daß Menschenrechte »im Kontext
... nationaler und regionaler Besonderheiten und unterschiedlicher historischer,
religiöser und kultureller Hintergründe« gesehen werden müßten,
daß die Überwachung von Menschenrechten die staatliche Souveränität
verletze und daß eine an Menschenrechte geknüpfte Wirtschaftshilfe
dem Recht auf Entwicklung widerspreche. .... Die westliche Nationen waren schlecht
auf Wien vorbereitet, sie waren auf der Konferenz in der Minderheit, und sie machten
im Laufe der Verhandlungen mehr Zugeständnisse als die gegenseite. .... Die
Wiener Erkärung ... war ... in vieler Hinsicht schwächer als die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte, die die UNO 1948 beschlossen hatte. Diese Verschiebung
spiegelte den Nioedergang der westlichen Macht. »Das internationale Menschenrechtsregime
von 1945«, bemerkte ein amerikanischer Menschenrechtler, »existiert
nicht mehr. Die amerikanische Hegemonie ist untergraben. Europa ist selbst nach
den Ereignissen von 1992 kaum mehr als eine Halbinsel. Die Welt ist heute ebenso
sehr arabisch, asiatisch und afrikanisch, wie sie westlich ist. Die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte und die Internationalen Pakte sind für
unseren Planeten heute weniger relevant als in der unmittelbaren Nachkriegszeit«.
... Der große Gewinner in Wien war nach Ansicht eines anderen Beobachters
»ganz klar China, zumindest wenn Erfolg daran gemessen wird, daß man
andere Leute beiseite schieben kann. Peking setzte sich auf der Konferenz ständig
durch, indem es einfach massiv sein Gewicht in die Wagschale warf ...«.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 312-314).
Einwanderung
»In ganz Europa«, sagte Jean
Marie Domenach 1991, »wächst die Angst vor einer muslimischen Gemeinschaft
quer über alle europäischen Grenzen, quasi vor einer dreizehnten Nation
der Europäischen Gemeinschaft«. .... Umfragen aus den 1990er Jahren
zeigen übereinstimmend, daß 60 Prozent und mehr der Bevölkerung
für eine Verringerung der Einwanderung sind. ( ).
Zwar beeinflussen wirtschaftliche Belange und wirtschaftliche Gegebenheiten ihre
Einstellungen zur Einwanderung, aber der stetig steigende Widerstand in guten
wie in schlechten Zieten läßt darauf schließen, daß Kultur,
Kriminalität und Lebensweise bei diesenm Meinungsumschwung wichtiger waren.
... Das Problem der demographischen Invasion der Muslime wird sich jedoch wahrscheinlich
in dem Maße mildern, wie das Bevölkerungswachstum in nordafrikanischen
und nahöstlichen Gesellschaften seinen Höhepunkt erreicht, was in einigen
Ländern bereits der Fall ist, und zurückzugehen beginnt. Insofern demographischer
Druck die Ursache der Einwanderung ist, könnte die muslimische Einwanderung
im Jahre 2025 bedeutend geringer sein als heute. Das gilt nicht für das subsaharische
Afrika. Wenn eine wirtschaftliche Entwicklung eintritt und die soziale Mobilisierung
in West- und Zentralafrika fördert, werden die Anreize und Potentiale zur
Migration zunehmen, und der drohenden »Islamisierung« Europas wird
seine drohende »Afrikanisierung« folgen. Inwieweit diese Gefahr reale
Gestalt annimmt, wird auch signifikant davon abhängen, inwieweit afrikanische
Populationen durch Aids und andere Seuchen dezimiert werden und inwieweit Südafrika
Einwanderer aus anderen Teilen Afrikas anlockt. (S. P. Huntington, Kampf
der Kulturen, 1993-1996, S. 319-320, 323-324, 327).
Tabelle 2 ) Bevölkerung der USA nach Rasse und
Ethnizität | 1995 | 2020* | 2050* |
Nichthispanische Weiße | 74% | 64% | 53% |
Hispanics | 10% | 16% | 25% |
Schwarze | 12% | 13% | 14% |
Asiaten, Pazifikinsulaner | 3% | 6% | 8% |
Indianer, Ureinwohner Alaskas | <
1% | < 1% | 1% |
Gesamt (in Millionen) | 263 | 323 | 394 |
* =
Schätzung Quelle: Bureau of Census,
Population Projections of the United States by Age, Sex, Race and Hispanic Origin
- 1995 to 2050 (Washington, 1996, S. 12f.) | |
|
Während Muslime das unmittelbare
Problem für Europa sind, sind Mexikaner das Problem für die
USA. Wenn die derzeitigen Tendenzen und Politiken anhalten, wird sich,
wie Tabelle 2 zeigt, die amerikanische Bevölkerung in der ersten
Hälfte des 21. Jahrhunderts dramatisch verändern und zu rund
50 Prozent aus Weißen, zu fast 25 Prozent aus Hispanics bestehen.
Wie in Europa, könnten Veränderungen in der Einwanderungspolitik
und die effiziente Durchsetzung von Maßnahmen zur Verhinderung der
Einwanderung diese Hochrechnungen modifizieren. Auch so wird das zentrale
Thema die Frage bleiben, inwieweit Hispanics in die amerikanische Gesellschaft
so assimiliert werden, wie es bei früheren Einwanderergruppen geschehen
ist. Hispanics der zweiten und dritten Generation sehen sich diesbezüglich
mit vielfaltigen Anreizen und Pressionen konfrontiert. Andererseits unterscheidet
sich die mexikanische Einwanderung massiv von anderen Einwanderungen.
Erstens haben Einwanderer aus Europa oder Asien Weltmeere zu überqueren;
Mexikaner spazieren über eine Grenze oder durchwaten einen Fluß.
Dies sowie die zunehmende Erleichterung von Transport und Kommunikation
erlauben es ihnen, engen Kontakt zu und die Identifikation mit ihren Heimatgemeinden
zu halten. Zweitens konzentrieren sich mexikanische Einwanderer im Südwesten
der USA und sind Teil einer kontinuierlichen mexikanischen Gesellschaft,
die sich von Yucatán bis Colorado erstreckt. Drittens spricht einiges
dafür, daß der Widerstand gegen eine Assimilation unter mexikanischen
Migranten stärker ist, als er es bei anderen Einwanderergruppen war,
und daß Mexikaner dazu tendieren, ihre mexikanische Identität
zu behalten, wie es 1994 in Kalifomien bei dem Kampf um Proposition 187
offenkundig wurde. Viertens wurde das von mexikanischen Migranten besiedelte
Gebiet seinerseits von den USA annektiert, nachdem sie Mitte des 19. Jahrhunderts
Mexiko besiegt hatten. ( ).
Die wirtschaftliche Entwicklung Mexikos wird mit ziemlicher Sicherheit
mexikanische Revanchegelüste entstehen lassen. Irgendwann könnten
also die Resultate der militärischen Expansion (US-)Amerikas
im 19. Jahrhundert von der demographischen Expansion Mexikos im 21. Jahrhundert
bedroht und möglicherweise umgedreht werden. (S. P. Huntington,
Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 327-328).
Die sich verändernde
Machtbalance zwischen Kulturkreisen stellt den Westen vor wachsende Schwierigkeiten,
seine Ziele etwa zur Nichtweitergabe von Waffen, zu Menschenrechten und Einwanderung
zu vemirklichen. Um seine Verluste in dieser Situation möglichst gering zu
halten, muß der Westen seine wirtschaftlichen Ressourcen im Umgang mit anderen
Gesellschaften geschickt als Zuckerbrot und Peitsche einsetzen, um seine Einheit
zu stärken. Der Westen muß seine politischen Strategien koordinieren,
damit es für andere Gesellschaften schwieriger wird, einen westlichen Staat
gegen den anderen auszuspielen, und er muß Differenzen zwischen nichtwestlichen
Staaten fördern und ausnutzen. Die Fähigkeit des Westens, diese Strategien
zu verfolgen, wird zum einen abhängig sein von der Art und Intensität
der Konflikte mit den Herausforderer-Kreisen, zum anderen davon, wie weit er gemeinsame
Interessen mit den »Pendler«-Kulturen finden und fördern kann.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 330).
Weltpolitik und Kulturkreise
Kernstaatenkonflikte und Bruchlinienkonflikte
Kulturen
sind die ultimativen menschlichen Stämme, und der Kampf der Kulturen ist
ein Stamemskonflikt im Weltmaßstab. In der sich formierenden Welt können
Staaten und Gruppen aus zwei verscheidenen Kulturkreisen miteinander begrenzte,
taktische ad-hoc-verbindungen und -Koalitionen eingehen, entweder, um ihre
Interessen gegen Einheiten eines dritten Kulturkreises wahrzunehmen, oder zu anderen
gemeinsamen Zwecken. Die Beziehungen zwischen Gruppen aus verschiedenen Kulturkreisen
werden jedoch fast niemals eng, sondern für gewöhnlich kühl und
häufig feindselig sein. .... Die Hoffnung auf interkulturelle »Partnerschaften«
... wird sich nicht erfüllen. Die entstehenden interkulturellen Beziehungen
werden normalerweise zwischen Distanziertheit und Gewalt schwanken; die meisten
werden sich irgendwo dazwischen bewegen. .... Der Begriff guerra
fria wurde im 13. Jahrhundert von spanischen Autoren geprägt, um deren
»heikle Koexistenz« mit den Muslimen im Mittelmeerraum zu beschreiben,
und viele sahen in den 1990er Jahren einen neuen »kulturellen kalten Krieg«
zwischen dem Islam und dem Westen ausbrechen. In einer Welt von Kulturkreisen
wird der Begriff nicht nur diese Beziehung zutreffend beschreiben. Kalter Friede,
kalter Krieg, Quasi-Krieg, heikler Friede, gestörte Beziehungen, intensive
Rivalität, rivalisierende Koexistenz, Wettrüsten: diese Wendungen sind
die wahrscheinlichsten Bezeichnungen für Beziehungen zwischen Ländern
aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Vertrauen und Freundschaft werden selten
sein. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 331-332).Dieser
Konflikt nimmt 2 Formen an. Auf der lokalen oder Mikro-Ebene ergeben sich Bruchlinienkonflikte
zwischen benachbarten Staaten aus unterschiedlichen Kulturen, zwischen Gruppen
aus unterschiedlichen Kulturen innerhalb ein und desselben Staates und zwischen
Gruppen, die, wie in der früheren Sowjetunion und im früheren Jugoslawien,
den Versuch unternehmen, neue Staaten auf den Trümmern der alten zu errichten.
Bruchlinienkonflikte sind besonders häufig zwischen Muslimen und Nichtmuslimen
anzutreffen. .... Auf der globalen oder Makro-Ebene ergeben sich Kernstaatenkonflikte
zwischen den großen Staaten unterschiedlicher Kulturkreise. Gegenstand dieser
Konflikte sind die klassischen Streitfragen internationaler Politik, nämlich:
| 1. | relativer
Einfluß bei der Gestaltung globaler Entwicklungen und die Aktionen internationaler
Organisationen wie UNO, IWF und Weltbank; | 2. | relative
militärische Macht; manifestiert sich in Kontroversen über Nichtweiterverbreitung
von Waffen und Rüstungskontrolle und das Wettrüsten; |
3. | wirtschaftliche
Macht und Wohlstand; manifestiert sich in .Streitigkeiten über Handel, Investitionen
und andere verwandte Fragen; | 4. | Menschen;
manifestiert sich in Bemühungen eines Staates der einen Kultur um Schutz
seiner Angehörigen in einer anderen Kultur; um Diskriminierung von Menschen
einer anderen Kultur oder um Ausschluß von Menschen einer anderen Kultur
von seinem Staatsgebiet; | 5. | Wertvorstellungen
und Kultur; hierüber kommt es zu Konflikten, wenn ein Staat den Versuch unternimmt,
seine Wertvorstellungen zu propagieren oder dem Volk einer anderen Kultur aufzuzwingen; |
6. | gelegentliche
Gebietsstreitigkeiten; bei solchen Disputen wer- den Kernstaaten, zu Frontkämpfern
in Bruchlinienkonflikten. | Diese Streitfragen
sind natürlich in der Geschichte der Menschheit immer Konfliktquellen gewesen.
Sobald jedoch Staaten aus verschiedenen Kulturkreisen involviert sind, wird der
Konflikt durch kulturelle Unterschiede verschärft. (S. P. Huntington,
Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 332-333). Im Zuge
ihrer Konkurrenz miteinander versuchen Kernstaaten, ihre Kulturangehörigen
um sich zu sammeln, sich die Unterstützung durch Staaten dritter Kulturkreise
zu sichern, Zwistigkeiten und Spaltung in die Reihen des gegnerischen Kulturkreises
zu tragen und die geeignete Mixtur aus diplomatischen, politischen, wirtschaftlichen
und verdeckten Maßnahmen sowie propagandistische Versprechungen und Zwänge
einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Kernstaaten werden jedoch militärische
Gewalt nicht direkt gegeneinander einsetzen. Ausnahmen sind Situationen, wie sie
im Nahen Osten und auf dem indischen Subkontinent entstanden, wo sie einander
an einer kulturellen Bruchlinie gegenüberstehen. Ansonsten werden Kernstaatenkriege
wohl nur unter zwei Umständen entstehen. Sie könnten sich erstens aus
der Eskalation von Bruchlinienkonflikten zwischen lokalen Gruppen entwickeln,
wenn verwandte Gruppen, einschließlich Kernstaaten, den lokalen Kombattanten
zu Hilfe kommen. Gerade diese Möglichkeit schafft jedoch für die Kernstaaten
in den entgegengesetzten Kulturkreisen einen wesentlichen Anreiz, den Bruchlinienkonflikt
einzudämmen oder zu lösen. Zweitens könnte ein Kernstaatenkrieg
aus Veränderungen des weltweiten Machtgleichgewichtx zwischen den kulturkreisen
resultieren. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S.
333-334).Die Dynamik des Islam ist also die fortdauernde Quelle
vieler relativ kleiner Bruchlinienkriege; der Aufstieg Chinas ist die potentielle
Quelle eines großen interkulturellen Krieges zwischen Kernstaaten.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 334).
Manche Westler, unter ihnen auch (US-)Präsident
Clinton, haben den Standpunkt vertreten, daß der Westen Probleme
nicht mit dem Islam, sondern mit gewalttätigen Fundamentalisten habe.
Die Geschichte der letzten 1400 Jahre lehrt etwas anderes. ( ).
Die Beziehungen zwischen dem Islam und dem Christentum - dem orthodoxen
wie dem westlichen - sind häufig stürmisch gewesen. Sie betrachten
sich gegenseitig als den Anderen. .... Die Ursachen für diese Konfliktmuster
liegen nicht in ... dem christlichen Eifer ... oder dem muslimischen Fundamentalismus
.... Sie entspringen vielmehr der Natur ... dieser beiden Kulturen. ....
Die Ursachen für den erneuten Konflikt zwischen dem Islam und dem
Westen sind also in grundlegenden Fragen der Macht und Kultur zu suchen.
.... Wer [beherrscht] wen ? Diese zentrale Frage jeder Politik ...
ist die Wurzel des Ringens zwischen dem Islam und dem Westen. Es gibt
jedoch einen zusätzlichen Konflikt: den Konflikt zwischen zwei verschiedenen
Auffassungen dessen, was richtig und was falsch ist, und infolgedessen,
wer recht hat und wer nicht recht hat. Solange der Islam der Islam bleibt
(und er wird es bleiben) und der Westen der Westen bleibt (was fraglicher
ist), wird dieser fundamentale Konflikt zwischen zwei großen Kulturkreisen
und Lebensformen ihre Beziehungen zueinander weiterhin und auch in Zukunft
definieren, so wie er sie 1400 Jahre lang ( )
definiert hat. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996,
S. 333-334, 337, 339).
In muslimischen Augen sind Laizismus, Irreligiosität
und daher Unmoral des Westens schlimmere Übel als das westliche Christentum,
das sie hervorgebracht hat.Im Kalten Krieg war für den Westen sein Widersacher
»der gottlose Kommunismus«; im Kampf der Kulturen nach dem Kalten
Krieg ist für Muslime ihr Widersacher »der gottlose Westen«.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 342).Das
tiefere Problem für den Westen ist nicht der islamische Fundamentalismus.
Das tiefere Problem ist der Islam, eine andere Kultur, deren Menschen von der
Überlegenheit ihrer Kultur überzeugt und von der Unterlegenheit ihrer
Macht besessen sind. Das Problem für den Islam sind nicht die CIA oder das
us-amerikanische Verteidigungsministerium. Das Problem ist der Westen, ein anderer
Kulturkreis, dessen Menschen von der Universalität ihrer Kultur überzeugt
sind und glauben, daß ihre überlegene, wenngleich schwindende Macht
ihnen die Verpflichtung auferlegt, diese Kultur über die ganze Erde zu verbreiten.
Das sind die wesentliche Ingredienzien, die den Konflikt zwischen dem Islam und
dem Westen anheizen. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996,
S. 349-350).Wirtschaftliches Wachstum erzeugt politische Instabilität
innerhalb eines Landes und zwischen Ländern, weil es das Gleichgewicht der
Macht zwischen Ländern und Regionen verändert. Wirtschaftsverkehr bringt
die Menschen in Kontakt miteinander; er bringt sie nicht in Übereinstimmung.
Historisch hat er oft ein tieferes Bewußtssein für die Unterschiede
zwischen Völkern geschaffen und auf beiden Seiten Ängste erzeugt. Der
Handel zwischen Ländern erzeugt Profit, aber auch Konflikt. (S. P.
Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 350).China
ist nicht bereit, eine Führungsrolle oder Hegemonie der USA in der Welt zu
akzeptieren; die USA sind nicht bereit, eine Führungsrolle oder Hegemonie
Chinas in Asien zu akzeptieren. Mehr als zwei Jahrhunderte lang haben die USA
den Versuch unternommen, das Entstehen einer dominierenden Macht in Europa zu
verhindern. Fast hundert Jahre lang, seit der Politik der »offenen Tür«
gegenüber China, haben sie das gleiche in Asien versucht. Zur Erreichung
dieser Ziele haben die USA zwei Weltkriege und einen kalten Krieg gegen das kaiserliche
Deutschland, Nazi-Deutschland, das kaiserliche Japan, die Sowjetunion und das
kommunistische China geführt. Dieses (us-)amerikanische
Interesse besteht fort und wurde von den Präsidenten Reagan und Bush bekräftigt.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 369).Seine
Geschichte ..., seine Traditionen, seine Größe und wirtschaftliche
Dynamik und sein Selbstverständnis treiben China dazu, eine Hegemonialstellung
in Ostasien anzustreben. Diese Ziel ist das natürliche Resultat eines rapiden
Wirtschaftswachstums. Alle Großmächte - Großbritannien und Frankreich,
Deutschland und Japan, die USA und die Sowjetunion - haben gleichzeitig mit oder
unmittelbar nach ihrer rapiden Industrialisierung und ihrem wirtschaftlichen Aufschwung
Expansion nach außen, Selbstbewußtsein und Imperialismus demonstriert.
Es gibt keinen Grund für die Annahme, der Erwerb wirtschaftlicher und militärischer
Macht werde in China keine vergleichbaren Folgen haben. Zweitausend Jahre lang
(mehr!) war China die herausragende Macht in Ostasien.
Heute bekräftigen die Chinesen zunehmend ihre Absicht, diese historische
Rolle wieder zu übernehmen und das überlange Jahrhundert der Demütigung
und Unterordnung unter den Westen und Japan zu beenden, das mit dem ihm von Großbritannien
aufgezwungenen Vertrag von Nanking 1842 ( )
begann. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 371).Allgemein
gesprochen, gibt es zwei Möglichkeiten, wie Staaten auf den Aufstieg einer
neuen Macht reagieren können. Sie können, allein oder in Koalition mit
anderen Staaten, ihre Sicherheit zu schützen suchen, indem sie ein Gegengewicht
gegen den aufstrebenden Staat bilden, ihn eindämmen und notfalls gegen ihn
Krieg führen, um ihn zu besiegen. Umgekehrt können Staaten versuchen,
mit der aufstrebenden Macht mitzuhalten, sich ihr anzupassen und im Verhältnis
zu ihr eine sekundäre oder untergeordnete Stellung zu erlangen, in der Erwartung,
daß so ihre zentralen Interessen geschützt werden. Denkbar ist auch,
daß Staaten eine Mischung dieser Politik der Anpassung und der des Gegengewichts
versuchen, was freilich das Risiko in sich birgt, die aufstrebende Macht zu verprellen
und gleichwohl keinen Schutz vor ihr zu haben. Nach der westlichen Theorie der
internationalen Beziehungen ist die Politik des Gegengewichts für gewöhnlich
die erwünschtere Option und ist in der Tat häufiger gewählt worden
als die Politik der Anpassung.
»Generell sollte das Abwägen von Absichten Staaten
zu einer Politik des Gegengewichts ermutigen. Sich-Anpassen ist riskant, weil
es Vertrauen voraussetzt; man hilft einer dominierenden Macht in der Hoffnung,
daß sie wohlwollend bleiben wird. Sicherer ist es, ein gegengewicht zu bilden,
für den Fall, daß die dominierende Macht sich als aggressiv erweist.
Ferner begünstigt das Bündnis mit der schwächeren Seite den eigenen
Einfluß in der resultierenden Koalition, weil die schwächere Seite
mehr auf Hilfe angewisen ist.« (Stephen P. Walt, Alliance Formation in
SW. Asia, 1991, S. 53, 69) | Walts
Analyse der Bündnisbildung in Südwestasien zeigte, daß Staaten
fast immer den Versuch unternahmen, ein Gegengewicht gegen äußere Bedrohung
zu finden. Es wird auch generell angenommen, daß in der ... europäischen
Geschichte meistens die Politik des Gegengewichts die Norm war, wobei die verschiedenen
Mächte ihre Bündnisse veränderten, um die Bedrohungen auszugleichen
und einzudämmen, die sie von Philipp II., Ludwig XIV., Friedrich dem Großen,
Kaiser Wilhelm II. bzw. Hitler ausgehen sahen. Walt räumt aber ein, daß
Staaten »unter gewissen Bedingungen« sich auch für eine Politik
der Anpassung entscheiden können, und wie Randall Schweller ( )
ausführt, ist besonders von revisionistischen Staaten zu erwarten, daß
sie sich an eine aufsteigende Macht anhängen, weil sie mit dem Status quo
unzufrieden sind und von dessen Veränderungen zu profitieren hoffen. Außerdem
erfordert die Politik der Anpassung, wie Walt ausführt, ein gewisses Maß
an Vertrauen in Absichten des mächtigeren Staates. (S. P. Huntington,
Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 373-375). Wollen
die USA die Dominanz Chinas in Ostasien verhindern, müssen sie ihre Beziehungen
zu Japan entsprechend verändern, enge militärische Verbindungen mit
anderen asiatischen Staaten eingehen und ihre Militärpräsenz sowie die
damit einhergehende militärische Einflußnahme in Asien erhöhen.
Sind die USA nicht bereit, die Hegemonie Chinas zu bekämpfen, werden sie
ihren universalistischen Anspruch aufgeben, sich mit dieser Hegemonie arrangieren
und damit abfinden müssen, daß ihre Möglichkeiten, Ereignisse
auf der anderen Seite des Pazifiks mitzugestalten, deutlich beeinträchtigt
sind. Bei beiden Wegen sind enorme Kosten und Risiken zu erwarten. (S. P.
Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 376).Soweit
die Politik des Sich-Anpassens auf Vertrauen beruht, ergeben sich drei Folgerungen.
Erstens wird die Anpassung wahrscheinlich eher zwischen Staaten vorkommen, die
derselben Kultur angehören oder sonst kulturelle Gemeinsamkeiten teilen,
als zwischen Staaten, die jeder kulturellen Gemeinsamkeit ermangeln. Zweitens
wird der Grad des Vertrauens sich wahrscheinlich je nach Kontext verändern.
Ein kleinerer Junge wird zu seinem älteren Bruder halten, wenn es Streit
mit anderen Jungen gibt; er wird weniger leicht geneigt sein, seinem Bruder zu
vertrauen, wenn sie allein zu Hause sind. Daher werden häufigere Interaktionen
zwischen Staaten unterschiedlicher Kulturkreise die Politik der Anpassung innerhalb
eines Kulturkreises zusätzlich ermutigen. Drittens kann die Neigung zu einer
Politik der Anpasung bzw. des Gegengewichts zwischen Kulturkreisen verschieden
sein, weil der Grad des Vertrauens unter deren Angehörigen verschieden ist.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 377-378).Der
Kern jedes sinnvollen Versuchs, ein Gegengewicht gegen China zu bilden und es
einzudämmen, wird das japanisch-(us-)amerikanische
Militärbündnis sein müssen. .... In Ermangelung eines klaren (ohnehin
unwahrscheinlichen) Beweises (us-)amerikanischer
Entschlossenheit wird Japan sich voraussichtlich an China anpassen. Außer
in den 193oer und 1940er Jahren, als es mit katastrophalen Folgen eine einseitige
Eroberungspolitik in Ostasien betrieb, hat Japan historisch seine Sicherheit in
einem Bündnis mit der jeweiligen als relevant und dominierend begriffenen
Macht gesucht. Selbst als es sich in den 1930er Jahren den Achsenmächten
anschloß, verbündete Japan sich mit den damals dynamischsten militärisch-ideologischen
Kräften der Weltpolitik. .... Wie Chinesen betrachten auch Japaner die internationale
Politik als hierarchisch, weil ihre Innenpolitik hierarchisch ist. (S. P.
Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 383).Chinas
wirtschaftliche Dynamik hat bereits Sibirien erfaßt, und nebem koreanischen
und japanischen erkunden und nutzen chinesische Unternehmer die dort sich bietenden
Chancen. Die Russen in Sibirien sehen ihre wirtschaftliche Zukunft zunehmend eher
mit Ostasien als mit ... Rußland verknüpft. Bedrohlicher für Rußland
ist die Einwanderung von Chinesen nach Sibirien. (S. P. Huntington, Kampf
der Kulturen, 1993-1996, S. 394).
|
Abbildung 9) Huntingtons Kulturkreise und Weltpolitik: Potentielle
Konfliktbildungen 
Von Huntingtons 7 - 8 Kulturen sind 3 - 4 nicht eindeutig zuzuordnen
oder existieren (noch) gar nicht ( )
! |
| Die Beziehungen zwischen Kulturkreisen und ihren
Kernstaaten sind kompliziert und häufig ambivalent, und sie verändern
sich. Die meisten Länder werden in der Regel dem Beispiel des Kernstaates,
was die Gestaltung ihrer Beziehungen zu Ländern eines anderen Kreises betrifft.
Aber das wird nicht immer der Fall sein, und offensichtlich haben nicht sämtliche
Länder des einen Kulturkreises identische Beziehungen zu sämtlichen
anderen Ländern eines zweiten. Gemeinsame Interessen - für gewöhnlich
ein gemeinsamer Feind aus einer dritten Kultur - können zur Kooperation zwischen
Ländern verschiedener Kulturkreise führen. Konflikte fallen offensichtlich
auch innerhalb eines Kulturkreises vor, besonders im Islam. Darüber hinaus
können sich die Beziehungen zwischen den Kernstaaten desselben Kulturkreises
unterscheiden. Gleichwohl sind allgemeine Tendenzen erkennbar, und es können
plausible Verallgemeinerungen über die zu erwartenden künftigen Bündnisse
und Antagonismen zwischen Kulturkreisen und Kernstaaten gewagt werden. Sie sind
in Abbildung 9 zusammengefaßt. Die relativ simple Bipolarität des Kalten
Krieges weicht heute den viel komplexeren Beziehungen in einer multipolaren, multikulturellen
Welt. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 398-399).
Von Transitionskriegen zu Bruchlinienkriegen
Transitionskriege
»Der erste Krieg zwischen Kulturen«,
so nannte der bedeutende marokkanische Gelehrte Mahdi Elmandjra seinerzeit den
Golfkrieg. .... Araber und andere Muslime waren sich generell einig, daß
Saddam Hussein ein blutiger Tyrann sein mochte, aber, analog zur Denkweise Franklin
D. Roosevelts: »Es ist unser blutiger Tyrann«. Nach ihrer Auffassung
war seine Invasion eine Familienangelegenheit, die innerhalb der Familie beizulegen
war, und jene Mächte, die im Namen irgendeiner großartigen Theorie
der internationalen Gerechtigkeit intervenierten, taten das, um ihre eigenen,
selbstsüchtigen Interessen zu wahren und die Subordination der arabischen
Welt unter den Westen zu erhalten. .... Für Muslime wurde der Krieg ... rasch
zu einem Krieg zwischen Kulturen, in welchem die Unverlertzbarkeit des Islam auf
dem Spiel stand. .... Mit Argumenten, wonach der Krieg ein Kreuzzug sei, hinter
dem eine westlich-zionistische Verschwörung stecke, wurde die Mobilisierung
eines Dschihad als Antwort auf diese Verschwörung begründet,
ja gefordert. .... Immer wieder wurde die Frage aufgeworfen: Warum reagieren die
USA und die »internationale Staatengemeinschaft« (das heißt:
der Westen) nicht in ähnlicher Weise auf das empörende Verhalten Israels
und dessen Verstöße gegen UN-Resolutionen? (S. P. Huntington,
Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 400, 404, 405, 406, 410).
Merkmale von Bruchlinienkriegen
Bruchlinienkonflikte
sind Konflikte zwischen Gemeinschaften, die Staaten oder Gruppen aus unterschiedlichen
Kulturen angehören. Bruchlinienkriege sind Konflikte, die gewaltsam geworden
sind. .... Wenn sie innerhalb eines Staates weitergehen, dauern sie im Durchschnitt
sechsmal so lange wie zwischenstaatliche Kriege. (S. P. Huntington, Kampf
der Kulturen, 1993-1996, S.411, 412).Bruchlinienkriege finden
... fast immer zwischen Menschen unterschiedlicher Religion statt, da die Religion
das Hauptunterscheidungsmerkmal von Kulturen ist. Manche Analytiker spielen die
Bedeutsamkeit dieses Faktors herunter. Sie verweisen Zum Beispiel auf die gemeinsame
Ethnizität und Sprache, das frühere friedliche Zusammenleben und die
häufigen Mischehen zwischen Serben und Muslimen in Bosnien und tun den religiösen
Faktor unter Hinweis auf Freuds »Narzißmus der kleinen Unterschiede«
ab. Dieses Urteil beruht jedoch auf laizistischer Verblendung. Die Menschheitsgeschichte
zeigt seit Jahrtausenden, daß Religion kein »kleiner Unterschied«
ist, sondern vielmehr der wahrscheinlich tiefgreifendste Unterschied, den es zwischen
Menschen geben kann. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996,
S. 413-414).
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Abbildung 10) Struktur eines Bruchlinienkrieges
d = Diaspora
|
| Bruchlinienkriege sind ... per definitionem Kriege
zwischen Gruppen, die Teil größerer kultureller Einheiten sind. Im
üblichen Konflikt zwischen Gemeinschaften kämpft Gruppe A gegen Gruppe
B, während die Gruppen C, D und E keinen Grund haben, einzugreifen, es sei
denn, A oder B verletzen unmittelbare Interessen von C, D oder E. In einem Bruchlinienkrieg
dagegen kämpft Gruppe A1 gegen Gruppe B1,
und beide Gruppen werden versuchen, den Krieg auszuweiten und sich Unterstützung
von den kulturell verwandten sogenannten Kin-Gruppen (Bluts-
/ Nächstverwandte) A2, A3,
A4 beziehungsweise B2, B3,
B4 zu sichern; diese Gruppen werden sich ihrerseits mit
der kämpfenden Kin-Gruppe identifizieren. Die Erweiterung der Transport-
und Kommunikationsmittel in der modernen Welt hat die Herstellung derartiger Verbindungen
und damit die »Internationalisierung« von Bruchlinienkonflikten erleichtert.
Die modernen Migrationsbewegungen haben Diasporen in Drittkulturen geschaffen.
Die Kommunikationsmittel erleichtern es den kämpfenden Parteien, Hilfe anzufordern,
und den Kin-Gruppen, sich ohne Zeitverlust über das Schicksal jener Parteien
zu informieren. Das Schrumpfen der Welt ermöglicht es Kin-Gruppen, den streitenden
Parteien moralische, diplomatische, finanzielle und materielle Hilfe zukommen
zu lassen - und erschwert es ihnen, solches nicht zu tun. Es entstehen internationale
Netzwerke, um jene Unterstützung zu beschaffen, und die Unterstützung
gibt den Konfliktparteien Kraft und verlängert den Konflikt. Dieses »Kin-Länder-Syndrom«
... ist ein zentraler Aspekt von Bruchlinienkriegen .... (S. P. Huntington,
Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 414-415).
Fallbeispiel: Die blutigen Grenzen des Islam
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Tabelle 3)  |
In dem Maße, wie der Kalte Krieg zu Ende ging, wurden
Konflikte zwischen Gemeinschaften besser sichtbar und wohl auch beherrschender
als früher. Es gab in der Tat so etwas wie einen »Aufschwung ethnischer
Konflikte«. Diese ethnischen Konflikte und Bruchlinienkriege sind nicht
gleichmäßig auf die Kulturkreise der Welt verteilt. .... Die überwiegende
Mehrheit der Bruchlinienkonflikte hat sich ... an der ... Grenze zwischen muslimischer
und nichtmuslimischer Welt ereignet. Während auf der Makroebene der Weltpolitik
der zentrale Kampf der Kulturen derjenige zwischen dem Westen und dem Rest ist,
ist es auf der Mikroebene der lokalen Politik der Kampf zwischen dem Islam und
den anderen. .... Muslime stellen ein Fünftel der Weltbevölkerung, waren
aber in den 1990er Jahren weit mehr als die Menschen jeder anderen Kultur an gewalttätigen
Konflikten zwischen Gruppen beteiligt. Die Beweise hierfür sind erdrückend.
... Drei verschiedene Kompilationen von Daten kommen ... zu demselben Ergebnis:
... Die Grenzen des Islam sind in der Tat blutig, und das Innere ist es ebenfalls.
(Keine Aussage in meinem Essay für Foreign Affairs ist so häufig
kritisert worden wie der Satz: »Der Islam hat blutige Grenzen.« Ich
fällte dieses Urteil nach einem unsystematischen Überblick über
interkulturelle Konflikte. Quantitative Belege aus jeder neutralen Quelle belegn
schlüssig die Gültigkeit meiner Aussage.) (S. P. Huntington, Kampf
der Kulturen, 1993-1996, S. 415-416, 418-419, 420-421).
Ursachen: Geschichte, Demographie, Politik
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Tabelle 4)  |
Was war der Grund dafür, daß Ende des 20. Jahrhunderts
Bruchlinienkriege um sich griffen und Muslime in diesen Konflikten eine entscheidende
Rolle spielten? (Zu den historisch-geographischen
Bedingungen für die magische Kultur vgl. Oswal Spengler ).
Erstens hatten diese Kriege ihre Wurzeln in der Geschichte. .... Es ist ein historisches
Konflikterbe vorhanden; das von allen beschworen und instrumentalisiert werden
kann, die dazu Veranlassung sehen. In diesen Beziehungen ist Geschichte lebendig,
aber auf erschreckende Weise. Nun erklärt eine Geschichte des sporadischen
Gemetzels an sich noch nicht, warum Gewalt ausgerechnet im ausgehenden 20. Jahrhundert
wieder virulent wurde. .... Es müssen in den letzten Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts andere Faktoren ins Spiel gekommen sein. Ein solcher Faktor waren
die Veränderungen des demographischen Gleichgewichts. ( ).
Die zahlenmäßige Ausbreitung der einen Gruppe erzeugt politischen,
wirtschaftlichen und sozialen Druck auf andere Gruppen und ruft Gegendruck hervor.
... Der kritische Punkt ist erreicht, wenn Jugendliche mindestens 20 Prozent der
Gesamtbevölkerung ausmachen. ( )
... Serbische Ängste und serbischer Nationalismus waren durch die steigende
Zahl und wachsende Macht der Kososvo-Albaner (Muslime)
ausgelöst worden, wurden aber noch verstärkt durch die demographischen
Veränderungen in Bosnien (eben: zugunsten der Muslime). .... »Warum wir kleine Kinder töten?«, fragte ein serbischer Kämpfer
1992 und gab sich selbst die Antwort: »Weil wir sie dann nicht mehr zu töten
brauchen, wenn sie irgendwann Erwachsene sind.« .... Veränderungen
des demographischen Gleichgewichts und Jugend-Booms von 20 Prozent und mehr können
viele interkulturelle Konflikte am Ende des 20. Jahrhunderts erklären. Sie
können jedoch nicht alle erklären. .... Es bleibt die Frage, wieso Muslime
Ende des 20. Jahrhunderts weit mehr in Gewalt zwischen Gruppen verwickelt waren
als Menschen anderer Kulturkreise. War dies schon immer der Fall? .... Erstens
hat man das Argument gebracht, daß der Islam seit seinen Anfängen eine
Religion des Schwertes gewesen ist und daß er kriegerische Tugenden verherrlicht.
Der Islam entstand bei »kriegsgewohnten nomadischen Beduinenstämmen«,
und »dieser gewalttätige Ursprung ist in den Grundstein des Islam eingemeißelt.
Mohammed selbst lebt in der Erinnerung der Gläubigen als unermüdlicher
Kämpfer und geschickter Feldherr weiter«. (Niemand würde das von
Christus oder Buddha sagen.) Die Lehren des Islam, so heißt es, gebieten
den Krieg gegen Ungläubige, und als die erste Expansion des Islam langsam
zu Ende ging, begannen muslimische Gruppen ganz entgegen der Lehre, untereinander
zu kämpfen. Das Verhältnis von inneren Konflikten (fitna) zum
Dschihad verschob sich drastisch zugunsten ersterer. Der Koran und andere
Formulierungen muslimischer Glaubenssätze enthalten nur wenige Gewaltverbote,
und die Vorstellung der Gewaltfreiheit ist muslimischer Lehre und Praxis fremd.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 422-423, 424, 427,
429, 429-430).Daß der Westen auf dem Höhepunkt seiner
Machtstellung gegenüber dem Islam die Errichtung einer jüdischen Heimstatt
im Nahen Osten förderte, legte die Grundlage für die bis heute fortdauernde
Feindseligkeit zwischen Arabern und Israelis (und auch Westlern,
weil der Westen es war, der den Juden ein Gebiet gab, das 2000 Jahre lang den
Arabern gehörte!). Die Expansion von Muslimen und Nichtmuslimen auf
dem Festland hatte ... zur Folge, daß Muslime und Nichtmuslime in ganz Eurasien
in großer Nähe zueinander lebten. Im Gegensatz hierzu expandierte der
Westen über die Weltmeere. So gerieten westliche Völker für gewöhnlich
nicht in territoriale Nähe zu nichtwestlichen Völkern: Diese wurden
entweder seiner Herrschaft von Europa aus unterworfen, oder sie wurden - außer
in Südafrika - von westlichen Siedlern praktisch ausgerottet. (S. P.
Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 431).Eine
dritte mögliche Quelle für den Konflikt zwischen Muslimen und Nichtmuslimen
betrifft das, was ein Staatsmann mit Blick auf sein eigenes Land die »Unverträglichkeit«
von Muslimen genannt hat. ( ).
... Noch mehr als das Christentum ist der Islam eine absolutistische Religion.
Er verschmilzt Religion und Politik und zieht einen klaren Trennungsstrich zwischen
den Menschen des Dar-al-Islam und denen im Dar-al-harb. (S.
P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 431).Ein
letzter und der wichtigste Punkt: Die Bevölkerungsexplosion in muslimischen
Gesellschaften und das riesige Reservoir an oft beschäftigungslosen Männern
zwischen 15 und 30 sind eine natürliche Quelle der Instabiliät und der
Gewalt innerhalb des Islam wie gegen Nichtmuslime. Welche anderen Gründe
auch sonst noch mitspielen mögen, dieser Faktor allein erklärt zu einem
großen Teil die muslimische Gewalt der 1980er und 1990er Jahre. Das natürliche
Älterwerden dieser Jugend-Boom-Generation im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts
sowie der wirtschaftliche Aufschwung in muslimischen Gesellschaften, sofern und
sobald diese eintreten, könnten demgemäß zu einer erheblichen
Reduzierung muslimischer Gewaltbereitschaft und damit zu einem generellen Rückgang
der Häufigkeit und Intensität von Bruchlinienkriegen führen.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 433).
Die Dynamik von Bruchlinienkriegen
Einmal ausgebrochen,
entwickeln sich Bruchlinienkriege wie andere Konflikte zwischen Gruppierungen
ein Eigenleben und entwickeln sich nach dem Schema von Aktion und Reaktion, Druck
und Gegndruck. Identitäten, die früher vielfältig und beiläufig
gewesen waren, fokussieren und verfestigen sich: Konflikte zwischen Gruppierungen
nennt man zutreffend »Identitätskriege«. Mit zunehmender Gewalt
werden die ursprünglichen Streitfragen im Sinne eines »Wir gegen sie«
umdefiniert, und Zusammenhalt und Engagement der Gruppe nehmen zu. Politische
Führer erweitern und vertiefen ihre Appelle an die ethnische und religiöse
Loyalität. Das Kulturbewußtsein steigert sich im Verhältnis zu
anderen Identitäten. Es entsteht eine »Haßdynamik«, vergleichbar
dem »Sicherheitsdilemma« in internationalen Beziehungen, bei dem Ängste,
Mißtrauen und Haß beider Seiten einander verstärken. Jede Seite
dramatisiert und vergrößert den Unterschied zwischen den Mächten
des Guten und den Mächten des Bösen und versucht schließlich,
aus diesem Unterschied den definitiven Unterschied zwischen den Lebendigen und
den Toten zu machen. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996,
S. 434).Wenn Revolutionen ihren Fortgang
nehmen, geraten Gemäßigte, Girondisten, Menschewiken ins Hintertreffen
gegenüber Radikalen, Jakobinern, Bolschewiken. Ein ähnlicher Vorgang
tritt oft in Bruchlinienkriegen auf. Genäßigte mit eher begrenzten
Zielen, etwa der Erreichung der Autonomie anstelle der Unabhängigkeit, erreichen
ihre Ziele nicht durch Verhandlungen, die fast immer zunächst scheitern,
und werden von Radikalen verdrängt oder verstärkt, die entschlossen
sind, radikalere Ziele mit Gewalt durchzusetzen. (S. P. Huntington, Kampf
der Kulturen, 1993-1996, S. 434-435).  Bruchlinienkriege
sind per definitionem ( )
lokale Kriege zwischen lokalen Gruppen mit weiterreichenden Verbindungen und fördern
damit die kulturelle Idendität der an ihnen Beteiligten. .... Bei Bruchlinienkriegen
gibt es für jede Seite Gründe, nicht nur die eigene kulturelle Identität,
sondern auch die der Gegenseite zu unterstreichen. Sie versteht ihren lokalen
Krieg nicht bloß als Kampf gegen eine andere lokale ethnische Gruppe, sondern
als Kampf gegen eine andere Kultur. Die Bedrohung wird daher durch die Ressourcen
einer führenden Kultur vergrößert und untermauert, und eine Niederlage
hat Konsequenzen nicht nur an sich, sondern für die ganze eigene Kultur.
Daher die dringende Notwendigkeit, in dem Konflikt die eigene Kultur hinter sich
zu vergattern. Der lokale Krieg wird umdefiniert zu einem Krieg der Religionen,
einem Kampf der Kulturen, und befrachtet mit Konsequenzen für weiteste Teile
der Menschheit. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996,
S. 437, 441-442).Im früheren Jugoslawien sahen die Kroaten
sich selbst als unerschrockene Grenzposten des Westens gegen den Ansturm der Orthodoxie
und des Islam. .... Die Grenze Kroatiens ist letzten Endes die Grenze Europas.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 442, 443).  Wenn
... Konflikte Gruppen aus verschiedenen Kulturen betreffen, neigen sie dazu, um
sich zu greifen und zu eskalieren. In dem Maße, wie der Konflikt intensiver
wird, unternimmt jede Seite den Versuch, Unterstützung aus Ländern und
von Gruppen zu mobilisieren, die zur eigenen Kultur gehören. Unterstützung
in der einen oder anderen Form - offiziell oder inoffiziell, offen oder verdeckt,
materiell, personell, diplomatisch, finanziell, symbolisch oder militärisch
- ist von einem oder mehreren Kin-Ländern oder Kin-Gruppen immer zu erwarten.
( )
Je länger der Bruchlinienkrieg dauert, desto wahrscheinlicher ist es, daß
Kin-Länder unterstützend, eindämmend und vermittelnd tätig
werden. Infolge dieses »Kin-Land-Syndroms« bergen Bruchlinienkonflikte
ein viel höheres Eskalationspotential in sich als intrakulturelle Konflikte
und bedürfen zu ihrer Eindämmung und Beendigung für gewöhnlich
interkulturelle Kooperation. .... Staaten und Gruppen sind in unterschiedlich
hohem Maße in Bruchlinienkriege verwickelt. Auf einer primären Ebene
gibt es diejenigen Parteien, die tatsächlich kämpfen und einander töten.
Das können Staaten sein, wie zum Beispiel in den Kriegen zwischen Indien
und Pakistan oder zwischen Israel und seinen Nachbarn; es können aber auch
lokale Groppen sein, die keine Staaten oder bestenfalls ansatzweise Staaten sind,
wie dies in Bosnien und bei den Berg-Karabach-Armeniern der Fall war. Diese Konflikte
können auch Beteiligte auf einer sekundären Ebene aufweisen, für
gewöhnlich Staaten, die mit den Primärparteien direkt in Verbindung
stehen, wie zum Beispiel die Regierungen Serbiens und Kroatiens im früheren
Jugoslawien oder diejenigen Armeniens und Aserbaidschans im Kaukasus. Mit dem
Konflikt noch loser verknüpft sind Tertiärstaaten, die vom aktuellen
Kampfgeschehen noch weiter entfernt sind, aber kulturelle Bindungen an die Beteiligten
haben, wie etwa Deutschland, Rußland und die islamischen Staaten im Hinblick
auf das flühere Jugoslawien; oder Rußland, die Türkei und der
Iran im Falle des armenisch-aserbaidschanischen Streits. Diese Beteiligten der
dritten Ebene sind häufig die Kernstaaten ihrer Kultur. Wo es eine Diaspora
der primär Beteiligten gibt, spielt auch sie in Bruchlinienkriegen eine Rolle.
( ).
Angesichts der geringen Zahl von Menschen und Waffen, die für gewöhnlich
auf der primären Ebene eingesetzt werden, kann eine vergleichsweise bescheidene
äußere Hilfe in Form von Geld, Waffen oder Freiwilligen oft eine beträchtliche
Auswirkung auf den Ausgang des Krieges haben. (S. P. Huntington, Kampf
der Kulturen, 1993-1996, S. 444-446).
Schauplatz der komplexesten, verwirrendsten und umfassendsten
Abfolge von Bruchlinienkriegen Anfang der 1990er Jahre war das frühere
Jugoslawien. Auf der primären Ebene kämpften in Kroatien die
kroatische Regierung und Kroaten gegen die kroatischen Serben und in Bosnien-Herzegowina
die bosnische Regierung gegen die bosnischen Serben und bosnischen Kroaten,
die sich auch gegenseitig bekämpften. Auf der sekundären Ebene
trat die serbische Regierung für ein »Großserbien«
ein, indem sie die bosnischen und kroatischen Serben unterstützte.
Die kroatische Regierung strebte ein »Großkroatien«
an und unterstützte die bosnischen Kroaten. Auf der tertiären
Ebene kam es zu einer massiven kulturellen Sammlungsbewegung: Deutschland,
Österreich, der Vatikan, andere katholische Länder und Gruppierungen
Europas und später die USA engagierten sich zugunsten Kroatiens;
Rußland, Griechenland und andere orthodoxe Länder und Gruppen
stellten sich hinter die Serben; der Iran, Saudi-Arabien, die Türkei,
Libyen, die islamistische Internationale und islamische Länder generell
begünstigten die bosnischen Muslime. Diese erhielten Unterstützung
auch von den USA (!?! )
- eine kulturell nicht zu erklärende Anomalie in dem ansonsten einheitlichen
Bild »Kin-Gruppe stützt Kin-Gruppe«. ( ).
Die kroatische Diaspora in Deutschland und die bosnische Diaspora in der
Türkei kamen ihrer jeweiligen Heimat zu Hilfe. Auf allen drei Seiten
wurden Kirchen und religiöse Gruppen aktiv. Zumindest die Aktionen
der deutschen, türkischen, russischen und (us-)amerikanischen
Regierung wurden erheblich von Pressure-Groups und von der öffentlichen
Meinung in ihren Ländern beeinflußt. Die Unterstützung
durch Sekundär- und Tertiärparteien war entscheidend für
die Art der Kriegsführung, die von ihnen auferlegten Zwänge
waren ausschlaggebend für die Beendigung des Krieges. Die kroatische
und die serbische Regierung stellten ihrem Volk, das in anderen Republiken
kämpfte, Waffen, Nachschub, Geldmittel, Zufluchtsmöglichkeiten
und mitunter auch Streitkräfte zur Verfügung. Serben, Kroaten
und Muslime empfingen substantielle Hilfe durch ihre kulturelle Verwandtschaft
außerhalb des früheren Jugoslawiens in Form von Geld, Waffen,
Nachschub, Freiwilligen, miltärischer Ausbildung sowie politischer
und diplomatischer Unterstützung. Die primär und auf nichtstaatlicher
Ebene beteiligten Serben und Kroaten waren generell die extremsten Nationalisten,
die unerbittlichsten in ihren Forderungen und die militantesten bei der
Verfolgung ihrer Ziele. Die sekundär beteiligten Regierungen Kroatiens
und Serbiens unterstützen zunächst sehr nachdrücklich ihre
primär beteiligte Kin-Gruppe, wurden aber später mit Rücksicht
auf ihre eigenen, differenzierteren Interessen dazu gebracht, eine mehr
mäßigende und eindämmende Rolle zu spielen. Parallel dazu
drängten die tertiär beteiligten Regierungen Rußlands,
Deutschlands und Amerikas die sekundären Regierungen, denen sie bis
dahin den Rücken gestärkt hatten, zu Zurückhaltung und
Kompromißbereitschaft. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen,
1993-1996, S. 460-461).
Das Auseinanderbrechen Jugoslawiens begann
1991, als Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit erklärten und die
westeuropäischen Mächte um Unterstützung baten. Die Antwort des
Westens wurde durch Deutschland festgelegt; die Antwort Deutschlands wurde zum
großen Teil durch die katholische Schiene festgelegt. Die deutsche Regierung
wurde von der katholischen Hierarchie Deutschlands, dem bayerischen Koalitionspartner
CSU sowie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und anderen Medien zum Handeln
gedrängt. Besonders die bayerischen Medien spielten eine ausschlaggebende
Rolle dabei, in Deutschland Stimmung für die Anerkennung der beiden Länder
zu machen. Flora Lewis schrieb: »Das bayerische Fernsehen, das stark unter
dem Druck der sehr konservativen bayerischen Regierung und der starken, selbstbewußten
katholischen Kirche mit ihren guten Verbindungen zur Kirche Kroatiens steht, lieferte
die Fernsehberichte für ganz Deutschland, als der Krieg mit den Serben im
Ernst begann. Die Berichterstattung war sehr einseitig.« Die Regierung zögerte
mit der Anerkennung, hatte aber angesichts des Drucks von seiten der deutschen
Öffentlichkeit kaum eine andere Wahl. »Die Unterstützung für
die Anerkennung Kroatiens wurde in Deutschland von der öffentlichen Meinung
herbeigezwungen, nicht von der Regierung angeboten.« Deutschland drängte
die Europäische Union zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens und preschte
vor, als dies sichergestellt war, um beide Länder noch vor der EU im Dezember
1991 anzuerkennen. »Während des ganzen Konflikts«, bemerkte ein
deutscher Wissenschaftler 1995, »betrachtete Bonn Kroatien und dessen Führer
Franjo Tudjman als eine Art Protégé der deutschen Außenpolitik,
dessen erratisches Verhalten ärgerlich war, der aber trotzdem immer auf die
feste Unterstützung durch Deutschland zählen konnte.« Österreich
und Italien schlossen sich der Anerkennung unverzüglich an, und sehr schnell
folgten die übrigen westlichen Länder einschließlich der USA.
Auch der Vatikan spielte eine zentrale Rolle. Der Papst erklärte Kroatien
zum »Schutzwall des [westlichen] Christentums« und beeilte sich ebenfalls,
die beiden Länder noch vor der Europäischen Union anzuerkennen. Der
Vatikan wurde damit Partei in dem Konflikt, was 1994 Konsequenzen hatte, als der
Papst Besuche in allen drei Republiken plante. Der Widerstand der orthodoxen Kirche
Serbiens verhinderte, daß er nach Belgrad kam, und die Nichtbereitschaft
der Serben, Sicherheitsgarantien zu geben, führte zur Absage seines Besuches
in Sarajevo. Er kam jedoch nach Zagreb, wo er Kardinal Alojzieje Septinac ehrte,
der im Zweiten Weltkrieg mit dem faschistischen Regime Kroatiens in Verbindung
stand, das Serben, Zigeuner und Juden verfolgt und umgebracht hatte. (S.
P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 461-463).Die
jugoslawischen Kriege bewirkten auch einen praktisch einmütigen Schulterschluß
der Orthodoxen mit Serbien. Russische Nationalisten, Offiziere, Parlamentarier
und Führer der orthodoxen Kirche hielten mit ihrer Unterstützung Serbiens,
ihrer Geringschätzung der bosnischen »Türken« und ihrer
Kritik am Imperialismus des Westens und der NATO nicht hinter dem Berg. Russische
und serbische Nationalisten arbeiteten Hand in Hand und schürten in beiden
Ländern den Widerstand gegen die »neue Weltordnung« im Sinne
des Westens. Breite Teile der russischen Bevölkerung sympathisierten mit
ihnen; so lehnten zum Beispiel 60 Prozent der Einwohner Moskaus im Sommer 1995
NATO-Luftangriffe ab. In mehreren Großstädten warben russische Nationalisten
erfolgreich junge Russen für »die Sache der slawischen Brüderschaft«
an. Berichten zufolge meldeten sich tausend und mehr junge Russen sowie Freiwillige
aus Griechenland und Rumänien zu den serbischen Streitkräften, um gegen
»katholische Faschisten« und »islamische Militante« zu
kämpfen. 1992 soll Berichten zufolge eine russische Einheit »in Kosakenuniform«
in Bosnien operiert haben. 1995 dienten Russen in serbischen Eliteeinheiten, und
einem UNO-Bericht zufolge waren russische und griechische Kämpfer am serbischen
Angriff auf die UNO-Schutzzone Zepa beteiligt. (S. P. Huntington, Kampf
der Kulturen, 1993-1996, S. 464-465).Trotz der Wirtschaftssanktionen
konnte sich Serbien relativ gut versorgen dank des massiven Treibstoff- und sonstigen
Schmuggels teils aus Timisoara (organisiert von rumänischen Regierungsbeamten),
teils aus Albanien (organisiert von italienischen, später von griechischen
Gesellschaften mit stillschweigendem Einverständnis der griechischen Regierung).
Ladungen mit Lebensmitteln, Chemikalien, Computern und anderen Waren aus Griechenland
gelangten über Mazedonien nach Serbien, entsprechende Mengen serbischer Exporte
gelangten heraus. Die Lockungen des Dollars in Verbindung mit der Smpathie für
die kulturelle Verwandtschaft machten die Wirtschaftssanktionen der UNO gegen
Serbien ebenso zu einem Witz wie das Waffenembargo der UNO gegen alle früheren
jugoslawischen Teilrepubliken. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen,
1993-1996, S. 465-466).Der umfassendste und effizienteste kulturelle
Schulterschluß war der der muslimischen Welt mit den bosnischen Muslimen.
... Die bei weitem wichtigste Hilfe, die die Umma den bosnischen Muslimen
gewährte, war militärischer Beistand: Waffen, Geld zum Ankauf von Waffen,
militärische Ausbildung und Freiwillige. (S. P. Huntington, Kampf
der Kulturen, 1993-1996, S. 468, 471).Der
Krieg in Bosnien war ein Krieg der Kulturen. Die drei Priimärbeteiligten
gehörten zu unterschiedlichen Kulturkreisen und hingen unterschiedlichen
Religionen an. Mit einer partiellen Ausnahme entsprach die Beteiligung von Sekundär-
und Tertiär-Akteuren genau diesem kulturellen Muster. .... Die eine partielle
Ausnahme von diesem kulturellen Muster waren die USA ( )
.... Durch dieses Verhalten verärgerten die USA ihre Verbündeten und
lösten eine ... gravierende Krise in der NATO aus. .... Die Frage ist also:
Wie kommt es, daß die USA während und nach dem Krieg das einzige Land
waren, das aus dem kulturellen Gleis ausscherte, um als einziges nichtmuslimisches
Land die Interessen der bosnischen Muslime zu vertreten und mit muslimischen Ländern
zu ihren Gunsten zusammenzuarbeiten? ( ).
Wie erklärt sich diese ... Anomalie? ( )
.... Idealismus, Moralismus, humanitäre Instinkte, Naivität und Unkenntnis
der Verhältnisse auf dem Balkan: dies alles bewog die USA, probosnisch ...
zu sein. .... Durch ihre Weigerung, den Krieg als das zu sehen, was er war, stieß
die amerikanische Regierung ihre Verbündeten vor den Kopf, verlängerte
die Kämpfe und trug dazu bei, auf dem Balkan einen muslimischen Staat entstehen
zu lassen .... Am Ende empfanden die Bosnier tiefe Bitterkeit gegen die USA ...
und tiefe Dankbarkeit gegen ihre muslimischen Verwandten .... (S. P. Huntington,
Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 474, 475, 477). Deshalb
heißt es ja auch: Das ist dann der Dank! ![Zur Anomalie (USA und deren Fehlleistungen [Fehler]) Zur Anomalie](bilder/bunte_kometen_kugelverlauf_03.jpg) Bruchlinienkriege
sind sporadische Kriege, Bruchlinienkonflikte schwelen endlos. (S. P. Huntington,
Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 479).Das Abkommen von
Dayton gründete auf Vorschlägen, die von der »Kontaktgruppe«,
das heißt den interesiierten Kernstaaten (Deutschland, Großbritannien,
Frankreich, Rußland und USA) ausgearbeitet worden waren. Allerdings war
keine der anderen tertiären Perteien an der Ausarbeitung der endgültigen
Vereinbarung enger beteiligt, und zwei der der drei Primärparteien des Krieges
standen bei den Verhandlungen abseits. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen,
1993-1996, S. 483).Robert Putnam hat anschaulich
gemacht, wie sehr Verhandlungen zwischen Staaten ein »Zwei-Ebenen-Spiel«
sind: Die Diplomaten verhandeln sowohl mit Zielgruppen in ihrer eigenen Heimat
als auch gleichzeitig mit ihren Kollegen aus dem anderen Land. In einer analogen
Untersuchung hat Huntington (The Third Wave: Democratization
in the Late Twentieth Century, 1991, S. 121-163 )
gezeigt, wie Reformer in einer autoritären Regierung, die mit Gemäßigten
in der Opposition über den Übergang zur Demokratie verhandeln, gleichzeitig
mit den Hardlinern in der eigenen Regierung verhandeln oder fertig werden müssen,
während die Gemäßigten dasselbe mit den Radikalen in der Opposition
tun müssen. ( ).
Diese Zwei-Ebenen-Spiele erfordern ein Minimum von vier Parteien und mindestens
drei, oft sogar vier Beziehungen zwischen ihnen. Ein komplexer Bruchlinienkrieg
ist ein Drei-Ebenen-Krieg mit mindestens sechs Parteien und mindestens sieben
Beziehungen zwischen ihnen (siehe Abbildung 10 ).
Horizontale Beziehungen über die Bruchlinie hinweg existieren zwischen den
Primär-, Sekundär- und Tertiärparteien beider Seiten. Vertikale
Beziehungen existieren zwischen den verschiedenen Ebenen innerhalb jeder Kultur.
Um eine Einstellung der Kämpfe in einem diesem Modell entsprechenden »ausgewachsenen«
Krieg zu erreichen, sind folgende Faktoren erforderlich: |
aktives Engagement der Sekundär- und Tertiärparteien; | | Verhandlungen
zwischen den Tertiärparteien um die Rahmenbedingungen für eine Beendigung
der Kämpfe; | | eine
Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik der Tertiärparteien, um die Sekundärparteien
zur Annahme dieser Bedingungen zu bewegen und auch die Primärparteien zu
deren Annahme zu drängen; | | Entzug
der Unterstützung der Primärparteien und letzten Endes deren Verrat
durch die Sekundärparteien; | | infolge
dieses Druckes Annahme der Bedingungen durch die Primärparteien, die selbstverständlich
gegen sie verstoßen werden, wenn dies in ihrem Interesse zu liegen scheint. | Der
Friedensprozeß in Bosnien wies alle diese Elemente auf. Bemühungen
einzlener Akteure, ... eine Vereinbarung zu treffen, blieben bemerkenswert erfolglos.
Die westlichen Mächte zögerten, Rußland als gleichberechtigten
Partner in den Prozeß einzubeziehen. (S. P. Huntington, Kampf der
Kulturen, 1993-1996, S. 484-485).Deutschland und andere westliche
Staaten unterstützten und stärkten zwar Kroatien, vermochten das Verhalten
der Kroaten aber auch zu zügeln. Präsident Tudjman war zutiefst darauf
erpicht, daß sein katholisches Land als europäisches Land anerkannt
und in europäische Organisationen aufgenommen werden würde. Die westlichen
Mächte nutzten sowohl die diplomatische, wirtschaftliche und militärische
Unterstützung, die sie Kroatien gewährten, als auch den Wunsch der Kroaten
nach Zugehörigkeit zum »Club«, um Tudjman in vielen Streitfragen
kompromißbereit zu stimmen. Im März 1995 wurde Tudjman vor Augen geführt,
daß er dem Verbleib der UN-Schutztruppe in der Krajina zustimmen müsse,
falls Kroatien Teil des Westens zu werden wünsche. Ein europäischer
Diplomat sagte damals : »Der Anschluß an den Westen ist für Tudjman
sehr wichtig. Er will nicht mit den Serben und den Russen allein zurückbleiben.«
Man gab ihm auch zu verstehen, daß seine Truppen ethnische Säuberungen
zu unterlassen hätten, als sie in der Krajina und anderswo von Serben bewohnte
Gebiete eroberten, und daß er auf die Ausweitung seiner Offensive nach Ostslawonien
verzichten müsse. In einer anderen Streitfrage wurde den Kroaten bedeutet,
daß für sie... »das Tor zum Westen auf ewig verschlossen bleiben«
werde, falls sie nicht der Föderation mit den Muslimen beiträten. Als
wichtigste ausländische Quelle der Finanzhilfe für Kroatien war besonders
Deutschland in einer starken Position, das Verhalten der Kroaten zu beeinflussen.
Die enge Beziehung, welche die USA zu Kroatien aufbauten, trug ebenfalls dazu
bei, Tudjman wenigstens noch 1995 an der Realisierung seines oft geäußerten
Wunsches zu hindern, Bosnien-Herzegowina zwischen Kroatien und Serbien aufzuteilen.
Im Gegensatz zu Rußland und Deutschland fehlte den USA die kulturelle Gemeinsamkeit
mit ihrem bosnischen Klienten, weshalb sie in einer schwachen Position waren und
die Muslime kaum durch Druck zu Kompromissen bewegen konnten. (S. P. Huntington,
Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 487).Alein
auf sich gestellt können Primärbeteiligte einen Bruchlinienkrieg nicht
beenden. Die Einstellung solcher Kriege und die Verhinderun ihrer eskalation ...
hängt in erster Linie von den Interessen und Handlungen der Kernstaaten der
großen Kulturkreise der Welt ab. Ein Bruchlinienkrieg kocht von unten her
hoch, ein Bruchlinienfrieden sickert von oben herab. (S. P. Huntington,
Kampf der Kulturen, 1993-1996, S. 491). |