Wer sich ... nach den allgemeinen Prämissen der Entlastung im Zeitalter
ihrer technischen Steigerung erkundigen wollte, würde am ehesten bei den
französischen Frühsozialisten fündig werden, namentlich bei Saint-Simon
und seiner Schule, in deren Publizistik - ihre Zeitschrift trug nicht ohne Grund
den Namen Le Globe - sich die ersten Züge einer expliziten Politik
der Verwöhnung in gattungstheoretischer Perspektive nachweisen lassen. Auf
den Saint-Simonismus geht die bis heute in Theorie und Praxis gültige Formel
der Entlastungsära zurück, nach welcher mit der Heraufkunft der großen
Industrie irn 18. Jahrhundert die Stunde geschlagen habe, die »Ausbeutung
des Menschen durch den Menschen« zu beenden und statt ihrer die methodische
Ausbeutung der Erde durch den Menschen einzuleiten. Im gegebenen Kontext läßt
sich der epochale Gehalt dieser Wendung würdigen: Durch sie wird die Menschengattung,
vertreten von ihrer Avantgarde, den Schichten der Industriellen, als Begünstigter
einer umfassenden Entlastungsbewegung identifiziert - oder, in der Terminologie
jener Zeit: als Subjekt einer Emanzipation. Deren Ziel wurde durch das säkular-evangelische
Wort von der Auferstehung des Fleisches zu Lebzeiten markiert. (Jürgen
Großmann, in: Cicero, 2005, S. 349).
Dergleichen war nur unter
der Voraussetzung zu denken, daß die typische Gewichteverteilung in agro-imperialen
Klassengesellschaften, die Entlastung und Freisetzung der herrschenden Wenigen
durch die Exploitation der dienenden Vielen, revidierbar sei aufgrund einer Entlastung
aller Klassen durch einen neuen allgemeinen Diener, die großtechnisch in
Regie genommene Ressourcen-Erde. Was daS. Saint-simonistische Schlüsselwort
Ausbeutung, Exploitation, in prozeßlogischer Sicht bedeutet, ist erst explizit
artikulierbar geworden, nachdem die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts,
vor allem infolge von Arnold Gehlens Bemühungen, einen hinreichend abstrakten
Begriff der Entlastung entwickelt hat. (Zur Auseinandersetzung
mit diesem Begriff vgl. Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume,
Kapitel 3, 2. Abschnitt: Die Mängelwesen-Fiktion, S. 699-711. Dort
wird gezeigt, daß Gehlen aufgrund seiner institutionalistischen Interessen
nur den illiberalen Strang von Konsequenzen aus dem Begriff entwickelt hat.).
Seit den Kulturwissenschaften dieses Konzept zur Verfügung steht, lassen
sich allgemeine Aussagen über die Evolutionsrichtung hochtechnologischer
sozialer Komplexe formulieren, die systemmisch und psychologisch um einiges griffiger
sind als die fühlbar naiven Emanzipations- und Fortschrittsthesen des 19.
Jahrhunderts. Bindet man das Phänomen wie den Begriff Entlastung an die Saint-Simonsche
Exploitation zurück, wird evident, daß der bezeichnete Effekt für
die Vielen nicht zu erreichen ist ohne eine Ausbeutungsverschiebung auf neues
Unten. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S.
349-350). Vor diesern Hintergrund läßt sich die These
aufstellen, daß alle Erzählungen von den Wandlungen der conditio
humana Erzählungen über die sich ändernde Ausbeutung von Energiequellen
sind - beziehungsweise Beschreibungen von metabolischen Regimen. (Vgl. Rolf Peter
Sieferle, Gesellschaft im Übergang, in: Archäologie der Arbeit,
Hrsg.: Dirk Baecker, 2002, S. 117-154). Dieser Satz ist nicht nur um eine Dimension
allgemeiner als das Marx-Engelssche Dogma, alle Geschichte sei die Geschichte
von Klassenkämpfen, er ist auch den empirischen Befunden um vieles angemessener.
Seine Allgemeinheit reicht weiter, sofern er natürliche wie menschliche Energien
(»Arbeitskraft«) in sich faßt; um seine Angemessenheit an die
Tatsachen steht es besser, weil er den schlechten Historismus der Doktrin zurückweist,
nach der alle Zustände menschlicher Kultur in einer einzigen evolutionären
Sequenz aus Konflikten zusammenhängen; überdies zieht er trotz seines
hohen Abstraktionsgrades keine Verzerrung der überlieferten Daten nach sich.
Eine solche lag in dem polemogenen Lehrstück des Kommunistischen Manifests
vor, das von der Wirklichkeit der Klassenkompromisse schwieg, um das vergleichsweise
seltene Phänomen offener Klassenkämpfe normativ zu generalisieren -
auf die Gefahr hin, den Sklaven- und Bauernaufständen der älteren Geschichte,
mitsamt ihren verzweifelten, konzeptlosen, oft wandalischen Tendenzen, exemplarische
Bedeutungen für die Umverteilungskämpfe von Lohnempfängern zuzusprechen.
(Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 350-351).
Die Erzählung von der Ausbeutung der Energiequellen erreicht ihren
aktuellen hot spot, sobald sie dem Ereigniskomplex näherkommt, den
die ältere wie die jüngere Sozialgeschichte unisono die »Industrielle
Revolution« nennt - eine Fehlbezeichnung, wie wir inzwischen wissen, da
es sich auch hierbei keineswegs um einen »umwälzenden« Vorgang
handelt, bei dem Oben und Unten die Plätze tauschen, sondern um die Explizitmachung
der Produktherstellung mittels maschineller Substitute für menschliche Bewegungen.
Der Schlüssel zum Übergang von der Menschenarbeit zur Maschinenarbeit
(und zu neuen Mensch-Maschine-Kooperationen) liegt bei der Koppelung von Kraftsystemen
mit Ausführungssystemen. Solche Koppelungen waren im Zeitalter der körperlichen
Arbeit eher in der Latenz geblieben, sofern der Arbeiter selbst, als biologischer
Energiekonverter, die Einheit von Kraft- und Ausführungssystem bildete. Nachdem
aber bei den mechanischen Kraftsystemen ein folgenschwerer Innovationssprung stattgefunden
hatte, konnten sie ins Stadium expliziter Ausarbeitung übergehen. (Peter
Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 351).
Damit beginnt das Epos der Motoren: Mit ihrer Konstruktion betritt eine
neue Generation heroischer Agenten die Zivilisationsbühne, aufgrund deren
Erscheinen die energetischen Spielregeln der herkömmlichen Kulturen sich
radikal verändern. Seit die Motoren unter uns sind, nehmen selbst physikalische
und philosophische Begriffe wie Kraft, Energie, Ausdruck, Handeln und Freiheit
radikal neue Bedeutungen an. Obschon es sich bei ihnen normalerweise um gezähmte
Kräfte handelt, hat die Mythologie des Bürgertums doch deren ungefesselte,
potentiell katastrophische Seite nie ganz aus dem Auge verloren und diese durch
Reminiszenzen an das prä-olympische Geschlecht titanischer Gewaltgottheiten
umschrieben. Daher die tiefe Faszination, die von explodierenden Maschinen, ja
von Explosionen überhaupt, ausstrahlt. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum
des Kapitals, 2005, S. 351-352). Seit die Neo-Titanen
inmitten moderner Lebenswelten aufgetaucht sind, haben sich die Nationen in Einwanderungsländer
für Kraftmaschinen gewandelt. Ein Motor ist gewissermaßen ein Energiesubjekt
ohne Kopf, das aus Interesse an der Nutzung seiner Kraft ins Dasein gesetzt wurde.
Vom Täter besitzt er jedoch nur die Eigenschaften, die an den Antrieben haften,
ohne mit Ausführungen oder Reflexionen belastet zu sein. Als geköpftes
Subjekt geht der Motor nicht von der Theorie zur Praxis über, sondern vom
Stillstand zum Betrieb. Was bei menschlichen Subjekten, die zur Tat schreiten
sollen, die Enthemmung zu leisten hat, wird bei Motoren von der Startvorrichtung
bewirkt. Motoren sind perfekte Sklaven, bei denen sich keine menschenrechtlichen
Bedenken einmischen, wenn man sie Tag und Nacht beansprucht. Sie hören nicht
auf abolitionistische Prediger, die einen Traum haben - den Traum von einem nicht
mehr fernen Tag, an dem die Motoren und ihre Besitzer gleiche Rechte genießen
und die Kinder der Menschen und der Maschinen miteinander spielen. (Peter
Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 352).
Um die Motoren als Kulturagenten systematisch zu integrieren, sind Treibstoffe
von ganz anderer Natur vonnöten als die Nahrungsmittel, mit denen die menschlichen
und tierischen Träger der muskulären Arbeit in der agro-imperialen Welt
am Leben erhalten wurden. Daher gehören in dem Epos der Motoren die dramatischsten
Abschnitte den Gesängen von der Energie. Man darf soweit gehen, die Frage
aufzuwerfen, ob nicht die Formulierung des abstrakten, homogenen Energiebegriffs,
der Energie sans phrase, durch die moderne Physik nur der szientifische
Reflex des Prinzips Motorisierung sei, mit dem die unspezifische Koppelung zwischen
Nahrung und Organismus ersetzt wurde durch die präzise Relation zwischen
Treibstoff und Kraftmaschine. Mit der Auslagerung der Kraft aus dem Organismus
beginnt ein Passus in der großen Erzählung von den Verfahren und Stadien
der Energiequellenausbeutung, der alle Voraussetzungen mitbringt, ein immerwährendes
letztes Kapitel zu diktieren. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des
Kapitals, 2005, S. 352-353). Die große Erzählung
von der Entlastung bei den Modernen setzt bekanntermaßen ein mit dem Bericht
über die massive Invasion der ersten mechanischen Sklavengeneration, die
seit dem 18. Jahrhundert unter dem Namen Dampfmaschine in den entstehenden Industrielandschaften
Nordwesteuropas eingebürgert wurde. Im Blick auf diese neuen Agenten legten
sich mythologische Assoziationen besonders nahe, da das Wirkungsprinzip dieser
Maschinen, der Ausdehnungsdruck des eingesperrten Wasserdampfs, ohne weiteres
an die zur unterirdischen Fesselung verurteilten Titanen der griechischen Theogonie
denken läßt. Da der Wasserdampf zunächst der Verbrennung von Kohle
zu verdanken ist (erst die thermonuklearen Kraftwerke des 20. Jahrhunderts führen
ein völlig neues Agens ein), mußte dieser fossile Brennstoff zum heroischen
Energieträger der beginnenden Industrieepoche werden. Es gehört zu den
zahlreichen »Dialektiken« der Moderne, daß das mächtige
Verwöhnungsagens Kohle in der Regel durch die infernohaften Mühen des
Untertagebergbaus zutage gefördert werden mußte. Daher konnten die
Bergleute des kohlehungrigen 19. und frühen 20. Jahrhunderts als lebende
Zeugen für die marxistische These aufgeboten werden, der Lohnarbeitsvertrag
sei nichts anderes als die rechtliche Maske einer neuen Sklaverei. Der prometheischen
Kohle traten vom späteren 19. Jahrhundert an die Steinöle und die Erdgase
als weitere fossile Energieträger zur Seite - auch sie Entlastungs- und Verwöhnungsagenten
höchsten Grades. Zu ihrer Förderung waren Erschließungswiderstände
anderen Typs als beim Untertagebergbau zu überwinden. Gelegentlich ließ
sich bei ihrer Gewinnung ein Effekt beobachten, den man als ein Entgegenkommen
der Natur bezeichnen möchte, als ob diese von sich aus das Ihre tun wollte,
dem agrarisch geprägten Zeitalter der Knappheit und deren Spiegelung in Mangelontologien
und Miserabilismen ein Ende zu bereiten. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum
des Kapitals, 2005, S. 353-354). Die Urszene
dieses Zugehens der natürlichen Ressource auf die menschliche Nachfrage spielte
sich im Jahr 1859 im us-amerikanischen Pennsylvania ab, als bei einer Bohrung
in der Nähe von Titusville die erste Ölquelle und mit ihr das erste
große Ölfeld der Neuen Welt erschlossen wurde, und zwar in einer sehr
flachen Schicht von kaum mehr als zwanzig Metern Tiefe. Seither gehört das
Bild der Erdöl-Eruptivquelle, von Fachleuten »Springer« oder
gusher genannt, zu den Archetypen nicht nur des us-amerikanischen Traums,
sondern des modernen, von leicht zugänglichen Energien eröffneten way
of life schlechthin. Das Bad im Erdöl ist die Taufe des zeitgenössischen
Menschen - und Hollywood wäre nicht die Emissionszentrale unserer gültigen
Mythen, hätte es nicht einen der größen Helden des 20. Jahrhunderts,
James Dean, einen Hauptdarsteller von Giganten (1955), gezeigt, wie er
in seiner eigenen Ölquelle badet. Der kontinuierlich anschwellende Zustrom
von Energie aus vorerst unerschöpften fossilen Lagerstätten hat nicht
nur das stetige »Wachstum«, das heißt die positiven Rückkoppelungen
zwischen Arbeit, Wissenschaft, Technik und Konsum über einen mehr als 250
Jahre währenden Zeitraum hin ermöglicht, einschließlich der Implikationen,
die wir als die psychosemantische Umrüstung der Populationen aufgrund anhaltender
Entlastungs- und Verwöhnungseffekte beschrieben haben; er hat auch ehrwürdige
Kategorien alteuropäischer Ontologie wie Sein, Wirklichkeit und Freiheit
in einen abrupten Bedeutungswandel einbezogen. (Peter Sloterdijk, Im
Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 354-355). So
hat sich im Begriff des Wirklichen inzwischen die aktivistische Konnotation des
Immer-auch-anders-sein-Könnens eingenistet (von der bislang nur Künstler
als Statthalter des Möglichkeitssinns etwas ahnten), im Gegensatz zum Befund
der Tradition, in welcher der Hinweis auf Wirklichkeit stets vom Pathos des So-und-nicht-anders-Seins
durchzogen war: Folglich verlangte er eine Verbeugung vor der Macht der Endlichkeit,
der Härte und des Mangels. Ein Wort wie »Mißernte« beispielsweise
war ein Weltalter lang mit dem mahnenden Ernst der klassischen Lehre vom Realen
beladen. Auf seine Weise erinnerte es daran, daß der Fürst dieser Welt
kein anderer sein kann als der Tod - unterstützt von den Reitern der Apokalypse,
seinem bewährten Anhang. In einem Weltzustand wie dem heutigen, der von der
Grunderfahrung Energieüberschuß geprägt ist, hat das antike und
mittelalterliche Resignationsdogma seine Gültigkeit verloren - es gibt nun
neue Freiheitsgrade, die bis in die Ebene der Existenzstimmungen durchschlagen.
Kein Wunder also, daß die katholische Theologie, die essentiell vormodern
und miserabilistisch denkt, den Bezug zu den Tatsachen der Gegenwart völlig
eingebüßt hat, noch mehr als die lutherischen und calvinischen Lehren,
die immerhin halbmodern ansetzen. Folgerichtig mußte sich auch der Begriff
Freiheit im Lauf der letzten einhundert Jahre von seinen herkömmlichen Bedeutungen
lösen. Auf seinen aktuellen Obertonreihen bringt er neuartige Sinndimensionen
zum Klingen, insbesondere die Definition von Freiheit als Recht auf entgrenzte
Mobilität und auf festliche Verschwendung von Energie (Vgl. P. Sloterdijk
/ Hans- Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod - Dialogische Untersuchungen,
2001, S. 32ff.). Damit werden zwei vormalige Herrenrechte, mutwillige Freibeweglichkeit
und launische Verausgabung, auf Kosten einer dienstbaren Natur demokratisch generalisiert
- natürlich nur dort, wo die klimatischen Bedingungen des großen Treibhauses
bereits in Kraft sind. Weil die Moderne im ganzen eine Figur auf dem Grund der
Primärfarbe Überfluß darstellt, werden ihre Bürger durch
das Gefühl permanenter Entgrenzungen herausgefordert. Sie dürfen und
müssen zur Kenntnis nehmen, daß ihr Leben in eine Zeit ohne Normalität
gefallen ist. Die Geworfenheit in die Welt des Zuviel wird mit dem Gefühl
bezahlt, daß der Horizont gleitet. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum
des Kapitals, 2005, S. 355-356). Die empfindliche
Zone bei der Reprogrammierung der Daseinsstimmungen in der Moderne betrifft also
das Entknappungserlebnis, mit dem die Bewohner des Kristallpalasts früh in
Berührung kommen - und das sie kaum jemals angemessen würdigen. Die
Realitätsgefühle der Menschen im agro-imperialen Weltalter waren auf
Güter- und Ressourcenknappheit geeicht, weil ihnen die Erfahrung zugrunde
lag, daß die Arbeit, verkörpert im mühseligen Ackerbau, gerade
so ausreicht, um prekäre Inseln der humanen Künstlichkeit in die Natur
zu stellen. Hiervon sprechen schon die antiken Weltaltertheorien, die resignativ
Kunde geben davon, daß selbst die großen Reiche zerfallen und die
arrogantesten Türme von der unüberwindlichen Natur binnen weniger Generationen
eingeebnet werden. Der agrarische Konservatismus brachte seine ökologisch-moralischen
Konsequenzen in einem kategorischen Verschwendungsverbot zum Ausdruck. Weil sich
das Arbeitsprodukt normalerweise nicht steigern, sondern allenfalls durch Beutezüge
ergänzen ließ, war den Menschen der alten Welt jederzeit klar, daß
der erzeugte Wert eine begrenzte, relativ gleichbleibende und unbedingt zu schützende
Größe bildete. Der Verschwender mußte unter diesen Bedingungen
als der Wahnsinnige gelten. Deshalb waren die narzißtischen Verausgabungen
hoher Herren nur als Akte der Hybris zu deuten - und deren spätere Umdeutung
in »Kultur« war noch nicht vorhersehbar. (Peter Sloterdijk,
Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 356-357). Diese
Anschauungen sind außer Kraft gesetzt worden, seit mit dem Durchbruch zum
fossilenergetischen Kulturstil vor etwas mehr als 200 Jahren ein unheimlicher
Liberalismus auf die Bühne trat, der alle Vorzeichen entschieden umzukehren
begann. Während für die Tradition die Verschwendung die Sünde gegen
den Geist der Subsistenz par excellence bedeutete, weil sie den immer knappen
Vorrat an Überlebensmitteln aufs Spiel setzte, hat sich im Fossilenergiezeitalter
ein durchgreifender Sinnwandel der Verschwendung vollzogen - man darf sie inzwischen
ruhigen Tons als die erste Bürgerpflicht bezeichnen. Nicht daß die
Vorräte an Gütern und Energien nun über Nacht gegen unendlich gingen;
aber daß die Grenzen des Möglichen konstant immer weiter hinausgeschoben
werden: dies gibt dem »Sinn von Sein« eine prinzipiell veränderte
Färbung. Nur Stoiker rechnen jetzt noch mit den Beständen. Für
die gewöhnlichen Epikuräer im großen Komforttreibhaus sind die
»Bestände« eben das, wovon man annehmen darf, sie seien prinzipiell
immer weiter vermehrbar. Die kollektive Bereitschaft zum Mehrkonsum konnte innerhalb
weniger Generationen in den Rang einer Systemprämisse aufsteigen: Massenfrivolität
ist das psychosemantische Agens des Konsumismus. An ihrem Aufblühen läßt
sich ablesen, wie nun der Leichtsinn in die Position des Fundamentalen gerät.
An die Stelle des Verschwendungsverbots hat sich das Frugalitätsverbot gesetzt
- dies drückt sich in den immerwährenden Appellen zur Belebung der Binnennachfrage
aus. Die moderne Zivilisation beruht nicht so sehr auf »dem Ausgang der
Menschheit aus ihrer selbstverschuldeten Unproduktivität« (Ulrich Bröckling,
»Unternehmer«, in: Glossar der Gegenwart, Hrsg.: Ulrich
Bröckling / Susanne Krasmann / Thomas Lemke, 2004, S. 275.), sondern auf
dem konstanten Zufließen einer unverdienten Fülle von Energie in den
Unternehmens- und Erlebensraum. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des
Kapitals, 2005, S. 357).In einer Genealogie des Verschwendungsmotivs
wäre darauf hinzuweisen, wie tief das Verdikt der Tradition über das
Luxuriöse, Müßige und Überflüssige in theologischen
Wertungen gründete. Nach der Schulmeinung des Monotheismus mußte alles
Überflüssige Gott und der Natur mißfallen - als ob auch sie mit
den Beständen rechneten (»cum ...omne superfluum Deo et naturae displiceat
...et omne quod Deo et naturae displicet sit malum«: Dante Alighieri, Monarchia,
I, 14). Bemerkenswert ist, daß selbst der Protoliberale Adam Smith, so sehr
er das Lob der luxusstimulierten Märkte anzustimmen bereit ist, an einem
scharf negativen Verschwendungsbegriff festhält -weswegen seine Abhandlung
über den Wohlstand der Nationen von dem Refrain durchzogen ist: Verschwendung
ist Nachgeben gegenüber der »Begierde nach augenblicklichem Genuß«
(Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1776, S. 282). Sie gehört
zum Habitus der »unproduktiven Leute«, sprich der Priester, Aristokraten
und Soldaten, die sich aufgrund eines alteingewurzelten Hochmuts zu dem Glauben
bekennen, sie seien berufen, den von der produktiven Menge erzeugten Reichtum
zu vergeuden. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005,
S. 358). Auch Marx kommt von dem Verschwendungsbegriff
des agro-imperialen Weltalters nicht los, wenn er in den Spuren Smiths an der
Unterscheidung zwischen der arbeitenden und der verschwendenden Klasse festhält,
mit der Nuance freilich, daß nun die Kapitalbesitzer, weit vor den feudalen
»Parasiten«, die Rolle der malignen Verschwender einnehmen. Immerhin
gibt er mit Smith zu, daß infolge der neuen Wirtschaftsweisen ein Mehrprodukt
in der Welt ist, das über die kleinen Surplusspannen der agrarischen Zeiten
hinausgeht. Der Verfasser des Kapitals stilisiert seinen Bourgeois als
einen vulgarisierten Adligen, dessen Gier und Niedertracht keine Grenzen kennen.
Bei diesem Portrait des Kapitalisten als Rentner wird keine Rücksicht genommen
auf die Tatsache, daß mit dem Kapitalsystem auch das neuartige Phänomen
des working rich seine Karriere beginnt, der den »augenblicklichen
Genuß« mit der Wertschöpfung zum Ausgleich bringt. Ebensowenig
wird darauf geachtet, daß im modernen Wohlfahrts- und Umverteilungsstaat
die Unproduktivität von der Spitze der Gesellschaft an die Basis umspringt
- womit das nahezu vorbildlose Phänomen des parasitären Armen entsteht.
Wenn man in der agro-imperialen Welt von Mittellosen normalerweise annehmen durfte,
sie seien ausgebeutete Produktive, leben die Armen des Kristallpalasts - unter
dem Titel von Arbeitslosen - mehr oder weniger außerhalb der Wertschöpfungssphäre
(und ihre Unterstützung ist weniger eine Sache der
zu fordernden Gerechtigkeit als eine der nationalen und menschlichen Solidarität.
»Die aktuelle Forderung nach sozialer Gerechtigkeit [ ]
zielt darauf, Eigentum aus dem produktiven Sektor zu konfiszieren, um es gesellschaftlich
in den unproduktiven Sektor umzulenken. Da die Besitzlosen [und vielleicht sogar
die Unproduktiven bzw. Arbeitslosen] tendenziell in der sozialen Mehrheit sein
könnten, hätten wir eine bemerkenswerte Änderung vor uns: Der demokratische
Staat wird zur Agentur des außerökonomischen Zwangs und versucht, die
produktive kapitalistische Ökonomie zu besteuern, um damit unproduktive,
parasitäre Arme zu alimentieren.« [Rolf Peter Sieferle, Gesellschaft
im Übergang, in: Archäologie der Arbeit, Hrsg.: Dirk Baecker,
2002, S. 139f.]). Ihre Funktionäre können allerdings nicht aufhören
zu behaupten, es handle sich um Ausgebeutete, denen aufgrund ihrer Entbehrungen
rechtens Entschädigungen zustehen. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum
des Kapitals, 2005, S. 358-359) Mögen
also die Liberalen wie die Marxisten im 19. Jahrhundert folgenschwere Versuche
unternommen haben, das Phänomen Industriegesellschaft zu interpretieren:
Das Ereignis Fossilenergetik wurde weder in dem einen noch in dem anderen System
wahrgenommen, geschweige denn begrifflich durchdrungen. Die dominierenden Ideologien
des 19. und frühen 20. Jahrhunderts blieben, indem sie den doktrinär
überhöhten Arbeitswert an die Spitze aller Erklärungen des Reichtums
stellten, chronisch unfähig, zu begreifen, daß die industriell geförderte
und genutzte Kohle kein »Rohstoff« wie jeder andere ist, sondern der
erste große Entlastungsagent. Dank dieses universalen »Naturarbeiters«
(den die Alchemisten über Jahrhunderte vergeblich gesucht hatten) hielt das
Prinzip Überfluß seinen Einzug in das Treibhaus der Zivilisation.
(Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 359-360).
Gleichwohl, auch wenn man sich unter dem Druck der neuen Evidenzen dazu
bereit findet, die fossilen Energieträger und die drei Motoren-Generationen,
die ihre Sprößlinge sind, die der Dampfmaschinen, der Verbrennungsmotoren
und der Elektromotoren, als die primären Entlastungsagenten der Moderne zu
begreifen, ja selbst wenn man so weit gehen will, in ihnen den genius benignus
einer Zivilisation jenseits des Mangels und der muskulären Sklaverei zu begrüßen
- man kann den Befund nicht aus der Welt schaffen, daß die unvermeidliche
Ausbeutungsverschiebung des Fossilenergiezeitalters ein neues Proletariat geschaffen
hat, mit dessen Leiden die entlasteten Zustände im Wohlstandspalast ermöglicht
werden. Das Hauptgewicht der aktuellen Exploitation ist auf die Nutztiere übergegangen,
für welche dank der Industrialisierung der Landwirtschaft die Ära ihrer
massenhaften Erzeugung und Verwertung angebrochen ist. Bei diesem Thema sagen
Zahlen mehr als sentimentale Argumente: Nach dem Tierschutzbericht der Bundesregierung
von 2003 wurden im Jahr 2002 in Deutschland nahezu 400 Millionen Hühner geschlachtet,
dazu 31 Millionen Puten und annähernd 14 Millionen Enten; an großen
Säugetieren wurden 44,3 Millionen Schweine, 4,3 Millionen Rinder und 2,1
Millionen Schafe und Ziegen ihrer finalen Verwertung zugeführt. Analoge Zahlen
sind für die meisten Marktgesellschaften anzusetzen, wobei zu den Angaben
der nationalen Statistiken enorme Mengen an Importen hinzugerechnet werden müssen.
Die tierischen Proteine bilden den größten legalen Drogenmarkt. Die
Monstrosität der Zahlen übersteigt jede affektive Bewertung - auch die
Analogien zu den kämpferischen Holocausten der Nationalsozialisten, der Bolschewisten
und der Maoisten schöpfen die abgründigen Routinen bei der Erzeugung
und Verwertung von animalischem Leben nicht aus (wobei wir uns zu den moralischen
und metaphysischen Implikationen des Vergleichs zwischen menschlichen und tierischen
Exterminismen großen Stils an dieser Stelle nicht äußern). Zieht
man in Betracht, daß die Massentierhaltung die agrochemisch ermöglichte
explosive Vermehrung der Futtermittelerzeugung zur Voraussetzung hat, wird erkennbar,
daß auch die Überschwemmung der Märkte mit dem Fleisch der animalischen
Biokonverter auf die im 20. Jahrhundert entfesselten Ölfluten zurückgeht.
»Letztlich ernähren wir uns von Kohle und Erdöl - nachdem diese
in der industriellen Landwirtschaft zu eßbaren Produkten verwandelt worden
sind.« (Rolf Peter Sieferle, Gesellschaft im Übergang, in: Archäologie
der Arbeit, Hrsg.: Dirk Baecker, 2002, S. 125). Unter diesen Bedingungen läßt
sich für das kommende Jahrhundert eine wachsende Beunruhigung der Populationen
im großen Treibhaus durch eine schon heute weitgehend ausgeformte, internationalisierte
Tierrechtsbewegung vorhersehen, die den unzertrennbaren Zusammenhangzwischen Menschenrechten
und Tierqualen betonen wird. Diese Bewegung könnte sich als die Spitze einer
Entwicklung erweisen, die den nicht-städtischen Lebensweisen eine neue Bedeutung
zuspricht. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005,
S. 360-361). Sollte man also die Achse namhaft machen,
um welche die Umwertung aller Werte in der entfalteten Komfortzivilisation sich
dreht, so kann nur der Hinweis auf das Prinzip Überfluß die Antwort
liefern. Ohne Zweifel wird aktueller Überfluß, der stets im Horizont
von Steigerungen und Entgrenzungen erlebt werden will, das prägende Merkmal
der künftigen Verhältnisse bleiben, selbst wenn in einhundert Jahren
oder etwas später der fossilenergetische Zyklus an sein Ende gelangt. Welche
Energieträger eine postfossile Ära ermöglichen werden, ist heute
schon im Umriß erkennbar - es wird vor allem ein Spektrum von Solartechnologien
und von regenerativen Treibstoffen sein. Jedoch ist am Beginn des 21. Jahrhunderts
über deren Ausgestaltung im einzelnen noch nicht entschieden. Sicher ist
nur, daß das neue System manche nennen es lapidar die kommende »solare
Weltwirtschaft« - über die Zwänge und Pathologien der aktuellen
fossilen Ressourcenpolitik hinausführen muß. (Vgl. Hermann Scheer,
Solare Weltwirtschaft - Strategie für die ökologische Moderne,
5. Auflage, 2002). (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals,
2005, S. 361-362). Mit dem Solarsystem ist unvermeidlich
eine Umwertung der Umwertung aller Werte gesetzt - und da die Zuwendung zur aktuellen
Sonnenenergie dem Rausch des Konsums vergangener Sonnenenergie ein Ende bereitet,
könnte man von einer bedingten Rückkehr zu den »alten Werten«
sprechen denn alle alten Werte waren Derivate des Imperativs, mit der im Jahreszyklus
erneuerbaren Energie zu wirtschaften. Daher deren tiefer Bezug zu den Kategorien
der Stabilität, der Notwendigkeit und des Mangels. In der Dämmerung
der zweiten Umwertung zeichnet sich eine zivilisatorische Weltwetterlage ab, von
der sich mit einiger Wahrscheinlichkeit vorhersagen läßt, daß
sie postliberale Züge aufweist - sie wird eine hybride Synthese aus technischem
Avantgardismus und ökoKonservativer Mäßigung an die Macht bringen.
(In politischer Farbsymbolik gesprochen: Schwarz-Grün). Dem überschäumenden
Verschwendungsexpressionismus der gegenwärtigen Massenkultur werden die Voraussetzungen
mehr und mehr entzogen. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals,
2005, S. 362). Sofern in der postfossilen Ära die
Ansprüche in Kraft bleiben, die das Prinzip Überfluß im Industriezeitalter
geweckt hat, wird sich die technische Forschung vorrangig um die Quellen einer
alternativen Verschwendung zu kümmern haben. Bei den Überflußerfahrungen
der Zukunft wird sich eine Akzentverschiebung zu immateriellen Strömen unvermeidlich
geltend machen, weil ökosystemische Gründe ein stetiges »Wachstum«
im materiellen Bereich verbieten. Vermutlich wird es zu einer dramatischen Verringerung
der stofflichen Flüsse kommen - und damit zu einer Revitalisierung der Regionalwirtschaften.
Unter diesen Bedingungen dürfte für die heute noch voreiligen Reden
von der »globalen Informations- oder Wissensgesellschaft« die Zeit
der Bewährung anbrechen. Die entscheidenden Überflüsse werden dann
vor allem im Bereich der beinahe immateriellen Daten-Ströme wahrgenommen
werden. Nur ihnen wird das Merkmal Globalität authentisch zukommen.
(Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 362-363).
Auf welche Weise die Postfossilität die aktuellen Begriffe von Unternehmertum
und Ausdrucksfreiheit umprägen wird, läßt sich zur Stunde nur
vage vorhersehen. Wahrscheinlich ist, daß man die Romantik der Explosion,
allgemeiner gesprochen: die psychischen, ästhetischen und politischen Derivate
der plötzlichen Energiefreisetzung, von den künftigen »sanften«
Solartechnologien her im Rückblick als Ausdruckswelt eines massenkulturell
globalisierten energetischen Faschismus beurteilen wird. Dieser ist ein Reflex
des hilflosen Vitalismus, der aus der Perspektivenarmut des fossilenergetisch
basierten Weltsystems entspringt. Man versteht vor diesem Hintergrund, warum der
Kulturbetrieb im Kristallpalast eine tiefe Desorientierung verrät - über
die aufgezeigte Konvergenz von Langeweile und Unterhaltung hinaus. Der fröhliche
massenkulturelle Nihilismus der Endverbraucherszene ist genauso rat- und zukunftslos
wie der hochkulturelle Nihilismus der wohlhabenden Privatleute, die Kunstsammlungen
aufbauen, um sich persönliche Bedeutung zu verschaffen. (Peter Sloterdijk,
Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 363). Nach
dem Ausklingen des fossilenergetischen Regimes könnte sich de facto
vollziehen, was Geopolitiker der Gegenwart als Shift vom atlantischen zum
pazifischen Raum bezeichnet haben. Diese Wende würde vor allem den Übergang
vom Rhythmus der Explosionen zu dem der Regenerationen zum Zuge bringen. Der pazifische
Stil müßte die kulturellen Derivate der Transition zum technosolaren
Energie-Regime entfalten. Ob dies zugleich die Erwartungen an weltweite Friedensprozesse,
an planetarischen Vermögensausgleich und Überwindung der globalen Apartheit
erfüllen wird, das verhüllt die Zukunft. (Peter Sloterdijk, Im
Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 363-364) |