VorwortMan
kann nicht sagen, daß die »Weimarer Republik« zu den in Publizistik
und Wissenschaft, ja in den Alltagsdiskussionen der Politik allzu wenig behandelten
Realitäten gehört. Man darf sogar behaupten, daß die intellektuelle
Debatte der Nachkriegszeit seit 1945 in mancher Hinsicht nicht viel mehr war als
eine Fortsetzung der Erörterung von Streitpunkten der Weimarer Zeit und des
nahezu allgemeinen Bestrebens, die Ursachen des Scheiterns der Demokratie herauszufinden
und Wege zu entdecken, mittels derer eine Wiederholung des Übergangs zu der
totalitären Einparteienherrschaft der nationalsozialistischen Epoche und
damit auch des katastrophalen Kriegsendes von 1945 vermieden werden könnte
.... (Ebd., 2006, S. 9).Das erste Ziel, das ich mit diesem
Buch verfolge, unterscheidet sich nicht von den Zielen einer nicht unbeträchtlichen
Anzahl von Historikern, nämlich die Distanz zur Weimarer Epoche, die sich
durch den Zeitverlauf eigestellt hat, wissednschaftlich zu einer »Historisierung«
fortzuführen, innerhalb deren zwar bei weitem nicht ein intellektuelles Ringen
um ein adäquates Verständnis dieser Zeit aufgehört hat, die aber
nachdrücklich die Einhaltung grundlegender wissenschaftlicher Maximen verlangt:
die möglichst umfassende Kenntnisnahme des Gegenstandes, den Verzicht auf
die Artikulierung emotionaler Reaktionen der Bewunderung und der Verwerfung, die
Breitschaft, auch nach der »anderen Seite« vielbekämpfter Phänomene
zu fragen, den Versuch, den »rationalen Kern« bestimmter Thesen und
Verhaltensweisen zu eruieren, die Abwägung zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten
der Interpretation. (Ebd., 2006, S. 9-10).Im Rahmen dieser
Gemeinsamkeit unterscheidet sich mein Vorgehen von dem anderer Historiker dadurch,
daß ich nicht mit der »Novemberrevolution« in Kiel, Berlin,
München und vielen anderen Städten beginne. Ich beziehe vielmehr Vorgänge
und Berichte ein, die nach allgemeiner Auffassung mit der Weimarer Republik »nichts
zu tun haben«, und stelle den »Sozialisten
der französischen Revolution«, Babeuf
(1760-1797, hingerichtet), als den Repräsentanten
jener »Utopie« an den Anfang, die eine uralte Menschheitshoffnung
zum Ausdruck bringt, nämlich die Hoffnung, daß eines Tages eine gerechte
und friedliche Gemeinschaft, die es - wenngleich nur in der Gestalt weit verstreuter
kleiner Gruppen - in Urzeiten gegeben habe und die durch eine unglückliche
Fügung verlorengegangen sei. (Ebd., 2006, S. 10).
EinleitungIm
Jahre 1843 fanden an vielen Orten des »Deutschen Bundes« große
Feiern zur Erinnerung an den » Vertrag von Verdun« des Jahres 843
statt, durch den das Karolingerreich unter die drei Söhne des Kaisers Ludwig
des Frommen geteilt worden war. Dabei hatte Ludwig der Deutsche den östlichen
Teil erhalten, und es schien mithin Grund genug vorhanden zu sein, mit Stolz der
tausendjährigen Existenz eines deutschen Staates zu gedenken. Es waren freilich
vornehmlich die Liberalen, welche die Erinnerung wach zu halten oder zu erwecken
wünschten, und dabei wandten sie sich nicht in erster Linie der Vergangenheit
zu, sondern der Zukunft, weil sie ein einheitliches Deutschland schaffen wollten,
das nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem 1815 ins Leben gerufenen »Deutschen
Bund« aus 35 souveränen Fürsten und vier freien Städten haben
würde. Dieser Deutsche Bund war ja ein außergewöhnliches Gebilde,
das von der Einheitlichkeit eines »modernen Nationalstaates« wie Frankreichs
oder Englands weit entfernt war, das zwei rivalisierende Großmächte
in sich schloß, nämlich Preußen und Osterreich, und zu dessen
Mitgliedern drei ausländische Könige gehörten, welche die »feudale«
Herrschaft über drei seiner Staaten ausübten: der König von England
als König von Hannover, der König der Niederlande als Großherzog
von Luxemburg und der König von Dänemark als Herzog von Holstein. Außenpolitisch
war dieses Staatsgebilde deshalb so gut wie handlungsunfähig, und daran nahmen
die liberalen Patrioten vor allem Anstoß, aber wenn es als solches angegriffen
wurde und wenn die beiden Vormächte ihre Pflichten erfüllten, war es
mindestens potentiell jeder angreifenden Koalition anderer europäischer Staaten
überlegen. Man durfte den Deutschen Bund daher die »europäische
Friedensmacht« nennen, und kaum einer jener Patrioten hätte wohl das
Geständnis gemacht, er wolle stattdessen eine »Kriegsmacht« begründen.
Freilich gehörten wichtige Teile der Staatsgebiete von Preußen und
Osterreich nicht zum »Deutschen Bund«: Ost- und Westpreußen
zum Beispiel oder die Lombardei und Venetien, und es war nicht ausgeschlossen,
daß der Deutsche Bund dadurch in kriegerische Händel verwickelt werden
würde. So konnte man den Sorgen und Wünschen derer, die 1843 das tausendjährige
Bestehen Deutschlands feierten, nicht in jeder Hinsicht Unrecht geben. (Ebd.,
2006, S. 13-14).Wenn Bismarck das Deutsche Reich als einen Nationalstaat
mit »völkischen« oder irredentistischen Ansprüchen nach
Analogie Italiens oder Serbiens verstanden hätte, würde er ein festes
Bündnis mit Rußland geschlossen und Österreich dem Schicksal des
Zerfalls in seine nationalen Bestandteile überlassen haben, so daß
schließlich das Großdeutschland vieler Revolutionäre von 1848
zustande gekommen wäre. (Ebd., 2006, S. 21).François
Noël
Babeuf (1760-1797, hingerichtet), der den Namen
»Gracchus« annahm, war ja als Urheber der »Verschwörung
der Gleichen« von 1796 und als Opfer des nachjakobinischen »Dierktoriums«
nie vergessen worden, und Filippo Buonarrotti hatte die Kenntnis seiner Gedanken
den nachfolgenden Generationen übermittelt. Für Babeuf stand der »Krieg
der Armen gegen die Reichen« im Zentrum, und er klagte den Reichtum als
die grundlegende Ungerchtigkeit an, welche die ursprüngliche Gesellschaftsverfassung,
diejenige der Gleichheit, zerstört und die Menschen einer »Kaste von
Raffgierigen, von Rechtsbrechern« ausgeliefert habe. Diese Kaste ist das
Patriziat oder die Aristokratie, und sie ist von »verbrecherischen Lastern«
geprägt, während das gemeine Volk die Tugenden bewahrt hat, die im noch
nicht korrumpierten Naturzustand allgemein waren: Gerechtigkeit. Menschenliebe,
Opfermut. Eben diese Tugenden sollen durch die Revolution wieder zu allgemeinen
Eigenschaften gemacht werden, nachdem die Geschichte sich lange Zeit in die Gegenrichtung
entwickelt hat, nämlich hin zum Unglück des Volkes und zum Glück
einer geringen zahl von Privilegierten. Gleichheit aller und mithin die Herausgabe
alles Gestohlenen ist also das oberste Ziel des nunmehr entbrannten Krieges zwischen
den Armen und den Reichen, den Guten und den Bösen. (Ebd., 2006, S.
30).Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert ist das Kapitel der französischen
Selbstkritik nicht abheschlossen; die Klagen über das Zurückgebliebensein
Frankreichs gegenüber Deutschland, seinen irregulären und fragilen Parlamentarismus
und die »französische Dekadenz« wollen kein Ende nehmen, und
es findet sich sogar die Empfehlung, Frankreich müsse durch Zurückdrängung
des Latinismus und durch Protestantismus eine bescheidene und friedliche Nation
werden, die jede Eroberung ablehne, keine große Armee zu besitzen wünsche
und trotzdem eine »große Nation« sein könne. Erst im Zuge
der »Dreyfus-Affäre« gewann die überlieferte Rühmung
der französischen Revolution und der parlamentarischen Demokratie
wieder an Kraft. (Ebd., 2006, S. 35).1919 ... verkünden
die »Richtlinien der Kommunistischen Internationale« den Beginn einer
völlig neiuen Periode der Weltgeschichte: »Der imperialistische Krieg
verwandelt sich in den Bürgerkrieg.« . .... »Indem wir die Halbheit,
Lügenhaftigkeit und Fäulnis der überlebten offiziellen sozialistischen
Parteien (SPD u.a.; HB) verwerfen, fühlen
wir, die in der Dritten Internationale (Anfang 1919)
vereinigten Kommunisten, uns als die direkten Fortsetzer der heroischen Anstrengungen
und des Märtyrertums einer langen Reihe revolutionärer Traditionen,
von Babeuf
bis Karl Marx und Rosa Luxemburg.«. (Manifeste, Richtlinien, Beschlüsse
des 1. Kongresses der 3. Internationale, 1919, a.a.O., S. 21, 17). (Ebd.,
2006, S. 43).Und ... insofern handelte es sich um eine Kriegserklärung
an die ganze Welt, ganz wie es sich bei der positiven Zielsetzung um jene allgemeine
Tendenz handelte, die heute »Globalisierung« oder auch »Demokratisierung«
genannt wird. (Ebd., 2006, S. 44).Es ist in hohem Grade wahrscheinlich,
daß ein so totales Unterfangen nur möglich ist, wenn nicht kluge Kalkulationen
und realistische Einschätzungen die Grundlage bilden, sondern eine alle vorhandene
Realität übersteigende Zielsetzung und eine exorbitante Hoffnung - mit
anderen Worten: wenn die im Alltag so völlig abwesende »Utopie«
ins Spiel gebracht wird, die ja jener »ewige Menschengedanke« ist.
Die Frage ist legitim und unumgänglich, ob auch Lenin, der als Politiker
und Staatsmann so realistische und scharfe Urteile fällen konnte, letzten
Endes von der Vorstellung der Utopie erfüllt und angetrieben war. Die eindeutigste
Antwort gibt seine Schrift über »Staat und Revolution«, die er
am Vorabend der Oktoberereignisse verfasste. Dort schreibt er, die moderne Entwicklung
habe alle gesellschaftlichen Funktionen so sehr vereinfacht, daß sie jedem
Nichtanalphabeten (und die waren in Rußland von extrem
hoher Zahl! HB) zugänglich seien. Daher seien Sonderfunktionen
bestimmter Menschengruppen nicht mehr erforderlich und in Zukunft würden
die Menschen »die seit Jahrtausenden gepredigten« Regeln einhalten,
ohne daß jener Zwangsapparat vorhanden sei, der »Staat« genannt
werde. Dann würden sich alle rasch daran gewöhnen, daß alle, auch
die Köchinnen, an der Lenkung des Gemeinwesens Anteil nähmen und daß
eben deshalb »keiner regiert«. (W. I. Lenin, Ausgewählte Werke,
Band XXXVI, S. 138). Das ist also nichts anderes als Babeufs
Gemeinschaft ohne fixe Arbeitsteilung, ohne Polizisten und Henker, ohne Unsittlichkeit
und Verbrechen, welche auch Lenin als Ziel der Weltgeschichte gilt: der utopistische
Grundgedanke der »Ewigen Linken«. Und einen utopistischen Charakter
haben auch die Zwischenstadien bzw. die Beschreibungen des Endzustandes, von denen
Lenin wie schon Marx in der Regel Abstand nimmt .... (Ebd., 2006, S. 44-45).Aber
weniger als für andere Sozialisten durfte für Lenin gelten, daß
die Feinderklärung, der Vorstellung nach, die Weltgeschichte auf einen einfachen
und einleuchtenden Weg bringen würde. Für Marx war »das kapitalistische
System« der Feind, und er faßte die Geschichte als die große
Helferin auf, die in Europa auf dem Boden des vollentwickelten Kapitalismus die
Zahl der Unternehmer und Geldbesitzer so sehr vermindern würde, daß
die gewaltige Überzahl der Proletarier das System ohne viel Gewaltanwendung
vernichten und den Sozialismus einführen könne. Doch Lenin hatte schon
vor dem Weltkrieg eine Abhandlung über »Das rückständige
Europa und das fortgeschrittene Asien« geschrieben, in welcher er ein Bündnis
zwischen den unterdrückten Ländern Asiens und dem europäischen
Proletariat ins Auge faßte, das »der Weltrevolution« einen völlig
anderen Verlauf geegben hätte, als Marx ihn vorsah. (Ebd., 2006, S.
45-46).War Lenins Marxismus also vielleicht radikal-revisionistisch,
und war Lenin selbst vielleicht ein bedenkenloser Herrenmensch, der, wie Gorki
1918 behauptete, ein »ausgesprochen herrisches, mitleidloses« Verhältnis
zu den Volksmasen hatte? (Maxim Gorki, Unzeitgemäße Gedanken
über Kultur und Revolution von 1917/18, 1918, a.a.O., S. 98). Oder hatte
sein beständiges Drängen auf mehr Terror, auf umfangreichere Erschießungen,
auf die erbarmungslose Vernichtung von »Bourgeois« und »Volksfeinden«
in erster Linie einen anderen Grund, nämlich die Erinnerung an die Pariser
Kommune, die zu nachsichtig mit ihren Feinden umgegangen sei und deshalb zum Opfer
eines ungeheuren Blutbades wurde? (Sebastian Haffner schreibt in seinem
Beitrag »Die Pariser Kommune - Ein Prolog zum 20. Jahrhundert«: »Aber
die wirklich weltgeschichtliche Rache für den Pariser Blutmai (1871)
... ist in Rußland vollzogen worden, und der wirkliche Rächer der Kommune
heißt Lenin.« [Ebd., 1985, S. 54]). (Ebd., 2006, S. 46).Wie
immer diese Frage beantwortet werden mag, sicher ist so viel: Die bolschewistische
Revolution war nicht nur eine enthusiastische und enthusiasmierende Revolution
ohnegleichen, sondern sie war auch die Schrecken erregende Umwälzung kat'exochén.
(Ebd., 2006, S. 46).Was sich in den letzten Oktobertagen an Widerstand
gegen den »illegalen und konterrevolutionären Aufstand« regte,
wurde mit rücksichtsloser Entschlossenheit niedergeworfen, und zu der »Vogelfreierklärung«
einer ganzen Partei gab es keinen Präzedenzfall. Die im Januar 1918 gegründete
und unter den Befehl des Polen Dserschinski gestellte Tscheka erschoss in wenigen
Monaten weit mehr Menschen - Offiziere, »Bourgeois« und Anarchisten
-, als die zaristische Ochrana es in Jahrzehnten getan hatte, und es wurde bald
offenbar, daß der »rote Terror« jenen Volksaufruhr der jüngsten
Vergangenheit ermutigte und systematisierte, indem er auf die Ausrottung ganzer
sozialer Gruppen abzielte, deren Wünschbarkeit sich in der Tat aus den marxistischen,
wenngleich ganz anders gemeinten Vernichtungsprinzipien ableiten ließ. So
konnte man in einer Tscheka-Zeitung Folgendes lesen: »Die alten Systeme
der Moral und der Menschlichkeit lehnen wir ab. Sie wurden von der
Bourgeoisie erfunden, um die unteren Klassen unterdrücken und
ausbeuten zu können. Unsere Moral ist ohne Vorbild und unsere Menschlichkeit
absolut, denn sie basiert auf einem neuen Ideal: jegliche Form von Unterdrückung
und Gewalt zu zerstören. Uns ist alles erlaubt, denn wir sind die Ersten
in der Welt, die das Schwert nicht zur Unterdrückung und Versklavung erheben,
sondern um die Menschheit von ihren Ketten zu befreien. .... Blut? Mag es in Strömen
fließen! Denn nur Blut kann das schwarze Banner der Piratenbourgeoisie in
eine rote Fahne verwandeln, die Fahne der Revolution ....« (Stéphane
Courtois u.a., Das Schwarzbuch des Kommunismus - Unterdrückung, Verbrechen,
Terror, 1997, S. 117f. [**]).
(Ebd., 2006, S. 46-47).Als am 30. August 1918 zwei linksgerichtete
Attentäter (jüdischer Herkunft) in Petersburg auf den Tscheka-Chef Uritzki
und in Moskau auf Lenin Pistolenschüsse abfeuerten, um Tscheka-Hinrichtungen
bzw. die Auflösung der Nationalversammlung zu rächen, wodurch Uritzki
getötet und Lenin verwundet wurde, da brach nicht nur im ganzen Lande ein
Sturm von Racheaktionen unter Parolen wie »Für einen von uns müssen
tausend von euch sterben« gegen Offiziere und Bourgeois aus, sondern die
Regierung legalisierte und verschärfte diese Aktionen durch ihr »Dekret
über den roten Terror«. Es dauerte nicht lange, bis Lenin selbst den
»Tod« für die große Klasse der »Kulaken«, d.h.
der besser gestellten Bauern (die z.B. eine Kuh besitzen;
HB), forderte und von den »Hunden und Schweinen der sterbenden
Bourgeoisie« sprach. Ein wohlwollender deutscher Beobachter, der Korrespondent
der »Frankfurter Zeitung« Alfons Paquet, schrieb voller Entsetzen
von dem »Gräßlichen«, das in Rußland geschehe, der
»Vernichtung einer ganzen Gesellschaftsklasse«, und er bildete den
Begriff des »Totalismus Lenins«. (Alfons Paquet, Im kommunistischen
Rußland - Briefe aus Moskau, 1919, S. 15). Hans Vorst wiederum, der
Korrespondent des »Berliner Tageblatts«, rückte besonders das
Schicksal der zahllosen und völlig unschuldigen Geiseln ins Licht, die zu
Tausenden, ja Zehntausenden erschossen würden. (Hans Vorst, Das bolschewistische
Rußland, 1919, S. 152). Auch in Deutschland war also das Publikum sehr
genau darüber unterrichtet, daß in Rußland etwas völlig
Präzedenzloses vor sich ging, ein wahrer »Kulturbruch«, weil
»Absolutisten« die Macht ergriffen hatten, deren letzte und laut verkündete
Zielsetzungen Enthusiasmus hervorzurufen vermochten und deren konkrete Handlungen
den Beweis erbrachten, daß die äußerste Unmenschlichkeit die
Folge ist, wenn man im Sinne der ältesten Utopie alle Unmenschlichkeit zu
extirpieren versucht. (Ebd., 2006, S. 47).Um die Mitte des
Jahres 1918 verkündete der General Alexejew, der aus Moskau geflohene ehemalige
Stellvertreter Kornilovs, wenn die Bolschewiki fortführen, die Bürger
zu verhaften und umzubringen, würde kein einziger Jude in Rußland unter
60 Jahren mit dem Leben davonkommen. (Winfried Baumgart [Hrsg.], Von Brest-Litowsk
zur deutschen Novemberrevolution - Aus den Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen
von Alfons Paquet, Wilhelm Groener und Albert Hopmann, März bis November
1918, 1971, S. 125). In der Sache konnte er sich auf die allgemein anerkannte
und leicht begreifliche Wahrheit stützen, daß Angehörige der »Fremdvölker«
- Juden, Letten, Georgiere - in der bolschewistischen Revolution eine höchst
auffallende und weit überproportionale Rolle gespielt hatten und weiterhin
spielten. (Sonja Margolina, nach der Wendung ihres Buches Tochter eines Vaters,
»der Kommunist und Jude war«, konnte 1992 eine allgemeine Aussage
zum Verhältnis von Judentum und bolschewistischer Revolution machen, die
nach dem baldigen Verschwinden ihres Buches vom Markt kaum noch zitiert wurde:
»Die Tragödie des Judentums bestand darin, daß es keine politische
Option gab, um der Rache für die geschichtliche Sünde der Juden - ihre
exponierte Mitwirkung am kommunistischen Regime - zu entgehen. Der Sieg des Sowjeregimes
hatte sie zeitweilig gerettet, die Vergeltung stand ihnen noch bevor.« [Sonja
Margolina, Das Ende der Lügen - Rußland und die Juden im 20. Jahrhundert,
1992, S. 66]. Schon im Jahre 1918 hatte sich der große jüdische Historiker
Simon Dubnov nach den Attentaten auf Uritzki und Lenin in einem ganz ähnlichen
Sinne geäußert. Vgl. Ernst Nolte, Der
kausale Nexus, 2002, S. 194 {**}.]).
Aber die Juden herauszunehmen und nur ihnen Vergeltung anzudrohen, ließ
sich noch weniger rechtfertigen als der entsprechende kollektivistische Schuldvorwurf
der Bolschewiki gegen »die Burshui«. Doch da die Juden eine so viel
längere und bedeutendere Geschichte hatten als die Letten und die Georgier,
war nicht von vornherein auszuschließen, daß den Absolutisten der
Vernichtung des Kapitalismus und der Unternehmer neuartige Absolutisten der Vernichtung
der Juden entgegentreten würden. Wenn das zur Tatsache würde, könnte
man die ganze europäische Geschichte der folgenden Periode als den Kampf
zweier feindlicher Absolutismen verstehen, so gewiß es möglich sein
würde, durch die Herausstellung von bloß-politischen Ereignissen oder
von Alltagstatsachen dieses Ringen an den Rand zu drängen. (Ebd., 2006,
S. 47-48).
Teile I bis IVDie
deutsche Öffentlichkeit war noch bis zur Mitte des Jahres 1918 von starken
und nicht unbegründeten Siegeshoffnungen erfüllt gewesen, und ein informelles
deutsches Imperium erstreckte sich von der Nordsee bis Mesopotamien und von der
Umgebubg von Reims bis über Kiew hinaus (**).
(Ebd., 2006, S. 49).Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ..., zwei
Personen, die unter den Sozialisten ganz Europas einen Ruf genossen, der hinter
demjenigen Lenins und Trotzkis nicht zurückstand. (Vgl. dazu eine Aussage
Lenins vom 12. Januar 1919: »Als der deutsche Spartakusbund
mit so weltbekannten und weltberühmten ... Führern wie Karl Liebknecht,
Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und Franz Mehring endgültig ... den Namen Kommunistische
Partei Deutschlands annahm, ... da war die Gründung einer wahrhaft
proletarischen, wahrhaft internationalistischen, wahrhaft revolutionären
III. Internationale, der Kommunistischen Internationale, (faktisch) Tatsache geworden.«
[W. I. Lenin, Werke, Band 28, S. 441f.]). Die hatten die »Spartakusbriefe«
herausgegeben, und was darin schon im September 1916 zu lesen war, hatte sich
nun als richtig erwiesen: »Nicht im Parlament könnten die Würfel
über Krieg und Frieden, über die Internationale, über den Massenhunger
fallen, sondern in den Fabriken, in den Wewrkstätten, auf der Straße.«
(Ebd., 2006, S. 51).Aber die entscheidenden Erfolge trugen zunächst
doch die von Liebknecht und Luxemburg so heftig angegriffenen »Regierungssozialisten«
der Mehrheitssozialdemokratie davon, die sich an die Spitze der ... Volksbewegung
stellten, um zu verhindern, daß »der Bolschewismus« in Deutschland
den Sieg davontrage. (Schon im Gründungsaufruf der USPD wurde sehr negativ
zu der Entwicklung der SPD zur »national-sozialen Regierungspartei«
Stellung genommen [zum Zusammenhang siehe Wilhelm Dittmann, Erinnerungen,
a.a.O., Band 3, S. 3]. Der Linkssozialist Heinrich Ströbel sprach im Vorwort
zu seiner 1920 publizierten Broschüre »Die deutsche Revolution und
ihre Rettung« mit ganz negativem Akzent von dere »Bewilligung der
Kriegskredite durch die deutschen Nationalsozialisten« [!]). (Ebd.,
2006, S. 52).Es gelang den Mehrheitssozialdemokraten nicht ohne
Mühe, sich einer große Mehrheit in dem vom 16. bis zum 20. Dezember
tagenden »Zentralrat« der deutschen Arbeiter- und Soldatenräte
zu sichern. Dieser machte sich die Absicht Eberts, in nächster Zukunft die
Nationalversammlung wählen zu lassen (**),
ebenso zu eigen wie dessen Willen, den durch die lokalen Räte verursachten
Turbulenzen ein Ende zu machen. (Ebd., 2006, S. 53).Schon
jetzt ließ sich erkennen, daß auch die Mehrheitssozialisten für
eine weltgeschichtliche, wenngleich unspektakuläre Sache standen, nämlich
für den Verzicht der größten sozialistischen Partei auf den Absolutheitsanspruch
der marxistischen ideologie und ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den »bürgerlichen«
Parteien, die eben dadurch den Charakter eines dem Block gläubiger Sozialisten
entgegengesetzten Blocks verloren. Sie konnte sich dabei auf soziale Entwicklungen
stützen, die der Gewerkschaftler August Winnig später auf die Formel
»Vom Proletariat zum Arbeitertum« (**)
brachte. Rosa Luxemburg und Katl Liebknecht hielten dagegen an dem alten Konzept
der »Todfeindschaft« der beiden Blöcke fest, der mit dem endgültigen
Sieg »des Proletariats« im Klassenkampf (d.h. im Klassen- oder Bürgerkrieg)
enden müsse. Das Beispiel Frankreichs (von England und den USA nicht zu reden)
wies auf die erste Möglichkeit hin, das Beispiel Rußlands auf die zweite.
(Ebd., 2006, S. 53).Aber wenn Ebert Ende Dezember (1918;
HB) einen großen Sieg erfochten zu haben schien, ... so hatte
in den Gemütern der Massen die entgegengesetzte Tendenz Raum gewomnnen. ....
Ebert schlief Nacht für Nacht in Wohnungen von Freunden, damit die Spartakisten
die Reichskanzlei leer fänden, wenn sie anrückten. (Philipp Scheidemann,
Memoiren eines Sozialdemokraten, 1928, Band 2, S, 335; Konrad Haenisch,
Persönliche Erinnerungen an Friedrich Ebert, 1925, in: Sebastian Haffner,
Die Pariser Kommune - Ein Prolog zum 20. Jahrhundert, 1985, S. 175), und
der neue Volksbeauftragte Gustav Noske schien noch Hoffnung auf einen günstigen
Ausgang zu haben, da er in den westlichen Vororten Berlins versprengte Soldaten
zu »Freikorps« zusammenzustellen vermochte. Diese besaßen freilich
nur noch wenig Ähnlichkeit mit jenen regulären Truppen des »alten
Heeres«, die der Nachfolger Ludendorffs in einer kaum noch existenten »Obersten
Heeresleitung«, der General Wilhelm Groener, ihm zur Verfügung stellen
wollte, bevor sie sich zum Weihnachtsfest bis auf geringe Reste aufgelöst
hatten. Der so genannte »Pakt« zwischen Ebert und Groener und die
viel erörterte »geheime Telefonleitung«, mittels deren er realisiert
wurde, hatten wohl kaum die Bedeutung, die ihnen häufig zugeschrieben wird.
(Ebd., 2006, S. 53-54).Und dennoch war die Regierung der mehrheitssozialistischen
Volksbeauftragten unzweifelhaft die legitime Regierung Deutschlands, denn sie
verfügte in der Nation über eine beträchtliche, wenngleich nicht
absolute Mehrheit, wie der Ausgang der auf den 19. Januar 1919 angesetzten Wahlen
zur Nationalversammlung sehr deutlich zeigen sollte (**).
Eberts sozialistische Feinde dagegen wollten unter dem Zeichen ihres Ideals offensichtlich
vollendete Tatsachen schaffen, bevor der empirische Wille des Volkes sich artikulieren
konnte. Vom 30. Dezember 1918 bis zum 1. Januar 1919 tagte der Gründungskongreß
der »Kommunistischen Partei Deutschlands« in Berlin .... (Ebd.,
2006, S. 54).Die »Deutsche Arbeiterpartei«, die bald
den Namen »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei« annahm,
war zunächst nur ein kleiner und unbedeutender Teil davon, denn Ludendorff,
der in München Wohnung genommen hatte, wwollte kein Parteiführer, sondern
der Chef der ganzen »Nationalen Bewegung« sein. Daher läßt
sich kaum abschätzen, was aus der DAP geworden wäre, wenn sie nicht
schon bald in Adolf Hitler ihren Propagandisten und Führer gefunden hätte.
(Ebd., 2006, S. 100).Die Polemik gegen »Versailles«
springt ständig ins Auge (Hitler will vor allem nachweisen, daß der
Friede von Brest-Litowsk keinesfalls mit dem Diktat
von Versailles auf eine Stufe gestellt werden dürfe, sondern weitaus milder
gewesen sei. In dieser Einschätzung stimmte er mit Lenin überein.) ....
(Ebd., 2006, S. 101).Am 4. Oktober 1922 rief
Hitler bei einem »Deutschen Tag« dazu auf, »nach Italien zu
blicken«, und Ende Oktober schrieb er während der tage von Mussolinis
»Marsch auf Rom«, »gleich der faszistischen Bewegung in Italien«
habe es die junge Bewegung bisher verstanden, selbst bei einer Minorotät
an Zahl durch rücksichtslosesten Kampfwillen den jüdisch-marxistischen
Terror niederzubrechen. In der Tat hatte der »Partito Nazionale Fascista«
in Italien gegen die Sozialistische Partei innenpolitisch einen sehr viel härteren
und gewaltätigeren Kampf geführt, als die NSDAP es in Bayern getan hatte.
So konnte Hitler schon Anfang November 1922 zustimmend dagen: »Man nennt
uns deutsche Faschisten« - es gebe zwar einige Unterschiede, aber »die
unbedingte Vaterlandsliebe, den Willen, die Arbeiterschaft aus den Klauen der
Internationale zu reißen und den frischen kameradschaftlichen Frontgeist
haben wir mit den Faschisten gemein.« Der eigentliche Hintergrund war jedoch
offenbar die Überzeugung, die er um die gleiche Zeit in einer Rede
abermals formulierte: Die Gegenwart sei bestimmt durch den »Kampf auf Leben
und Tod zwischen zwei Weltanschauungen ..., in deren Kampf es nur Sieger und Vernichtete
geben wird .... Diese Einstellung ist dem Marxismus in Fleisch und Blut übergegangen
(siehe Rußland). ein Sieg der marxistischen Idee bedeutet die vollständige
Ausrottung des Gegners.« (**).
(Ebd., 2006, S. 103-104)Außerhalb allen Vergleichs
mit Mussolini standen seit 1925 bzw. 1927 die beiden Bände von Hitlers »Mein
Kampf«, und schon dadurch wird es notwendig, sich nicht mit dem Begriff
»Faschismus« zu begnügen, sondern den Nationalsozialismus Hitlers
als »Radikalfaschismus« zu definieren. In flüchtigem Umriß
lassen sich drei Hauptkennzeichen von »Mein Kampf« herausstellen:
| Die
Mythologisierung des antimarxistischen Kampfes als Folge eines genuinen ideologischen
Glaubens, der »Demokratie« und »Marxismus« als Methoden
»des Juden« zur Zertrümmerung der nationalen Unabhängigkeit
und zur Zerstörung der »Blutreinheit« verstehen will. Als Anklage
gegen »Zersetzung« und einen »Anschlag« auf die überlieferte
Kultur knüpft sie an die ältesten Gedankengänge der historischen
Rechten an, doch gewinnt sie einen neuartigen Charakter durch die Bezugnahme auf
den als »jüdisch« verstandenen Bolschewismus, so daß sich
ein Begriff wie »der Blutjude« bilden läßt. | | Die
außerordentliche Radikalisierung der außenpolitischen Konzeption:
Nicht die »Grenzen von 1914« sind anzustreben und erst recht nicht
eine Wiederaufnahme des Weltkriegs; vielmehr soll ein Bündnis mit Italien
sowie mit England geschlossen werden, um den »Germanenzug nach Osten«
wieder aufzunehmen und die Existenz des Volkes durch einen großen Raumeroberungskrieg
im Osten endgültig zu sichern. Zugleich aber wird ein Teil der Wilsonschen
Konzeption bewahrt und verengt: »Denn unterdrückte Länder werden
nicht durch flammende Proteste in den Schoß eines gemeinsamen Reiches zurückgeführt,
sondern durch ein schlagkräftiges Schwert«. (Adolf HItler, Mein
Kampf, 1925-1926, S. 689). Es handelte sich also um eine Fortsetzung der Siegfriedenskonzeption,
die jedoch durch das Motiv der nationalen Befreiung verändert und gestärkt
war. | | Die
Bekämpfung der »völkischen Wanderscholaren« und damit die
Tendenz zur Sammlungsbewegung, zu umfassender Organisation, zur Nachahmung kommunistischer
Methoden. Hier lag das eigentlich Neue: Die Rechte wurde durch Hitler modernisiert
und auch demokratisiert. Hitler erwies sich als Fanatiker und Demagoge, wie es
die Kommunisten waren, als Menschenverächter und Vergangenheitsfreund wie
die traditionellen Konservativen (**),
als Opportunist nach dem Vorbild der Parteien der Mitte: Eine so einzigartige
Mischung des anscheinend Heterogenen in einer charismatischen, überaus massenwirksamen
Persönlichkeit hatte es bis dahin in Deutschland und in der Welt noch nicht
gegeben. | Hitler als »Kleinbürger«
zu charakterisieren und ihn dadurch mit vielen Millionen anderer Menschen gleichzusetzen,
ist schlechthin grotesk. Seine Zeit mußte kommen, wenn die »stabilen«
oder sogar »goldenen« Jahre der Weimarer Republik in einer Wirtschaftskrise
größten Ausmaßes zu Ende gingen, so daß viele Millionen
von Menschen für einfache, aber erhellende Botschaften empfänglich wurden.
(Ebd., 2006, S. 161-162).Der Plan des US-Amerikaners Owen D. Young
sollte den Dawes-Plan ablösen .... Er ... setzte eine hohe Endsumme fest
und verteilte Zahlungen über mehrere Jahrezehnte (6
Jahrzehnte, genauer: 59 bis 60 Jahre, d.h. bis 1989; doch in Wirklichkeit ist
eine Ende gar nicht abzusehen, denn auch heute zahlt Deutschland munter weiter!
HB). Das war eine Entsprechung zu der Regelung der alliierten Schulden
gegenüber den USA. Aber für die Deutschnationalen war diese Regelung
wohl nicht bloß Vorwand für die Ausrufung eines »nationalen Widerstandes«.
Die Agitation überschritt jedoch bald alle Grenzen der Vernunft, ja des Anstandes:
Auf weit verbreiteten Plakaten schwang ein gehörnter Teufel mit Judenfratze
seine Peitsche über die Enkel des Jahres 1980 (denn:
bis 1989 waren ja jährlich mindestens ca. 34,5 Milliarden Goldmark [insgesamt
also: 2035,5 bis 2070 Milliarden Goldmark] zu zahlen! HB), die als
Schuldsklaven vor einem Pflug gespannt sind. So wurde im September 1929 von den
Deutschnationalen im Verein mit den Nationalsozialisten und dem »Stahlhelm«
im Reichstag ein Gesetzentwurf »gegen die Versklavung des deutschen Volkes«
vorgelegt. Dieses sogenannte »Freiheitsgesetz« des »Reichsausschusses
für das Volksbegehren« war ein Stück demagogischer Agitation,
zu der es bloß auf kommunistischer Seite Ähnlichkeiten gab. (Ebd.,
2006, S. 163).Die Regierung Brüning bedeutete von Anfang an
einen gewissen Rechtsruck, auch aufgrund von Brünings eigenen Überzeugungen.
Sein Kabinett war keineswegs ein »Young«-Kabinett, wie das Kabinett
Marx 1924 ein »Dawes«-Kabinett gewesen war, denn er hatte am 12. März
1930 den Young-Plan ein »Diktat« genannt, wie es für die Rechtsparteien
selbstverständlich war, und in seinem Kabinett gab es mehrere Männer,
die gegen den Young-Plan gestimmt hatten. Tatsächlich war ja in Deutschland
die konkrete Einsicht in die Notwendigkeit von »Reparationen« so gut
wie verschwunden, denn Frankreich befand sich, anders als noch 1926, in einer
ausgezeichneten finanziellen Lage, und der Wiederaufbau der zerstörten Gebiete
war nahezu beendet. Der Zusammenhang mit den Schulden der Alliierten gegenüber
den USA wurde selten wirklich wahrgenommen, und fast immer folgten neue Forderungen
auf die jeweiligen Konzessionen der Alliierten. Es war bezeichnend und beklagenswert,
daß bei den Feiern zur Räumung der Rheinprovinz im Jahr 1930 kein Wort
des Dankes an Stresemann fiel, sondern daß sofort die Saarfrage ins Spiel
gebracht wurde. Ähnliches gilt für das »Begräbnis erster
Klasse«, welches das Auswärtige Amt mit Zustimmung Brünings dem
»Europa-Plan« Briands bereitete, weil darin eine Fixierung des Status
quo enthalten zu sein schien. Alles Entgegenkommen gegenüber der Rechten
stimmte indessen weder die extreme Rechte noch gar die extreme Linke milder: Im
Rahmen der gleichen Konzeption siegt unter außergewöhnlichen Umständen
im Regelfalle die entschiedenere Version. So wurde in einem Wahlkampf von unerhörter
verbaler und teilweise schon handgreiflicher Wildheit die Regierung von Kommunisten
und Nationalsozialisten als » Young-Sklavenhalter« oder »Young-Verbrecher«
angegriffen, und der Erfolg gab den extremen Parteien in der bereits extremen
Situation Recht: die Kommunisten setzten ihren Aufstieg fort und errangen 77 Sitze,
die Nationalsozialisten aber gelangten zu dem schlechthin sensationellen Resultat
von 107 Mandaten. (**).
Von den anderen Parteien erlitten die Sozialdemokraten geringe und die Deutschnationalen
erhebliche Verluste. (**).
Die beiden liberalen Parteien hatten ebenfalls beträchtliche Einbußen
zu verzeichnen, während das Zentrum und die Bayerische Volkspartei einigermaßen
stabil blieben. (**).
Der Sondercharakter des Nationalsozialismus wurde am Beispiel dieses Wahlergebnisses
schon sehr deutlich. Einen so plötzlichen Aufstieg - nahezu eine Verzehnfachung
der Mandate (genauer: eine Ver-8,9-fachung, nämlich
von 12 auf 107! HB) - hatte es in der deutschen Parteiengeschichte
noch nie gegeben. Der Aufstieg der SPD vor dem Krieg hatte sich bis hin zu den
eminenten Erfolg der Reichstagswahlen von 1912 viel allmählicher vollogen
(**)
.... (Ebd., 2006, S. 183).Noch im Februar 1932 sagte der
Chef der Heeresleitung von Hammerstein-Equord zu dem britischen Botschafter Sir
Horace Rumbold, es sei ganz verkehrt, Hitler mit Mussolini zu vergleichen; Hitler
sei in Wahrheit eine ganz mittelmäßige Persönlichkeit. (Ebd.,
2006, S. 197).Das Grundproblem für
die NSDAP bestand daher nicht so darin, wie sie Anhänger gewinnen und sich
finanzielle Unterstützung verschaffen könnte, sondern wie sie ihre Indivdualität
behaupten und scharf herausstellen sollte, die aus der unerwarteten und paradoxen,
wenngleich im Zuge der Zeit liegenden Durchdringung zweier älterer und entgegengesetzter
Denk- und Lebensweisen bestand, der »nationalen« und der »marxistischen«.
Eine überzeugende Distanzierung sowohl nach links wie nach rechts war für
sie notwendig, und zur Veranschaulichung sollen drei Beispiele dienen: die Aktivität
von Goebbels in Berlin, das Verhalten Hitlers gegenüber seinen Bundesgenossen
in Harzburg und seine Rede im Industrie-Klub zu Düsseldorf am 27. Januar
1932. (Ebd., 2006, S. 197-198).Wenn
»die Industrie« Hitler gegenüber konsequent feindlich gewesen
wäre, würde dessen »Machtergreifung« im Sinne einer friedlichen
Machtübernahme mit Sicherheit unmöglich gewesen sein; aber weshalb hätte
sie so feindlich sein sollen, da sie in den Kommunisten schon Todfeinde in großer
Zahl hatte und sicherlich die alte Regel kannte, daß der Feind meines Feindes
mein Freund ist. Weit verwunderlicher war der Umstand, daß Hitler keineswegs
schon früh von der Industrie als Freund und Verbündeter betrachtet wurde.
Er hatte noch 1931 lediglich einige Freunde und Anhänger unter Industriellen
wie Fritz Thyssen und Emil Kirdorf, aber »die« Industrie stand ihm
eher mißtrauisch gegenüber, weil sie den »Sozialismus«
im Namen von Hitlers Partei doch nicht als ein bloßes Mittel zur Täuschung
der Massen ansah. Hitler mußte also um die Unternehmer werben, und der Aufsehen
erregendste Akt dieses Werbens war seine Rede
im Industrieklub zu Düsseldorf am 27. Januar 1932. (Original: Vortrag Adolf
Hitlers vor westdeutschen Wirtschaftlern im Industrie-Klub zu Düsseldorf
am 27. Januar. Erstaunlich ist, daß aus dieser so leicht als »demaskierend«
anzuklagende Rede von seiten der NSDAP durchaus kein Geheimnis gemacht wurde:
Die Broschüre erschien in der ersten Auflage im »1.-102. Tausend«.).
Zu Beginn konnten die versammelten Industriellen des Rhein- und Ruhrgebiets den
Eindruck haben, einen Nationalliberalen zu hören, und wer »Mein Kampf«
gelesen hatte, der wußte, daß es sich um genuine Überzeugungen
Hitlers handelte: Das Persönlichkeits- und Leistungsprinzip sei die Grundlage
jeder effizienten Wirtschaft, aber es sei gegenwärtig durch die Demokratie
und den Pazifismus gefährdet, welche auf dem Gedanken der allgemeinen Menschen-und
Völkergleichheit beruhten und damit den Konkurrenztrieb und den Ehrgeiz zerstörten.
Die größte aller geschichtlichen Errungenschaften sei der Wille der
weißen Rasse und insbesondere der Angelsachsen zur Ungleichheit, der in
der Praxis »die Ausübung eines außerordentlich brutalen Herrenrechts«
sei, aber allein den höheren Lebensstandard der »weißen Welt«
sichere. Inzwischen breite sich aber, parallel zu der langsamen Verwirrung des
europäischen weißen Denkens, eine Weltanschauung in einem Teil Europas
und einem großen Teil Asiens aus, die drohe, diesen Kontinent - Asien -
aus dem Gefüge der internationalen wirtschaftlichen Beziehungen herauszubrechen.
Diese Erscheinung sei nichts anderes als der Bolschewismus, der indessen sein
Ziel einer umfassende Senkung des wirtschaftlichen und kulturellen Niveaus nicht
verwirklichen könnte, wenn sich nicht auch innerhalb des deutschen Volkes
und der weißen Rasse insgesamt ein »Riß« aufgetan hätte,
der es ihm erlaube, an die überall vorhandenen geringwertigen Elemente zu
appellieren und durch die Parole von den »Proletariern aller Länder«
die politische Kohäsion der weißen Nationen zu zerstören. Und
so gelangt Hitler zu einer Prophezeiung, welche die gesamte Weltgeschichte im
Blick hat und die, wenn sie isoliert wird, sogar als große Respektdbezeugung
vor dem Kommunismus und insbesondere vor Lenin betrachtet werden kann: »Der
Bolschewismus wird, wenn sein Weg nicht unterbrochen wird, die Welt genauso einer
vollständigen Umwandlung aussetzen wie einst das Christentum. .... In 300
Jahren wird man, wenn diese Bewegung sich weiter entwickelt, in Lenin nicht nur
einen Revolutionär des Jahres 1917 sehen, sondern den Begründer einer
neuen Weltlehre, mit einer Verehrung vielleicht wie Buddha. Es ist nicht so, daß
diese gigantische Erscheinung etwa aus der heutigen Welt weggedacht werden könnte.
Sie ist eine Realität und muß zwangsläufig eine der Voraussetzungen
zu unserem Bestand als weiße Rasse zerstören und beseitigen.«
Offenkundig sieht Hitler sich als den einzigen Mann, der in der Lage wäre,
diese als verhängnisvoll eingeschätzte Entwicklung anzuhalten und sogar
umzukehren, indem er - mit einem kennzeichnenden Sprung von einer internationalen
zu einer völkischen Betrachtungsweise - sich zum Ziel setzt, »aus diesem
Konglomerat von Parteien, Verbänden, Vereinigungen, Weltauffassungen, Standesdünkel
und Klassenwahnsinn wieder einen eisenharten Volkskörper« zu machen,
wodurch allein der endgültige Untergang Deutschlands verhindert werden könne.
Heute ist die Kennzeichnung dieser Rede als »eurozentrisch« und »rassistisch«,
als »westlerisch« und »antiegalitär« nur allzu selbstverständlich,
und man darf sogar vermuten, daß Hitler über weite Strecken den Industriellen
nach dem Munde geredet habe. Aber daß er hier sein eigenes Denken vereinfacht
hat, geht schon aus der Tatsache hervor, daß die Juden nirgendwo erwähnt
werden. Das Schwanken zwischen Hochschätzung und Verwerfung läßt
sich auch bei anderen Ausführungen erkennen. Aber auf jeden Fall zwingt diese
Rede dazu, mindestens die Frage zu stellen, ob nicht das Verhältnis zum Kommunismus
das tiefste und bewegendste Motiv in Hitlers Ideologie ist, dem gegenüber
sowohl »Versailles« als auch das Alldeutschtum wie die gutliberale
Lehre vom kämpferischen Überleben der Tüchtigsten in den Hintergrund
treten. Wie immer der Gehalt dieser Rede zu ergänzen und auszulegen sein
mag, jedenfalls standen Hitler und sein Nationlsozialismus schon im Januar 1932
im Mittelpunkt der deutschen Politik, und wenn man den eindeutigsten Sinn der
Rede nicht in Zweifel zieht, dann mußte für Hitler der Kampf zwischen
der NSDAP und der KPD das zentrale Ereignis der nächsten Zukunft sein. Aber
für eine nüchterne Betrachtung unter primär nationalgeschichtlicher
Perspektive stellte sich der Nationalsozialismus zwar als eine bedeutende, aber
auch paradoxe und vielgesichtige Erscheinung dar: als plebejischer Aristokratismus
und revolutionärer Revolutionshaß, als antichristliche Verteidigung
des christlichen Abendlandes, als demokratische Demokratiefeindschaft, als kollektivistischer
Individualismus - prokapitalistisch und antikapitalistisch in einem, allem Vorhandenen
ähnlich und doch allem Vorhandenen feindlich, vom Zufall der Hitler'schen
Persönlichkeit abhängend und doch von beträchtlicher geschichtlicher
Notwendigkeit. Wenn die Mittelparteien als Verkörperung des nüchternen
Denkens untereinander im Prinzip einig blieben, konnten sie den Sieg über
ihre beiden Feinde erringen; wenn sie sich teilen ließen, würde allenfalls
ein Eingreifen der Reichswehr verhindern können, daß die letzte Entscheidung
im Kampf zwischen den beiden extremsitischen Parteien fiele. (Ebd., 2006,
S. 199-202).Schleichers großer Plan der Bildung einer »Querfront«
außerhalb des bisherigen Parteienstreits scheiterte im Grunde schon nach
wenigen Wochen. Die Spaltung der NSDAP gelang ihm nicht, die Kontaktaufnahmen
der Gewerkschaftsführer mit ihm wurden von der Führung der SPD nißbilligt
und unterbunden. Die SPD versagte sich ihrem Staat, den sie zwar mitgeschaffen,
aber doch nie als den ihren anerkannt hatte, weil sie den Zwang zur Synthese und
damit das Wesen des Liberalen
Systems nicht begriff oder nicht bejahte. Otto Braun allerdings legte jetzt
ein Verhalten an den Tag, das seiner eigenen Vergangenheit widersprach und die
Linie Gustav Noskes wieder aufgriff. In einer Unterredung mit Schleicher am 6.
Januar 1933 schlug er vor, der Kanzler möge die Verordnung über Preußen
aufheben. Braun werde wieder die Regierung übernehmen; gemeinsam werde man
die Auflösung von Reichstag und Landtag in die Wege leiten, die Wahlen bis
weit in das Frühjahr verschieben und einen nachdrücklichen Kampf gegen
den Nationalsozialismus führen. Aber Schleicher ging auf diesen Vorschlag
nicht ein, der zu einem viel zu späten Zeitpunkt ein Zusammenwirken zwischen
SPD und Reichswehr geschaffen hätte, dessen Fehlen für die ganze Geschichte
der Weimarer Republik kennzeichnend gewesen war. (Ebd., 2006, S. 224).Über
die Ereignisse der vier Januarwochen (vor Hitlers Machtübernahme
am 30. Januar 1933; HB) ist viel geschrieben worden und vornehmlich
über die Verhandlungen und Kontaktaufnahmen zwischen einzelnen Personen wie
das Zusammentreffen von Hitler und Papen im Hause des Kölner Bankiers von
Schröder am 4. Januar oder das Gespräch zwischen Hitler und Oskar von
Hindenburg (Sohn von Paul von Hindenburg; Anm HB).
(.... Heute ist bei jüngeren, und hier und da auch bei älteren Historikern
eine beträchtliche intellektuelle Anstrengung erforderlich, wenn die geistige
politische und nicht bloß die parlamentarische Realität der Weimarer
Zeit vor das geistige Auge treten soll. ....). (Ebd., 2006, S. 224-225).
Engagierte Reflexion
Engagement und Reflexion
»Engagierte Reflexion«
wäre also derjenige Teil der intellektuellen und politischen Auseinandersetzungen,
der sich durch Distanz und Niveau von politischer Propaganda oder direkter Parteinahme
unterscheidet. Aber für diese Unterscheidung gibt es keine eindeutigen Kriterien,
und manchmal ist es nur der Mangel an Niveau, der bestimmte parteipolitische Stellungnahmen
ausschließt. Das gilt besonders dann, wenn im folgenden die Einteilung nach
politischen Kriterien erfolgt, nämlich nach den Begriffen »links«,
»rechts« und »Mitte«. Dadurch entsteht die Gefahr, daß
diejenigen Autoren, die diesen Begriffen nicht mit Bestimmtheit zuzuordnen sind,
durch die Subsumtion unter eine Kategorie das Wichtigste verlieren, nämlich
ihre Wandlungsfähigkeit, ihr Hindurchgehen durch mehrere Positionen und damit
jene Art von prononcierter Reflexion, die mit Fort- und Übergängen verknüpft
zu sein pflegt. Gerade in der Weimarer Republik fehlt es nicht an Beispielen dafür,
zumal wenn man die Vorkriegszeit und die Kriegsjahre mit in die Betrachtung einbezieht.
(Ebd., 2006, S. 230).Walther Rathenau, jüdischer Großindustrieller,
Mitorganisator der Kriegswirtschaft und bedeutender Staatsmann der Weimarer Republik,
vertrat in der Vorkriegszeit Auffassungen, die man heute »antisemitisch«
und »rassistisch« nennen würde. Er bezeichnete seine Glaubensgenossen,
die anderen Juden, als »eine asiatische Horde auf märkischem Sand«;
er sah in den Offizieren der deutschen Armee einen höheren Menschentypus
als in den Mannschaften; er entwickelte eine Anthropologie von den Furcht- und
den Mutmenschen, wobei seine Bewunderung ganz und gar den (aristokratischen und
germanischen) »Mutmenschen« galt, und wenn er schon früh deren
Niederlage vorhersah, so war seine Wertung durchaus pessimistisch. Aber dann machte
ihm der Sieg des Bolschewismus in Rußland einen großen, fast rundum
positiven Eindruck, und er sagte ihm den weltweiten Sieg voraus, wenn auch nur
für die ferne Zukunft und in einer tief greifend veränderten Gestalt.
Und schon für die Gegenwart verlangte er die Ablösung der einst so bewunderten
mehrschichtigen Gesellschaft durch eine »einschichtige«, die allerdings
mit der »klassenlosen Gesellschaft« von Marx nicht identisch sein
sollte. (Vgl. Ernst Nolte, Geschichtsdenken
im 20. Jahrhundert, S. 98-110). (Ebd., 2006, S. 230).Max
Scheler hatte zu Beginn des Krieges eines der hervorstechenden Bücher der
deutschen Kriegsliteratur geschrieben, dessen Inhalt schon durch den Titel kenntlich
wird: »Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg«. Er war also
ein Hauptvertreter der so genannten »Ideen von 1914« .... So ist für
Scheler dieser Krieg schon deshalb ein gerechter Krieg, weil es darin um
die »Macht im Herzen der Welt - ja um das Herz des Herzens der Welt, um
die Hegemonie in Europa« geht. (Deutschland war die
einzige Hegemonialmacht in Europa und mußte diese Hegemonie in Europa ja
verteidigen! HB). Aber es ist gerade kein bloßer Machtstaat,
der in die Arena tritt. Vielmehr sind Deutschland und Österreich-Ungarn »derjenige
Teil der germanisch-keltischen Völker Westeuropas, in denen der Geist des
Edelsinns noch die Herrschaft im Staate besitzt« und der sich daher weder
von einseitigen reaktiven Racheimpulsen wie in Frankreich noch vom rein kapitalistischen
Räubergeist wie England leiten läßt. Aber nicht nur dieser
Krieg ist Schelers Thema, sondern auch der Krieg als solcher, der »ein dynamisches
Prinzip kat exochén der Geschichte ist«, angesichts
dessen die positivistisch-pazifistische Geschichtstheorie ultrareaktionär
sei. In der Zeit der Weimarer Republik schrieb Scheler jedoch seinen Aufsatz über
den Menschen »im Weltalter des Ausgleichs«, der sich ganz »westlich«
ausnimmt, und er hielt den Vortrag über »Die Idee des Friedens und
der Pazifismus«. Sowohl durch die eine als auch durch die andere Schrift
ist es gerechtfertigt, Scheler einen prominenten Platz unter den Denkern der »Mitte«
zuzuweisen, obwohl sich bei genauerem Hinsehen zeigt, daß man dennoch nicht
von einem Übergang zu einer »positivistisch-pazifistischen Geschichtstheorie«
sprechen darf. (Vgl. ebd., S. 248-256). (Ebd., 2006, S. 230-231).Thomas
Mann hatte während des Krieges jene »Betrachtungen eines Unpolitischen«
geschrieben, die noch schärfer, als Scheler es tat, Deutschland und »den
Westen« einander entgegensetzten: Deutschtum das sei »Kultur, Seele,
Freiheit, Kunst« und nicht »Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht.
....«, die von den westlichen Alliierten auf ihr Banner geschrieben worden
seien. Was die »Zivilisationsliteraten« (nicht zuletzt sein Bruder
Heinrich) als »Obrigkeitsstaat« herabsetzen, ist für Thomas Mann
das feste Gehäuse, in dem die Grundmächte des Lebens wie Zeugung, Tod,
Religion und Liebe sich zur »Kultur« entfalten können, während
der Westen im ewigen Geschwätz der politisierten Massen nur zum Haß
auf jede Überlegenheit, jede sachverständige Autorität führen
und nichts Besseres als »ein Geschäfts- und Lusteuropa a la Edward
the Seventh« hervorbringen könne. Allerdings macht sich in seinen Tagebüchern
bereits zu dieser Zeit eine unverkennbare Neigung für Kommunismus, Spartakismus
und Bolschewismus bemerkbar, und er erklärt ausdrücklich die Gerüchte
über seinen Anschluß an die USPD für »nicht sinnlos«,
doch der Grund ist ausschließlich der, daß diese Linke zu großen
Teilen »national und anti-ententistisch« ist. Nach dem Ende der Räterepublik
aber, sechs Wochen später, formuliert Thomas Mann im Gespräch mit seiner
Frau eine Wendung, der Hitler keine noch radikalere hätte entgegensetzen
können, wenn er damals schon zu schriftlichen Stellungnahmen aufgefordert
worden wäre: » .... Wir sprachen auch von dem Typus des russischen
Juden, des Führers der Weltbewegung, dieser sprengstoffhaften Mischung aus
jüdischem Intellektual-Radikalismus und slawischer Christus-Schwärmerei.
Eine Welt, die noch Selbsterhaltungsinstinkt besitzt, muß mit aller aufbietbaren
Energie und standrechtlicher Kürze gegen diesen Menschenschlag vorgehen.«
(Thomas Mann, Tagebücher 1918-1921, S. 233). Schon im Jahre 1922 nahm
Thomas Mann indessen von dieser Interpretation, an der Hitler zeit seines Lebens
festhielt, auf dezidierte Weise Abschied, indem er seine Rede »Von deutscher
Republik« hielt, das meiste von dem, was er bis dahin als bloße Zivilisation
abgetan hatte, mit einem positiven Akzent versah und unter Berufung auf Walt Whitman
»Humanität« und »Demokratie« für »einerlei«
erklärte. Der Vortrag zu Ehren Gerhart Hauptmanns klang zum Mißfallen
des großenteils studentischen Publikums in den Ruf aus: »Es lebe die
Republik!« Von noch viel konkreteren politischen Stellungnahmen war
die Rede erfüllt, die Thomas Mann unter dem Titel »Ein Appell an die
Vernunft« nach den Septemberwahlen von 1930 (**)
hielt und die eine ganz unzweideutige Verurteilung des Nationalsozialismus als
eines Bestandteils der »Riesenwelle exzentrischer Barbarei und primitiv-massendemokratischer
Jahrmarkthohlheit« enthält, die durch die Welt gehe. Zwar subsumiert
er unter das »Massendemokratische« nicht nur das »Dritte Reich«,
sondern auch die »proletarische Eschatologie«, aber die stärkere
Abneigung gilt offenbar der »blauäugig gehorsamen und strammen Biederkeit«,
die merkwürdigerweise mit dem »Veitstanz des Fanatismus« Hand
in Hand geht. Das konkrete politische Postulat lautet, der Platz des deutschen
Bürgertums sei heute an der Seite der Sozialdemokratie. Dennoch handelt es
sich nicht um eine parteipolitische Rede, denn am Ende stellt er »voll Sorge
und Liebe« einen Namen in die Mitte »wie 1914 (!) und 1918, den Namen
Deutschland«. Der Thomas Mann der Weimarer Republik hat den Thomas Mann
des Weltkrieges also keinesfalls nur fortgestoßen. Aber einer der jugendlichen
Zuhörer, berichtet Joseph Goebbels zu dessen unverkennbarer Befriedigung,
er und einige Gesinnungsgenossen hätten Thomas Mann auf den Kopf gespuckt,
weil er »die Bewegung« aufs schwerste beleidigt habe. (Vgl. Joseph
Goebbels, Tagebücher, Band 1, S. 620) (Ebd., 2006, S. 232-233).
In Martin Heideggers »Sein
und Zeit« kommt kein einziger Name eines Weimarer Politikers oder
einer Weimarer Partei vor, so gewiß das Buch nach verbreiteter Meinung
das »Lebensgefühl« der Weimarer Zeit zum Ausdruck brachte,
etwa durch die zentrale und negative Position, die dem »man«
zugewiesen wird, jenem Aufgehen im Anonymen, dem das Dasein verfällt,
wenn es sich nicht zur Höhe des existenziellen, des todbereiten Selbstseins
erhebt. Und doch kommt in dieser anscheinend zeitenthobenen, an keine
bestimmte Epoche gebundenen Ontologie der »Geschichtlichkeit«
im § 74 plötzlich das »Geschick« als das Geschehen
der Gemeinschaft, des Volkes, auf, und mit der Wahl dieses Begriffs erklärt
sich Heidegger offenbar gegen den marxistischen Begriff der Klasse als
der am tiefsten prägenden Gemeinschaft. Und daß Heidegger nicht
völlig über den politischen Wassern Weimars schwebte, geht noch
anschaulicher aus einem Brief hervor, den er im Oktober 1928 über
seine Vortragsreise nach Riga an eine seiner Studentinnen schrieb: Riga
habe die Jahre des Krieges und der Bolschewistenherrschaft noch nicht
überwunden, die Schicksale der Balten seien erschütternd. In
einem anderen Briefe erinnert er einige Zeit später, im Sommer 1932,
an frühere Gespräche, in denen er gegen den Liberalismus als
eine Macht der Nivellierung und der Herabsetzung der Maßstäbe
Stellung genommen habe - gegen den Liberalismus, der durch den »Jesuitismus«
der Zentrumspartei und Brünings gefördert worden sei. Und er
gelangt zu dem erstaunlichen, ohne politische Leidenschaft gar nicht vorstellbaren
Satz: »Kommunismus u.a. ist vielleicht grauenhaft, aber eine klare
Sache - Jesuitismus aber ist, verzeihen Sie, teuflisch« (Martin
Heidegger, Briefwechsel 1918-1969, S. 52). (Ebd., 2006, S.
234).
Alle
diese Nähen und Fernen zwischen »Engagement« und »Reflexion«
muß man sich vor Augen halten, wenn man sich mit der »engagierten
Reflexion« zahlreicher Denker, Schriftsteller und Publizisten der Weimarer
Republik befassen will. Die »Kriegschuldfrage«
dürfte ein geeigneter Ausgangspunkt sein, denn sie berührte alle Menschen
der Weimarer Republik aufs tiefste und auf die dauerhafteste Weise; ihr gegenüber
bildeten sich am frühesten und klarsten die Denkwege und Parteinahmen aus,
die es vor dem Kriege als solche noch nicht hatte geben können, auch wenn
sie auf vielfältige Weise in Denkansätzen und Parteidoktrinen vorbereitet
worden waren. Danach wird die Einteilung in »Linke«,
»Rechte«
und »Mitte«
maßgebend sein, wobei zur »Mitte« auch diejenigen gezählt
werden sollen, die nicht der radikalen Linken oder Rechten angehören. Sowohl
die extreme Linke als auch die extreme Rechte sind in aller Regel so sehr vom
Feuer politischer Leidenschaft erfüllt, daß von ihnen Reflexion in
dem gekennzeichneten Sinne nicht erwartet werden darf. Daß nur beispielgebende
Repräsentanten herangezogen werden und enzyklopädische Vollständigkeit
nicht erstrebt wird, dürfte sich von selbst verstehen. (Ebd., 2006,
S. 234-235).
Die Kriegsschuldfrage
Der »Weltkrieg«
des Jahres 1914 war in seinen Anfängen ein europäischer Krieg, d.h.
ein Krieg zwischen den Großmächten Europas, und er war als solcher
nichts völlig Präzedenzloses: In den Dreißigjährigen Krieg
des 17. Jahrhunderts, in den Spanischen Erbfolgekrieg des frühen 18. Jahrhunderts
und in die napoleonischen Kriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren mehr oder
weniger alle Mächte Europas verwickelt, und die Menschenverluste waren ungeheuerlich
gewesen. Aber jedesmal war ein Friede geschlossen worden, in dem die Kontrahenten
sich trotz ihrer Kriegsverluste bzw. -gewinne gegenseitig von neuern anerkannten
und einander das »Vergessen« einräumten, welches das Fortschwären
der Wunden des Krieges verhindern sollte. Der Deutsch-Französische Krieg
von 1870-1871, das letzte große kriegerische Ereignis auf europäischem
Boden vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts, hatte lokalisiert werden können,
aber er hatte auf der Seite der Unterlegenen eine tief sitzende Erbitterung und
einen Wunsch nach »Revanche« hinterlassen, zu denen es nach den früheren
Friedensschlüssen keine rechte Analogie gegeben hatte. Vermutlich war dafür
der Umstand nicht ohne Bedeutung, daß Frankreich eine »Kriegsschuld«
eingestanden hatte und daß dieses Eingeständnis ohne positive Folgen
geblieben war, denn der Frankfurter Friede war sehr hart und entriß Frankreich
zwei seiner schönsten Provinzen, die freilich erst 105 bis 190 Jahre zuvor
erobert (geraubt! HB) worden waren. Und das
Schuldeingeständnis bezog sich nicht auf »Frankreich«, sondern
ausschließlich auf den gestürzten Herrscher, Napoleon III., und es
war zugleich eine Waffe in dem seit zwei Jahrzehnten tobenden Kampf zwischen den
Gegnern des »Bonapartismus« und den Anhängern des Kaisers. Die
Nationalversammlung in Bordeaux drückte einem längst vollzogenen Akt
nur das letzte Siegel auf, als sie am 1. März 1871 feierlich erklärte,
Napoleon und seine Dynastie seien abgesetzt und er sei »responsable de la
ruine, de l'invasion et du démembrement de la France«. Aber die Geschichte
der inneren Auseinandersetzungen der Franzosen um das richtige Verständnis
dieser Niederlage war damit noch längst nicht beendet, und führende
Denker wie Ernest Renan und Hyppolite Taine schrieben Abhandlungen voller »engagierter
Reflexion«, während die großen Parteien der Liberalen und der
Katholiken den Schuldspruch zwar erweiterten, nämlich auf die Preußenfreunde
in Frankreich selbst, aber von der Eindeutigkeit des Verdammungsurteils keine
Abstriche machten (siehe oben, S. 35f.). (Ebd., 2006, S. 235-236).Die
folgenden Jahrzehnte sahen den erstaunlichen Aufstieg der sozialistischen Parteien
in ganz Europa und vornehmlich in Deutschland und Frankreich, und deren konkretes
Hauptangriffsziel war der drohende Krieg als eine aus dem kapitalistischen System
unmittelbar resultierende Gefahr, so daß ein Pazifismus ganz neuer Art entstand,
der sich nicht mehr primär in der Abwehr begriffen sah, indem er sich auf
»Humanität« und »Zivilisation« berief, sondern für
den die »Abschaffung des Krieges« ein bloßer Teil eines viel
umfassenderen »Abschaffens« war, nämlich des kapitalistischen
oder marktwirtschaftlichen Systems und dessen Ersetzung durch das planwirtschaftliche,
auf Bedarfsdeckung und nicht auf Profit oder Erweiterung ausgerichtete klassen-
und staatenlose System des Sozialismus. Der Wille zum Frieden war hier also -
mindestens in der Theorie - eng mit dem Willen zu einer Kriegsmaßnahme der
umfassendsten Art verknüpft, welche sich allerdings in einer » Weltrevolution«
vollziehen sollte, die überall nur den so gut wie unblutigen Sturz einer
kleinen »aneignenden« und also ausbeuterischen Gruppe von Kapitalmagnaten
implizieren würde. Diese idyllische Zukunftserwartung war in ihrem Charakter
als Utopie mit ältesten Menschheitshoffnungen eng verwandt und knüpfte
ebensosehr an die edelsten Motive großer Massen von Menschen - keineswegs
nur von »Arbeitern« - an, wie sie einen rücksichtslosen Kampfwillen
auslösen konnte, sobald sich herausstellte, daß der drohende Kriegsausbruch
nicht durch das Zaubermittel des gesamteuropäischen Generalstreiks verhindert
werden konnte. gewiß hatte sich längst in allen sozialistischen Parteien
eine Trennung zwischen »Sozialisten« oder Revolutionären und
»Sozialdemokraten« oder Reformisten herausgebildet, und damit zeichnete
sich am Horizont die Möglichkeit eines »Bruderkampfes auf Leben und
Tod« zwischen den beiden Flügeln »der Arbeiterbewegung«
ab. Aber auch der sozialdemokratische Flügel stellte sich den kriegsgegnerischen
Emotionen nicht in den Weg und trug zu jener Massenstimmung bei, die den Kriegsausbruch
1914 von allen bisherigen Anfängen eines Krieges so völlig verschieden
sein ließ: als eine große und weit verbreitete Hoffnung zerstört
wurde und ganz andersartige Massenemotionen den leeren Platz einnahmen, nämlich
auf der Seite Frankreichs und Belgiens der Wille, sich gegen eine unmittelbar
drohende Invasion zur Wehr zu setzen, und in Deutschland die Vermutung, einem
Angriff des russischen und weithin als »barbarisch« empfundenen Zarismus
entgegentreten zu müssen. (Ebd., 2006, S. 236-237).So
war es von vornherein unwahrscheinlich, daß jene (nach der Formulierung
Max Schelers) »edelsinnige« oder »ritterliche«, vom damaligen
völkerrecht gestützte Auffassung sich hätte durchsetzen können,
welche die Frage der »Kriegsschuld« gegenstandslos gemacht hätte
und die sich im Munde Wilhelms II. folgendermaßen hätte artikulieren
können: »Mein Bundesgenosse ist zum Angriffsobjekt einer kriegsähnlichen
Handlung geworden, und er muß sich mit einer radikalen Gegenmaßnahme
zur Wehr setzen, d.h. mit einem Krieg gegen Serbien. Ich unterstütze ihn
gemäß dem Sinn und dem Wortlaut unserer Verträge; wenn die formellen
oder informellen Freunde Serbiens diesem Lande Hilfe leisten wollen, so ist das
ihre Entscheidung; dann werfen alle Mächte, wie ich es tue, ihr Schwert in
die Waagschale, und über den Ausgang wird Gott allein entscheiden;
moralistische Urteile einzelner oder auch vieler Menschen sind ohne jeden Belang.«
(Ebd., 2006, S. 237).Was hier (in Versailles;
Eröffnung am 18.01.1919, Unterzeichnung am 28.06.1919, Inkrafttreten am 10.01.1920;
Anm HB) verurteilt wurde, war ... nicht etwa nur das Verhalten der deutschen
Regierung in der Juli-Krise und auch nicht das herausfordernde Auftreten des Kaisers
in früheren zeiten, sondern es war die Existenz des Bismarck-Reiches als
eines solchen, und die Vermutung mußte sich aufdrängen, daß unter
der »Wiedergutmachung« des »Übels« nichts anderes
verstanden wurde als die Zurückversetzung Deutschlands in den Zustand des
»Deutschen Bundes« (auch deshalb
ist es kein Zufall, daß nach dem 2. Weltkrieg der Staat in West-Deutschland
die »Bundesrepublik Deutschland« wurde; und wer daran
das größte Interesse hatte, ist bekannt; Anm HB), der
doch von nahezu allen deutschen Parteien als ein Zustand der politischen Ohnmacht
bekämpft worden war. Gegn diesen Schuldvorwurf und dessen abzusehenden Konsequenzen
mußte ... das ... Nationalgefühl geradezu aufbrennen, und kein geringerer
als Max Weber machte sich zu dessen Sprecher, als er nicht nur einen Teil der
deutschen Antwort formulierte, sondern in Aufsätzen und Artikeln einen heftigen
Zorn, verbunden mit Drohungen, artikulierte, die hinter Gambettas Zorn und seinen
Willen zur Revanche nicht zzurückstanden. Die große Mehrheit des deutschen
Volkes scheint einen solchen Zorn aber erst empfunden zu haben, als der Wortlaut
des »Diktats«
und damit der Wortlaut des »Kriegsschuldparagraphen«
231 bekannt wurden (**)
.... Aber daß die ganze Härte des Vertrages ohne den Vorwurf der Kriegsschuld
nicht zustande gekommen wäre (aha!), ist eine
richtige Einsicht, und diese rief sofort zwei Gegenvorwürfe hervor: Die Alliierten
hätten ihrerseits einen beträchtlichen (einen
größeren!) Anteil an der Kriegsschuld (**),
und bestimmte deutsche Kräfte - Pazifisten wie Bloch u.a., aber auch die
USPD, ja möglicherweise der ganze »Marxismus« einschließlich
der Mehrheitssozialdemokratie - trügen die Schiuld am Verlust des Krieges.
(Ebd., 2006, S. 244).Ebenso wie die Publikation der »Großen
Politik« wissenschaftlich ertragreich war, aus welchen Motiven immer sie
ursprünglich entstanden sein mochte, so war auch die Gründung einer
eigenen Zeitschrift für die Erörterung der »Kriegsschuldfrage«
unter eben diesem Titel für die Wissenschaft von beträchtlichem Wert,
obwohl die Motive des vom Auswärtigen Amt unterstützten Herausgebers
Alfred von Wegerer zweifellos von »revisionistischer« oder »rechter«
Art waren (vgl. Zentralstelle für die Erforschung der Kriegsursachen [Hrsg.],
Die Kriegsschuldfrage - Monatsschrift für internationale Aufklärung,
Jahrgang I und II; später lautete der Titel: Berliner Monatshefte).
Nicht wenige der Studien stammten von ausländischen Gelehrten, und wenn auch
diese, wie etwa der US-Amerikaner Harry Elmer Barnes (**),
überwiegend zur Verneinung einer exklusiven deutschen Kriegsschuld gelangten,
so kam die entgegengesetzte Auffassung doch häufig genug zu Wort, daß
zwar nicht alle einzelnen Abhandlungen, aber doch jedenfalls die Zeitschrift im
Ganzen zur Gattung der »engagierten Reflexion« zu zählen sind.
Vor allem wurden Tatsachen und Geschehnisse in die Betrachtung einbezogen, die
von den Juli-Ereignissen weit entfernt und dennoch für den Charakter des
Krieges aufschlußreich waren, etwa die kriegshetzerische Sprache der maßgebenden
serbischen Zeitschrift » Politika« vor dem Krieg und die Vergewaltigung
des neutralen Griechenland durch die Alliierten im Krieg (**).
(Ebd., 2006, S. 246).Für beträchtliche Zeit waren die
Fronten noch nicht vollständig verhärtet, und man konnte in Büchern
prominenter Staatsmänner und Feldherren beider Seiten Äußerungen
und Feststellungen finden, die der Gegenseite ein gewisses Recht zugestanden,
so wenn der Großadmiral von Tirpitz in seinen Erinnerungen von »unseren
ohne zwingenden Grund ... erfolgten Kriegserklärungen an Rußland und
Frankreich« sprach (vgl. Alfred von Tirpitz, Deutsche Ohnmachtspolitik
im Weltkrieg, 1926, S. 13; das Buch, von tiefer Bitterkeit gekennzeichnet,
entwirft das Bild einer »Polykratie«, das von all denjenigen zur Kenntnis
genommen werden sollte, die einer Ausdehnung des Begriffs auf das Hitler-Regime
das Wort reden) oder wenn Winston Churchill die äußerst bedrohliche
Lage der Alliierten im Jahre 1917 beschrieb, aus der sie nur durch die Intervention
der USA, also einer nichteuropäischen Macht, gerettet worden seien (**).
(Ebd., 2006, S. 246).Aller Wahrscheinlichkeit nach war
es das ungeplante Zusammenwirken zahlreichet »kleiner« Ursachen und
Urheber, das zum »großen« Ausbruch des Krieges führte,
und die Suche nach konkreten Schuldigen war ebenso verständlich wie letzten
Endes schon von der Sache her inadäquat, und am inadäquatesten war sie
dann, wenn - wie von seiten des Spartakusbundes materielle Faktoren als Ursachen
und nicht als Folgen angeführt wurden. Es war gewiß richtig, daß
viele Kriegsgewinnler große Profite machten und reichlich über Lebensmittel
verfügten, aber was bedeutete ihnen das, wenn es ihnen allenfalls in ganz
seltenen Fällen erlaubte, ihre Söhne vor den Gefahren des Krieges zu
bewahren? Und die Junker und Junkersöhne erlitten als Offiziere im Krieg
so überproportionale Verluste, daß sie ihre frühere Vorherrschaft,
die für sie die Erhaltung einer altüberlieferten Lebenswelt mit ihren
Leistungen, Normen und Gewohnheiten bedeutete, schon aus biologischen Gründen
in der Nachkriegszeit nicht unverändert hätten aufrechterhalten können.
Bewiesen wurde in der langen und erbitterten Schulddiskussion nicht viel mehr,
als daß Deutschland den Österreichern freie Hand für eine Strafaktion
gegen Serbien gegeben hatte, aus der mit einiger Wahrscheinlichkeit ein großer
Krieg entstehen konnte, aber wenn schon die Inkaufnahme dieser Möglichkeit
so viel wie Schuld bedeutete, dann waren die Bündnissysteme und -verpflichtungen
der europäischen Staaten die wahren Schuldigen an diesem Krieg. (Erst seit
dem 11. September 2001 weiß die Welt, wie eine Großmacht reagiert,
wenn sie auf ihrem eigenen Gebiet zum Ziel eines terroristischen Anschlags auf
einen symbolischen Ort oder auf eine symbolische Person wird. Aber schon inmitten
der Aufregung über das österreichische Ultimatum stellte ein Engländer
die Frage, wie England sich wohl verhalten würde, wenn der britische Kronprinz
auf den Straßen Peshawars von »Terroristen« bzw. »Freiheitskämpfern«
erschossen worden wäre.). (Ebd., 2006, S. 250).
Die Linke
Im Juli 1916 schrieb der junge Max Horkheimer
...: »Wir sind Menschenfresser, die sich darüber beklagen, daß
das Fleisch der Geschlachteten Bauchweh macht. .... Du genießt die Ruhe
und den Besitz, für den die draußen ersticken, verbluten, sich in Krämpfen
winden und drinnen schlechte Schicksale erdulden, wie das Katharina Krämers.
.... Andere verbrennen lebendig, bei Bewußtsein an giftigen Gasen, damit
Deinem Vater das Geld erhalten bleibe, mit dem Du Deine Therapie bezahlst. ....«
(Offenbar reichte die Zeichnung eines noch so bedrückenden Elendsbildes Horkheimer
nicht aus, sondern er bezieht den Krieg ein, wie die Wendung im Schlußsatz
deutlich macht.). Max Horkheimer läßt sich offenbar von dem Empfinden
leiten, das man ein menschliches oder »bürgerliches« Urempfinden
nennen kann, demjenigen eines gesellschaftlichen Unterschieds und der eigenen
Bevorzugung. Aber zugleich vollzieht er den Übergang zur Selbstanklage: Die
eigene Bevorzugung ist durch die Benachteiligung des anderen Menschen, ja einer
ganzen Menschenklasse verursacht und deshalb ungerecht. Dies ist die Wurzel der
»linksbürgerlichen« Einstellung, und sie hat hohen Respekt verdient.
Aber auch eine ganz andere Auslegung ist möglich: Die »Reichen«
sind im industriellen System nichts anderes als die Vorhut der allgemeinen Verbesserung
und Hebung des Lebensstandards; selbst krasse Unterschiede dürfen nur durch
Armenfürsorge oder Sozialpolitik gemildert, aber keinesfalls gewaltsam beseitigt
werden, da die einzige Alternative, die der gleichheitlichen Verteilung, zu einer
weit umfassenderen Armut für alle führen würde. Eine solche Überlegung
würde Horkheimer als unmoralisch zurückgewiesen haben, und der Marxismus
bot ihm einen zufrieden stellenden Ausweg an: Der moderne Sozialismus sei kein
Verteilungssozialismus, sondern ein überlegenes Produktionssystem, das viel
mehr an Reichtum erzeugen werde als das anarchische, krisengeschüttelte System
des Kapitalismus. Aber ein zwingender Beweis war nicht zu erbringen, und damit
kam ein anderer, ein ebenfalls menschlicher und »bürgerlicher«
Grundimpuls ins Spiel: Den Sperling in der Hand nicht für die Taube auf dem
Dach aus der Hand zu geben und die Realität nicht zugunsten einer Utopie
zu verspielen - am wenigsten dann, wenn die ebenso wohltuende wie unheilvolle
These aufgestellt wurde, man brauche nur die Profite der Unternehmer unter die
Arbeiter zu verteilen, um zu einem gerechten sozialen System zu gelangen. So war
die »rechtsbürgerliche Auffassung mit hoher Wahrscheinlichkeit die
richtigere, aber das linksbürgerliche Empfinden war (scheinbar)
moralischer. (Ebd., 2006, S. 254-256).Aber es war faktisch
nicht möglich, die Anhänger nur durch die Parole der »Weltrevolution«
und der künftigen globalen Gesellschaft zu einigen. Vielmehr ziehen sich
durch die ganze Geschichte der KPD Versuche, ein positives Verhältnis zu
der konkreten Gemeinschaftsform der »Nation« zu gewinnen, und aus
den Kreisen der bürgerlichen Sympathisanten wuchs der Partei viel an Unterstützung,
aber auch an Konfliktmöglichkeiten zu. Der entsprechende Oberbegriff, unter
dem diese Tendenzen häufig zusammengefaßt wurden, war »Nationalbolschewismus«
(»Nationalkommunismus«; HB), und
dieser machte schon durchs ein Dasein sowohl die Stärke als auch die Schwäche
der kommunistischen Vorstellungen und Zielsetzungen offenbar. (Ebd., 2006,
S. 257-258).Es ist ja durchaus umstritten,
ob er überhaupt der Linken und nicht vielmehr der Rechten zuzuzählen
ist. Eindeutig rechts waren ohne Zweifel alle Bestrebungen, die Existenz Sowjetrußlands
für den Kampf gegen die westlichen Alliierten nutzbar zu machen, wie sie
sogar bei Seeckt erkennbar waren und zunächst auch Thomas Manns Einstellung
bestimmten. Ebenso wenig wird man diejenigen für Linke halten dürfen,
die in der bolschewistischen Realität Kennzeichen der eigenen Welt- und Lebensanschauung
wahrnahmen, etwa die Hochschätzung von Disziplin, Über- und Unterordnung,
Dienst-Ethik und ähnlicher Tugenden. Aber ganz anders stand es um die »Hamburger
Nationalkommunisten« um Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim (**),
die aus aufrichtiger Überzeugung den Anti-Versailles-Impuls (**)
in das Handeln der Kommunistischen Partei einbringen wollten, und anders stand
es insbesondere um jene Schlageter-Rede, in der Radek sich auf Scharnhorst und
Gneisenau berief und die Begriffe »Volk« und »Nation«
mit einem positiven Akzent versah. Ähnliches galt für das Programm zur
nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes« vom August 1930
und nicht zuletzt für den »Scheringer-Kurs« vor der nationalsozialistischen
Machtübernahme. Undurchsichtig waren die letzten Motive jener Nationalrevolutionäre
um Otto Straßer und in dessen Nachbarschaft, die verlangten, Deutschland
solle im Befreiungskampf der unterdrückten Völker die Führung übernehmen,
und die nicht selten Lenin als Vorbild hinstellten. Ein klares Kriterium stellte
dann die Reichspräsidentenwahl vom März/April 1932 dar: Mehrere nationalbolschewistische
Gruppen unterstützten direkt oder indirekt die Wahl Thälmanns und stellten
sich damit eindeutig gegen diejenigen, die bloß aus nationalistischen Gründen,
wie vor 1926 auch der junge Goebbels, der »Oststorientierung« das
Wort geredet hatten. Nicht ganz wenige, wie Bodo Uhse und Bruno von Salomon, traten
zur KPD über, Harro Schulze-Boysen, später einer der entschlossensten
Vorkämpfer des Widerstands gegen Hitler, verfocht in seiner Zeitschrift »Gegner«
eine Art Synthese von Marx und Nietzsche (auch der junge Sozialist Mussolini versuchte,
eine Synthese von Marx und Nietzsche zustande zu bringen; vgl. Ernst Nolte, Der
Faschismus in seiner Epoche, 1963, S. 200-218), die aber in der politischen
Praxis eine Entscheidung für die KPD und die Sowjetunion bedeutete.
(Ebd., 2006, S. 258).Der bekannteste Repräsentant
des Nationalbolschewismus (Nationalkommunismus; HB)
war Ernst Niekisch, und an seinem Beispiel läßt sich am einmfachsten
zeigen, daß die linken Motive bei ihm und in seinem Umkreis stärker
waren als die rechten. Für einige Wochen war Niekisch 1919 ja der Präsident
des Zentralrats der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte Bayerns, also der
oberste Funktionär der ersten der nichtkommunistischen Räterepublik
gewesen .... Aber auch Spengler
beeinflußte ihn tief, den er im Gefängnis las, nachdem er zu einer
Haftstrafe verurteilt worden war. Danach für kurze Zeit Fraktionsführer
der USPD im Bayrischen Landtag, widmete er sich vornehmlich der Lektüre von
Marx, Engels und Lenin und teile mit seiner Partei die Überzeugung, daß
»das besitzende Bürgertum abzudanken« habe und daß das
Hauptmotiv die enge Verbundenheit »mit allen Elementen der Tiefe, mit den
Schwachen, mit den Unterdrückten, mit den Ausgeplünderten« sein
müsse. (Vgl. Friedrich Kabermann, Widerstand und Entscheidung eines deutschen
Revolutionärs - Leben und Denken von Ernst Niekisch, 1973, S. 36).
(Ebd., 2006, S. 258-259).»Weltbühne« ... war das
Organ des militantesten Pazifismus und damit der heftigsten Anklage gegen die
»Kriegsschuldigen« .... (Ebd., 2006, S. 259).Rein
positiv ist jedoch die frühe Stellungnahme zur Revolution, die im ersten
Heft (der »Weltbühne«) des Jahrgangs
1919 folgendermaßen formuliert wird: »Das große Ziel der Revolution
ist eine neue Welt, ein neuer Geist, ein neuer Mensch, dieses insbesondere: die
Wiedergeburt des Menschen, den der Kapitalismus zum Hebel einer Maschine, der
Militarismus zur Ladevorrichtung einer Waffe erniedrigt hatte -der Fabrikant beschäftigte
nicht Menschen, sondern soundsoviel »Hände«, der General warf
nicht Menschen, sondern soundsoviel »Gewehre« in die Feuerlinie. Jetzt
endlich soll der Mensch wieder Mensch werden.« In dem »wieder«
steckt schon eine eigenartige Vergangenheitsorientierung, die in der Zeitschrift
nicht selten zu finden ist und sich neben der betonten »Modernität«
auf den ersten Blick widersprüchlich ausnimmt: Erst wenn das deutsche Volk
»Einkehr gehalten« und »zu einem fruchtbaren Selbsthaß«
(!) gelangt sei, werde »jenes fromme und romantische
Leben wieder auferstehen, das ihm (einst) die Zuneigung und Sympathien der ganzen
Welt verschafft hat.« (Ebd., 1919, S. 250). Es war nur allzu wahrscheinlich,
daß so hochgesteckte Hoffnungen immer wieder enttäuscht wurden, und
so tritt allmählich eine oftmals geradezu zügellose Polemik mehr und
mehr hervor. Angesichts des drohenden englisch-sowjetiischen Krieges im Jahr 1927
vergißt Kurt Tucholsky alles Maß so sehr, daß er sich zu den
schlimmsten Verwünschungen nicht etwa gegen die englischen, sondern die deutschen
Mittelschichten hinreißen läßt: »Möge das Gas in die
Spielstuben eurer Kinder schleichen. Mögen sie langsam umsinken, die Püppchen.
Ich wünsche der Frau des Kirchenrats und des Chefredakteurs ... und der Schwester
des Bankiers, daß sie einen bitteren qualvollen Tod finden, alle zusammen.
Weil sie (durch ihre angebliche Hinneigung zum Kriege) es so wollen, ohne es zu
wollen.« (Ebd., 1927, S. 152f.) Offenbar lag Tucholsky, der nicht selten
als »jüdischer Antisemit« betrachtet wurde, der Gedanke fern,
daß diese Art von kollektivistischem Schuldvorwurf und ein ähnlicher
Vernichtungswille ebenfalls gegen »die Juden« gerichtet werden konnten,
und zwar auch unter Hinweis auf die »Weltbühne«, unter deren
Autoren ein frappierendes Übergewicht von jüdischen Autoren zu finden
war. (Istvan Deak fand 42 Autoren jüdischer Abstammung und 24 Nichtjuden.
Vgl. Istvan Deak, Weimar Germany's Left-wing Intellectuals - A Political History
of the Weltbühne and its Circle, 1968, S. 24). Und auf seine Weise bestätigte
Arnold Zweig als Autor der »Weltbühne« ebenfalls die »antisemitischen«
Vorwürfe, obgleich mit entgegengesetzter Akzentuierung, wenn er in einer
Artikelfolge über »Die antisemitische Welle« von dem »jüdischen
Blut« sprach, »welches den Sozialismus jeder Form in die Welt gebracht
hatte, von Moses (!) bis zu Gustav Landauer«, und wenn er den Gegensatz
zwischen »den Juden« und »den Deutschen« als Völkern
hervorhebt. (Vgl. Die Weltbühne, 1919, I, S. 381f., 417ff., 442ff.). Carl
von Ossietzky nimmt als Chefredakteur der letzten Jahre die selbstzerstörerische
Polemik gegen das »Kleinbürgertum« wieder auf, die ein Mann wie
Radek gerade einzuschränken versucht hatte - jene Weise von »Todesurteil,
Henker und Grab«, die trotz Radek in der kommunistischen Propaganda eine
zentrale Rolle gespielt und die Entwicklung eines Gegen-Willens geradezu postuliert
hat. Erst in den letzten Heften wird hier und da über eine »Mitschuld
der Linken« nachgegedacht und vor der »Sucht« gewarnt, »den
Feind kleiner zu machen, als er ist«. (Ebd., 1932, II, S. 698. Die Spannweite
der Weltbühne wird im Jahrgang 1931 besonders evident. Auf S. 360 (II) äußert
sich George Bernard Shaw folgendermaßen über »Das mißverstanden
Rußland«: »In Rußland gibt es keine Arbeitslosen. Das
Volk ist gesund, lebt sorgenfrei und voller Vertrauen auf die Zukunft.«
Dort gibt es auch keine Müßiggänger: »Sie müssen entweder
arbeiten, oder sie werden kurzerhand erschossen, weil sie nicht wert sind, daß
die Gesellschaft sie durchfüttert.« Sein Hauptmotiv ist offenkundig
gesellschaftlicher und innenpolitischer, vornehmlich gegen Churchill gerichteter
Art. Kurz zuvor war er in der Sache von Hans Siemsen scharf kritisiert worden:
Wer die GPU nicht wahrgenommen habe, könne sich kein richtiges Bild von Rußland
machen. »Die GPU liquidiere [wie würden sagen rottet aus]
das Kulakentum« und erschießt »auf dem Verwaltungswege«
Menschen, die sich nicht mehr hatten zuschulden kommen lassen, als hundert Silberrubel
»gehamstert« zu haben. Er habe selbst mit einer Frau gesprochen, deren
Mann eines Tages »abgeholt« wurde. Vierzehn Tage später habe
ein GPU-Mann der Frau die Kleider des Mannes gebracht. »Das war alles. Kein
Gerichtsverfahren, keine Anklage, kein Urteil - nur eine Erschießung.«
[Ebd., I, S. 719ff.]. Um die gleiche Zeit wird von den grauenhaften Zuständen
in der seit 1920 polnischen - »West-Ukraine« berichtet, und zu dieser
Art von grausamen Folterungen und Vergewaltigungen zwecks Terrorisierung der nicht-polnischen
Mehrheitsbevölkerung gab es im nationalsozialistischen Deutschland bis zum
Kriegsausbruch keine Analogie. [Vgl. Jakob Links, Die Folterkammer Europas,
ebd., I, S. 272ff.]). (Ebd., 2006, S. 260-261).Die
Kultur ist ... in der Tat wesentlich eine Unterdrückung, aber diese läßt
sich so wenig abschaffen wie der Kampf zwischen Eros und Thanatos, Lebenstrieb
und Destruktionstrieb (Todestrieb; HB). (Vgl.
Sigmund Freud, Werkausgabe, Band II, S. 403ff.). Sublimierung der Triebe ist die
beste menschliche Möglichkeit, nicht aber der Sieg des »guten«
Lebensstils über den »bösen« Todestrieb, denn beide gehören
wesentlich zum menschlichen Dasein. Unter dem Gesichtspunkt der Politik dürfte
das heißen, daß Konservativismus und Progressivismus zwar miteinander
kämpfen und sich aneinander verwandeln müssen, daß aber jeder
Versuch vergeblich und gleichwohl verdammenswert ist, eine der beiden Mächte
aus der Welt zu bringen. So hätte sich die Linke, wie tendenziell bei Horkheimer,
durch Freud selbst »relativiert« und wäre dem absolutistischen
Utopismus Blochs entgegengetreten. Dadurch und durch die Einbeziehung des jüdischen
Aspekts hätte das linke Denken unter Beweis gestellt, daß es »engagierte
Reflexion« und nicht bloße Agitation war, auch wenn, wie in der »Weltbühne«,
die Reflexion nur potentiell durch die Nebeneinanderstellung unterschiedlicher
Einseitigkeiten zustande kommt. Aber wenn die Weimarer Linke auf der unteren Ebene
nicht viel anderes als Vulgärantikapitalismus ist, so wird auf der höheren
Ebene das historische Lebensrecht der Rechten nicht bestritten, und der Frage
ist nicht auszuweichen, ob die radikale und die extreme Rechte eine ähnliche
Selbstrelativierung vornehmen und dem Vulgärantisemitismus nicht mehr an
Raum lassen, als die Linke dem Vulgärantikapitalismus zugesteht. (Ebd.,
2006, S. 268).
Die Rechte
Es kann keine »Rechte« geben,
solange »die Herrschenden« die Sache der jeweiligen »Ordnung«
mit Entschiedenheit und gutem Gewissen vertreten, weil sie diese nicht für
»jeweilig«, sondern für »gottgewollt« halten. Diese
Ordnung kann allenfalls temporär gestört sein und muß dann wiederhergestellt
werden. Von eben dieser Konzeption ließen sich noch alle Reformatoren von
Luther bis Calvin leiten, und nur Thomas Münzer und sein Umkreis dürfen,
wie zuvor die Hussiten und die Anhänger Wyclifs, als »Linke«
betrachtet werden. Allerdings büßte diese Ordnung an Festigkeit überall
dort ein, wo es ernsthafte Spannungen innerhalb der herrschenden Schicht gab,
etwa diejenige zwischen Monarchie und Adel, zwischen Kirche und Staat, zwischen
Städten und Landbevölkerung einschließlich des grundständigen
Adels, und das war tendenziell in ganz Europa der Fall. Aber erst in der Zeit
der Aufklärung begannen einflußreiche Teile der herrschenden Schicht
der übetlieferten und also christlich-konfessionellen Ordnung mt Skepsis
und Zweifeln gegenüberzutreten, doch im Umkreis eben dieser Schichten entstand
auch ein Kampfwille, der der angegriffenen Regierung und der bedrängten Religion
gegen die »Cacouacs« (die Aufklärer) zu Hilfe kommen wollte.
Schon die Epoche der französischen Revolution kann als die Zeit eines
europaweiten Bürgerkrieges zwischen Linken und Rechten dargestellt werden
und hat sich zum Teil selbst so verstanden, wie ja schon das jakobinische Motto
des »Krieg den Palästen, Friede den Hütten« zeigt. Aber
all das wurde bald vom Kaisertum Napoleons I. überdeckt, der durch seine
Ehe mit der Habsburgerin Marie-Luise seinen Frieden mit den europäischen
Dynastien zu machen suchte. In der Zeit der »Restauration« konnte
es noch einmal so aussehen, als führten nur die Regierungen den Kampf gegen
die »Partei der Bewegung« und als wäre die Unterstützung
durch die Denker und Dichter der Romantik bloß etwas Nebensächliches.
Das änderte sich endgültig mit der Revolution von 1848/49 trotz deren
»Scheiterns«. Man mußte den Neffen Napoleons I., den neuen Kaiser
Napoleon III. als den Bezwinger der linken Revolution zu der aufkommenden »Rechten«
zählen, obwohl er als Vorkämpfer des Prinzips der Nationalität
in gewisser Weise immer ein Linker blieb. (Siehe oben, S. 29). Daß Bismarck
ein Repräsentant der Rechten war, stellt schon der Haß unter Beweis,
der ihm über die Jahrzehnte hinweg von seiten der Linken entgegengebracht
wurde, aber als Gründer des 2. Deutschen Reiches trennte er sich von dem
preußischen Konservativismus, dem er doch selbst entstammte. Eine ganz klare
Sonderung zwischen »rechts« und »links« entstand erst
mit dem Aufkommen einer extremistischen, d. h. grundsätzlich auf Gewalt und
auf einen kriegsartigen »Klassenkampf« ausgerichteten und auf die
rotale Verwandlung der menschlichen Gesellschaft im Ganzen abzielenden Partei,
nämlich der marxistischen Sozialdemokratie, welche die weitaus staatsnähere
Partei Lassalles zurückdrängte und schließlich in sich einbezog.
Aber wenn auch alle anderen Parteien des nunmehr voll ausgebildeten, wenngleich
von der Teilnahme an der Regierung fern gehaltenen Parteiensystems gegen den Marxismus
der Partei Bebels waren, so war doch das kaiserliche System stabil genug, daß
sich keine primär gegen die Sozialdemokratie gerichtete Großpartei
oder Parteienkoalition bildete. Der »Reichsverband gegen die Sozialdemokratie«,
von einem pensionierten General geführt, gewann keine nennenswerte Bedeutung,
und ein Gedanke wie derjenige Giolittis in Italien, die gemäßigten
Sozialisten Filippo Turatis an der Regierung zu beteiligen und dadurch von den
extremistischen Sozialisten unter Benito Mussolini zu trennen, blieb unvollziehbar.
(Ebd., 2006, S. 268-269).Aber nicht alle Parteien lehnten die Hauptpunkte
der marxistischen Doktrin mit gleicher Entschiedenheit ab: Die Linksliberalen
der Fortschrittspartei standen dem Gedanken einer Weltgesellschaft, ja eines »
Weltstaates« positiv gegenüber, und sie näherten sich auch der
Vorstellung, eine große Gruppe von Menschen könne stärker durch
ihre gegenwärtige »Klassen«lage als durch die aus einer langen
Vergangenheit herkommenden Kennzeichen des »Volkes« oder der »Nation«
geprägt sein. Die auch in den Parteien der Mitte vertretenen Pazifisten lehnten
den weithin noch als selbstverständlich geltenden Gedanken ab, der Krieg
sei ein Glied in Gottes Weltordnung. Der große Krieg schwächte diese
Gegensätze zum Teil ab, weil er die klare Unterscheidung zwischen gemäßigten
und radikalen bzw. extremistischen Sozialdemokraten entstehen ließ. Zum
anderen jedoch trieb er sie auf die Spitze, weil der 1918 scheinbar siegreiche
Internationalismus sich wie eine Sache der Kriegsgegner ausnahm und als Gegenzug
einen Nationalismus von radikaler Art hervorbrachte, der zugleich dem »Klassen«prinzip
auf die schärfste Weise entgegentrat. Hand in Hand damit gelangte der neue
Nationalismus der Besiegten, die sich noch im Frühjahr 1918 nicht ohne Grund
als Triumphatoren über die ganze Welt gefühlt hatten, zu einer Art von
Kriegsbejahung, wie sie während der Kaiserzeit so gut wie unbekannt gewesen
war. (Ebd., 2006, S. 270).In dieser Perspektive kann ein
junger, mit dem höchsten Orden ausgezeichneter Offizier als die Leitfigur
einer »neuen Rechten« angesehen werden, der jenem »positiven
Kriegserlebnis« die vernehmlichste Stimme gab, welches dem »negativen
Kriegserlebnis« der gesamten Linken auf das schroffste entgegengesetzt war.
In unterschiedlichen Stufen der Abschwächung wurde es von Hunderttausenden,
ja von Millionen Soldaten geteilt. Die vielleicht wichtigste Demokratisierung
des Krieges hatte ja darin bestanden, daß das Offizierskorps sich zahlenmäßig
trotz der großen Verluste mehr als verzehnfacht hatte und daß jeder,
der in den Bahnen der Vorkriegspolemik gegen »den Militarismus« zu
Felde zog und vornehmlich das Offizierskorps meinte, nun nicht mehr gegen eine
abgehobene Adelsschicht, sondern gegen einen besonders wichtigen und starken Teil
des Volkes polemisierte. Gewiß schlossen sich einige ehemalige Offiziere
wie Ludwig Renn (eigentlich »Vieth zu Golssenau«) und Hans Kippenberger
der KPD und nicht ganz wenige der SPD an, während große Massen der
Mannschaften seit 1924 bzw. 1926 in das »Reichsbanner« und in den
»Roten Frontkämpferbund« strömten. Aber der »Stahlhelm,
Bund der Fontsoldaten« war viel stärker, als er hätte sein dürfen,
wenn das linke Entsetzen über die Blutmühle des Krieges statt einer
stolzen Erinnerung an männliche Tapferkeit und an nationale Willenseinheit
die allein bestimmende Erfahrung der Kriegsteilnehmer gewesen wäre. Und so
wurden die erstaunlichen Schriften jenes Kriegsleutnants Ernst Jünger »In
Stahlgewittern« (1920) und »Der Kampf als inneres Erlebnis«
(1922) bereits häufig gelesen, als die negative Kriegserfahrung der Linken
noch kaum über die schlichten Formulierungen weit verbreiteter Massenemotionen
hinausgelangt war. Und es waren offenbar viele Zehntausende, die sich sogar in
den zugespitztesten Formulierungen Jüngers wieder erkannten: in der Wendung
vom »wilden Auffluten des Lebens«, das sich im Kriege in seinem eigentlichen
Sinn »als ein prächtiges, blutiges Spiel« offenbare, »an
dem die Götter ihre Freude hatten«, in der Behauptung, »Wir Frontsoldaten
haben das neue Gesicht der Erde gemeißelt« oder in der Prophezeiung
»Der Krieg ist eine große Schule, und der neue Mensch wird von unserem
Schlage sein«. (Ebd., 2006, S. 270-271).Aber was würde
der Sieger von Königgrätz, das große Vorbild des preußischen
Soldatentums, der General von Moltke, zu so sonderbaren Sätzen wie den folgenden
gesagt haben: der Eros als auf die Spitze getriebenes Mannestum müsse auch
die Beziehung der Geschlechter verändern und er werde »dem Phallus
schimmernde Tempel errichten«. Ratlos stehe »der in Waffen gesteckte
Spießbürger« vor dem Verhalten der »Auserlesenen«,
das »die dünne Tünche einer sogenannten Kultur« hinwegfege?
Diese »neue Rechte« war etwas ganz anderes, als es die alte Rechte
des Kaiserreichs in der Festigkeit ihrer Überlieferungen gewesen war, und
sie wandte sich unmittelbar der politischen Auseinandersetzung zu, wie Ernst Jünger
es tat, als er zum regelmäßigen Mitarbeiter der »Standarte«
wurde, der Sonderbeilage der Stahlhelmzeitung. Und Jünger erfüllte auch
die Forderung, sich mit Beschreibungen und Stellungnahmen nicht zu begnügen,
sondern auf der obersten Ebene in den Kampf zu treten, der Ebene des Begreifenwollens,
das über den politischen Willen des Alltags hinausgreift. Dem dienten die
theoretischen Bücher, die er in den letzten Jahren der Weimarer Republik
veröffentlichte: »Die totale Mobilmachung« (1931) und vor allem
»Der Arbeiter« (1932), mit dem Jünger offenbar der Linken einen
der mächtigsten ihrer Zentralbegriffe zu entreißen suchte und dennoch
einen wesentlichen Teil davon bestätigte, wie sich schon an einigen Kapitelüberschriften
erkennen lässt: »Die Ablösung des bürgerlichen Individuums
durch den Typus des Arbeiters«, »Die Technik als Mobilisierung der
Welt durch die Gestalt des Arbeiters«, »Der Übergang
von der liberalen Demokratie zum Arbeitsstaat«. (Ebd., 2006, S. 271).Was
bei Ernst Jünger - bis auf einige Nebenbemerkungen - vollständig fehlt,
ist der Versuch, die Mächte des Niedergangs und Verfalls, die zum Verlust
des Krieges geführt haben, wie etwa Liberalismus und Demokratie, auf konkrete
Urheber zurückzuführen und diese anzugreifen. Hier wäre die ganze
»antisemitische« Literatur vom »Handbuch der Judenfrage«
bis zu den »Protokollen der Weisen von Zion« zu lokalisieren, aber
durch die Auswahl von besonders simplen und vulgären Wendungen wird in der
heutigen Literatur nicht selten der Eindruck erweckt, es handle sich um ein abseitiges
Gebiet, in dem nur bösartige Agitatoren gewirkt hätten, die zwecks Ablenkung
der Massen von den eigentlichen Problemen der Zeit nach einem »Sündenbock«
suchten. Dabei wird nicht zur Kenntnis genommen, daß die Kennzeichnung einer
bestimmten Gruppe als »Urheber« verhängnisvoller Realitäten
von dem linken Konzept der »Kapitalisten« geradezu erzwungen wurde,
da als relativ unpolemische Alternative allenfalls »die Intellektuellen«
in der Spitzengruppe der Kommunistischen Partei zur Verfügung standen. Und
das Beispiel der Frühsozialisten läßt unter Einschluß Englands
deutlich erkennen, daß »die Juden« als Angriffsziel erst allmählich
von »den Kapitalisten« abgelöst wurden - hauptsächlich durch
die Lehre von Marx, der mit seinem Aufsatz »Zur Judenfrage« paradoxerweise
die ältere und historisch weit tiefer greifende Konzeption noch einmal artikulierte.
Und daß der »Antisemitismus«, der
in Wahrheit ein »Antijudaismus« ist (!),
auch von Denkern hohen Ranges vertreten und durch einige ihrer Gefolgsleute auf
der intellektuellen Ebene noch stärker radikalisiert werden konnte, als es
auf der politischen Ebene durch Polemiker und Demagogen geschah, läßt
sich besonders gut am Beispiel von Ludwig Klages erkennen, welcher der Urheber
der Lehre vom »Geist als Widersacher der Seele« und damit in unverkennbarer
Filiation der Inspirator der Doktrin von der verhängnisvollen »Logokratie«
des Abendlandes und in eins damit der »grünen« Bewegung war (!),
die den »Naturschutz« auf ihre Fahnen schrieb. (Ebd., 2006,
S. 272).In der Einführung zu den »Fragmenten und Vorträgen
aus dem Nachlaß« seines Freundes Alfred Schuler, die er 1940 publizierte,
legt er seine Theorie von den »lebensfeindlichen Machtzentren« dar,
und er beruft sich auf Marx' Konzeption vom »Christentum als dem sublimen
Gedanken des Judentums«, um eine Metaphysik des Antijudaismus und der Antichristlichkeit
zu entwickeln, die alle konservativen Denker des 19. Jahrhunderts mit Entsetzen
zurückgewiesen hätten. Die These, daß die »Drahtzieher«
des Ersten Weltkrieges und die Geldgeber der russischen Revolution Juden gewesen
seien, fügt sich ohne weiteres in eine Kette ein, von der ein Glied auch
die inneren Auseinandersetzungen der Schule Stefan Georges umfaßt. Von Schuler
wiederum stammt ein Fragment, das aufs deutlichste die innere Nähe dieser
antirationalistischen Lebensphilosophie zum Antijudaismus erkennen läßt:
»Ans Herz des Lebens schlich der Marder Juda. Zwei Jahrtausende tilgt er
das heiße, pochende, schäumende, träumende Mutterherz .... Das
Herz der Erde als Hölle der Christen.« Und gleichwohl liest man in
den Fragmenten dieses Denkers der »radikalen Rechten« Wendungen, die
jedermann der radikalen Linken zuordnen würde: Die Gegenwart ist »die
Periode des zerspaltenen Lebens, der Entfremdung der Menschen untereinander, des
Zwangs, der Kastenbildung«, während im offenen Leben der Urzeit, »kein
Besitz, kein Eigentum« existierte, so daß der Begriff der proprietas
völlig fehlte. (Ebd., 2006, S. 272-273).Auch das Denken
der intellektuellen Rechten um Jünger und Klages ist mithin so vielfältig
und widerspruchsreich, daß es zu »engagierter Reflexion«, ja
zum wissenschaftlichen Abwägen herausfordern konnte. Die Frage ist, wie die
untere Ebene des politischen Massen- und Alltagskampfes sich charakterisieren
läßt und ob sich auch dort Ansatzpunkte für eine weiterführende
Reflexion finden. Von niemandem wurde dieser Kampf härter und mit größerer
Erbitterung geführt als von Adolf Hitler und seinen Gefolgsleuten, und die
innere Voraussetzung wird von ihm mit großer Klarheit formuliert: »Wird
der Sozialdemokratie eine Lehre von besserer Wahrhaftigkeit, aber gleicher Brutalität
der Durchführung entgegengesetzt, wird diese siegen, wenn auch nach schwerstem
Kampfe.« (Adolf Hitler, Mein Kampf, 1925, S. 44-45). (Ebd.,
2006, S. 273).Dem Bolschewismus einen Antibolschewismus von bolschewistischer
Entschlossenheit entgegenzusetzen, bleibt in wechselnden Formulierungen eins der
Hauptpostulate Hitlers. Damit erkennt er die zeitliche und inhaltliche Priorität
des Bolschewismus und schon des Marxismus an, und er schreibt seiner eigenen Bewegung
einen imitativen Charakter zu, der aber nur eine Nachahmung der Methode und nicht
des Inhalts sein soll. Ein solcher Kampf einer Bewegung gegen eine andere und
ältere politische und ideologische Bewegung, welcher sie zugleich feindlicher
und benachbarter ist als jede andere Partei, muß der erbittertste aller
politischen Kämpfe sein, und Hitler ergießt seinen ganzen Spott über
den antibolschewistischen Kampf etwa der Stresemann-Partei DVP (**),
wobei er allerdings übersieht, daß deren Antikommunismus mit den Antikommunismen
anderer Parteien zusammengesehen werden muß. Jedenfalls ist es für
Hitler die selbstverständlichste Voraussetzung, daß der Hauptfeind,
die ältere und in bestimmter Hinsicht nachahmenswerte Partei, sehr mächtig
ist und an starke gesellschaftliche Tendenzen anzuknüpfen vermag. Deshalb
spricht er von dem »gegen uns tobenden Mordterror der Untermenschen«,
von den »durch den Marxismus rasend gemachten Massen«, von der »großen
drohenden roten Faust«, von der »kommunistischen Welle, die immer
höher und höher steigt«, von der »Bolschewisierung der breiten
Massen«, die rapide vorwärtsschreite«. (Die ungemein aufschlußreiche
Wendung stammt aus dem Schreiben Hitlers an Hindenburg vom 21.11.1932). Man mag
all das für Panikmache zum Zweck des Machtgewinns erklären, aber dieser
polemischen Deutung dürfte eine allzu enge Vorstellung vom politisch-ideologischen
Kampf zugrunde liegen. (Ebd., 2006, S. 273-274).In Joseph
Goebbels Tagebüchern finden sich ganz ähnliche Wendungen voller
Haß, Erbitterung und tiefer Besorgnis, ja Angst - man sollte nie vergessen,
daß der Kampf des Gauleiters von Berlin keineswegs zur »Eroberung«
der Reichshauptstadt führte, sondern immer ein Minderheitskampf blieb, in
dem er sich in seinen Anfängen aufkaum mehr als einige hundert SA-Leute stützen
konnte - gegen etwa 10000 Mitglieder des Roten Frontkämpferbundes. Bei den
Novemberwahlen des Jahres 1932 war die KPD in Berlin zahlenmäßig stärker
als die NSDAP und die SPD zusammen, und Goebbels Tagebücher sind voll
von Erbitterung gegen den »Janhagel«, gegen den »roten Mob«,
die »tobenden Massen«, die »Kommune«, die »rote
Mordpest«. Noch am 12. Juli 1932 erzählt er von einer Propagandafahrt
durch das Ruhrgebiet folgendes: »Wir pauken uns durch den tobenden Janhagel
in Düsseldorf und Elberfeld .... In unserer ganzen Harmlosigkeit fahren wir
im offenen Auto ungetarnt in Uniformen nach Hagen herein. Die Straßen sind
schwarz voll von Menschen. Alles Mob und kommunistischer Pöbel. .... Wir
hauen mitten durch die Meute. Jeder von uns hat die Pistole in der Hand und ist
entschlossen, wenn es ernst wird, so teuer wie möglich zu fallen. ....«
(**). Sogar am 23. Januar 1933 bestätigt
er praktisch die siegessichere Zuversicht seiner Feinde: »... Bülowplatz.
Die Straßen wimmeln von Mob und Kommune. Lebensgefährlich, hier durchzufahren.«
(Ebd., 2006, S. 274).Man sollte nicht versuchen, diesen Männern
ihren Hauptfeind fortzunehmen, indem man ihn über Gebühr verkleinert
und »verharmlost«, und man sollte so nahe liegende Empfindungen der
Besorgnis, des Hasses und der Erbitterung nicht für bloße Phantasien
erklären. Unter der Fahne Lenins glaubten gerade im Jahr 1932/33 noch riesige
Massen von Menschen zu kämpfen, und noch riesigere Massen fingen an, trotz
aller bitteren Kämpfe der Vergangenheit mit ihnen zu sympathisieren. Allerdings
waren es nicht weniger große Massen, die sich unter der Fahne Hitlers zusammengefunden
hatten, und diese beiden Tatsachen bildeten das entscheidende Gewicht bei den
Überlegungen der Politiker und Staatsmänner der Weimarer Republik, die
der Beauftragung Hitlers vorhergingen. Und doch läßt sich inmitten
der politischen Kampfeswut nicht weniges aufzeigen, was sogar Hitler und Goebbels
hätte in den Stand setzen können, Reflexionen anzustellen, statt auf
den Feind bloß einzuschlagen. Schon ganz früh stellt Hitler fest, die
Gruppe der Internationalen umfasse bei uns »die lebendigsten und stärksten,
willfährigsten Naturen der Nation« (»willfährig« dürfte
hier so viel wie »willensstark« bedeuten), und das entspricht dem
Sinne nach genau jenen frühen und erstaunlich objektiven Uneilen von Karl
Radek und Clara Zetkin über die Soziologie des faschistischen Feindes. (**).
Kurz vor dem Ende seines Lebens bestätigt Hitler ausdrücklich, was er
auch vorher des öfteren angedeutet hatte: die jüdische Rasse sei vor
allem eine »Gemeinschaft des Geistes«, d.h, eine jüdische »Rasse«
gebe es als Einheit und Ursache so wenig, wie es eine einheitliche deutsche Rasse
gebe. (Daß Hitler sich zumal gegen Ende seines Lebens recht negativ über
»die Deutschen« äußert, ist bekannt. Ein kurioses Beispiel
findet sich in der Rede, die er am 10. Februar 1939 vor Truppenkommandeuren des
Heeres hielt. Hier ging es ihm darum zu zeigen, daß das deutsche Volk mit
seinen 80 Millionen Menschen »allein im Reichsgebiet« das stärkste
Volk der Welt sei. Die Engländer hätten nur 46 Millionen im Mutterland,
und in den Vereinigten Staaten lebten nicht mehr als 10 Millionen »wirkliche
Angelsachsen«, alle anderen seien »Deutsche [größter
Bevölkerungsanteil in den USA; HB], Iren, Neger, Juden u.s.w.«
[Jost Dülffer / Jochen Thies / Josef Henke, Hitlers Städte - Baupolitik
im Dritten Reich, 1978, S. 296f.]). (Ebd., 2006, S. 274-275).Auch
bei Goebbels lassen sich einige Aussagen finden, die für ihn den Anlaß
zum Nachdenken hätten bieten können. So erklärt er 1929 mit deutlicher
Wendung gegen seinen Gauleiterkollegen Julius Streicher, der Jude sei »nicht
an allem schuld«. Im Zusammenhang der Krise um Otto und Gregor Straßer
spricht er sich so kritisch gegen den »bürgerlichen« und entscheidungsschwachen
Hitler aus, daß der von ihm betriebene Führerkult für ihn selbst
jede Glaubwürdigkeit eingebüßt zu haben schien. Im März 1932
gesteht er der KPD ohne jede Herabsetzung zu, sie habe im Lustgarten mit kolossalem
Schwung und Anhang demonstriert. Nach einer Fahrt durch Harnburg und Altona schreibt
er am 27. Juli 1932, also nach dem »Preußenschlag« vom 20. Juli:
»Beide Städte schwimmen in Rot«, und dabei kann es sich doch
unmöglich um eine Aktion von »Untermenschenen« gehandelt haben.
(Ebd., 2006, S. 275).Aber was haben Hitler und Goebbels dem kommunistischen
Feind an positiven Ideen entgegenzusetzen? Während des 2. Weltkriegs
und dem Sinne nach oftmals vorher nennt Hitler den Krieg »die stärkste
und und klassischste Ausprägung des Lebens«. In seinem Testament wiederholt
er die These, die sich schon in seinen frühesten Reden finden läßt:
Der Nationalsozialismus kenne im Gegensatz zu dem Trug der Internationalisten
»nur das Deutschtum«. Beide Orientierungen hätten ihm eine Anzahl
von Anhängern unter den ehemaligen Soldaten und unter den gewöhnlichen
deutschen Nationalisten verschaffen können, aber sie hätten schwerlich
große Massen angezogen. Nur wenig an Zustimmung hätte er durch sein
anti-intellektualistisches Zukunftsbild erhalten, das ihn in ferner Zukunft die
Menschen als »Riesenköpfe auf einem Nichts an Körper« sehen
ließ. Eine noch so starke Reaktion des mit der Vernichtung bedrohten Bürgertums
hätte ihm nicht genug an weiteren Anhängern verschafft. Nur die marxistische
Fehleinschätzung des »Liberalen
Systems« war für seine überwältigenden Wahlerfolge ursächlich:
Die großen Massen der »Kleinbürger« und der »Arbeiteraristokratie«
gingen nicht, wie die ständig wiederholte Behauptung der Kommunisten es wollte,
zugrunde, indem sie die Reihen des genuinen Proletariats verstärkten, sondern
sie behaupteten und wandelten sich, so daß die von der NSDAP zahlenmäßig
dominierte, aber noch keineswegs beherrschte »Rechte« die Wahlerfolge
vom Juli und November 1932 und vom März 1933 zu erringen vermochte.
(Ebd., 2006, S. 275-276).Aber das Beispiel des Feindes trieb Hitler
noch weiter vorwärts. Obwohl er der Vorkämpfer »des Deutschtums«
sein wollte, führte ihn gerade der Universalismus des Feindes zu einer »Rassenlehre«,
nach der jedes europäische Volk aus verschiedenen Rassen zusammengesetzt
war, welche füreinander mehr Sympathie empfanden als für die andersrassigen
Volksgenossen, und die Hochschätzung des Krieges brachte ihn zu einem anderen
Extrem: In jener vorgeschichtlichen Zeit, welche die Marxisten als diejenige des
friedlichen »Urkommunismus« und der ursprünglichen Harmonie interpretierten,
gab es nach der völkisch-nationalsozialistischen Auslegung nur kriegerische
Gemeinschaften, die in beständigem Kampf gegeneinander existierten. Für
die gewaltige Überzahl der modernen Menschen handelte es sich dabei aber
um eine »negative Utopie«, während die Kommunisten und alle genuinen
Marxisten über den unschätzbaren Vorteil verfügten, an die so viel
sanftere und wohltuendere »positive Utopie« anknüpfen zu können.
Solange große Massen nur von einer radikalen Lösung Rettung erhofften,
gab es vermutlich nur eine einzige Möglichkeit, diesen Nachteil auszugleichen:
ständig auf die Differenz zwischen Utopie und Realität hinzuweisen und
eine der Utopie besonders zuneigende Menschengruppe anzuklagen, nämlich die
Juden. Insofern hatte der Antijudaismus in Hitlers Ideologie einen unverzichtbaren
Platz, obgleich mit dieser Feststellung das letzte Wort noch nicht gesagt ist.
(Siehe unten, S. 347f.). Es bleibt zu untersuchen, welche Fragestellungen und
Lösungsvorschläge die »großen Intellektuellen« in
die Debatte hineinbrachten, welche es auf der rechten Seite ebenso gab wie auf
der linken. (Ebd., 2006, S. 276).Den
höchsten Grad der Popularität erreichte Oswald Spengler,
nämlich eine weltweite, epochenübergreifende Bekanntheit, während
sowohl Ernst Bloch wie Max Weber nur in den vergleichsweise engen Kreisen der
ausgeprägten Linken und der Sozialwissenschaftler allgemein bekannt waren.
Aber Oswald Spengler erlangte seinen Ruhm nicht als politischer Philosoph oder
als Professor der Soziologie, sondern als Geschichtsdenker und Kulturmorphologe:
Kaum je hat das erste Buch eines völlig Unbekannten einen so gewaltigen Eindruck
gemacht wie sein »Untergang des Abendlandes«, dessen erster Band Ende
1917 bzw. Anfang 1918 erschien. (Ebd., 2006, S. 276-277).Aber
dieser Eindruck beruhte gutenteils auf einem irreführenden Verständnis
des Titels: Die besiegten Deutschen identifizierten den »Untergang des Abendlandes«
mit dem »Untergang Deutschlands« und seiner großen Kultur, die
jetzt, wie in der übrigen Welt, von einer materialistischen »Zivilisation«
abgelöst werde. In Wirklichkeit hatte Spengler, der jahrelang als Lehrer
an einem Hamburger Gymnasium tätig gewesen war, bei der Niederschrift des
Buches noch fest an den bevorstehenden Sieg Deutschlands geglaubt. Doch auch unter
dieser Prämisse prophezeite er, daß ein »seelenloser Amerikanismus«
die Herrschaft antreten werde (vgl. Oswald Spengler, Briefe, S. 29), da
die deutsche Kultur in der Tat untergegangen sei, aber nicht infolge militärischer
Ereignisse und ebenso wenig als »deutsche« Kultur, sondern aufgrund
eines unerbittlichen Geschichtsgesetzes, das überall die großen, in
der heimatlichen Landschaft etwa des vorderen Orients oder Indiens verwurzelten
Kulturkreise zu einem Endstadium führe, demjenigen der kulturellen Erschöpfung
und der bloßen Zivilisation. Spengler wollte indessen keineswegs dazu aufrufen,
dieser Entwicklung Widerstand zu leisten, sondern er wollte ganz im Gegenteil
die Deutschen auffordern, dieses Schicksal zu bejahen und für ihre Weltstellung
nutzbar zu machen, die von »Weltherrschaft« nicht weit entfernt sein
würde. In eins damit vollzog Spengler aber eine Neubestimmung des »Subjekts«
der Weltgeschichte: Nicht mehr »die Menschheit« und deren Entwicklung
war dieses Subjekt, sondern es zerfiel in die Pluralität der Kulturen, von
denen jede eine unverwechselbare Identität aufwies, aber wie ein Lebewesen
auf jenes Endstadium ausgerichtet war, auf den Tod. Insofern knüpfte Spengler
an die »Kulturkreislehre« an, die vor ihm von Nikolaj Danilewski,
ja von Montesquieu umrissen und von dem Berliner Historiker Kurt Breysig entfaltet
worden war. (Ebd., 2006, S. 277).Da alle Kulturen in genauer
Entsprechung zueinander entstehen, sich entwickeln und dem Ende zugehen, wird
es möglich, das zeitlich ganz Unterschiedliche zu vergleichen, ja in gewisser
Weise in eins zu setzen: Die indische Kultur hatte ebenso ein Mittelalter
wie die abendländische, obwohl die beiden Zeitalter durch Jahrtausende voneinander
getrennt waren. Aber trotz dieses »relativistischen« Grundansatzes
schrieb Spengler der abendländischen Kultur eine Singularität zu, für
die er den eindrucksvollen Begriff »faustisch« fand: sie ist die Kultur
des Ausgreifens nach dem Unendlichen, der Entdeckungen, des Geschichtsbewußtseins,
der Entwicklung einer Maschinenwelt, während die antike Kultur, die Spengler
in den Fußstapfen Nietzsches eine »apollinische« nennt, das
Sein im plastischen Körper und in der Zeitlosigkeit des Kosmischen fand.
Und daher war die faustische Kultur eine Kultur der Welterschließung und
Weltbemächtigung, so daß offenbar auch ihre Zivilisation sich von den
Zivilisationen unterscheidet, die aus anderen Kulturen hervorgewachsen sind. Die
meisten Charakterisierungen, die Spengler der abendländischen und inzwischen
zu weltweiter Ausdehnung gelangten Kultur des Okzidents zukommen läßt,
deuten darauf hin, daß es sich nicht um ein erstarrtes, bewegungsloses System
handelt, sondern daß große Kämpfe möglich sind und grundlegende
Alternativen existieren. Mit nicht bloß negativem Akzent, sondern mit kampfbereitem
Pathos werden die Phänomene der europäischen Müdigkeit und Greisenhaftigkeit
beschrieben: die Nützlichkeitsideale von »Aufklärung«, »Weltfrieden«
und »Humanität«, die »Gehirnmenschen« der Weltstadt
und der Verneinung des Eigentums, das Vordringen von Intellekt und Geld. Insofern
liegt dem Denken Spenglers eine Lebensphilosophie wie diejenige von Nietzsche,
Bergson und Klages zugrunde, die bei ihm in einer Art von Darwinismus gipfelt,
wenn er schreibt: »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: sie hat immer
dem stärkeren, volleren, seiner selbst gewissen Leben Recht gegeben, Recht
nämlich auf das Dasein, gleichviel ob es vor dem Wachsein recht war, und
sie hat immer die Wahrheit und Gerechtigkeit der Macht, der Rasse geopfert und
die Menschen und Völker zum Tode verurteilt, denen die Wahrheit wichtiger
war als Taten und Gerechtigkeit wesentlicher als Macht.« (Oswald Spengler,
Der Untergang des Abendlandes, S. 1194). (Ebd., 2006, S. 277-278).Wenn
das richtig ist, dann gibt es eine Unterscheidung, die tiefer greift als diejenige
von »Kultur« und »Zivilisation«, nämlich die Unterscheidung
von Selbstbehauptung und Selbstaufgabe, die in der Zivilisation ebenso grundlegend
ist wie in den Kulturen. Und so erweist sich der Kulturdeterminist Spengler als
ein Zivilisationsvoluntarist, der große Alternativen herausarbeitet und
zu bestimmten Entscheidungen aufruft: zur Entscheidung der gebildeten Bürger
gegen die vom Marxismus angekündigte »weiße« Weltrevolution
des Proletariats und zur Entscheidung der führenden Schichten ganz Europas
und Amerikas gegen die »farbige Weltrevolution«, die von einem Mann
wie Gandhi, aber auch von den kommunistischen Parteien der Welt vorangetrieben
wird. Angesichts dieser überwältigenden Gefahren bleibt »der weißen
Menschheit« eine Alternative zur Dekadenz einer geschwätzigen und »englischen«,
d.h. vornehmlich diskutierenden Demokratie, nämlich der »Cäsarismus«
im Sinne der charismatischen Herrschaft eines überragenden Führers.
Die innere Nähe zu den fast gleichzeitigen Ausführungen Hitlers in seiner
Düsseldorfer Rede vom Januar 1932 springt ins Auge (**),
und es entsprach sicherlich Spenglers eigener Auffassung, als ein Hamburger Briefpartner
ihm im Januar 1932 schrieb, Deutschland steuere entweder auf den Bolschewismus
oder den Nationalsozialismus zu und es sei unumgänglich, die zweite Alternative
vorzuziehen (**). Aber schon zu
einem sehr frühen Zeitpunkt war offenbar geworden, daß neben dem deutschen
Nationalismus, der rasch in einen pro-okzidentalen Europäismus überging,
ein ausgeprägter Antimarxismus eins der Hauptmotive in dem großen Werk
des Kulturmorphologen Spengler war, nämlich in der Schrift von 1919 über
»Preußentum und Sozialismus«. Hier versuchte Spengler, das Kernthema
des Marxismus, nämlich den Gegensatz zwischen einer »ungeheuren Mehrzahl«
von Proletariern oder Armen oder Ausgebeuteten und der winzigen Minderheit von
kapitalistischen oder »bürgerlichen« Ausbeutern dadurch zu überwinden,
daß er »nationale« Kategorien an die Stelle der »sozialen«
setzte: Das Denken von Karl Marx will antinational oder übernational sein,
aber es ist in Wahrheit »englisch« - ein Produkt jener eigentümlichen
Staatsferne, die das Leben des ungefährdeten Inselvolkes kennzeichnet, dem
der Krieg nur als Piraterie mittels der eigenen Flottenmacht präsent ist.
(Ebd., 2006, S. 278-279).Zwar sind Deutsche und Engländer
beide germanische Völker, aber beide entwickelten sich ob ihrer unterschiedlichen
geographischen und historischen Situation in verschiedene Richtungen, die Engländer
in die des Individualismus und die preußischen Deutschen in die des Sozialismus,
nämlich der Lebensform einer überpersönlichen Einheit, die alle
Schichten zum »Dienst« verpflichtet. So ist das englische Volk »nach
dem Unterschied von reich und arm, das preußische nach dem von Befehl und
Gehorsam aufgebaut.« (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, in:ders., Politische Schriften, S. 45). Damit zeigt sich, daß
die Begriffe »Kapitalismus« und »Sozialismus« einen ganz
anderen Sinn haben als den vom Marxismus propagierten: Es handelt sich um »die
menschlichen Ordnungen, die sich auf dem Reichtum und auf der Autorität aufbauen«
und die sich heute als fundamentale Wirtschaftsprinzipien gegenüberstehen:
als das Prinzip des Freihandels auf der einen Seite und als das Prinzip der Verwaltung
durch streng rechtliche und unbestechliche Beamte. Marx aber nahm eine Verwürfelung
folgenreichster Art vor: Er übertrug »den Instinktgegensatz«
der beiden germanischen Rassen auf den materiellen Gegensatz zweier Schichten.
Er schrieb dem »Proletariat«, dem vierten Stande, den preußischen
Gedanken des Sozialismus und der »Bourgeoisie«, dem dritten Stande,
den englischen des Kapitalismus zu. (Vgl. ebd., S. 73). Jeder Marxist würde
geantwortet haben, die Dinge lägen genau umgekehrt: Spengler wolle die soziale,
die »klassenmäßige« Konzeption von Marx durch eine »rassische«
(nein! Spengler war kein Rassist! Spengler verstand
Rasse nicht im Sinne der Zoologie! [**])
oder ethnizistische verdrängen, und mit diesem Unternehmen werde er nur wenig
Zustimmung finden. (Ebd., 2006, S. 279-280).Und dennoch geht
aus dieser Masse des »Reaktionären« eine Beschreibung der gegenwärtigen
Welt hervor, die nach dem Verlauf von beinahe hundert Jahren mit leichten Modifikationen
als »modern« erscheinen kann: »Das ist die furchtbare Gefahr
einer Versklavung der Welt durch das Händlertum. Ihr Mittel ist heute der
Völkerbund, das heißt ein System von Völkern, die Selbstregierung
nach englischer Art besitzen, das heißt in Wirklichkeit ein System von Provinzen,
deren Bevölkerung von einer Händleroligarchie mit Hilfe erkaufter Parlamente
und Gesetze ausgebeutet wird, wie die römische Welt durch Bestechung der
Senatoren, Prokonsuln und Volkstribunen.« (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, in: Ders., Politische Schriften, S. 94).
(Ebd., 2006, S. 280).Und es könnte sein, daß Spengler
nicht nur durch die Anerkennung der »Demokratisierung« als einer unumgänglichen
Notwendigkeit über das »Reaktionäre« hinausgelangte, das
seinen politischen Schriften so unverkennbar inhärent ist. Vielleicht war
»der Marxismus« als eine die Arbeiter und die Intelligenz gleichermaßen
gewinnende Lehre nur so lange möglich, wie der uralte Kampf der Armen gegen
die Reichen eine Gestalt angenommen hatte, in der die Überwältigung
und Vernichtung der »Reichen« aufgrund des revolutionären Prinzips
des allgemeinen Wahlrechts immerhin möglich schien, so daß das Beispiel
des erfolgreichen Gewaltsozialismus in einem Nachbarlande noch bedrohlicher aussah
(**). Eine Demokratie
ist erst dann »gefestigt«, wenn weder der Aufruf zum »bewaffneten
Aufstand« noch der entgegengesetzte Wille zur gewaltsamen Selbstverteidigung
der geistig entwaffneten »Minorität« riesige Massen von Menschen
in Bewegung zu setzen vermag. Wenn das richtig ist, ist auch dem Antimarxismus
von Spengler, so gewiß es ein bloßes Strategem sein würde, wenn
er nicht von einem bedeutenden Geschichtsdenker entwickelt worden wäre, ebenso
ein begrenztes historisches Recht zuzuschreiben wie der deutschen radikalen, aber
nicht-extremistischen Rechten insgesamt. (Ebd., 2006, S. 280-281).Spengler
wurde nach dem 30. Januar 1933 nicht zum Anhänger des extremistischen Nationalsozialismus,
obwohl Goebbels und sogar Hitler ihn eine Zeitlang umwarben. Schon sein Buch »Jahre
der Entscheidung« löste heftige Kritik von nationalsozialistischer
Seite aus. Über die Nachricht von den »Staatsmorden« des 30.
Juni 1934 geriet er nach dem Bericht seiner Schwester »außer Fassung
und weinte«. Aus anderer Quelle sei die Nachricht gekommen, daß »die
Tscheka« (die nationalsozialistische) über 100 Leute umgebracht habe,
von denen er nicht wenige kannte. Für Spengler war Hitler nun nur noch »der
Verderber Deutschlands«. (**).
Er starb in München am 8. Mai 1936. (Ebd., 2006, S. 281).Arthur
Moeller van den Bruck, Kunsthistoriker und guter Kenner Italiens, war vor dem
Weltkrieg auch der Herausgeber der Werke Dostojewskis im Piper-Verlag, und diese
Beschäftigung mit Rußland dürfte einer der Anlässe gewesen
sein, die ihn 1919 dazu führten, für sich selbst und die Deutschen ein
ähnliches Manifest zu schreiben, wie es Spengler mit »Preußentum
und Sozialismus« um die gleiche Zeit vorlegte .... Moeller van den Bruck
geht ... offenbar von der in Deutschland weit verbreiteten Vorstellung des englischen
Neides und der französischen Erstarrung aus: ... diejenigen, die »mit
zurückgehender Arbeitskraft und zurückgebliebener Arbeitsweise, die
sich eines überlegnen Wettbewerbers zu entledigen suchen« und die daher
»mit ... Mißgunst ... die deutsche Entwicklung verfogen.« (Arthur
Moeller van den Bruck, ebd., 1919, S. 18). (Ebd., 2006, S. 281).
Dieser ... Ansatz legt ... die Bezugnahme auf den Marxismus und
den Versuch nahe, diesem einen seiner wichtigsten Begriffe, nämlich denjenigen
des »Klassenkampfes«, ebenso zu entwinden, wie Spengler ihm den Begriff
des »Sozialismus« entwinden wollte. (Ebd., 2006, S. 281-282).Ein
ganz ähnliches Konzept wurde von einem Schüler Rosa Luxemburgs verfochten,
der zu den wenigen gehört hatte, welche sich nach dem 4. August 1914 voller
Niedergeschlagenheit in deren Wohnung zusammengefunden hatten, und der sich dann
immer weiter »nach rechts« entwickelte, bis er 1926 sein Leben als
Chefredakteur einer führenden konservativen Zeitung beendete: Paul Lensch.
Und war dasselbe Konzept nicht in Lenins Lehre vom Rentnercharakter der westlichen
Staaten und von der Verbürgerlichung ihrer Arbeiterschichten enthalten? Ja
es bestimmte sogar den dritten, postum veröffentlichten Band von Marx' »Kapital«,
in dem die fortgeschrittenen Völker unter Einschluß ihrer Arbeiterklasse
als Ausbeuter der zurückgebliebenen Völker erschienen. (Ebd.,
2006, S. 282).»Westen ist überall, wo Kultur, Industrie,
Verkehrsverdichtung, Menschenhäufung, Großstadtbildung vorherrscht.
Osten ist überall, wo es Bauern gibt. Beides mischt sich in den einzelnen
Ländern .... Aber je mehr wir uns vom Westen entfernen, desto mehr nimmt
Östlichkeit zu, nimmt Natur zu und die natürliche Schichtung des Lebens.«
(Arthur Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, 1919,
S. 101). Und daraus ergibt sich zwangsläufig, daß die schlichte Zuordnung
Deutschlands zu »den jungen Völkern« nicht richtig sein kann.
Deutschland ist nämlich halb industriell und halb agrarisch, halb alt und
halb jung, wie man sagen könnte, »ein altes Land mit einem jungen Volke«
(Ebd.). Und eben daraus leitet Moeller einen neuen und altbekannten Vorzug für
Deutschland ab: daß es das »Land der Mitte« ist. Daher rühren
offenbar jene Komplizierungen, die es Deutschland unmöglich machen, das nationalbolschewistische
Bündnis mit Sowjetrußland einzugehen oder sich ... zu einem antibolschewistischen
»Kreuzzug« zu verbinden. Aber »der Westen« und »das
Alter« sind keine fixen und regungslosen Sachverhalte. Sie sind vielmehr
expansiv und in Deutschland selbst wirksam. Ihr Name ist »Liberalismus«.
Und daher steht der Kampf gegen den Liberalismus für Moeller van den Bruck
noch mehr im Vordergrund als die Selbstverteidigung gegen Bolschewismus und Marxismus.
Mit dem Satz »An Liberalismus gehen die Völker zugrunde (ders., Das
Dritte Reich, 1923, S. 69, 102) gelingt es ihm, ebenso ein Feldzeichen aufzurichten,
um das sich große Mengen von Menschen versammeln können wie mit dem
Begriff der »jungen Völker«. Moeller stellt den Liberalismus
in einen engen Zusammenhang mit dem Freimaurertum und mit »der Aufklärung«,
und beide sind in seinen Augen Phänomene der Auflösung und der Zersetzung:
»Liberalismus hat Kulturen untergraben. Er hat Religionen vernichtet. Er
hat Vaterländer zerstört. Er war die Selbstauflösung der Menschheit«
(d.h. einer nach Völkern, gesellschaftlichen Ordnungen und Kulturen gegliederten
Menschheit; vgl. Arthur Moeller van den Bruck / Heinrich von Gleichen / Max Hildebert
[Hrsg.], Die Neue Front, 1922, S. 19). Moellers Polemik ist bewußt
und nachdrücklich antiaufklärerisch, wie es 30 Jahre später mit
anderer Akzentsetzung die Polemik von Horkheimer und Adorno war, denn die Aufklärung
hat »aus dem denkenden Menschen einen berechnenden Menschen« gemacht.
Daraus resultiert aber bei ihm die Forderung, »zu den Bindungen zurückzukehren,
ohne die eine Aufklärung auszukommen glaubte, die vor lauter Vernunft den
Verstand verlor«. (Ebd., 1922, S. 33). (Ebd., 2006, S. 282-283).Wieder
gelten ihm Marx und der Marxismus als die Hauptschuldigen, da sie die Keime eines
nationalen Sozialismus zuschütteten, welche bei Wilhelm Weitling und Johann
Karl Rodbertus lagen. Erst wenn es gelungen sein wird, die Arbeiterschaft in die
Nation einzugliedern und den Gedanken des Klassenkampfes zum Völkerkampfgedanken
zu steigern, werden die Deutschen ihr »Drittes Reich« erobert haben.
(Arthur Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich, 1923, S. 93, 59).
(Ebd., 2006, S. 284).Moeller stand zusammen mit seinen Freunden
und Anhängern wie Heinrich von Gleichen, Eduard Stadtler, Max Hildebert Boehm,
Martin Spahn und vielen anderen im Mittelpunkt eines Kreises, der in der Zeitschrift
»Das Gewissen« und im »Ring-Verlag« einflußreiche
Organe besaß und ein Zentrum der überaus vielfältigen »Konservativen
Revolution« bildete. . .... »Das Proletariat ist nicht die Nation -
und in einem so entwickelten und gegleiderten Volke wie dem deutschen schon gar
nicht. Es könnte hier eher so kommen, daß das deutsche Proletariat
vor lauter Klassenkampf seinen Freiheitskampf verliert .... Das
deutsche Proletariat ist kein revolutionäres Proletariat. .... Und dem Genie
der Revolution wurde es entfremdet, das immer ein Genie des Konservatismus war.
Sowjetrußland hat die deutsch-russische Verständigung nicht paritätisch,
sondern bolschewistisch betrieben, hat sich die deutsche Revolution nicht deutsch,
sondern russisch vorgestellt und dadurch die deutsche antibolschewistische Bewegung
erst möglich gemacht.« (Arthur Moeller van den Bruck, Das Recht
der jungen Völker, 1919, S. 86, 88, 90). (Ebd., 2006, S. 284).Auch
Carl Schmitt konnte man in der Weimarer Zeit der »Konservativen Revolution«
zuzählen, denn er nahm nicht selten an jenen Treffen im Kloster Maria Laach
teil, welche katholische Erneuerer der Liturgie und österteichisch orientierte
»Reichstheologen« zusammenführten und deren Teilnehmer jedenfalls
den herrschenden Konzepten von »Liberalismus« und »Demokratie«
sehr kritisch gegenüberstanden. In der Tat hatte der junge Gelehrte aus dem
Sauerland, der sich schon bald nach dem Krieg einen großen Ruf als glänzender
Jurist und viel zitierter Staatsrechtslehrer erworben hatte, bereits in seiner
ersten weithin bekannt geworden en Schrift, der »Politischen Romantik«
von 1919, die Romantik der »individualistisch aufgelösten Gesellschaft«
und dem »privaten Priestertum« zugeordnet, deren Trägerschicht,
das neue Bürgertum, 1789 über Monarchie, Adel und Kirche triumphiert
hatte, sich aber bereits 1848 gegen das revolutionäre Proletariat hatte verteidigen
müssen. Seine Sympathie gehörte anscheinend ohne Einschränkung
jenen französischen und spanischen Gegenrevolutionären, die für
die meisten »konservativen Revolutionäre« eine »terra incognita«
darstellten, den de Maistre, Bonald und Donoso Cortes, die sich in ihrer klaren
Entschiedenheit aufs deutlichste »von der persönlichen Zerfahrenheit
und der politischen Achselträgerei« eines Romantikers wie Adam Müller
unterschieden. Aber offensichtlich polemisiert Schmitt nach dem Vorbild von Charles
Maurras gegen die Romantik nicht so sehr um des gedanklichen Gehalts willen, sondern
weil deren »Erhabenheit über Definition und Entscheidung sich in ein
dienstbares Begleiten fremder Kraft und fremder Entscheidung« verwandelt.
(Vgl. Carl Schmitt, Politische Romantik, 1919, S, 26). Zweifellos müßte
diese Kraft »unbürgerlich«, ja »antibürgerlich«
sein, und die stärkste Kraft dieser Art war in der Weimarer Republik zweifellos
der Marxismus. Hätte Schmitt sich ihm also nicht anschließen sollen?
(Ebd., 2006, S. 284-285).Aber von dieser Konsequenz blieb Schmitt
weit entfernt, und er bewegte sich weiterhin in den Bahnen des Katholizismus,
obwohl er infolge eines Eheproblems mit der Kirche in Konflikt kam und nicht mehr
als »praktizierender Katholik« gelten durfte. In einem Buch von 1923
kritisiert er über das liberale Bürgertum hinaus einige Hauptkennzeichen
der Moderne an sich wie den Mangel »an der allein wesentlichen Rationalität
des Zweckes« und der »repräsentationslosen Unbildlichkeit und
Traditionslosigkeit des modernen Betriebes«, ja er legt ein sehr klares
und konkretes Bekenntnis politischer Art ab, das ihm eigentlich einen Platz in
der politischen Mitte Weimars zuweisen müßte: Es gebe seit dem 19.
Jahrhundert in Europa zwei große Massen, die der westeuropäischen Tradition
und Bildung fremd gegenüberständen, »das klassenkämpferische
Industrieproletariat und das von Europa sich abwendende Russentum«. (Carl
Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, 1923, S, 26).
(Ebd., 2006, S. 285).Aber heute gilt Carl Schmitt mit seiner Bestimmung
der Politik als eines Verhältnisses von »Freund und Feind« als
ein wichtiger Wegbereiter Hitlers und dann ab 1933 als der »Kronjurist des
Dritten Reiches«. Beide Kennzeichnungen beruhen jedoch auf Mißverständnissen.
In der berühmten Schrift über den »Begriff des Politischen«
geht es ja um den politischen Feind als den »zivilen« Feind, der gerade
nicht mit dem »absoluten«, »ideologischen« Feind identisch
ist, welcher sowohl das Denken der liberalen Anhänger der »universalen
Gesellschaft« bzw. des »Weltstaates« als auch dasjenige der
Marxisten bestimmt. Diesem »diskriminierenden« Feindbegriff, der den
Feind nicht als ernst zu nehmenden Menschen, sondern als »Verbrecher«,
als »Unmenschen« betrachtet und der in einen » Weltbürgerkrieg«
hineinführen muß, will Carl Schmitt gerade entgegentreten. Und seit
den Septemberwahlen von 1930 (**)
war er davon überzeugt, daß die Weimarer Republik sich in einer extremen
Situation befand, da nirgendwo in der Welt ein Staat von zwei großen, einander
und dem Staat radikal feindlichen Kräften in schwerste Bedrängnis gebracht
wurde, und daß nur eine »Notstandsdiktatur« helfen könne.
Jetzt wurde Carl Schmitt zum »Kronjuristen«, dem Verteidiger und Unterstützer
der Präsidialregierungen Brünings, Papens und Schleichers. Er verteidigte
die Regierung Papen in dem großen Prozeß, den die Regierung Braun
und die Sozialdemokratie angestrengt hatten, um den »Staatsstreich«
vom 20. Juli rückgängig zu machen. In einer eigenen Schrift rechtfertigte
er die »Diktatur des Reichspräsidenten«, in dem er gerade den
»Hüter der Verfassung« sah, und die These dürfte nicht unbegründet
sein, daß Carl Schmitt wie Brüning, Papen und Schleicher die Demokratie
durch eine zeitweilige Verstärkung derjenigen undemokratischen Elemente wie
des Artikels 48 retten wollte, welche in jeder repräsentativen Demokratie
vorhanden sind und selbst in plebiszitären Demokratien nicht fehlen. Noch
während der letzten Tage der Regierung Schleicher geriet er in einen schweren
Konflikt mit dem Prälaten Kaas, dem Vorsitzenden der Zentrumspartei, der
dasjenige Argument zugunsten der Regierungsübernahme durch Hitler formulierte,
welches man »das parlamentarische« nennen könnte: Nicht der Weg
der Notstandsdiktatur sei der richtige, sondern die Rückkehr zum normalen
parlamentarischen Verfahren, das den Führer der weitaus stärksten Partei
nicht ausgrenzen könne. (Ebd., 2006, S. 285-286).Wenn
Carl Schmitt am 30. Januar 1933 gestorben wäre, so müßte die rückblickende
Betrachtung ihn dem rechten Fügel jener Verteidiger der Weimarer Republik
zurechnen, die wußten, daß »der Staat«, »die Nation«,
ja die ganze Politik der westlichen Zivilisation mit ihrer Zähmung der Feindvorstellung
nicht überleben konnte, wenn eine der beiden totalitären Parteien, die
Anhänger Lenins oder Hitler selbst, zur Macht gelangten. (Ebd., 2006,
S. 286).Aber Carl Schmitt starb nicht wie Spengler nach bitteren
Einsichten zu einem frühen Zeitpunkt, er wurde nicht am 30. Juni 1934 ermordet
wie Kurt von Schleicher und Edgar Julius Jung, er schloß sich nicht dem »Widerstand
gegen Hitler« an wie Claus von Stauffenberg, sondern er durchlebte trotz
einiger gefährlicher Angriffe von seiten der SS die ganze Zeit des Dritten
Reiches in einflußreicher Position, er schrieb 1934 den berüchtigten
Artikel »Der Führer schützt das Recht« (**),
und er entwickelte später jenen »Großraum«gedanken, welcher
der nationalsozialistischen »Einigung Europas« sehr zu Hilfe kam,
ja er organisierte eine Tagung, in der das »jüdische Problem«
ganz allein im Zentrum stand, das in seinen Weimarer Werken wie in denjenigen
von Spengler und Moeller van den Bruck nur am Rande aufgetaucht war. (Ebd.,
2006, S. 286-287).
Die Mitte
Die Mitte der intellektuellen Szene der
Weimarer Republik stand natürlich in engem Zusammenhang mit den Mittelparteien
.... Aber wenn schon diese Parteien ein breites Spektrum von Auffassungen und
Vorschlägen umfaßten, so gilt das für die Welt der mittleren Reflexion
- zwischen politischen Artikeln oder Kampfschriften und eigentlicher Philosophie
- noch mehr. Längst nicht immer ist eine eindeutige Zuordnung möglich.
Viele Auseinandersetzungen nehmen sich wie Fortsetzungen von Debatten der Vorkriegszeit
aus; ein Philosoph wie Max Scheler würde es vermutlich abgelehnt haben, sich
als einen »politischen Denker der Weimarer Republik« bezeichnen zu
lassen; Max Weber übte zwar gleich in der Anfängen durch sein Eintreten
für die Volkswahl des Reichspräsidenten einen großen Einfluß auf die Gestalt der Republik aus, und seine Äußerungen zu den Friedensbedingungen lassen die künftige Stärke des deutschen Revisionismus erahnen, aber
er starb zu früh, um die Weimarer Republik in sein Denkgebäude einbeziehen
zu können. Die früheste Bewegung auf die Republik und die Mitte hin
ging von jenen »Herzensmonarchisten« aus, die zu » Vernunftrepublikanern«
wurden - sofern man das Verharren bei den Paradigma der Hohenzollernmonarchie
der »Rechten« zuordnet. (Ebd., 2006, S. 287).Immer
wieder nimmt Troeltsch gegen »die Extremen von rechts und links« Stellung
und erweist sich so ante festum als Verfechter eines »antitotalitären«
Grundkonsenses, der aber nur schwer herzustellen ist, denn SPD und Zentrum müssen
zusammenarbeiten, sind aber »innerlich durch eine tiefe Kluft getrennt«,
eine Kluft, so könnte man hinzufügen, die sowohl die Kommunisten als
auch die aufkommenden Nationalsozialisten durch hemmungslose Polemik ständig
zu vertiefen suchen. So legt Troeltsch gegen die europäischen Weltkriegsfeinde
nicht wenig an Trotz und an Willen zur Selbstbehauptung an den Tag, aber letzten
Endes ist seine Feststellung, der eigentliche Sieger des Krieges sei »der
amerikanische Kapitalismus, eingehüllt in die demokratische Tugendideologie«,
nicht bloß resignativ, denn Amerika (soll bedeuten:
USA; HB) bedeutet ja zugleich teine Sicherung gegen den Bolschewismus.
Und doppeldeutig ist auch das Zukunftsbild, das er schon früh (im Juni 1919)
entwirft und das demjenigen sehr ähnlich ist, das Max Weber um die gleiche
Zeit skizziert: Man müsse sich darein schicken, daß eine deutsche Weltpolitik
in Zukunft unmöglich sein werde, denn gesiegt habe der angelsächsische
Individualismus: »Die europäischen Völker werden zweisprachig
werden, für die Welt englisch reden und schreiben müssen und für
ihre Privatzwecke ihre alten Sprachen wie Dialekte weiter benützen. ....
So wäre unser Schicksal in vieler Hinsicht ähnlich dem der (alten) Griechen?«
(Ebd., 2006, S. 299).Max Scheler, schon vor dem Krieg ein führender
Kopf der von Edmund Husserl begründeten phänomenologischen Schule und
Konvertit zum Katholizismus, hatte sich während des Krieges weit mehr als
Troeltsch für die »deutsche Sache« engagiert und konnte als der
Philosoph des deutschen Adels- und Kriegerstaates gelten, wenngleich nicht im
trivialen Sinne des Wortes. Aber nach 1918 wandte er sich vom Katholizismus ab,
weil er den Begriff des »allmächtigen und guten Gottes« nicht
mehr akzeptierte und an dessen Stelle eine Ontologie des Ringens zwischen »Drang«
und »Geist« setzte, innerhalb dessen der Mensch an der »Realisierung
Gottes« mitzuwirken vermag. Seit 1919 Professor an der neu gegründeten
Universität Köln, setzte er sich nun auf durchweg tiefgründige
und gelehrte Weise mit der in der Weimarer Republik vorherrschenden Ideenwelt
auseinander, etwa dem Pazifismus, den Weltanschauungen, dem Menschen inmitten
der Geschichte. Es darf als symptomatisch gelten, daß er seinen Vortrag
über »Die Idee des Friedens und der Pazifismus« im Januar 1927
im Reichswehrministerium hielt (dieser Vortrag wurde als
Broschüre publiziert). (Ebd., 2006, S. 299-300).Am
Anfang stellt er vier grundlegende Fragen: Ist der »Ewige Friede«
ein positiver Wert und überhaupt menschenmöglich?- Ist in der
Geschichte die Richtung einer Realisierung des Ewigen Friedens erkennbar?-
Deutet die gegenwärtige Lage der Welt auf eine absehbare Verwirklichung dieser
Idee hin?- Gibt es praktische Willensmethoden und Einrichtungen, um schon
heute den Ewigen Frieden herbeizuführen? Zur Beantwortung nimmt Scheler eine
Fülle von Unterscheidungen vor, etwa zwischen dem heroisch-individualistischen
Pazifismus der Kriegsdienstverweigerer und der Quäker, dem christlichen,
dem ökonomisch-liberalen, dem juristischen, dem großbürgerlichen
und dem kulturellen Pazifismus sowie dem Halbpazifismus des Marxismus. Alle diese
Erscheinungsformen werden breit und kritisch erörten, aber gleich am Anfang
trifft Scheler eine persönliche Entscheidung fundamentaler Art: »Die
erste Frage ist positiv zu beantworten - der Ewige Friede soll sein, und er ist
möglich.« Damit weist er ausdrücklich den berühmten Satz
des Generals von Moltke zurück, der Ewige Friede sei »ein Traum und
nicht einmal ein schöner«, und er bringt seine Überzeugung zum
Ausdruck, die Liebe zum Krieg, der »Gesinnungsmilitarismus« sei auch
in Deutschland »unwiederbringlich dahin« und er könne nicht wiederkehren.
Daraus leitet er eine konkrete und spezifisch »Weimarische« Folgerung
ab, für die er im Reichswehrministerium schwerlich ungeteilten Beifall erhoffen
durfte, aber offenbar auch keine schroffe Zurückweisung erwartete: Aus der
Denkart des deutschen Volkes, insbesondere seiner führenden Oberschichten,
seien alle Elemente zu entfernen, die dem Krieg und damit dem Heer eine mehr als
instrumentale Bedeutung zuschrieben. (Ebd., 2006, S. 300).Alle
unterschiedlichen Pazifismen lassen sich auf die eine oder andere Weise mit diesem
Grundpostulat vereinbaren, aber wie steht es mit dem eigenartigen Begriff des
»Halbpazifismus«? Es handelt sich dabei um die marxistische und bolschewistische
Vorstellung, den Ewigen Frieden geradeg durch Krieg, nämlich durch den »Weltrevolutlonskrieg«
zu verwirklichen. Diese Konzeption ist durch die Revolution Lenins aus dem Reich
der Vorstellungen in die Realität eingetreten: »Aller Kommunismus der
Welt erhielt dadurch einen Rückhalt, ein gelobtes Land und Zion, auf das
sich alle zu erwirkenden »roten Armeen« aller Staaten und Länder
stützen können.« Aber diese Konzeption erklärt Scheler nachdrücklich
für falsch, da auch die These unrichtig sei, »daß der Kapitalismus
die wesentliche Ursache der modernen Kriege gewesen sei«: Der »Ewige
Friede kann und darf nicht auf einem Meer von Blut errichtet werden, das zugleich
die Vernichtung der Kultur des ganzen bisherigen Abendlandes« bedeutet.
Daher gelangt Scheler zu der Aussage: »Der Weltrevolutionskriegsgedanke
ist eine große Gefahr für den Frieden.« (Ebd., 2006, S.
300-301).Aber schon auf der folgenden Seite spricht er bei der
Erörterung des »imperialistischen Weltreichspazifismus« von der
»Todesangst des westlichen und amerikanischen Großbürgertums
vor dem Bolschewismus« und dessen Ideen. Sollte mithin nicht ein Weltbürgerkrieg
zwischen zwei Halbpazifismen zu erwarten sein, und würde die deutsche Reichswehr
dabei nur eine bloß instrumentelle Rolle zu spielen haben, oder würde
sie sich eine der beiden feindlichen Ideologien zu eigen machen müssen? Diese
Frage wirft Scheler nicht auf, sondern er begnügt sich am Schluß mit
der Forderung, »Europa vor einem neuen Krieg zu bewahren, der die totale
Vernichtung ... der europäischen Kultur« bedeuten würde.
(Ebd., 2006, S. 301).Mit einer verkürzenden Formel könnte
man sagen: Scheler bejahte hier, was Hitler verneinte, und dasselbe gilt für
den Vortrag über das »Weltalter des Ausgleichs«, den er wenige
Monate vor seinem Tode in der Deutschen Hochschule für Politik im November
1927 hielt. Es handelt sich um eine kurzgefaßte und überaus dichte
Deutung der ganzen modernen Weltgeschichte, die durch den Begriff des »Ausgleichs«
die extremen Begriffe der nivellierten Menschheit eines definitiven Endstadiums
und des sich stets nur verschärfenden Kampfes zwischen menschlichen Großgruppen
zu vermeiden sucht. Es muß genügen, hier ein längeres Zitat anzuführen:
Die umfassende Tendenz des kommenden Weltzeitalters sei am besten durch den Begriff
»Ausgleich« zu fassen - »... Ausgleich der Rassenspannungen,
Ausgleich der Mentalitäten, der Selbst-, Welt- und Gottesauffassungen der
großen Kulturkreise, vor allem Asiens und Europas ..., Ausgleich der Spezifitäten
der männlichen und weiblichen Geistesart. ... Ausgleich von Kapitalismus
und Sozialismus ..., Ausgleich zwischen den politischen Machtanteilen von sogenannten
Kultur-, Halbkultur- und Naturvölkern .... Unweigerlich wird fortschreiten
der Rassenausgleich, die Blutmischung. .... Wer das Heil der Welt in der Erhaltung
einer reinen, nach seiner Meinung einer Edelrasse sieht
..., der ziehe sich zurück mit seinen Rasseedlen auf eine Insel und verzweifle!
Die Entwicklung der Selbständigkeit der farbigen Völker hat schon jetzt
reißende Fortschritte gemacht. Ein Ausgleich zwischen Weißen und Farbigen
wird notwendig kommen ....« (Ebd., 2006, S. 301-302).Aber
in allen Schattierungen des weltgeschichtlichen Gemäldes, das Scheler skizziert,
wird deutlich, daß er alle diese - nicht nivellierenden, sondern differenzierenden
- Ausgleichsprozesse nur dann für festgegründet hält, wenn die
abendländische Menschheit von ihrer christlichen und einseitigen Verehrung
des geistigen und allmächtigen Gottes zu einer Philosophie der immer neuen
Synthesen von Drang und Geist gelangt, in denen sich die Realisierung Gottes vollzieht.
Und wieder stößt Scheler bei seinem Bemühen, innerhalb des Notwendigen
Spielräume der Entscheidung offen zu halten, auf die Sowjetunion, von der
es zu einem wesentlichen Teil abhängen wird, ob der notwendige Ausgleich
zwischen kapitalistischer und sozialistischer Wirtschaftsordnung sich auf friedlichem
Wege oder unter blutigen Klassenkriegen vollziehen wird. Und in dieser Hinsicht
fühlt er sich zu einem optimistischen Ausblick berechtigt, denn Rußland
habe »seit der Existenz der Sowjetrepublik und der neuen Wirtschaftspolitik
immer mehr Kapitalismus in sich aufnehmen müssen« und auch als Staat
gewinne es »mit dem steigenden Übergewicht der Bauernschaft wieder
mehr sein nationales Gepräge zurück«. - Ein gravierenderes Fehlurteil
hätte ein bedeutender Philosoph im Jahre 1927, am Beginn der Beseitigung
der NEP und der großen »Kulaken«vernichtung schwerlich fällen
können, und in diesem Punkte ist Hitler ihm gegenüber Recht zu geben.
(Ebd., 2006, S. 302).Auch für Karl Jaspers, den neben Heidegger
bekanntesten Begründer der »Existenzphilosophie«, geht es in
seiner zuerst 1930 erschienenen Schrift »Die geistige Situation der Zeit«
um die »Herkunft der gegenwärtigen Lage« und deren »Erhellung«
im Blick auf die mögliche Zukunft. Aber er hält sich von so konkreten
und irrtumsunterworfenen Feststellungen und Vorhersagen fern, wie Max Scheler
sie zu machen wagte, und wenn man eine grobe Vereinfachung nicht scheut, so lassen
sich die Gedankengänge dieser Schrift auf einen fundamentalen Gegensatz zurückführen,
den kulturellen Gegensatz zwischen der modernen »Massenordnung« mit
ihrem universalen Daseinsapparat zur Versorgung zahlloser Menschen und dem eigentlichen
Menschsein oder »Selbstsein«. In dieser Ordnung wird das Individuum
in seine gesellschaftliche Funktion aufgelöst, und es ist nur noch ein Sein
als »wir«. Dadurch werden die Menschen »aus den substantiellen
Lebensgehalten herausgelöst, die früher als Tradition die Menschen umfingen,
und sie werden »wie Sand durcheinander geschüttet«. (Ebd.,
2006, S. 302-303).Betrieb, Bürokratie, Organisation sind Merkmale
des »Apparats«, von dem alle abhängen - Max Weber, auf den Jaspers
häufig Bezug nimmt, hatte vom »ehernen Gehäuse der Hörigkeit
der Zukunft« gesprochen. Es gibt aber Gegentendenzen gegen die Entwicklung
zu einer universalen Daseinsordnung, in welcher am Ende der Mensch selbst »erlöschen«
müßte. Eine davon ist »das Führertum«, die Existenz
von Menschen, die »aus eigenem Ursprung« das Steuer auch gegen die
Masse ergreifen können, wenn an Wendepunkten der Daseinsordnung die Frage
nach Neuschöpfung oder Untergang entsteht. Eine andere Gegentendenz ist »das
Leben des Hauses«, das Leben in der Ehe, das dem einzelnen Menschen heute
in höherem Maße Halt bedeutet als in früheren Zeiten, wo »die
Substanz des öffentlichen Geistes« weniger aufgelöst war als in
der Gegenwart. Daher ist es nach Jaspers unmöglich, den Planeten jemals in
die von den Massen betriebene Riesenfabrik zu verwandeln, in der alle Konflikte
und Schwierigkeiten abgeschafft sind, so daß »kampflos und schicksalslos
die Daseinsfreude der Menschen in unabänderlicher Zuteilung bei kleiner Arbeitszeit
und viel Zeitvertreib« besteht. Aber dieser Zustand, der offenbar dem utopischen
»Sozialismus« der Marx'schen Theorie entsprechen soll, wird immer
wieder an den unvermeidlichen Kämpfen zwischen geburtenstarken und geburtenschwachen
Gruppen sowie an Einwirkungen unberechenbarer Naturgewalten scheitern; eine perfekte
Organisation wie diejenige der Bienenstaaten ist für Menschen nicht erreichbar,
und sie ist nicht einmal wünschbar. Allerdings ist die Beschreibung realer
Vorgänge noch erschreckend genug, und sie erhält einen anderen Akzent
als bei Scheler: Mit der Vereinheitlichung des Planeten hat ein Prozeß der
Nivellierung begonnen, den man »mit Grauen erblickt. .... Dieselben Schlagworte
eines aus Aufklärung, angelsächsischem Positivismus und theologischer
Tradition gemischten Sprachbreis erobern sich das Erdrund. .... Die Rassen mischen
sich. Die geschichtlichen Kulturen lösen sich von ihrer Wurzel und stürzen
in die technisch wirtschaftliche Welt und in eine leere lntellektualität.«
(Ebd., 2006, S. 303).Mit den heute üblichen Begriffen ist
eine Charakterisierung dieses Denkens schnell gefunden: Es handelt sich um die
Kulturkritik eines gegenüber der »Globalisierung« negativ eingestellten
Bildungsbürgers. Aber wer so argumentiert, wird nach einem Augenblick des
Nachdenkens immerhin einräumen müssen, daß eine ähnliche
»Kulturkritik« auch von Ernst Bloch und Max Horkheimer, ja im Grunde
hundert Jahre zuvor von dem jungen Marx geübt wurde. Und die Art und Weise,
wie Jaspers im weiteren Verlauf historische und soziale Phänomene unter seinem
leitenden Gesichtspunkt zu Themen macht - Staat, Krieg und Frieden, politisches
Handeln, Erziehung, Bildung, Spezialisierung, geistiges Schaffen, Kunst und Wissenschaft
- kann nicht mit kurzen Formeln abgetan werden, und es ist bedenkenswert, wenn
Jaspers »Bolschewismus und Faszismus« als Auswege zu einer leichteren
Möglichkeit charakterisiert oder der zur Massenerscheinung gewordenen »Diskussion«
die »echte Kommunikation« gegenüberstellt. Aber Jaspers' Gegner
haben häufig und teilweise mit Recht daraufhingewiesen, daß nicht wirklich
klar wird, was er unter »Selbstsein« versteht, wenn es mehr sein soll
als die Haltung des Philosophen vor dem » Umgreifenden« und der »Transzendenz«,
die nicht zu richtigen Sätzen, sondern zur »Existenzerhellung«
führt. Der allzu häufige Gebrauch des Wortes »echt« hilft
hier nicht recht weiter. Indessen war Jaspers 1930 offenbar von dem Empfinden
nicht frei, daß er nicht ausschließlich von Entwicklungen und Tatsachen
sprechen sollte, die sich wie Vermassung, Nivellierung und Daseinsfürsorge
in jedem zivilisierten Staat finden lassen, sondern auch vom Spezifischen der
Weimarer Republik. Er tut das erst wenige Seiten vor dem Ende: »Die ergreifenden
Berichte, wie im Kriege zuletzt in weichender Front hier und dort Deutsche standhielten,
als Einzelne sich sahen, in ihrem Sichbehaupten und Sichopfern doch das bewirkten,
was kein Befehl vermochte, den vaterländischen Boden tatsächlich auch
im letzten Augenblick noch vor Zerstörung zu bewahren und ein Bewußtsein
von Unbesiegtheit in die deutsche Erinnerung zu senken, diese Berichte zeigen
eine sonst kaum erreichte Wirklichkeit wie ein Symbol der gegenwärtigen Möglichkeit
überhaupt. Es ist das erste Menschsein, das vor dem Nichts im Untergang nicht
mehr seine Welt, aber für die kommende den Anspruch verwirklichen konnte.«
(Ebd., 2006, S. 303-304).In diesem Zustand angesichts des Nichts
entsteht für Jaspers »die Kraft des Selbstseins in der Glaubenslosigkeit«,
welche weiß, daß sie scheitert , aber »sie liest im Scheitern
die Chiffre des Seins. Sie ist der Glaube, der philosophisch ist und sich in der
Kette der Einzelnen, welche sich die Fackel reichen, neu erzeugen kann.«
(Ebd., 2006, S. 304).Sätze wie diese, geschrieben von einem
Mann, der nie Soldat war, hätten Bloch und Horkheimer, ja selbst Stampfer
und Lensch nicht schreiben können und nicht schreiben wollen. Aber sie lassen
die Frage aufkommen, ob eine Republik, in der zwei so entgegengesetzte und doch
ähnliche Arten der »Kulturkritik« und zwei einander so verschiedenartige
Kriegserfahrungen in feindlicher Nähe existierten, je zu einem »Ausgleich«
in einer neuen Mitte gelangen konnte oder ob es unumgänglich war, daß
von den zwei so wenig nur politischen Extremen das eine das andere vernichtete.
(Ebd., 2006, S. 304-305).
Das Ringen um die Geschichte der Weimarer Republik
Der
Kampf um die Einschätzung der Weimarer Republik begann bereits im Akt ihrer
Entstehung: In zahllosen Artikeln und Aufsätzen aller Zeitungen und Zeitschriften
Deutschlands bildeten sich in den Stellungnahmen zu den Ereignissen schon bis
Mitte 1919 die beiden grundlegenden Auslegungen der Revolution heraus, die dann
auch zu den Hauptkennzeichen der Interpretationen der Republik im Ganzen wurden:
Entweder erschien die Revolution als »verraten«, oder sie stellte
sich als »verräterisch« dar, und unter diesem Kriterium schieden
sich die Linke und die Rechte am unmittelbarsten und eindeutigsten. Von beiden
Seiten wurde der Charakter der Weimarer Republik als »bürgerliche Demokratie«
indessen fast gleichermaßen bekämpft, wobei von der Linken das Adjektiv
»bürgerlich« als »bloß bürgerlich« und
also »nicht-sozialistisch« verstanden wurde, während die Rechte
eine »allzu bürgerliche«, d.h. nicht-autoritäre oder nicht-monarchistische
Gesellschaftsordnung verurteilte. .... Es bleibt zu fragen, ob dieser politische
Kampf auch in der Geschichtsdarstellung eine Stätte gefunden hat, wo er sich
in ein »Ringen« verwandeln mußte, weil geschichtliche Darstellungen,
wenn sie dem Charakter der Geschichtsschreibung auch nur nahekommen wollen, von
sich aus einiges von jener Distanz an sich haben müssen, die ein Merkmal
der engagierten Reflexion ist. Berichte der Mitwirkenden über ihre Aktivitäten
sind mithin auszuschließen, ob es sich um Dokumentationen oder um Erinnerungen
handelt (**). (Ebd.,
2006, S. 305).Anders sehen die Dinge aus, wenn Mithandelnde aus
einem gewissen zeitlichen Abstand heraus die eigene Rolle in größerem
Zusammenhang zu sehen versuchen wie etwa Richard Müller, der als Führungsfigur
der »Revolutionären Obleute« ein wichtiger Protagonist der Revolution
gewesen war und der sich doch schon früh als Besiegter empfinden mußte:
als ein sowohl von rechts als auch von der noch radikaleren Linken Besiegter.
Das bemerkenswerteste Beispiel dieser Gattung ist das zuerst 1943 in Zürich
publizierte Buch des ehemaligen preußischen Ministerpräsidenten Otto
Braun »Von Weimar zu Hitler«. Es ist zugleich ein Beispiel für
eine Merkwürdigkeit der geschichtlichen Darstellungen der Weimarer Republik
durch Autoren, die selbst ein Teil des Weimarer politischen Lebens waren, nämlich
daß die meisten erst lange Zeit nach dem Ende Weimars entstanden, weil die
Verfasser erst in der Emigration die Gelegenheit hatten,ihre Deutungen zu Papier
zu bringen, und oftmals erst nach 1945 imstande waren, einen Verlag zu findenDaher
sollen im Folgenden auch einige Bücher berücksichtigt werden, die bis
zum Jahre 1950 publiziert wurden und von denen man also annehmen kann, daß
sie auf Gedanken und Urteilen beruhen, welche die Verfasser schon bald nach dem
Ende der Republik in der Emigration entwickelt haben. Es braucht kaum eigens erwähnt
zu werden, daß es sich um einen Abstieg um zwei oder gar drei Stufen handelt,
wenn von Philosophen und Geschichtsdenkern wie Bloch, Spengler
und Scheler der Übergang zu Autoren wie Arnold Brecht und Friedrich Stampfer
gemacht wird, aber auch deren Bücher enthalten neben dem selbstverständlichen
Engagement ein gewisses Maß an Reflexion, und sie berücksichtigen nicht
selten solche Tatbestände, die in der späteren und umfangreichen Historiographie
der Weimarer Republik keine oder nur wenig Beachtung finden. (Ebd., 2006,
S. 305-306).Zwischen 1919 und 1932 ist nur eine einzige umfangreiche
Darstellung erschienen, welche »die Weimarer Republik« als solche
zumThema machte, nämlich das vierbändige Werk von Karl Siegmar von Galéra
»Geschichte unserer Zeit«. Es ist »national« orientiert
und sieht in der Revolution einen Verrat, der schon im Juli 1917 begonnen habe,
als »die Sozialdemokraten« verhindern wollten, daß die bevorstehende
Frühjahrsschlacht in Frankreich von Deutschland gewonnen werden würde.
Die Schrecken des Bolschewismus hebt er besonders hervor, und die Grausamkeiten
und Mordtaten der Linken, insbesondere diejenigen nach dem Kapp-Putsch. unterstreicht
er mit derselben Einseitigkeit, wie es die Gegenseite mit den Grausamkeiten und
Mordtaten der Freikorps tat. Aber er läßt schon ab 1924 den »
Wiederaufstieg zu neuer Weltgeltung« beginnen, und die Tugenden des Historikers,
nämlich Distanz und Maßhalten, werden auch bei ihm erkennbar, wenn
man sich etwa das extrem negative Urteil vor Augen hält, das Oswald Spengler
1919 in »Preußentum und Sozialismus« über die Revolution
gefällt hatte (**).
(Ebd., 2006, S. 306).Unter allen von ehemaligen Mitwirkenden geschriebenen
Darstellungen der Weimarer Republik, die nach 1945 erschienen sind, darf diejenige
von Ferdinand Friedensburg am ehesten den Rang der Wissenschaftlichkeit beanspruchen.
Friedensburg war zwar nur als hoher Beamter in der preußischen Verwaltung
tätig gewesen, aber sein Buch (Die Weimarer Republik, 1945) macht
vor allem auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte den Eindruck intimer
Kennerschaft, die auch in einer Fülle von statistischen Angaben zum Vorschein
kommt. Als Kriegskosten nennt Friedensburg die Summe von ca. 157 Milliarden Goldmark;
da das gesamte Volksvermögen vor dem Kriege auf 310 Milliarden geschätzt
wurde, ging mithin durch den Krieg die Hälfte verloren, und auf der anderen
Hälfte lagen beträchtliche Lasten. Die Härten und die schlimmen
Konsequenzen des Friedensdiktats (Versailler
Diktat) werden von ihm sehr hervorgehoben. (Ebd., 2006, S. 309).Deutschland
blieb sogar während der Krise im Bereich der Exporte an der ersten Stelle
in der Welt (kein Wunder, denn schon zur Zeit des 2. Kaiserreiches
war Deutschland in allen Bereichen Weltmeister [**]),
und die soziale Bilanz der Republik war sehr positiv ([**|**];
wie zuvor auch die des 2. Kaiserreiches [**]):
Nach seiner Verfassung und gutenteils auch nach der Realität war die Weimarer
Republik der führende »Sozialstaat« der Welt, und die Einkommensdifferenzen
innerhalb des Volkes hatten sich erheblich verringert. Von den 28 wissenschaftlichen
Nobelpreisen, die von 1919 bis 1927 verliehen wurden, entfielen die weitaus meisten,
nämlich 11 (**),
auf Deutsche - Deutschland hatte seine führende Stellung im Bereich der Wissenschaft
also weiterhin behauptet. (Ebd., 2006, S. 310).Arnold Brecht,
dessen Buch über Weimar 1948 publiziert wurde, war ein hoher Beamter gewesen
- zunächst im Reichsinnenministerium als Leiter der Verfassungsabteilung
und dann als Hauptbevollmächtigter Preußens im Reichsrat. 1932 trat
er in das Licht der großen Politik, als er die Sache Preußens und
der Reichsverfassung vor dem Staatsgerichtshof verteidigte. .... Die Konjunktive
der Fomel »was wäre gewesen, wenn ...« spielen bei ihm eine große
Rolle ...: Wenn das us-amerikanische oder britische (Mehrheits-)Wahlsystem in
Deutschland gegolten hätte, würden die Nationalsozialisten höchstens
10 oder 20 Sitze (also: höchstens
1,43% oder 3,47% der Sitze im Reichstag [**])
errungen haben; wenn die Westmächte Brüning auf vernünftige Weise
entgegengekommen wären, würde Hitler voraussichtlich nie zur Macht gelangt
sein; ... hätte Großbritannien das Verhältniswahlrecht gehabt,
so würde seine Geschichte einen ganz anderen Verlauf genommen haben. . .... »Kein Churchill, Lloyd George, Clemenceau, Poincaré oder Roosevelt
hätte eine solche Demokratie kraftvoll führen können, außer
- ja außer in dem Falle, daß sie sich entschlossen hätten, die
von der Verfassung ihnen gesetzten Grenzen zu überschreiten.«
(Ebd., 2006, S. 310-311).Friedrich Stampfer, ehemals Chefredakteur
des »Vorwärts« und damit einer der führenden Männer
der SPD, gab seinem 1947 in Offenbach erschienen Buch »Die ersten 14 Jahre
der deutschen Republik« einen umfassenden und anspruchsvollen Titel ....
Es ist deshalb noch von Interesse, weil es einige allgemeine Thesen der Sozialdemokratie
unterstreicht und mancherlei Sachverhalte anführt, die in späteren Darstellungen
kaum noch erwähnt werden. (Ebd., 2006, S. 311-312).Auch
Stampfer sieht im Versailler Vertrag (Diktat
!) »eine Hauptursache für den Zusammenbruch der deutschen Republik«.
Ein für seine Partei sehr unangenehmes Eingeständnis macht er mit der
Feststellung, in Berlin sei ein Großteil der sozialdemokratischen Mitglieder
schon um die Jahreswende 1919/'20 zur USPD übergegangen. (Ebd., 2006,
S. 312).Der bedeutendste Politiker der Weimarer Zeit, der ... eine
Gesamtinterpretation zu geben versuchte, war der langjährige Ministerpräsident
Preußens, Otto Braun, in seinem Buch »Von Weimar zu Hitler«.
Gleich im Vorwort stellt er die These auf: Wenn man ihn frage, wie es in Deutschland
zu der Hitler-Diktatur habe kommen können, könne er immer nur antworten:
»Versailles und Moskau« (also: Diktat
und Bolschewismus!). (Ebd., 2006, S. 313).Heinrich
August Winkler identifiziert sich ... in seinem erstmals 1993 erschienen, ebenso
voluminösen wie zuverlässigen Buch »Weimar 1919-1933 - Die Geschichte
der ersten deutschen Demokratie« ganz weitgehend mit der Position der Mehrheitssozialdemokratie,
d.h. mit Ebert und den »Reformisten«, die ab 1914 die deutsche Sozialdemokratie
auf den Weg des Kompromisses mit den »bürgerlichen« Parteien
und damit in den Augen der »revolutionären Sozialisten« auf die
Bahn des » Verrats am Sozialismus« geführt hatten. Auch er konstatiert
den »antibolschewistischen Grundkonsens der alten Eliten«, aber er
hält ihn für besser begründet, als Mommsen es tut (vgl. Hans Mommsen,
a.a.O.), und er erweitert ihn beträchtlich durch die Einbeziehung »der
Alliierten«. Die Forderung der radikalen Linken nach einem »totalen
Bruch mit der Vergangenheit« erklärt er für irreal, und in der
Sache erscheint ihm deren Konzept als dasjenige einer »unmöglichen
Revolution«. Lenin taucht als ein durch Appelle und Verlautbarungen Mithandelnder
relativ früh auf, aber längst nicht in dem Ausmaß wie bei Ruge
(vgl. Wolfgang Ruge, a.a.O.). (Ebd., 2006, S. 321-322).Sogar
der »Antisemitismus« der Rechten findet eine nachvollziehbare Erklärung:
Ein erheblicher Teil der Akteure der Münchener Räterepublik entstammte
ostjüdischen Familien, und das bedeutete einen mächtigen Antrieb für
die neu aufkommende, in so fanatischer und radikaler Gestalt bis dahin nicht vorhandene
Judenfeindschaft. Rosa Luxemburg erlitt auf der Gründungsversammlung der
Kommunistischen Partei zwar eine Niederlage durch die Gegner einer Beteiligung
an der Wahl zur Nationalversammlung, aber nachdem der Spartakus-Aufstand am 4.
Januar ausgebrochen war und, auch durch die Unterschrift Liebknechts, den Sturz
der Regierung Ebert-Scheidemann proklamiert hatte, kapitulierte sie vor jener
Spontaneität der Massen, die sie immer so sehr gerühmt hatte. So gewiß
Winkler die moralische Empörung über die Ermordung von Liebknecht und
Luxemburg teilt, schreckt er doch vor der These nicht zurück, die ermordeten
kommunistischen Führer hätten in hohem Maße die Verantwortung
für das Blut, das in den Januarkämpfen vergossen wurde, zu tragen. Die
Niederwerfung des Kapp-Putsches wird nicht ebenso sehr gerühmt wie von Ruge
und Mommsen, denn die Fragwürdigkeit des scheinbar von den sozialdemokratischen
Ministern unterzeichneten Aufrufs zum »Generalstreik« mit seiner extrem
linken Phraseologie wird hervorgehoben, und die nachfolgende Entstehung der »Roten
Armee an der Ruhr« wird nicht durch ein Wort wie »Unruhen« verharmlost,
ja es wird den Männern um Kapp nicht jedes verständliche Motiv abgesprochen,
denn die Forderung nach Auflösung der schon viel zu lange tagenden Nationalversammlung
und nach Ausschreibung von Wahlen für den ersten Reichstag war berechtigt.
Natürlich wird die Ermordung von Erzberger und später von Rathenau mit
Nachdruck verurteilt, aber aus Anlaß der Beauftragung des parteilosen Wilhelm
Cuno mit der Regierungsbildung im November 1922 übt Winkler scharfe Kritik
an der »eigenen Partei«, denn er konstatiert ein Versagen der SPD,
»der eigentlichen Staatspartei der Republik«, die sich einer parlamentarischen
Krisenlösung verweigert und damit die präsidiale Lösung durch Ebert
- eine Präfiguration der späteren präsidialen Lösungen durch
Hindenburg - erst möglich gemacht habe. Tadel erfährt auch das Bündnis
der sächsischen Sozialdemokraten mit den Kommunisten 1923 und die Zustimmung
zu dem kommunistischen Vorschlag eines Zusammengehens bei der Frage der Fürstenenteignung.
So kann trotz aller Zustimmung Winklers zu vielen politischen Aktionen und Maßnahmen
der Mehrheitssozialdemokratie durch seine Darstellung der Eindruck aufkommen,
daß die SPD nicht die »eigentliche Staatspartei der Republik«
gewesen sei, auch deshalb, weil eine spätere Äußerung des Vorsitzenden
der DVP (**),
Ernst Scholz, ohne Kritik zitiert wird, die SPD sei »offiziell für
Schwarz-Rot-Gold, im Herzen aber für die rote Fahne«. Daraus ließe
sich die Folgerung ableiten, daß nicht so sehr das Widerstreben der alten
Eliten als vielmehr das Fortleben des schon geschwächten sozialistischen
Glaubens in der angeblichen »Staatspartei der Republik« die gravierendste
Erblast für die Weimarer Republik gewesen sei. Wie anders hätte der
rechte Flügel der USPD nach der Wiedervereinigung mit der Mutterpartei und
dem Übergang des linken Flügels zu den Kommunisten eine so wichtige
Rolle spielen können? Und wohl deshalb spricht Winkler nicht, wie Ruge und
bis zu einem gewissen Grade auch Mommsen, in bloß abfälligen Termini
von der NSDAP: Die NSDAP war in höherem Grade eine »Volkspartei«
und insofern moderner als alle anderen Parteien; individueller Terror wurde nicht
ausschließlich von den Anhängern Hitlers, sondern auch gegen sie geübt,
der ermordete SA-Führer Horst Wessel war kein Zuhälter, wie Mommsen
suggeriert, und »die Angst vor den Kommunisten« war zwar exzessiv
und durch Propaganda verschärft, aber »gleichwohl real«. Es ist
sogar ein Satz zu lesen, der sowohl für Ruge als auch für Mommsen irreführend,
ja empörend gewesen wäre: »Die SA-Männer standen den Kommunisten
an physischer Gewalttätigkeit kaum nach.« Die Schilderung der letzten
Monate Weimars weicht von der heute als »korrekt« angesehenen Auffassung
erheblich ab: Die SPD fürchtete bei Neuwahlen »die Katastrophe der
Überflügelung durch die Kommunisten«, nicht alle Intrigen und
Verfassungsverstöße erfolgten zugunsten Hitlers, sondern einige der
wichtigsten richteten sich gegen ihn; gerade die Schwächung der Nationalsozialisten
in den Novemberwahlen rief berechtigte Sorge hervor, und der »Vorwärts«
fürchtete aus gutem Grund die »Verbrüderung von Nazis und Kozis«.
(**). (Ebd., 2006, S. 322-323).Im
Nachwort unterstreicht Winkler noch einmal die »Priorität der radikalen
Linken«, und in seinen Augen waren es die Kommunisten, die den Bürgerkrieg
offen propagierten und dadurch den Nationalsozialisten Gelegenheit gaben, »den
Ordnungsfaktor zu spielen« An manchen Stellen könnte man vermuten,
Winkler habe ein Buch über den »Europäischen Bürgerkrieg«
zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus schreiben wollen, aber er vermeidet
jede Bezugnahme auf ein Buch dieses Titels, und im Ganzen wird man sagen müssen,
daß er ein sehr kenntnisreiches und trotz gelegentlicher Abweichungen durchaus
sozialdemokratisches Buch geschrieben hat, das indessen nicht »parteilich«
ist und mit Recht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben darf. (**).
(Ebd., 2006, S. 324).Hier schließe ich das Buch von Detlef
Peukert an, der trotz seines frühen Todes und trotz des beachtlichen Werkes,
das er geschaffen hatte, als vertreter einer »jüngeren Generation«
gelten muß und den Tendenzen der »Achtundsechziger« nahe stand,
ohne daß er meines Wissens zu den Protagonisten zu zählen wäre.
.... Sein Zentralbegriff ist der der »Modernisierung«, und von hier
aus gelangt er zu aufschlußreichen und vom Üblichen teilweise erheblich
abweichenden Ergebnissen oder Fragestellungen. Es gibt für ihn kein »normales«
Muster von Modernisierung, von dem aus einzelne Modernisierungsprozesse ohne weiteres
als »gelungen« oder »verfehlt« eingestuft werden könnten.
»Modernisierung« vollzog sich überall in Europa im Rahmen des
»widersprüchlichen und hochkomplexen Charakters einer modernen industriellen
Klassengesellschaft«. Industriegesellschaftliche Modernisierung ist also
in sich und notwendigerweise »krisenhaft«. .... Von dieser Komplexität
zeichnet Peukert ein anschauliches Bild: von der »demographischen Revolution«
in einigen europäischen Ländern (darunter auch Deutschland), welche
die Gefahr der »Vergreisung« in sich schloß und das Schreckensbild
des »Volkstodes« hervorrief, vom Sinken des Anteils der Selbständigen,
von der Unterschiedlichkeit jener vier Generationen, deren Angehörige während
der Weimarer Zeit miteinander und gegeneinander kämpften, auch in Gestalt
der »jungen« Parteien KPD und NSDAP gegen die »alte« Partei
der Sozialdemokraten, von der Entstehung einer »Freizeitkultur«, die
nicht zuletzt mit der Einführung des Achtstundentages (gesetzlich
seit 1918) als einer Hauptfolge der Revolution verknüpft war und entpolitisierend
wirken konnte, von der »Rationalisierung der Sexualität«, die
ein neues Rollenbild der Frau, aber auch das Aufkommen der »Eugenik«
nach sich zog, und nicht zuletzt die Rationalisierung in der Wirtschaft, die in
hohem Grade »modern« war und gerade deshalb beträchtliche Schwierigkeiten
verursachte, indem sie u.a. »Desolidarisierung« unter den von Erwerbslosigkeit
bedrohten Arbeitern hervorrief. Schwerwiegende weltpolitische Konsequenzen mochten
sich aus der Tatsache ergeben, daß der Produktivitätsfortschritt in
Deutschland größer war als in England .... (Ebd., 2006, S. 324-325).Besonders
viel Aufmerksamkeit widmet Peukert den einzelnen »Milieus«, die keineswegs
nur ein Überbau über sozialen Klassen waren und etwa die katholischen
Arbeiter von den sozialistischen Arbeitern weit entfernt hielten, obwohl Auflösungstendenzen
unverkennbar waren. Neben dem »alten Mittelstand« tauchte die neue
Schicht der »Angestellten« auf, deren Existenz von Siegfried Kracauer
»zum fatalen Symbol der rationalisierten, sinnentleerten und konsumorientierten
Welt der Moderne« stilisiert wurde. Aber gerade diese Negativität stärkte
die Anziehungskraft jener Parteien und Ideologien, die einen sinnvollen Entwurf
propagierten, vornehmlich die Kommunisten und die Nationalsozialisten. Andererseits
schien die sinnentleerte und bloß konsumfreudige Moderne mehr an Zukunft
in sich zu haben, und Peukert zitiert eine aufschlußreiche Aussage eines
linksorientierten Schriftstellers: Gerade aus der näheren Kenntnis des Volkes
erwachse die Vermutung, daß »nicht etwa der Sozialismus, sondern der
Amerikanismus das Ende aller Dinge« sein werde. So ertönte das Lied,
das die »Jungsozialisten« sangen, möglicherweise auf ganz unsicherem
Grund: »Demokratie, das ist nicht viel; Sozialismus ist das Ziel«.
Und die Dynamik, die sie der sozialdemokratischen Bewegung zuschrieben, wurde
jedenfalls in jener Zeit von der Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung
weit übertroffen, die für Peukert das Image einer »neuen unverbrauchten
Kraft« hatte und die erste klassenübergreifende »totalitäre
Volkspartei« war. Aber auch sie war in der Weimarer Zeit nur eine Kraft
unter anderen Kräften, bloß Teil einer hochkomplexen, vielschichtigen
und widersprüchlichen Gesellschaft. Und so gelangt Peukert zur Skizze einer
Vorreiterrolle Deutschlands in der Krisenzeit der Moderne: Auch in den anderen
Industriestaaten existierten die entsprechenden Krisensymptome, aber Deutschland
war »antitraditionaler und revolutionärer als Frankreich und England«,
und gerade deshalb setzte sich hier die Modernisierung in den zwanziger Jahren
»brutaler, unverblümter« durch als in anderen Ländern. Daß
die beiden totalitären Parteien in Deutschland weitaus stärker waren
als irgendwo sonst in der Welt - außer in den Ländern ihrer Alleinherrschaft
Sowjetunion und Italien -, muß als Konsequenz aus der extrem krisenhaften
Lage gesehen werden, aber ihre Lösungsvorschläge gelten Peukert offenbar
allesamt als verhängnisvoll. Der Ausblick in die Zukunft ist für ihn
ambivalent und zweifelhaft wie in jenem Zitat über den möglichen Sieg
des Amerikanismus, und rundum positiv nimmt sich nur die Äußerung über
das Denken und die Tätigkeit der ganz überwiegend mit den linken Parteien
sympathisierenden »jüdischen Intellektuellen« aus, einer Avantgarde,
in deren Denken »Umrisse einer international ausgerichteten und säkularisierten
Zukunftskultur (aufleuchteten), die jene traditionellen und nationalistischen
Schranken beseitigte, aus denen sich die Diskriminierung der Juden gespeist hatte.«
Aber mußte nicht diese entschränkende und oft genug widersprüchliche,
weil mit der zionistischen Idee einer »Rückkehr in die verlorene Heimat«
verknüpfte Tendenz in den nicht nur begrenzten, sondern sich selbst immer
stärker begrenzenden, von anderen unterscheidenden Nationalstaaten Europas
und zumal in Deutschland Reaktionen hervorrufen, die sich mit dem Kampf zwischen
den beiden totalitären Parteien verknüpften und durch den verharmlosenden
Ausdruck der »Judenverfolgung« nicht adäquat erfassen lassen?
Jedenfalls aber stellte Peukerts bei Suhrkamp erschienenes und schon deshalb stark
beachtetes Buch unter Beweis, daß die »sozialgeschichtliche Methode«
nicht wenig zur Entwicklung neuer Ansätze und Resultate im Hinblick auf die
Weimarer Republik beizutragen vermochte. (Ebd., 2006, S. 326-327).Hagen
Schulze publizierte sein Werk über »Weimar - Deutschland 1917-1933«
erstmals im Jahre 1982 im Rahmen der viel gelesenen Reihe »Die Deutschen
und ihre Nation«. Er war damals schon als ein Weimar-Spezialist bekannt,
da 1977 sein bis heute maßgebendes Werk über den preußischen
Ministerpräsidenten Otto Braun erschienen war. Später wurde er als Lehrstuhlinhaber
an der Freien Universität Berlin mit der Leitung des Deutschen Historischen
Instituts in London betraut; er nimmt also seinen Platz sozusagen in der »Mitte
der Mitte« der deutschen Geschichtswissenschaft ein. (Ebd., 2006,
S. 327).Deutlicher als viele andere hat er den emotionalen Hintergrund
seiner Studien über die Weimarer Republik beschrieben, denn im Vorwort ist
der folgende Satz zu lesen: »Meine Sympathie gilt jenen, die unter ungewöhnlich
schweren Umständen und mit unzulänglichen Mitteln versucht haben, nach
dem Ersten Weltkrieg in Deutschland eine dezente, liberale, anständige Demokratie
zu errichten, und die dabei gescheitert sind. (Ebd., 2006, S. 327).Seine
Sympathie gilt also nicht wie diejenige Mommsens den Linkssozialisten der USPD
und nicht wie diejenige Winklers der Mehrheitssozialdemokratie, sondern offenbar
dem System der freiheitlichen repräsentativen Demokratie im Ganzen .... Schulze
scheint mithin die extremistischen Parteien, die eine nicht-liberale und nicht-dezente
Ordnung erstrebten, sowohl die KPD wie die NSDAP, auszuschließen, aber er
kann sie nicht als bloße Fremdkörper betrachten, denn auch sie gehören
zu diesem System; wie schon am Beispiel ihrer Vorläufer im 18. und 19. Jahrhundert
erkennbar wird. (Ebd., 2006, S. 327-328).Unter Berufung auf
die Memoiren Scheidemanns läßt Schulze die ganze Schutz- und Hilflosigkeit
der Regierung Ebert in den ersten Januartagen des Jahres 1919 anschaulich werden.
Die Plakate der Freikorps stellten den Bolschewismus im Bild eines finsteren Verbrechers
oder eines Rudels von Wölfen dar, und auch hier war eine wechselseitige Todfeindschaft
zu konstatieren. Der von den Kommunisten so stark hervorgehobene Generalstreik
zum Sturz Cunos wird zwar nicht erwähnt, aber wenig später heißt
es, in Sachsen seien »sowjetische Bürgerkriegsspezialisten« eingetroffen,
um die kommunistischen Kampfverbände, die »Proletarischen Hundertschaften«,
zu schulen«, und nicht nur für diese kurze Phase betrachtet Schulze
den »latenten Bürgerkrieg« als die »Grundkonstellation
Weimars«, Daß die NSDAP erst nach der KPD zu einem Faktor dieser Grundkonstellation
wurde, ist für Schulze evident, und er gibt dem Kapitel, das der Frühgeschichte
der Partei gewidmet ist, den Titel »Aufstieg einer Glaubensbewegung«.
Vom »Charisma« Hitlers ist allerdings kaum die Rede. Vielmehr wird
von dem frühen Hitler gesagt, er sei »eigentlich ein Sektengründer«
gewesen, der seinen Zuhörern ein »eklektizistisches Theorien-Gemisch«
angeboten habe, der sich jedoch auf die mächtigen Überzeugungen von
einer »deutschen Sendung« und dem Glauben »an die rassische
und kulturelle Überlegenheit der Deutschen« habe stützen können.
Erst in der Verknüpfung mit anderen Motiven wie etwa dem Antisemitismus entstand
jene außerordentliche »Durchschlagskraft« des Nationalsozialismus,
welcher auf der »anständigen und dezenten« Seite nur »die
matten, kaum geglaubten Programme und Grundsätze der konservativen, liberalen
und sozialdemokratischen Parteien« entgegenstanden. Es war daher nicht die
Rhetorik Hitlers, welche die Menschen »weit über das eigentliche Bürgertum
hinaus« mobilisierte, sondern weit eher das »Pathos« und der
»Glaube«, der die kommunistischen Massen auf den Straßen erfüllte,
denen gegenüber man ein eigenes Pathos, einen eigenen Glauben entwickeln
mußte, wenn man nicht kampflos kapitulieren wollte. Was unter dem Banner
des Marxismus möglich war, hatte ja eine faszinierte und entsetzte Nation
»am russischen Beispiel« studieren können, wo Lenins Programm
ausdrücklich verkündete und der Fortgang der Revolution hinreichend
bezeugte, daß es »um die Vernichtung des Bürgertums als Klasse«
ging. (Ebd., 2006, S. 328-329).Schulze schreibt Brüning
den ernsten Willen zu, zwar nicht unbedingt den Patlamentarismus, wohl aber den
Kern des Systems in dieser außerordentlichen Situation zu bewahren, und
sogar sein Wunsch, die Monarchie wieder einzuführen oder seine Kontaktaufnahme
mit Hitler werden nicht nachdrücklich getadelt, da beides dem Wunsch entsprang,
die Fehler, die das Wilhelminische Reich durch die schroffe Bekämpfung und
Ausgrenzung der Sozialisten gemacht hatte, nicht gegenüber den Nationalsozialisten
zu wiederholen. Aber was Brüning mit all seinem guten Willen den Menschen
nicht geben konnte, waren »Sinn und Hoffnung«. Sinn und Hoffnung,
so muß man ergänzend sagen, konnten KPD und NSDAP geben, selbst wenn
es sich um bloße Illusionen handelte. Und so ist es nicht ganz überzeugend,
wenn Schulze am Ende die These aufstellt, die verfassungswidrigen Rettungspläne,
die der längst entmachtete Ministerpräsident Preußens, Otto Braun,
Anfang Januar dem schon sehr geschwächten Reichskanzler von Schleicher vorlegte,
seien »die letzte Chance« gewesen, die die Republik besaß. So
kann die Frage nicht unzulässig sein, ob nicht das Buch von Hagen Schulze
letzten Endes auf eine Zustimmung zu der Alternative hinausläuft, die von
den beiden feindlichen Parteien immer wieder unterstrichen und plakatiert, aber
keineswegs nur von ihnen als real und unausweichlich angesehen wurde, nämlich
die Alternative »Sowjetstern oder Hakenkreuz«! Zweifellos müßte
dieses Ergebnis den Autor und wohl viele seiner Leser mit tiefem Pessimismus erfüllen,
wenn nicht doch Hilfen gegen einen ausweglosen Determinismus vorhanden wären,
und zwar über den schwachen »dritten Weg« von Otto Braun hinaus,
nämlich etwa ein früherer Verzicht der Alliierten auf weitere Reparationszahlungen,
eine französische Zustimmung zu dem deutsch-österreichischen Zollunionsplan
oder ein deutsches Eingehen auf die Europa-Konzeption von Briand. (Ebd.,
2006, S. 329-330).Wenn ich das Buch von Horst Möller »Die
Weimarer Republik« an das Ende dieser Übersicht stelle, so tue ich
das nicht deshalb, weil Möller sich im Kern der Sache, der inneren Zustimmung
zum System der pluralistischen Demokratie als einer Version des »Liberalen
Systems«, von Schulze unterschiede, indem er etwa größere
Sympathie für Carl Schmitt oder Ernst Jünger an den Tag legte, sondern
deshalb, weil in der erweiterten Neuauflage von 2004 des zuerst 1985 publizierten
Buches eine umfangreiche Bibliographie zu finden ist, die bis in die ersten Jahre
des 21. Jahrhunderts reicht. Überdies gehört Möller als Direktor
des Instituts für Zeitgeschichte in München und ordentlicher Professor
der Ludwig-Maximilian-Universität wie Schulze seiner Postition nach ganz
in die »Mitte der Mitte« der deutschen Geschichtswissenschaft.
(Ebd., 2006, S. 330-331).Der Sieg des Nationalsozialismus sei eine
genuine Revolution gewesen, freilich nicht eine Revolution nach dem idealtypischen
und normativen Modell des Marxismus, und sein Aufstieg habe trotz vieler reaktionärer
Vorstellungen »den Sieg des Neuen über das Alte« bedeutet, ja
er habe über weite Strecken eine »gesellschaftliche Modernisierung
sowie einen Generationswandel großen Ausmaßes« dargestellt.
(Vgl. Horst Möller, Die Weimarer Republik, 1985, S. 28, 215, 277).
(Ebd., 2006, S. 333).Daß es sich dabei nicht um eine Bejahung
oder gar eine positive Würdigung des Nationalsozialismus handelt, braucht
nicht unterstrichen zu werden. Es ist ein Fortschritt des Denkens, wenn der Nationalsozialismus
in einen anderen Rahmen gestellt wird als den von vielen Historikern bevorzugten
der »Reaktion« und des »Reaktionären« - ein Fortschritt,
zu dessen Urhebern Horst Möller gehört. Aber wenn man sich an die Kennzeichnung
Friedrich Eberts als der »Symbolfigur des »Neuen« erinnert,
dann muß an Horst Möller die folgende Frage gerichtet werden: Ist eine
Spaltung innerhalb des »Neuen« zu verzeichnen oder sogar eine Dreiteilung
oder Mehrfachteilung? Denn offenbar gehörten doch auch Bolschewismus und
»Amerikanismus« dazu. Sind die verschiedenen Erscheinungsformen des
»Neuen« vielleicht nicht zuletzt durch ihr unterschiedliches Verhältnis
zum »Alten« zu kennzeichnen? Aber letzten Endes richtet sich diese
Frage an die ganze Literatur über die Weimarer Republik, und eine vorläufige
Antwort wäre in der Annahme zu sehen, »das Ringen um die Geschichte
der Weimarer Republik« müsse zu einem weit umfassenderen Ringen in
Beziehung gesetzt werden. (Ebd., 2006, S. 333).
Schlußbetrachtung
Leistungen und Grundcharakter der Weimarer Republik
Die
Stärken und Leistungen sind vornehmlich im wirtschaftlichen Bereich und in
der damit eng zusammenhängenden Sozialpolitik zu lokalisieren. Vorgreifend
läßt sich sagen, daß die Weimarer Republik hinsichtlich der Sozialpolitik
die führende Rolle in der ganzen Welt spielte ([**|**]
- wie übrigens zuvor auch schon das 2. Kaiserreich [**])
und daß ihre Erfolge In diesem Bereich zugleich einer der Gründe für
ihren Untergang darstellten, so daß sich gerade hier eine saubere Trennung
zwischen »Stärke« und »Schwäche« nicht vornehmen
läßt. .... Ohne die Voraussetzung einer positiven wirtschaftlichen
Entwicklung kann es offenbar keine erfolgreiche Sozialpolitik geben, und die erste
Frage muß den Prozessen der Produktion und der Produktivität oder der
»Industrialisierung« gelten. .... Aber es läßt sich ebenso
wenig in Abrede stellen, daß die führenden Schichten ein jeweils sehr
verschiedenes Verhältnis zu diesem Fundamentalvorgang haben können und
daß er Anlaß zu ganz verschiedenartigen politischen Zielsetzungen
geben kann .... (Ebd., 2006, S. 335-336).Hinsichtlich der
Industrie und des Volksvermögens trat die Weimarer Republik ein fürchterliches
Erbe an. Die Finanzierung des Krieges war nicht durch Steuern, sondern im wesentlichen
durch Anleihen erfolgt, durch Anleihen bei der eigenen Bevölkerung, deren
Summe sich auf mehr als 50 Milliarden Mark belief, d. h. die Realität der«Verpulverung«
der Werte wurde verdeckt, die Inflation wurde auf den Weg gebracht, und das Volksvermögen
wurde um mindestens ein Drittel vermindert. Zusätzlich erfolgten schwere
Einbußen durch den Versailler Vertrag (Diktat!):
Der Verlust von Elsaß-Lothringen und von Ostoberschlesien war besonders
gravierend, denn dadurch gingen 75 Prozent der Eisenerze und 25 Prozent der Kohlenförderung
verloren. Alle Handelsschiffe mit mehr als 1600 Bruttoregistertonnen waren den
Alliierten zu übergeben, das gesamte deutsche Privatvermögen im Ausland
wurde konfisziert, und eine große Menge an Eisenbahnmaterial mußte
schon bald nach dem Waffenstillstand abgeliefert werden. (Dazu
noch die Ausbeutungen der größten deutschen Kohlenreviere und die Internationalisierung
der größten deutsche Flüsse sowie viele weitere Ausbeutungen,
die hier aus Platzgründen gar nicht alle aufgezählt werden können;
Anm HB). Die nach dem Londoner Zahlungsplan zu bezahlende Reparationssumme
von 132 Milliarden Goldmark war eine nahezu untragbare Last, und einige Experten
erkannten bald, ohne viel Gehör zu finden, daß daraus schwere weltwirtschaftliche
Gleichgewichtsstörungen resultieren mußten, daß die Nachteile
also nicht auf Deutschland beschränkt sein würden. (Ebd., 2006,
S. 336).Es gab aber auch positive Tatbestände: Der verbleibende
Produktionsapparat war unzerstört, und der Warenhunger sowie die Reparationserfordernisse
brachten ihn gleich auf hohe Touren. Die Inflation lud die Lasten des Krieges
einseitig auf die Schultern des Mittelstandes (ist das wirklich
»positiv«? HB), hielt die Löhne der Arbeiter vergleichsweise
niedrig (ist das wirklich »positiv«? HB)
und förderte die industrielle Konzentration, während die Erzberger'sche
Finanzreform die Kraft des Reiches stärkte. Das Resultat war der paradoxe
Sachverhalt, daß die ersten Nachkriegsjahre die einzige Periode der Weimarer
Republik waren, in der »Vollbeschäftigung« herrschte, so daß
das besiegte Land eine Wirtschaftsblüte zu erleben schien, als in den Ländern
der Alliierten massenhafte Arbeitslosigkeit zu konstatieren war. Der schwerste
Rückschlag war politisch bedingt, hatte aber auch mit dieser Schein-Wirtschaftsblüte
zu tun: die Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen und Belgier im Jahre
1923. (Ebd., 2006, S. 336-337).Mit der Stabilisierung der
Währung und dem Inkrafttreten des Dawes-Plans setzte ein außerordentlicher
Aufschwung ein. Bis 1932 stiegen die Spareinlagen von nahezu Null auf über
12 Milliarden, und damit waren zwei Drittel des überaus günstigen Vorkriegsstandes
wieder erreicht. Die Erneuerung und Rationalisierung des Produktionsapparates
erfolgte weitgehend auf dem Wege der Selbstfinanzierung, wenn auch ausländischen
Krediten ein gewisser Anteil zuzusprechen war. .... Die chemische, die elektrotechnische
und die optische Industrie gewannen ihre führende Stellung in der Welt (wie
zur Zeit des 2. Kaiserreiches [**])
zurück, die Ausfuhr übertraf 1929 den Stand von 1913 um 34 Prozent.
Die deutsche Handelsflotte befand sich nach starker Staatshilfe 1930 schon beinahe
wieder auf dem Stande von 1914, und sie war nun viel moderner. Besonders im Steinkohlenbergbau
war die Vervollkommnung der Technik augenfällig. Bereits 1926 war die Verwendung
von Bohrhämmern, Drehbohrmaschinen, Abbauhämmern, Schrämmaschinen
u.s.w. auf das vier- bis achtfache des Vorkriegsstandes gestiegen; die Arbeitsleistung
pro Mann, d.h. die Produktivität, hatte sich 1930 auf 150 Prozent der Vorkriegsleistung
vergrößert, während die Steigerung in England nur 3,8 Prozent
und in Belgien 10 Prozent betrug; in Frankreich war sogar ein Rückgang um
10 Prozent zu verzeichnen (dies
ist auch deshalb besonders bemerkenswert, weil diese Länder neben den USA
doch angeblich zu den »Siegerstaaten« gehörten und Deutschland
neben allen Reparationen, Demonatagen und sonstigen harten Verpflichtungen deren
Schulden an die USA zurückzahlte). 1926 entstand die »IG Farbenindustrie«
mit dem damals in Europa kaum vorstellbaren Kapital von 1100 Millionen Reichsmark;
die »Vereinigen Stahlwerke« faßten seit 1926 über 40 Prozent
der deutschen Erzeugung von Eisen und Stahl und 22 Prozent der Steinkohlenförderung
zusammen. Eine ähnlich starke Position nahmen Firmen wie Siemens, Hapag-Lloyd,
AEG u.a. ein. Die Zahl der Großbetriebe (mit mehr als 1000 Beschäftigten)
verdoppelte sich von 1907 bis 1925. Überall setzten sich die Prozesse der
Konzentration und der Kartellbildung, die vor dem Krieg begonnen hatten, mit erheblicher
Beschleunigung fort. Der Produktionsindex überschritt schon 1927 den Vorkriegsstand
und lag 1929 um fast ein Fünftelüber dem Stand von 1913; die Ausfuhr
an Fertigwaren war 1928 die weitaus größte der Welt. Im Ganzen gesehen
handelte es sich um einen fast unglaublichen Wiederaufstieg. (Ebd., 2006,
S. 337-338).So viel ist gewiß, daß die Weimarer Republik
diesen staunenswerten industriellen Aufschwung zumindest nicht behindert hat.
Im Gegenteil spricht alles dafür, daß dieser ohne die Verständigungs-
und Erfüllungsbereitschaft, welche die Republik verkörperte, sich nicht
hätte vollziehen können. Die These Hitlers von der »Herabwirtschaftung
einer gesunden Firma« (»Die Tatsache nun, daß es gelingt, in
13 Jahren ein gesundes Unternehmen vollständig zahlungsunfähig zu machen«
sei keine Garantie, daß im 14. Jahr der Wiederaufstieg beginne [vgl. Memorandum
vom 15.01.1932, in: UuF, Band VIII, S. 383]) ist nicht nur unhaltbar, sondern
im Grunde unverständlich. Daß sie trotzdem Glauben finden konnte, hatte
seinen Grund neben politisch-geistesgeschichtlichen Ursachen ausschließlich
in der Weltwirtschaftskrise, für welche die Weimarer Republik nicht verantwortlich
war und die vermutlich auch in dem Gesamtkomplex der Versailler Regelungen nur
zu einem Teil impliziert war. So ging die industrielle Produktion von 1929 bis
1933 um ein volles Drittel zurück, aber das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung
war noch 1931 kaum 15 Prozent geringer als 1913 - die weltweite Krise der Landwirtschaft
mit ihrem Preisverfall hatte zu dieser Differenz wesentlich beigetragen. Zugleich
hatte sich ein erstaunlicher Einkommensausgleich innerhalb des Volkes vollzogen:
1913 hatten 14000 Personen ein jährliches Einkommen von mehr als 100000 Mark
mit einem Gesamtbetrag von 3,9 Milliarden, 1928 betrug die entsprechende Summe
nur noch 5000 mit rund einer Milliarde Gesamteinkommen, obwohl das Gesamteinkommen
des Volkes von 69 auf 75 Milliarden gestiegen war. (Ich verwende zum guten Teil
die Zahlenangaben von Ferdinand Friedenburg, Die Weimarer Republik, 1945,
S. 90, 137, 153, 184, 203, 262). (Ebd., 2006, S. 338).Das
war nun offenbar keine bloß automatische Entwicklung, sondern zum Teil das
Resultat der »Sozialpolitik« (**|**).
Auch hier baute die Weimarer Republik auf den Grundlagen des Kaiserreichs auf,
denn die Bismarck'sche Sozialgesetzgebung war in der Welt vorbildlich gewesen
(weltweit führend [**]),
und eine Neigung zu Staatseingriffen in die Wirtschaft hatte sich früh gezeigt.
Aber die Sozialpolitik des Kaiserreiches war primär ein Verteidigungsmittel
des adlig-bürgerlichen Staates im Kampf gegen die Sozialdemokratie; erst
in der Weimarer Republik wurde sie um ihrer selbst willen und weitgehend im Einvernehmen
mit den Gewerkschaften betrieben. Die Kranken-, Unfall- und Invaliditätsversicherung
wurden quantitativ sehr stark ausgeweitet und verbessert. Die Krönung war
das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927,
dessen Prinzip -keine Bedürftigkeitsprüfung nach dem Muster der überlieferten
Armenfürsorge - noch wichtiger war als die Praxis, und dieses Gesetz wurde
bekanntlich eine entscheidende Mitursache für den Untergang der Weimarer
Republik. (Ebd., 2006, S. 338-339).Im Ganzen gesehen wurde
nämlich die Position der Lohnarbeiter und Unselbstständigen in einem
Maße verbessert, das auch für unbeteiligte Beobachter bedenklich sein
mußte, da es die Kapitalbildung und die Investitionstätigkeit gefährdete.
Es war eine charakteristische Tatsache, daß 1928 die Arbeitnehmer 62 Prozent
des Volkseinkommens erhielten und 1932 sogar 64 Prozent, 1938 aber nur noch 57
Prozent bei freilich erheblich gesteigertem Gesamtvolumen. Die Position der Gewerkschaften
war stark, und Tarifverträge wurden zur Regel. Die Löhne wurden daher
immer stärker politisch bestimmt, nicht zuletzt durch die Einrichtung der
staatlichen Schlichtungsstellen. Hervorragende Leistungen wurden im Wohnungsbau
erbracht, weitgehend mit staatlicher Hilfe: von 1919 bis 1933 wurden mehr als
zweieinhalb Millionen Wohnungen geschaffen, weitaus mehr als unter vergleichbaren
Umständen irgendwo sonst in der Welt. In merkwürdigem Kontrast zu den
nicht seltenen Klagen über »Volkstod« und »Dekadenz«
standen die realen Fortschritte im Kampf um die Volksgesundheit. (Dieses
»Paradoxon« ist aber - ähnlich dem »demographisch-ökonomischen
Paradoxon« [**|**|**|**|**]
- für eine »zivilisierte Gesellschaft« symptomatisch;
HB). Die Säuglings- und die Tuberkulosesterblichkeit wurden weit
heruntergedrückt; der Verbrauch von Bier und Branntwein ging um die Hälfte,
ja stellenweise sogar um drei Viertel zurück. Für den großen Aufschwung
des Sports, des Jugendwanderns u.s.w. waren nicht zuletzt die Anstrengungen der
Kommunen verantwortlich. Trotz starker politischer Widerstände entstanden
mindestens tausend neue Siedlerdörfer; Großgtundbesitz von dreiviertel
Million Hektar wurde in Siedlerstellen umgewandelt. In der Zeit der Weimarer Republik
wurden weitaus mehr Moorflächen kultiviert als z.B. in Italien von Mussolini,
und zwar mit erheblich geringerem Propagagandaaufwand. Es läßt sich
schwerlich bezweifeln, daß auch die sozialpolitischen Erfolge des Nationalsozialismus
(»Volksgemeinschaft«, »Kraft durch Freude«, »Schönheit
der Arbeit«, Verbesserungen des »Arbeiterschutzes«) kaum mehr
als spektakuläre Einkleidungen bzw. Fortsetzungen desjenigen waren, was an
Substanz in der Weimarer Republik erarbeitet worden war. Das Tragische bestand
darin, daß gerade diese substanziellen Änderungen der Weimarer Republik
mächtige Feinde schufen und dennoch einige der unabdingbaren Voraussetzungen
dafür waren, daß der Nationalsozialismus zu siegen und sich zu behaupten
vermochte. (Ebd., 2006, S. 339-340).Dieser Sachverhalt war
in der »Bildungspolitik« besonders evident. Die entscheidenden Schritte
auf eine »Bildungseinheit des Volkes« zu, d.h. zum Abbau der auf dem
Besitz von Vermögen beruhenden »Bildungsprivilegien« und zur
Einschränkung des Vorrangs der klassischen humanistischen Bildung wurden
von der Weimarer Republik getan, die aber gleichzeitig einen bemerkenswerten Respekt
vor dieser Tradition an den Tag legte. Die zentrale und charakteristische Figur
in der Bildungspolitik war der Professor für Orientalistik Carl Heinrich
Becker, von 1919 bis 1930 Staatssekretär bzw. Minister (1921,1925-1930) im
preußischen Kultusministerium. Als großbürgerlicher Geistesaristokrat,
der von sich sagte »Ich gehöre zur Partei der Bildung«, war er
ein überzeugter Verfechter der deutschen Universitätsideale und gleichzeitig
ein bedeutender Reformer. Als sein Ziel bezeichnete er »die Mitarbeit der
breiten Masse am geistigen Leben der Nation«. Als einen Bestandteil dieser
Zielsetzung betrachtete er die Überwindung der hierarchischen Klassenordnung
an den Universitäten, die Gleichstellung der Technischen Hochschulen, die
Mitarbeit der Nichtordinarien in den Fakultäten, die Beschränkung des
Kolleggeldsystems. Die neuen kommunalen Universitäten in Frankfurt und in
Köln entsprangen dem Geist der Weimarer Republik. (Ebd., 2006, S. 340).Im
Bereich der Volksschule erfolgte die Beseitigung der geistlichen Schulaufsicht,
die Sicherung der Gewissensfreiheit für Lehrer und Schüler, Schritte
zur Einführung einer kollegialen Schulleitung (neben den Rektoren standen
nun »Konrektoren«), Einrichtungen von Bezirks- und Kreislehrerräten
alles wichtige Schritte einer sachgerechten »Demokratisierung«. Im
Gebiet der Höheren Schule wurde neben den Gymnasien die »Deutsche Oberschule«
als neue Form institutionalisiert; im Zentrum des Unterrichts stand ein deutschkundlicher
Kern anstelle der alten Sprachen, die ästhetische und die Ganzheitserziehung
erhielt einen höheren Rang, die »Arbeitsschule« wurde gefördert.
Von besonderer Wichtigkeit war, daß für das Studium der Lehrer »Pädagogische
Hochschulen« gegründet wurden, die an die Stelle der alten »Präparanden«ausbildung
treten sollten und eine beträchtliche Akademisierung dieses Studienganges
zur Folge hatten. Bis 1930 wurden 14 Akademien dieser Art eröffnet. Auch
die Volkshochschulbewegung wurde gefördert; an der Heimvolkshochschule in
Jena wirkte Adolf Reichwein, der später der persönliche Referent Beckers
und noch später ein wichtiger Mitwirkender im Widerstand gegen Hitler wurde.
(Ebd., 2006, S. 340-341).Von seiten der Rechten war Becker heftigen
Angriffen ausgesetzt, die nicht so sehr auf die bildungspolitischen Reformen bezogen
waren, sondern auf Beckers scharfe Ablehnung der Einführung des »Arierprinzips«
in den studentischen Organisationen, wo der »Nationalsozialistische Deutsche
Studentenbund« sehr stark war. Daran scheiterte die geplante Einführung
der Selbstverwaltung für die Studentenschaft. Schließlich mußte
Becker infolge der sozialdemokratischen Parteipolitik in Preußen zurücktreten,
und mit ihm verschwand eine symbolische Gestalt der Weimarer Republik von der
politischen Bühne. (Ebd., 2006, S. 341).Symbolisch war
auch das Urteil, das er nach seiner letzten Weltreise fällte: »Welch
ein Glück, daß Deutschland keine Kolonien mehr hat.« Gerade hier
war die Rechte völlig anderer Meinung, und den Sieg trug eine neue, ihrerseits
demokratisierte, neuartige Rechte davon, die das Kolonialprinzip im überlieferten
Sinne aufgab, es aber stattdessen auf eine bisher für unmöglich gehaltene
Weise verschärfte, indem sie es auf Europa ausdehnte. (Ebd., 2006,
S. 341).Die Rechte ... sah ... zum weitaus größeren
Teil in den Stärken der Weimarer Republik nur Schwächen und schwächte
dadurch, ohne es zu wollen, auch die eigene Position gegenüber einem »Dritten
Reich«, das dem Bismarckreich ebenso unähnlich war wie der Weimarer
Republik. (Ebd., 2006, S. 341).In einem letzten Kapitel wird
die Frage zu stellen sein, weshalb die Weimarer Republik - und mit ihr das »Liberale
System« in Gestalt der »Parteiendemokratie« - sich nicht
gegen ein Phänomen zu behaupten vermochte, das auf ihrem eigenen Boden entstanden
und emporgewachsen war. Daraus ergibt sich vielleicht eine Antwort auf die weiter
reichende Frage, was dieser Untergang im Rahmen der Weltgeschichte bedeutete.
(Ebd., 2006, S. 341-342).
Die Hauptschwäche der Weimarer Republik
Es sollte
zulässig sein, ein Gedankenexperiment anzustellen und ein Bild von der Entwicklung
zu umreißen, wie sie hätte sein können, wenn die Weimarer Republik
sich relativ autonom hätte entfalten können, etwa in dem Sinne, wie
sich das Wilhelminische Kaiserreich trotz der Fülle seiner äußeren
Beziehungen relativ autonom entfaltet hatte. Als Hauptgrund ihres Unterganges
gilt in vielen Darstellungen, von Arthur Rosenbergs »Geschichte der Weimarer
Republik« an, die in der Tat sehr bemerkenswerte Tatsache, daß in
ihrer Zeit die deutsche Nation in vier politische Blöcke zerfallen war, die
jeweils ihre eigenen Fahnen sowie Weltanschauungen besaßen und nicht zu
einer verläßlichen Zusammenarbeit zu bringen waren: das Schwarz-Rot-Gold
der Republikaner, das Schwarz-Weiß-Rot der Monarchisten, das Rot der Kommunisten
und Linkssozialisten, das Hakenkreuz der Nationalsozialisten. Als der elementare
Fehler wird von linksgerichteten Autoren wie Rosenberg das Versäumnis angesehen,
die eigene Fahne ... zur einzigen zu machen. Mit dem Überleben der Bürokratie,
des Großgrundbesitzes, des alten Heeres und des Kapitalismus sei das Schicksal
der Republik bereits besiegelt und ihr Untergang notwendig gewesen. Dagegen ist
die Rechte während der Weimarer Zeit nie müde geworden, die Republik
für das Resultat eines Handstreichs oder eines Dolchstoßes der Linken
zu erklären, so daß sie an ihrer inneren Schwäche und antinationalen
Ausrichtung habe zugrunde gehen müssen. (Ebd., 2006, S. 342).Aber
schon die Verwendung des Begriffs der »historischen Notwendigkeit«
führt in die Irre, da er die Bedeutung des Zufalls und des menschlichen Handelns
aus dem Spiel läßt. Die rückschauende Betrachtung hat generell
die Neigung, alles für notwendig zu erklären; der Blick in die Zukunft
dagegen erfaßt nur einige allgemeine Tendenzen, geht aber regelmäßig
fehl, wenn er konkrete Aussagen zu machen versucht. Der Untergang der Weimarer
Republik war in Wahrheit so wenig von zwingender Notwendigkeit wie ihre Entstehung
in der konkreten Form, die den Nachlebenden bekannt ist. Hätten Kaiser und
Kronprinz sich rechtzeitig zur Abdankung entschlossen und wäre die Marineleitung
besonnener gewesen, würde möglicherweise noch heute ein Hohenzollernmonarch
in Berlin residieren, ganz wie das Haus Windsor in England »herrscht«,
wenngleich ohne nennenswerte Machtbefugnisse. (Ebd., 2006, S. 342-343).Wäre
der General von Schleicher acht Wochen früher zum Kampf entschlossen gewesen,
so hätte Adolf Hitler nach allem menschlichen Ermessen kein »Drittes
Reich« begründet, mindestens nicht in der Gestalt, in der es heute
bekannt ist. Wohl aber gibt es eine relative und strukturelle »historische
Notwendigkeit«. (Ebd., 2006, S. 343).Das liberaldemokratische
Parteiensystem ist ja nichts anderes als das Resultat einer Kultur, die durch
Nicht-Identität von Staat und Kirche, durch das Nebeneinander verschiedener
Konfessionen und Staaten, durch liberale Säkularisierung und sozialistische
Tendenzen gekennzeichnet ist und in der es totale Umbrüche gerade deshalb
nicht gegeben hat, weil sie in sich selbst einen Umbruch von unvergleichlicher
Art darstellt. (Die Kennzeichnung einer Sache oder eines Vorgangs als »unvergleichlich«
oder »singulär« darf kein Vergleichsverbot in sich schließen,
denn dann wäre sei ein »Absolutismus« ähnlich demjenigen
Lenins oder Hitlers). (Ebd., 2006, S. 343).Es ist eine bestimmte
Erscheinungsform des »Liberalen
Systems«, das bis in das Mittelalter zurückreicht und ... europäisch
ist. Auch in Frankreich gab es nach 1870 verschiedene Flaggen nebeneinander: das
Lilienbanner der Legitimisten, die Trikolore der »bürgerlichen Republik«
und die rote Fahne der sozialistischen Revolution. In Italien war es seit der
Einigung von 1860 im Neben- und Gegeneinander von liberalem Staat und »Schwarzen«
sowie »Roten« nicht anders, und 1919 standen sich in Paris und Rom
die großen Blöcke kaum weniger feindselig - wenngleich in anderen Proportionen
und unter anderen konkreten Voraussetzungen - gegenüber als in Berlin: Konservative,
Liberale, Demokraten, Sozialisten. Wenn nirgendwo außer in Rußland
die eine Fahne endgültig und auf Dauer über die anderen triumphieren
konnte, so lag das vermutlich auch daran, daß das Schichtenbild und die
soziologischen Zuordnungen unzureichende Metaphern darstellen. Es war eben nicht
so, daß in Frankreich eine fest umrissene adlig-kirchliche Aristokratie
durch »den« liberalen Bürgerstand gestürzt worden wäre,
dem die sozialistische Arbeiterschaft in der Herrschaft bzw. der schließlichen
Herrschaftslosigkeit hätte folgen müssen. (Ebd., 2006, S. 343).Durch
nichts ist Adolf Hitler so sehr charakterisiert wie durch die Tatsache, daß
er den Bolschewismus ganz ernst nahm: dessen Anspruch, die Welt einer totalen
Veränderung zu unterziehen, und den auf dieses Ziel hin gerichteten Vernichtungswillen
gegenüber ganzen Klassen und in erster Linie dem Bürgertum. Hitler ...
spricht ... von Lenin, dem » Weltpapst«, dem »Massenmörder«,
der »gigantischen Erscheinung« (siehe oben, S. 200f. [**],
vgl. »Der große Weltpalast Lenin«, in: Adolf Hitler, Reden,
Schriften, Anordnungen, Hrsg.: Institut für Zeitgeschichte, S. 191),
dessen »Katechismus« ein anderer Katechismus entgegengeserzt werden
müsse, wenn der Kampf nicht von vornherein verloren sein solle. (Vgl. ebd.,
S. 109). .... So zeichnete sich gerade in der Weimarer Republik ein wesentlicher
Teil ... eines späteren Massenmordes, der »Endlösung der Judenfrage«,
... dadurch ab, daß die Urheber - nicht nur Hitler - sich einem früheren
Massenmord gigantischen Ausmaßes konfrontiert sahen, nämlich der Vernichtung
jener Klasse, die ein so wesentlicher, in Rußland freilich erst schwach
entwickelter (in Rußland wurden z.B. Bauern, die nur
eine Kuh besaßen, bereits zum Bürgertum, zur »Bourgeosie«,
zum »Klassenfeind« gezählt und darum ermordert) Bestandteil
des »Liberalen
Systems« war, zu der allerdings auch die vielen Hunderttausende von
bäuerlichen »Kleinbürgern«, die »Kulaken«, gezählt
wurden (also diejenigen, die eine Kuh besaßen und
darum zum Bürgertum, zur »Bourgeosie«, zum »Klassenfeind«
gehörten und darum ermordet wurden). Insofern empfand sich Hitler
zunächst als »europäischer Bürger«, bis ihm die höchst
vielfältige und komplexe Natur des Bürgertums als der »unsolidarischen
Klasse« deutlich wurde, so daß er schon bald nur noch Verachtung für
dessen angebliche Feigheit empfand. Aber den folgenreichsten aller Schritte tat
er, als er für seine Partei einen »Antibolschewismus von bolschewistischer
Entschlossenheit« postulierte und damit den Nationalsozialismus sowohl als
Todfeind wie als Nachahmung eines älteren Phänomens auffaßte.
Nicht zuletzt dadurch unterschieden sich er und seine Partei von dem »Partito
Nazionale Fascista« Mussolinis, den er mit Recht als verwandt betrachtete
und dessen Triumph irn Jahre 1922 ihn mit neuer Zuversicht erfüllte. Wenn
er sich aber auf die gleiche Stufe stellen wollte wie Lenin und dessen Partei,
dann mußte er auch gewillt sein, ein Feindbild zu entwickeln, auf das er
die Lenin'sche Maxime des »Wer wen« anwenden konnte, und als dieserTodfeind
konnte nur eine einzige Menschengruppe namhaft gemacht werden, nämlich »die
Juden«, die ja bei den Frühsozialisten Fourier und Proudhon weitgehend
die Stelle der ... »Kapitalisten« einnehmen. (Ebd., 2006, S.
347-348).Vor den befürchteten Konsequenzen dieser Interpretation
(man fürchtet ..., daß Hitler die Qualität als Originalverbrecher
verlieren könnte, wenn er primär im Zusammenhang einer großen
Reaktion gesehen wird) schützt man sich in der Regel durch die Behauptung,
es gebe keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Hitlers Antibolschewismus und
seinem »Antisemitismus« (richtig muß es
heißen: »Antijudaismus«;
HB), obwohl doch jene Drohung des Generals Alexejew die in der Sache
gewiß verfehlte Verknüpfung zwischen »Bürgern« und
»Juden« einige Zeit vor Hitler und dem Nationalsozialismus mit großer
Klarheit herausstellt. Wenn man Hitler einen »Antisemiten« (richtig
muß es heißen: »Antijudaisten«;
HB) und einen »fanatischen Judenfeind« nennt, glaubt man
einen letzten Grund, ein »fundamentum inconcussum«, gefunden zu haben.
Aber mit dieser isolierenden Reduzierung unterschätzt man sowohl Hitler als
auch die Juden bei weitem. Hitler war nicht ein bloßer Fanatiker, sondern
er ist wie Lenin ein »Absolutist« zu nennen, d.h. er setzt etwas absolut,
das tatsächlich eine fundamentale Bedeutung hat und jenem Fanatismus keinesfalls
gleichgesetzt werden darf, mit dem manche Menschen Anhänger des Glaubens
an »Außerirdische« oder Feinde eines Nachbarvolkes sind. Hitler
sah in »den Juden« nicht in erster Linie ein kleines und landloses
Volk oder gar eine Konfession, und er traf deshalb nicht einmal die notwendigsten
Unterscheidungen, sondern sie waren für ihn die Urheber einer umfassenden
Welttendenz und also nicht bloß Mitwirkende innerhalb dieses Vorgangs. Als
Hinweis mag ein Satz aus »Mein Kampf« angeführt werden, der nicht
zu Unrecht als »irrsinnig« gilt, wenn er gedankenlos und für
sich zitiert wird: »Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses
über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totenkranz der
Menschheit sein, und dann wird dieser Planet wie einst vor Jahrmillionen menschenleer
durch den Äther ziehen. .... Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe
ich für das Werk des Herrn.« (Adolf Hitler, Mein Kampf, 1925/'26,
S. 69f. [**]).
(Ebd., 2006, S. 348).Offensichtlich ist hier nichts anderes gemeint,
als was heute unter »Globalisierung« verstanden wird, und das »Werk
des Herrn«, von dem Hitler spricht, ist die Gesamtheit der kriegerischen
und souveränen Gemeinschaften, deren Mit- und Gegeneinander bis zur Gegenwart
den Inhalt der Weltgeschichte bildete. Und Hitler hatte sogar mit der unzulässigen
Einengung auf die Juden etwas Richtiges im Blick, denn seit ihrem Beginn haben
sich die Israeliten und die Juden als das »Volk Gottes« und damit
als »Volk der Menschheit« gesehen, das in seinen messianischen Hoffnungen
auf die künftige Einheit der Menschheit ausgerichtet war. Wenn man glaubt,
daß diese Einheit der friedlichen Menschheit tatsächlich das erstrebenswerte
Ziel der Geschichte ist, dann kann man vor der Aussage nicht zurückschrecken,
daß dem Volk Israel selten eine solche Hochschätzung widerfahren ist
wie in diesem Satz seines Todfeindes. Allerdings wird die Globalisierung nicht
immer so positiv gesehen, wie es etwa in Max Schelers Begriff des »Weltalters
des Ausgleichs« geschieht, sondern oft genug wird sie als Ursache einer
universellen Nivellierung betrachtet, die Jaspers »mit Grauen« wahrnahm.
Wenn man den Begriff mit Hilfe des Adjektivs »kommerziell« differenziert,
wird gerade von seiten der Linken das Urteil möglich, daß diese »kommerzielle
Globalisierung« mit ihrer Entfesselung eines egoistischen Individualismus
über kurz oder lang den Untergang der Menschheit nach sich ziehen werde.
(Ebd., 2006, S. 351).Doch so gewiß es sich bei der Anklage
gegen »die Juden« um eine unheilvolle Konkretisierung handelt, die
derjenigen gegen »die Kapitalisten« entspricht, so gewiß hätte
Hitler nicht einfach »die Raucher« oder »die Quäker«
als symbolische Todfeinde an die Stelle der Juden setzen können. Juden oder
Aktivisten jüdischer Herkunft (nicht »die Juden«) waren nach
unzweideutigen Aussagen Lenins tatsächlich die stärkste Kraft innerhalb
der bolschewistischen Revolution gewesen, und Goebbels wiederholte nur, was für
die meisten Frühsozialisten und noch für den jungen Marx selbstverständlich
gewesen war, nämlich daß die Juden »die Inkarnation des Kapitalismus«
seien. Aber gerade daß aus partiell richtigen oder mindestens ernst zu nehmenden
Analysen und Einschätzungen das Schreckliche eher hervorgehen kann als aus
vulgären Trivialitäten oder Torheiten, wird am Beispiel Hitlers ebenso
deutlich wie an demjenigen Lenins. Und ganz wie der Historiker, dem es um Einsicht
und Verstehen, nicht aber um Erfolge in politischen Auseinandersetzungen geht,
von Grauen gepackt sein darf und muß, wenn Lenin - nicht als Parteiredner,
sondern als leitender Staatsmann - von Millionen Menschen als »Schädlingen«
und »Parasiten« spricht, die vertilgt werden müßten, so
darf er gerade dann, wenn er nicht im Dienst politischer Interessen Hitler zum
bloßen »Bösewicht« und »Mörder« verharmlost,
von Grauen erfüllt sein, wenn er in einer wenig bekannten Rede Hitlers aus
dem Jahre 1925 den Satz liest: Die Erkenntnis der Hintergründe der Revolution
würde »die Ursache eines Strafgerichts sein, wie die Erde bisher noch
keines sah.« (Ebd., 2006, S. 348-349).Nur wenn man
auch Hitler ernst nimmt, d.h. in ihm einen von absolutistischen Überzeugungen
höchst relevanter, obgleich unheilvoller Art erfüllten und mit einem
machtvollen Charisma versehenen Menschen sieht, darf man in einer recht zu verstehenden
Kurzfassung die Aussage machen: Die Weimarer Republik ging zugrunde, weil sie
als ungefestigte Demokratie zwischen Lenin und Hitler zerrieben wurde. (Wenn man
den Sachverhalt »kollektivistisch« ausdrücken will, mag man sagen,
die Weimarer Republik sei von der Übergröße der roten Fahne und
des Hakenkreuzbanners erdrückt worden.). Aber dies ist kein negatives Urteil,
denn nie zuvor hatte sich eine Nation in einer solchen Situation befunden, auch
nicht Rußland und auch nicht Italien, von Frankreich ganz zu schweigen.
Nur so viel kann in stärkster Verkürzung und aus dem Blickwinkel der
Gegenwart heraus gesagt werden: Heute geht das am weitesten verbreitete Schlußurteil
über die Weimarer Republik dahin, in ihr habe sich der Nationalismus im Rahmen
der »Ersten Welt« zum letzten Mal vor seinem Verschwinden gegen den
Internationalismus durchgesetzt. Dieses Urteil ist nicht falsch, aber allzu vereinfachend.
Hitlers Nationalismus war kein genuiner Nationalismus, sondern eine potentiell
internationale Rassenkonzeption, und Lenins Internationalismus nahm ausgeprägtermaßen
gegen die Welttendenz Stellung, die heute »Globalisierung« genannt
wird. Auch in der Gegenwart gibt es »Globalisierungsgegner«, und in
gewisser Beziehung befinden sie sich in der Spur Hitlers. Die Islamisten sind
ihrem Selbstverständnis nach die unzweideutigsten Universalisten, aber sie
sind Todfeinde der (us-)»amerikanischen Globalisierung«.
Die Bewohner des Staates Israel sind seit 1948 - nach dem Urteil nicht weniger
Juden in schroffem Gegensatz zum »jüdischen Universalismus« -
die entschiedensten Verteidiger einer partikularen Realität. Auch in der
Gegenwart zeigt sich die Weltgeschichte in einer Vielzahl von Paradoxien und Widersprüchen.
Ein Kampf wie derjenige zwischen Lenin und Hitler, an dem die Weimarer Republik
zugrunde ging, wird sich nach allem menschlichen Ermessen nie wiederholen, aber
in der Rolle als Vorkämpfer welthistorischer Tendenzen sind Lenin und Hitler
auch in der Gegenwart noch lebendig und ist die Weimarer Republik eine fortexistierende
Möglichkeit, wenngleich gewiß nicht in Deutschland oder in anderen
Teilen der westlichen Welt. (Ebd., 2006, S. 350).
Bibliographischer Essay über: Politische Broschürenliteratur
der Weimarer Republik
Das Wort
»Broschüre« kann nur eine vorsichtige und unscharfe Einengung
mit sich führen. Oswald Spenglers
»Preußentum und Sozialismus« ist der Form nach eine broschierte
Schrift von nur etwas mehr als hundert Seiten und dennoch ein bedeutendes Werk
politischen Denkens. Unter »Broschürenliteratur« ist also die
schriftliche und relativ kurze Fixierung einfacher Vorstellungen und Ziele politischer
Art zu verstehen .... (Ebd., 2006, S. 352).Im Mittelpunkt
der Darstellung soll die Broschürenliteratur der Kommunisten und der Nationalsozialisten
stehen, die zunächst dem Kampf gegen »das System« galt und dann
rasch zu einer Auseinandersetzung zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten
wurde. (Ebd., 2006, S. 352-353).Die Darstellung ist in zwei
große Teile gegliedert:Jeder der beiden Teile
ist nach drei Zeitperioden eingeteilt, nämlich der frühen von 1918 bis
1923, der mittleren von 1924 bis 1929 und der spätennvon 1930 bis Anfang
1933. (Ebd., 2006, S. 353).
Broschürenliteratur der Kommunisten
Der Aufruf
zur Maifeier des Jahres 1916 bedeutet die verschärfte Wiederaufnahme der
»Klassenkampf«-Konzeption und war so etwas wie eine Kriegserklärung
an die deutsche »Bourgeoisie«, die nun als vornehmlich »kriegsschuldige«
Klasse an die Stell der »Junker und Militaristen« trat: »Zum
zweiten Male steigt der Tag des 1. Mai über dem Blutmeer der Massenmetzelei
auf .... Millionen von Männern haben bereits ihr Leben gelassen auf Geheiß
der Bourgeoisie .... Und zu wessen« (Ebd., 2006, S. 354).Flugblatt
des Jahres 1917 ...: »Schlagt tot die Kriegsbestie, hängt eure Henker,
und ihr seid erlöst, frei und glücklich mit den Brüdern in der
ganzen Welt«. Aber es war unmöglich, daß das einfache und weithin
populäre Bild von den wenigen »Henkern, Profiteuren und Ausbeutern«
auf der einen Seite und der riesigen gequälten Volksmehrheit auf der anderen
der Wirklichkeit entsprach: Eine solche Nation hätte unmöglich die Leistungen
vollbringen können, die ein »Kampf gegen die ganze Welt« unter
Beweis gestellt hatte. Der Partei, welche die schärfste und so leicht verstehbare
Feindschaft proklamierte, mußte ein außerordentliches Maß an
ebenso leicht verstehbarer Feindschaft begegnen, und wenn sie nicht sehr bald
einen definitiven Sieg errang, mußte diese Todfeindschaft mehr als alles
andere für die Nachkriegsgeschichte des besiegten Deutschland - dessen Sieg
noch wenige Monate zuvor seinen Feinden vor Augen gestanden hatte - zu einem der
bestimmendsten Faktoren werden. (Ebd., 2006, S. 355).Freilich
würde diese Feindschaft weder gleichgewichtig noch geradlinig sein. Die Kommunisten
hatten ein Bild der Zukunft vor Augen, das weit über ihre eigenen Reihen
hinaus Sympathie zu erwecken vermochte, etwa wenn die im März 1919 gegründete
Weltpartei der »Kommunistischen Internationale« glaubwürdig zu
versichern vermochte, in ihren Reihen vereinigten sich brÜderlich »Menschen
weißer, gelber, schwarzer Hautfarbe«. Andererseits proklamierten sie
nun mit viel Emphase eine Feindschaft, die ihren deutschen Feinden, denen bloß
die Revision der Waffenstillstandsbedingungen bzw. des Friedensvertrages als Ziel
vorschwebte, zu helfen vermochte, indem sie nämlich mit großem Nachdruck
»den japanischen, amerikanischen, englischen, französischen und allen
anderen Welträubern« den »Krieg aufLeben und Tod« erklärte.
(Vgl. Hermann Weber, Die Kommunistische Internationale, 1966, S. 50, 95).
(Ebd., 2006, S. 355).Die von früh an gegebene und verwirrende
Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit wieder zu beseitigen und sie durch
große einfache Linien zu ersetzen, war das Ziel der vielen Kampfbroschüren
aus den Reihen der Kommunisten und ihrer Sympathisanten, die als symptomatische
Erzeugnisse ohne genaue chronologische Reihenfolge ins Auge gefaßt werden
sollen: Karl Radek, ein ukrainischer Jude, aber nach zionistischer Terminologie
bis hin zu »antisemitischen« Neigungen »entjudet«, (vgl.
dazu seine Schrift: »Die Bermat-Sozialdemokratie« von 1925) war in
der unmittelbaren Nachkriegszeit so etwas wie Lenins Botschafter oder Beauftragter
in Deutschland. Nicht wenige bedeutende Vertreter der neuen parlamentarischen
Demokratie, wie etwa Walther Rathenau, pflegten gute Beziehungen zu ihm, und er
erwies sich als ein ebenso umgänglicher wie geistreicher Kopf. Auf dem intellektuellen
Feld griff er gleich in die erste große »innersozialistische«
Auseinandersetzung ein, welche die junge Kommunistische Partei zu bestehen hatte,
nämlich in diejenige um den »Terrorismus«, die Karl Kautsky -
vor dem Krieg der maßgebende Theoretiker des Marxismus als Ganzen - mit
seiner Schrift gegen den Terror in Sowjetrußland initiiert hatte, in der
er das sowjetkommunistische Regime als »socialismus asiaticus« scharf
und negativ dem orthodoxen und westeuropäischen Marxismus entgegengesetzt
hatte. (Ebd., 2006, S. 355-356).Radek reagierte in seiner
Broschüre über »Proletarische Diktatur und Kommunismus«
mit Hilfe des Begriffs des »bürgerlicher Terrors«, der dem
proletarischen vorangegangen sei, vor allem in Gestalt der Kriegstoten, aber auch
nach dem Krieg als Hinmetzelung von 30000 Arbeitern in Finnland und nicht zuletzt
durch das »Grauen des Koltschak-Regimes«. Gewiß seien auf seiten
der Bolschewiki »Taten wilder Vergeltung« vorgekommen, aber sie seien
das Werk der in Soldatenuniform gekleideten Bauern gewesen, nicht die der organisierten
Arbeiter. Indessen beeinträchtigte Radek seine Glaubwürdigkeit nicht
nur dadurch, daß er die Realität der staatlich geleiteten Klassenvernichtung
in Rußland nicht einmal erwähnte, sondern weil er voraussagte, im Westen
mit dessen ausgedehnter Arbeiteraristokratie würden wahrscheinlich die Kämpfe
um die Macht viel schärfer sein als in Rußland, zumal sich hier vor
der Machtergreifung des bewaffneten Proletariats schwerlich je eine Mehrheit der
Bevölkerung den Kommunisten anschließen werde. Er sagte also für
Deutschland nichts Geringeres vorher als die blutige und terroristische Herrschaft
einer Minderheit. (Ebd., 2006, S. 356).Grigorij Sinovjew
(von seinen Gegnern meist mit seinem Geburtsnamen »Apfelbaum« genannt)
war während des Krieges einer der engsten Mitarbeiter Lenins und spielte
früh eine führende Rolle in der »Internationale«. Im Jahre
1919 hatte er den Jubel über die Siege der »Weltrevolution« und
die zuversichtliche Erwartung von deren bevorstehendem Sieg mit viel Nachdruck
und Enthusiasmus formuliert, aber er hatte auch als »Führer der nördlichen
Kommune«, Leningrads, die Vernichtungsforderung gegenüber zehn Millionen
»Bourgeois« und Kleinbürgern besonders unverhüllt erhoben.
(Vgl. hierzu auch: Ernst Nolte, Der
europäische Bürgerkrieg 1917-1945, 1987, S. 558f. [**|**|**|**]).
lm Oktober 1920 hatte er auf dem Parteitag der USPD in Halle durch seine große
Rede wesentlich dazu beigetragen, daß die KPD durch den Anschluss des linken
Flügels der »Unabhängigen« zur Massenpartei geworden war.
(Ebd., 2006, S. 356-357).Wenig später erschien im »Verlag
der KI« (Verlag der Kommunistischen Internationale) seine Broschüre
»Zwölf Tage in Deutschland«. Die ausgedehnte Polemik gegen
die »Arbeiteraristokratie« und deren sozialdemokratische Repräsentanten
von Dittmann über Crispien bis zu dem russischen Menschewisten Martov war
nichts Überraschendes, wohl aber dürften die Marxisten der USPD verwundert
den Kopf geschüttelt haben, als der Präsident der Kommunistischen Internationale
ihren Zweifeln und Bedenken entgegenhielt: »Sehen Sie , denn nicht ein,
daß dieser religiöse, naive Glaube (der russischen Massen;
Anm. d. Verf.) an die Möglichkeit des Sozialismus der wichtigste revolutionäre
Hebel der Geschichte ist?« (Grigorij Sinovjew, Die Weltrevolution
und die III. Kommunistische Internationale [Rede auf dem Parteitag der USPD
in Halle am 14. Oktober 1920], 1920). (Ebd., 2006, S. 357).Eine
merkwürdige Problematik brachte er dadurch zu Wort, daß er »die
aus Haß und Angst wie irrsinnigen Konterrevolutionäre« keineswegs
mit »der Bourgeoisie« identifizierte, sondern den Luxus und die Üppigkeit
der deutschen Bourgeoisie mit viel moralischer Empörung anprangerte und den
festen Willen zu erkennen gab, dieser im Kern dekadenten, ja widermenschlichen
Gruppe »den Garaus zu machen«. Aber er forderte auch, die »Menschewisten«,
d.h. die reformistischen Sozialdemokraten, »zu erledigen«. Der Vernichtung
der »bürgerlichen Gesellschaft« werde dann, wie in Rußland,
die »völlige Aufhebung des Geldes« folgen. (Ebd., 2006,
S. 357).Die bevorstehenden inneren Kämpfe
und Spaltungen der Kommunistischen Partei kündigten sich bereits 1920 in
den Schriften der Hamburger Fritz Wolffheim und Heinrich Laufenberg (**)
an, die später »Nationalkommunisten« genannt wurden, weil sie
den Akzent fast ebensosehr auf »die Nation« wie auf »das Proletariat«
setzten. In dieser Tendenz war sicherlich viel an genuin-linker Emotion zu erkennen,
denn die deutsche Nation zählte nun zweifellos zu »den Unterdrückten«.
So bleibt Wolffheim in seiner Schrift »Knechtschaft oder Weltrevolution«
zwar der kriegsgegnerischen Tradition ganz treu, wenn er von den »Herrenbestien
des deutschen Imperialismus« spricht, in deren Augen der Soldat »kein
Mensch ..., sondern eine tote Sache« war, aber ein neuartiger Ton wird vernehmbar,
wenn er die Errichtung von Revolutionstribunalen verlangt, vor denen nicht mehr
die Männer des nun zertrümmerten Deutschen Reiches abgeurteilt werden
sollen, sondern diejenigen, »die die Revolution verraten und das Volk wehrlos
gemacht haben«. Und wenn für die Gegner des Kommunismus schon die Existenz
der »Roten Armee« in Rußland den Stempel eines neuen »Militarismus«
trug, dem Radek auch hinsichtlich Deutschlands das Wort geredet habe, als er den
Zusammenstoß der deutschen und russischen Arbeitermilizen mit den Heeren
der Alliierten prophezeite, so mochte man einen neuartigen »Imperialismus
wahrnehmen, wenn Wolffheim im Frühjahr 1919 die Herstellung einer Verbindung
zwischen den drei Sowjetrepubliken in Moskau, Budapest und München verlangte
und ein »einheitliches proletarisches Reich bis zur Südsee, von Frankreich
bis zur japanisch-chinesischen Grenze in der Entstehung begriffen sah (Ebd.,
2006, S. 357-358).Ihren Gipfelpunkt erreichte diese Tendenz, das
»nationale Moment auf einer neuen Ebene zu restituieren, bekanntlich in
Radeks »Schlageter-Rede« vom 20. Juni 1923, die auf den Vorschlag
der Unterordnung der aus den Freikorps hervorgegangenen Rechten unter die kommunistische
Linke in Gestalt einer völlig neuartigen »Volksfront« hinauslief.
(Vgl. Hermann Weber [Hrsg.], Der deutsche Kommunismus, 1963, S. 142-147).
Dem folgte wenig später die Auseinandersetzung der »rechten Vordenker«
Moeller van den Bruck und Graf Ernst Reventlow mit Radek in den Spalten der Zeitschriften
»Das Gewissen« und » Reichswart«, die Radek gewichtige
Argumente entgegenstellten und doch neue Denkmöglichkeiten und Bündnisse
nicht von vornherein ausschlossen. Daß die »Schlageter-Linie«
aber die Kommunisten sogar bis in die Nähe des »Antisemitismus«
führen konnte, wurde von der eher anarchistischen Zeitschrift »Die
Aktion« mit schroffer Ablehnung deutlich gemacht, als sie im Juli 1923 von
einer Veranstaltung über das Thema »Kommunismus, Faschismus und
die politische Entscheidung der Studenten« berichtete. Danach habe die
Führerin der kommunistischen »Linken«, Ruth Fischer, selbst »entjudete«
Jüdin, an das studentische Publikum folgende Aufforderung gerichtet: »....
Sie rufen auf gegen das Judenkapital, meine Herren? Wer gegen das Judenkapital
aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß.
.... Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne,
zertrampelt sie. Aber meine Herren, wie stehen Sie zu den Großkapitalisten,
den Stinnes, Klöckner ...?« (»Die Aktion«, Hrsg.:
Franz Pfemfert, 1923, S. 374). Das Schlußurteil des Herausgebers Franz Pfemfert
ist sehr eindeutig und sehr negativ: »Wer, als Wortführer einer Arbeiterpartei,
mit den Völkischen gegen französische Fremdherrschaft
keift, hetzt damit auch die Arbeiter der übrigen Länder in die Arme
des Nationalismus!« Daher müßten »die Radek, Fröhlich,
Ruth Fischer und Konsorten« von dem kommenden Revolutionstribunal abgeurteilt
werden. (Ebd., 2006, S. 358).Die Kommunistische Partei appellierte
aber auch an die Bauern. 1919 erschien die Broschüre: »Das Agrarprogramm
der KPD (Spartakusbund)«, und dort wurde ein »neuer Bundschuh«
vorhergesagt, in dessen Rahmen bald Millionen von Landproletariern »gegen
die Junkerschlösser anstürmen« würden. Nach dem Sieg würde
der gesamte Großgrundbesitz ohne Entschädigung vom sozialistischen
Staat enteignet werden, das Privateigentum der Kleinbauern werde dagegen unangetastet
bleiben. Das war offenbar ein Versuch, das in Rußland erfolgreiche Agrarprogramm
der Bolschewiki für Deutschland fruchtbar zu machen. Es war indessen einleuchtend,
daß das Vorhaben kontraproduktiv sein mußte, wenn die Zahl der selbstständigen
Kleinbauern größer war als diejenige der Landarbeiter und wenn es so
etwas wie ein »ländliches Gemeinschaftsempfinden« gab, das Großbauern
und sogar einen Teil der »Junker« einschloß. (Ebd., 2006,
S. 358-359).Nichtdeutsche Kommunisten und Sozialisten nahmen an
dem Broschüren-Kampf sowohl in der einen wie in der anderen Richtung lebhaften
Anteil. Der georgische Sozialdemokrat Noe Jordanier schrieb nach der Besetzung
des Landes durch sowjetische Truppen voller Empörung eine »Antwort
an Trotzki« unter dem Haupttitel »Imperialismus unter revolutionärer
Maske«. Darin prangert er das Verfahren an, in einem fremden Staat innenpolitische
Unruhen und Aufstände der eigenen Anhänger hervorzurufen und dann mit
militärischer Macht zwecks »Befreiung« zu intervenieren: »Ein
Häuflein Bolschewisten wird sich in jedem beliebigen Land finden ..., und
so eröffnet sich für sie die Perspektive von Kriegen in allen Teilen
der Welt«. (Ebd., 2006, S. 359).In Wahrheit handle
es sich jedoch keineswegs um »Befreiungskriege«, sondern Radek habe
ausgeplaudert, der Grund bestehe darin, daß Sowjetrußland »die
Ausgangswege des Bakuer Naphthas (Erdöls) zum Schwarzen Meer in ihrer Hand
halten müsse«. Mithin ist ein neuartiger Imperialismus im Entstehen
begriffen, der weitaus kriegerischer und für die Welt gefährlicher ist
als der altbekannte der westlichen Mächte, weil er das Wort »Frieden«
im Munde führt und überall in der Welt über Gruppen von Gleichgesinnten
verfügt. (Ebd., 2006, S. 359).Mit ebenso großer
Empörung äußert sich der us-amerikanische Anarchist Alexander
Berkmann über die Niederschlagung des Aufstands in Kronstadt in seiner 1923
erschienenen Broschüre über »Die Kronstadt-Rebellion«.
Am 18. März 1921 hätten die Bolschewiki wie in jedem Jahr öffentlich
die Erinnerung an die Pariser Kommune von 1871 gefeiert, die von Gallifet und
Thiers im Blut der französischen Arbeiter ertränkt worden sei. Zur gleichen
Zeit hätten sie ihren »Sieg« über Kronstadt gefeiert, der
nicht minder blutig und freiheitsfeindlich gewesen sei und der diejenigen niedergeschlagen
habe, welche die Parole von 1917 »Alle Macht den Sowjets« endlich
im Widerstand gegen die bürokratische Parteiherrschaft hätten verwirklichen
wollen. So habe die Erfahrung abermals bewiesen, daß der Staat als solcher
- ob in »bürgerlicher« oder in »sowjetischer« Gestalt
- »stets der Todfeind der Freiheit und Selbstbestimmung« sei.
(Ebd., 2006, S. 359-360).Aber um die gleiche Zeit formulierte der
finnische Kommunist S. A. Kataja die »proletarische Klassenfeindschaft«
gegen die Bourgeoisie in der 1920 publizierten Broschüre »Der Terror
der Bourgeoisie in Finnland« auf denkbar radikale Weise: Die Bourgeoisie
habe in Finnland mit ihren angeblichen Vergeltungsmassnahmen nichts Geringeres
erstrebt als »die Vernichtung der Arbeiterklasse«, und sie sei nichts
anderes als »eine Klasse der Raubenden, Tötenden, Verwüstenden,
die gestürzt, enteignet und beseitigt« werden müsse. (Ebd.,
2006, S. 360).Daß die Russische Revolution im Begriff sei,
ein ganz anderes Gesellschaftsgebilde hervorzubringen, als ihren Intentionen und
Erwartungen entsprach, fand sogar in späten Äußerungen Lenins
eine unzweideutige Formulierung (vgl. dazu die erstaunlichen Äußerungen
Lenins, in: Ders., Ausgeählte Werke, Band II, S. 926, 974f., bes.
998f.) und machte sich nicht zuletzt im Aufkommen einer »Arbeiteropposition«
erkennbar, an deren Spitze mit Alexandra Kollontai eine verdiente Revolutionärin
der ersten Stunde stand, die aber bald zusammen mit dem »Trotzkismus«
niedergekämpft wurde. (Ebd., 2006, S. 360).Eine frühe
und zukunftsweisende Warnung hatte Lenin bereits 1920 von dem holländischen
Theoretiker des »Arbeiterkommunismus« Herman Gorter erhalten, die
eine Antwort auf dessen Schrift über den linken Radikalismus als »Kinderkrankheit
im Kommunismus« sein wollte. In seinem »Offenen Brief an den Genossen
Lenin« wies Gorter darauf hin, daß es in Rußland, Polen
und Ungarn keine »kräftige bürgerliche Klasse« gegeben habe
und daß darin der Hauptunterschied zwischen Ost- und Westeuropa zu sehen
sei. Für die »industriellen Völker« Westeuropas sei eine
andere revolutionäre Taktik erforderlich, als sie unter Lenins Führung
in dem russischen Bauernvolk erfolgreich gewesen sei. Hier sei die Gesellschaft
ein geordneter Körper, zwar kapitalistisch geordnet, aber doch geordnet.
Die Macht der in Westeuropa herrschenden (bürgerlichen) Ideologie sei auch
in den proletarischen Individuen Englands lebendig. Aus dieser Einsicht resultiert
die ungemein negative Vorhersage, die er dem »Genossen Lenin« übermittelt:
»Sie werden die furchtbarste Niederlage erleiden und das Proletariat zu
den furchtbarsten Niederlagen führen, wenn Sie mit dieser Taktik weitergehen.«
(Ebd., S. 80). (Ebd., 2006, S. 360).Schließlich erwähne
ich noch einen Titel, der zwar nicht von einem Kommunisten stammt, der aber implizit
die Tragweite und das Recht der kommunistischen Konzeption anerkennt und doch
eine grundlegende Verkehrung ins Auge faßt, die sich um 1925 bereits abzeichnete,
das Büchlein von Albrecht Wirth über »Nationale Revolutionen«.
Die universale Umsturzlehre der Kommunisten verwandle sich in der Regel in eine
örtlich begrenzte nationale Bewegung. Das sei an vielen Beispielen, etwa
demjenigen Kemal Paschas (gemeint ist: Atatürk; HB), in der Türkei, zu erkennen, und der schwarze Politiker Markus
Garvey wolle sogar sämtliche Neger der Welt vereinigen. Bei unterdrückten
Völkern entwickle sich notwendigerweise ein »völkischer Gedanke«,
und der habe eine doppelte Wurzel: Sehnsucht nach äußerer Freiheit
und Kampf gegen innere Schädlinge, die nicht in erster Linie die einheimischen
Kapitalisten seien, sondern Gruppen wie die Wucherer, die Bürokraten, die
Kommunisten, die Juden. (Ebd., 2006, S. 364).In der Tat wurde
der Nationalsozialismus von den Kommunisten erst seit 1930 als ein Hauptfeind
wahrgenommen, und sogar da nur unter wesentlichen Einschränkungen, da der
Kampf gegen den »Sozialfaschismus« der Sozialdemokraten nicht abgeschwächt
wurde und nach wie vor »der Kapitalismus« als der eigentliche Feind
galt, der lediglich neue Masken vor das Gesicht zog, im Hintergrund Intrigen spann
und Manöver in Gang setzte. Allerdings wurde das Moment des »Nationalen«
nun in der Regel nicht mehr als ein bloßer Betrugsversuch gegenüber
den Arbeitern abgetan, die nach Marx »kein Vaterland« hatten und nach
Thälmann nur das »sowjetische Vaterland« liebten, denn der Nationalsozialismus
war bereits seit Ende 1929 in unübersehbarem Aufstieg begriffen, und die
Programmerklärung zur »nationalen und sozialen Befreiung des deutschen
Volkes« war dazu bestimmt, dem linken Flügel des Nationalsozialismus
mit dem Gedanken entgegenzukommen, daß die Existenz »unterdrückter
Nationen« nicht in Abrede gestellt werden könne und daß dem Konzept
der »nationalen Befreiung« ein gewisses historisches Recht zuzuschreiben
sei. So kam es zu »Berührungszonen« zwischen den beiden feindlichen
Parteien, und Übertritte von der einen zur anderen wurden möglich, von
denen der weitaus spektakulärste derjenige des Leutnants Richard Scheringer
war. Aber kaum weniger auffallend, wenngleich im lokalen Rahmen verbleibend, war
der Übertritt des Mannheimer Stadtpfarrers Erwien Eckert zur KPD, der in
einer eigenen Broschüre dokumentiert wurde. Hier war nicht ein nationaler,
sondern ein christlicher Impuls maßgebend, da die erste Aufgabe von Eckert
darin gesehen wurde, die leidenden Schwestern und Brüder zu befreien. Unter
dem tosenden Beifall von 7000 Anwesenden machte sich der protestantische Geistliche
die Hauptforderung der Kommunisten zu eigen: »Der Kapitalismus muß
sterben, damit das Volk leben kann.« (Ebd., 2006, S. 364-365).Aber
auf der anderen Seite ging das Entgegenkommen der Kommunisten auf nationalsozialistische
Thesen und Forderungen nun mehr und mehr so weit, daß auch offen eingestanden
wurde, was von Anfang an als selbstverständlich angenommen werden durfte,
nämlich daß der Kampf der Kommunisten ebensosehr den jüdischen
wie den christlichen Kapitalisten galt, und es bedurfte keines tiefen Nachdenkens,
um zu erkennen, daß dem für alle Kommunisten evidenten Komplement,
nämlich daß jüdische und christliche Proletarier ebenso zusammengehörten,
eine merkwürdige Schwäche innewohnte, weil nämlich jüdische
Proletarier im Sinne von Industriearbeitern kaum zu finden waren. Jedenfalls stellte
Walter Ulbricht, schon damals ein führendes Parteimitglied, in einer Rede
über »Volksrevolution gegen den Faschismus«, die vom Zentralkomitee
der KPD als Broschüre publiziert wurde, die Nationalsozialisten geradezu
als Judenfreunde hin, indem er sagte, die Nazis hätten im Reichstag gegen
die Millionärsbesteuerung gestimmt, damit »den christlichen und jüdischen
Kapitalisten« ihre hohen Zinsen gesichert würden. (Rede des Genossen
Walter Ulbricht vor Funktionären der KPD). Bei der Zusammenfassung der kommunistischen
Forderungen ließ er die Unterscheidung als etwas Sekundäres aber wieder
fallen und berief sich auf »das leuchtende Vorbild der Sowjetunion«,
das dem arbeitenden Volke zeige, »daß die Verjagung der kapitalistischen
Schmarotzer, der Großindustriellen, Bankiers, Junker, Großkaufleute,
bürgerlichen Politiker, Arbeiterverräter, Spekulanten und Schieber und
die Zerschlagung ihres Machtapparates die Voraussetzung des Sozialismus ist«.
Es ließ sich also gar nicht übersehen, daß die Geringschätzung
der Kommunisten für den nationalsozialistischen »Antisemitismus«
darin ihre Ursache hatte, daß damit nur ein kleiner Teil eines viel umfassenderen
Vernichtungs- und Säuberungsprojekts zwecks Irreführung des Publikums
herausgenommen und überdies durch eine biologistische Vorstellung von »den«
Juden verunstaltet wurde. Kommunismus schloß also einen richtig verstandenen
»Antisemitismus« ebenso gut ein, wie er Antimilitarismus und Anti-Kommerzialismus
in sich schloß. Ganz in diesem Sinne heißt es in der ebenfalls von
der KPD herausgegebenen Broschüre »Wer regiert? Wer kommandiert?
Wer toleriert?«: »Die Jakob Goldschmidt und Katzenellenbogen
sind nicht die einzigen Schuldigen, neben ihnen sitzen so nationale Männer
wie Borsig ... und Thyssen auf der Anklagebank. .... Das ganze System ist schuld«;
die Hitglerpartei aber ist eine Systempartei und »stützt dieses zusammenbrechende,
verfaulte kapitalistische System«. Ganz ähnlich lautet die Anklage
in der Broschüre: »Worte und Taten - Die Nazis entlarven sich selbst«
(1931 veröffentlicht): Hitler sei tief in den »Morast der Erfüllungspolitik«
hineingestiegen und erweise sich endgültig als »Lakai der ausländischen
Young-Regierungen und Großbankiers«. Er habe einen unglaublichen Briefwechsel
mit dem »französischen Nationalchauvinisten Hervé« (er
war bis 1914 einer der radikalsten unter den französischen Sozialisten) geführt
und seine Partei habe die Gehälter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers
bewilligt. Die NSDAP sei daher nichts anderes als die »Schutztruppe des
internationalen Kapitals gegen den Bolschewismus und die Schutztruppe des deutschen
Bürgertums gegen die rote Klassenfront des Proletariats«. (Ebd.,
2006, S. 365-366).Noch weit mehr als in der vorhergehenden Periode
war die KPD gezwungen, die scharfen Angriffe ihrer Feinde gegen die Sowjetunion
zurückzuweisen, denn es ließ sich nun nicht mehr in Abrede stellen,
daß sich hinter den sorgfältig gesicherten Grenzen des großen
Landes ungeheure Ereignisse vollzogen: die Enteignung, Vertreibung und partielle
Vernichtung einer mehrere Millionen von Menschen umfassenden Klasse (schon
damals sprach man von 30 Millionen Opfern - heute spricht man von über 40
Millionen Opfern; HB), nämlich des besser gestellten und also
»kleinbürgerlichen« Teils der russischen Bauern (für
westliche Verhältnisse: sehr kleinbäuerlich,
denn wer in der Sowjetunion eine Kuh besaß, war »Bourgeois«,
also »Klassenfeind« und wurde ermordet; HB), so daß
diejenige Literatur, die man als »antibolschewistische Hetzliteratur«
bezeichnete, einen unübersehbaren Aufschwung nahm. (Ebd., 2006, S.
366).Anton Erkelenz war ein »bürgerlicher Politiker«
und Abgeordneter der DDP, der mit großer Energie gegen Hitler Stellung bezog
und ein noch nicht sehr bekanntes Schlagwort zum wirkungsvollen Titel einer Broschüre
machte: »Der Rattenfänger von Braunau - Die Tragödie Deutschlands«
(1932 veröffentlicht). .... Wie die Kommunisten sieht er also in Hitler einen
Strohmann von älteren und stärkeren Kräften, aber eben diese Kommunisten
sind für ihn nicht Bündnispartner, sondern »Steigbügelhalter
des Faschismus«. Wenn es in Deutschland einen Politiker gab, der ein noch
weit entschiedenerer Nationalist war und sein wollte als Hitler, dann war es Ernst
Niekisch.
(Ebd., 2006, S. 368).Herbert Weichmann, Sozialdemokrat jüdischer
Herkunft, enger Mitarbeiter des preußischen Ministerpräsidenten Otto
Braun und nach dem Krieg Regierender Bürgermeister von Hamburg, hat 1932
zusammen mit seiner Frau Elsbeth unter dem Titel »Alltag im Sowjetstaat«
einen Bericht über eine Reise durch die Sowjetunion veröffentlicht.
Was die beiden - offensichtlich Individualreisende und nicht Mitglieder einer
Delegation - in Rußland gesehen haben, ist »das Bild eines einheitlichen
klassenlosen Elends«, in dessen Rahmen zwei oder drei Familien bei ganz
niedrigem Lebensstandard in winzigen Zweizimmerwohnungen hausen. Jeder Tag in
Rußland sei »Alltag, hastender, rauchiger, vom Lärm der Maschinen
und vom Kampfe der Menschen erfüllter Alltag. .... Das Privatleben ist verfemt
und soll es sein«. Alle »bourgeoisen Elemente« sind vom Bezug
der Lebensmittelkarten ausgeschlossen. Der angebliche Arbeiterstaat ist in Wirklichkeit
eine Arbeiterkaserne. Die Ursache alles dessen ist für die beiden Reisenden
jedoch nicht die Ideologie des Kommunismus, sondern der sehr »staatliche«
Tatbestand, daß riesige Mengen an Lebensmitteln und Industrieprodukten gegen
gute Devisen ins Ausland verkauft werden, also etwas ganz anderes als der »Aufbau
des Sozialismus«, der zur gleichen Zeit in der kommunistischen Broschürenliteratur
mit so leuchtenden Farben geschildert wird. Allem Anschein nach führt nicht
eine vorgefaßte Abneigung den beiden Autoren die Feder .... (Ebd.,
2006, S. 369).Eine radikale Verwerfung des ganzen kommunistischen
Projekts war schon 1919 von seiten eines Mannes erfolgt, der nach seinen Präzedentien
zum engsten Kreis der Spartakisten hätte zählen sollen, nämlich
Paul Lensch, bis 1914 ein Anhänger Rosa Luxemburgs und am 4. August Teilnehmer
an der Versammlung einiger weniger Personen in deren Wohnung, die nach der Zerstörung
ihrer sozialistischen Hoffnungen infolge der Zustimmung der sozialdemokratischen
Fraktion zu den Kriegskrediten mühsam genug ihre Fassung zurückzugewinnen
suchten. Aber Lensch hatte dann im Krieg zu jenen Sozialdemokraten gehört,
welche die marxistische Revolutionskonzeption auf die neue Lage anzuwenden versuchten
.... Aber die Männer und Frauen um Rosa Luxemburg seien durchaus im Unrecht,
weil sie das Dilemma der SPD, die nun mit der Psychologie einer unterdrückten
Klasse und der unerschütterten Doktrin einer radikalen Oppositionspartei
an der Spitze des Staates stehe, nach rückwärts zu lösen versuchten,
nämlich durch die alte marxistische Doktrin des Klassenkrieges zwischen unversöhnlichen
Gruppen. So sei sie zur Partei eines Bürgerkrieges geworden statt zur führenden
Partei des am weitesten entwickelten Sozialstaats der Welt ([**|**|**];
auch schon zur Zeit des 2. Kaiserreiches [**]).
Die deutschen Kommunisten, glücklicherweise nur eine Minderheit gegenüber
der Masse der Anhänger einer modernen und zeitgerechten SPD, wären mithin
die eigentlichen Reaktionäre, deren Weg ins Verderben führen müsse.
Lensch selbst aber blieb nicht in dieser neuen SPD, sondern er beendete 1926 sein
Leben als Chefredakteur der von allen Sozialdemokraten als »schwerindustriell«
eingestuften »Deutschen Allgemeinen Zeitung«. (Ebd., 2006, S.
369).
Broschürenliteratur der Nationalsozialisten
Leidenschaftlicher
Widerstand gegen ein großes Unrecht kam gegenüber den Forderungen der
westlichen Siegermächte und damit gegen »Versailles« (Diktat!)
früh zum Vorschein, aber es war eine abwehrende und auch von Selbstkritik
begleitete Leidenschaft .... Ganz neuartig war dagegen der Widerstand, der einem
zuvor völlig unbekannten Phänomen begegnete, einem politischen und ökonomischen
Umsturz in einem fremden Land, ..., dem Bolschewismus. Ihm gegenüber waren
Emotionen möglich, die gegenüber dem Westen (den
Allierten des Westens; HB) fehlten: Entsetzen wegen präzedenzloser
Schreckenstaten und auch ein Empfinden des eigenen Rechts angesichts eines exorbitanten
Anspruchs. So schrieb etwa eine Münchener Zeitung im März 1919 unter
der Überschrift »Das wahre Gesicht des Bolschewismus«, der sozialdemokratische
Pressebeirat der deutschen Botschaft bei den Regierungen Lettlands und Estlands
habe eine kleine Flugschrift herausgegeben, die voll von Beweisen »für
die Abscheulichkeiten und bestialischen Mordtaten der Bolschewiki in den Ostseeprovinzen«
sei und von der »grauenerregenden Entartung jener Vorkämpfer des Bolschewismus«
zeuge, »die auf baltischem Boden unbeschreibliche Verbrechen begangen«
hätten. (Vgl. Münchener Neueste Nachrichten, 23.03.1919). Aus unmittelbarer
physischer Nähe und großer geistiger Distanz, die eine weit ausholende
Interpretation möglich machte, redigierte der damals recht bekannte Dichter
Dietrich Eckart in den Monaten vor, während und nach der Räterepublik
sein Blättchen »Auf gut deutsch« , das aus den Ereignissen
der Gegenwart eine Deutung der Weltgeschichte im Ganzen ableiten wollte, und zwar
mittels der Entgegensetzung eines »christlichen« und eines »jüdischen«
Prinzips, einer Entgegensetzung, die indessen nicht im philosophischen Raum verblieb,
sondern etwa durch die von Otto v. Kursell gezeichneten Porträts von Bela
Kun, Trotzki und anderen Juden ein Entsetzen hervorzurufen suchte, das für
den Zeichner und den Herausgeber schwerlich eine bloße Erfindung war. Und
aus Reval kam völlig mittellos der Baltendeutsche Alfred Rosenberg, der nun
als Mitarbeiter Eckarts die in Rußland beinahe selbstverständliche
Auffassung verbreitete und zuspitzte, daß Juden die eigentlichen Träger
der Revolution in Rußland und Urheber des Terrors der Tscheka seien. Die
ersten Schriften, die er veröffentlichte, zeugen schon durch ihre Titel von
einer Interpretation, die das in Rußland Geläufige zuspitzte und isolierte
und offenkundig das Bestreben hatte, der marxistischen Geschichtsphilosophie ein
Gegenstück entgegenzusetzen, in dem »der Jude« eine noch größere
und frühere Rolle spielte als »die Kapitalisten« im Marxismus:
»Die Spur des Juden im Wandel der Zeiten« (erschien 1919) und
»Pest in Rußland« (erschien 1922). (Ebd., 2006,
S. 371-372).Wie mächtig diese Atmosphäre auf den jungen
Kriegsheimkehrer, »Bildungsoffizier« und künftigen Parteigründer
Adolf HitIer wirkte, ist gerade denjenigen Passagen in »Mein Kampf«
zu entnehmen, in denen die stärkste und am meisten »geschichtsphilosophische«
Leidenschaft zum Ausdruck kommt. Das nationalistische und gegen »Versailles«
(Diktat!)
gerichtete Moment findet in Hitlers frühen Reden einen weniger prononcierten
und individuellen Ausdruck, wie ja im Ganzen die frühen Verlautbarungen von
Hitlers Partei oft genug von den Streitschriften alldeutscher und vulgärantisemitischer
Herkunft kaum zu unterscheiden sind. Aber auch das antibolschewistische Moment
war alles andere als ein Alleinbesitz der Nationalsozialisten Eduard Stadtler,
einst Jugendführer des Zentrums, entfaltete nach seiner Rückkehr aus
der russischen Kriegsgefangenschaft schon ab Ende 1917 eine hektische Aktivität
der Warnung vor den Gefahren des Bolschewismus, und unter der Ägide seines
»Generalsekretariat zum Studium und zur Bekämpfung des Bolschewismus«
publizierte 1919 der Baltendeutsche Paul Schiemann, der bald als Minderheitenpolitiker
im lettischen und europäischen Rahmen erhebliche Bedeutung gewinnen sollte,
seine Schrift »Die Asiatisierung Europas«, die einen anderen
Schlüsselbegriff zum Verständnis des verstörenden Phänomens
des Bolschewismus anbot, indem sie den gewalttätigen Egalitarismus in den
Dienst des »asiatischen Machtgedankens« der Attila und Dschingis Chan
gestellt sah. Aber noch könne er sich auf die simplen Vorstellungen der »Proletarier«
als der »vertretbaren Arbeiter« stützen, und die rettende Gegenbewegung
könne nur in der »Kultivierung des Proletariats« und in der Selbstbehauptung
der »germanischen Persönlichkeit« bestehen. (Ebd., 2006,
S. 372).Indessen wäre die Vermutung ganz falsch, die antibolschewistische
Polemik habe sich nur auf der Rechten entfaltet. Franz Cleinow war offenbar, wie
jener Beamte des Auswärtigen Amtes in Riga, ein Sozialdemokrat, und seine
Schrift »Bürger; Arbeiter; rettet Europa! Erlebnisse im sterbenden
Rußland« erschien 1920 im Berliner Verlag »Die Einheitsfront«.
Cleinow war in Kiew - wie übrigens zur gleichen Zeit auch der frühere
Diplomat und spätere Freund Hitlers Erwin von Scheubner-Richter in Riga -
von den Bolschewiki verhaftet worden und mußte lange Wochen als Geisel für
Radek mit zahlreichen Leidensgenossen in Todeszellen verbringen. Seine Behauptung,
die Juden seien die Hauptträger der bolschewistischen Bewegung gewesen, ist
um vieles glaubwürdiger als eine entsprechende These von Goebbels, zumal
sie von der entgegengesetzten These flankiert wird, heute seien unter den wohlhabenden
Klassen zahlreiche Juden zu finden. Auch was er von seiner Haft im Konzentrationslager
Nowo-Pjeskov erzählt, ist von einer einseitigen Anklage weit entfernt.
(Ebd., 2006, S. 372-373).Der antibolschewistischen und antimarxistischen
Leidenschaft, von der Hitler seit seinen ersten Anfängen beherrscht wurde,
trat erst allmählich eine nationale Leidenschaft von vergleichbarer Stärke
an die Seite, und auch in der Öffentlichkeit dauerte es ja noch einige Zeit,
bis nach den frühen Schriften von Ernst Jünger die ersten von einer
»positiven Kriegserfahrung« zeugenden Romane publiziert wurden. Daher
führe ich noch eine Stelle aus dem ersten Band von »Mein Kampf«
an, also von 1925, der man übermäßiges Pathos vorwerfen mag, aber
den Impuls genuiner Leidenschaft nicht absprechen sollte: »Mögen Jahrtausende
vergehen, so wird man nie von Heldentum reden und sagen dürfen, ohne des
deutschen Heeres des Weltkriegs zu gedenken. Dann wird aus dem Schleier der Vergangenheit
heraus die eiserne Front des grauen Stahlhelms sichtbar werden, nicht wankend
und nicht weichend, ein Mahnmal der Unsterblichkeit. Solange aber Deutsche leben,
werden sie bedenken, daß dies einst Söhne ihres Volkes waren.«
(Ebd., S. 182). (Ebd., 2006, S. 373).Mithin darf man sagen,
daß zu etwa den gleichen Zeitpunkten nach dem Krieg die beiden großen
radikalen Leidenschaften und Interpretationen der Epoche, die beide ihr festes
Fundament in der Realität hatten, voll ausgebildet waren: der antikapitalistische
Leninismus des Willens zum revolutionären Weg der Erringung einer ...Welteinheit
und der antibolschewistische Weg der Selbstbehauptung von partikularen Realitäten
wie »Deutschland« oder »Europa«. Jede der beiden Ideologien
war nicht ohne historisches Recht, aber jede setzte dieses ihr Recht absolut und
verfiel damit in ein Unrecht, das aus dem Abstand von fast hundert Jahren sehr
leicht als solches erkennbar ist. (Ebd., 2006, S. 373).Aber
schon durch Lenin wurde der Bolschewismus auf einen Weg gebracht, der die historischen
Realitäten weit weniger übersprang und für Freunde wie Feinde verwirrend
war. Im Jahre 1921 ermahnte er seine Nachfolger mit folgenden Worten: »Mache
Versammlungen, aber regiere ohne das geringste Schwanken, regiere mit festerer
Hand, als vor dir der Kapitalist regiert hat. Sonst wirst du ihn nicht besiegen.
Denke daran, daß die Regierung noch strenger, noch fester sein muß
als früher!« (Ders., Werke, Band 33, S. 125). (Ebd.,
2006, S. 373-374).Ein 1923 nach einem geglückten Münchener
Unternehmen in ganz Deutschland siegreicher Nationalsozialismus wäre ohne
Zweifel von der Übermacht seiner außen- und innenpolitischen Gegner
erdrückt worden, und für einen höchst hypothetischen späteren
Zeitpunkt konnte man so viel mit Bestimmtheit vorhersehen: Der Nationalsozialismus
hatte nach seinen nur allzu deutschen und damit verbreitete Abneigung hervorrufenden
Präzedentien nur wenig Chancen, die beste seiner Möglichkeiten friedlich
oder mittels kurzer Kriege zu verwirklichen, nämlich die Einigung Europas
im Zeichen der politischen Selbstbehauptung gegenüber den USA und der Sowjetunion.
Wenn Hitler seiner antibolschewistischen Leidenschaft freien Raum geben würde,
die Neutralität der »bürgerlichen« Staaten des Westens und
die Sympathie des antibolschewistischen Teils der sowjetischen Bevölkerung
gewänne, würde er nicht nur Europa einigen, sondern als europäisch-asiatische
die stärkste aller Weltmächte gründen; wenn aber die Trivialitäten
des staatlichen und nationalen Egoismus die Oberhand gewännen, würde
er eine katastrophale Niederlage erleiden. (Ebd., 2006, S. 374).Erst
ab 1925 kann ernsthaft von einer »nationalsozialistischen Broschürenliteratur«
die Rede sein. Als deren Anfang darf man eine Rede des noch nicht einmal zum Gauleiter
von Berlin ernannten Joseph Goebbels betrachten, die im Februar 1926 in Königsberg
gehalten und dann als Broschüre in Zwickau publiziert wurde. Der Titel mußte
in der damaligen Zeit als ungeheuer anmassend gelten, denn er lautete »Lenin
oder Hitler«. Das Ziel bestand darin, den Nationalsozialismus als revolutionäre
und linke Bewegung gleichgewichtig dem Bolschewismus entgegenzusetzen und damit
auch die beiden Hauptfiguren als Personifizierungen ihrer Bewegungen auf dieselbe
Ebene zu stellen. Das war nicht möglich, solange der Nationalsozialismus
als Erscheinungsform der Rechten gesehen wurde. Daher unterscheidet Goebbels den
Nationalsozialismus ebenso scharf von der Rechten wie von der Linken und sucht
ihn als erfolgreiche Synthese zu verstehen: Er sei »aus dem bürgerlichen
Verrat am nationalen und dem marxistischen Verrat am sozialistischen Gedanken
entstanden und sei mithin nichts anderes als die Synthese zwischen »wahrem
Sozialismus« und »wahrem Nationalismus«. Im Kern aber steht
die Bewegung nach Goebbels dem Bolschewismus viel näher als dem bürgerlichen
Nationalismus, denn er sieht als »die letzte Scheidung im Volk« diejenige
in »die Schaffenden und die Raffenden, die Hungernden und die Satten«,
und damit greift er auf die älteste Vorstellung der Linken zurück.
(Ebd., 2006, S. 374-375).Aber wie kommt es bei dieser inneren Nähe
der beiden Bewegungen zu der schroffen Feindschaft, die Goebbels nicht nur nicht
in Abrede stellt, sondern voll bejaht? Dafür ist nach seiner Auffassung nur
ein einziger Urheber verantwortlich, nämlich »der Jude«. Ihm
schreibt er eine solche Macht zu, daß er sowohl in den westlichen Demokratien,
die »zum Generalfeldzug gegen Sowjetrußland rüsten«, das
Heft in der Hand hat, wie auch, freilich »versteckt«, im russischen
Bolschewismus. Daher kennzeichnet er das Weimarer System als »bolschewistisch-jüdisch«,
obwohl er doch kurz zuvor den Bolschewismus ebenso wie den Nationalsozialismus
als »neue Idee« charakterisiert hatte. (Ebd., 2006, S. 375).Es
wäre also nur allzu gut begründet gewesen, wenn die Gegner des humpelnden
Nationalsozialisten aus der Rheinprovinz in seiner Broschüre einen weiteren
Beweis für die ideologische Abhängigkeit des Nationalsozialismus vom
Bolschewismus gesehen und von dem hilflosen Rückgriff auf eine mythologische
Gestalt, nämlich »den Juden« als das erzböse Verhängnis
der Welt, gesprochen hätten. Und selbst den Gedanken der »Welterlösung«
hatte Goebbels ja vom Bolschewismus übernommen: »Wir wollen durch Deutschland
die Welt erlösen und nicht durch die Welt Deutschland erlösen.«
(Joseph Goebbels, Lenin oder Hitler - Eine Rede vom 19.02.1926 im Opernhaus
in Königsberg in Preußen, 1926). (Ebd., 2006, S. 375).Auch
zwischen 1929 und Anfang 1933 standen die Streitschriften von Nationalsozialisten
gegen den Kommunismus nicht isoliert im intellektuellen Felde, und die kommunistische
Behauptung, sie seien weiter nichts als ein Teil der »bürgerlichen«
Polemik, konnte einleuchtend erscheinen. Aber was gemeinsam war, war sicherlich
keine bloße Polemik, sondern hatte einen festen Grund in der Realität.
Außerdem war dieses bürgerliche Lager tief gespalten, denn der linksliberale
oder linksbürgerliche Flügel legte bis in die maßgebenden Presseorgane
wie das »Berliner Tageblatt« und die »Frankfurter Zeitung«
ein überwiegend positives Interesse an dem »russischen Experiment«
an den Tag, das die Nationalsozialisten wiederum veranlaßte, gegen die »jüdische
Presse« zu Felde zu ziehen. (Ebd., 2006, S. 375).Als
Beispiel für die bürgerliche Affinität zum Nationalsozialismus
führe ich eine Schrift an, die 1930 in Gladbach-Rheydt publiziert wurde und
in den Umkreis des Mönchengladbacher »Volksvereins für das katholische
Deutschland« gehören dürfte: Professor Dr. Ludwig Berg: »Was
sagt Sowjetrußland von sich selbst? (1930). Auch hier läßt sich
die Neigung zur Mythologisierung und Diabolisierung des Gegners erkennen, die
bei den Kommunisten durch die »soziologische« und in Wahrheit höchst
parteiliche Denk- und Redeweise überdeckt wurde. Im Osten stehe der Feind,
schreibt Ludwig Berg, dämonisch sei sein Endziel, diabolisch seien die Methoden
und Mittel seines Kampfes. Aber im Großen und Ganzen werden doch vornehmlich
Aussagen sowjetischer Führer zitiert und tatsächliche Verhältnisse
beschrieben oder interpretiert. Von Steuergerechtigkeit könne in der Sowjetunion
keine Rede sein, denn der Bauer zahle auf 250 Rubel Einkommen ebenso viel Steuer
wie der Industriearbeiter auf 3800 Rubel, die Zahl der Analphabeten aber betrage
nach Aussagen des zuständigen Ministers 42 Prozent, während sie in Deutschland
unter einem Prozent liege. (**|**|**).
Die Zerstörung der Familie sei das unverhüllte Ziel der bolschewistischen
Politik, man trenne die Kinder möglichst früh von den Eltern, und das
sei ein Bestandteil der von Bucharin erhobenen Forderung, »alles auszurotten,
was an die alte bürgerliche Ordnung erinnert«. Es sei nur konsequent,
daß über Ehescheidungen innerhalb von Minuten entschieden werde. Die
Verfolgung der Religionen sei umfassend, und auch der englische Oberrabbiner Dr.
Hertz habe anklagende Worte gefunden. Nicht weniger als 1,5 Millionen Emigranten
befänden sich in den westlichen Ländern und die Zahl der Opfer des Roten
Terrors habe nach Professor Sarolea schon zu Anfang der 1920er Jahre an die zwei
Millionen Tote betragen. Daß die Kritik des abgefallenen Diplomaten Bessedowski
angeführt wird, ist nicht verwunderlich, aber Berg beruft sich auch auf den
französischen Kommunisten Paul Marion, der einige Jahre später zusammen
mit Jacques Doriot auf die Seite Hitlers übergehen sollte. (Ebd., 2006,
S. 375-376).Der Nationalsozialist Hans Schemm behandelt in erster
Linie das gleiche Thema, nämlich die völlige Zerstörung der überlieferten
Lebensverhältnisse und auch der religiösen Lebenswelten, die von den
Kommunisten ja ganz offen als Ziel proklamiert wurde, aber seine Ausdrucksweise
ist doch um vieles emotionaler und »katastrophischer« als diejenige
von Berg. In seiner Broschüre »Der Rote Krieg. Mutter oder Genossin?«
(1931) taucht gleich zu Anfang der Ausdruck »Seelenpest« auf,
die dabei sei, »Vernichtung und Chaos über die ganze Welt zu bringen«.
Daher sei es klug, jeden Tag wenigstens einmal das Notgebet zu sprechen: »Behüte
uns Gott vor Pestilenz, vor der Vernichtung durch das bolschewistische Tier.«
(Ebd., 2006, S. 376-377).Europa aber liege in tiefem Schlaf. Nach
Seite 16 finden sich Photographien von Lenin, Leviné, Bela Kun, Radek,
Trotzki und Jurowsky, dem » Mörder der Zarenfamilie«. Das erste
Glied von drei abschließenden Alternativen ist die »christliche Lebensbejahung«,
die der »barbarischen Vernichtung« entgegengesetzt wird, und auf das
Gegensatzpaar »Nationalsozialismus oder Bolschewismus« folgt »Hitler
oder Stalin«. (Ebd., 2006, S. 377).Eine realere und
festere Stütze erkennt ein »Reichsredner der NSDAP« namens Krischer
in der elementaren Abneigung der gesamten deutschen Bauernschaft gegenüber
dem Kommunismus, der ja schon in seiner Frühform bei Marx und Engels ausgesprochen
bauernfeindlich gewesen sei. Die Bauern ständen nach ihrer ganzen Art den
nationalsozialistischen Werten viel näher als die Arbeiter. Ganz ohne Wirkung
ist für ihn indessen der kommunistische Versuch, Klassengrenzen innerhalb
der Landbevölkerung sicht- und nutzbar zu machen, nicht geblieben, denn er
sieht sich zu der Feststellung gezwungen, die Behauptung sei falsch, daß
die KPD für die Kleinbauern und die NSDAP für die großen Landwirte
eintrete. Der Nationalsozialismus verteidige vielmehr »die Interessen aller
Schaffenden gegen die nur Raffenden«. Daher kann er die Titelfrage seiner
Streitschrift »Kommt die rote Scholle?« mit Nachdruck
verneinen (Ebd., 2006, S. 377).Der wichtigste Vorkämpfer
derjenigen, die darauf vertrauten, daß auch ein erheblicher Teil der deutschen
Arbeiter den kommunistischen Aufruf zum »Klassenkrieg« ablehnten,
war Reinhold Muchow, der Begründer der »Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation«.
In seiner Schrift »Nationalsozialismus und freie Gewerkschaften«
(1932) lehnt er sich stark an August Winnigs Begriff des »Arbeitertums«
an und gelangt nach der Ablehnung des politischen Massenstreiks zu der Forderung,
daß eine »Aristokratie von neuen Arbeiterführern der Hand und
des Kopfes« herangebildet werden müsse, die »alle Brücken
mit der alten liberalistisch-marxistischen Welt abbrechen werde und abbrechen
könne, weil diese »neuen Aristokraten der Arbeit aus den Massen der
heute entrechteten Proletarier emporsteigen und einen Staat gründen würden,
in dem alle Deutschen »freie Volksgenossen« sein würden.
(Ebd., 2006, S. 377).Die Erfolge Muchows und seiner Gesinnungsgenossen
unter den Industriearbeitern blieben begrenzt, waren aber erheblich genug, um
schon während der Weimarer Republik die Frage aufkommen zu lassen, ob die
NSDAP sich nicht vielleicht doch die dritte deutsche »Arbeiterpartei«
nennen dürfe; jedenfalls zählte sie nach ihrer Statistik schon vor Ende
1932 prozentual mehr Arbeiter in ihren Reihen, als die SPD an »Kleinbürgern«
aufzuweisen hatte. Freilich machte diese Statistik auf ihre Weise evident, wie
fragwürdig und unzureichend Begriffe wie »Arbeiter« oder »Kleinbürger«
waren. (Ebd., 2006, S. 377-378).Einer der ensthaftesten nationalsozialistischen
Versuche, sich mit dem Marxismus theoretisch auseinanderzusetzen, wurde 1932 von
Albert Krebs vorgelegt, der eine Zeitlang Gauleiter in Hamburg war und später
zum Kritiker Hitlers wurde. Schon der Titel »Vom Marxismus zum Sozialismus«
(1932) hat etwas Frappierendes an sich, denn er dreht das marxistische Selbstverständnis,
als »wissenschaftlicher Sozialismus« einem »utopischen Sozialismus«
zu folgen, direkt um. Nach dem Urteil von Krebs will ja die kommunistische Gesellschaftsordnung
»den Urzustand der kollektivistischen Dorfgemeinschaft auf der höheren
Ebene des Maschinenzeitalters« wieder erneuern, und das »Kommunistische
Manifest« konnte deshalb eine außerordentliche Wirkung entfalten,
weil es an einfachste Sehnsüchte der gewöhnlichen Menschen anknüpfte
und, wie man sagen könnte, archaisch und utopistisch zugleich war.
(Ebd., 2006, S. 378).Demgegenüber sieht Krebs in dem gewerkschaftlichen
Teil der Arbeiterbewegung positive Ansätze zu einer »organischen Volksgliederung«,
die ein Hauptmerkmal des »deutschen Sozialismus« sein werde. Eine
solche berufsständische Ordnung werde dem Staat seine autoritative Würde
zurückgeben und seine Funktion als »Fürsorgeschwester« zugunsten
einer kraftvollen Außenpolitik reduzieren. Er werde aber auf der anderen
Seite eine Überspitzung der Staatsautorität zur Despotie einer Person
oder einer Schicht verhindern. Von der weit über die Kommunisten hinaus verbreiteten
Kritik am Kapitalismus als solchen - ohne die Verknüpfung mit utopistischen
Zukunftsentwürfen - nimmt Krebs indessen nichts zurück: »Der Kapitalismus
aber frißt sich selbst auf, weil die in den großen Konzernen und Trusts
gezüchtete Bürokratie gar nicht mehr wagt, wirtschaftliche Notwendigkeiten
gegen den Gewinnwillen der ... Aktionäre durchzukämpfen.« (Albert
Krebs, Vom Marxismus zum Sozialismus, 1932, S. 18, 34). (Ebd., 2006,
S. 378).In diesem Rahmen wird der »Antisemitismus«
zwar nicht verleugnet, aber er nimmt eine untergeordnete Stellung ein .... Den
positiven Teil des zur Nation gelangenden Sozialismus beschreibt Krebs gleichnishaft
mit dem Gegensatz zwischen der rücksichtslosen Ausbeutung des Waldes durch
den Kapitalismus und dessen ehrfürchtigen Pflege durch den künftigen
»deutschen Sozialismus« in einer Weise, die man als »grünen
Nationalsozialiismus« kennzeichnen könnte. (Ebd., 2006, S. 378-379).Dietrich
Klagges blieb als häufig schreibender Autor in den »Nationalsozialistischen
Briefen« und später als braunschweigischer Ministerpräsident immer
in den orthodoxen Reihen, und seine Schrift »Kampf dem Marxismus«
(1932) ist in weit höherem Maße eine polemische Broschüre als
das Büchlein von Albert Krebs. Immerhin schreibt er dem Marxismus einen »auch
wertvolle Menschen mitreißenden Schwung« zu, und er macht die nur
indirekt polemische Bemerkung, die modernen Antriebsmaschinen könnten heute
in Kleinbetrieben ebenso rentabel verwendet werden wie in Großbetrieben
- so daß es nicht, wie im orthodoxen Marxismus, eine zwangsläufige
Entwicklung hin zum Großbetrieb geben müsse. Aber er macht sich rasch
die Hitler'sche Konzeption zu Eigen, daß die »Judenfrage« der
»Schlüssel« zum Verständnis der modernen Entwicklung sei,
und so gelangt er zu der Forderung, der Klassenkampf der Schaffenden müsse
immer ausschließlicher ein Rassenkampf gegen das Judentum werden. Zwar gebe
es auch nicht wenige »weiße Juden«, aber diese seien lediglich
ein Werkzeug der »schwarzen Juden«. Der »wahre Sozialismus«
unterscheide die »unmittelbare Arbeit« und die »Arbeit der Unternehmer«.
Dadurch werde dann in einem zweiten Schritt der gerechte Ausgleich zwischen Arbeit
und Eigentum gesichert. (Ebd., 2006, S. 379).Von einer überraschenden
inneren Annäherung der deutschen extremen Rechten an den Bolschewismus hatte
schon 1925 das eigenartige Buch des ehemaligen Stabschefs von Ludendorff, des
Obersten Max Bauer, Zeugnis gegeben, der bei einer Reise durch die Sowjetunion
den Eindruck gewonnen hatte, in diesem Land sei es um Ordnung und Disziplin besser
bestellt als ... in den »am Dirnentum zurückgehenden Westvölkern«,
deren Erbe einst das als Ganzes natürliche und gesunde russische Volk sein
werde. (Vgl. Max Bauer, Das Land der roten Zaren - Eindrücke und Erlebnisse,
1925). (Ebd., 2006, S. 379).Zum wichtigsten Sprecher einer
solchen »Ostorientierung« innerhalb der NSDAP machte sich bekanntlich
Otto Straßer, und seine Artikel in den »Nationalsozialistischen Briefen«
wie »Die Krise des Kommunismus« und »Der Sowjetstern geht unter«
wollen irn Sieg Stalins den Triumph russischer Nationalisten über Trotzki
und die marxistischen Internationalisten« erkennen. Aber wenn Straßer
auch »Internationalismus« und »jüdische Intellektuelle«
weitgehend gleichsetzt, ist er doch von einem Begriff wie »Pest in Rußland«
weit entfernt, und die Aufrichtigkeit seines »Sozialismus« läßt
sich nicht in Zweifel ziehen, auch wenn er nicht einmal einen größeren
Teil des linken Flügels dazu bewegen konnte, mit ihm zusammen die Partei
Hitlers zu verlassen. (Ebd., 2006, S. 379-380).Aber die verstörende
Tatsache der »Entkulakisierung« durch den »Nationalisten«
Stalin, die als die Vernichtung des agrarischen »Kleinbürgertums«
die zweite große Klassenvernichtung durch den Bolschewismus war, blieb in
Deutschland nicht unbemerkt, und die Dokumentation »Brüder in Not«
des Evangelischen Preßverbandes in Deutschland über den »Massentod
und die Verfolgung deutscher Glaubens- und Volksgenossen im Reich des Bolschewismus«
erschien zwar erst 1933, war aber keinesfalls ein Produkt nationalsozialistischer
Propaganda. Die abgedrucken Briefe von evangelischen deutschen Bauern sind voll
von erschütternden Wendungen: »O Bruder, ich bitte um Jesu willen,
bitte, bitte, helfen Sie uns, daß wir nicht sterben. .... Es sterben viele,
ohne Sarg werden sie ins Grab gelegt ..., aber noch nicht ein Wort Gottes wird
gesprochen, da wird die Internationale gesungen.« Zwar wird ausdrücklich
herausgestellt, daß von allen Gegenden, d.h. den USA, Deutschland und Holland,
Hilfe herbeiströme, aber das sei auch die einzige Hoffnung. »Wenn nicht,
dann müssen wir hier alle umkommen.« Die Geistlichen seien ohne Anspruch
auf Wohnfläche und »auf die Stufe von rechtlosen Bettlern herabgedrückt.«
Im Kommentar heißt es, das deutsche Volkstum evangelisch-lutherischen Bekenntnisses
befinde sich im schwersten Kampf mit dem Bolschewismus ..., die religionsfeindliche
Vergewaltigung solle es »im innersten Kern seiner Seele treffen und vernichten«.
(Ebd., 2006, S. 380).Aber die evangelischen deutschen Bauern waren
nur ein Teil der westlichen Christen, und die Hilfe aus Holland und den USA galt
vornehmlich den Mennoniten. Die Millionen der russischen Kulaken hatten keinen
Zugang zu Glaubens- und Schicksalsgenossen im Westen. Wenn man auch ihre Klagen
und Tränen hätte aufzeichnen und dokumentieren können, wäre
ein Riesenbuch von Verfolgung, Elend und Tod entstanden. Es war 1932 nur allzu
evident, daß sich in dem großen russischen Staat ein Phänomen
entfaltet hatte, dessengleichen es in der Welt noch nie gegeben hatte. Die Vermutung
war naheliegend, die in Deutschland existierenden Parteien mit ihren Wurzeln im
19. Jahrhundert seien unfähig, auf das Ungeheuerliche eine angemessene Antwort
zu geben. Hier lag einer der Gründe, weshalb die »neue« Massenpartei,
der Nationalsozialismus, so stark war und so viele Menschen überzeugte.
(Ebd., 2006, S. 380).Andererseits steckte in den nationalsozialistischen
Empfindungen und Konzeptionen so viel von denjenigen Empfindungen und Konzeptionen,
die das ältere Phänomen des Kommunismus kennzeichneten, daß unmöglich
jene Totalverdammung und bloß negative Interpretation als angemessen gelten
durfte, die im Münchener Flügel der NSDAP vorherrschte. Vielleicht hatte
der genuine, der einst in Deutschland geborene Sozialismus bloß wegen der
vormodernen Verhältnisse in Rußland Deformationen erlitten, und vielleicht
würde er eines Tages wieder im alten Glanz erstrahlen. Nur die Überheblichkeit
der Nachgeborenen kann aus der Kenntnis des weiteren Geschichtsverlaufs den Zeitgenossen,
die mindestens in Deutschland sich einer welthistorisch präzedenzlosen Situation
ausgesetzt sahen, harte Anklagen ins Gesicht schleudern. Und nicht zuletzt ist
das Schwanken respektabel, das nicht ganz wenige Kommunisten zu den Nationalsozialisten
führte und einige Nationalsozialisten zu den Kommunisten. Dabei dürfte
der Eindruck schwerlich täuschen, daß in den letzten Monaten vor dem
30. Januar 1933 der Weg vom Nationalsozialismus zum Kommunismus häufiger
gewählt wurde als der umgekehrte. (Ebd., 2006, S. 380-381).Es
kann keinen Zweifel geben, daß die oft wiederholte Behauptung mindestens
ansatzweise richtig ist, ganze SA-Stürme hätten zumal in Berlin zum
guten Teil aus ehemaligen Kommunisten bestanden. Immerhin ein bekannter Kommunist,
Berthold Karwahne, schloß sich den Nationalsozialisten an und wurde Reichstagsabgeordneter.
In der nationalsozialistischen Presse fanden sich nicht selten Berichte von kommunistischen
Arbeitern, die voller Hoffnung in die Sowjetunion ausgewandert waren und nun tief
enttäuscht zurückkehrten. Als Broschüre hat einer dieser Berichte
den Titel »Als Kommunist nach Sowjet-Rußland; als Nationalsozialist
zurück«. Der Verfasser hieß Jakob Berlon und rühmte
sich, einst an den Ruhrkämpfen beteiligt gewesen zu sein. Aber die bittersten
Erfahrungen hätten ihn belehrt, daß sich in Deutschland viel besser
und freier leben lasse als in Rußland und daß es notwendig sei, sich
in diejenige Partei einzureihen, die am entschiedensten gegen die Übertragung
dieser Verhältnisse auf Deutschland kämpfe. So lautet die Schlußwendung:
»Auch Du, deutscher Arbeiter erwache. .... Tod dem Marxismus! Es lebe der
nationale Sozialismus! Heil Hitler!« (Ebd., 2006, S. 381).Doch
die Authentizität solcher Berichte konnte in Frage gestellt werden, und sie
wurde von Kommunisten nicht selten angezweifelt. Aber daß eine ganze Gruppe
die kommunistische Führung verlassen hätte und zu den Nationalsozialisten
übergegangen wäre, wurde nie zu einer Realität. Dagegen waren Männer
wie Bodo Uhse, Bruno von Salomon und Beppo Römer in der nationalsozialistischen
Partei oder in deren Umgebung recht bekannt, und sie gingen unter großer
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu den Kommunisten über. So gab es
kein Analogon zu der Broschüre »Los von Hitler«, die gegen
Ende 1932 vom »Kampfbund gegen den Faschismus« herausgegeben wurden
und in der der ehemalige Leiter der SA-Führerschule Gau Brandenburg, W. Korn,
und der ehemalige Gaupropagandaleiter der NSDAP Hessen, K. Kees, zu Wort kamen.
Ihre Kritik an Hitler bezieht sich vornehmlich auf dessen »antirevolutionären«
Kurs, innerhalb dessen sogar eine Koalition mit dem Zentrum ins Auge gefaßt
werde, und das sei ein Kurs, der allem ins Gesicht schlage, was Hitler, Straßer
und Goebbels ihren Anhängern seit Jahren erzählt hätten. Der groß
herausgestellte Radikalismus der NSDAP sei ein bloßer Scheinradikalismus,
der schlecht genug die Zusammenarbeit der von den »Trustkönigen«
gekauften Partei mit ihren Auftraggebern verdecken solle. Goebbels und Hitler
schrien zwar »Die Juden sind schuld«, aber noch kein jüdischer
Bankier sei von SA-Leuten auch nur belästigt worden. (Ebd., 2006, S.
381-382).Offenbar hatte die Geradlinigkeit der KPD mit ihrer nie
veränderten Feindschaft gegen die »ausbeuterische« Unternehmer-
und Marktwirtschaft ... ihre Anziehungskraft für »die Arbeiterklasse«
und erhebliche Teile der Intellektuellen trotz aller »Hetze« gegen
Sowjetrußland nicht verloren. Für Hitler war es viel schwieriger, die
Vielfalt der Tendenzen, die sich in Entsprechung zur »pluralistischen«
Natur des Liberalen
Systems in seiner Partei zusammengefunden hatten, zu bündeln und zusammenzuhalten.
Am Ende des Überblicks über die Broschürenliteratur drängt
sich die Frage auf, ob Hitler nicht auch ein Getriebener war, der einen Radikalismus
eigener Art entwickeln mußte, wenn er sich gegenüber einem so mächtigen
Feinde behaupten wollte, einen »antisemitischen« Radikalismus freilich,
durch den er sich schon seine erste Begegnung mit der marxistischen Arbeiterbewegung
verstehbar gemacht hatte, so daß er als Handlungsanleitung dienen konnte.
(Ebd., 2006, S. 382).
Anhang: Parteien in der Zeit der Weimarer
Republik und im ersten Jahr des Dritten Reiches (von Hubert
Brune)
-
Nationalversammlung und Reichstag (Sitzverteilung in Prozent) - |
| KPD
(einschließlich USPD)** | SPD | Zentrum | BVP | Sonstige
Parteien | DDP
(ab 1930 DStP)** | DVP** | DNVP** | NSDAP |
19.01.1919 |
5,23 | 38,72 | 21,62 | - |
1,66 | 17,81 |
4,51 | 10,45 | - |
06.06.1920 | 19,17 | 22,22 | 13,94 | 4,58 |
1,96 | 8,50 | 14,16 | 15,47 | - |
04.05.1924 | 13,14 | 21,19 | 13,77 | 3,39 |
6,14 | 5,93 |
9,53 | 20,13 |
6,78 | 07.12.1924 |
9,13 | 26,58 | 14,00 | 3,85 |
5,88 | 6,50 | 10,34 | 20,89 |
2,84 | 20.05.1928 | 11,00 | 31,16 | 12,63 | 3,26 | 10,37 |
5,09 | 9,16 | 14,87 |
2,44 | 14.09.1930 | 13,34 | 24,78 | 11,79 | 3,29 | 12,48 |
3,47 | 5,20 |
7,11 | 18,54 | 31.07.1932 | 14,64 | 21,88 | 12,34 | 3,62 |
1,81 | 0,66 |
1,15 | 6,09 | 37,83 | 06.11.1932 | 17,12 | 20,72 | 11,99 | 3,42 |
2,05 | 0,34 |
1,88 | 8,90 | 33,56 | 05.03.1933 | 12,52 | 18,55 | 11,28 | 2,94 |
1,08 | 0,77 |
0,31 | 8,04 | 44,51 | -
Gewinn und Verlust gegenüber der jeweils vorherigen Wahl (gewonnene und verlorene
Sitze in Prozent) - |
| KPD
(einschließlich USPD)** | SPD | Zentrum | BVP | Sonstige
Parteien | DDP
(ab 1930 DStP)** | DVP** | DNVP** | NSDAP | 12.01.1912 | Wahlen
vor dem Ende des 1. Weltkrieges bleiben unberücksichtigt, weil hier ja nur
Wahlen der Weimarer Republik behandelt werden sollen! | 19.01.1919 |
+5,23** | 11,02
| 1,28 | | |
+7,21** |
6,79** |
3,85** | | 06.06.1920 | +13,94
| 16,50 | 7,68 | +4,58 | +0,30 | 9,31 | +9,65 | +5,02 | | 04.05.1924 | 6,03 | 1,03 | 0,17 | 1,19 | +4,18 | 2,57 | 4,63 | +4,66 | +6,78 | 07.12.1924 | 4,01 | +5,39 | +0,23 | +0,46 | 0,26 | +0,57 | +0,41 | +0,76 | 3,94 | 20.05.1928 | +1,87 | +4,58 | 1,37 | 0,59 | +4,49 | 1,41 | 1,18 | 6,02 | 0,40 | 14.09.1930 | +2,34 | 6,38 | 0,84 | +0,03 | +2,11 | 1,62 | 3,96 | 7,76 | +16,10
| 31.07.1932 | +1,30 | 2,90 | +0,55 | +0,33 | 10,67
| 2,81 | 4,05 | 1,02 | +19,29
| 06.11.1932 | +2,48 | 1,16 | 0,35 | 0,20 | +0,24 | 0,32 | +0,71 | +2,81 | 4,27 | 05.03.1933 | 4,60 | 2,17 | 0,71 | 0,48 | 0,97 | +0,43 | 1,57 | 0,86 | +10,95
|
National-versammlung, 19.01.1919 | Wahl
zum Reichstag, 06.06.1920 | Wahl zum
Reichstag, 04.05.1924 | Wahl zum Reichstag,
07.12.1924 | Wahl zum Reichstag, 20.05.1928 | Wahl
zum Reichstag, 14.09.1930 | Wahl zum
Reichstag, 31.07.1932 | Wahl zum Reichstag,
06.11.1932 | Wahl zum Reichstag, 05.03.1933 |
| | | | | | | | |
KPD
(einschließlich USPD) | SPD | Zentrum | BVP | Sonstige
Parteien | DDP
(ab 1930: DStP) | DVP | DNVP | NSDAP |
KPD
(bis zum 20.05.1928 einschließlich USPD) | SPD | Zentrum | BVP | Sonstige
Parteien | DDP
(ab 1930: DStP) | DVP | DNVP | NSDAP |
| Diese
Graphik wird im Internet häufig falsch interpretiert. Darum habe ich einen
Text in die Graphik geschrieben, um zu verdeutlichen, daß es sich nicht
einfach um den graphischen Linien entsprechende Entwicklungen handelt, sondern
um Tendenzen, die sich aus den Daten der Wahlen ergeben. Die diese Daten verbindenden
Linien stellen keine echten historischen Entwicklungen, sondern allenfalls Tendenzen
dar. Vorschnelles Deuten bringt nichts außer der Bestätigung der sowieso
schon anwesenden Vorurteile. Wer Internetianer sein will, muß erst einmal
ein guter Interpret sein können.Zitate:
Hubert Brune, 2007 (zuletzt aktualisiert: 2009). 
Anmerkungen:
Das Liberale System ist laut Ernst
Nolte u.a. dadurch charakterisiert, daß zu ihm wie selbstverständlich
auch der Links-Sozialismus (z.B. Kommunismus, Marximus u.ä.) und der Rechts-Sozialismus
(z.B. Faschismus, Nationalsozialismus [Radikalfaschismus, so Nolte]
u.ä.) gehören. Erst viel später wurde mir der Begriff
des »Liberalen Systems« geläufíg, welches in seinem Ursprung
das »europäische System« des Neben- und Miteinanders geschichtlicher
Kräfte ist, die zunächst den Gegner vernichten wollen und sich doch
damit begnügen müssen, ihn zu schwächen und zurückzudrängen,
um dann an seiner Seite einen Platz einzunehmen, der den eigenen Erwartungen nicht
entsprach, der aber das Ganze reicher und vielfältiger sein läßt,
als der Teil es mit seinem Abolutheitsanspruch je hätte sein können.
So erging es dem Protestantismus, der Aufklärung, dem Positivismus und der
Lebensphilosophie, und schon in der Einheit des »mittelalterlichen«
Katholizismus gab es eine Spaltung oder - besser - eine Differenzierung zwischen
Staat und Kirche, zwischen Monarchie und Adel, zwischen Bürgerstädten
und Landbevölkerung. Bis in die jüngste Zeit ist keiner dieser Faktoren
völlig untergegangen .... (Ernst Nolte, Der kausale Nexus, 2002,
S. 340-341 **).
Vgl. auch die im Liberalen System enthaltenen Liberalismus
und Liberismus.Der
Begriff Liberismus sucht ein bestimmtes Entwicklungsstadium
dessen zu fassen, was ich das »Liberale
System« genannte habe. »Liberismus« ist ein Entwicklungsmoment
dieser vielpoligen Gesellschaft, mit dem der Liberalismus in gewisser Weise totalitär
wird. Aber der totalitäre Liberalismus weist grundsätzlich andere Merkmale
auf als andere Totalitarismen: er ist hedonistischer Individualismus und damit
die Verneinung des Begriffs der Pflicht. Insofern ist der liberale Totalitarismus
von präzendenzloser Art. (Ernst Nolte, in: JF,
03.07.1998 **).
Der Liberalismus ist ja schon von seinem Anfang an
verknüpft mit dem Glauben an den Individualismus und tendiert zum Anarchismus;
darum verwundert es nicht, daß er, indem er immer totalitärer wird
- als Liberismus, so Nolte -, den endgültigen Untergang der Gemeinschaft
bedeutet. Darüber hinaus ist der Liberalismus der Grund für sein eigenes
Verschwinden, denn er muß ja gemäß seines Selbstverständnisses
auch tolerant gegenüber denjenigen sein, die ihn abschaffen. François
Noël Babeuf
(1760-1797, hingerichtet), genannt Gracchus, entwickelte sozialrevolutionäre
Ideen einer »Republik der Gleichen«, in der das Privateigentum abgeschafft
werden sollte. Nach Fehlschlag seines gegen die Direktorialregierung gerichteten
Umsturzversuchs im Mai 1796 wurde er 1797 mit einigen Mitverschwörern zum
Tode verurteilt und hingerichtet. Babeufs Ideen wirkten auf den europäischen
Kommunismus.Vorläufer der DDP (Deutsche
Demokratische Partei) war bis 1918 die FVP (Fortschrittliche Volkspartei), die
1910 aus der Fusion mit der Freisinnigen Volkspartei (FVP), der Deutschen Freisinnigen
Partei (DFP; von 1884 bis 1893; von 1893 bis 1910: Freisinnige Vereinigung) und
der Deutschen Volkspartei (DVP; 1868 geründet) hervorging. Bei der Reichstagswahl
vom 12.01.1912 erreichte die FVP 12,3% der Wählerstimmen und 10,6% der Sitze
im Reichstag.Vorläufer der DVP war
die NLP (Nationalliberale Partei), zum Teil aber auch der rechte Flügel der
FVP (Fortschrittliche Volkspartei), die 1910 aus Fusion mit der Freisinnigen Volkspartei
(FVP), der Deutschen Freisinnigen Partei (DFP; von 1884 bis 1893; von 1893 bis
1910: Freisinnige Vereinigung) und der Deutschen Volkspartei (DVP; 1868 geründet)
hervorging. Bei der Reichstagswahl vom 12.01.1912 erreichte die NLP 13,6% der
Wählerstimmen und 11,3% der Sitze im Reichstag.Vorläufer
der DNVP war die Deutschkonservative Partei, dazu auch die Freikonservative Partei,
die sich auf der Reichsebene Deutsche Reichspartei (DRP) nannte, die Deutsche
Vaterlandspartei, der Alldeutsche Verband, die Christlichsozialen, die Deutschvölkischen
und verschiedene sehr kleine konservative Parteien. Bei der Reichstagswahl vom
12.01.1912 erreichte die Deutschkonservative Partei 8,5% der Wählerstimmen
und 10,8% der Sitze im Reichstag, die Deutsche Reichspartei 3,0% der Wählerstimmen
und 3,5% der Sitze im Reichstag., während die anderen Parteien nur sehr geringe
Erfolge erzielen konnten.Vorläufer
von USPD und KPD war die SPD. Die Gegner der Zustimmung zu den Kriegskrediten
wurden aus der SPD ausgeschlossen und bildeten im März 1916 die Sozialdemokratische
Arbeitsgemeinschaft. Vom 6. bis 8. April 1917 konstituierte sich dann in Gotha
die USPD (Unabhägige Sozialdemokratische Pratei Deutschlands). Unter
Vorsitz von Hugo Haase (stimmte 1915 gegen die Kriegskredite, leitete seit März
1916 die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft und seit Ostern 1917 die USPD)
und Wilhelm Dittmann (stimmte 1915 gegen die Kriegskredite, wurde im März
1916 Mitbegründer und Vorstandsmitglied der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft
und im April 1917 Mitbegründer und Vorstandsmitglied der USPD) wurde sie
eine Massenpartei. Nach der Novemberrevolution 1918 war sie bis Jahresende neben
der SPD im Rat der Volksbeauftragten vertreten. Auf dem Parteitag in Halle (a.d.
Saale) im Oktober 1920 kam es zur Spaltung der USPD: Die linke Mehrheit der Delegierten
beschloß die Vereinigung mit der KPD, die sich auf einem Parteitag vom 30.12.1918
bis 01.01.1919 durch Zusammenschluß von Spartakusbund (war von Anfang an
gegen die Kriegskredite; nannte sich zunächst Spartakusgruppe und gab die
Spartakusbriefe heraus) und verschiedenen Linksradikalen (waren ebenfalls
von Anfang an gegen die Kriegskredite) gegründet hatte; die rechte Minderheit
der Delegierten vereinigte sich im September 1922 auf dem Nürnberger Parteitag
wieder mit der SPD.August Winnig,
Vom Proletariat zum Arbeitertum (1930). Winnig war wie so viele sozialdemokratische
Gewerkschaftler ein vom Handwerk herkommender, sich und seinesgleichen nicht grundlos
»im Aufstieg« sehender Arbeiter, der starke Abneigung gegen die intellektuellen
Theoretiker der Arbeiterbewegung empfand, welche er großenteils als »jüdische
Eindringlinge« betrachtete. Nach dem (1.) Weltkrieg
spielte er als Oberpräsident und »Generalbevollmächtigter des
Reiches für die baltischen Lande« in Ostpreußen eine bedeutende
Rolle im Kampf gegen den »Bolschewismus« und für die deutschen
Freikorps in Baltikum; weil er sich 1920 dem Kapp-Putsch anschloß, verlor
er sein Amt, aber vorher wurde sein Verhalten von den sozialdemokratischen Redakteur
Viktor Schiff mit der Feststellung verteidigt, daß in Ostpreußen sogar
eine Anzahl führender Unabhängiger die Bildung von Freikorps zum Schutz
der Grenzen befürworteten. (Vgl. Der letzte Damm gegen den Bolschewismus,
in: Berliner Tageblatt, 20.03.1919). (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik,
2006, Anmerkung 9, S. 387). Diese
Rede (**) enthält eine der
wenigen, aber auch in späteren Zeiten nicht völlig fehlenden Bezugnahmen
auf den Marxismus, die man »positiv« nennen kann: es sei eine »entsetzliche
Wahrheit«, daß 40 Prozent der deutschen Gersamtbevölkerung marxistisch-internationalistisch
gesinnt seien und daß sich darunter »die aktivsten, tatkräftigsten
Elemente« befänden. Ähnlich anerkennende Worte für die Faschisten
sind in dieser Zeit auch bei hervorragenden Repräsentanten der Kommunistischen
Internationale wie Clara Zetkin und Karl Radek zu finden. (Vgl. Ernst Nolte
[Hrsg.], Theorien
über den Faschismus, 1967, S. 22ff.). (Ernst Nolte, Die
Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 36, S. 391). Hitler
war ein aufrichtiger Verehrer der griechischen und insbesondere der spartanischen
Antike; seine rühmende Hervorhebung der deutschen Kaiser des mittelalterlichen
Reiches war nicht ganz so unzweideutig. (Ernst Nolte, Die Weimarer
Republik, 2006, Anmerkung 58, S. 398).Der
ehemalige Gauleiter von Halle-Merseburg, Rudolf Jordan, erzählt in seinen
Erinnerungen, nach einer Parteiveranstaltung in Halle sei Hitler bei der Rückfahrt
in ernste Gefahr geraten, da die Polizei von Leuten der »Antifa« für
einen Augenblick von dessen Wagen fortgedrängt worden sei: »Immer noch
stumm verbissen stiegen wir aus dem Wagen. Auch in Hitler pochte noch die Erregung.
Er sagte mir mit drohendem Blick: Zwischen diesem Mordgesindel und uns gibt
es keine Verständigung - und keinen Pardon. Zwischen ihnen und uns fällt
die Entscheidung.« (Rudolf Jordan, Erlebt und erlitten -
Weg eines Gauleiters von München bis Moskau, 1971, S. 49). (Ernst
Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 61, S. 410). Siehe
oben, S. 198 (**),
199-202 (**);
vgl. Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung - 1. Teil: Deutschland und die
weltgeschichtliche Entwicklung, 1933; besonders S. 10-18; Die weiße
Weltrevolution, S. 58-146; Die farbige Weltrevolution, S. 147-165.
Die Kritik am Nationalsozialismus kommt bei aller grundsätzlichen Zustimmung
nicht nur im Vorwort durch die abschätzigen Bemerkungen über die lärmenden
Feiern zum Vorschein, sondern vor allem in der Kritik an dem faschistischen Regime
in Italien - nicht am »Caesar« Mussolini: »Man sah eine mögliche
Form, den Bolschewismus zu bekämpfen. Aber diese Form ist in der Nachahmung
des Feindes entstanden und deshalb voller Gefahren: Die Revolution von unten,
zum guten Teil von Untermenschen gemacht und mitgemacht, die bewaffnete Parteimiliz
- im Rom Cäsars durch die Banden von Clodius und Milo vertreten -, die Neigung,
die geistige und wirtschaftliche Führerarbeit der ausführenden Arbeit
unterzuordnen, weil man sie nicht versteht, das Eigentum der anderen gering zu
achten, Nation und Masse zu verwechseln, mit einem Wort: die sozialistische Ideologie
des vorigen Jahrhunderts. Das alles gehört zur Vergangenheit.« (Ebd.;
S. 134). (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 68,
S. 410-411). Vgl. Oswald Spengler,
Briefe, a.a.O., S. 657. Hierzu ist die Äußerung von Spenglers
Schwester Hilde Kornhardt (vor ihrer Heirat: Hildegard Spengler) zur Juliwahl
1932 (**) heranzuziehen:
»Wir wählen Nazisozi« (Anton M. Koktanek, Oswald Spengler
in seiner Zeit, 1968, S. 428). Sie begründet diese Entscheidung durch
den Satz: »Im Gedankenhintergrund vieler lauerte eben die Furcht vor dem
Wachstum des Kommunismus in der Welt«. (Ernst Nolte, Die Weimarer
Republik, 2006, Anmerkung 69, S. 411). Spenglers
Ablehnung des Bolschewismus ist überall ganz eindeutig. In »Preußentum
und Sozialismus« heißt es, dem Bolschewismus liege »der Urhaß
der Apokalypse gegen die antike Kultur und etwas von der finsteren Erbitterung
der Makkabäerzeit« zugrunde (vgl. Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, in: Ders., Politische Schriften, S. 100), die
Zahl der Opfer beziffert Spengler ganz wie Hitler mit »dreißig Millionen«
(Oswald Spengler, Neubau des Deutschen Reiches, 1924, in: Ders., Politische
Schriften, S. 203f.). In »Preußentum und Sozialismus« ist
von Marx »jüdischem Instinkt« die Rede (vgl. Oswald Spengler,
Preußentum und Materialismus, 1919, in: Ders., Politische Schriften,
S. 78) .... Andererseits ist seine Ablehnung des Vulgärantisemitismus eng
mit einer geradezu »antideutschen« Wendung verknüpft. Der deutsche
Ruf »Juden hinaus!« sei flach und beschränkt; er verkenne völlig
die Tatsache, daß die gefährlichsten antideutschen Züge, der Hang
zu internationaler und pazifistischer Schwärmerei, der Haß gegen Autorität
und Machterfolg, tief gerade im deutschen Wesen begründet sei. (vgl. Oswald
Spengler, Neubau des Deutschen Reiches, 1924, in: Ders., Politische
Schriften, S. 203, Anmerkung 1). (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik,
2006, Anmerkung 71, S. 411). Anton
M. Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, 1968, S. 458. (Ernst
Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 72, S. 411). Carl
Schmitt, Der Führer schützt das Recht (in: DJZ, 1. August 1934).
Es wird indessen häufig übersehen, daß dieser Aufsatz nicht
bloß das Vorgehen Hitlers rechtfertigte, sondern in der Sache die strenge
Bestrafung derjenigen forderte, die auf irreguläre Weise außerhalb
der von Hitler genannten drei Tage Morde begangen hatten. (Ernst Nolte,
Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 86, S. 412).
Beispielsweise: Eduard Stadler, Die
Weltkriegsrevolution - Vorträge, 1920; Max Hölz, Vom
weißen Kreuz zur roten Fahne - Jugendkampf und Zuchthauserlebnisse,
1929; Carl Severing, Mein Lebensweg, 1950; Otto Meißner,
Staatssekretär unter Ebert, Hindenburg, Hitler - Der Schicksalsweg
des deutschen Volkes, wie ich ihn erlebte, 1950. (Ernst Nolte,
Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 114, S. 414).
»Dem
Handstreich der englischen Staatsgegner folgte mit Notwendigkeit im November 1918
der Aufstand des marxistischen Proletariats. Der Schauplatz wurde aus dem Sitzungssaal
auf die Straße verlegt. Gedeckt durch die Meuterei der »Heimatarmee«
brachen die Leser der radikalen Presse los, von den klügeren Führern
verlassen, die nur noch halb von ihrer Sache überzeugt waren. Auf die Revolution
der Dummheit folgte die der Gemeinheit. Es war wieder nicht das Volk, nicht einmal
die sozialistisch geschulte Masse; es war das Pack mit dem Literatengeschmeiß
an der Spitze, das in Aktion trat. Der echte Sozialismus stand im letzten Ringen
an der Front oder lag in den Massengräbern von halb Europa, der, welcher
im August 1914 aufgestanden war und den man hier verriet. Es war die sinnloseste
Tat der deutschen Geschichte. Es wird schwer sein, in der Geschichte andrer Völker
Ähnliches zu finden. .... Wie flach, wie flau, wie wenig überzeugt war
das alles! Wo man Helden erwartete, fand man befreite Sträflinge, Literaten,
Deserteure, die brüllend und stehlend, von ihrer Wichtigkeit und dem Mangel
an Gefahr trunken, umherzogen, absetzten, regierten, prügelten, dichteten.
.... Die unbeschreibliche Häßlichkeit der Novembertage ist ohne Beispiel.
kein mächtiger Augenblick, nichts Begeisterndes; kein großer Mann,
kein bleibendes Wirt, kein küner Frevel, nur Kleinliches, Ekel, Albernheiten.«
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, in: Politische
Schriften, S. 9-11). (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik,
2006, Anmerkung 115, S. 414). Ich
wiederhole: Rasse, die man hat, nicht eine Rasse, zu der man gehört. Das
eine ist Ethos, das andere - Zoologie. (Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung,
1933, S. 161).Vgl. Heinrich August
Winkler, Weimar 1919-1933, 1993, S. 122ff., 369, 390, 399, 489, 535, 559,
613. Es ist anerkennenswert, daß Winkler das sonst auch in der wissenschaftlichen
Literatur sehr gebräuchliche Schimpfwort »Nazis« nur in Zitaten
verwendet. Es ist leicht vorstellbar, welche Beunruhigung, ja Erregung entstehen
würde, wenn in einem Buch über die Weimarer Republik durchgängig
nur von »Kozis« oder auch bloß »Sozis« gesprochen
würde. (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung
135, S. 415). Daß auf »Der
europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus«
nicht Bezug genommen wird, fällt angesichts des weitgehenden Boykott-Konsenses
in der deutschen historischen Literatur seit der »Wende« kaum noch
auf. (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 136,
S. 416). Nicht zufällig
findet sich dieser text unter der Überscrhift Marxismus als Zerstörer
der Kultur: Ich war vom schwächlichen Weltbürger zum fanatischen
Antisemiten geworden. Nur noch einmal - es war das letztemal - kamen mir in tiefster
Beklommenheit ängstlich drückende Gedanken. - Als ich so durch lange
Perioden menschlicher Geschichte das Wirken des jüdischen Volkes forschend
betrachtete, stieg mir plötzlich die bange Frage auf, ob nicht doch vielleicht
das unerforschliche Schicksal aus Gründen, die uns armseligen Menschen unbekannt,
den Endsieg dieses kleinen Volkes in ewig unabänderlichem Beschlusse wünsche?
Sollte diesem Volke, das ewig nur dieser Erde lebt, die Erde als Belohnung zugesprochen
sein? Haben wir ein objektives Recht zum Kampf für unsere Selbsterhaltung,
oder ist auch dies nur subjektiv in uns begründet? Indem ich mich in die
Lehre des Marxismmus vertiefte und so das Wirken des jüdischen Volkes in
ruhiger Klarheit einer Betrachtung unterzog, gab mir das Schicksal selber seine
Antwort. - Die jüdische Lehre des Marxismus lehnt das aristokratische Prinzip
der Natur ab und setzt an Stelle des ewigen Vorrechtes der Kraft und Stärke
die Masse an Zahl und ihr totes Gewicht. Sie leugnet so im Menschen den Wert der
Person, bestreitet die Bedeutung von Volkstum und Rasse und entzieht der Menschheit
damit die Voraussetzung ihres Bestehens und ihrer Kultur. Sie würde als Grundlage
des Universums zum Ende jeder gedanklich für Menschen faßlichen Ordnung
führen. Und so wie in diesem größten erkennbaren Organismus nur
Chaos das Ergebnis der Anwendung eines solchen Gesetzes sein könnte, so auf
der Erde für die Bewohner dieses Sterns nur ihr eigener Untergang. - Siegt
der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker
dieser Welt, dann wird seine Krone der Totenkranz der Menschheit sein, und dann
wird dieser Planet wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther
ziehen. - Die ewige Natur rächt unerbittlich die Übertretung ihrer Gebote.
- So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln:
Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.
(Adolf Hitler, Mein Kampf, 1925-1926, S. 69-70). Es
ist heute weitgehend vergessen, daß sich nach dem 1. Weltkrieg eine internationale
revisionistische Schule in der Geschichtswissenschaft bildete, welche die im Versailler
Vertrag (Diktat
!) postulierte Alleinschuld Deutschlands und Österreich-Ungarns widerlegte
und stattdesen Serbien, Rußland und Frankreich die Hauptschuld am 1. Weltkrieg
zuwies! Zu dieser internationalen revisionsitischen Schule, die Anfang der 1920er
Jahre die Hauptschuld am 1. Weltkrieg Serbien, Rußland und Frankreich zuwies
und die im Versailler
Diktat postulierte Alleinschuld Deutschlands und Österreich-Ungarns widerlegte,
gehörten neben deutschen und französischen Historikern u.a. auch zwei
us-amerikanische Historiker, nämlich Harry Elmer Barnes und Sidney Bradshaw
Fay. Ihre Bücher wurden sofort ins Deutsche übersetzt und zählen
bis heute zu den besten, die über den Beginn des 1. Weltkrieges geschrieben
worden sind. Die revisionistische Geschichtschreibung erwies sich dabei der ihrer
Gegner als weit überlegen - sie bezog die umfangreichen Dokument-Veröffentlichungen
der 1920er Jahre mit ein und berücksichtigte konsequent die Politik aller
damals beteilgten Mächte. Das Odium der
Schuld hat Deutschland ... in einem ... diktierten Frieden auf sich nehmen müssen.
Dafür hat Europa ein zweites Mal bitter bezahlt. Nur Deutschland hätte
die Kraft und die Fähigkeit gehabt, die sich in den letzten beiden Vorkriegsjahrzehnten
anbahnende, über die Grenzen der Nationalstaaten hinausreichende europäische
Zusammenarbeit von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik auszubauen und voranzutreiben,
womit der alte Kontinent sich unter Bewahrung seiner dominierenden Stellung gegenüber
den neu entstehenden Zentren in Amerika und Asien hätte erfolgreich behaupten
können. (Ehrhardt Bödecker, Die europäische Tragödie,
1998, S. 23-24). Weil auch dies durch das von den USA erst ermöglichte Versailler
Diktat verhindert wurde, konnten die USA sich mehr und mehr durchsetzen und
ab 1945, spätestens aber ab den 1960er Jahren die Rolle Deutschlands übernehmen
- mit dem Unterschied, daß sie im Gegensatz zu Deutschland Europa nicht
einigten, sondern, und zwar mit Hilfe der Engländer und Russen (Sowjets),
spalteten. Ohne das Eingreifen der USA hätte Deutschland beide Weltkriege
gewonnen, denn Deutschlands Gegner waren ohne die USA zu schwach. Die Hauptschuld
an dem ganzen Elend, das Deutschland im 20. Jahrhundert widerfahren ist, tragen
die Vereinigten Staaten. Warum ist Amerika 1917 in den Krieg gegen Deutschland
eingetreten? Die europäischen kriegführenden Großmächte
(vor allem die Kriegsgegner Deutschlands; HB)
waren nahezu am Ende. In dieser Situation hätten die Vereinigten Staaten
kraft ihres Gewichtes die Europäer zwingen können, einen vernünftigen
Frieden zu schließen. Doch sie zogen es vor - jenseits aller politischen
Weisheit - in den Krieg einzutreten. Damit zwangen sie Deutschland zur bedingungslosen
Kapitulation. Sie gestatteten Frankreich den Versailler Vertrag, der Deutschland
diskriminierte und wirtschaftlich ruinieren sollte (Reparationen waren bis 1988
vorgesehen) und trugen damit ausschlaggebend zu einer Nachkriegssituation in Deutschland
bei, die Hitlers politisches Wirken begünstigte, ja, wahrscheinlich überhaupt
erst ermöglichte. Das Samenkorn für den Zweiten Weltkrieg war gelegt.
In und nach dem Zweiten Weltkrieg geschah durchaus Ähnliches - auch wenn
die Umstände andere waren. Die Beweggründe Amerikas, in den Krieg gegen
Deutschland einzutreten, waren mit denen von 1917 vergeichbar. Deutschlands Macht
sollte gebrochen werden, völlig unabhängig davon, welches politische
System bestand. Die nachgeschobenen Begründungen für die Kriegseintritte
... sind falsch. Die Vereinigten Staaten haben sich nie gescheut, mit grausamen
Diktatoren zu paktieren (siehe Saddam Hussein, solange es von Nutzen war, Stalin
und andere). Hinzu kommt, daß man Funktionen der trotz ihres Sieges geschwächten
europäischen Kolonialmächte in der Welt übernehmen konnte und seine
eigene Position stärkte. (Ernst Fritzsch, in: F.A.Z, 24.05.2007, S.
8). Außerdem vergessen wir nicht: Die USA waren an beiden Weltkriegen von
Anfang an beteiligt und haben ihre Verbündeten massiv materiell und finanziell
unterstützt - allein schon zu Beginn des 1. Weltkriegs war die Kriegshilfe
an England und Frankreich so enorm, daß die USA es sich finanziell und also
auch wirtschaftlich gar nicht mehr erlauben konnten, auf die Rückzahlungen
zu verzichten, die dann von niemand anders als Deutschland neben vielen anderen
Zahlungen geleistet wurden und immer noch geleistet werden (!). Weil die USA,
als sie am 06.04.1917 in den 1. Weltkrieg gegen Deutschland eintraten, noch frisch
und England, Frankreich, Rußland und alle anderen Kriegsgegner Deutschlands
militärisch und wirtschaftlich am Ende waren - nur Deutschland war noch fit
-, hätten sie einen Verhandlungsfrieden herbeiführen müssen, und
Deutschland war damit ja einverstanden. Weil Deutschlands Kriegsgegner in den
USA die glückliche Wende zum Sieg sahen, waren sie (und die USA selbst, besonders
aus den eben genannten Gründen) gegen einen Frieden. Die allgemeine
Kriegslage 1916/'17 und der innere Zustand der kriegführenden Mächte
erlaubte als einzige Alternative zur Fortsetzung des Gemetzels nur einen Verständigungsfrieden.
Bethmann Hollweg im Juni 1916: »Alle Regierungen sind ohne Bildung und Perspektive.
Zum Verzweifeln. Nur eine klare Entscheidung kann die Macht der Lüge in allen
Ländern durchbrechen. Auch bei uns Lüge, damit das Durchhalten des so
weichen Volkes nicht erschwert wird. Bei den anderen aber noch mehr Lüge
zu dem Zweck, die Regierungen zu halten. Da die Lage der anderen schlechter ist,
muß dort noch mehr gelogen werden.«
Ein Remis-Frieden lag in
der Luft. Initiativen zu Friedensgeprächen gab es zahlreiche: Mit ihrem Friedensangebot
vom Dezember 1916, das ernst gemeint war (Georges Henri Soutou), hatte die deutsche
Reichsregierung offene Friedensgespräche erhofft. Es wurde abgelehnt. Hierfür
war nach dem französischen Historiker Georges Henri Soutou die mangelnde
Friedenbereitschaft der englischen und französischen Regierung verantwortlich.
Man wird hinzufügen können, auch die Weigerung der (us-)amerikanischen
Regierung. Das »Vermittlungsangebot« des (us-)amerikanischen
Präsidenten, der sich praktisch schon im Krieg gegen Deutschland befand,
in seiner Erklärung vom 20.12.1916 und die Wiederholung in seiner Rede vom
22. Januar 1917 waren nur eine Reaktion auf das deutsche Friedensangebot, es sollte
nach Vermutungen einiger Historiker zur Vorbereitung und Rechtfertigung des am
6. April 1917 erklärten Kriegseintritts der Vereinigten Staaten dienen. Wie
erwartet, wurde das (us-)amerikanische Angebot von
den westlichen Verbündeten erneut abgelehnt, wie schon vorher die Friedensfühler
Wilsons im Jahre 1915. Die österreichischen Friedensfühler, die keinen
Separatfrieden zum Ziel hatten, sondern realistische Angebote im Sinne traditioneller
Kabinettspolitik enthielten, die päpstlichen Friedensaktionen und letztlich
das Friedensangebot des Deutschen Reichstags vom Juli 1917 sind neben vielen anderen
indirekten Friedensbemühungen, die von deutschen Diplomaten ausgegangen sind,
als ernsthafte Versuche zu bewerten, ein gleichberechtigtes Gespräch über
Friedensbedingungen zustande zu bringen. Alle Menschen sehnten sich nach Frieden.
Europa hatte seine letzte Chance. Ein Frieden ohne Gesichtsverlust, ohne Demütigung
und ohne Behinderung der Lebensgrundlagen des Kontinents wäre zu diesem Zeitpunkt
zu erzielen gewesen. Angesichts der Kriegslage gab es für die europäischen
Mächte keinen anderen Ausweg, als sich an den Verhandlungstisch zu setzen.
Jedoch ein Verhandlungsfrieden ohne vorherige Niederwerfung des Deutschen Reiches
lag nach Ansicht Wilsons und seiner Kamarilla weder im Interesse Englands noch
im Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika, außerdem wäre Wilson
mit einem Verhandlungsfrieden nicht in der Lage gewesen, den »Frieden«
nach seinen Vorstellungen und den Interessen der USA zu diktieren - ein wichtiges
Anliegen Wilsons. - Völkerhaß als Mittel der (us-)amerikanischen
und englischen Kriegführung - Die feindliche Stimmung der Mehrheit des Foreign
Office, die von Nicolson, Crowe und auch Grey repräsentiert wurde und die
sich in den Stellungnahmen, Memoranden und Briefen aus ihrer Feder feststellen
läßt, wurde in der öffentlichen Meinungsbildung durch die englische
Presse zustimmend begleitet. Erst nach dem Kriege gingen den Europäern die
Augen auf: »Die Wissenschaft hat eine harte Aufgabe damit, die Völker
von den fluchwürdigen Folgen ihrer Kriegspropaganda zu befreien, von allem
ihrem Haß und allen ihren Lügen«, stellten Steinmetz (Amsterdam)
und Högstedt (Stockholm) nach dem Ende des Krieges fest. England beherrschte
mit dem Besitz der meisten Überseekabel (**)
und der größten Nachrichtenagentur Reuter auch die öffentliche
Meinung der Weltpresse.
England organisierte nicht nur die Bündnissysteme
gegen Deutschland, sondern entfachte ein Propagandafeuer voller Haß und
Lügen, wie es die Weltgeschichte bis dahin im Umgang unter Nationen, auch
unter kriegführenden Nationen, noch nicht erlebt hatte. (Ehrhardt Bödecker,
ebd., 1998, S. 91-94). Der erste Reichskanzler der Weimarer Republik,
der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, also ein ganz unverdächtiger Zeuge,
hat am 8. Mai 1919 vor dem Reichstag den Vertrag als »Dokument des Hasses
und der Verblendung« bezeichnet. Am 12. Mai sprach er von einem »schauerlichen
und mörderischen Hexenhammer« und urteilte, diejenige Hand müsse
verdorren, die einen solchen Vertrag unterschreibe. 1935 äußerte sich
Helmuth Plessner - Soziologe, Philosoph und als Jude Hitlerflüchtling -,
... dieser wahrlich unverdächtige Zeuge urteilte, ... die hetzerische Kriegspropaganda
der Alliierten sowie Versailles hätten »die Begriffe von Freiheit,
Demokratie, Selbstbestimmungsrecht der Völker, Fortschritt und Weltfrieden,
mit einem Wort das Wertesystem des politischen Humanismus westlicher Prägung,
bodenlos entwertet.« (Helmuth Plessner, Die verspätete Nation,
1974, S. 39f.). »Bodenlos« entwertet! (Franz Uhle-Wettler, Vorwort
zu: Das Versailler Diktat, 1999, S. 8). So lautet das Urteil: Schuld
am 1. Weltkrieg tragen Serbien, Rußland, Frankreich, England und USA (vor
allem Rußland, Frankreich, England und USA, da sie als Großmächte
mehr Verantwortung tragen als die nur kleine Macht Serbien, die jedoch extrem
terroristisch provozierte - wie das eben für so viele Kleine charakteristisch
ist [siehe auch z.B. das Verhalten der kleinen Mächte Polen und CSR vonn
1919 bis 1939]), Schuld am Scheitern eines Verhandlungsfriedens, der Europa
gerettet hätte, und damit Schuld am Versailler
Diktat , das Europa zerstört hat, tragen USA, England, Frankreich und
Rußland (extrem dumm verhielten sich dabei Rußland,
Frankreich und England, vor allem weil sie sich an ihrer eigenen Zerstörung
beteiligten, da sie Teil Europas sind [oder haben sie das etwa gar nicht gewußt
?], und Europa wurde durch das Versailler Diktat zerstört und ermöglichte
den USA ihren weiteren Aufstieg)! Sie haben den 1. Weltkrieg vorbereitet
und, was noch viel kriegverbrecherischer und völkerrechtswidriger war, einen
Verhandlungsfrieden verhindert. Weil die Schuld am Versailler
Diktat bedeutender ist als die Schuld am Ausbruch des 1. Weltkrieges - denn
mehr als der Krieg selbst war sein Ergebnis die Tragödie, war sein Ergebnis
wirklich die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts (**)
bzw. die Große Tragödie des 20. Jahrhunderts (**),
wirkte sein Ergebnis so zerstörerisch -, sind die Schuldigen auch eindeutig
bestimmbar! Und: Ohne Berücksichtigung der Schuld am 1. Weltkrieg und noch
mehr am Versailler
Diktat ist über die Schuld am 2. Weltkrieg nicht zu urteilen (**|**)
! Mehr ...
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