Der heutige Islam - im Angriff oder in der Verteidigung? (2004)Anders
als das Christentum und anders auch als das rabbinische Judentum war ja der Islam
als eine Religion von Kriegern in die Welt getreten: Mohammed war nicht nur ein
Verkünder des kommenden »Reiches Gottes« wie Jesus, sondern er
war im letzten Jahrzehnt seines Lebens ein Staatsmann und Feldherr gewesen, der
von Medina aus bereits viele der Stämme der arabischen Halbinsel zum Glauben
an den e i n e n Gott, an Allah, und damit zur
Überwindung ihrer Zwistigkeiten unter dem Zeichen eines gemeinsamen Glaubens,
eben des Islam, gebracht hatte, und zwar gutenteils durch kriegerische Mittel.
Nach seinem Tode im Jahre 632 der christlichen Zeitrechnung (und:
im Jahre 10 der islamischen Zeitrechnung; HB) unterwarfen seine Nachfolger
innerhalb von wenigen Jahrzehnten große Teile des »fruchtbaren Halbmonds«,
vernichteten die dortige christliche Kultur und machten die Christen und Juden
zu »Schutzbefohlenen«, zu »dhimmis«, denen gegen die Zahlung
einer Kopfsteuer eine sehr beschränkte Duldung gewährt wurde, während
alle Heiden nach den Vorschriften des Propheten getötet werden sollten
eine der ersten politischen Taten Muhammads war ja sogar eine Art »Genozid«
gewesen, nämlich die Tötung aller nicht zur Bekehrung bereiten Männer
des jüdischen Stammes der »Qurayza« in Medina. Unter den dem
Propheten zugeschriebenen Äußerungen finden sich im Korpus der so genannten
»Hadith«-Sammlung Sätze wie die folgenden: »Das Paradies
liegt im Schatten des Schwertes« und »Die Schwerter sind die Schlüssel
zum Paradies«. Unter dem Eindruck der Paradiesversprechungen und der zahlreichen
Höllendrohungen des »Koran«, der nach der späteren Lehre
»ungeschaffenen« und unveränderlichen Offenbarung, die dem »Gesandten
Allahs« zuteil geworden war, teilten diese Glaubenskrieger die Welt in zwei
Hälften, von denen die eine die andere immer mehr zurückdrängen
würde, in die »dar-al-islam«, das Friedensgebiet der Gläubigen,
und die »dar-al-harb«, das Kriegsgebiet, in dem der Krieg gegen die
Ungläubigen geführt wurde und in dem diese Ungläubigen sich selbst
bekriegten. Am Ende
der Geschichte würde der islamische »Weltstaat« entstanden
sein, der die ganze Menschheit nach dem Muster der Einheit Allahs zu einer Einheit
jenseits aller Rassen und Völker verbinden würde. So ist der
Islam in seinem Außenverhältnis ein Feindbild von monumentaler und
höchst lebendiger Art.Aber der Islam schuf sein Weltreich, das schon
vor dem Ende des siebten Jahrhunderts bis an die Grenzen Indiens reichte, keineswegs
nur »mit Feuer und Schwert«. Er machte sich große Teile der
christlichen Kultur der Länder des »Nahen Ostens« zu eigen, er
entwickelte starke Stränge des griechischen Denkens, vornehmlich des Aristoteles,
fort und vermittelte sie, nicht zuletzt über das seit dem Anfang des 8. Jahrhundert
eroberte Spanien dem christlichen Abendland, das sich geraume Zeit mit dem Glanz
und der Kraft der islamischen Kultur nicht messen konnte. Es handelte sich also
trotz aller bald einsetzenden Nachfolgekämpfe und Streitigkeiten bei dem
riesigen Gebiet zwischen Gibraltar und Indien um ein von der Religion geprägtes
Weltreich, dessen muslimische Bewohner sich fünfmal am Tage vor Allah zu
Boden warfen und vom Gefühl der Einheitlichkeit der Gesamtgemeinde, der »umma«,
durchdrungen waren. In der Tat konnte der Islam von allen Weltreligionen am ehesten
den Anspruch erheben, zur »Religion der Menschheit« zu werden, denn
er war in seinen Vorschriften und Dogmen die einfachste und faßlichste aller
Religionen, weit entfernt von der zu Zweifeln herausfordernden Mysterienreligion
des Christentums und in seinem genuinen Universalismus auch dem Judentum entgegengesetzt.
Es gab also schwerwiegende Gründe für die Zukunftsgewißheit der
Muslime, ganz wie es später gute und für viele Menschen anziehende Gründe
für den Zukunftsglauben der Marxisten und Kommunisten gab. In der Tat könnte
man heute die bekannte These von Jules Monnerot, der Kommunismus sei der Islam
des 20. Jahrhunderts, umkehren und durch die andere These ersetzen, der Islam
sei der Kommunismus des 21. Jahrhunderts. Jedenfalls ist unter dem Gesichtspunkt
der Gläubigkeit, der Überzeugungskraft und d1es Kampfwillens keine Ideologie
der Moderne so gut mit dem Islam zu vergleichen wie der Weltkommunismus unter
der Ägide Lenins und noch Stalins.Den älteren unter den Menschen
dieser Gegenwart ist es indessen noch ganz präsent, wie diese Weltideologie,
welche die entschiedenste Vorkämpferin des heute »Globalisierung«
genannten Prozesses sein wollte, nach den phänomenalen Erfolgen insbesondere
der zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch innere Zwistigkeiten
und die Einwirkungen eines materiell überlegenen Gegners gleichsam ins Stocken
geriet und ihre Angriffskraft verlor, nicht zuletzt durch die sowjetische Invasion
im islamischen Afghanistan, so daß das letzte Jahrzehnt nur noch ein Verteidigungskampf
war. Für den Islam nahm der vergleichbare Vorgang mehr als ein Jahrtausend
voller Wechselfälle in Anspruch: von der christlichen »Reconquista«
in Spanien über die Katastrophe der Eroberung Bagdads durch die Mongolen
im Jahre 1258 bis zu der Niederlage der osmanischen Heere vor Wien im Jahre 1683,
ja bis zu den Reformen des »tanzimat«, mit denen die osmanischen Sultane
die Kampfkraft ihrer Armeen auf einen »europäischen Standard«
heben wollten. Aber trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge und
trotz jener wenigen Intellektuellen, die einer »Verwestlichung« des
Reiches und des ganzen Islam das Wort redeten, blieben die Grundüberzeugungen
unangetastet, und noch in einer halboffiziellen Publikation des Jahres 1985, die
in London erschien und Sympathien für den Islam im Westen erwecken sollte,
konnte man lesen, der Islam kämpfe einzig und allein um die Errichtung des
Reiches Gottes auf Erden, und deshalb könnten Gläubige und Nichtgläubige
nicht gleichgestellt werden, denn »die einen erwartet das Paradies und die
anderen die Hölle« (»Die Religion des Islam«?). Die Frage
lag also nahe, ob sich der Islam in seiner Zielsetzung und in seiner kriegerischen
Natur während nahezu anderthalb Jahrtausenden im Kern so gut wie unverändert
geblieben sei.Und doch geben die Berichte über den imperialen Universalismus
des Islam und den »Heiligen Krieg« gegen die Ungläubigen, den
er auch dann noch führt, wenn er sich die »taqiyya«, die Verstellung,
zunutze macht, welche in bestimmten Situationen erlaubt, ja geboten ist, nur die
eine Hälfte des gegenwärtigen Phänomens wieder. Wie mir scheint,
ist die Erzählung eines recht bekannten deutschen Journalisten überaus
aufschlussreich, der in der Mitte der dreißiger Jahre Palästina bereiste:
er habe sich in der Nähe einer Gruppe von einigen arabischen Männern
befunden, die ihre Wasserpfeifen geraucht und in großer Gelassenheit Gespräche
geführt hätten. Plötzlich sei eine Gruppe von zionistischen Juden
vor ihren Augen durch die Straße gegangen: junge Männer und junge Frauen,
in Arbeitskleidung, gleichmäßig mit Werkzeugen versehen, in leichter
Kleidung, scherzend und lachend. Es habe ihm tiefen Eindruck gemacht, erzählt
der Journalist, mit welchen Blicken äußerster Befremdung und entschiedener
Mißbilligung die Augen dieser würdigen Männer in ihren weißen
Gewändern dieser lärmenden Gruppe gefolgt seien. Diese Befremdung galt
offenbar nicht so sehr den Juden, die sich nach ihrer Ansicht des Landes zu bemächtigen
suchten, sondern der »westlichen Lebensart«, die mit ihrer Nivellierung
uralter Unterscheidungen und ihrer Arbeitshast in das islamische Land eingebrochen
sei. Ganz in diesem Sinne sprach 1971 der Ajatollah Khomeini in einer Predigt
davon, »die giftige Kultur des Imperialismus« dringe in die Tiefen
der Städte und Dörfer der islamischen Welt ein und verdränge die
Kultur des Islam. Und schon mehrere Jahre früher hatte einer der einflußreichsten
islamischen Ideologen, der Ägypter Sayyed Qutb, der 1966 als Mitbegründer
der »Moslembrüder«unter Gamal Abdel Nasser hingerichtet wurde,
die USA besucht, und war voller Entsetzen zurückgekehrt, weil ihn drei Merkmale
der amerikanischen Kultur besonders schockiert hatten, nämlich der Materialismus,
der Rassismus und die sexuelle Permissivität«. Dabei handelte es sich
um die immer noch sehr christlichen und fast puritanischen USA der unmittelbaren
Nachkriegszeit, und es ist leicht vorstellbar, was Qutb gesagt haben würde,
wenn er die USA oder gar das Europa des Anfangs des 21. Jahrhunderts kennengelernt
hätte. In der Tat war für Qutb die anthropozentrische kulturelle Moderne
»die Ursache der tödlichen Krankheit, die den Westen befallen hat und
den Islam anzustecken droht.« Und der Jude Leopold Weiss, der sich nach
seiner Konversion zum Islam »Muhammad Asad« nannte und als pakistanischer
Botschafter starb, erzählt in seinen Erinnerungen von seinen Erfahrungen
in der Berliner U-Bahn, wo er nur wohlgenährte und gut angezogene Menschen
gesehen habe, die aber allesamt einen unglücklichen und kummervollen Eindruck
gemacht hätten. Der Islam sei dagegen ganz anders, denn er habe eine ruhigere
und menschlichere Konzeption des Lebens als die hastige, mechanisierte Lebensart,
die in Europa vorherrsche. Für Asad (Weiss)
ist also der Islam die positive Kulturkritik und damit das Paradigma eines besseren,
weniger angestrengten und harmonischeren Lebens.Aber trotz aller dieser
Defensivität verloren große Teile des Islam die ursprüngliche
Zielsetzung nicht aus dem Auge, und gerade der Ayatollah Khomeini, der im Iran
auf revolutionärem Wege zwar nicht den ersten, wohl aber den radikalsten
islamischen, wenngleich in den Augen seiner Gegner »islamistischen«
Staat gegründet hatte, verlangte schon vor seiner Machtergreifung wie ein
wiedergeborener Muhammad »die völlige Ausrottung des Okzidentalismus«,
der die islamische Welt ein Jahrhundert lang ausgeplündert habe. Dadurch
rief er jedoch nicht in erster Linie die Erinnerung an den Kommunismus hervor,
sondern gerade diejenige an Mussolini und Hitler, die sich ja in ihren Anfängen
ebenfalls als Verteidiger einer bedrohten Lebensform empfunden hatten und Vorkämpfer
eines »Verteidigungsangriffs« gewesen waren. So konnten Khomeinis
Gegner mit einigem Recht vom »Islam-Faschismus« sprechen.Aber
auch eine ganz andersartige Lösung der planetarischen Streitfrage zeichnete
sich ab, sobald man dasjenige, was Khomeini und Qutb für das »absolute
Böse« erklärten, als positiv betrachtete und die Entstehung eines
»weltlichen« oder »europäischen« Islam zu fördern
suchte. Dafür gab es bedeutende Ansatzpunkte. Auch nach der Zurückdrängung
der Osmanen auf ihre wichtigste Eroberung in Europa, nämlich Konstantinopel
und dessen westliches Umland, nach den Balkankriegen 1912/13 befanden sich viele
Muslime unter der Bevölkerung der Balkanstaaten, und sie galten in der Regel
nicht als fanatisch; einige der reformierenden Staatsmänner hatten tatsächlich
so etwas wie eine säkularisierten Islam im Auge, und der erfolgreichste unter
ihnen, Kemal Pascha (Atatürk), schreckte nicht
davor zurück, den Islam »die absurde Theologie eines unmoralischen
Beduinen, die unser Leben vergiftet« zu nennen. Freilich blieb es unvorstellbar,
daß auch nur in der Türkei die islamischen Massen sich eine so radikale
Position zu Eigen machen würden, aber eine genuine »neue Epoche«
der Weltgeschichte schien möglich zu werden: Der »Westen« oder
»der Okzident« oder »Europa« bildete nicht länger
das »Liberale
System« aus unterschiedlichen religiösen oder ideologischen Kräften,
welches die moderne Entwicklung hervorgebracht hatte, sondern er repräsentierte
nun einen »Liberismus«,
in dem der frühere Liberalismus,
von einigen Restbeständen der Vergangenheit abgesehen, zur Alleinherrschaft
gelangt war und den zuvor immer eingeschränkten Individualismus zum Höhepunkt
geführt hatte. Für die Menschen dieser »Spaßgesellschaft«
konnte es eine erhellende und herausfordernde Erfahrung sein, mit Muslimen zusammenzutreffen,
die zwar »europäisiert«, aber immer noch »gläubig«
waren, ein starkes Gemeinschaftsgefühl besaßen und Mitglieder einer
»tugendhaften Gesellschaft« sein wollten. So würde sich möglicherweise
das Liberale System in seiner produktiven Differenz rekonstituieren, und die Einwirkungen
des tief veränderten, aber keineswegs vernichteten Islam könnte, dem
ersten Anschein durchaus zuwider, zu einer Neugeburt Europas führen.Ich
mache keinen Versuch, die Frage zu entscheiden, ob solche Hoffnungen gut begründet
sind oder nicht. Sie setzen jedenfalls einen starken Glauben an die innere Kraft
des nachchristlichen Europa und an die Wandlungsfähigkeit des Islam voraus.
Aber ein ganz anderer Ausgangspunkt wird erforderlich, wenn die Frage konkretisiert
und auf das aktuelle Problem des Beitritts der Türkei zur Europäischen
Union bezogen werden soll. Ich gehe abermals von den Erinnerungen an ein simples
Faktum aus. Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt erzählt
in einem autobiografischen Rückblick, er habe in den frühen siebziger
Jahren dem türkischen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel einen
Besuch gemacht und dieser habe am Schluß der Unterredung zu seiner Überraschung
gesagt, die Türkei habe in Anatolien zwanzig Millionen Menschen, für
die sie keine Arbeit schaffen könne, und sie müsse daher diesen Bevölkerungsüberschuß
nach Deutschland exportieren. Er, Schmidt, habe nur eine erschrockene Abwehrbewegung
mit der Hand gemacht und den Satz hervorgestoßen »Das werden Sie nie
erreichen«, aber Demirel habe geantwortet: »Warten Sie ab, und Sie
werden sehen«. Beiden Staatsmännern war vermutlich nicht bewußt
(wohl eher: sollte und wollte nicht bewußt werden!
HB), daß das Hauptproblem der Zukunft der Menschheit vor ihnen
auftauchte, nämlich das demographische, das Malthussche Problem. Noch war
... die Bevölkerungszahl der Türkei infolge der auch in der damaligen
Zeit weit größeren Fruchtbarkeit der einheimischen Frauen nicht auf
fast 70 Millionen angestiegen, und doch zeichneten sich schon die zwei Abgründe
ab, zwischen denen die Menschheit im Zeitalter der höchstentwickelten Technik
und der europäisch-amerikanischen Massenwohlfahrt werde wandeln müssen:
Wenn das deutsche und im weiteren Sinne europäische Beispiel für die
Weltentwicklung leitend sein würde, würde die Menschheit innerhalb weniger
Jahrhunderte aussterben, sofern es nicht gelänge, auch die Zeugung von Menschen
zu technisieren; wenn dagegen das türkische oder generell das islamische
Beispiel diese Rolle übernehmen würde, würde noch früher die
Malthussche Schreckensvorstellung realisiert sein, daß auf einen Menschen
kaum auch nur ein Quadratmeter an Raum entfallen werde. Niemals hatte die technisch
vergleichsweise ohnmächtige Menschheit der Vergangenheit vor solchen Gefahren
für ihre Existenz gestanden. Das anschaulichste Beispiel bot und bietet Israel.
Wenn es zu einer genuinen, jede Art von »Apartheit« verwerfenden Demokratie
werden will, wird es angesichts der weit stärkeren Vermehrung der islamischen
Palästinenser nur noch für kurze Zeit ein »jüdischer Staat«
bleiben können, und der nach 50 Jahren der Unterdrückung aufgestaute
Haß könnte dazu führen, daß die Juden zwar nicht »ins
Meer«, wohl aber »über das Meer« getrieben würden.
Ein vergleichbares Schicksal steht Europa und zunächst Deutschland bevor,
wenn die »Vollmitgliedschaft« der Türkei in der EU realisiert
wird und das Maghrebinische Nordafrika konsequenterweise in die Fußstapfen
tritt. Es ist die wohl verhängnisvollste, wenngleich nicht zwingend notwendige
Folge der Erfahrung mit dem deutschen Nationalsozialismus, daß ein ganz
einfacher Gedankengang nicht nachvollziehbar zu sein scheint: »Die EU ist
aus guten Gründen gewillt, keine Staaten mit einer ganz anderen Gesellschaftsordnung
aufzunehmen, etwa kommunistische oder faschistische Diktaturen, aber ebenso wenig
können Staaten aufgenommen werden, die eine weitaus höhere Fertilitätsrate
haben als die bisherigen Mitglieder. Wenn den Franzosen von einem früher
geborenen Stresemann im Jahre 1910 das Briandsche Angebot einer politischen Union
gemacht worden wäre, würden sie es mit Empörung zurückgewiesen
haben, denn ihnen war bewußt, daß Frankreich dann innerhalb weniger
Generationen von Deutschen übernommen werden würde. Aber die Europäer
von heute scheinen zu der entsprechenden und sachgerechten Entscheidung nicht
fähig zu sein: daß der Gedanke eines Beitritts der Türkei nicht
einmal erwogen werden kann, solange die Fertilitätsrate sich der allgemein-europäischen
nicht wenigstens angenähert hat. Sobald sich gerade unter den »einfachen
Menschen« der Eindruck verfestigt, ihr Land stehe im Begriff, von einem
anderen Volk auf scheinbar friedlichem Wege erobert zu werden, wird es zu spät
sein, den schärfsten aller Klassenkämpfe, denjenigen zwischen verschiedenen
Nationen in demselben Lande, und damit bürgerkriegsähnliche Zustände
zu vermeiden. Doch schon gegen die Fragestellung wehrt sich das moralistische
Denken, das in Europa weit verbreitet ist und das dahin tendiert, Malthus mit
Adolf Hitler gleichzusetzen. Ist es nicht eine schlimme Ungerechtigkeit, wenn
dem lebensvolleren und insofern aufsteigenden Volk von einem alternden und nicht
einmal zur Selbsterhaltung fähigen Volk der Weg zur Selbstverwirklichung
versperrt wird? Ist es überhaupt moralisch vertretbar, den biologisch
überlegenen Völkern bzw. Kulturen Widerstand zu leisten?
Die Antwort auf diese Fragen ist nicht wissenschaftlich begründbar, sondern
sie verlangt eine Entscheidung, die man »existenziell« nennen mag:
Ich glaube, daß ein solcher Widerstand gerechtfertigt und notwendig ist,
denn »alte Völker oder Kulturen« können die »jungen
Völker oder Kulturen« auf vielfältige Weise belehren, und sie
müssen diese nicht zuletzt vor einer der schlimmsten Vorstellungen der faschistischen
Regime bewahren: daß das biologisch stärkere (oder das technisch fortgeschrittenste)
Leben das Recht hat, sich durch kriegerische oder auch friedliche Invasionen einen
neuen »Lebensraum« zu verschaffen. So wäre das »Nein«
von heute eine »Ja« zur Zukunft Europas. Die dadurch gewonnene Chance
ist jedoch zeitlich begrenzt. Wenn sich nicht ein autonomer Wille zur eigenen
Zukunft in Europa zu entwickeln vermag, wird der biologistische Ansatz mit Macht
sein Recht einfordern, und Europa wird auch physisch ein Ende finden, wie es ja
heute schon jene Gruppierungen unbewegt ins Auge fassen, die der historischen
Prägung und gar der genetischen Eigenart keinerlei Wert zuschreiben, weil
sie einst zu Feindschaften und Krisen den Anlaß geführt haben.Aber
ich habe nun anscheinend die kulturelle Frage nach dem heutigen Islam durch die
biologische Frage nach Lebenskraft und Lebensschwäche oder Dekadenz ersetzt.
Dieser Hinweis wäre indessen nur dann richtig, wenn eine sehr einfache und
altbekannte Konzeption zugrunde gelegt würde: daß junge und von der
Zivilisation erst kaum berührte Völker oder Kulturkreise die überzivilisierten
und dekadenten Völker bzw. Kulturkreise abzulösen oder zu verdrängen
bestimmt sind. Der Islam ist jedoch alles andere als ein von der Zivilisation
erst kaum berührter Kulturkreis, und die größere Fruchtbarkeit
der islamischen Frauen hat, ohne Zweifel viel mit der Lehre Mohammeds zu tun,
welcher jene »Unterdrückung der Frau« entspringt, die von dem
westlichen Individualismus so heftig abgelehnt wird und von der man in der Tat
sagen kann, sie betrachte die Frauen nicht als selbst verantwortliche Personen,
sondern als eine Art Keimzellen, die gegen alle Gefahren auf das sorgfältigste
geschützt werden müßten. Das würde von muslimischen Theologen
kaum bestritten werden, aber sie würden wohl hinzufügen, was ein deutscher
Diplomat, der zum Islam konvertiert war, mit den Worten zum Ausdruck brachte,
im Islam schauten die Männer den Frauen nicht auf die Beine, sondern in die
Augen. Die biologische Stärke wäre also nicht nur kulturell begründet,
sondern sie schlösse auch eine moralische Überlegenheit in sich.
So läßt sich, wie ich meine, in den Augen derjenigen, die auf beiden
Seiten sowohl dem bedenkenlosen Angriff wie der rückhaltlosen Selbstverteidigung
ihre Zustimmung verweigern, in der Frage des Verhältnisses zweier so unterschiedlicher
Denk- und Lebensformen wie des säkularisierten Europa und des immer noch
religiös-politischen, dem Projekt der Welteroberung immer noch anhängenden
Islam nur eine scheinbar paradoxe Doppelantwort finden: ein Nein zu kurzfristigen
und nicht zuletzt strategischen Zwecken der USA dienenden Projekten wie dem baldigen
Beitritt der Türkei zur »Europäischen Union« und ein Ja
zu der langfristigen Notwendigkeit, einen Ausgleich zwischen den einst so feindlichen,
aber trotz aller historischen Wandlungen in ihrer Verschiedenheit fortexistierenden
Kulturen anzustreben. (Zitat-Ende).
Zitate:
Hubert Brune, 2004 (zuletzt aktualisiert: 2009). 
Anmerkungen:
Das Liberale System ist laut Ernst
Nolte u.a. dadurch charakterisiert, daß zu ihm wie selbstverständlich
auch der Links-Sozialismus (z.B. Kommunismus, Marximus u.ä.) und der Rechts-Sozialismus
(z.B. Faschismus, Nationalsozialismus [Radikalfaschismus, so Nolte]
u.ä.) gehören. Erst viel später wurde mir der Begriff des
»Liberalen Systems« geläufíg, welches in seinem Ursprung
das »europäische System« des Neben- und Miteinanders geschichtlicher
Kräfte ist, die zunächst den Gegner vernichten wollen und sich doch
damit begnügen müssen, ihn zu schwächen und zurückzudrängen,
um dann an seiner Seite einen Platz einzunehmen, der den eigenen Erwartungen nicht
entsprach, der aber das Ganze reicher und vielfältiger sein läßt,
als der Teil es mit seinem Abolutheitsanspruch je hätte sein können.
So erging es dem Protestantismus, der Aufklärung, dem Positivismus und der
Lebensphilosophie, und schon in der Einheit des »mittelalterlichen«
Katholizismus gab es eine Spaltung oder - besser - eine Differenzierung zwischen
Staat und Kirche, zwischen Monarchie und Adel, zwischen Bürgerstädten
und Landbevölkerung. Bis in die jüngste Zeit ist keiner dieser Faktoren
völlig untergegangen .... (Ernst Nolte, Der kausale Nexus, 2002,
S. 340-341 **).
Vgl. auch die im Liberalen System enthaltenen Liberalismus
und Liberismus.
Der
Begriff Liberismus sucht ein bestimmtes Entwicklungsstadium
dessen zu fassen, was ich das »Liberale
System« genannte habe. »Liberismus« ist ein Entwicklungsmoment
dieser vielpoligen Gesellschaft, mit dem der Liberalismus in gewisser Weise totalitär
wird. Aber der totalitäre Liberalismus weist grundsätzlich andere Merkmale
auf als andere Totalitarismen: er ist hedonistischer Individualismus und damit
die Verneinung des Begriffs der Pflicht. Insofern ist der liberale Totalitarismus
von präzendenzloser Art. (Ernst Nolte, in: JF,
03.07.1998 **).
Der Liberalismus ist ja schon von seinem Anfang an
verknüpft mit dem Glauben an den Individualismus und tendiert zum Anarchismus;
darum verwundert es nicht, daß er, indem er immer totalitärer wird
- als Liberismus, so Nolte -, den endgültigen Untergang der Gemeinschaft
bedeutet. Darüber hinaus ist der Liberalismus der Grund für sein eigenes
Verschwinden, denn er muß ja gemäß seines Selbstverständnisses
auch tolerant gegenüber denjenigen sein, die ihn abschaffen. Zum
Ende der Geschichte vgl. auch: Ernst Nolte, Historische Existenz,
1998, S. 9-14 (**),
S. 597-668 (**),
S. 669-684 (**);
ders., Der kausale Nexus, 2002, S. 257 ff. (**). |