
Jean-Paul
Sartre (1905-1980) |
Versuch einer Verbindung von Existentialismus und Sozialismus |
Jean-Paul Sartre vertrat, von Edmund Husserl (1859-1938 )
und vor allem von Martin Heidegger (1889-1976 )
ausgehend, einen im Bezug auf Sinn und Zweck des Daseins vergleichsweise
realistischen Standpunkt. Sein Hauptwerk L'etre et le néant
(Das Sein und das Nichts )
ist eine existentielle Ontologie, in der Sartre nachzuweisen versucht,
daß der Mensch dem Alpdruck des An-sich-Seins ( )
und des Gesehenwerdens nur das Vertrauen in seine Fähigkeit,
sich selbst zu machen und sich kraft seiner Freiheit, aus
den Dingen nichts zu machen, entgegenzusetzen hat. Das denkende
Erschaffen des Nichts ist der Adelsbrief der menschlichen Freiheit. Durch
diesen Gedanken, den kein Tier oder sonst ein Wesen dem Menschen nachdenkt,
durch diesen Gedanken des Nichts, vor dem jede Dreckseele (salaud)
denn auch unfehlbar beklommen wird, durch ihn rettet der Mensch sich vor
dem lähmenden Alpdruck des Seins, mit dessen Furchtbarkeit es der
Mensch ja doch nicht aufnehmen kann. - Das Angewidertsein, der Ekel vor
dem Vernunftlosen, vor dem Dinglichen, Determinierten, Naturhaften, vor
dem Am-Leben-bleiben-Wollen, vor dem Nicht-Nichtsein-Wollen war für
Sartre der Geburtshelfer unserer Freiheit.
Zum Übergang
von Heideggers SEIN UND ZEIT (1927 )
zu Sartres DAS SEIN UND DAS NICHTS (1943 ):In
den 1930er Jahre wirkte Heideggers Philosophie auch in Frankreich, Heidegger wurde
zum Geheimtip der Pariser Intelligenz. Dazu trug auch Alexandre Kojève
bei, weil er in seinen Vorlesungen einen Hegel ( )
vorführte, wie man ihn bisher noch nicht kannte: es war ein Hegel,
der Heidegger zum Verwechseln ähnlich sah. Jeder kannte den Satz Hegels »das
Wirkliche ist vernünftig«. Hegel galt als Rationalist. Und nun zeigte
Kojève, wie dieser Hegel nichts anderes getan hatte, als den unvernünftigen
Ursprung der Vernunft aufzudecken - in den Kämpfen um Anerkennung. Ein Selbst
verlangt von einem anderen in seinem So-sein anerkannt zu werden. Kojève
greift Heideggers »Sorge« auf und macht daraus in Anschluß
an Hegel die »Sorge um Anerkennung«. Die geschichtliche Realität,
die aus dieser Sorge um Anerkennung entspringt, ist der bis aufs Blut geführte
Kampf der Menschen um bisweilen lächerliche Einsätze ( ):
man setzt sein Leben aufs Spiel, um hier einen Grenzverlauf zu korrigieren, um
eine Fahne zu verteidigen, um Genugtuung für eine Beleidigung zu erreichen
u.s.w.. Hegel muß nicht erst umgedreht werden, er steht schon auf den Füßen
und er geht durch den Schlamm der Geschichte. Im Kern der Vernunft steckt die
Kontingenz, und es sind die Kontingenzen, die da oft so blutig zusammenprallen.
Das ist die Geschichte. Im Anschluß an Hegel und ausdrücklich mit Heidegger
fragt Kojève: Was ist der Sinn des ganzen Seins? Mit Heidegger gibt
er die Antwort: die Zeit. Die Zeit aber ist nicht auf dieselbe Art wirklich wie
die vorkommenden Dinge, die auch altern und ihre Zeit haben. Nur der Mensch erlebt,
wie etwas, das ist, wenig später nicht mehr ist, und etwas, das noch nicht
ist, nun ins Sein tritt. Der Mensch ist die offene Stelle im Sein, der Schauplatz,
wo das Sein ins Nichts und das Nichts ins Sein umschlägt. Die erregendsten
Passagen der Kojèveschen Vorlesung handeln vom Tod und vom Nichts. Kojève
sagt: Die Totalität der Wirklichkeit schließt die »menschliche
oder sprechende Wirklichkeit« ein, was bedeutet: »Ohne den Menschen
wäre das Sein stumm; es wäre da, aber es wäre nicht das Wahre.«
Diese »das Wirkliche offenbarende Rede« (Alexandre Kojève,
Hegel, S. 152) setzt aber voraus, daß der Mensch zwar in den kompakten
Zusammenhang des Seins hineingehört - aber zugleich auch davon abgeschnitten,
losgerissen ist. Nur deshalb kann er sich - irren. Der Mensch, so formuliert Kojève
im Sinne Hegels, ist der Irrtum, der sich im Dasein erhält, der in der Wirklichkeit
dauert« (Alexandre Kojève, Hegel, S. 151), und interpretiert
dann diesen Satz im Sinne Heideggers: »darum kann man auch sagen, daß
der Mensch, der sich irrt, ein im Sein nichtendes Nichts ist«. Die Grundlage
und Quelle der menschlichen Wirklichkeit sei das »Nichts«, es manifestiere
und offenbare sich als negierende oder schöpferische, freie und ihrer selbst
bewußte Tat« (Alexandre Kojève, Hegel, S. 267). Abschließend
zitiert Kojève noch einmal Hegel: »Der Mensch ist diese Nacht, dies
leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält, ein Reichtum unendlich
vieler Vorstellungen. ... Dies ist die Nacht, das Innere der Natur, das hier existiert
- r e i n e s S e l b s t . ... Diese Nacht erblickt man, wenn
man dem Menschen ins Auge blickt - in eine Nacht hinein, die furchtbar wird; es
hängt die Nacht der Welt einem entgegen« (Alexandre Kojève,
Hegel, S. 268). Diese Sätze formulieren den Übergang von SEIN
UND ZEIT zu »Das Sein und das Nichts«. Sartre hatte Kojève
nicht gehört, aber sich Mitschriften besorgt. Im Winter 1933/34 hatte er
Husserl und Heidegger in Berlin studiert und sich so darin vertieft, daß
er vom nationalsozialistischen Regime kaum Notiz nahm. Was ihn an der Phänomenologie
faszinierte, war erstens ihre Aufmerksamkeit für die massive, verführerische,
aber auch erschreckende Gegenwart der Dinge; sie führte wieder vor das beharrliche
Rätsel ihres »An-sich«-Seins. Zweitens, im Kontrast dazu, sensibilisierte
sie für den inneren Reichtum des Bewußtseins; eine ganze Welt des »Für-sich«
brachte sie wieder zum Vorschein. Und drittens schien sie, wenn auch undeutlich,
das Versprechen zu enthalten, die innere Spannung dieser doppelten Ontologie des
»An-sich« und des »Für-sich« irgendwie auflösen
zu können. (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland
- Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 383-384). Was bei Heidegger Dasein
heißt, heißt bei Sartre Für-sich - in der Terminologie
Hegels.  Das
An-sich ( )
der Naturdinge schilderte Sartre 1938 in seinem Roman Der Ekel ( ).
Er wurde schon bald in Frankreich zum klassischen Muster der Kontingenz-Erfahrung:
Also, ich war gerade im Park. Die Wurzel des Kastanienbaums bohrte sich
in die Erde, genau unter meiner Bank. Ich erinnerte mich nicht mehr, daß
das eine Wurzel war. Die Wörter waren verschwunden und mit ihnen die Bedeutung
der Dinge, ihre Verwendungsweisen, die schwachen Markierungen, die die Menschen
auf ihrer Oberfläche eingezeichnet haben. Ich saß da, etwas krumm,
den Kopf gesenkt, allein dieser schwarzen und knotigen, ganz und gar rohen Masse
gegenüber,die mir angst machte. Und dann habe ich diese Erleuchtung gehabt.
(Jean-Paul Sartre, Der Ekel, 1938, S. 144). Roquentin, so heißt Sartres
Erzähler, hat die Erleuchtung, weil er plötzlich die Dinge nackt dastehen
sieht, ohne Zusammenhang und ohne die Bedeutung, die ihnen das Bewußtsein
gibt. Geradezu obszön breiten sie sich vor ihm aus und machen ihm das
Geständnis ihrer Existenz. Sartre meint hier mit Existenz: pure Vorhandenheit
und Kontingenz. Das Wesentliche ist die Kontingenz ... kein notwendiges
Sein kann die Existenz erklären: die Kontingenz ist kein Trug, kein Schein,
den man vertreiben kann; sie ist das Absolute, folglich die vollkommene Grundlosigkeit.
Alles ist grundlos, dieser Park, diese Stadt, und ich selbst. Wenn es geschieht,
daß man sich dessen bewußt wird, dreht es einem den Magen um.
(Jean-Paul Sartre, Der Ekel, 1938, S. 149). Jene Erfahrung im Park trifft
auf ein Sein, das die vernünftige Rede durchschlägt; jene Szene soll
eine literarische Anordnung sein, in der anschaulich überprüft wird,
ob Kojevès Satz gilt, ob also Ohne den Menschen wäre das Sein
stumm: es wäre da, aber es wäre nicht das Wahre. (Alexandre Kojève,
Hegel, S. 152). Sartres Erzähler, der er ins vegetative An-sich
hinabgezogen wird, erfährt sich als Ding unter Dingen: Ich war die
Wurzel des Kastanienbaumes. Mit seinem ganzen Körper spürt er
das Sein wie ein schweres, undurchdringliches Etwas, und das treibt ihn angstvoll
zurück in die Welt des Bewußtseins, die Welt des Für-sich
( ),
wo er dann den eigenartigen Mangel an Sein erfährt. Ebenso eindeutig wie
Der Ekel von 1938 verrät Das Sein und das Nichts
von 1943 mit seinen Formulierungen - z.B. Der Mensch ist das Sein, durch
das das Nichts in die Welt kommt - Sartre als Heideggerianer, denn all seine
Werke sind Anknüpfungen an Heidegger.Der Mensch
ist das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt. (Jean-Paul Sartre,
Das Sein und das Nichts, 1943, S. 65 )Sartre
verstand Das Sein und das Nichts eindeutig als Fortsetzung der von Heidegger
ins Leben gerufenen Fundamentalontologie ( ).
Was bei Heidegger Dasein heißt, heißt bei Sartre Für-sich
(und das ist das Für-sich-Sein) - wie bei Hegel ( ).
Der Mensch ruht nicht fraglos bzw. unbesorgt im Sein, sondern muß in prekärer
Lage seinen Bezug zum Sein immer erst herstellen, entwerfen, wählen. Der
Mensch ist wirklich und muß sich doch erst noch verwirklichen. Der Mensch
ist zur Welt gekommen und muß doch erst noch zur Welt kommen. Das Bewußtsein
- das bewußtes Sein - ist immer auch ein Mangel an Sein. Dies alles wissen
wir bereits von Heidegger, und man kann es auch so zusammenfassen: Merkaml des
Menschen ist die Transzendenz. Bei Sartres Werk handelt es sich tatsächlich
um eine Fortsetzung der phänomenologischen Daseinsanalyse von SEIN UND ZEIT
(vgl. Heideggers Daseinsanalyse bzw. Existenz[ial]analyse ),
die den bei Heidegger unterbelichteten Bereich des Mit-Seins enregisch in den
Mittelpunkt rückt. Allerdings nimmt Sartre eine Veränderung der Terminologie
vor, die dann zu folgenschweren Mißverständnissen und auch Scheingefechten
führen und Heidegger später Anlaß geben wird, sich nach ersten
zustimmenden Bekundungen von Startre abzusetzen. Sartre verwendet nämlich
den Begriff »Existenz« in traditionell-cartesianischem Sprachgebrauch.
Existenz bedeutet das empirische Vorhandensein von etwas, im Gegensatz zu seinen
bloß gedachten Bestimmungen. Sartre verwendet diesen Begriff also im Sinne
von Heideggers »Vorhandenheit« ( ).
Der Mensch »existiert« heißt demnach, er bemerkt, daß
er zunächst einmal einfach vorhanden ist und daß es zu seinem Schicksal
gehört, sich zu seiner eigenen Vorhandenheit verhalten zu müssen. Er
muß etwas daraus machen, sich entwerfen etc.. In diesem Sinne wird Sartre
in seinem Vortrag von 1946 »Ist der Existentialismus ein Humanismus«
( )
sagen: Die Existenz kommt von der Essenz. Heideggers Begriff von Existenz in SEIN
UND ZEIT aber meint gerade nicht diese pure Vorhandenheit, Faktizität, sondern
bezeichnet den transitiven Sinn des Existierens, das Selbstverhältnis also;
daß der Mensch nicht einfach lebt, sondern sein Leben »führen«
muß. Doch auf dieses von Heidegger »Existenz« genannte Selbstverhältnis
hat es natürlich auch Sartre abgesehen, bei dem dieses Phänomen aber
»Für-sich« heißt. (Vgl. Hegels Für-sich-Sein ).
Sartre versucht ebenso wie Heidegger die Vorhandenheitsmetaphysik in bezug auf
den Menschen zu überwinden, nur benützt er dafür eben eine andere
Terminologie. Wie Heidegger betont Sartre, daß die Rede über den Menschen
stets in der Gefahr der Selbstverdinglichung steht. Der Mensch ist eben nicht
in der geschlossenen Kugel des Seins gefangen, sondern er ist ein ekstatisches
Wesen. Deshalb versteht Sartre seine Philosophie auch als eine Phänomenologie
der Freiheit. So wie auch Heidegger die Wahrheitsfähigkeit des Menschen in
seiner Freiheit begründet sieht. Wahrheit, sagte Heidegger in seiner METAPHYSIK-Vorlesung
von 1935, ist Freiheit. Nichts anderes. (Rüdiger Safranski, Ein
Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 386-387).Sartres
Hauptwerk (Das Sein und das Nichts) war geschrieben und erschien im von
Deutschland besetzten Frankreich. Es war wohl kein Zufall, daß Sartre -
seit 1941 Mitglied der Résistance - gerade in der Zeit der deutschen Besatzung,
die immerhin mehr als 4 Jahre dauerte, in einem Gespinst von Subtilitäten
eine ganze Philosophie des Antitotalitären (Rüdiger Safranski,
ebd., S. 387) entwickelte, obwohl die Deutschen als Besatzer Frankreichs
mit Sicherheit nicht mehrheitlich Nazis waren. Faschist ist laut Sartre, wer »ein
unerbitterlicher Felsen, ein reißender Sturzbach, ein verheerender Blitz«
sein will, und Sartre will mit seiner Philosophie dem Menschen seine Würde
zurückgeben, indem er seine Freiheit entdeckt als ein Element, in dem sich
alles feste Sein auflöst. In diesem Sinne ist das Werk eine Apotheose des
Nichts, das Nichts aber verstanden als die schöpferische Kraft des Nichtens.
Worauf es ankommt: nein zu sagen zu dem, was einen verneint. (Rüdiger
Safranski, ebd., S. 387). Und auch Heidegger ging es immer schon - also
auch trotz seiner NSDAP-Mitgliedschaft seit 1933 - um Freiheit (= Wahrheit). Nachdem
Heidegger Sartres Hauptwerk gelesen hatte, schrieb er sofort einen Brief an Sartre:
Hier begegnet mir zum erstenmal ein selbständiger Denker, der von Grund
aus den Bereich erfahren hat, aus dem heraus ich denke. Ihr Werk ist von einem
so unmittelbaren Verstehen meiner Philosophie beherrscht, wie es mir noch nirgends
begegnet ist. (Martin Heidegger, an Jean-Paul Sartre, 1945).  Existentialismus
- was ist das? Vor dem 29.10.1945 - also vor dem Vortrag im Pariser Salle
des Centraux - hatte Sarte noch erklärt: Der Existentialismus
? Ich weiß nicht, was das ist. Meine Philosophie ist eine Philosophie
der Existenz. Aber schon im Dezember 1945 kursierte die Antwort auf diese
Frage: Existentialismus - was ist das? Engagiere dich, ziehe die Menschheit
mit, schaffe dich immer wieder selbst, allein durch deine Taten. Ist
das etwa Existentialismus? Für Sartres Existentialismus ist der
Humanismus ein Pragmatismus ( ),
nach dem die ethischen Werte und die Güterwerte nur im Rahmen des menschlichen
Tuns und Lassens existieren, nicht unabhängig davon oder absolut. (Vgl. Jean-Paul
Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus?, 1946 ).
Aber ob der Mensch sich als humanes Wesen verwirklichen wird (ebd.,
S. 35 )
?
Auf seinem Vortrag vom 29.10.1945 antwortete Sartre
auf die Frage nach dem Schicksal des Humanismus - in einer Zeit, die soeben Exzesse
und schreckliche Zerstörungen erlebt hatte: Humanistische Werte, auf die
wir uns verlassen können (weil sie a n g e b l i c h in unserer
Zivilisation fest installiert seien), gibt es nicht. Nur dann, wenn wir
sie jedesmal in der Situation der Entscheidung wieder neu erfinden und wirklich
werden lassen, kann es sie geben. Sartres Existentialismus stellt den Menschen
vor diese Freiheit und die damit verbundene Verantwortung. Doch Sartres Existentialismus
ist darum keine Philosophie der Wirklichkeitsflucht, des Pessimismus, des
Quietismus, des Egoismus oder der Verzweiflung. Er ist eine Philosophie des Engagements.
(Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 397). Sartre brachte damals prägnante Formulierungen in
Umlauf: Der Existentialismus definiert den Menschen durch sein Handeln.
Der Existentialismus sagt dem Menschen, daß es Hoffnung nur im Handeln gibt
und daß die Tat das einzige ist, was dem Menschen zu leben erlaubt. Ein
Mensch engagiert sich in seinem Leben, zeichnet sein Gesicht, und außerhalb
dieses Gesichts ist nichts vorhanden. Wir sind verlassen, ohne Entschuldigung.
Das meine ich, wenn ich sage, der Mensch ist zur Freiheit verurteilt. Nach
1945 war in Frankreich wie in Deutschland das Problem des Humanismus wieder aktuell
geworden, und darin sahen auch Heidegger und Sartre eine Veranlassung zum Engagement.
Sartre aber hatte sich gegen den Vorwurf zu wehren, daß er in einem
geschichtlichen Augenblick, da es sich erwiesen hatte, wie zerbrechlich die Werte
der Zivilisation - Solidarität, Wahrheit, Freiheit - sind, daß
er in dieser prekären Situation die ethischen Normen noch dadurch schwächt,
daß er es dem einzelnen überläßt, über ihre Gültigkeit
zu entscheiden. Sartre erwidert darauf: Da wir Gott ausgeschaltet haben, muß
es wohl jemanden geben, der die Werte erfindet. Man muß die Dinge nehmen,
wie sie sind. Die Aufklärung hat inzwischen alle Naivität weggearbeitet.
Wir sind aus einem Traum aufgewacht: Wir finden uns unter einem leeren Himmel,
und auch auf die Gemeinschaft können wir uns nicht mehr verlassen. Und so
bleibt uns nichts anderes übrig, als durch unser Tun und als einzelne die
Werte in die Welt zu setzen und ihre Gültigkeit zu verfechten ohne einen
Segen von oben, ohne die überschwengliche Beglaubigung durch Gott oder einen
Volksgeist oder eine universelle Idee des Menschentums. Daß jeder für
sich die »Menschlichkeit« erst erfinden muß, bedeutet: »das
Leben hat a priori keinen Sinn«. (Jean-Paul Sartre, ebd., 1946, S.
34 ).
Es liegt an jedem einzelnen, ihm einen Sinn zu geben, indem er durch sein Handeln
bestimmte Werte wählt. Auf diese existentielle Wahl des einzelnen ist die
Möglichkeit einer »Menschengemeinschaft« gegründet. Jede
solche Wahl ist ein »Entwurf«, ein Akt der Überschreitung. Sartre
sagt: ein »Transzendieren« (Vgl. ebd., S. 35 ).
Der Mensch ruht nicht in sich wie in einer fertigen Wirklichkeit, er wird aus
sich herausgetrieben und muß sich immer erst noch verwirklichen. Und was
er verwirklicht, ist seine Transzendenz. Diese aber nicht verstanden als ein Jenseits,
sondern als Inbegriff der Möglichkeiten, auf die hin der Mensch sich überschreiten
kann. Transzendenz ist nichts, worin man Ruhe finden könnte, sondern sie
ist selbst das Herz der Unruhe, das den Menschen umtreibt. (Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994,
S. 397-398). Sartre will ja den Menschen daran erinnern,
daß es außer ihm keinen anderen Gesetzgeber gibt und daß er
in seiner Verlassenheit über sich selbst entscheidet; und weil wir zeigen,
daß nicht durch Rückwendung auf sich selber, sondern immer durch Suche
nach einem Ziel außerhalb seiner, welches diese oder jene Befreiung, diese
oder jene besondere Verwirklichung ist - daß dadurch der Mensch sich als
humanes Wesen verwirklichen wird. (Jean-Paul Sartre, ebd., 1946,
S. 35 ).Doch
diese Sichtweise Sartres führte bekanntlich zur Kritik - auch innerhalb des
Existentialismus, ja der Existenzphilosophie überhaupt. Heidegger hatte ja
die Frage seines französischen Schülers Jean Beaufret (1907-1982 )
- Auf welche Weise läßt sich dem Wort Humanismus einen Sinn zurückgeben
? - beantwortet (vgl. Heideggers Brief Über den Humanismus,
1946 ),
um auch auf Sartres Frage (Ist der Existentialismus ein Humanismus?)
zu antworten. Heideggers entschiedene Distanz zur humanistischen Tradition ist
ja nur so zu verstehen, daß die höchsten humanistischen Bestimmungen
des Wesens des Menschen die eigentliche Würde des Menschen noch nicht erfahren.
Insofern ist das Denken in »Sein und Zeit« (1927) gegen den Humanismus.
... Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die Humanitas des Menschen nicht
hoch genug ansetzt. (Martin Heidegger, Über den Humanismus,
1946, S. 327 ).
Sartre, der nach seinem Vortrag vom 29.10.1945 fast über Nacht zur Kultfigur
wurde, wurde eben deshalb immer mehr von vielen Existenzphilosophen kritisiert,
z.B. auch von Gabriel Marcel (1889-1973 ),
der strikt bestritt, was Sartre behauptete: Es gibt kein anderes All, als
das All der menschlichen Ichheit. (Ebd. S. 35 ).
Wenn es so wäre, dann wäre die Welt eine Hölle, so Marcel. Laut
Marcel genügt es nicht, daß der Mensch sich überschreitet, denn
er muß sich und kann sich auf etwas hin überschreiten, was er selbst
nicht ist und nie werden kann. Er darf sich nicht nur verwirklichen wollen, man
muß ihm auch helfen, jene Dimension wiederzuentdecken, worin er sich entwirklichen
kann. Karl Jaspers (1883-1969 )
schrieb im November 1945: Vor dem Nichts raffen wir uns auf ... Wir haben
keineswegs alles verloren, wenn wir nicht, in Verzweiflung wütend, auch noch
das vergeuden, was uns unverlierbar sein kann: den Grund der Geschichte, ... deutscher
Geschichte, ... der abendländischen Geschichte. ... der Menschheitsgeschichte
im Ganzen. Aufgeschlossen für den Menschen als Menschen dürfen wir uns
vertiefen in diesen Grund, in die nächsten und fernsten Erinnerungen.
Heideggers Brief Über den Humanismus (1946 )
kann man auch verstehen als Versuch, das eigene Denken zu rekapitulieren
und seinen gegenwärtigen Ort zu bestimmen, als Eröffnung eines Horizontes,
worin bestimmte Probleme des Lebens in unserer Zivilisation sichtbar werden
- so gesehen ist dieser Text ein großartiges und auch wirkungsmächtiges
Dokument auf Heideggers Denkweg. Außerdem ist hier bereits die ganze Heideggersche
Spätphilosophie ( )
zugegen. Heidegger antwortet also mit seinem Brief indirekt auf Sartre, auf die
bereits akute existentialistische Mode und auf die ebenfalls aktuelle Humanismus-Renaissance.
Zur Erinnerung: Beaufret hatte gefragt, »auf welche Weise läßt
sich dem Wort Humanismus ein Sinn geben?«. Sartre hatte seinen Existentialismus
als einen neuen Humanismus der Eigenverantwortlichkeit und des Engagements in
der Situation der metaphysischen Obdachlosigkeit deklariert. Und Heidegger versucht
nun darzutun, warum der Humanismus selbst das Problem ist, für dessen Lösung
er sich hält, warum das Denken über den Humanismus hinausgehen muß,
und weshalb das Denken genug damit zu tun hat, sich für sich selbst, für
die Sache des Denkens, zu engagieren. (Rüdiger Safranski, Ein Meister
aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 405). Sartre: Der
Mensch muß sich selber wieder finden und sich überzeugen, daß
ihn nichts vor ihm selber retten kann, wäre es auch ein gültiger Beweis
der Existenz Gottes. (Ebd. S. 36 ).
Zwar hatte auch Heidegger erkärt, das Sein - das ist nicht Gott und
nicht ein Weltgrund (Martin Heidegger, Über den Humanismus,
1946, S. 22 ),
aber das ändert nichts daran, so Heidegger, daß die Erfahrung des Seins
auf ein Seinsverhältnis einstimmt, das fromm ist: andachtsvoll, meditativ,
dankbar, ehrfürchtig, gelassen. Dem Heideggerschen Gott gehört
die Lichtung ( ).
Man erfährt ihn noch nicht im Seienden, das in der Lichtung begegnet.
Dazu Rüdiger Safranski (ebd., S. 410): Man begegnet ihm erst,
wenn man diese »Lichtung« als die Ermöglichung der Sichtbarkeit
eigens erfährt und dankbar empfängt. Man kann es drehen und wenden,
wie man will, es bleibt zuletzt die Wiederholung jenes wunderbaren Gedankens von
Schelling (1775-1854 ),
wonach die Natur im Menschen die Augen aufschlägt und bemerkt, daß
es sie gibt. (Ebd.).  Der
Existentialismus ist ein Teil der Existenzphilosophie. Er bildet keine Selbständigkeit
innerhalb der Philosophie, aber er war immerhin eine literarische Modephilosophie
! Sartres Existentialismus entstand doch eher als literarische Modephilosophie
nach 1945 in Frankreich. Die nach 1945 Geborenen sahen, wie in der Welt ihrer
Väter alles zu Scherben gefallen war und trauten keinen Systemen mehr. Der
in den Studentenkneipen von St. Germain de Pres in Paris gelebte Existentialismus
war ein traurig-tragisches Lebensgefühl mit der Lieblingsfarbe Schwarz. ( ).
Jean-Paul Sartre und Albert Camus (1913-1960 )
waren die literarischen Helden. Sie sprachen von des Lebens Kontingenz, von Zufall,
Schuld, Verstrickung, Ekel und Absurdität des Daseins. Es gab keinen erkennbaren
Sinn, deshalb war das Individuum zur Freiheit verurteilt und konnte letztendlich
tun, was es will. Zu einer Weltrevolution, wie nach ihnen die 68er, konnten sich
die Existentialisten nie versteigen. Camus beschrieb in seinen Romanen Der
Fremde ( )
und Die Pest ( )
und in seinem Essay Mythos des Sisyphos ( )
eindringlich die absurde Atmosphäre.
Sartre pflegte mit Simone de
Beauvoir (1908-1986), die mit ihrem Buch Das andere Geschlecht (1949)
den philosophischen Feminismus behandelte ( ),
eine rational geplante und konstruierte Liebe, zu der ein ausgeklügeltes
System für sexuelle Beziehungen mit anderen gehörte. Die sexuelle Begierde
spielt eine besondere Rolle in Sartres Beschreibung des Mit-Seins mit anderen.
Denn dieses ist grundsätzlich Konkurrenz und Kampf der einzelnen: Für-sich-Sein
gegen Für-sich-Sein ( ).
Die Hölle, das sind die anderen! Der Blick des anderen enthüllt mich
in meiner Faktizität, dem Objektsein, raubt mir die Welt, die ich als Nicht-Objektives,
als Für-sich-Sein, entworfen habe. Liebende sind endlos hin und her gerissen
zwischen Sadismus und Masochismus, der Objektivierung des Anderen und dem Objektwerden
für den Anderen, denn die Begierde ist der kannibalische Versuch, mich
der freien Subjektivität des Anderen durch seine Für-mich-Gegenständlichkeit
hindurch zu bemächtigen. ( ).
In der Begierde mache ich mich zu Fleisch in der Gegenwart des Anderen, um mir
das Fleisch des anderen anzueignen. Mein Bewußtsein ist dann verklebtes,
im Leib verfangenes Bewußtsein. In der Wollust der Ekstase ist die Begierde
auch schon zu Ende. Reflexives Bewußtsein von Lust tritt ein. Insofern ist
die Begierde selbst die Stelle, wo Für-sich-Sein und An-sich-Sein wenigstens
für ein paar Momente zusammenkommen und wo die entsetzliche Dialektik von
Herrschaft und Knechtschaft ruht.Mit seinem zweiten Hauptwerk (Kritik
der dialektischen Vernunft )
wollte Sartre den Existentialismus mit dem Marxismus ( )
verbinden - er war von dieser Verbindung wohl auch zutiefst überzeugt, denn
er meinte, daß eine sozialistische Volksdemokratie die Voraussetzung
dafür bilde, daß der Existentialismus von den einzelnen Menschen gelebt
werden kann.Was Sartre in seinen
Untersuchungen zur entfremdeten »Praxis« über den »Menschen,
der in Knappheit lebt«, zu sagen weiß, ist im Grunde nur eine Exegese
des biblischen Vertreibungsmythos, gelesen durch ein Hegelsches Begriffsgitter.
Die Knappheit verhängt die Unmöglichkeit der Koexistenz über das
Kollektiv. Sartre fundiert dieses infernalische Existential um eine Dimension
zu tief, um es mit dem marxistischen Konzept der Ausbeutung in Übereinstimmung
briringen zu können; auch verlegt er Konkurrenz und gegenseitige Verdinglichung
kraft des bösen »Blicks« in solche Abgründe, daß keine
Versöhnung oder Befreundung sie je überwinden könnte - weder innerhalb
noch außerhalb der Sphäre der Knappheit. Dadurch verkennt er nicht
nur die mögliche Produktivität der Konkurrenz, auch der faktisch vollzogene
Austritt aus der Mangelwelt infolge der modernen Eigentumswirtschaft gerät
ihm gar nicht in den Blick. Das Projekt einer Rettung des Marxismus durch seine
Anreicherung mit existentialistischen Motiven war somit von vorneherein zum Scheitern
verurteilt. Die tiefste Quelle von Sartres Fehlschlag liegt jedoch nicht in seiner
Anbiederung an die in sich brüchige Kritik der politischen Ökonomie.
Sie entspringt seiner philosophischen Gleichsetzung des Menschen mit dem Herd
des Nichts. Wo er am resolutesten den metaphysischen Jargon benutzt, entfernt
er sich am weitesten vom Stand der Kunst hinsichtlich des Wissens vom Menschen.
Der Mensch ist nicht Negativität, sondern der Differenzpunkt zwischen Wiederholungen.
(Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 655-656
).
Als dezidierter Anhänger einer Littérature engagée
setzte Jean-Paul Sartre sich in Romanen, Dramen und Filmdrehbüchern vor
allem mit der Freiheitsproblematik auseinander, die in seinem philosophischen
Werk systematisch entwickelt sind. In Sartres Existenzphilosophie
ist von einer existentiellen Psychoanalyse ( ),
speziell von einer Existenzanalyse, die Rede, der die Aufgabe zufällt, in
streng objektiver Form die subjektive Wahl ans Licht zu ziehen, durch die jede
Person sich zur Person macht, d.h. sich verkünden läßt, was sie
ist. Triebe, Neigungen u.s.w. sind (nur noch) zweitrangig in bezug auf diese
Wahl. Der psychische Tatbestand erstreckt sich genau so weit wie das Bewußtsein.
Die Lehre vom Unbewußten wird hier also verworfen.
Sartre
... war im Bilde über zehn Millionen Gefangene in sowjetischen Lagern und
schwieg, um nicht aus der Front der Antifaschisten auszubrechen. .... (Peter
Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit,
2006, S. 259).Daß die extreme Linke Europas nach dem Zweiten
Weltkrieg an sich selbst gespart hätte, kann nicht behauptet werden. Bei
ihrem tief empfundenen Mitgefühl für sich selbst erklomm sie die gähnenden
Höhen der Großzügigkeit. Indem sie immer wieder ihren Antifaschismus
ins Feld führte, reklamierte sie, zusammen mit der grundlegenden historischen
Legitimität - man hatte ja Großartiges gewollt -, das Recht, dort weiterzumachen,
wo die Revolutionäre vor Stalin aufgehört hatten. Eine höhere moralische
Mathematik wurde erfunden, nach welcher als unschuldig zu gelten hat, wer beweisen
kann, daß ein anderer krimineller war als er selbst. Dank solcher Rechnungen
avancierte Hitler für viele zum Retter des Gewissens. Um von Affinitäten
eigener Engagements zu den ideologischen Prämissen der umfangreichsten Mordaktionen
in der Geschichte der Menschheit abzulenken, wurden ideengeschichtliche Schauprozesse
inszeniert, in denen alles auf den Weltkriegsgefreiten, den Vollender des Abendlandes,
zulief. Dank maßloser Formen von Kulturkritik - etwa der Rückführung
von Auschwitz bis zu Luther und Platon oder der Kriminalisierung der okzidentalen
Zivilisation im ganzen - versuchte man, die Spuren zu verwischen, die verrieten,
wie nahe man selbst einem klassengenozidalen System gestanden hatte. Die kluge
Umverteilung der Schande hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Man brachte es tatsächlich
soweit, fast jede Kritik am Kommunismus als »Antikommunismus« und
diesen als eine Fortsetzung des Faschismus mit liberalen Mitteln zu denunzieren.
Wenn es nach 1945 tatsächlich keine offenen Exfaschisten gab, so fehlte es
nicht an Paläostalinisten, Exkommunisten, alternativen Kommunisten und radikalen
Unschuldigen von den äußersten Flügeln, die den Kopf so hoch trugen,
als wären die Verbrechen Lenins, Stalins, Maos, Ceausescus, Pol Pots und
anderer kommunistischer Führer auf dem Planeten Pluto begangen worden. Die
thymotische Analyse macht diese Phänome verständlich. Dieselben Menschen,
die aus guten Gründen zu stolz sind für dieWirklichkeit, sind manchmal
aus weniger guten Gründen zu stolz für die Wahrheit. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 259-260).Die
hohe Schule der Unbelehrbarkeit fand ihren Meister in Jean-Paul Sartre, der aus
der Einfühlung in die revolutionäre Gewalt seit längerem ein selbstquälerisches
Exerzitium gemacht hatte. Und doch: Auch er war nicht mehr als ein eminenter Vertreter
einer Generation von Fakiren, die sich auf dem Nagelbrett der Selbstunterbietung
quälten, um für ihre Zugehörigkeit zum Bürgertum zu büßen.
Noch heute ist es für Europäer mit einem Rest an historischem Taktgefühl
schmerzlich, die Bilder aus dem Jahr 1970 wiederzusehen, die einen der größten
Intellektuellen des Jahrhunderts, den Verfasser von Das Sein und das Nichts
und der Kritik der dialektischen Vernunft, zeigen, wie er sich als Straßenverkäufer
für ein radikalkonfuses Erbauungsblättchen der maoistischen Gauche
proletarienne betätigte, um für die, wie es hieß, bedrohte
Freiheit der Andersdenkenden in Frankreich einzutreten. (Peter Sloterdijk,
Die thymotische Revolution, in: Ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 273-274).Sartres
ermattete Wendung, es komme darauf an, etwas aus dem zu machen, was mit uns gemacht
wurde, ist aus der Perspektive als eine einäugige Fassun der Passiv-Aktiv-Verschränkung
zu durchschauen. Wie bekannt setzte Sartre stets den Akzent auf den Akt der Selbstaneignung,
die der bisherigen Einwilligung in die Fremdbestimmtheit ein Ende bereitet. Mit
ihm reißt sich das Subjekt von seinem Objekt-Sein für andere los und
artikuliert so seine Freiheit; zugleich hebt es die eigene Unaufrichtigkeit auf,
aus welcher es vorgab, ein ohnmächtiges Etwas zu sein: Wer Ding unter Dingen
zu sein behauptet, hat ursprünglich sich selbst betrogen. Unschwer erkennt
man, wie hier das Modell der Résistance auf die philosophische Existenzanalyse
übertragen wird - und im Hintergrund der Projektion zeichnet sogar der dramatische
Schatten der französischen Revolution sich ab. Im übrigen hat
diese die Wende zur Veräußerlichung des Wandlungsgebots beschleunigt,
weil ihr ambivalenter Ausgang die modernen Formen des Radikalismus ins Leben rief:
Die Unzufriedenheit mit dem Ergebnis der Revolution erzeugte das konkrete Verlangen
nach ihrer Wiederholung; die Unzufriedenheit mit den Wiederholungen erzeugte das
abstrakte Verlangen nach ihrer Permanenz. Sartre war luzide genug, um die chronische
Unzufriedenheit von der äußeren Front an die innere zurückzuversetzen.
Die Folgen sprechen für sich: Wenn Selbstverwirklichung als ein fortwährend
von neuern zu vollziehender Bruch mit der Passivität vorgestellt wird, greift
das Irrlicht der permanenten Revolution auf das Selbstverhältnis des Einzelnen
über - tatsächlich sprach Sartre unter Bezug auf Trotzki von der wahren
Sittlichkeit als permanente Konversion. (Vgl. Jean-Paul Sartre, Entwürfe
für eine Moralphilosophie, S. 28. An derselben Stelle heißt es:
»Die guten Gewohnheiten: sie sind niemals gut, weil sie Gewohnheiten sind.«).
Dieser Ansatz konnte nur ein Ergebnis zeitigen: die synchrone Zerstörung
der Politik und der Moral. (Peter Sloterdijk, Du mußt dein
Leben ändern, 2009, S. 591-592). Worauf es in Wahrheit
ankommt, ist die freie Kultivierung der passiven Momente im Selbstbezug der Einzelnen,
wie sie der auto-operativen Verfaßtheit moderner Existenz entspricht. Ich
muß hierzu keineswegs die perverse Ausnutzung der leidenden Position, den
Masochismus, wählen, bei dem die sexuelle Beziehung in ein Unterwerfungsspiel
eingebettet wird. Sartre hat diesen Modus von Sich-Operieren-Lassen auf einigen
der eindrucksvollsten Seiten seines frühen Hauptwerks als Paradigma werks
als Paradigma einer listig-freiwilligen Objektwerdung für den anderen hervorgekehrt
(vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 1943, S. 660f.)- literarisch
glanzvoll, sachlich irreführend. Das Feld eigener Interessen an gekonnter
Passivität ist sehr viel ausgedehnter, als es der perverse Kontrakt des Leidenssuchers
mit seinem angestellten Mißhandler ausdrückt; es ist auch um vieles
breiter, als man unter dem Blickwinkel der Macht- und Herrschaftskritik zu erfassen
vermag. Wenn ich mit einem Transportunternehmen verabrede, mich von A nach B bringen
zu lassen, nehme ich den mir angebotenen Fahrdienst als ein passables Leiden in
Kauf - nur an gewissen Tagen werden Fahrten auf gemieteten Achsen wirklich zu
masochistischen Prüfungen. Suche ich meinen Arzt auf, begrüße
ich in der Regel auch die unangenehmen Untersuchungen, die er mir kraft seiner
sachlichen Kompetenz angedeihen läßt; ich unterziehe mich invasiven
Behandlungen, als täte ich sie mir letztlich selbst an. Schalte ich einen
von mir bevorzugten Sender ein, akzeptiere ich nolens volens meine Überschwemmung
durch das laufende Programm. Das Wortspiel McLuhans, wonach message gleich
massage sei, ergibt philosophisch Sinn, sobald man darin eine kompetente
Stellungnahme zur »Frage des Subjekts« im Medienzeitalter erkennt.
Sich-Massieren-Lassen symbolisiert die Lage all derer, die auf sich einwirken,
indem sie anderen erlauben, auf sie einzuwirken. An sämtlichen
Fällen von freiwillig gesuchter Passivität ist unschwer eine Rückbeziehung
der passiven Momente auf die Eigentätigkeit nachweisbar. Hierzu gehört,
daß diese für die Dauer der Fremdeinwirkung suspendiert wird, ohne
daß die Aussicht auf ihr Wiedereinsetzen aufgegeben würde. (Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 592-593).
In welche Extreme Sartres Pendeln zwischen Alkoholismus und Amphetaminismus
führte, ist den Kennern seiner späteren Karriere gleichfalls kein Geheimnis.
In diesen Fällen kam es offensichtlich immer darauf an, was die Stimulierten
aus dem machten, was die Stimulatien aus ihnen gemacht hatten. Sartres Amphetaminsucht
war nicht ohne Ironie, weil sie ihn von einem Mittel abhängig werden ließ,
das ihm das Gefühl völliger Unabhängigkeit geben sollte.
(Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 597).Wenn
ein Denker von der Statur Sartres entschlossen war, die Gegebenheiten der sowjetischen
Lagerwelt in Kenntnis ihrer Herkunft, ihres Umfangs und ihrer Konsequenzen bis
weit in die 1950er Jahre zu verschweigen, ja wenn er so weit ging, westliche Kritiker
der Lager - darunter Albert Camus - als verlogene Lakaien der Bourgeoisie zu denunzieren,
zeigt sich, wie die größte maladaptive Anomalie in der politischen
Geschichte der Menschheit auf die Urteilskraft eminenter Intellektueller ihren
Schatten warf. Die kulturtheoretisch wesentliche Information liegt in den Jahreszahlen:
Sartres Schweigebeschluß begleitete den Eintritt der sowjetischen Lagerkultur
in die dritte Generation. Er unterstützte den perversen Übergang einer
»Maßnahme« in eine Institution. Nimmt man diesen nicht abweisbaren
Sinn oder Nebensinn des Sartre-Worts von seiner »Weggefährtenschaft«
mit dem Kommunismus zur Kenntnis, ist nicht zu leugnen, daß in seiner Person,
die das moralische Orakel seiner Generation zu verkörpern schien, der Archetypus
des falschen Lehrers auf die Bühne getreten war - obschon man ihn unter den
Pflegern des kritischen Gedächtnisses lieber an der Person Heideggers diskutiert.
Nun mag Heidegger in manchem ein falscher Lehrer gegen die Moderne gewesen sein;
der spätere Sartre war durchwegs der falsche Lehrer für die Moderne.
(Peter Sloterdijk, Du mußt dein leben ändern, 2009, S. 678-679). |