
Sigmund
Freud (1856-1939) |
Pschoanalyse, Unbewußtes als lebensphilosophische Triebdynamik |
Sigmund Freud, der Begründer der theoretischen und praktischen Psychoanalyse,
arbeitete zur Konzeption erfolgversprechender Behandlungsmethoden bei der Hysterie
eng mit Josef Breuer (1842-1925) zusammen. Aus dieser Zusammenarbeit entwickelte
Freud das psychoanalytische Therapieverfahren, bei dem er zugleich seine grundlegenden
Einsichten in die Triebstruktur menschlichen Verhaltens gewann. Als Zentraltrieb
nahm er den Geschlechtstrieb an. In der Richtigkeit dieser Annahme sah sich Freud
durch die starke emotionale Bindung seiner Patienten bestätigt. Da gerade
die Entfaltung der geschlechtlichen Triebhaftigkeit des Menschen durch gesellschaftliche
Regeln und Tabus unterdrückt wird, ergeben sich laut Freud hieraus die Fehlentwicklungen,
die zu Neurosen führen, denen auszuweichen lediglich durch Sublimierung möglich
sei. Freud weitete dementsprechend seine psychologische Theorie auf alle geistig-kulturellen,
sozialen, mythologischen und religiösen Bereiche des menschlichen Lebens
aus. Seine Lehre - vielfach stark kritisiert, abgelehnt, mißdeutet und teilweise
auch widerlegt - hatte weltweit beträchtlichen Einfluß auf die Entwicklung
nicht nur der Anthropologie, Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, sondern
auch der Philosophie, Kunst und Literatur. 
Hatte
Freud seine Psychoanalyse zunächst nur als eine Psychotherapie zur Heilung
der verschiedenen Formen der Hysterie entwickelt, so wurde sie jetzt von ihm immer
mehr ausgestaltet zu einer Lehre von den Eigengesetzlichkeiten und dem Wirken
des Unbewußten, insbesondere des Trieblebens.Nach
dem 1. Weltkrieg wandte sich Freud immer mehr von den Problemen der Krankenbehandlung
ab und der psychologischen Theorie, von ihm Metapsychologie genannt,
zu. Am Lebensabend behandelte er insbesondere kulturphilosophische Fragen, die
er psychologistisch zu klären versuchte. Freud war ein Schüler der Lebensphilosophie,
das heißt: Schüler des Willensmetaphysikers Schopenhauer (1788-1860
)
bzw. des Schopenhauer-Schülers Nietzsche (1844-1900 ),
obwohl Freud sein Schüler-Sein durch einen ausgeklügelten Abwehrmechanismus
ständig verdrängen mußte und meinte, die Philosophie sei eine
der anständigsten Formen der Sublimierung verdrängter Sexualität,
nichts weiter. Die Tatsache, daß er damit auch die Psychoanalyse, die Lebensphilosophie
und nichts weiter ist, ins Niemandsland stellte, kam dem Meister der Verdrängung
wohl nicht mehr ins Bewußtsein. Offenbar war ausgerechnet sein Ich
dem Über-Ich so vollends ausgeliefert, daß Es nichts
mehr zu melden hatte. Denn ausgerechnet das seelenkundliche Genie Nietzsche inspirierte
die Tiefenpsychologie als eine Disziplin der modernen analytischen Psychologie
und Psychotherapie, und Freud hatte zeitlebens Anlaß zu leugnen,
daß er durch dieses Nietzsche-Tor zu seinen Ansichten gelangt sei
und daß er seine Grundbegriffe von Nietzsche geliehen hatte. (Vgl.
Peter Sloterdijk, in: Focus 34, 2000, S. 85). - Eugen Bleuler (1857-1939)
prägte den Begriff der Tiefenpsychologie, um die Bedeutung unbewußter
Prozesse zu betonen. Daß das Seelenleben ausschließlich oder überwiegend
durch den Sexualtrieb, durch Macht und Geltungstrieb oder durch das libidinöse
Kollektiv-Unbewußte bestimmt sei, wird zwar hin und wieder von den tiefenpsychologischen
Vertretern als die Wirklichkeit verfälschende Simplifikation und als Biologismus
abgelehnt, doch einig scheinen sie sich darüber zu sein, daß die Tiefenpsychologie
sich auf die Lehren von Sigmund Freud, Alfred Adler (1870-1937) und Carl Gustav
Jung (1875-1961 )
zu stützen habe. Die Tiefenpsychologie entstand jedoch bereits in der Romantik
bzw. im Idealismus, als auch die Psychologie selbst, zunächst als Mesmerismus,
und die klassische Homöopathie sowie andere individualisierende oder selbstversuchende
Projekte entstanden waren. ( ).
Als dann später Nietzsche sein eigenes Werden exemplarisch untersuchte, entdeckte
er selbst und durch ihn bald auch die Öffentlichkeit den Ernst des
Selbstgeburtkampfes, den das einzelne Individuum mit sich und seinem Schicksal
auszufechten hat. Nietzsche hob den Sachverhalt ans Licht, daß
die Aufgabe, das eigene Leben aus dem rohstoffartigen Zustand herauszuführen
und es zu einem Werk zu machen, den Charakter eines Ringens ums Ganze annehmen
kann. Letztlich war Nietzsche vielleicht auch mehr Psychagoge als
Psychologe - und das will etwas sagen, denn zu Recht durfte man ihn ... als den
größten Psychologen seines Zeitalters im Gedächtnis behalten.
(Vgl. Peter Sloterdijk, in: Focus 34, 2000; S. 84f.).  Nicht
Freud, sondern Nietzsche erfand die Psychoanalyse, die deshalb also eigentlich
Nietzsche-Psychologie genannt werden muß. Auch alle aus der Psychoanalyse
hervorgegangenen Psychotherapie-Arten gehen somit auf Nietzsche zurück. Nietzsche
lebte im 19. Jahrhundert und als Psychologe bereits im 20. Jahrhundert, denn er
und sonst niemand war der Begründer der für das 20. Jahrhundert typischen
Psychotherapie (ob das auch noch für für spätere Jahrhunderte gelten wird,
wird man erst in Zukunft beurteilen können). Die Tatsache, daß Freud
von Nietzsche abgeschaut und abgeschrieben und dabei auch noch viele Fehler gemacht
hat, bestätigt die Regel, daß das Original besser ist als seine Kopien.
Nietzsche war Philosoph (Lebensphilosoph), Philologe, Dichter, Psychologe, Psychagoge,
Psychoanalytiker, Psychotherapeut und insofern ein Genie des Egoismus
(Rüdiger Safranski), als mit einen Egoisten nur derjenige gemeint
ist, der mit sich selbst gut befreundet sein kann und das Ressentiment,
den Neid und den Haß aus einer Selbstverfeindung heraus nicht (mehr) nötig
hat, und genau dieser Egoismus ist auch Ziel der Psychonalyse und jeder der aus
ihr hervorgegangenen Psychotherapie-Arten. Egoismus bedeutet für die meisten
Psychotherapeuten wie schon viel früher für ihren Übervater Nietzsche
etwas Positives, Anzustrebendes, Gesundes. Die
Quelle des prinzipiellen Mißverständnisses, dem sich die Psychoanalyse
verschreiben hatte, lag in ihrem naturalistisch verkleideten kryptophilosophischen
Vorsatz, die conditio humana insgesamt von der Libidodynamik her, mithin
von der Erotik, zu erklären. Dies hätte kein Verhängsnis bedeuten
müssen, wäre das legitime Interesse der Analytiker für den energiereichen
Eros-Pol der Psyche mit einer ebenso lebhaften Zuwendung zum Pol der thymotischen
Energien verbunden gewesen. Nie war sie jedoch dazu bereit, mit gleicher Ausführlichkeit
und Grundsätzlichkeit von der Thymotik des Menschen beiderlei Geschlechts
zu handeln: von seinem Stolz, seinem Mut, seiner Beherztheit, seinem Geltungsdrang,
seinem Verlangen nach Gerechtigkeit, seinem Gefühl für Würde und
Ehre, seiner Indignation und seinen kämpferisch-rächerischen Energien.
(Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 27-28).Ihrem
erotodynamischen Ansatz entsprechend brachte die Psychoanalyse viel von dem Haß
ans Licht, der die dunkle Kehrseite der Liebe bildet. Es gelang ihr zu zeigen,
daß das Hassen ähnlichen Gesetzen unterliegt wie das Lieben und daß
hier wie dort Projektion und Wiederholungszwang das Kommando führen. Sie
blieb weitgehend stumm angesichts des Zorns, der aus dem Streben nach Erfolg,
Ansehen, Selbstachtung und dessen Rückschlägen entspringt. Das sichtbarste
Symptom der freiwilligen Unwissenheit, die aus dem analytischen Paradigma folgte,
ist die Narzißmustheorie, jenes zweite Aufgebot der psychoanalytischen Doktrin,
mit dem die Unstimmigkeiten des ödipalen Theorems beseitigt werden sollten.
Bezeichnenderweise wendet die Narzißmus-These ihr Interesse zwar den menschlichen
Selbstaffirmationen zu, möchte diese jedoch gegen alle Plausibilität
in den Bannkreis eines zweiten erotischen Modells einschließen. Sie nimmt
die vergebliche Mühe auf sich, die eigensinnige Fülle der thymotischen
Phänomene von der Autoerotik und deren pathogenen Zersplitterungen abzuleiten.
Zwar formuliert sie ein respektables Bildungsprogramm für die Psyche, das
die Transformation der sogenannten narzißtischen Zustände in reife
Objektliebe zum Ziel hat. Es kam ihr nie in den Sinn, einen analogen Bildungsweg
für die Hervorbringung des stolzen Erwachsenen, des Kämpfers und Ambitionsträgers,
zu entwerfen. Das Wort »Stolz« ist für Psychoanalytiker meist
nur ein inhaltsleerer Eintrag ins Lexikon des Neurotikers. Zu dem, was das Wort
bezeichnet, haben sie aufgrund einer Verlernübung, die sich Ausbildung nennt,
den Zugang praktisch verloren. (Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit,
2006, S. 28-29).Narziß jedoch
ist unfähig, Ödipus zu helfen. Die Wahl dieser mythischen Modellpersonen
verrät mehr über den Wähler als über die Natur des Gegenstands.
Wie sollte ein Jüngling mit grenzdebilen Zügen, der nicht zwischen sich
und seinem Spiegelbild unterscheiden kann, die Schwächen eines Mannes kompensieren,
der den eigenen Vater erst in dem Moment kennenlernt, in dem er ihn totschlägt,
und dann aus Versehen mit der eigenen Mutter Nachkommen zeugt? Beide sind
Liebende auf trüben Pfaden, beide verirren sich so sehr in erotischen Abhängigkeiten,
daß nicht leicht zu entscheiden wäre, wer von ihnen als der Elendere
gelten soll. Eine Galerie der Prototypen menschlicher Kläglichkeit ließe
sich überzeugend mit Ödipus und Narziß beginnen. Man wird solche
Figuren bedauern, nicht bewundern, und soll doch in ihren Schicksalen, wenn es
nach den Lehren der Schule ginge, die mächtigsten Muster für die Lebensdramen
aller anerkennen. Welche Tendenz diesen Beförderungen zugrunde liegt, ist
unschwer zu durchschauen. Wer Menschen zu Patienten - das heißt zu Personen
ohne Stolz - machen möchte, kann nichts Besseres tun, als Figuren wie diese
zu Emblemen der conditio humana zu erhöhen. In Wahrheit hätte
ihre Lektion in der Warnung liegen müssen, wie leicht die unberatene und
vereinseitigte Liebe ihre Subjekte zum Narren hält. Nur wenn das Ziel darin
besteht, den Menschen ab ovo als Hampelmann der Liebe zu porträtieren,
wird man den elenden Anebeter des eigenen Bildes und den ebenso elenden Liebahber
seiner Mutter zu Mustern menschlichen Daseins erklären. (Peter Sloterdijk,
Zorn und Zeit, 2006, S. 29-30).Kaum treten bei Individuen
oder Gruppen »Symptome« wie Stolz, Empörung, Zorn, Ambition,
hoher Selbstbehauptungswille und akute Kampfbereitschaft auf, nimmt der Parteigänger
der thymós-vergessenen Kultur Zuflucht zu der Vorstellung, diese
Leute müßten Opfer eines neurotischen Komplexes sein. Die Therapeuten
stehen hier in der Tradition der christlichen Moralisten, die von der natürlichen
Dämonie der Selbstliebe sprechen, sobald die thymotischen Energien sich offen
zu erkennen geben. Haben die Europäer über den Stolz wie den Zorn nicht
von den Tagen der Kirchenväter ( )
an zu hören bekommen, solche Regungen seien es, die den Verworfenen den Weg
in den Abgrund weisen? .... Die Aufgabe lautet also, eine Psychologie des Eigenwertbewußtseins
und der Selbstbehauptungskräfte wiederzugewinnen, die den psychodynamischen
Grundgegebenheiten eher gerecht wird. Das setzt die Korrektur des erotologisch
halbierten Menschenbildes voraus, das die Horizonte des 19. und 20. Jahrhunderts
umstellt. Zugleich wird eine empfindliche Distanzierung von tief eingeschliffenen
Konditionierungen der westlichen Psyche notwendig, in ihren älteren religiösen
Ausprägungen ebenso wie ihren jüngeren Metamorphosen. Zunächst
und vor allem ist Abstand zu gewinnen von der unverhüllten Bigotterie der
christlichen Anthropologie, nach welcher der Mensch in seiner Eigenschaft als
Sünder das hochmutkranke Tier abgibt, dem nur durch Glaubensdemut geholfen
werden kann. Man soll sich nicht einbilden, eine hiervon Distanz schaffende Bewegung
wäre leicht auszuführen oder gar schon vollzogen. Wenngleich die Phrase
»Gott ist tot« jetzt schon von Journalisten geläufig in den Computer
eingegeben wird, bestehen die theistischen Demutsdressuren im demokratischen Konsensualismus
nahezu ungebrochen fort. Es ist, wie man sieht, ohne weiteres möglich, Gott
sterben zu lassen und doch ein Volk von Quasi-Gottesfürchtigen zu behalten.
Mögen die meisten Zeitgenossen von anti-autoritären Strömungen
erfaßt sein und gelernt haben, eigene Geltungsbedürfnisse auszudrücken,
so halten sie doch in psychologischer Sicht an einem Verhältnis semirebellischer
Vasallität gegenüber dem versorgenden Herrn fest. Sie verlangen »Respekt«
und wollen auf die Vorteile der Abhängigkeit nicht verzichten. Noch schwieriger
dürfte es für viele sein, sich von der verhüllten Bigotterie der
Psychoanalyse zu emanzipieren, nach deren Dogmatik auch der kraftvollste Mensch
nicht mehr sein kann als der bewußte Dulder seiner liebeskranken Kondition,
die Neurose heißt. Die Zukunft der Illusionen ist durch die große
Koalition gesichert: Das Christentum wie die Psychoanalyse können ihren Anspruch,
die letzten Horizonte des Wissens vom Menschen zu umschreiben, mit Aussicht auf
Erfolg verteidigen, solange sie sich darauf verstehen, ein Monopol für die
Definition der menschlichen Kondition durch den konstitutiven Mangel, vormals
besser bekannt als Sünde, aufrechtzuerhalten. Wo der Mangel an der Macht
ist, führt die »Ethik der Würdelosigkeit« das Wort. - Solange
also die beiden klugen Bigotteriesysteme die Szene beherrschen, ist die Sicht
auf die thymotische Dynamik menschlicher Existenz verstellt, in bezug auf Individuen
nicht weniger als in bezug auf politische Gruppen. Folglich ist der Zugang zum
Studium der Selbstbehauptungs- und Zorndynamik in psychischen und sozialen Systemen
praktisch blockiert. Stets muß man mit den ungeeigneten Konzepten der Erotik
auf die thymotischen Phänomene zugreifen. Unter der bigotten Blockade kommt
die direkte Intention nie wirklich zur Sache, da man sich nur noch mit schrägen
Zügen den Tatsachen nähern kann - immerhin sind diese, ihrer erotischen
Fehlauffassung zum Trotz, nie ganz zu verdunkeln. Ist diese Verlegenheit beim
Namen genannt, wird klar, daß ihr allein durch die Umstellung des grundbegrifflichen
Apparats abzuhelfen ist. (Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006,
S. 32, 34-36). Außerdem haben christlich und psychoanalytisch geprägte
Denker bis heute Mühe zuzgeben, daß Freiheit ein Begriff ist, der nur
im Rahmen einer thymotischen Menschensicht Sinn ergibt. Ihnen sekundieren mit
hohem Eifer die Ökonomen, die den Menschen als das konsumierende Tier ins
Zentrum ihrer Appelle stellen - sie wollen dessen Freiheit nur bei der Wahl der
Futternäpfe am Werk sehen. .... Biologisch betrachtet, bedeutet Freiheit
das Vermögen, das gesamte Potential spontaner Bewegungen zu aktualisieren,
die einen Organismus eigentümlich sind. ... Stolzdynamisch bewegte Gruppen
haben es manchmal sogar nicht ungern, bei ihren Nachbarn und Rivalen unbeliebt
zu sein, solange das ihrem Souveränitätsgefühl Auftrieb gibt. ....
Auf dem Feld des Kampfs um Anerkennung wird der Mensch zu dem surrealen Tier,
das für einen bunten Fetzen, eine Fahne, einen Kelch sein Leben riskiert.
.... Sofern der bürgerlich konditionierte Thymos der psychologische Sitz
des von Hegel (1770-1831 )
dargestelletn Strebens nach Anerkennung ist, wird verständlich, warum ausbleibende
Anerkennung durch relevante Andere Zorn erregt. (Ebd., S. 37-43). Laut Sloterdijk
sind Thymos und Eros wie die zwei Brennpunkte in einer Ellipse anzusehen, und
so komme es darauf an, sie im Gleichgewicht zu halten. Freud hat von seinem Lehrer
Nietzsche nicht beide Konzepte - Thymos und Eros - übernommen, sondern
nur eines: Eros, noch dazu auf übertriebene Weise und, ob bewußt oder
unbewußt, im Sinne einer dem Christentum sehr ähnlichen scheinheiligen
Moral, die die Menschen blockiert und auch blockieren soll, ganz besonders
über das schlechte Gewissen.Seit der Bürgerlichen
Revolution hat man die Lehre vom Thymos vergessen, scheinen z.B. Zorn, Ehrgeiz
und Empörung als Motive zu Auftritten auf der politischen Bühne damals
wie heute nie zureichend zu sein .... Immerhin dämmert die Einsicht, wonach
ohne die unvornehme Basis der edlere Überbau Fiktion bleiben mußte.
Das Vergilisch-Freudsche Motiv, man wolle die Unterwelt aufrühren, wenn man
die oberen Götter nicht für sich einnehmen kann, beschreibt nicht nur
die Hadesfahrten der Psychoanalyse; es deutet auch auf die politischen Arrangements
zur Freisetzung der Kräfte, die unter den zivilisatorischen Hüllen auf
die Gelegenheit zum Ausbruch warten wie Typhon, das hundertköpfige Ungeheuer,
das Zeus vorzeiten unter dem Ätna begraben hatte. (Peter Sloterdijk,
Zorn und Zeit, 2006, S. 185). Für Freud und seine Psychoanalyse standen
das Thymotische (Stolz, Zorn, Geltungsstreben, Ehrgeiz, Empörung, Rache,
Neid, Gier u.s.w.) und das Erotische (Geschlechtstrieb, Libido, sexuelles
Begehren u.s.w.) nicht gleichwertig nebeneinander, z.B. wie jeder der zwei Brennpunkt
einer Ellipse, die man vielleicht Wille oder Trieb nennen könnte (vgl. Nietzsches
Wille zur Macht), und deren zwei Brennpunkte - Thymos und Eros - stets
im Gleichgewicht zu halten sind. Nicht nur geometrisch gesehen gilt für alle
Punkte in der Ellipse (z.B. Wille), daß die Summe ihrer Abstände
zu den zwei Brennpunkten F1 (z.B. Eros) und F2 (z.B.
Thymos) konstant ist und daß der Mittelpunkt (z.B. Macht) der
Strecke zwischen den zwei Brennpunkten zugleich der Mittelpunkt der Ellipse ist.
Also ist Macht gesund, ganz besonders im Hinblick auf das Thymos-Eros-Gleichgewicht.
Für Sloterdijk gibt es zwei Typen von Revolutuion: die
erotische Revolution des Bürgertums, die giergetrieben ist, und die thymotische
Revolution der Armen, die nur funktioniert, wenn sie stolzgetrieben bleibt.
( ).
Das Thymotische jedoch hat der bürgerliche Psychoanalytiker Freud total verdrängt.
Entscheidend für Freud war die Annahme des Unbewußten (oder
des Es) als Teil des Psychischen außer dem Bewußten
(Ich) und die Annahme einer Kraft, die dafür sorgt, daß
es unbewußte Vorstellungen gibt: die Verdrängung. Freud fand
in der psychoanalytischen Technik Mittel, diese widerstrebende Kraft aufzuheben
und die betreffenden Vorstellungen bewußt zu machen. Neurosen schienen
für Freud durch das Vorwalten wirksamer unbewußter Vorstellungen
bestimmt zu sein und könnten demnach durch Bewußtmachen auch
beseitigt werden. Freud sah sich
mit seiner Entwicklung des Unbewußten als ein zweiter Kant (1724-1804 ).
(Vgl. Kopernikanische Wendung ).
Die Korrektur, die Kant an der äußeren Wahrnehmung gemacht
hatte, daß sie subjektiv bedingt sei und daß hinter ihr das
unerkennbare Ding-an-sich ( )
stünde, machte Freud nun für die innere oder Selbst-Wahrnehmung.
So wie nach Kant die Dinge an sich nicht so zu sein brauchen, wie sie
uns erscheinen, so braucht nach Freud auch das Psychische, also das innere
Objekt, nicht so zu sein, wie es uns erscheint. Ganz so unerkennbar wie
Kants Dinge an sich sei das innere Objekt allerdings nicht, meinte Freud,
denn in dessen Erkenntnis und Behandlung bestehe schließlich die
ganze Psychoanalyse als Therapie und Technik der seelischen Kräfte.
Freud verglich auch die Philosophie, neben Kunst und Religion, mit der
Neurose. Die Neurosen zeigen einerseits auffällige und tiefreichende
Übereinstimmungen mit den großen sozialen Produktionen der
Kunst, der Religion und der Philosophie. Andererseits erscheinen sie wie
Verzerrungen derselben. Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie
sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild
einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen
Systems. ( ).
Der Neurotiker, meinte Freud, wendet sich von der Wirklichkeit ab, weil
er sie - ihr Ganzes oder Stücke desselben - unerträglich findet,
und ersetzt sie durch eine Wahnwelt. Sind also Künstler, Religiöse
und Philosophen Neurotiker? Und Freud?
Schon Hegel (1770-1831 )
hatte Kunst, Religion und Philosophie als Selbstbefriedigungen des absoluten
Geistes bezeichnet, gwissermaßen als Selbsttherapien des Geistes.
( ).
Nietzsche vermutete, daß hinter der Logik und Philosophie physiologische
Forderungen stünden, daß Philosophie bisher ein Mißverständnis
des Leibes gewesen sein könnte. ( ).
Freud konnte an Nietzsches Versuche psychoanalytischer Aufklärung anknüpfen.
Allerdings verschonte er - wohl zum Dank - Nietzsches Philosophie selbst von einer
psychoanalytischen Aufklärung. Oder lag das an Freuds eigenem Komplex?
Der Ödipuskomplex bildete ja für Freud als das inzestuöse Verlangen
(die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht auf den Vater) den Kern aller
Verdrängungen (des Mannes). In der unzulänglichen Bewältigung des
Ödipuskomplexes sah er den Grund für seelische Störungen und Neurosen.
Und wo für Männer der Ödipuskomplex war, da
sollte für Frauen der Elektrakomplex werden. Analog zu Freuds Ödipuskomples
ist Jungs Elektrakomplex zu sehen: der verdrängte Wunsch der Tochter, mit
dem Vater inzestuöse Beziehungen einzugehen. Jung nannte seine Lehre Analytische
Psychologie, in der das Unbewußte den schöpferischen Mutterboden
des Bewußtseins darstellt und persönliche, der Ontogenese, und kollektive,
der Phylogenese entstammende Inhalte umfaßt. Letztere seien die artbedingten
Aktions- und Reaktionsweisen der Psyche: die Archetypen (z.B. Animus vs.
Anima).Man darf die Frage offenlassen,
ob es die von Freud reklamierte psychoanlytische Kränkung des Menschen je
wirklich gegeben hat, ausgelöst durch die vorgeblich unwillkommene Entdeckung,
das Ich sei nicht Herr im eigenen Hause. Mit Gewißheit gibt es die behavioristische
Kränkung des Menschen, die ebensogut die asketologische heißen kann.
Sie folgt aus der Feststellung, wonach unser Dasein sich zu 99,9% aus Wiederholungen
zusammensetzt, von denen die meisten strikt mechanischer Natur sind. Diese Kränkung
ist nur durch die Einbildung zu bewältigen, man selbst sei trotzdem origineller
als so mancher andere. Setzt man sich einer anspruchsvolleren Selbstbeobachtung
aus, gerät man in den psychosomatischen Maschinenraum der eigenen Existenz.
Dort ist für die übliche Spontaneitätsschmeichelei nichts zu holen,
auch Freiheitstheoretiker bleiben besser oben. Bei dieser Untersuchung dringt
man in ein nicht-psychoanalytisches Unbewußtes vor, das alles umfaßt,
was zu den normalerweise unthematischen Rhythmen, Regeln und Ritualen rechnet,
gleich ob es auf kollektive Muster oder auf idiosynkratische Spezialisierungen
zurückgeht. In diesem Bereich ist alles höhere Mechanik, intime Einbildungen
von Nicht-Mechanik und unkonditioniertem Für-sich-Sein inbegriffen. Die Summe
dieser Mechaniken erzeugt den Überraschungsraum Persönlichkeit, in dem
doch nur äußerst selten Überraschendes geschieht. Die Menschen
bewohnen nicht Territorien, sondern Gewohnheiten. Radikale Umzüge greifen
zuerst die Einwurzelung in den habits an, erst dann die Orte, in denen
die Gewohnheiten gründen. Seit die Wenigen explizit üben, wird evident,
daß implizit alle üben, ja mehr noch, daß der Mensch ein Lebewesen
ist, das nicht nicht üben kann - wenn üben heißt: ein Aktionsmuster
so wiederholen, daß infolge seiner Ausführung die Disposition zur nächsten
Wiederholung verbessert wird. (Vgl. Peter Sloterdijk, Das Lebewesen,
das nicht nicht üben kann, in: Ders., Du mußt dein Leben ändern,
2009; S. 642-643).Die
von Freud unterstellten Kränkungen der Menschheit sind in Wirklichkeit
Triumphe* der Erkenntnis. |
1.)
Kosmische Kränkung? | Der
Mensch steht nicht im Zentrum der Welt!  | | a) | Die
Erde, auf der der Mensch lebt, steht nicht im Zentrum. | | b) | Die
Sonne, um die die Erde kreist, steht nicht im Zentrum. | | c) | Die
Galaxis, um deren Zentrum die Sonne kreist, steht nicht im Zentrum. | | d) | Das
Universum steht nicht im Zentrum. | 2.)
Biologische Kränkung? | Der
Mensch stammt nicht von Gott ab!  | | a) | Der
Mensch stammt vom Tier ab. | | b) | Alle
Lebewesen stammen vom Anorganischen ab. | | c) | Das
Anorganische stammt vom Zufall ab. |
3.) Seelische Kränkung? | Der
Mensch bestimmt sich nicht selbst!  | | a) | Das
Unbewußte des Menschen beherrscht das Bewußtsein des Menschen. | | b) | Fremde
Mächte beherrschen das Unbewußte des Menschen. | 4.)
Geistige Kränkung? | Der
Mensch kann nicht Gott werden!  | | a) | Der
Geist, der den Menschen frei macht, ist nicht allmächtig. |
|
*
Das Triumphale daran ist nicht die absolute, sondern nur die relative
Beseitigung alter Abhängigkeiten, weil (a) dabei neue Abhängikeiten
entstehen, (b) absolute Freiheit unmöglich ist. Bewußtseinsphilosophie
schließt ja die Ziele der praktischen Philosophie nicht aus, denn Bewußtsein
hat auch mit dem Leiblichen zu tun und ist auch immer affektiv bestimmt durch
das, was Schopenhauer den Willen nannte. ( ).
Freud nannte es Trieb (Libido, Eros, Unbewußtes). Bewußtsein und Vernunft
sind durch und durch vom Lebens- oder Zeugungswillen bestimmt oder besessen. In
Schopenhauers Willen konnte Freud sein Unbewußtes
entdecken. Schopenhauers Schüler Nietzsche war der Lehrer Freuds. Ob Welt,
Macht oder Unbewußtes: es geht um den Willen! (Vgl. 1. Hauptbestandteil
der Lebensphilosophie: Willensmetaphysik bzw. Willensphilosophie ).
Die
Existenzphilosophie, die ebenfalls aus der Alten Schule ( )
hervorging, aber insbesondere auf Kierkegaard ( )
basiert, hatte ihre größten Erfolge in der Zeit der Mittleren
Schule ( ).
Für den Kulminationspunkt kann man sogar eine Jahreszahl angeben: 1927, als
Martin Heidegger (1889-1976 )
mit Sein und Zeit ( )
berühmt wurde. Seit Heideggers fundamentalen Leistung, der Existenz-Ontologie
(Fundamentalontologie ),
wird mittels einer Daseinsanylyse das Dasein des Menschen dazu benutzt, das Wesen
und den Sinn des (im menschlichen Dasein anwesenden) Seins zu erschließen.
Wäre Freud 1927 überzeugter Existentialist geworden, hätte er seine
Lehre vom Unbewußten wohl verdrängen müssen. Jean-Paul
Sartre (1905-1980 )
bereicherte die Existenzphilosophie mit einer existentiellen Psychoanalyse, speziell
mit einer Existenzanalyse, der die Aufgabe zufällt, in streng objektiver
Form die subjektive Wahl ans Licht zu ziehen, durch die jede Person sich zur Person
macht, d.h. sich verkünden läßt, was sie ist. Triebe, Neigungen
u.s.w. sind (nur noch) zweitrangig in bezug auf diese Wahl. Der psychische
Tatbestand erstreckt sich genau so weit wie das Bewußtsein. Die Lehre
vom Unbewußten wird hier also verworfen. (Vgl. 2. Hauptbestandteil der Lebensphilosophie:
Existenzmetaphysik bzw. Existenzphilosophie ).Die
abendländische (skeptisch-moderne) Schule der Lebensphilosophie besteht
ganz allgemein aus einem ersten und einem zweiten Schulkurs: 1.) dem willensphilosophischen
Schopenhauer-Pflichtkurs (Hauptfach ),
2.) dem existenzphilosophischen Kierkegaard-Wahlpflichtkurs (Nebenfach
).Sigmund
Freud war einer der Schüler aus der Mittleren Schule der
willensmetaphysischen Schopenhauer-Schulklasse, weil er ein Schüler
Nietzsches ( ),
des Lehrers jener Mittleren Schule, war.Die
modernistische Kopernikanische Wendung, mit der schon Kant ( )
berühmt wurde ( ),
ist ein für Spätdenker ( ),
d.h. für die Moderne, ganz typischer Begriff, mit dem auch viele Lebensphilosophen
liebäugeln: Freud, Spengler ( )
und Sloterdijk ( )
sind nur einige Beispiele hierfür. Doch gerade die bewußt erklärten
Willensäußerungen sind es doch, die nicht zu der Wiederholung führen,
zu der sie führen sollen. Das hätte Freud doch wissen müssen, aber
gearde er war es, der wiederholen wollte, was nicht zu wiederholen ist. |