Größenwahn durch Anthropozentrismus
Daß
Anthropozentrismus zum Größenwahn führen kann, zeigt auch der
vor allem im Abendland verbreitete Glaube, der als Theorie - von Peter Mersch
( )
als kulturistische Evolutionstheorie ( )
bezeichnet und widerlegt ( )
- u.a. von der Anmaßung ausgeht, daß der moderne Mensch von der Evolution
völlig losgelöst sei.Und
diese Theorie lautet in etwa wie folgt: Menschen kommen als unbeschriebenes
Blatt auf die Welt. Menschliche Säuglinge sind folglich zunächst einmal
alle gleich. Mit entsprechenden Bildungsmaßnahmen und Förderprogrammen
können sie dann zu beliebiger Kompetenz geführt werden. Die Weitergabe
menschlicher Kompetenzen erfolgt also nicht über Gene, sondern über
kulturelle Mechanismen. Das gilt im wesentlichen auch für die beiden Geschlechter.
So kommt man nicht als Frau zur Welt, sondern wird dazu gemacht. Sind zu einem
späteren Zeitpunkt intellektuelle Unterschiede zwischen verschiedenen Individuen
feststellbar, dann ist das in erster Linie die Folge einer unterschiedlichen Sozialisation.
Es ist somit egal, wer in einer Gesellschaft Kinder bekommt. Wenn sozial schwache
und bildungsferne Schichten mehr Kinder bekommen als Schichten mit hohem sozioökonomischem
Status oder Bildungsniveau, dann müssen deren Kinder eben gezielt gefördert
werden. Eine qualitative Nichtbestandserhaltung ist immer Folge unzureichender
Fördermaßnahmen für den kindlichen Nachwuchs. Diese Theorie
soll im folgenden kulturistische Evolutionstheorie genannt werden. (Eine weniger
freundliche Bezeichnung ist »Gutmenschentum«). Typische Aussagen im
Umfeld der Theorie sind: | Erst
die geringe Kinderzahl altrömischer Senatoren oder moderner Akademiker gibt
dem Nachwuchs aus unteren Gesellschaftsschichten Raum für die eigene Karriere.
(Ralph Bollmann, 2006, Lob des Imperiums - Der Untergang Roms und die Zukunft
des Westens, S. 84). | | Wenn
hauptsächlich die Schwachen Kinder bekommen, dann müssen wir eben aus
diesen Kindern Atomphysiker machen, Gerichtspräsidenten, Abgeordnete, verantwortungsvolle
Bürger. (Susanne Gaschke, Die Emanzipationsfalle - erfolgreich, einsam,
kinderlos, 2005, S. 102f.). | Betrachtet man die
Theorie im Detail, dann fällt zunächst auf, daß sie auf alle drei
Kriterien der Evolutionstheorie verzichtet: | Alle
Menschen verfügen bei der Geburt über gleiche Möglichkeiten. Folglich
gibt es keine angeborene Variation unter den Individuen einer Population. | | Reproduktionserfolg
und sozialer Erfolg (beziehungsweise die Fähigkeit der Ressourcenbeschaffung)
müssen nicht miteinander korrelieren. Das Selektionsprinzip ist somit
ohne Bedeutung. | | Alle
Menschen verfügen bei der Geburt über gleiche Möglichkeiten. Hervorstechende
Kompetenzen der Eltern werden nicht an ihre Nachkommen vererbt. Das Vererbungsprinzip
ist folglich nicht gültig. | Die Kernaussage der
Evolutionstheorie ist: Wenn die drei Voraussetzungen - Variation, Selektion und
Vererbung - gegeben sind, ist Evolution unvermeidlich die Folge. (Vgl. Susan Blackmore,
Evolution und Meme, in: Alexander Becker et al., Gene, Meme und Gehirne,
2003, S. 50). Es stellt sich nun umgekehrt die Frage: Kann Evolution eventuell
auch dann stattfinden, wenn eine oder mehrere der drei Voraussetzungen Variation,
Selektion und Vererbung nicht gegeben sind? Die obige Theorie behauptet nichts
weniger als: Ja, Evolution kann in modernen menschlichen Gesellschaften sogar
dann stattfinden, wenn keine der drei Kriterien erfüllt ist. Falls Sie sich
fragen sollten, ob denn in modernen Gesellschaften Evolution überhaupt noch
erforderlich ist, so ist dies zu bejahen. Denn auch entwickelte Gesellschaften
sind ständigen Veränderungen ausgesetzt (Technik, Wissensgesellschaft,
Globalisierung, Ressourcenverknappung, Klimawandel, ...), auf die sie zu reagieren
und an die sie sich anzupassen haben. Und schließlich drücken auch
die Begriffe Entwicklungsland und hochentwickeltes Land einen gesellschaftlichen
Evolutionsprozeß aus. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!,
2007, S. 75-76 ).Der
Grundgedanke der kulturistischen Evolutionstheorie scheint sich in Teilen auf
die Mem-Theorie ( )
von Richard Dawkins zu stützen (vgl. Richard Dawkins, Das egoistische
Gen, 1976; Susan Blackmore, Evolution und Meme, in: Alexander Becker
et al., Gene, Meme und Gehirne, 2003): | Im
Rahmen der kulturellen Weiterentwicklung entstehen geistige Elemente, die sich
in die verschiedenen Gehirne der Mitglieder der Gesellschaft replizieren. | | Eine
gesellschaftliche Weiterentwicklung erfolgt durch kulturelle Weiterentwicklung.
Eine genetische Weiterentwicklung ihrer Mitglieder ist dagegen nicht erforderlich
und aufgrund der aktuellen menschlichen Reproduktionsstrategie auch gar nicht
mehr möglich. | Strenggenommen wird hier eine reine
Softwareevolution postuliert: Geboren wird immer der gleiche anpaßbare Mensch
mit der gleichen genbasierten Hardware. Wenn im Laufe der Zeit Veränderungen
oder gar Verbesserungen erfolgen, dann geschehen diese in der Software. Auf Computer
übertragen würde das bedeuten: Die Hardware ist längst ausgereift.
Alle Computer besitzen die gleiche Hauptspeichergröße, den gleichen
Prozessor, die gleiche Festplatte. Alle Weiterentwicklungen konzentrieren sich
auf das Betriebssystem und die Anwendungssoftware. (So könnte der manchmal
regelrecht hitzig ausgetragene Konflikt zwischen Soziobiologie und Soziologie
auch als ein Konflikt zwischen Hardware und Software interpretiert werden. Während
die Soziobiologie vor allem sehr niedrige und grundsätzliche menschliche
beziehungsweise biologische Verhaltensmuster untersucht, befaßt sich die
Soziologie in erster Linie mit höheren gesellschaftlichen und kulturellen
Themen. Oft werden dann zwischen den beiden Disziplinen Fronten aufgemacht, die
eigentlich nicht sein müßten.). Vergleicht man dagegen die wirkliche
Entwicklung in der Computerindustrie, dann dürfte die Aussage überraschen,
denn dort sind es in der Regel die Weiterentwicklungen in der Hardware, die neue
Softwareapplikationen ermöglichen. Und auch beim Menschen hat erst die enorme
Gehirnentwicklung während der Altsteinzeit die spätere kulturelle Entwicklung
ermöglicht. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!,
2007, S. 76-77 ).Für
die Diskussion spielen auch die Begriffe Phänotyp und Genotyp eine wesentliche
Rolle: | Phänotyp:
Meist wird als Phänotyp das äußere Erscheinungsbild eines Organismus
bezeichnet. Allerdings ist das nicht ganz korrekt, denn auch das Aussehen, die
Lage, die Größe der inneren Organe gehören dazu, ferner Verhaltensmerkmale
(zum Beispiel ob ein Lebewesen eher ängstlich oder aggressiv ist) und physiologische
Größen (zum Belspiel der Blutdruck eines Menschen). | | Genotyp:
Der vollständige Satz von Genen, den ein Organismus geerbt hat. Im Grunde
handelt es sich dabei um das Genom des Organismus. | Eine
Kernaussage der kulturistischen Evolutionstheorie ist nun, der Genotyp eines Menschen
stehe in modernen Gesellschaften in praktisch keinem direkten Zusammenhang mehr
mit seinen geistigen Kompetenzen, die aber Teil seines Phänotyps sind.. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 77 ).Genauer
betrachtet bestehen zwischen biologistischen und kulturistischen Auffassungen
Vorstellungsunterschiede von beträchtlicher Tragweite: Die Evolution bringt
Lebewesen hervor, die an einen bestimmten Lebensraum angepaßt sind. Der
Lebensraum selbst unterliegt ständigen Veränderungen. Damit eine Population
auf Dauer fortbestehen kann, müssen sich ihre Mitglieder fortpflanzen, was
veränderte Genotypen hervorbringt, die dann besser oder schlechter an die
sich wandelnde Umgebung angepaßt sind. Die Prinzipien Variation, Selektion
und Vererbung sorgen für möglichst gute Startbedingungen der Folgegeneration.
Viele Lebewesen sind aber darüber hinaus auch schon zu ihren Lebzeiten so
anpassungsfähig, daß sie mit einer Vielfalt an Veränderungen in
ihrem Lebensraum klarkommen. Dennoch: Die großen Anpassungen an den Lebensraum
erfolgen bei eher biologistischen Auffassungen über die Gene. Eine Konsequenz
daraus ist: Lebewesen müssen sterben, denn es wird in regelmäßigen
Abständen eine »verbesserte« Hardware benötigt. Kulturistische
Auffassungen behaupten nun aber, der Mensch habe diese Verhältnisse durch
Kultur und Technik sehr stark verändert und den beschriebenen Prozeß
beendet. Beispielsweise habe er erst gar nicht mehr auf eine genetische Anpassung
zur optischen Erkennung von Bakterien warten müssen. Ihm genügte es
statt dessen, das Mikroskop zu erfinden. Eine fortlaufende natürliche genetische
Adaption des Menschen an einen sich verändernden Lebensraum (Gesellschaft,
Kultur, Technik) sei nicht länger erforderlich. Deshalb spiele es auch keine
Rolle mehr, wer in unserer Gesellschaft Kinder in die Welt setzt. Im Umkehrschluß
bedeutete das allerdings: Eine solche Form der regelmäßigen Anpassung
wäre nicht länger möglich. Die genetische Weiterentwicklung des
Menschen mittels der natürlichen Selektion wäre also zum Erliegen gekommen.
Oder anders ausgedrückt: Die biologische Evolution hätte ein Lebewesen
hervorgebracht, bei der sie sich selbst ausgehebelt hat. Dieses Lebewesen wäre
nun auf ihre Leistungen nicht mehr angewiesen. Eine unmittelbare Konsequenz daraus
wäre: Veränderungen am Erbmaterial des Menschen müßten in
Zukunft gentechnologisch erfolgen. Die rigorose Ablehnung der Anwendung der Lehre
Charles Darwins auf menschliche Gesellschaften könnte der Eugenik also zu
einem späten Sieg verhelfen. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!,
2007, S. 78 ).Ferner
dürfte sich nun die Hoffnung aufdrängen, Alterung und Tod und damit
auch die Fortpflanzung könnten irgendwann einmal der Vergangenheit angehören.
Denn eine Populationsanpassung wäre ja nicht wirklich mehr erforderlich (und
auf natürliche Weise auch gar nicht mehr möglich). Statt dessen könnte
es genügen, die einzelnen Mitglieder der Population durch technologische
Maßnahmen ausreichend anpassungsfähig zu halten oder alternativ die
Umwelt durch Technik passend zu machen. (Peter Mersch, Hurra, wir werden
Unterschicht!, 2007, S. 79 ).An
dieser Stelle möchte ich dann doch einmal ganz »unwissenschaftlich«
meine Meinung äußern: Ich halte den Grundgedanken der kulturistischen
Evolutionstheorie für pure Religion. Die Auffassung hat möglicherweise
die Darwinsche Abstammungslehre zur Kenntnis genommen, aber nicht wirklich akzeptiert.
Sie hält den Menschen für ein Lebewesen, was zwar ursprünglich
einmal vom Affen abstammt, sich nun aber vollständig aus der Evolution herausgelöst
hat und damit einzigartig ist. Die Evolution hätte demzufolge ... Milliarden
Jahre benötigt, um auf der Erde den Menschen hervorzubringen, woraufhin sie
sich von der weiteren Entwicklung verabschiedet hat. Nicht Gott hätte also
den Menschen erschaffen, sondern die Evolution. Im Prinzip handelt es sich bei
der kulturistischen Evolutionstheorie um eine Variante des Kreationismus.
(Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 79 ).Die
biologische Evolutionstheorie ist eine empirisch sehr weit überprüfte
Theorie. Doch welche Belege gibt es für die kulturistische Evolutionstheorie,
die in unserer Gesellschaft in Wissenschaft, Medien und Politik auf breiteste
Akzeptanz stößt? Die ernüchternde Antwort ist: Keine. Im Gegenteil:
Zahlreiche Fakten sprechen unmittelbar dagegen. Beispielsweise kann heute kein
Zweifel mehr daran bestehen, daß ein nennenswerter Teil des menschlichen
Denkens, Fühlens und Verhaltens eine biologische Basis besitzt, die im Überlebenskampf
während der Menschwerdung entstanden ist (vgl. Irenäus Eibl-Eibesfeldt,
Die Biologie des menschlichen Verhaltens - Grundriß der Humanethologie,
1984), Auch bei der Intelligenz kann von einer erheblichen erblichen Komponente
ausgegangen werden, wie die Zwillings- und Adoptionsforschung belegt. ( ).
Was Intelligenz genau ist, ist umstritten. Meist wird jedoch darunter verstanden,
daß es sich zum einen um eine allgemeine Lern-, Denk-, Vorstellungs-, Erinnerungs-,
und Problemlösefähigkeit handelt, und zum anderen um den Besitz von
Kenntnissen aus bestimmten Gebieten (Expertenwissen). (Vgl. Gerhard Roth, Aus
Sicht des Gehirns, 2003, S. 109). (Peter Mersch, Hurra, wir werden
Unterschicht!, 2007, S. 79 ).
Vgl.
Birgitta Vom Lehm, Kindeswohl ade! Gesndheitsverhütung im Wohlstandsland,
2004; Peter Borkenau, Anlage und Umwelt - Eine Einführung in die Verhaltensgenetik,
1993; Rainer Riemann / Frank M. Spinath, Genetik und Persönlichkeit,
in: Jürgen Hennig / Petra Netter (Hrsg.), Biopsychologische Grundlagen
der Persönlichkeit, 2005; David Shaffer / Katherine Kipp, Developmental
Psychology, 7. Auflage, 2006, S. 105ff.; Volkmar Weiss, Die IQ-Falle,
2000; Jochen Paulus, Gene oder Umwelt? Falsch, Gene mal Umwelt, 2001;
Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, 2003, S. 110ff.. |
Die
einschlägige Forschung nennt eine Zahl von 117 Paaren eineiiger Zwillinge,
die zwischen 1937 und 1990 identifiziert wurden und entsprechenden Tests zur Verfügung
standen, Gefunden wurde, daß die Intelligenz von getrennt aufgewachsenen
eineiigen Zwillingen mit einem Koeffizienten zwischen 0,67 und 0,78 korreliert.
Dies bedeutet, daß ihre Intelligenz zwar nicht völlig gleich ist, aber
doch eine beträchtliche Ähnlichkeit aufweist. Man muß dabei berücksichtigen,
daß bei gemeinsam aufgewachsenen eineiigen Zwillingen der Korrelationskoeffizient
keineswegs 1 ist, wie man meinen könnte, sondern 0,86. Bei Tests an genetisch
nichtverwandten adoptierten Kindern und ihren Adoptiveltern fand man hinsichtlich
der Intelligenz eine sehr schwache Korrelation von 0,1 oder darunter, während
die Intelligenz von Eltern und ihren leiblichen Kindem, die von ihnen zur Adoption
freigegeben und also nicht von ihnen erzogen wurden, eine mittelstarke Korrelation
von 0,4 aufwies. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!,
2007, S. 80 ).Was
bedeuten diese vielfach bestätigten Resultate? Sie lassen erst einmal den
Schluß zu, daß dasjenige, was man unter Intelligenz versteht, in einem
erheblichen Maße angeboren ist, und daß die Umwelteinflüsse dabei
eine relativ geringe Rolle spielen - wie anders kann man sonst erklären,
daß es kaum eine Korrelation zwischen der Intelligenz von Adoptiveltern
und der ihrer Adoptivkinder gibt! (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!,
2007, S. 80 ).Was
Erziehung nach Ansicht von Experten hinzufügt, macht aus der Sicht der IQ-Statistik
fünfzehn bis zwanzig Prozent der Gesamtintelligenz aus. Dies mag gering erscheinen,
bedeutet aber, daß zum Beispiel eine Person, die ohne jegliche geistige
Förderung einen IQ von 90 aufweist und damit leicht »minderbemittelt«
wirken kann, bei intensivster Förderung auf einen IQ von 105 oder gar 110
kommen könnte und damit einen überdurchschnittlich intelligenten, wenngleich
im Normbereich liegenden Eindruck macht. Wir müssen dabei berücksichtigen,
daß zwei Drittel aller Personen im IQ-Intervall zwischen 85 und 115 liegen
und sich hier relativ kleine Veränderungen im Intelligenzquotienten deutlich
bemerkbar machen. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!,
2007, S. 80 ).Die
grundsätzliche Erblichkeit der Intelligenz läßt sich aber auch
unmittelbar evolutionstheoretisch plausibilisieren. (Peter Mersch, Hurra,
wir werden Unterschicht!, 2007, S. 80 ).In
der Evolutionsbiologie wurde lange darüber gestritten, ob erworbene Eigenschaften
vererbt werden können (Lamarckismus). Die Frage war etwa: Kann das tägliche
Strecken von Elterntieren bei der Nahrungsaufnahme über viele Generationen
hinweg bei der Verlängerung von Giraffenhälsen eine Rolle gespielt haben?
Diese Frage wird heute von den meisten Evolutionsbiologen verneint. (Vgl. Ernst
Mayr, Das ist Evolution, 2005, S. 197). ( ).
(Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 80-81 ).
Die
als Weismann-Barriere bezeichnete Regel, daß Erfahrungen, die ein Individuum
mit der Umwelt macht, nicht in den Erbgang einfließen können, wird
heute wieder von einigen wenigen Experten in Frage gestellt. (Vgl. Hans-Helmut
Niller, a.a.O., 2005; Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit - Warum wir von
Natur aus kooperieren, 2006, S. 13). Die Weismann-Barriere ist nach dem deutschen
Biologen August Weismann (1834-1914) benannt und besagt, daß Erbinformationen
nur in Richtung Körperzellen wirken können, aber niemals umgekehrt.
Dieses Dogma wurde von August Weismann 1893 formuliert und unterstützt Darwins
Evolutionstheoerie. Individuell erworbene Eigenschaften werden durch die Weismann-Barriere
gehindert, ins Erbgut aufgenommen zu werden. Eine Vererbung individuellen Verhaltens
ist so nicht möglich. Durch die Barriere wird die DNS geschützt. Die
DNS kann höchstens durch zufällige oder toxische Mutationen verändert
werden, so die Darwinisten. Lamarcks Thesen zur Evolution verschwanden aus Lehrbüchern.
Seit Ende des 20. Jahrhunderts gibt es Zweifel am Weismann-Dogma. Das Enzym Rücktranscriptase
und andere Mechanismen ermöglichen gezielte Veränderungen der Erbinformationen.
Lamarcks Gedanken werden wieder diskutiert. Trotzdem konnte bis heute die Weismann-Barriere
nicht falsifiziert werden. |
Mit
anderen Worten: Giraffenhälse sind über Generationen hinweg deshalb
gewachsen, weil: | Elterntiere
mit besonders langen Hälsen einen evolutionären Vorteil hatten (mehr
Nahrung fanden und folglich mehr Nachwuchs bekamen) und | | die
Halslänge von Giraffen erblich ist, das heißt, zwischen Eltern und
Kindern korreliert. | Das herausragende Merkmal des Menschen
ist aber dessen Gehirnleistung beziehungsweise Intelligenz. (Vgl. Ernst Mayr,
Das ist Evolution, 2005, S. 308ff.; Thomas Junker, Die Evolution des
Menschen, 2006, S. 52ff.). So nahm die Größe des menschlichen Gehirns
binnen 3 Millionen Jahren von 450 ccm auf nun ca. 1350 ccm zu. Dies ist analog
zum Wachsen der Giraffenhälse nur erklärbar, wenn: | eine
erhöhte Gehirnleistung im Laufe der Geschichte der Menschheit leinen evolutionären
Vorteil darstellte, der sich in einer vermehrten Zahl an Nachkommen ausdrückte
und | | Intelligenz
beziehungsweise Gehirnleistung erblich ist, das heißt zwischen Eltern und
Kindern korreliert. | Denn nehmen wir einmal an, ein Frühmensch
hat ein Gehirn von 800 ccm wie alle anderen Männer in seinem Stamm. Allerdings
ist er ganz besonders lernbegierig, so daß er den anderen Männern in
der Jagd bald überlegen ist. Die daraus resultierende soziale Anerkennung
drückt sich schließlich in einer erhöhten Zahl an Nachkommen aus.
Die Annahme, ein Teil seiner Kinder könnte nun ein größeres Gehirn
von zum Beispiel 850 ccm entwickeln, entspräche aber der allgemein als widerlegt
geltenden Vermutung von der Erblichkeit erworbener Eigenschaften. (Peter
Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 81 ).Evolutionstheoretisch
ließe sich die Entwicklung dagegen wie folgt erklären: Alle Mitglieder
eines Frühmenschenstammes haben ein Gehirn von ca. 800 ccm Größe.
Ein Kind wird aufgrund einer Mutation oder durch eine Vererbung mütterlicherseits
mit einem Gehirn geboren, welches zu einer Größe von 850 ccm ausreift.
Im Erwachsenenalter zeigt sich: Dieser Jäger ist geistig flexibler als seine
Stammesbrüder, so daß er bald die Führung bei der Jagd übernimmt.
Die hohe soziale Stellung drückt sich schließlich in einer erhöhten
Zahl an Nachkommen aus, von denen ein erheblicher Anteil aus Vererbungsgründen
ebenfalls ein Gehirn mit einer Größe von 850 ccm oder mehr hat.
(Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 81-82 ).Ein
Einwand könnte sein, daß Gehirngröße und Intelligenz nicht
korrelieren müssen. Abgesehen davon, daß eine solche Korrelation im
Rahmen der Menschwerdung auf jeden Fall vorhanden gewesen sein muß, scheinen
auch Untersuchungen beim heutigen Menschen einen statistischen Zusammenhang zwischen
Gehirngröße und Intelligenz zu bestätigen. (Vgl. Mens Health,
Es kommt also doch auf die Größe an, 2005). Allerdings ist die
Tatsache umstritten, zumal sich das Gehirngewicht bei Lebenden nicht sicher ermitteln
läßt (die genannte Untersuchung erzielte ihre Ergebnisse mit Todkranken,
deren Gehirn nach dem Ableben vermessen wurde). Wesentlich bedeutender für
die Intelligenz scheint aber die allgemeine Verarbeitungsgeschwindigkeit des Gehirns
zu sein. (Vgl. Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, 2003, S. 112; Siegfried
Lehrl / Bernd Fischer, a.a.O., 1990). Auch für diese werden genetische Ursachen
vermutet. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007,
S. 82 ).Ohne
eine erhebliche erbliche Komponente bei der Intelligenzbildung dürfte sich
die gesamte menschliche Gehirnentwicklung kaum erklären lassen. (Peter
Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 82 ).Leider
gehen weite Teile der Sozialwissenschaften von anderen Annahmen aus. So läßt
sich unter deutschen Studenten seit Jahren eine stete Zunahme des Anteils von
Studierenden mit mindestens einem akademischen Elternteil beobachten (vgl. E.
Schnitzer / W. Isserstedt / E. Middendorff, Die wirtschaftliche und soziale
Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland, 2001, S. 119), siehe
dazu auch die Abbildung ( ).
Die Autoren der Studie schließen daraus:»daß
der gleichberechtigte Zugang zum Studium unabhängig vom Einkommen und Bildungstradition
der Eltern ein immer noch unerreichtes Ziel ist.« (Vgl. ebd., Vorwort, 2001,
S. III). (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007,
S. 82 ). |
Unter
der Annahme einer starken Korrelation der Intelligenz von Eltern und Kindern ( )
ist ... die beobachtete Entwicklung in einem durchlässigen Bildungssystem
exakt zu erwarten. Sie ist ... Ausdruck der Erblichkeit von Intelligenz.
(Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 82 ).
Vgl.
Rainer Riemann / Frank M. Spinath, Genetik und Persönlichkeit,
in: Jürgen Hennig / Petra Netter [Hrsg.], Biopsychologische Grundlagen
der Persönlichkeit, 2005, S. 617; Volkmar Weiss, a.a.O, 2007. |
Richard
Lynn behauptet, die deutsche Bevölkerung sei mit einem durchschnittlichen
Intelligenzquotienten von 107 das intelligenteste Volk. (Vgl. Der Spiegel, Britische
Studie, 27.03.2006 [ ]).
(Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 82-83 ).
Der
Spiegel, 27. März 2006: Ein britischer Forscher hält die Deutschen
... für das Volk mit dem höchsten Intelligenzquotienten .... Der Psychologe
hat eine ungewöhnliche Erklärung für die Ergebnisse. .... Mit einem
durchschnittlichen Intelligenzquotienten von 107 liegen die Deutschen laut der
Untersuchung ... vor ... den Schweden (104) und den Italienern (102), wie die
Londoner »Times« in ihrer heutigen Ausgabe berichtet. Mit einem Durchschnitts-IQ
von 100 liegen die Briten zwar hinter der Spitzengruppe, aber immerhin sind sie
der Untersuchung zufolge noch klüger als die Franzosen (94). Die letzten
Plätze nehmen Rumänen, Türken und Serben ein. Als normal gilt ein
IQ von 85 bis 115; besonders intelligente Menschen können jedoch durchaus
Intelligenzquotienten von 145 erreichen. ( ). |
Der
Flynn-Effekt bezeichnet die Tatsache, daß die Ergebnisse von IQ-Tests bis
in die 1990er Jahre jährlich besser wurden, die Intellignez also offenbar
zunahm (dieser Satz ist so nicht ganz richtig formuliert,
denn: der Flynn-Effekt bedeutet die jährlich besser werdenden Ergebnisse der IQ-Tests; HB). Heute ist der Flynn-Effekt zwar in den Entwicklungsländern,
allerdings nur noch in wenigen Industrienationen zu beobachten, wenngleich ein
unterschiedliches Tempo festgestellt wird. ( ).
(Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 83 ).
Sollte es sich beim Flynn-Effekt um ein zeitlich begrenztes Phänomen handeln, würde
dies bedeuten, daß die Menschen im allgemeinen intelligenter würden.
Flynn selbst glaubt allerdings nicht, daß dies der Fall ist. (Vgl. James Flynn
/ William Dickens, Heritability Estimates Versus Large Environmental Effects,
2001). (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007,
S. 83 ). |
Neure
Untersuchungen zeigen ..., daß der Flynn-Effekt in den meisten Industrienationen
mittlerweile seine Wirkung verloren hat, und sich nun gegenläufige Effekte
einstellen. So stagniert der mittlere IQ in vielen Ländern ab etwa 1990 und
seit dem Ende der 1990er Jahre nimmt er sogar wieder ab. ( ).
(Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 83-84 ).
Ob
überhaupt und - wenn ja - bis zu welchem Ausmaß die Intelligenztests
bzw. IQ-Tests als wissenschaftlich bezeichnet werden dürfen, bleibt fraglich. |
In
ihrem Buch IQ and the Wealth of Nations (2002) stellen die Autoren Lynn
und Vanhanen die These auf, der Wohlsstand eines Landes korreliere mit dem durchschnittlichen
Intelligenzquotienten (IQ) der Bevölkerung. Auf Basis von Daten aus 81 Ländern
eine Korrelation von 0,82 zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen des Landes und dem durchschnittlichen
IQ der Bevölkerung und eine Korrelation von 0,64 zwischen dem Wirtschaftswachstum
und dem IQ. Sie stellen die These auf, daß der durchschnittliche IQ der
Bevölkerung sowohl auf genetischen als auch Umweltfaktoren beruhe. So könne
einerseits ein niedriger durchschnittlicher IQ ein niedriges Bruttoszialprodukt
bewirken, als auch umgekehrt ein niedriges Bruttoszialprodukt einen niedrigen
durchschnittlichen IQ. Wie nicht anders zu erwarten war, wurden die Autoren für
die Vorlage ihrer Resultate zum Teil recht hart kritisiert, denn sie hatten ein
Tabuthema berührt. Dabei sind ihre Resultate durchaus naheliegend: | Das
demographisch-ökonomische Paradoxon ( )
behauptet einen weltweiten negativen Zusammenhang zwischen der ökonomischen
Leistungsfähigkeit eines Landes (seines Pro-Kopf-Einkommens) und der Fertilitätsrate. | | Gleichfalls
ist in vielen Ländern ein negativer Zusammenhang zwischen Bildungsniveau
und Kinderzahl zu beobachten. Das Bildungsniveau einer Person dürfte eng
mit ihrem IQ korrelieren. | Aufgrund dieser beiden Relationen
läßt sich ein Zusammenhang zwischen dem durchschnittliche IQ der Bevölkerung
und dem Pro-Kopf-Einkommen des Landes vermuten. Die folgende Tabelle ( )
zeigt ausgewählte Länder mit ihren durchschnittlichen IQs und Fertilitätsraten.
Offenkundig besteht auch ein negativer Zusammenhang zwischen IQ und Fertilitätsrate,
was ebenfalls nicht überraschend ist. .... In jedem Fall sollten die ...
vorgetragenen Ergebnisse ernst genommen werden, denn sie legen nahe, daß
eine dauerhaft ausgeführte negative Selektion zu einem Abfall des durchschnittlichen
IQs der Bevölkerung führen kann und damit natürlich auch zu erheblichen
Wohlstandsverlusten. Es ist nicht auszuschließen, daß dabei langfristig
ein Gleichgewichtszustand auf niedrigerem Niveau erreicht wird. Denn mit dem Absinken
des IQs und den Qualifikationen der Bevölkerung dürfte deren Fertilitätsrate
gemäß dem demographisch-ökonomisches Paradoxon ( )
sukzessive wieder ansteigen. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!,
2007, S. 84-85 ).Korrelation
von Intelligenz und Fertilität (am Beispiel ausgewählter Länder;
Stand: 2007) |
Stand: 2007 | Intelligenz- Quotient
(IQ) | Zusammengefaßte
Fruchtbarkeitsrate (TFR) | Südkorea | 106 | 1,27 | Japan | 105 | 1,40 | Deutschland | 103
(108) | 1,39 | Italien | 102 | 1,28 | Niederlande | 102 | 1,66 | Schweden | 101 | 1,66 | China | 100 | 1,73 | Großbritannien | 100 | 1,66 | Spanien |
99 | 1,28 | Australien |
98 | 1,76 | Frankreich |
98 | 1,84 | USA |
98 | 2,09 | Argentinien |
96 | 2,16 | Rußland |
96 | 1,28 | Israel |
94 | 2,41 | Irland |
93 | 1,86 |
| |
Stand:
2007 | Intelligenz- Quotient
(IQ) | Zusammengefaßte
Fruchtbarkeitsrate (TFR) | | Thailand |
91 | 1,64 | Türkei |
90 | 1,92 | Indonesien |
89 | 2,40 | Brasilien |
87 | 1,91 | Irak |
87 | 4,18 | Mexiko |
87 | 2,42 | Philippinen |
86 | 3,11 | Afghanistan |
83 | 6,69 | Ägypten |
83 | 2,83 | Bangladesh |
81 | 3,11 | Indien |
81 | 2,73 | Pakistan |
81 | 4,00 | Sudan |
72 | 4,72 | Ghana |
71 | 3,99 | Nigeria |
67 | 5,49 | DR
Kongo | 65 | 6,54 | |
Abbildung
4) IQs und Fertilitätsraten ausgewählter Länder |
Neben
der Intelligenz scheinen auch andere menschliche Attribute und Merkmale wie Risikofreudigkeit
bzw. Vertrauensbereitschaft eine erbliche Komponente zu besitzen (vgl. Armin Falk,
a.a.O., 2006). Dabei ist es unerheblich, ob diese Erblichkeit durch Genetik
oder Imitation (Memetik) vermittelt wird. denn entscheidend ist die nachgewiesene
Korrelation der Attribute zwischen Eltern und Kindern. (Peter Mersch, Hurra,
wir werden Unterschicht!, 2007, S. 86 ).Aufgrund
des spezifischen Reproduktionsverhaltens moderner Gesellschaften scheiden die
Erfolgreichen und Kompetenzträger somit nicht nur bei der genetischen, sondern
weitestgehend auch bei der kulturellen Reproduktion aus: »Kulturgeschichte
begann, als das Survival-of-the-Fittest ein Imitation-of-the-Fittest
in Schlepptau nahm. Was immer Kultur definieren mag, sie gründet auf adaptiver
Imitation, also auf dem erfolgversprechenden Versuch einer vorteilhaften Teilhabe
an der Lebensleistung anderer. .... Konkurrenz entsteht dort, wo gleiche Lebensansprüche
vorherrschen und gleiche Ressourcen genutzt werden, also vorrangig innerhalb der
Populationen. Der evolutive Erfolg bemißt sich am genetischen Abschneiden
in diesem Wettbewerb, denn nur die Gene der erfolgreichen Individuen kommen eine
Runde weiter im unendlichen Evolutionsspiel, und wer erfolgreiche nachahmt, verbessert
ohne Frage seine Chancen. (Eckart Voland, Grundriß
der Soziobiologie, 1993, S. 24f.). Sowohl für biologistische als auch
kulturistische - beziehungsweise im Sinne von Richard Dawkins (vgl. Richard Dawkins,
Das egoistische Gen, 1976, S. 3l6ff.) für genetische als auch memetische
- Auffassungen gilt deshalb: Die Gesellschaft richtet sich am Erfolg aus. Gerade
wer der Meinung ist, der Mensch komme als »unbeschriebenes Blatt«
zur Welt und sei fast unbegrenzt formbar und anpassungsfähig, müßte
einen Sinn im Selektionsprinzip der Evolutionstheorie sehen, denn dieses sorgt
ganz nebenbei für ein besonders vollständiges Beschreiben des Blattes,
weil dann Kinder bevorzugt in Familien mit hohem Bildungsniveau, hoher sprachlicher
und kultureller Kompetenz und reichhaltiger Mimik und Gestik aufwachsen, und es
somit für sie besonders viel zum Nachahmen gibt. Wer auch dies noch anzweifelt
und der Auffassung ist, all dies könne Kindern auch auf anderem Wege (insbesondere
über staatliche Bildungseinrichtungen) und mit gleicher Qualität vermittelt
werden, der zweifelt generell an der Bedeutung und der Erziehungskompetenz von
Eltern. Im Prinzip wird die Rolle der Eltern dabei auf eine reine Gebär-
und Nährfunktion reduziert. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!,
2007, S. 87 ).Um
diese doch sehr bedenklichen Konsequenzen der kulturistischen Evolutionstheorie
noch deutlicher herauszustellen, soll zunächst das Beispiel ( )
aus dem Abschnitt »Demographisch-ökonomisches Paradoxon« ( )
ab Seite 62 ein wenig modifiziert werden (im Prinzip könnte man sich die
folgenden Überlegungen sparen, denn wie die letzten Seiten eindrucksvoll
gezeigt haben, ist Intelligenz im wesentlichen erblich): Eine Bevölkerung
(Population) aus insgesamt 1001000 Personen sei in 1001 Gruppen mit jeweils 1000
Personen gegliedert. Die Gruppen seien mit den Ziffern 0 bis 1000 gekennzeichnet.
Nehmen wir nun an, die Mitglieder der Gruppe 0 hätten ein durchschnittliches
Humankapital (eine Erläuterung des Begriffs wird im Abschnitt »Humankapital«
[ ]
ab Seite 105 gegeben) der Größe 1000, die Mitglieder der Gruppe 1 von
1001, bis schließlich zur Gruppe 1000, in der jedes Mitglied ein durchschnittliches
Humankapital von 2000 hätte. Dies ergäbe ein durchschnittliches Humankapital
pro Kopf von 1500 für die gesamte Bevölkerung. Zusätzlich sollen
die folgenden Annahmen getroffen werden: | Eltern
ähneln ihren Kindern. Mit anderen Worten: Eltern »vererben« ihren
Kindern Kompetenzen, entweder über ihre Gene oder durch Imitation. Die zwischen
Eltern und Kindern feststellbaren Unterschiede sind zufällig und nicht zielgerichtet,
so daß sie sich pro Gruppe gegenseitig aufheben (sie schwanken also zufällig
um den Ausgangswert der Eltern). | | Unsere
fiktive Gesellschaft ist vollständig bildungsdurchlässig. Mit anderen
Worten: Das Humankapital eines Menschen korreliert mit den von seinen Eltern »ererbten«
Basiskompetenzen. | Wenn wir nun annehmen, die obige
Bevölkerung reproduziere sich umgekehrt proportional zu ihrem jeweiligen
Humankapital (in der Praxis würde das bedeuten: umgekehrt proportional zum
beruflichen Erfolg beziehungsweise Bildungsniveau), und zwar gemäß
der Formel:dann bliebe auf diese Weise zwar die Bevölkerungsgröße
unverändert, das durchschnittliche Humankapital der Bevölkerung sänke
aber auf 1417 pro Kopf. Oder anders ausgedrückt: Die Bevölkerung verlöre
Humankapital. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!,
2007, S. 88 ).Manche
werden einwenden, es sei nicht sicher, daß das durchschnittliche Humankapital
pro Gruppe durch die Reproduktion unverändert bleibt, schließlich könnten
weniger gebildete Menschen ja gebildeten Nachwuchs hervorbringen, dazu bedürfe
es lediglich geeigneter Erziehungs-, Bildungs- und Integrationsanstrengungen.
Leider verbirgt sich hinter diesem Argument ein Denkfehler. Denn in unserer fiktiven
Gesellschaft gehen ja durch die Reproduktion zunächst einmal einige durch
die Eltern (genetisch oder memetisch) vermittelte Kompetenzen verloren, wobei
wir angenonunen hatten, diese Kompetenzen würden aufgrund der optimalen Bildungsdurchlässigkeit
der Gesellschaft mit dem finalen Humankapital der jeweiligen Person korrelieren.
(Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 89 ).Wollte
die Gesellschaft diesen Kompetenzverlust noch wettmachen, dann müßte
sie durch entsprechende Aktivitäten (insbesondere Bildungsmaßnahmen)
für eine nachträgliche Anhebung des Humankapitals sorgen. (Natürlich
im Rahmen des Möglichen.). Die fehlenden 6 Prozent an Humankapital übersetzten
sich deshalb in gesellschaftliche Kosten zum Schließen der Lücke. Und
diese Kosten wären wie immer durch die Kompetenzträger zu erbringen,
die nun gleich doppelt zur Kasse gebeten würden: Einerseits müßten
sie die Sozialleistungen für sozial schwache und bildungsfeme Schichten erwirtschaften,
andererseits die zusätzlichen Bildungsmaßnahmen für deren Kinder.
Unterblieben die gesellschaftlichen Anstrengungen zum Schließen der Humankapitallücke
( ),
dann würde es in der nächsten Generation wie beschrieben weitergehen,
weswegen dann vielleicht schon ein l2-prozentiger gesellschaftlicher Kompetenzverlust
zu bedauern wäre. Damit würde eine Spirale in Gang gesetzt, die der
Gesellschaft sukzessive ihre gesamten Kompetenzen rauben könnte. (Peter
Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 89 ).
Sollte
der Humakapitalverlust doch genetische Ursachen haben, dann hätten die gesellschaftlichen
Bildungsmaßnahmen keinen Einfluß auf den hier beschriebenen Prozeß,
denn gemäß der Weismann-Barriere ( )
können Bildungsmaßnahmen keinen Einfluß auf den Erbgang nehmen.
(Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 89 ). |
Nun
war aber eine der Kernaussagen der kulturistischen Evolutionstheorie (wir erinnern
uns): Es ist egal, wer in einer Gesellschaft Kinder bekommt. Wenn sozial schwache
und bildungsferne Schichten mehr Kinder bekommen als Schichten mit hohem sozioökonomischem
Status oder Bildungsniveau, dann müssen deren Kinder eben gezielt gefördert
werden. Daraus folgt aber zwangsläufig: Der elterliche Beitrag zur Entwicklung
der Kinder kann durch gesellschaftliche Fördermaßnahmen wieder ausgeglichen
werden, was erhebliche ethische Konsequenzen hätte: | Das
genetische Erbe der Eltern wäre ohne Bedeutung. Wer die leiblichen Eltern
sind, spielte somit keine Rolle. | | Die
Erziehungsleistungen der Eltern wären vernachlässigbar, denn alle Kompetenzen
könnten ja in gleicher Weise durch staatliche Einrichtungen vermittelt werden. | Beide
Punkte zusammen degradierten die Eltern zur Bedeutungslosigkeit. Im Prinzip wären
sie ersetzbar. (Bei dieser Haltung handelt es sich also letztendlich um eine Respektlosigkeit
dem Leben gegenüber). Wie wir gesehen haben, arbeitet die natürliche
Selektion der Evolution absichtslos. Ein als Konzertpianist tätiger Vater
ließe seine Tochter möglicherweise schon frühzeitig einmal ans
Klavier, während der Sohn einer Sopranistin vielleicht versuchte, einige
Übungsstücke seiner Mutter nachzusingen. Die kulturistische Evolutionstheorie
ersetzt nun aber Absichtslosigkeit durch staatliche Planung, in dem sie indirekt
behauptet, beide elterlichen Beiträge (inklusive der nicht erwähnten,
aber vermutlich erheblichen genetischen Beiträge) könnten durch das
gemeinsame Singen von Weihnachtsliedern im Kindergarten ausgeglichen werden. Wäre
dies nicht der Fall, hätten ja die Kinder des Konzertpianisten und der Sopranistin
doch wieder irgendeinen Startvorteil. (Peter Mersch, Hurra, wir werden
Unterschicht!, 2007, S. 89-90 ).Hatten
bestimmte Formen des Sozialdarwinismus die Absicht, angeblich wertlose und inkompetente
Menschen aus der Gesellschaft zu entfemen, oder sie doch wenigstens an der Reproduktion
zu hindern, so betreibt die kulturistische Evolutionstheorie die Elimination besonderer
Fähigkeiten, und zwar mit planerischen Mitteln. Stellten aktive Formen des
Sozialdarwinismus eine Verletzung von Menschenrechten dar, so ignoriert die kulturistische
Evolutionstheorie das Prinzip der Generationengerechtigkeit ( ).
Beide Auffassungen sind deshalb aus ethischen Gründen abzulehnen. (Peter
Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 90 ).Chancengleichheit
bedeutet eigentlich nur: gleiche Chancen bei gleichen Voraussetzungen. Ein Mann
mit einer Körpergröße von 1,65 m würde wohl niemals Olympiasieger
im Hochsprung werden können. Er hätte zwar prinzipiell die gleichen
Chancen (er würde nicht von vornherein vom Wettbewerb ausgeschlossen), nicht
aber die gleichen Möglichkeiten Weswegen zum Beispiel in manchen Sportarten
nicht nur nach Geschlecht, sondern auch nach Gewichtsklasse separiert wird.
(Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 90 ).Da
Bildung in unserer Gesellschaft das höchste Gut und die wichtigste Voraussetzung
für einen späteren beruflichen Erfolg ist, schließt die kulturistische
Evolutionstheorie das Vorhandensein unterschiedlicher geistiger »Möglichkeiten«,
insbesondere solchen, die von den Eltern vermittelt oder gar vererbt werden, von
vornherein aus. Aus einem »Bildung-für-Alle« generiert auf diese
Weise ein Zwang zur Bildung: »Die Idee, daß alle gebildet sein sollten,
ist doch eine verkleidete sozialistische Utopie im neoliberalen Gewand, die die
natürliche Ungleichheit der Menschen ignoriert.« (Matthias Heine, Ich
war Unterschicht, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.10.2006 ).
Es wäre die Aufgabe einer Solidargemeinschaft, sich zu bemühen, allen
Menschen einen Lebenssinn zu geben, selbst dann, wenn sie nicht bildungsfähig
sind. Allerdings setzt dies ein ausgewogenes gesellschaftliches Reproduktionsverhalten
voraus. Um nicht mißverstanden zu werden: Hier wird nicht behauptet, Bildungsmaßnahmen
für sozial schwache beziehungsweise bildungsferne Schichten lohnten sich
nicht. Im Gegenteil: Jeder der bildungsfähig und -willig ist, sollte Zugang
zu einem möglichst breiten Bildungsangebot haben. Der Staat sollte alles
dafür tun, ein Optimum an Bildungsdurchlässigkeit zu erreichen. Die
Aussage ist allerdings: Solche Maßnahmen mögen für Einzelpersonen
sehr sinnvoll sein, sie stellen aber kein generelles gesellschaftliches Konzept
dar, um Generationengerechtigkeit ( )
zu gewährleisten. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!,
2007, S. 91 ).Sozialer
Erfolg hängt aber auch in modernen Gesellschaften nicht nur von den geistigen
Kompetenzen, sondern auch von körperlichen Merkmalen ab. Ein Großteil
der genetischen Vielfalt und Weiterentwicklung dient zum Beispiel der Abwehr von
Krankheitserregern oder der Verbesserung des Stoffwechsels. Dies soll am Beispiel
der chronischen Erkrankungen Migräne und Typ-2-Diabetes verdeutlicht werden.
Menschen, die frühzeitig an schwerer Migräne erkranken, werden mit hoher
Wahrscheinlichkeit unter beruflichen Nachteilen zu leiden haben. Möglicherweise
werden sie sogar irgendwann ihre Arbeit wegen hoher Fehlzeiten verlieren. Sie
gehören dann zu den weniger erfolgreichen Menschen. In verschiedenen Studien
konnte aber längst nachgewiesen werden, daß sich die Verbreitung von
Migräne umgekehrt proportional zur sozialen Position verhält. Ein analoger
Zusammenhang gilt für Typ-2-Diabetes. Nimmt man - wie die Medizin - an, bei
Migräne und Diabetes spiele die genetische Disposition eine entscheidende
Rolle (vgl. Peter Mersch, Migräne, 2006, S. 225ff. ),
dann greifen bei einem negativen Zusammenhang zwischen sozialer Position und Kinderzahl
die im obigen Beispiel angeführten Mechanismen, und die genetische Disposition
für Migräne oder Diabetes dürfte sich in der Bevölkerung weiter
ausbreiten. Man vergleiche dazu auch die Ausführungen in: Thomas Junker,
Die Evolution des Menschen, 2006, S. 114). Normalerweise verhält sich
eine Population gemäß dem Evolutionsprinzip genau umgekehrt. Beispielsweise
konnten Untersuchungen zeigen, daß in einer Bevölkerung um so seltener
HLA-Antigene (bei Menschen, die das HLA-DQ2-Antigen besitzen, besteht ein deutlich
erhöhtes Risiko, an Zöliakie zu erkranken) nachgewiesen werden können,
je länger die Einführung von Getreide als Grundnahrungsmittel bereits
zurückliegt (Loren Cordain, 2004, S. 55f.). Dieses Ergebnis entspricht dem
Evolutionsprinzip: Eine Unverträglichkeit (fehlende Anpassung an die Umwelt)
wächst sich sukzessive genetisch aus, sofern sie mit evolutionären Nachteilen
verbunden ist. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!,
2007, S. 91-92 ).Insgesamt
konnte auf den letzten Seiten unter anderem herausgearbeitet werden: | Intelligenz
ist zu mindestens 70 Prozent erblich. Es besteht eine hohe Korrelation zwischen
der Intelligenz getrennt aufwachsender eineiiger Zwillinge, eine beträchtliche
Korrelation zwischen der Intelligenz von leiblichen Eltern und ihren in anderen
Familien aufwachsenden Kindern und fast keine Korrelation zwischen der Intelligenz
von Adoptiveltern und Adoptivkindern. | | Der
durchschnittliche Intelligenzquotient eines Landes korreliert mit dessen Wirtschaftskraft. | | In
modernen Gesellschaften korreliert Intelligenz mit Bildungserfolg und Bildungserfolg
mit sozialem Erfolg. | | Der
durchschnittliche Intelligenzquotient der entwickelten Gesellschaften ist ...
rückläufig. Parallel dazu haben sich gesellschaftliche Phänomene
wie Langzeitarbeitslosigkeit und das Entstehen eines abgehängten Prekariats
(»Unterschicht«) herausgebildet. | | Ein
fortwährender negativer Zusammenhang zwischen sozialer Position beziehungsweise
Bildungsniveau und Zahl an Nachkommen dürfte die Generationengerechtigkeit
( )
verletzten, soziale Ungleichheiten vergrößern und Brasilianisierungsprozesse
begünstigen. | | Ein
fortwährender negativer Zusammenhang zwischen sozialer Position beziehungsweise
Bildungsniveau und Zahl an Nachkommen dürfte einen gesellschaftsweiten Verlust
an Humankapital zur Folge haben, der durch zusätzliche Bildungsmaßnahmen
mcht mehr wettzumachen ist. | Die Befunde sind in der
Summe so schwerwiegend, daß sie keinen Raum für Tabuisierungen oder
ideologische Fixierungen lassen. Im Prinzip wird hier gesagt: Unser Staat zerstört
sich selbst von innen heraus. Und die Ursache dafür ist ganz wesentlich in
der einseitigen und sogar staatlich geförderten Priorisierung von produktiven
gegenüber reproduktiven Tätig keiten zu suchen. (Peter Mersch,
Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007, S. 92-93 ).Wer
der »kulturistischen« Auffassung ist, ein negativer Zusammenhang zwischen
sozioökonomischem Status beziehungsweise Bildungsniveau und Kinderzahl stelle
für eine Gesellschaft (beziehungsweise global gesehen für die ganze
Welt) kein substanzielles Problem dar, sollte präzise erläutern können,
mit welchen nachträglichen Mitteln aus einem »Weniger« dann doch
noch ein »Mehr« entstehen kann, wie aus einer geringeren Anpassung
an die äußeren Bedingungen eine größere werden kann, wie
ein Pro-Kopf-Verlust an Humankapital noch wett gemacht werden kann, zumal ja bei
dieser Reproduktionsweise gleichzeitig auch die Mittel schwinden, also diejenigen,
die die Kompetenzen für den Ausgleich der fehlenden Anpassung oder des Humankapitals
hätten. Und derjenige sollte erklären können, wie auf diese Weise
Generationengerechtigkeit ( )
gewährleistet werden kann. Ein einfaches Behaupten von angeblichen Zusammenhängen
ist in diesem Falle nicht ausreichend. Dafür sind die möglichen langfristigen
Implikationen viel zu groß. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!,
2007, S. 93 ).Solange
für die kulturistische Evolutionstheorie kein schlüssiges nachrechenbares
Konzept vorliegt, sollte man dem Einfachheitsprinzip folgen: Eine negative Selektion
belohnt gesellschaftlichen Mißerfolg mit genetischem »Überleben«
und wird deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach die Stärkung sozial schwacher
und bildungsferner Schichten zur Folge haben. Schlimmer noch: sie bestraft gesellschaftlichen
Erfolg mit genetischer Elimination, obwohl genau diese Personen erforderlich wären,
um sozial schwache und bildungsferne Bevölkerungskreise aus ihrer Misere
zu holen. Es sind die Leistungsträger, die die Ideen entwickeln, die Arbeitsplätze
schaffen, die Kultur weiterentwickeln und das Wissen vermitteln können, und
genau diese schwinden als Folge des aktuellen Reproduktionsverhaltens mehr und
mehr. (Peter Mersch, Hurra, wir werden Unterschicht!, 2007,
S. 93-94 ). |