
Georg
Simmel (1858-1918) |
Pragmatismus als
lebensphilosophische Wahrheitstheorie |
Georg Simmel vertrat zunächst einen physikalistischen Atomismus, der hinter
den komplexen Erscheinungen der natürlichen Wahrnehmung die sie konstituierenden
Elemente rekonstruieren wollte: Erkenntnis ist ein biologicher Anpassungsprozeß
des Menschen an seine Umwelt. Nach Studium Kants ( )
und des südwestdeutschen Neukantianismus ( )
deutete Simmel die darwinistische Wissenstheorie aprioristisch um. Erkenntnis
war jetzt die schöpferische Leistung des erkennenden Subjekts, das mit Hilfe
selbstgeschaffener, auf seinen Lebenskreis bezogener Kategorien ein diesem entsprechendes,
relativ berechtigtes Wirklichkeitsbild aus dem Konglomerat der Empfindungen formt.
Simmel machte das Spektrum der abstrakt-generellen sozialen Formen (z.B. Über-/Unterordnung,
Konkurrenz, Arbeitsteilung, Parteiung, Repräsentation u.s.w.), in denen
konkret-individuelle Bedürfnisse unabhängig von Historizität und
Spezifität realisiert werden, zum Untersuchungsgegenstand seiner formalen
Soziologie. Er vertrat eine pragmatistische Wahrheitstheorie schon vor William
James (1842-1910 ),
bestimmte das Erkennen als freischwebenden Prozeß, übertrug
die Aprioritätslehre Kants auf die Historik und analysierte das Phänomen
der historischen Zeit. Simmel sah wie Bergson (1859-1941 )
in der Wirklichkeit der Wissenschaft ein Zweckgebilde des Vorstellens, das seelisches
Erleben adäquat ausdrücken kann. Die nicht mehr zur Vollendung gelangte
funktionale Metaphysik der Diaktik von Leben und Form lehrt die Gleichrangigkeit
aller Kulturgebiete mit je übersubjektiven Eigen-Logiken. Ursprünglich
für eine rein deskriptive Moralwissenschaft eintretend, entwickelte Simmel
später, und zwar in Anlehnung an Goethe (1749-1832 ),
Schleiermacher (1768-1834 )
und die Romantik ( ),
eine normative Ethik des individuellen Gesetzes: die tiefste sittliche
Forderung ist nicht auf das einzelne Tun, sondern auf das Gesamtsein der Menschen
gerichtet. Simmel kann man ansehen als den eigentlichen Begründer der formalen
Soziologie, d. h. der Wissenschaft von den Formen der Vergesellschaftung,
von den Beziehungsformen der Menschen zueinander. 
Simmel
und sein PragmatismusPragmatismus ( )
- als Begriff in die Philosophie eingeführt von Charles Sanders Peirce (1839-1914 ),
obwohl sich schon bei Arthur Schopenhauer (1788-1860 ),
Karl Marx (1818-1883 ),
Friedrich Nietzsche (1844-1900 ),
Hans Vaihinger (1852-1933 )
pragmatische Gedanken finden lassen - bedeutet eine Einstellung, die im Handeln
des Menschen sein Wesen ausgedrückt findet und Wert und Unwert auch des Denkens
danach bemißt, ob es ein Handeln ist bzw. dem Handeln der Praxis des Lebens
dient. Der Pragmatismus als Philosophie des Erfolgs ist nach John Dewey (1859-1952 )
ein Instrumentalismus ( ),
weil für Pragmatisten das Denken das Instrument des Handelns ist. Die
pragmatistische Wahrheitstheorie des Deutschen Georg Simmel ist älter als
die des US-Amerikaners William James (1842-1910 ),
der den Wahrheitsbegriff so verstehen wollte: Als annehmbare Wahrheit gilt
dem Pragmatismus einzig und allein das, was uns am besten führt, was für
jeden Teil des Lebens am besten paßt, was sich mit der Gesamtheit der Erfahrungen
am besten vereinigen läßt. Als eine Abart des Pragmatismus ist
der Humanismus dem englischen Pragmatisten Ferdinand C. S. Schiller (1864-1937 )
zufolge eine erkenntnistheoretische Lehre, die besagen will, daß all unser
Erkennen in seinen Motiven wie in seinem Umfang und seinen Zwecken immer nur menschlich
ist, nicht über das Menschliche hinaus kann, durch menschliche Bedürfnisse
erzeugt und bedingt ist. Bei Max Scheler (1874-1928 )
und Martin Heidegger (1889-1976 )
finden sich ebenfalls pragmatische Ideen, und für den zu der Zeit aufkommenden
Nationalsozialismus erfüllte der Pragmatismus, gekappt um seine intersubjektiv-sozialen
Züge, alsbald die Funktion einer aktivistischen Ideologie. Hugo Dingler (1881-1954 )
gründete in seinem Buch Ergreifung des Wirklichen Erkenntnis auf Praxis.
(Sicher waren für ihn nur Willensaussagen und Handlungsanweisungen). Arnold
Gehlen (1904-1976 )
verband in seiner Anthropologie, die den Menschen als handelndes Wesen herausstellte,
den Pragmatismus mit einer autoritären Theorie der Institutionen. Im Sinne
des französischen Existentialismus - das heißt also: nach Jean-Paul
Sartre (1905-1980 )
- ist Humanismus ein Pragmatismus, wonach die ethischen Werte und die Güterwerte
nur im Rahmen des menschlichen Tuns und Lassens existieren, nicht unabhängig
davon oder absolut. (Vgl. Jean-Paul Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus
?, 1946 ).In
Simmel sieht Sloterdijk (*1947) den philosophischsten unter den deutschen
Gründern der Soziologie, der sich nicht umsonst als der Anreger
einer nicht-totalistischen Analyse sozialer Einheiten in die Annalen der Sozialwissenschaften
eingetragen hat. ( ).
Bei Simmel findet Sloterdijk (vgl. seine Annäherung an die Raum-Vielheiten,
die bedauerlicherweise Gesellschaften genannt werden )
nämlich einen nützlichen Anfangshinweis auf den Weg, der
in seinem Sphären-Werk (3. Band: Schäume - Plurale Sphärologie
)
beschritten werden soll. Auf Simmel geht die Initiative zurück,
die kantische Wie-ist-möglich-Frage von Erkenntnisgegenständen in der
Natur auf die »Gesellschaften« zu übertragen und damit eine Reflexion
auf die interne kognitive Verfaßtheit von Menschen-Ensembles anzustoßen.
( ).
Simmel unterscheidet unsystematisch drei quasi »apriorisch wirkende Bedingungen
oder Formen der Vergesellschaftung« ( ),
von denen er die erste als Schematisierung bestimmt, nach der die Mitglieder einer
Gruppe sich zunächst gegenseitig nur ihren Rollen oder ihrem Status gemäß
auffassen können; die zweite erkennt er in der partiellen Nicht-Sozialität
der vergesellschafteten Wesen, die dritte in der Einberufung der Einzelnen in
den »Stellenplan« der »Gesellschaft« als einem Integral
von Berufstätigkeiten, »als ob jedes Element für seine Stelle
in diesem Ganzen vorherbestimmt wäre« ( ).
Die für uns interessanteste Reserve gegen den überspannten Holismus
wird in dem Satz ausgesprochen, der festhält, daß jedes Element einer
Gruppe nicht nur Gesellschaftsteil, sondern außerdem noch etwas ist«
( ).
In prinzipieller Tonart: »Das Apriori des empirischen sozialen Lebens ist,
daß das Leben nicht ganz sozial ist ...« ( ).
Der Grund hierfür wäre dem Autor zufolge in dem Umstand zu suchen, daß
die Gesellschaften Gebilde aus Wesen sind, die zugleich inner- halb und außerhalb
ihrer stehen« ( ).
Für den individualistischen Soziologen scheint ausgemacht, daß die
Basiseinheit dieser zusammengesetzten Gebilde nur das Individuum beziehungsweise
die Einzelseele sein kann, von welcher ihm zufolge gilt, »daß sie
in keine Ordnung eingestellt ist, ohne sich zugleich ihr gegenüber zu finden«
( ).
Simmels Akzent auf der lebensphilosophisch gefärbten Unterscheidung von In-Sein
und Gegenüber-Stehen nimmt Luhmanns anfangs verblüffend klingende, wohltuend
anti-totalitäre und anti-konsensualistische Grundlehre vorweg, nach welcher
die realen Individuen nicht Teile des sozialen Systems sind, sondern in dessen
Welt gehören. ( ).
Mit noch besserem Recht läßt sich in Simmels Reserve gegen die totale
Erfassung des Einzelnen durch die Soziologie eine deutsche Parallelaktion zu Gabriel
Tardes monadologischer Kehre in den Wissenschaften von den Konglomerationen erkennen.
(Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 294-296).Wir
können an Simmels Hinweis auf die partielle Außer-Sozialität der
individuellen Komponenten von »Gesellschaften« unter drei kritischen
Voraussetzungen anknüpfen: Zuerst wäre die individualistische Metaphysik
der Simmelschen Vergesellschaftungslehre zurückzuweisen und durch eine radikalere
Theorie des Zusammenseins und der Assoziation zu ersetzen, wie sie etwa Simmels
Zeitgenosse Gabriel Tarde in seinem von der Mehrheit zünftiger Soziologen
nie rezipierten Aufsatz über Monadologie und Soziologie von 1893 entworfen
hat. Es handelt sich bei diesem philosophischsten Text des philosophischsten Soziologen
französischer Schule ... um einen ingeniösen neo-leibnizianischen ( )
Versuch, den Assoziationsgedanken so weit zu generalisieren, daß alle empirischen
Gegenstände als Zustände des Zusammenseins von etwas mit etwas beschrieben
werden können: »toute chose est une société«,
jedes Ding ist eine Gesellschaft ( ).
Tarde insistiert auf dieser Umkehrung des klassischen Holismus: Die Wahrheit sei
vielmehr, daß seit den Entdeckungen der Zelltheorie die Organismen zu Gesellschaften
eigenen Typs geworden sind, gleichsam zu »lykurgischen oder rousseauistischen
Gemeinwesen, exklusiv und wild, oder eher noch zu religiösen Kongregationen
von wundersamer Hartnäckigkeit, der nur die majestätische und unwandelbare
Seltsamkeit ihrer Glaubenspraktiken gleichkommt, eine Unwandelbarkeit im übrigen,
die nichts beweist gegen die individuelle Vielfalt und die Erfindungskraft ihrer
Mitglieder« ( ).
Hieraus ließe sich der Schluß ziehen, daß das von Simmel angedeutete
Etwas-anderes-als-Gesellschaft-Sein der Einzelnen keineswegs als das intime letzte
Für-sich-Sein eines atomaren Person-Punkts verstanden werden darf, wie die
Subjektmetaphysik suggeriert. Wenn menschliche Individuen an einer außergesellschaftlichen
Dimension teilhaben, dann, aus der Sicht von Tarde, weil sie selber Resultate
von präpersonalen Assoziationen, von Zellengesellschaften und Teilchengesellschaften
sind, die eigengesetzlichen Modalitäten des Zusammengesetztseins unterstehen.
Um Menschen aus der »Gesellschaft« von ihresgleichen partiell herauszudrehen,
ist es also nicht nötig, ihre Selbstheit einsamkeits-metaphysisch zu überhöhen.
Sie sind auf der interpersonalen Ebene aspektweise desozial und asozial (oder
um Tardes Ausdrücke zu verwenden, präsozial oder subsozial), weil sie
auf anderen Ebenen und auf andere Weise sozial, vielheitlich und zusammengesetzt
sind. ... Wollen wir mit Simmels Hinweis weiterarbeiten, daß »Gesellschaften«
aus Wesen zusammengesetzt sind, die zugleich innerhalb und außerhalb ihrer
Assoziationen stehen, müssen wir ihn mit zwei zusätzlichen Korrekturen
versehen. Zwar hilft die monadologische Wende auf der Linie Tardes bereits, den
individualistischen Schein aufzulösen, in dem sich Mitglieder »bürgerlicher
Gesellschaften« spiegeln, so daß von jetzt an die »Gesellschaften«
als Zusammensetzungen aus Zusammensetzungen zu untersuchen sind. Sie muß
unseres Erachtens weitergeführt werden bis zu einer dyadologischen Wende,
nach der das Prinzip der spezifisch menschlichen surrealen Raumbildungen bei der
Beschreibung des sozialen Zusammenhangs hervortritt. ... Schließlich bleibt
Simmels Bemerkung, daß die konstitutiven Elemente sozialer Gruppen nicht
nur Gesellschaftsteile sind, sondern immer außerdem noch etwas, in
raumtheoretischer und ortslogischer Sicht näher zu bestimmen. Durch die Konzepte
»Blase« und »autogener Behälter« wird es möglich,
den Sinn dieses Außerdem raumkritisch zu lesen. Wenn Menschen in »Gesellschaft«
koexistieren können, dann nur deswegen, weil sie andernorts bereits zusammengefügt
und aufeinander bezogen sind. »Gesellschaften« sind Vielheiten aus
Eigenräumlichkeiten, an denen die Menschen nur kraft ihrer immer schon mitgebrachten
psychotopischen Differenz teilzunehmen fähig sind. Man muß also, um
auf menschentypische Weise »in Gesellschaft« zu sein, ein psychisches
Zusammenseinkönnen bereits mitbringen. Ohne ein vorheriges psychotopisches
Tuning wären die Versammelten nicht versammelbar - oder ihre Assoziationen
wären nie etwas anderes als Autistenkongresse, den Gruppen frierender Igel
vergleichbar, als welche Schopenhauer ( )
die »bürgerliche Gesellschaft« charakterisiert hat. ( Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 296-298, S. 301,
S. 304-305).In Wirklichkeit werden die Einzelnen in dem Maß
gesellschaftsfähig, wie sie durch eine Art von psychosozialer Luftschleuse
instand gesetzt werden, aus dem dyadischen Primitivraum in den polyvalenten Raum
der frühen wie der entwickelten »sozialen« Kontakte, in die angereicherten
Schäume oder Netze, schließlich sogar in die Bindungen der Unverbindlichkeit
( )
überzuwechseln. Ihre »Gesellschaftsfähigkeit« ist jedoch,
wie Simmel in einer sphärologischen Betrachtung ante litteram bemerkt
hat, ebensosehr dadurch mitbedingt, daß Personen sich in den Grenzen des
»Macht- und Rechtmaßes der eigenen Sphäre« halten, in dem
Bewußtsein, »daß sich Macht und Recht eben in die andere Sphäre
nicht hinein erstrecken« ( ).
Der Personalismus liefert die philosophische Form, in der die selbstkontrollierten
Einzelnen sich gegenseitig Harmlosigkeitsgarantien bieten. Natürlich spricht
Simmel hier mit der Stimme des Kantianers ( ),
der seinem Meister in der Annahme folgt, Sinn einer bürgerlichen Rechtsordnung
sei es, die Koexistenz von je in sich selbst zentrierten Willkürkreisen zu
gewährleisten ( ).
( Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 306-307).Als
Mikrokontinente sind die Inseln Weltbeispiele, auf denen eine Auswahl von weltbildenden
Einheiten versammelt ist: eine eigene Flora, eine eigene Fauna, eine eigene Menschenpopulation,
ein autochtones Ensemble von Sitten und Rezepten. Die Rahmenwirkung des Meeres
bestätigt durch ein externes Beispiel Georg Simmels Theorie der Grenze in
dessen Soziologie des Raums, 1903, in der es heißt:
»Der Rahmen, die in
sich zurücklaufende Grenze eines Gebildes, hat für die soziale Gruppe
sehr ähnliche Bedeutung wie für ein Kunstwerk. ...: (es) gegen die umgebende
Welt ab- und in sich zusammenzuschließen; der Rahmen verkündet, daß
sich innerhalb seiner eine nur eigenen Normen untertänige Welt befindet ...«
( ). |
Die Isolation ist es also, welche die Insel zu dem macht,
was sie ist. Was der Rahmen für das Bild tut, indem er es aus dem Weltkontext
ausschließt, und was für Völker und Gruppen die befestigten Grenzen
bewirken, das leistet der Isolator, das Meer, für die Insel. Wenn Inseln
Weltmodelle sind, dann eben, weil sie vom übrigen Weltzusammenhang hinreichend
getrennt sind, um ein Experiment über die Aufstellung einer Totalität
im beschränkten Format beherbergen zu können. Wie Heidegger ( )zufolge
das Kunstwerk eine Welt aufstellt, so grenzt das Meer eine Welt aus. ( Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 311-312).
So wie Georg Simmel um 1900 in Kantschen Ausdrücken ( )
nach den formalen und kognitiven Bedingungen der Möglichkeit des Zusammenseins
von Menschen in Gesellschaften fragte, so suchten vom frühen 19. Jahrhundert
an die Gewächshausarchitekten nach den praktischen Bedingungen der Möglichkeit
der Einbürgerung von tropischen Pflanzen unter mitteleuropäischen Milieuverhältnissen.
( Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 341).Rüdiger
Safranski meint: Die Wertphilosophie war eine Obsession des Neukantianismus.
Vertieft in die Geheimnisse des Geltens, hatten diese akademischen Philosophen
übersehen, was vor allem gilt: das Geld. So war es denn ein Außenseiter,
Georg Simmel, der am Anfang des Jahrhunderts das geniale Meisterstück der
ganzen Wertphilosophie vorlegte: die »Philosophie des Geldes«. Simmel
beschreibt den Übergang vom Raub zum Tausch als das entscheidende Ereignis
der Zivilisation schlechthin. Deshalb nennt er den zivilisierten Menschen »das
tauschende Tier«. (Georg Simmel, Philosophie des Geldes, 1900, S.
385 ).
Der Tausch absorbiert die Gewalt und das Geld universalisiert den Tausch. Das
Geld, ursprünglich ein materielles Ding, wird zum Realsymbol aller Güter,
für die es in den Tausch gegeben werden kann. Gibt es erst einmal das Geld,
dann wird alles, womit es in Berührung kommt, verhext: Es läßt
sich nun nach seinem Wert taxieren, ob das nun eine Perlenkette, eine Grabrede
oder der wechselseitige Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge ist. Das Geld ist die
real existierende Transzendentalkategorie der Vergesellschaftung. Die Äquivalenzbeziehungen,
die das Geld stiftet, verbürgen den inneren Zusammenhang der modernen Gesellschaft.
Das Geld ist jenes Zaubermittel, das die Welt insgesamt in ein Gut
verwandelt, das nach seinem Wert taxiert und darum auch verwertet werden kann.
Wie aber wird etwas zum Geld? Die einfache, aber in ihren Konsequenzen unabsehbare
Antwort: indem es zu etwas wird, das gilt. Dieses Etwas, das gilt, läßt
sich dann dafür einsetzen, jemand anderem, von dem man etwas will, dieses
Begehrte zu entgelten. Das Austauschmaß ist jeweils genau berechenbar, doch
dunkel bleibt, wo dieses Maß eigentlich entspringt. Die einen sagen: in
der Arbeit; die anderen: auf dem Markt; wieder andere: im Begehren; noch einmal
andere: in der Knappheit. Auf jeden Fall aber haftet das Gelten des Geldes nicht
an seiner materiellen Natur, eher noch ist es gesellschaftlicher Geist, der zur
materiellen Gewalt geworden ist. Die Zirkulationsmacht des Geldes hat den Geist
überflügelt, dem man einst nachsagte, er wehe, wo er will ... Simmels
Geist aber dringt, wie eben auch das Geld, in jeden noch so verborgenen Winkel
des gesellschaftlichen Lebens. Simmel kann alles mit allem verbinden. Wenn das
Geld für solche disparaten Dinge wie eine Bibel und eine Flasche Branntwein
einen gemeinsamen Wertausdruck schafft, dann entdeckt Simmel darin eine Verbindung
zum Gottesbegriff des Nikolaus von Kues, für den Gott die »coincidentia
oppositorum«, den Einheitspunkt aller Gegensätze bedeutete. »Indem
das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller
Werte wird, erhebt es sich in abstrakter Höhe über die ganze weite Mannigfaltigkeit
der Objekte, es wird zum Zentrum, in dem die entgegengesetztesten, fremdesten,
fernsten Dinge ihr Gemeinsamesfinden und sich berühren; damit gewährt
tatsächlich auch das Geld jene Erhebung über das Einzelne, jenes Zutrauen
in seine Allmacht wie in die eines höchsten Prinzips.« (Georg Simmel,
Philosophie des Geldes, 1900, S. 305 ).
Die Analyse der Macht des Geltens kommt auch im Falle des Geldes - wie das Beispiel
Simmel zeigt - offenbar nicht ohne Rückgriff auf den metaphysischen Begriffsbestand
aus. In der metaphysikfeindlichen Epoche... war also die Sphäre des Geltens,
und sei es die des Geldes, ein Asyl für die metaphysischen Reste. (Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994,
S. 53-54). Einst war dem Leben ein höchstes Ziel und höchster
Wert vorgegeben. Damit ist es in der Moderne vorbei. Der komplizierte und unüberschaubare
Mechanismus der Gesellschaft ist zu einem Universum der Mittel geworden, das auf
kein Sinnzentrum mehr bezogen ist. Das moderne Bewußtsein bleibt,an den
Mitteln hängen« (Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, 1907,
S. 42 ),
es ist in den langen Handlungsketten, die an keinen Endzweck gebunden sind, verstrickt.
Es hat die erhabene Unendlichkeit verloren, und dafür die schlechte Unendlichkeit
eines Wesens gewonnen, das wie ein Hamster im Rade läuft. Es erwächst
ihm daraus »die angstvolle Frage nach dem Sinn und Zweck des Ganzen«
(ebd.). Schopenhauer hatte auf diese Situation geantwortet, indem er den sinnlosen
Umtrieb als metaphysische Eigenschaft des Willens interpretierte. ( ).
Nietzsche seinerseits hat, so Simmel, Schopenhauers Metaphysik des Willens mit
dem Entwicklungsgedanken und der Idee der Steigerung verbunden. ( ).
Doch ebenso wie Schopenhauer hat auch Nietzsche die Vorstellung eines Endzweckes
und Entwicklungszieles zurückgewiesen. Deshalb muß er versuchen, eine
offene, nicht teleologische Steigerung zu denken, eine selbstbezügliche Steigerungsdynamik:
das Leben ist sich selbst der Zweck, doch so, daß es darauf angelegt ist,
die ihm innewohnenden Möglichkeiten zu erkunden und herauszubringen. Der
zum Bewußtsein erwachte Mensch ist der privilegierte Ort solcher Selbsterkundung
des Lebens. Im Menschen hat das Leben ein besonders gewagtes Experiment mit sich
angestellt. Was sich daraus ergibt, ist dem Drama der menschlichen Freiheit überantwortet.
Im Menschen vollzieht sich, wie Ernst Bloch später sagen wird, ein »experimentum
mundi«. So erhaben, so bezaubernd und bezaubert, beschwingt und verheißungsvoll
intonierte die Philosophie vor 1914, von Nietzsche her und mit ihm, das Thema
»Leben«. Bei Kriegsbeginn 1914 hatte dieser philosophische Vitalismus
große Konjunktur. Ein bellizistischer Nietzscheanismus meldete sich zu Wort.
... Man knüpfte an Nietzsches Heraklit-Deutung an, wenn man den Krieg zum
großen Scheidekünstler erklärte: er trennt das Echte vom Unechten,
er offenbart die wahre Substanz. Für die erregten Akademiker war der Krieg
das Examen rigorosum eines Volkes, das beweisen muß, ob es noch überwältigendes
Leben in sich hat. Der Krieg ist also die Stunde der Wahrheit: »Das Bild
des ganzen, großen, umfänglichen Menschen, von dem der Friede nur eine
kleine graumelierte mittlere Zone stehen läßt (
), dies Bild steht
jetzt plastisch vor uns. Der Krieg erst ermißt den Umfang, die Spannweite
der menschlichen Natur; der Mensch wird sich seiner ganzen Größe, seiner
ganzen Kleinheit bewußt« (Max Scheler, Der Genius des Krieges,
1915, S. 136). Welche geistige Substanz bringt der Krieg zum Vorschein?
Die einen sagen: es ist ein Sieg des Idealismus. Lange Zeit war er vom Materialismus
und dem Nützlichkeitsdenken erstickt, jetzt bricht er hervor und die Menschen
sind wieder bereit, sich für immaterielle Werte zu opfern, für Volk,
Vaterland, Ehre. ... Andere, und das sind die lebensphilosophischen Nietzscheaner,
sehen im Krieg die Freisetzung lebendiger Kräfte, die in der langen Friedensperiode
(über 43 Jahre!) zu erstarren drohten. Sie feiern
die Naturgewalt des Krieges; endlich, so sagen sie, findet Kultur wieder Berührung
mit dem Elementaren. Der Krieg, schreibt Otto von Gierke, ist »als der gewaltigste
aller Kulturzerstörer zugleich der mächtigste aller Kulturbringer.«
(Das erinnert doch sehr an Heraklit ).
Zu Kriegsbeginn war Nietzsche bereits so populär, daß der »Zarathustra«,
zusammen mit Goethes »Faust« und dem »Neuen Testament«,
als Sonderdruck für die Frontsoldaten in einer Auflage von 150 000 Exemplaren
herauskam. So konnte in England, den USA und Frankreich die Vorstellung aufkommen,
daß Nietzsche eine kriegstreibende Macht gewesen sei. Kennzeichnend für
die damalige Stimmung in England war ein Brief des großen Romanciers Thomas
Hardy ( ),
der schrieb: »Ich meine, seit Beginn der Geschichte gibt es kein Beispiel
dafür, daß je sich ein Land durch einen einzelnen Autor so der Moral
entfremdet hat« (Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere
eines Kults, S. 132). Ein Londoner Verleger sprach damals gar von einem »Euro-Nietzschean
War« (ebd., S. 130). Nietzsches Verleger in Amerika wurde festgenommen
unter der Beschuldigung, ein Kriegsagent des »deutschen Monsters Nietzky«
(ebd., S. 133) zu sein. Kein Zweifel, es finden sich bei Nietzsche zahlreiche
Passagen, in denen die kriegerische Tüchtigkeit gepriesen wird. Es genügt,
an eine berühmte, damals häufig zitierte Stelle aus der »Götzen-Dämmerung«
zu erinnern: »Der freigewordne Mensch, um wie viel mehr der freigewordne
Geist, tritt mit Füssen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von
dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten
träumen. Der freie Mensch ist Krieger.« ( ).
... Wer im Kampf eine nihilistische Ekstase suchte oder imaginierte, fand in Nietzsches
»Zarathustra« Wegweisung: »Ihr sagt, die gute Sache sei es,
die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede
Sache heiligt«. ( ).
Ernst Jünger ( )
und Oswald Spengler ( )
waren solche nihilistischen Eksatiker, die sich Nietzsche verbunden fühlten,
wenn er seinen Zarathustra sagen läßt: »Muth nämlich ist
der beste Todtschläger; - Muth, welcher angreift: denn in jedem Angriffe
ist klingendes Spiel«. ( ).
Daß man Zarathustra aber auch anders verstehen konnte, zeigt Hermann Hesses
1919 erscheinene Schrift »Zarathustras Wiederkehr«. ( ).
Hesse erinnert an den empörenden Mißbrauch, der mit Nietzsche, insbesondere
mit seinem »Zarathustra« getrieben, worden sei. (Rüdiger
Safranski, Nietzsche, 2000, S. 341-345).Zur Geschichte des Chrematismus
( )
und zur Bedeutung der immer dominanter werdenden Abstraktion des Geldwesens: Als
die Philosophie sich im Zuge der großen Transformation den Zusammenhängen
von Bewußtsein und Sein und ihren Wechselwirkungen zuwandte - namentlich
v.a.: Hegel ( )
und Marx ( )
-, da scheint ihr etwas vom Chrematismus schon gar nicht mehr aufgefallen zu sein,
so die Behauptung von Jürgen Borchert ( ):
Ausschließlich die formellen Gesellschaftsprozesse waren Gegenstand
des philosophischen und sonstigen wissenschaftlichen Interesses. Und so wie die
gesellschaftliche Arbeitsteilung seitdem aus den vormals nur wenigen Dutzend Berufen
bis heute 44000 unterschiedliche Tätigkeiten von »Aalbrutzüchter«
bis »Zytotechnologische Lehrassistentin« mit jeweils eigenen Arbeitswelten
und Begriffszusammenhängen hat entstehen lassen, entwickelten sich auch wissenschaftlich
immer neue Spezialgebiete. Für die gesellschaftlichen Prozesse wurde dabei
die Abstraktion des Geldwesens immer dominanter, dessen durchschlagende (Wechsel-
)Wirkungen auf Sein und Bewußtsein als erster wohl Georg Simmel klar erkannt
und dabei zentrale Begriffe der modemen Gesellschaftswissenschaften geprägt
hat (Individualismus-Debatte, Entfremdungsproblematik, Fremdheit und Rolle der
Geschlechter). Die wachsende Verselbstständigung wichtiger Teilbereiche der
Gesellschaft (z. B. der Wirtschaft, des Rechts und der Politik), welche im 20.
Jahrhundert eine vorher nicht da gewesene Komplexität und Unüberschaubarkeit
erzeugte, beschrieb er schon im Jahr 1900 in seinem Hauptwerk »Philosophie
des Geldes« ( ).
Daß das Zusammengehörige auseinander gerissen und in isolierte Tatsachenkomplexe
aufgelöst wird, präzisierte sein Schüler Georg Lukacs schließlich
23 Jahre später als generelles Charakteristikum des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs,
der infolgedessen die Phänomene der Gesellschaft und zugleich ihre Begrifflichkeit
als isolierte Tatsachen und eigengesetzliche Teilgebiete behandele. Wie willkürlich
und abrupt die Grenzen der jeweiligen Disziplinen schon infolge der chrematistischen
Blindheit gezogen wurden, beschreibt dabei das Schumpeter-Theorem von 1907: »Die
Menschen sterben, neue werden geboren, und so kann man in der Tat, ohne sich besonders
Gewalt anzutun, die stets vorhandene Arbeitskraft ähnlich behandeln wie das
Land. Wohl muß im Gegensatz zu letzterem eine Reproduktion erfolgen, aber
dieselbe fällt aus dem Rahmen ökonomischer Betrachtung heraus«.
( ).
Von hier bis zu J. M. Keynes, demzufolge die »kennzeichnenden Eigenschaften
des Geldes vor allem darin liegen, daß es eine scharfsinnige Einrichtung
ist, um die Gegenwart mit der Zukunft zu verbinden« ( ),
war es dann nur noch ein kurzes Stück. Kinder als Zukunftsträger wurden
immer unsichtbarer. Die Sparkassenwerbung der 1980er Jahre machte sich in einem
Faltblatt ihren Reim darauf: »Geld ist wie ein Baby, man muß es anlegen,
damit es wächst!« (Jürgen Borchert, Wie Juristen
Flüsse bergauf fließen lassen - Zur Semantik in der Sozial- und Familienpolitik
und ihre Folgen für das Recht, in: Herwig Birg, Auswirkungen der demographischen
Alterung und der Bevölkerungsschrumpfung auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft,
2005, S. 41-43 ).Georg
Simmel, der seit 1901 Professor in Berlin und seit 1914 Professor in Straßburg
war, kam also letztlich zu der Erkenntnis, daß Erkenntnis die schöpferische
Leistung des erkennenden Subjekts insoweit ist, als das Subjekt mit Hilfe selbstgeschaffener,
auf seinen Lebenskreis bezogener Kategorien ein diesem (Lebenskreis) entsprechendes,
relativ berechtigtes Wirklichkeitsbild aus dem Konglomerat der Empfindungen formt.
( ).
Georg Simmel starb am 26. September 1918 in Straßburg, das zu dieser Zeit
noch zu Deutschland gehörte. |