Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818
Vorrede
Es ergiebt sich von selbst, daß
... zum Eindringen in den dargelegten Gedanken, kein anderer Rath ist,
als das Buch zwei Mal zu lesen und zwar das erste Mal mit vieler Geduld,
welche allein zu schöpfen ist aus dem freiwillig geschenkten Glauben,
daß der Anfang das Ende beinahe so sehr voraussetze, als das Ende
den Anfang, und eben so jeder frühere Theil den spätern beinahe
so sehr, als dieser jenen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als
Wille und Vorstellung, 1818, S. 9).
Die zweite Forderung ist diese, daß man vor dem Buche die
Einleitung zu demselben lese, obgleich sie nicht mit in dem Buche steht,
sondern fünf Jahre früher erschienen ist, unter dem Titel: »Ueber
die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde: eine philosophische
Abhandlung.« Ohne Bekanntschaft mit dieser Einleitung und
Propädeutik ist das eigentliche Verständniß gegenwärtiger
Schrift ganz und gar nicht möglich, und der Inhalt jener Abhandlung
wird hier überall so vorausgesetzt, als stände sie mit im Buche.
Uebrigens würde sie, wenn sie diesem nicht schon um mehrere Jahre
vorangegangen wäre, doch wohl nicht eigentlich als Einleitung ihm
vorstehn, sondern dem ersten Buch einverleibt seyn, welches jetzt, indem
das in der Abhandlung Gesagte ihm fehlt, eine gewisse Unvollkommenheit
schon durch diese Lücken zeigt, welche es immer durch Berufen auf
jene Abhandlung ausfüllen muß. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 10).
Die dritte an den Leser zu machende Forderung endlich könnte
sogar stillschweigend vorausgesetzt werden: denn es ist keine andere,
als die der Bekanntschaft mit der wichtigsten Erscheinung, welche seit
zwei Jahrtausenden in der Philosophie hervorgetreten ist und uns so nahe
liegt: ich meine die Hauptschriften Kants. Die Wirkung, welche sie in
dem Geiste, zu welchem sie wirklich reden, hervorbringen, finde ich in
der That, wie wohl schon sonst gesagt worden, der Staaroperation am Blinden
gar sehr zu vergleichen: und wenn wir das Gleichniß fortsetzen wollen,
so ist mein Zweck dadurch zu bezeichnen, daß ich Denen, an welchen
jene Operation gelungen ist, eine Staarbrille habe in die Hand geben wollen,
zu deren Gebrauch also jene Operation selbst die nothwendigste Bedingung
ist. So sehr ich demnach von Dem ausgehe, was der große Kant
geleistet hat; so hat dennoch eben das ernstliche Studium seiner Schriften
mich bedeutende Fehler in denselben entdecken lassen, welche ich aussondern
und als verwerflich darstellen mußte, um das Wahre und Vortreffliche
seiner Lehre rein davon und geläutert voraussetzen und anwenden zu
können. Um aber nicht meine eigene Darstellung durch häufige
Polemik gegen Kant zu unterbrechen und zu verwirren, habe ich diese in
einen besondern Anhang gebracht. So sehr nun, dem Gesagten zufolge, meine
Schrift die Bekanntschaft mit der Kantischen Philosophie voraussetzt;
so sehr setzt sie also auch die Bekanntschaft mit jenem Anhange voraus:
daher es in dieser Rücksicht rathsam wäre, den Anhang zuerst
zu lesen, um so mehr, als der Inhalt desselben gerade zum ersten Buche
gegenwärtiger Schrift genaue Beziehungen hat. Andererseits konnte,
der Natur der Sache nach, es nicht vermieden werden, daß nicht auch
der Anhang hin und wieder sich auf die Schrift selbst beriefe: daraus
nichts anderes folgt, als daß er eben so wohl, als der Haupttheil
des Werkes, zwei Mal gelesen werden muß. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 11-12).
Kants Philosophie also ist die einzige, mit welcher eine
gründliche Bekanntschaft bei dem hier Vorzutragenden geradezu vorausgesetzt
wird. Wenn aber überdies noch der Leser in der Schule des
göttlichen Plato geweilt hat; so wird er um so besser vorbereitet
und empfänglicher seyn, mich zu hören. Ist er aber gar noch
der Wohlthat der Veda's theilhaft geworden, deren uns durch die Upanischaden
eröffneter Zugang, in meinen Augen, der größte Vorzug
ist, den dieses noch junge Jahrhundert vor den früheren aufzuweisen
hat, indem ich vermuthe, daß der Einfluß der Sanskrit-Litteratur
nicht weniger tief eingreifen wird, als im 15. Jahrhundert die Wiederbelebung
der Griechischen: hat also, sage ich, der Leser auch schon die Weihe uralter
Indischer Weisheit empfangen und empfänglich aufgenommen; dann ist
er auf das allerbeste bereitet zu hören, was ich ihm vorzutragen
habe. Ihn wird es dann nicht, wie manchen Andern fremd, ja feindlich ansprechen;
da ich, wenn es nicht zu stolz klänge, behaupten möchte, daß
jeder von den einzelnen und abgerissenen Aussprüchen, welche die
Upanischaden ausmachen, sich als Folgesatz aus dem von mir mitzutheilenden
Gedanken ableiten ließe, obgleich keineswegs auch umgekehrt dieser
schon dort zu finden ist. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als
Wille und Vorstellung, 1818, S. 12).
Aber schon sind die meisten Leser ungeduldig aufgefahren und in
den mühsam so lange zurückgehaltenen Vorwurf ausgebrochen, wie
ich doch wagen könne, dem Publikum ein Buch unter Forderungen und
Bedingungen, von denen die beiden ersten anmaaßend und ganz unbescheiden
sind, vorzulegen, und dies zu einer Zeit, wo ein so allgemeiner Reichthum
an eigenthümlichen Gedanken ist, daß in Deutschland allein
solche jährlich in drei Tausend gehaltreichen, originellen und ganz
unentbehrlichen Werken, und außerdem in unzähligen periodischen
Schriften, oder gar täglichen Blättern, durch die Druckerpresse
zum Gemeingute gemacht werden? zu einer Zeit, wo besonders an ganz originellen
und tiefen Philosophen nicht der mindeste Mangel ist; sondern allein in
Deutschland deren mehr zugleich leben, als sonst etliche Jahrhunderte
hinter einander aufzuweisen hatten? wie man denn, fragt der entrüstete
Leser, zu Ende kommen solle, wenn man mit einem Buche so umständlich
zu Werke gehn müßte? (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 12-13).
Da ich gegen solche Vorwürfe nicht das Mindeste vorzubringen
habe, hoffe ich nur auf einigen Dank bei diesen Lesern dafür, daß
ich sie bei Zeiten gewarnt habe, damit sie keine Stunde verlieren mit
einem Buche, dessen Durchlesung ohne Erfüllung der gemachten Forderungen
nicht fruchten könnte und daher ganz zu unterlassen ist, zumal da
auch sonst gar Vieles zu wetten, daß es ihnen nicht zusagen kann,
daß es vielmehr immer nur paucorum hominum seyn wird und
daher gelassen und bescheiden auf die Wenigen warten muß, deren
ungewöhnliche Denkungsart es genießbar fände. Denn, auch
abgesehn von den Weitläuftigkeiten und der Anstrengung, die es dem
Leser zumuthet, welcher Gebildete dieser Zeit, deren Wissen dem herrlichen
Punkte nahe gekommen ist, wo paradox und falsch ganz einerlei sind, könnte
es ertragen, fast auf jeder Seite Gedanken zu begegnen, die Dem, was er
doch selbst ein für alle Mal als wahr und ausgemacht festgesetzt
hat, geradezu widersprechen? Und dann, wie unangenehm wird Mancher sich
getäuscht finden, wenn er hier gar keine Rede antrifft von Dem, was
er gerade hier durchaus suchen zu müssen glaubt, weil seine Art zu
spekuliren zusammentrifft mit der eines noch lebenden großen Philosophen
(F. H. Jacobi) , welcher wahrhaft rührende Bücher geschrieben
und nur die kleine Schwachheit hat, Alles, was er vor seinem fünfzehnten
Jahre gelernt und approbirt hat, für angeborene Grundgedanken des
menschlichen Geistes zu halten. Wer möchte alles dies ertragen? Daher
mein Rath ist, das Buch nur wieder wegzulegen. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 13).
Allein ich fürchte selbst so nicht loszukommen. Der bis zur
Vorrede, die ihn abweist, gelangte Leser hat das Buch für baares
Geld gekauft und fragt, was ihn schadlos hält? Meine letzte
Zuflucht ist jetzt, ihn zu erinnern, daß er ein Buch, auch ohne
es gerade zu lesen, doch auf mancherlei Art zu benutzen weiß. Es
kann, so gut wie viele andere, eine Lücke seiner Bibliothek ausfüllen,
wo es sich, sauber gebunden, gewiß gut ausnehmen wird. Oder auch
er kann es seiner gelehrten Freundin auf die Toilette, oder den Theetisch
legen. Oder endlich er kann ja, was gewiß das Beste von Allem ist
und ich besonders rathe, es recensiren. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, Vorrede, S. 13-14).
Und so, nachdem ich mir den Scherz erlaubt,
welchem eine Stelle zu gönnen in diesem durchweg zweideutigen Leben
kaum irgend ein Blatt zu ernsthaft seyn kann, gebe ich mit innigem Ernst
das Buch hin, in der Zuversicht, daß es früh oder spät
Diejenigen erreichen wird, an welche es allein gerichtet seyn kann, und
übrigens gelassen darin ergeben, daß auch ihm in vollem Maaße
das Schicksal werde, welches in jeder Erkenntniß, also um so mehr
in der wichtigsten, allezeit der Wahrheit zu Theil ward, der nur ein kurzes
Siegesfest beschieden ist, zwischen den beiden langen Zeiträumen,
wo sie als paradox verdammt und als trivial geringgeschätzt wird.
Auch pflegt das erstere Schicksal ihren Urheber mitzutreffen. Aber
das Leben ist kurz und die Wahrheit wirkt ferne und lebt lange: sagen
wir die Wahrheit. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, Vorrede, S. 14).
Geschrieben zu Dresden im August 1818
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
Vorrede, S. 14).
1. Buch
§ 1»Die Welt ist
meine Vorstellung« - dies ist die Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes
lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektierte
abstrakte Bewußtseyn bringen kann: und thut er dies wirklich, so ist die
philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlich und
gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur
ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; daß
die Welt, welche ihn umgiebt, nur als Vorstellung da ist, d.h. durchweg nur in
Beziehung auf ein Anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist. Wenn
irgendeine Wahrheit a priori ausgesprochen werden kann, so ist es diese: denn
sie ist die Aussage derjenigen Form aller möglichen und erdenklichen Erfahrung,
welche allgemeiner, als alle andern, als Zeit, Raum und Kausalität ist: denn
alle diese setzen jene eben schon voraus, und wenn jede dieser Formen, welche
alle wir als so viele besondere Gestaltungen des Satzes vom Grunde erkannt haben,
nur für eine besondere Klasse von Vorstellungen gilt; so ist dagegen das
Zerfallen in Objekt und Subjekt die gemeinsame Form aller jener Klassen, ist diejenige
Form, unter welcher allein irgend eine Vorstellung, welcher Art sie auch sei,
abstrakt oder intuitiv, rein oder empirisch, nur überhaupt möglich und
denkbar ist. Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen andern unabhängiger
und eines Beweises weniger bedürftig, als diese, daß Alles, was für
die Erkenntniß da ist, also die ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf
das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit Einem Wort, Vorstellung. Natürlich
gilt Dieses, wie von der Gegenwart, so auch von jeder Vergangenheit und jeder
Zukunft, vom Fernsten, wie vom Nahen: denn es gilt von Zeit und Raum selbst, in
welchen allein sich dieses alles unterscheidet. Alles, was irgend zur Welt gehört
und gehören kann, ist unausweichbar mit diesem Bedingtseyn durch das Subjekt
behaftet, und ist nur für das Subjekt da. Die Welt ist Vorstellung.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 27-28).Neu
ist diese Wahrheit keineswegs. Sie lag schon in den skeptischen Betrachtungen,
von welchen Cartesius ausgieng. Berkeley aber war der erste, welcher sie entschieden
aussprach: er hat sich dadurch ein unsterbliches Verdienst um die Philosophie
erworben, wenn gleich das Uebrige seiner Lehren nicht bestehn kann. Kants erster
Fehler war die Vernachlässigung dieses Satzes, wie im Anhange ausgeführt
ist. Wie früh hingegen diese Grundwahrheit von den Weisen Indiens
erkannt worden ist, indem sie als der Fundamentalsatz der dem Vyasa zugeschriebenen
Vedantaphilosophie auftritt, bezeugt W. Jones, in der letzten seiner Abhandlungen:
on the philosophy of the Asiatics; Asiatic researches, Vol. IV, p. 164:
the fundamental tenet of the Vedanta school consisted not in denying the existence
of matter, that is of solidity, impenetrability, and extended figure (to deny
which would be lunacy), but in correcting the popular notion of it, and in contending
that it has no essence independent of mental perception; that existence and perceptibility
are convertible terms. (**). Diese
Worte drücken das Zusammenbestehn der empirischen Realität mit der transscendentalen
Idealität hinlänglich aus. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als
Wille und Vorstellung, 1818, S. 27-28). Das
Grunddogma der Vedantaschule bestand nicht im Ableugnen des Daseyns der Materie,
d.h. der Solidität, Undurchdringlichkeit und Ausdehnung (welche zu leugnen
Wahnsinn wäre), sondern in der Berichtigung des gewöhnlichen Begriffs
derselben, durch die Behauptung, daß sie kein von der erkennenden Auffassung
unabhängiges Daseyn habe; indem Daseyn und Wahrnehmbarkeit Wechselbegriffe
seien. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 28).
Also nur von der angegebenen Seite, nur sofern
sie Vorstellung ist, betrachten wir die Welt in diesem er sten Buche. Daß
jedoch diese Betrachtung, ihrer Wahrheit unbeschadet, eine einseitige, folglich
durch irgendeine willkürliche Abstraktion hervorgerufen ist, kündigt
Jedem das innere Widerstreben an, mit welchem er die Welt als seine bloße
Vorstellung annimmt; welcher Annahme er sich andererseits doch nimmermehr entziehn
kann. Die Einseitigkeit dieser Betrachtung aber wird das folgende Buch ergänzen,
durch eine Wahrheit, welche nicht so unmittelbar gewiß ist, wie die, von
der wir hier ausgehn; sondern zu welcher nur tiefere Forschung, schwierigere Abstraktion,
Trennung des Verschiedenen und Vereinigung des Identischen führen kann,
durch eine Wahrheit, welche sehr ernst und Jedem, wo nicht furchtbar, doch bedenklich
seyn muß, nämlich diese, daß eben auch er sagen kann und sagen
muß: »Die Welt ist mein Wille.« (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 28-29).
Bis dahin aber, also in diesem ersten
Buch, ist es nöthig, unverwandt diejenige Seite der Welt zu betrachten,
von welcher wir ausgehn, die Seite der Erkennbarkeit, und demnach, ohne
Widerstreben, alle irgend vorhandenen Objekte, ja sogar den eigenen Leib
(wie wir bald näher erörtern werden) nur als Vorstellung zu
betrachten, bloße Vorstellung zu nennen. Das, wovon hiebei abstrahirt
wird, ist, wie später hoffentlich Jedem gewiß seyn wird, immer
nur der Wille, als welcher allein die andere Seite der Welt ausmacht:
denn diese ist, wie einerseits durch und durch Vorstellung, so andererseits
durch und durch Wille. Eine Realität aber, die keines von diesen
Beiden wäre, sondern ein Objekt an sich (zu welcher auch Kants Ding
an sich ihm leider unter den Händen ausgeartet ist), ist ein erträumtes
Unding und dessen Annahme ein Irrlicht in der Philosophie. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 29).
§
2Dasjenige, was Alles erkennt und von Keinem
erkannt wird, ist das Subjekt. Es ist sonach der Träger der Welt, die durchgängige,
stets vorausgesetzte Bedingung alles Erscheinenden, alles Objekts: denn nur für
das Subjekt ist, was nur immer da ist. Als dieses Subjekt findet Jeder sich selbst,
jedoch nur sofern er erkennt, nicht sofern er Objekt der Erkenntniß ist.
Objekt ist aber schon sein Leib, welchen selbst wir daher, von diesem Standpunkt
aus, Vorstellung nennen. Denn der Leib ist Objekt unter Objekten und den Gesetzen
der Objekte unterworfen, obwohl er unmittelbares Objekt ist6. Er liegt, wie alle
Objekte der Anschauung, in den Formen alles Erkennens, in Zeit und Raum, durch
welche die Vielheit ist. Das Subjekt aber, das Erkennende, nie Erkannte, liegt
auch nicht in diesen Formen, von denen selbst es vielmehr immer schon vorausgesetzt
wird: ihm kommt also weder Vielheit, noch deren Gegensatz, Einheit, zu. Wir erkennen
es nimmer, sondern es eben ist es, das erkennt, wo nur erkannt wird. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 29).Die
Welt als Vorstellung also, in welcher Hinsicht allein wir sie hier betrachten,
hat zwei wesentliche, nothwendige und untrennbare Hälften. Die eine ist das
Objekt: dessen Form ist Raum und Zeit, durch diese die Vielheit. Die andere Hälfte
aber, das Subjekt, liegt nicht in Raum und Zeit: denn sie ist ganz und ungetheilt
in jedem vorstellenden Wesen; daher ein einziges von diesen, eben so vollständig,
als die vorhandenen Millionen, mit dem Objekt die Welt als Vorstellung ergänzt:
verschwände aber auch jenes einzige; so wäre die Welt als Vorstellung
nicht mehr. Diese Hälften sind daher unzertrennlich, selbst für den
Gedanken: denn jede von beiden hat nur durch und für die andere Bedeutung
und Daseyn, ist mit ihr da und verschwindet mit ihr. Sie begränzen sich unmittelbar:
wo das Objekt anfängt, hört das Subjekt auf. Die Gemeinschaftlichkeit
dieser Gränze zeigt sich eben darin, daß die wesentlichen und daher
allgemeinen Formen alles Objekts, welche Zeit, Raum und Kausalität sind,
auch ohne die Erkenntniß des Objekts selbst, vom Subjekt ausgehend gefunden
und vollständig erkannt werden können, d.h. in Kants Sprache, a priori
in unserm Bewußtseyn liegen. Dieses entdeckt zu haben, ist ein Hauptverdienst
Kants und ein sehr großes. Ich behaupte nun überdies, daß der
Satz vom Grunde der gemeinschaftliche Ausdruck für alle diese uns a priori
bewußten Formen des Objekts ist, und daß daher Alles, was wir rein
a priori wissen, nichts ist, als eben der Inhalt jenes Satzes und was aus diesem
folgt, in ihm also eigentlich unsere ganze a priori gewisse Erkenntniß ausgesprochen
ist. In meiner Abhandlung über den Satz vom Grunde habe Ich ausführlich
gezeigt, wie jedes irgend mögliche Objekt demselben unterworfen ist, d.h.
in einer nothwendigen Beziehung zu andern Objekten steht, einerseits als bestimmt,
andererseits als bestimmend: dies geht so weit, daß das ganze Daseyn aller
Objekte, sofern sie Objekte, Vorstellungen und nichts anderes sind, ganz und gar
zurückläuft auf jene ihre nothwendige Beziehung zu einander, nur in
solcher besteht, also gänzlich relativ ist: wovon bald ein Mehreres. Ich
habe ferner gezeigt, daß, gemäß den Klassen, in welche die Objekte
ihrer Möglichkeit nach zerfallen, jene nothwendige Beziehung, welche der
Satz vom Grunde im Allgemeinen ausdrückt, in andern Gestalten erscheint;
wodurch wiederum die richtige Eintheilung jener Klassen sich bewährt. Ich
setze hier beständig alles dort Gesagte als bekannt und dem Leser gegenwärtig
voraus: denn es würde, wenn es nicht schon gesagt wäre, hier seine nothwendige
Stelle haben. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 29-30). § 3Der Hauptunterschied
zwischen allen unsern Vorstellungen ist der des Intuitiven und Abstrakten. Letzteres
macht nur eine Klasse von Vorstellungen aus, die Begriffe: und diese sind auf
der Erde allein das Eigenthum des Menschen, dessen ihn von allen Thieren unterscheidende
Fähigkeit zu denselben von jeher Vernunft genannt worden ist. (**).
Wir werden weiterhin diese abstrakten Vorstellungen für sich betrachten,
zuvörderst aber ausschließlich von der intuitiven Vorstellung reden.
Diese nun befaßt die ganze sichtbare Welt, oder die gesammte Erfahrung,
nebst den Bedingungen der Möglichkeit derselben. Es ist, wie gesagt, eine
sehr wichtige Entdeckung Kants, daß eben diese Bedingungen, diese Formen
derselben, d.h. das Allgemeinste in ihrer Wahrnehmung, das allen ihren Erscheinungen
auf gleiche Weise Eigene, Zeit und Raum, auch für sich und abgesondert von
ihrem Inhalt, nicht nur in abstracto gedacht, sondern auch unmittelbar angeschaut
werden kann, und daß diese Anschauung nicht etwan ein durch Wiederholung
von der Erfahrung entlehntes Phantasma ist, sondern so sehr unabhängig von
der Erfahrung, daß vielmehr um gekehrt diese als von jener abhängig
gedacht werden muß, indem die Eigenschaften des Raumes und der Zeit, wie
sie die Anschauung a priori erkennt, für alle mögliche Erfahrung als
Gesetze gelten, welchen gemäß diese überall ausfallen muß.
Dieserhalb habe ich, in meiner Abhandlung über den Satz vom Grunde, Zeit
und Raum, sofern sie rein und inhaltsleer angeschaut werden, als eine besondere
und für sich bestehende Klasse von Vorstellungen betrachtet. So wichtig nun
auch diese von Kant entdeckte Beschaffenheit jener allgemeinen Formen der Anschauung
ist, daß sie nämlich für sich und unabhängig von der Erfahrung
anschaulich und ihrer ganzen Gesetzmäßigkeit nach erkennbar sind, worauf
die Mathematik mit ihrer Unfehlbarkeit beruht; so ist es doch eine nicht in der
beachtungswerthe Eigenschaft derselben, daß der Satz vom Grunde, der die
Erfahrung als Gesetz der Kausalität und Motivation, und das Denken als Gesetz
der Begründung der Urtheile bestimmt, hier in einer ganz eigenthümlichen
Gestalt auftritt, der ich den Namen Grund des Seyns gegeben habe, und welche in
der Zeit die Folge ihrer Momente, und im Raum die Lage seiner sich ins Unendliche
wechselseitig bestimmenden Theile ist (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 30-31). Kant
allein hat diesen Begriff der Vernunft verwirrt, in welcher Hinsicht ich auf den
Anhang verweise (**),
wie auch auf neue »Grundprobleme der Ethik«. Grundl. d. Moral, §
6, S. 148-154 der ersten Auflage. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als
Wille und Vorstellung, 1818, S. 31).
Wem aus der einleitenden
Abhandlung die vollkommene Identität des Inhalts des Satzes vom Grunde, bei
aller Verschiedenheit seiner Gestalten, deut lich geworden ist, der wird auch
überzeugt seyn, wie wichtig zur Einsicht in sein Innerstes Wesen gerade die
Erkenntniß der einfachsten seiner Gestaltungen, als solcher, ist, und für
diese haben wir die Zeit erkannt. Wie in ihr jeder Augenblick nur ist, sofern
er den vorhergehenden, seinen Vater, vertilgt hat, um selbst wieder eben so schnell
vertilgt zu werden; wie Vergangenheit und Zukunft (abgesehn von den Folgen ihres
Inhalts) so nichtig als irgend ein Traum sind, Gegenwart aber nur die ausdehnungs-
und bestandlose Gränze zwischen Beiden ist; eben so werden wir die selbe
Nichtigkeit auch in allen andern Gestalten des Satzes vom Grunde wiedererkennen
und einsehn, daß wie die Zeit, so auch der Raum, und wie dieser, so auch
Alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, Alles also, was aus Ursachen oder
Motiven hervorgeht, nur ein relatives Daseyn hat, nur durch und für ein Anderes,
ihm gleichartiges, d.h. wieder nur eben so bestehendes, ist. Das Wesentliche dieser
Ansicht ist alt: Herakleitos bejammerte in ihr den ewigen Fluß der Dinge:
Plato würdigte ihren Gegenstand herab, als das immerdar Werdende, aber nie
Seiende; Spinoza nannte es bloße Accidenzien der allein seienden und bleibenden
einzigen Substanz; Kant setzte das so Erkannte als bloße Erscheinung dem
Dinge an sich entgegen; endlich die uralte Weisheit der Inder spricht: »Es
ist die Maja, der Schleier des Truges, welcher die Augen der Sterblichen umhüllt
und sie eine Welt sehn läßt, von der man weder sagen kann, daß
sie sei, noch auch, daß sie nicht sei: denn sie gleicht dem Traume, gleicht
dem Sonnenglanz auf dem Sande, welchen der Wanderer von ferne für ein Wasser
hält, oder auch dem hingeworfenen Strick, den er für eine Schlange ansieht.«
(Diese Gleichnisse finden sich in unzähligen Stellen der Veden und Puranas
wiederholt.) Was Alle diese aber meinten und wovon sie reden, ist nichts Anderes,
als was auch wir jetzt eben betrachten: die Welt als Vorstellung, unterworfen
dem Satze des Grundes. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 31-32). § 4 Wer die Gestaltung des
Satzes vom Grunde, welche in der reinen Zeit als solcher erscheint und auf der
alles Zählen und Rechnen beruht, erkannt hat, der hat eben damit auch das
ganze Wesen der Zeit erkannt. Sie ist weiter nichts, als eben jene Gestaltung
des Satzes vom Grunde, und hat keine andere Eigenschaft. Succession ist die Gestalt
des Satzes vom Grunde in der Zeit; Succession ist das ganze Wesen der Zeit.
Wer ferner den Satz vom Grunde, wie er im bloßen rein angeschauten Raum
herrscht, erkannt hat, der hat eben damit das ganze Wesen des Raumes erschöpft;
da dieser durch und durch nichts Anderes ist, als die Möglichkeit der wechselseitigen
Bestimmungen seiner Theile durch einander, welche Lage heißt. Die ausführliche
Betrachtung dieser und Niederlegung der sich daraus ergebenden Resultate in abstrakte
Begriffe, zu bequemerer Anwendung, ist der Inhalt der ganzen Geometrie,
Eben so nun, wer diejenige Gestaltung des Satzes vom Grunde, welche den Inhalt
jener Formen (der Zeit und des Raumes), ihre Wahrnehmbarkeit, d.i. die Materie,
beherrscht, also das Gesetz der Kausalität erkannt hat; der hat eben damit
das ganze Wesen der Materie als solcher erkannt: denn diese ist durch und durch
nichts als Kausalität, welches Jeder unmittelbar einsieht, sobald er sich
besinnt. Ihr Seyn nämlich ist ihr Wirken: kein anderes Seyn derselben ist
auch nur zu denken möglich. Nur als wirkend füllt sie den Raum, füllt
sie die Zeit: ihre Einwirkung auf das unmittelbare Objekt (das selbst Materie
ist) bedingt die Anschauung, in der sie allein existirt: die Folge der Einwirkung
jedes andern materiellen Objekts auf ein anderes wird nur erkannt, sofern das
letztere jetzt anders als zuvor auf das unmittelbare Objekt einwirkt, besteht
nur darin. Ursache und Wirkung ist also das ganze Wesen der Materie: ihr Seyn
ist ihr Wirken. (Das Nähere hierüber in der Abhandlung über den
Satz vom Grunde, § 21, S. 77.) Höchst treffend ist daher im Deutschen
der Inbegriff alles Materiellen Wirklichkeit genannt8, welches Wort viel bezeichnender
ist, als Realität. Das, worauf sie wirkt, ist allemal wieder Materie: ihr
ganzes Seyn und Wesen besteht also nur in der gesetzmäßigen Veränderung,
die ein Theil derselben im andern hervorbringt, ist folglich gänzlich relativ,
nach einer nur innerhalb ihrer Gränzen geltenden Relation, also eben wie
die Zeit, eben wie der Raum. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille
und Vorstellung, 1818, S. 32-33).Zeit aber und Raum, jedes
für sich, sind auch ohne die Materie anschaulich vorstellbar; die Materie
aber nicht ohne jene. Schon die Form, welche von ihr unzertrennlich ist, setzt
den Raum voraus, und ihr Wirken, in welchem ihr ganzes Daseyn besteht, betrifft
immer eine Veränderung, also eine Bestimmung der Zeit. Aber Zeit und Raum
werden nicht bloß jedes für sich von der Materie vorausgesetzt; sondern
eine Vereinigung Beider macht ihr Wesen aus, eben weil dieses, wie gezeigt, im
Wirken, in der Kausalität, besteht. Alle gedenkbaren, unzähligen Erscheinungen
und Zustände nämlich könnten im unendlichen Raum, ohne sich zu
beengen, neben einander liegen, oder auch in der unendlichen Zeit, ohne sich zu
stören, auf einander folgen; daher dann eine nothwendige Beziehung derselben
auf einander und eine Regel, welche sie dieser gemäß bestimmte, keineswegs
nöthig, ja nicht ein Mal anwendbar wäre: folglich gäbe es alsdann,
bei allem Nebeneinander im Raum und allem Wechsel in der Zeit, so lange jede dieser
beiden Formen für sich, und ohne Zusammenhang mit der andern ihren Bestand
und Lauf hätte, noch gar keine Kausalität, und da diese das eigentliche
Wesen der Materie ausmacht, auch keine Materie. Nun aber erhält das
Gesetz der Kausalität seine Bedeutung und Nothwendigkeit allein dadurch,
daß das Wesen der Veränderung nicht im bloßen Wechsel der Zustände
an sich, sondern vielmehr darin besteht, daß an dem selben Ort im Raum jetzt
ein Zustand ist und darauf ein anderer, und zu einer und der selben bestimmten
Zeit hier dieser Zustand und dort jener: nur diese gegenseitige Beschränkung
der Zeit und des Raums durch einander giebt einer Regel, nach der die Veränderung
vorgehn muß, Bedeutung und zugleich Nothwendigkeit. Was durch das Gesetz
der Kausalität bestimmt wird, ist also nicht die Succession der Zustände
in der bloßen Zeit, sondern diese Succession in Hinsicht auf einen bestimmten
Raum, und nicht das Daseyn der Zustände an einem bestimmten Ort, sondern
an diesem Ort zu einer bestimmten Zeit. Die Veränderung, d. h, der nach dem
Kausalgesetz eintretende Wechsel, betrifft also jedesmal einen bestimmten Theil
des Raumes und einen bestimmten Theil der Zeit zugleich und im Verein. Demzufolge
vereinigt die Kausalität den Raum mit der Zeit. Wir haben aber gefunden,
daß im Wirken, also in der Kausalität, das ganze Wesen der Materie
besteht: folglich müssen auch in dieser Raum und Zeit vereinigt seyn, d.h.
sie muß die Eigenschaften der Zeit und die des Raumes, so sehr sich Beide
widerstreiten, zugleich an sich tragen, und was in jedem von jenen Beiden für
sich unmöglich ist, muß sie in sich vereinigen, also die bestandlose
Flucht der Zeit mit dem starren unveränderlichen Beharren des Raumes, die
unendliche Theilbarkeit hat sie von Beiden. Diesem gemäß finden wir
durch sie zuvörderst das Zugleichseyn herbeigeführt, welches weder in
der bloßen Zeit, die kein Nebeneinander, noch im bloßen Raum, der
kein Vor, Nach oder Jetzt kennt, seyn konnte. Das Zugleichseyn vieler Zustände
aber macht eigentlich das Wesen der Wirklichkeit aus: denn durch dasselbe wird
allererst die Dauer möglich, indem nämlich diese nur erkennbar ist an
dem Wechsel des mit dem Dauernden zugleich Vorhandenen; aber auch nur mittelst
des Dauernden im Wechsel erhält dieser jetzt den Charakter der Veränderung,
d.h. des Wandels der Qualität und Form, beim Beharren der Substanz, d.i.
der Materie9. Im bloßen Raum wäre die Welt starr und unbeweglich: kein
Nacheinander, keine Veränderung, kein Wirken: eben mit dem Wirken ist aber
auch die Vorstellung der Materie aufgehoben. In der bloßen Zeit wiederum
wäre alles flüchtig: kein Beharren, kein Nebeneinander und daher kein
Zugleich, folglich keine Dauer: also wieder auch keine Materie. Erst durch die
Vereinigung von Zeit und Raum erwächst die Materie, d.i. die Möglichkeit
des Zugleichseyns und dadurch der Dauer, durch diese wieder des Beharrens der
Substanz, bei der Veränderung der Zustände. Im Verein von Zeit und Raum
ihr Wesen habend, trägt die Materie durchweg das Gepräge von Beiden.
Sie beurkundet ihren Ursprung aus dem Raum, theils durch die Form, die von ihr
unzertrennlich ist, besonders aber (weil der Wechsel allein der Zeit angehört,
in dieser allein und für sich aber nichts Bleibendes ist) durch ihr Beharren
(Substanz), dessen Gewißheit a priori daher ganz und gar von der des Raumes
abzuleiten ist11: ihren Ursprung aus der Zeit aber offenbart sie an der Qualität
(Accidenz), ohne die sie nie erscheint, und welche schlechthin immer Kausalität,
Wirken auf andere Materie, also Veränderung (ein Zeitbegriff) ist. Die Gesetzmäßigkeit
dieses Wirkens aber bezieht sich immer auf Raum und Zeit zugleich und hat eben
nur dadurch Bedeutung. Was für ein Zustand zu dieser Zeit an diesem Ort eintreten
muß, ist die Bestimmung, auf welche ganz allein die Gesetzgebung der Kausalität
sich erstreckt. Auf dieser Ableitung der Grundbestimmungen der Materie aus den
uns a priori bewußten Formen unserer Erkenntniß beruht es, daß
wir ihr gewisse Eigenschaften a priori zuerkennen, nämlich Raumerfüllung,
d.i. Undurchdringlichkeit, d.i. Wirksamkeit, sodann Ausdehnung, unendliche Theilbarkeit,
Beharrlichkeit, d.h. Unzerstörbarkeit, und endlich Beweglichkeit: hingegen
ist die Schwere, ihrer Ausnahmslosigkeit ungeachtet, doch wohl der Erkenntniß
a posteriori beizuzählen, obgleich Kant in den »Metaphys. Anfangsgr.
d. Naturwiss.«, S. 71 sie als a priori erkennbar aufstellt.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 33-35).Wie
aber das Objekt überhaupt nur für das Subjekt da ist, als dessen Vorstellung;
so ist jede besondere Klasse von Vorstellungen nur für eine eben so besondere
Bestimmung im Subjekt da, die man ein Erkenntnißvermögen nennt. Das
subjektive Korrelat von Zeit und Raum für sich, als leere Formen, hat Kant
reine Sinnlichkeit genannt, welcher Ausdruck, weil Kant hier die Bahn brach, beibehalten
werden mag; obgleich er nicht recht paßt, da Sinnlichkeit schon Materie
voraussetzt. Das subjektive Korrelat der Materie oder der Kausalität, denn
Beide sind Eines, ist der Verstand, und er ist nichts außerdem. Kausalität
erkennen ist seine einzige Funktion, seine alleinige Kraft, und es ist eine große,
Vieles umfassende, von mannigfaltiger Anwendung, doch unverkennbarer Identität
aller ihrer Äußerungen. Umgekehrt ist alle Kausalität, also alle
Materie, mithin die ganze Wirklichkeit, nur für den Verstand, durch den Verstand,
im Verstande. Die erste, einfachste, stets vorhandene Aeußerung des Verstandes
ist die Anschauung der wirklichen Welt: diese ist durchaus Erkenntniß der
Ursache aus der Wirkung: daher ist alle Anschauung intellektual. Es könnte
dennoch nie zu ihr kommen, wenn nicht irgend eine Wirkung unmittelbar erkannt
würde und dadurch zum Ausgangspunkte diente. Dieses aber ist die Wirkung
auf die thierischen Leiber. Insofern sind diese die unmittelbaren Objekte des
Subjekts: die Anschauung aller andern Objekte ist durch sie vermittelt. Die Veränderungen,
welche jeder thierische Leib erfährt, werden unmittelbar erkannt, d.h. empfunden,
und indem sogleich diese Wirkung auf ihre Ursache bezogen wird, entsteht die Anschauung
der letzteren als eines Objekts. Diese Beziehung ist kein Schluß in abstrakten
Begriffen, geschieht nicht durch Reflexion, nicht mit Willkür, sondern unmittelbar,
nothwendig und sicher. Sie ist die Erkenntnißweise des reinen Verstandes,
ohne welchen es nie zur Anschauung käme; sondern nur ein dumpfes, pflanzenartiges
Bewußtsein der Veränderungen des unmittelbaren Objekts übrig bliebe,
die völlig bedeutungslos auf einander folgten, wenn sie nicht etwan als Schmerz
oder Wollust eine Bedeutung für den Willen hätten. Aber wie mit dem
Eintritt der Sonne die sichtbare Welt dasteht; so verwandelt der Verstand mit
einem Schlage, durch seine einzige, einfache Funktion, die dumpfe, nichtssagende
Empfindung in Anschauung. Was das Auge, das Ohr, die Hand empfindet, ist nicht
die Anschauung: es sind bloße Data. Erst indem der Verstand von der Wirkung
auf die Ursache übergeht, steht die Welt da, als Anschauung im Raume ausgebreitet,
der Gestalt nach wechselnd, der Materie nach durch alle Zeit beharrend: denn er
vereinigt Raum und Zeit in der Vorstellung Materie, d.i. Wirksamkeit. Diese Welt
als Vorstellung ist, wie nur durch den Verstand, auch nur für den Verstand
da. Im ersten Kapitel meiner Abhandlung »Ueber das Sehn und die Farben«
habe ich bereits auseinandergesetzt, wie aus den Datis, welche die Sinne liefern,
der Verstand die Anschauung schafft, wie durch Vergleichung der Eindrücke,
welche vom nämlichen Objekt die verschiedenen Sinne erhalten, das Kind die
Anschauung erlernt, wie eben nur dieses den Aufschluß über so viele
Sinnenphänomene giebt, über das einfache Sehn mit zwei Augen, über
das Doppeltsehn beim Schielen, oder bei ungleicher Entfernung hinter einander
stehender Gegenstände, die man zugleich ins Auge faßt, und über
allen Schein, welcher durch eine plötzliche Veränderung an den Sinneswerkzeugen
hervorgebracht wird. Viel ausführlicher und gründlicher jedoch habe
ich diesen wichtigen Gegenstand behandelt in der zweiten Auflage der Abhandlung
über den Satz vom Grunde, § 21. Alles daselbst Gesagte hätte hier
seine nothwendige Stelle, müßte also eigentlich hier nochmals gesagt
werden: da Ich Indessen fast so viel Widerwillen habe, mich selbst, als Andere
abzuschreiben, auch nicht im Stande bin, es besser, als dort geschehn, darzustellen;
so verweise ich darauf, statt es hier zu wiederholen, setze es nun aber auch als
bekannt voraus (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 35-37).
Das Sehnlernen der Kinder und operirter Blindgebornen, das einfache
Sehn des doppelt, mit zwei Augen, Empfundenen, das Doppeltsehn und Doppelttasten
bei der Verrückung der Sinneswerkzeuge aus ihrer gewöhnlichen
Lage, die aufrechte Erscheinung der Gegenstände, während ihr
Bild im Auge verkehrt steht, das Uebertragen der Farbe, welche bloß
eine innere Funktion, eine polarische Theilung der Thätigkeit des
Auges ist, auf die äußern Gegenstände, und endlich auch
das Stereoskop dies Alles sind feste und unwiderlegliche Beweise
davon, daß alle Anschauung nicht bloß sensual, sondern intellektual,
d.h. reine Verstandeserkenntniß der Ursache aus der Wirkung ist,
folglich das Gesetz der Kausalität voraussetzt, von dessen Erkenntniß
alle Anschauung, mithin alle Erfahrung, ihrer ersten und ganzen Möglichkeit
nach, abhängt, nicht umgekehrt die Erkenntniß des Kausalgesetzes
von der Erfahrung, welches letztere der Humische Skepticismus war, der
erst hiedurch widerlegt ist. Denn die Unabhängigkeit der Erkenntniß
der Kausalität von aller Erfahrung, d.h. ihre Apriorität, kann
allein dargethan werden aus der Abhängigkeit aller Erfahrung von
ihr: und dieses wieder kann allein geschehn, indem man auf die hier angegebene
und an den soeben bezeichneten Stellen ausgeführte Art nachweist,
daß die Erkenntniß der Kausalität in der Anschauung überhaupt,
in deren Gebiet alle Erfahrung liegt, schon enthalten ist, also völlig
a priori in Hinsicht auf die Erfahrung besteht, von ihr als Bedingung
vorausgesetzt wird, nicht sie voraussetzt: nicht aber kann dasselbe dargethan
werden auf die von Kant versuchte und von mir in der Abhandlung über
den Satz vom Grunde § 23 kritisirte Weise. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 37).
2. Buch
$ 18
Der Willensakt und die Aktion des Leibes sind nicht zwei objektiv
erkannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausalität
verknüpft, stehen nicht im Verhältniß der Ursache und
Wirkung, sondern sie sind Eines und das Selbe nur auf zwei gänzlich
verschiede Weisen gegeben: einma ganz unmittelbar und einmal in der Anschauung
für den Verstand. Die Aktion des Leibes ist nichts Anderes, als der
objektivirte, d.h. in die Anschauung getretene Akt des Willens. Weiterhin
wird sich uns zeigen, daß dieses von jeder Bewegung des Leibes gilt,
nicht bloß von der auf Motive, sondern auch von der auf bloße
Reize erfolgenden unwillkürlichen, ja, daß der ganze Leib nichts
Anderes, als der objektivirte, d.h. zur Vorstellung gewordene Wille ist;
welches alles sich im weitern Verfolg ergeben und deutlich werden wird.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 122-123).
$
19Das erkennende Subjekt ist eben durch diese besondere Beziehung
auf den einen Leib, der ihm, außer derselben betrachtet, nur eine Vorstellung
gleich allen übrigen ist, Individuum. Die Beziehung aber, vermöge welcher
das erkennende Subjekt Individuum ist, ist eben deshalb nur zwischen ihm und einer
einzigen unter allen seinen Vorstellungen, daher es nur dieser einzigen nicht
bloß als einer Vorstellung, sondern zugleich in ganz anderer Art, nämlich
als eines Willens, sich bewußt ist. Da aber, wenn es von jener besondern
Beziehung, von jener zwiefachen und ganz heterogenen Erkenntniß des Einen
und Nämlichen, abstrahirt; dann jenes Eine, der Leib, eine Vorstellung gleich
allen andern ist: so muß, um sich hierüber zu orientiren, das erkennende
Individuum entweder annehmen, daß das Unterscheidende jener einen Vorstellung
bloß darin liegt, daß seine Erkenntniß nur zu jener einen Vorstellung
in dieser doppelten Beziehung steht, nur in dieses eine anschauliche Objekt ihm
auf zwei Weisen zugleich die Einsicht offen steht, daß dies aber nicht durch
einen Unterschied dieses Objekts von allen andern, sondern nur durch einen Unterschied
des Verhältnisses seiner Erkenntniß zu diesem einen Objekt, von dem,
so es zu allen andern hat, zu erklären ist; oder auch es muß annehmen,
daß dieses eine Objekt wesentlich von allen andern verschieden ist, ganz
allein unter allen zugleich Wille und Vorstellung ist, die übrigen hingegen
bloße Vorstellung, d.h. bloße Phantome sind, sein Leib also das einzige
wirkliche Individuum in der Welt, d.h. die einzige Willenserscheinung und das
einzige unmittelbare Objekt des Subjekts. Daß die andern Objekte,
als bloße Vorstellung betrachtet, seinem Leibe gleich sind, d.h. wie dieser
den (nur als Vorstellung selbst möglicherweise vorhandenen) Raum füllen,
und auch wie dieser im Raume wirken, dies ist zwar beweisbar gewiß, aus
dem für Vorstellungen a priori sichern Gesetz der Kausalität, welches
keine Wirkung ohne Ursache zuläßt; aber, abgesehn davon, daß
sich von der Wirkung nur auf eine Ursache überhaupt, nicht auf eine gleiche
Ursache schließen läßt; so ist man hiemit immer noch im Gebiet
der bloßen Vorstellung, für die allein das Gesetz der Kausalität
gilt, und über welches hinaus es nie führen kann. Ob aber die dem Individuo
nur als Vorstellungen bekannten Objekte, dennoch, gleich seinem eigenen Leibe,
Erscheinungen eines Willens sind; dies ist, wie bereits im vorigen Buche ausgesprochen,
der eigentliche Sinn der Frage nach der Realität der Außenwelt: dasselbe
zu leugnen, ist der Sinn des theoretischen Egoismus, der eben dadurch alle Erscheinungen,
außer seinem eigenen Individuum, für Phantome hält, wie der praktische
Egoismus genau das Selbe in praktischer Hinsicht thut, nämlich nur die eigene
Person als eine wirklich solche, alle übrigen aber als bloße Phantome
ansieht und behandelt. Der theoretische Egoismus ist zwar durch Beweise nimmermehr
zu widerlegen: dennoch ist er zuverlässig in der Philosophie nie anders,
denn als skeptisches Sophisma, d.h. zum Schein gebraucht worden. Als ernstliche
Ueberzeugung hingegen könnte er allein im Tollhause gefunden werden: als
solche bedürfte es dann gegen ihn nicht sowohl eines Beweises, als einer
Kur. Daher wir uns insofern auf ihn nicht weiter einlassen, sondern ihn allein
als die letzte Feste des Skepticismus, der immer polemisch ist, betrachten. Bringt
nun also unsere stets an Individualität gebundene und eben hierin ihre Beschränkung
habende Erkenntniß es nothwendig mit sich, daß Jeder nur Eines seyn,
hingegen alles andere erkennen kann, welche Beschränkung eben eigentlich
das Bedürfniß der Philosophie erzeugt; so werden wir, die wir eben
deshalb durch Philosophie die Schranken unserer Erkenntniß zu erweitern
streben, jenes sich uns hier entgegenstellende skeptische Argument des theoretischen
Egoismus ansehn als eine kleine Gränzfestung, die zwar auf immer unbezwinglich
ist, deren Besatzung aber durchaus auch nie aus ihr herauskann, daher man ihr
vorbeigehn und ohne Gefahr sie im Rücken liegen lassen darf. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 126-127). $
20Als des eigenen Leibes Wesen an sich, als dasjenige, was dieser
Leib ist, außerdem daß er Objekt der Anschauung, Vorstellung ist,
giebt, wie gesagt, der Wille zunächst sich kund in den willkürlichen
Bewegungen dieses Leibes, sofern diese nämlich nichts Anderes sind, als die
Sichtbarkeit der einzelnen Willensakte, mit welchen sie unmittelbar und völlig
zugleich eintreten, als Ein und das Selbe mit ihnen, nur durch die Form der Erkennbarkeit,
in die sie übergegangen, d.h. Vorstellung geworden sind, von ihnen unterschieden.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 128).Diese
Akte des Willens haben aber immer noch einen Grund außer sich, in den Motiven.
Jedoch bestimmen diese nie mehr, als das was ich zu dieser Zeit, an diesem Ort,
unter diesen Umständen will; nicht aber daß ich überhaupt will,
noch was ich überhaupt will, d.h. die Maxime, welche mein gesammtes Wollen
charakterisirt. Daher ist mein Wollen nicht seinem ganzen Wesen nach aus den Motiven
zu erklären; sondern diese bestimmen bloß seine Aeußerung im
gegebenen Zeitpunkt, sind bloß der Anlaß, bei dem sich mein Wille
zeigt: dieser selbst hingegen liegt außerhalb des Gebietes des Gesetzes
der Motivation: nur seine Erscheinung in jedem Zeitpunkt ist durch dieses nothwendig
bestimmt. Lediglich unter Voraussetzung meines empirischen Charakters ist das
Motiv hinreichender Erklärungsgrund meines Handelns: abstrahire ich aber
von meinem Charakter und frage dann, warum ich überhaupt dieses und nicht
jenes will; so ist keine Antwort darauf möglich, weil eben nur die Erscheinung
des Willens dem Satze vom Grunde unterworfen ist, nicht aber er selbst, der insofern
grundlos zu nennen ist. Hiebei setze ich theils Kants Lehre vom empirischen und
intelligibeln Charakter, wie auch meine in den »Grundproblemen der Ethik«,
S. 48-58, und wieder S. 178 ff. der ersten Auflage dahin gehörigen Erörterungen
voraus, theils werden wir im vierten Buch ausführlicher davon zu reden haben.
Für jetzt habe ich nur darauf aufmerksam zu machen, daß das Begründetseyn
einer Erscheinung durch die andere, hier also der That durch das Motiv, gar nicht
damit streitet, daß ihr Wesen an sich Wille ist, der selbst keinen Grund
hat, indem der Satz vom Grunde, in allen seinen Gestalten, bloß Form der
Erkenntniß ist, seine Gültigkeit sich also bloß auf die Vorstellung,
die Erscheinung, die Sichtbarkeit des Willens erstreikt, nicht auf diesen selbst,
der sichtbar wird. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 128-129).Ist nun jede Aktion meines
Leibes Erscheinung eines Willensaktes, in welchem sich, unter gegebenen Motiven,
mein Wille selbst überhaupt und im Ganzen, also mein Charakter, wieder ausspricht;
so muß auch die unumgängliche Bedingung und Voraussetzung jener Aktion
Erscheinung des Willens seyn: denn sein Erscheinen kann nicht von etwas abhängen,
das nicht unmittelbar und allein durch ihn, das mithin für ihn nur zufällig
wäre, wodurch sein Erscheinen selbst nur zufällig würde: jene Bedingung
aber ist der ganze Leib selbst. Dieser selbst also muß schon Erscheinung
des Willens seyn, und muß zu meinem Willen im Ganzen, d.h. zu meinem intelligibeln
Charakter, dessen Erscheinung in der Zeit mein empirischer Charakter ist, sich
so verhalten, wie die einzelne Aktion des Leibes zum einzelnen Akte des Willens.
Also muß der ganze Leib nichts Anderes seyn, als mein sichtbar gewordener
Wille, muß mein Wille selbst seyn, sofern dieser anschauliches Objekt, Vorstellung
der ersten Klasse ist. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 128-129). § 21Wem
nun, durch alle diese Betrachtungen, auch in abstracto, mithin deutlich und sicher,
die Erkenntniß geworden ist, welche in concreto Jeder unmittelbar, d.h.
als Gefühl besitzt, daß nämlich das Wesen an sich seiner eigenen
Erscheinung, welche als Vorstellung sich ihm sowohl durch seine Handlungen, als
durch das bleibende Substrat dieser, seinen Leib, darstellt, sein Wille ist, der
das Unmittelbarste seines Bewußtseyns ausmacht, als solches aber nicht völlig
in die Form der Vorstellung, in welcher Objekt und Subjekt sich gegenüber
stehn, eingegangen ist; sondern auf eine unmittelbare Weise, in der man Subjekt
und Objekt nicht ganz deutlich unterscheidet, sich kund giebt, jedoch auch nicht
im Ganzen, sondern nur in seinen einzelnen Akten dem Individuo selbst kenntlich
wird; wer, sage ich, mit mir diese Ueberzeugung gewonnen hat, dem wird
sie, ganz von selbst, der Schlüssel werden zur Erkenntniß des Innersten
Wesens der gesammten Natur, indem er sie nun auch auf alle jene Erscheinung übertragt,
die ihm nicht, wie seine eigene, in unmittelbarer Erkenntniß neben der mittelbaren,
sondern bloß in letzterer, also bloß einseitig, als Vorstellung allein,
gegeben sind. Nicht allein in denjenigen Erscheinungen, welche seiner eigenen
ganz ähnlich sind, in Menschen und Thieren, wird er als ihr Innerstes Wesen
jenen nämlichen Willen anerkennen; sondern die fortgesetzte Reflexion wird
ihn dahin leiten, auch die Kraft, welche in der Pflanze treibt und vegetirt, ja,
die Kraft, durch welche der Krystall anschießt, die, welche den Magnet zum
Nordpol wendet, die, deren Schlag ihm aus der Berührung heterogener Metalle
entgegenfährt, die, welche in den Wahlverwandtschaften der Stoffe als Fliehn
und Suchen, Trennen und Vereinen erscheint, ja, zuletzt sogar die Schwere, welche
in aller Materie so gewaltig strebt, den Stein zur Erde und die Erde zur Sonne
zieht, diese Alle nur in der Erscheinung für verschieden, ihrem Innern
Wesen nach aber als das Selbe zu erkennen, als jenes ihm unmittelbar so intim
und besser als alles Andere Bekannte, was da, wo es am deutlichsten hervortritt,
Wille heißt. Diese Anwendung der Reflexion ist es allein, welche uns nicht
mehr bei der Erscheinung stehn bleiben läßt, sondern hinüberführt
zum Ding an sich. Erscheinung heißt Vorstellung, und weiter nichts: alle
Vorstellung, welcher Art sie auch sei, alles Objekt, ist Erscheinung. Ding an
sich aber ist allein der Wille: als solcher ist er durchaus nicht Vorstellung,
sondern toto genere von ihr verschieden: er ist es, wovon alle Vorstellung, alles
Objekt, die Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objektität ist. Er ist das
Innerste, der Kern jedes Einzelnen und eben so des Ganzen: er erscheint in jeder
blindwirkenden Naturkraft: er auch erscheint im überlegten Handeln des Menschen;
welcher Beiden große Verschiedenheit doch nur den Grad des Erscheinens,
nicht das Wesen des Erscheinenden trifft. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 131-132). § 22Dieses
Ding an sich (wir wollen den Kantischen Ausdruck als stehende Formel beibehalten),
welches als solches nimmermehr Objekt ist, eben weil alles Objekt schon wieder
seine bloße Erscheinung, nicht mehr es selbst ist, mußte, wenn es
dennoch objektiv gedacht werden sollte, Namen und Begriff von einem Objekt borgen,
von etwas irgendwie objektiv Gegebenem, folglich von einer seiner Erscheinungen;
aber diese durfte, um als Verständigungspunkt zu dienen, keine andere seyn,
als unter allen seinen Erscheinungen die vollkommenste, d.h. die deutlichste,
am meisten entfaltete, vom Erkennen unmittelbar beleuchtete: diese aber eben ist
des Menschen Wille. Man hat jedoch wohl zu bemerken, daß wir hier allerdings
nur eine denominatio a potiori gebrauchen, durch welche eben deshalb der Begriff
Wille eine größere Ausdehnung erhält, als er bisher hatte. Erkenntniß
des Identischen in verschiedenen Erscheinungen und des Verschiedenen in ähnlichen
ist eben, wie Plato so oft bemerkt, Bedingung zur Philosophie. Man hatte aber
bis jetzt die Identität des Wesens jeder irgend strebenden und wirkenden
Kraft in der Natur mit dem Willen nicht erkannt, und daher die mannigfaltigen
Erscheinungen, welche nur verschiedene Species des selben Genus sind, nicht dafür
angesehn, sondern als heterogen betrachtet: deswegen konnte auch kein Wort zur
Bezeichnung des Begriffs dieses Genus vorhanden seyn. Ich benenne daher das Genus
nach der vorzüglichsten Species, deren uns näher liegende, unmittelbare
Erkenntniß zur mittelbaren Erkenntniß aller andern führt. Daher
aber würde in einem immerwährenden Mißverständniß befangen
bleiben, wer nicht fähig wäre, die hier geforderte Erweiterung des Begriffs
zu vollziehn, sondern bei dem Worte Wille immer nur noch die bisher allein damit
bezeichnete eine Species, den vom Erkennen geleiteten und ausschließlich
nach Motiven, ja wohl gar nur nach abstrakten Motiven, also unter Leitung der
Vernunft sich äußernden Willen verstehn wollte, welcher, wie gesagt,
nur die deutlichste Erscheinung des Willens ist. Das uns unmittelbar bekannte
Innerste Wesen eben dieser Erscheinung müssen wir nun in Gedanken rein aussondern,
es dann auf alle schwächeren, undeutlicheren Erscheinungen des selben Wesens
übertragen, wodurch wir die verlangte Erweiterung des Begriffs Wille vollziehn.
Auf die entgegengesetzte Weise würde mich aber der mißverstehn,
der etwan meinte, es sei zuletzt einerlei, ob man jenes Wesen an sich aller Erscheinung
durch das Wort Wille, oder durch irgend ein anderes bezeichnete. Dies würde
der Fall seyn, wenn jenes Ding an sich etwas wäre, auf dessen Existenz wir
bloß schlössen und es so allein mittelbar und bloß in abstracto
erkennten: dann könnte man es allerdings nennen wie man wollte: der Name
stände als bloßes Zeichen einer unbekannten Größe da. Nun
aber bezeichnet das Wort Wille, welches uns, wie ein Zauberwort, das Innerste
Wesen jedes Dinges in der Natur aufschließen soll, keineswegs eine unbekannte
Größe, ein durch Schlüsse erreichtes Etwas; sondern ein durchaus
unmittelbar Erkanntes und so sehr Bekanntes, daß wir, was Wille sei, viel
besser wissen und verstehn, als sonst irgend etwas, was immer es auch sei.
Bisher subsumirte man den Begriff Wille unter den Begriff Kraft: dagegen mache
ich es gerade umgekehrt und will jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen.
Man glaube ja nicht, daß dies Wortstreit, oder gleichgültig sei: vielmehr
ist es von der allerhöchsten Bedeutsamkeit und Wichtigkeit. Denn dem Begriffe
Kraft liegt, wie allen andern, zuletzt die anschauliche Erkenntniß der objektiven
Welt, d.h. die Erscheinung, die Vorstellung, zum Grunde, und daraus ist er geschöpft.
Er ist aus dem Gebiet abstrahirt, wo Ursache und Wirkung herrscht, also aus der
anschaulichen Vorstellung, und bedeutet eben das Ursachseyn der Ursache, auf dem
Punkt, wo es ätiologisch durchaus nicht weiter erklärlich, sondern eben
die nothwendige Voraussetzung aller ätiologischen Erklärung ist. Hingegen
der Begriff Wille ist der einzige, unter allen möglichen, welcher seinen
Ursprung nicht in der Erscheinung, nicht in bloßer anschaulicher Vorstellung
hat, sondern aus dem Innern kommt, aus dem unmittelbarsten Bewußtseyn eines
Jeden hervorgeht, in welchem dieser sein eigenes Individuum, seinem Wesen nach,
unmittelbar, ohne alle Form, selbst ohne die von Subjekt und Objekt, erkennt und
zugleich selbst ist, da hier das Erkennende und das Erkannte zusammenfallen. Führen
wir daher den Begriff der Kraft auf den des Willens zurück, so haben wir
in der That ein Unbekannteres auf ein unendlich Bekannteres, ja, auf das einzige
uns wirklich unmittelbar und ganz und gar Bekannte zurückgeführt und
unsere Erkenntniß um ein sehr großes erweitert. Subsumiren wir hingegen,
wie bisher geschah, den Begriff Wille unter den der Kraft; so begeben wir uns
der einzigen unmittelbaren Erkenntniß, die wir vom innern Wesen der Welt
haben, indem wir sie untergehn lassen in einen aus der Erscheinung abstrahirten
Begriff, mit welchem wir daher nie über die Erscheinung hinauskönnen.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 132-134). §
23Der Wille als Ding an sich ist von seiner
Erscheinung gänzlich verschieden und völlig frei von allen Formen derselben,
in welche er eben erst eingeht, indem er erscheint, die daher nur seine Objektität
betreffen, ihm selbst fremd sind. Schon die allgemeinste Form aller Vorstellung,
die des Objekts für ein Subjekt, trifft ihn nicht; noch weniger die dieser
untergeordneten, welche insgesammt ihren gemeinschaftlichen Ausdruck im Satz vom
Grunde haben, wohin bekanntlich auch Zeit und Raum gehören, und folglich
auch die durch diese allein bestehende und möglich gewordene Vielheit. In
dieser letztern Hinsicht werde ich, mit einem aus der alten eigentlichen Scholastik
entlehnten Ausdruck, Zeit und Raum das principium individuationis nennen, welches
ich ein für alle Mal zu merken bitte. Denn Zeit und Raum allein sind es,
mittelst welcher das dem Wesen und dem Begriff nach Gleiche und Eine doch als
verschieden, als Vielheit neben und nach einander erscheint: sie sind folglich
das principium individuationis, der Gegenstand so vieler Grübeleien und Streitigkeiten
der Scholastiker, welche man im Suarez (Disp5, sect.3) beisammen findet.
Der Wille als Ding an sich liegt, dem Gesagten zufolge, außerhalb des Gebietes
des Satzes vom Grund in allen seinen Gestaltungen, und ist folglich schlechthin
grundlos, obwohl jede seiner Erscheinungen durchaus dem Satz vom Grunde unterworfen
ist: er ist ferner frei von aller Vielheit, obwohl seine Erscheinungen in Zeit
und Raum unzählig sind: er selbst ist Einer: jedoch nicht wie ein Objekt
Eines ist, dessen Einheit nur im Gegensatz der möglichen Vielheit erkannt
wird: noch auch wie ein Begriff Eins ist, der nur durch Abstraktion von der Vielheit
entstanden ist: sondern er ist Eines als das, was außer Zeit und Raum, dem
principio individuationis, d.i. der Möglichkeit der Vielheit, liegt.
Erst wenn uns dieses alles durch die folgende Betrachtung der Erscheinungen und
verschiedenen Manifestationen des Willens völlig deutlich geworden seyn wird,
werden wir den Sinn der Kantischen Lehre völlig verstehn, daß Zeit,
Raum und Kausalität nicht dem Dinge an sich zukommen, sondern nur Formen
des Erkennens sind. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 134-135).Die Grundlosigkeit des Willens
hat man auch wirklich da erkannt, wo er sich am deutlichsten manifestirt, als
Wille des Menschen, und diesen frei, unabhängig genannt. Sogleich hat man
aber auch, über die Grundlosigkeit des Willens selbst, die Nothwendigkeit,
der seine Erscheinung überall unterworfen ist, übersehn, und die Thaten
für frei erklärt, was sie nicht sind, da jede einzelne Handlung aus
der Wirkung des Motivs auf den Charakter mit strenger Nothwendigkeit folgt. Alle
Nothwendigkeit ist, wie schon gesagt, Verhältniß der Folge zum Grunde
und durchaus nichts weiter. Der Satz vom Grunde ist allgemeine Form aller Erscheinung,
und der Mensch in seinem Thun muß, wie jede andere Erscheinung, ihm unterworfen
seyn. Weil aber im Selbstbewußtseyn der Wille unmittelbar und an sich erkannt
wird, so liegt auch in diesem Bewußtseyn das der Freiheit. Allein es wird
übersehn, daß das Individuum, die Person, nicht Wille als Ding an sich,
sondern schon Erscheinung des Willens ist, als solche schon determinirt und in
die Form der Erscheinung, den Satz vom Grund, eingegangen. Daher kommt die wunderliche
Thatsache, daß Jeder sich a priori für ganz frei, auch in seinen einzelnen
Handlungen, hält und meint, er könne jeden Augenblick einen andern Lebenswandel
anfangen, welches hieße ein Anderer werden. Allein a posteriori,
durch die Erfahrung, findet er zu seinem Erstaunen, daß er nicht frei ist,
sondern der Nothwendigkeit unterworfen, daß er, aller Vorsätze und
Reflexionen ungeachtet, sein Thun nicht ändert, und vom Anfang seines Lebens
bis zum Ende den selben von ihm selbst mißbilligten Charakter durchführen
und gleichsam die übernommene Rolle bis zu Ende spielen muß. Ich kann
diese Betrachtung hier nicht weiter ausführen, da sie als ethisch an eine
andere Stelle die ser Schrift gehört. Hier wünsche ich inzwischen nur
darauf hinzuweisen, daß die Erscheinung des an sich grundlosen Willens doch
als solche dem Gesetz der Nothwendigkeit, d.i. dem Satz vom Grunde, unterworfen
ist; damit wir an der Nothwendigkeit, mit welcher die Erscheinungen der Natur
erfolgen, keinen Anstoß nehmen, in ihnen die Manifestationen des Willens
zu erkennen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 135-136). § 27
Wenn von den Erscheinungen des Willens, auf den niedrigeren Stufen
seiner Objektivation, also im Unorganischen, mehrere unter einander in
Konflikt gerathen, indem jede, am Leitfaden der Kausalität, sich
der vorhandenen Materie bemächtigen will; so geht aus diesem Streit
die Erscheinung einer hohem Idee hervor, welche die vorhin dagewesenen
unvollkommeneren alle überwältigt, jedoch so, daß sie
das Wesen derselben auf eine untergeordnete Weise bestehn läßt,
indem sie ein Analogon davon in sich aufnimmt; welcher Vorgang eben nur
aus der Identität des erscheinenden Willens in allen Ideen und aus
seinem Streben zu immer höherer Objektivation begreiflich ist. Wir
sehn daher z.B. im Festwerden der Knochen ein unverkennbares Analogen
der Krystallisation, als welche ursprünglich den Kalk beherrschte,
obgleich die Ossifikation nie auf Krystallisation zurückzuführen
ist. Schwächer zeigt sich diese Analogie im Festwerden des Fleisches.
So auch ist die Mischung der Säfte im thierischen Körper und
die Sekretion ein Analogen der chemischen Mischung und Abscheidung, sogar
wirken die Gesetze dieser dabei noch fort, aber untergeordnet, sehr modificirt,
von einer hohem Idee überwältigt; daher bloß chemische
Kräfte, außerhalb des Organismus, nie solche Säfte liefern
werden; sondern Encheiresin naturae nennt es
die Chemie, // Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 166).
3. Buch
§ 30
Nachdem wir die im ersten Buch als bloße Vorstellung,
Objekt für ein Subjekt, dargestellte Welt im zweiten Buch von ihrer
andern Seite betrachtet und gefunden haben, daß diese Wille sei,
welcher allein als dasjenige sich ergab, was jene Welt noch außer
der Vorstellung ist; so nannten wir, dieser Erkenntniß gemäß,
die Welt als Vorstellung, sowohl im Ganzen als in ihren Theilen, die Objektität
des Willens, welches demnach besagt: der Objekt, d.i. Vorstellung,
gewordene Wille. Wir erinnern uns nun ferner, daß solche Objektivation
des Willens viele, aber bestimmte Stufen hatte, auf welchen, mit gradweise
steigender Deutlichkeit und Vollendung, das Wesen des Willens in die Vorstellung
trat, d.h. sich als Objekt darstellte. In diesen Stufen erkannten wir
schon dort Plato's Ideen wieder, sofern nämlich jene Stufen eben
die bestimmten Species, oder die ursprünglichen, nicht wechselnden
Formen und Eigenschaften aller natürlichen, sowohl unorganischen,
als organischen Körper, wie auch die nach Naturgesetzen sich offenbarenden
allgemeinen Kräfte sind. Diese Ideen also insgesammt stellen sich
in unzähligen Individuen und Einzelheiten dar, als deren Vorbild
sie sich zu diesen ihren Nachbildern verhalten. Die Vielheit solcher Individuen
ist durch Zeit und Raum, das Entstehn und Vergehn derselben durch Kausalität
allein vorstellbar, in welchen Formen allen wir nur die verschiedenen
Gestaltungen des Satzes vom Grunde erkennen, der das letzte Princip aller
Endlichkeit, aller Individuation und die allgemeine Form der Vorstellung,
wie sie in die Erkenntniß des Individuums als solchen fällt,
ist. Die Idee hingegen geht in jenes Princip nicht ein: daher ihr weder
Vielheit noch Wechsel zukommt. Während die Individuen, in denen sie
sich darstellt, unzählige sind und unaufhaltsam werden und vergehn,
bleibt sie unverändert als die eine und selbe stehn, und der Satz
vom Grunde hat für sie keine Bedeutung. Da dieser nun aber die[221]
Form ist, unter der alle Erkenntniß des Subjekts steht, sofern dieses
als Individuum erkennt; so werden die Ideen auch ganz außerhalb
der Erkenntnißsphäre desselben als solchen liegen. Wenn daher
die Ideen Objekt der Erkenntniß werden sollen; so wird dies nur
unter Aufhebung der Individualität im erkennenden Subjekt geschehn
können. Die näheren und ausführlichen Erklärungen
hierüber sind nunmehr was uns zunächst beschäftigen wird.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 287-288).
4. Buch
§ 53
Der letzte Theil unserer Betrachtung kündigt sich als der
ernsteste an, da er die Handlungen der Menschen betrifft, den Gegenstand,
der Jeden unmittelbar angeht, Niemanden fremd oder gleichgültig seyn
kann, ja, auf welchen alles Andere zu beziehn, der Natur des Menschen
so gemäß ist, daß er, bei jeder zusammenhängenden
Untersuchung, den auf das Thun sich beziehenden Theil derselben immer
als das Resultat ihres gesammten Inhalts, wenigstens sofern ihn derselbe
interessirt, betrachten und daher diesem Theil, wenn auch sonst keinem
andern, ernsthafte Aufmerksamkeit widmen wird. In der angegebenen
Beziehung würde man, nach der gewöhnlichen Art sich auszudrücken,
den jetzt folgenden Theil unserer Betrachtung die praktische Philosophie,
im Gegensatz der bisher abgehandelten theoretischen, nennen. Meiner Meinung
nach aber ist alle Philosophie immer theoretisch, indem es ihr wesentlich
ist, sich, was auch immer der nächste Gegenstand der Untersuchung
sei, stets rein betrachtend zu verhalten und zu forschen, nicht vorzuschreiben.
Hingegen praktisch zu werden, das Handeln zu leiten, den Charakter umzuschaffen,
sind alte Ansprüche, die sie, bei gereifter Einsicht, endlich aufgeben
sollte. Denn hier, wo es den Werth oder Unwerth eines Daseyns, wo es Heil
oder Verdammniß gilt, geben nicht ihre todten Begriffe den Ausschlag,
sondern das Innerste Wesen des Menschen selbst, der Dämon, der ihn
leitet und der nicht ihn, sondern den er selbst gewählt hat,
wie Plato spricht, sein intelligibler Charakter, wie Kant
sich ausdrückt. Die Tugend wird nicht gelehrt, so wenig wie der Genius:
ja, für sie ist der Begriff so unfruchtbar und nur als Werkzeug zu
gebrauchen, wie er es für die Kunst ist. Wir würden daher eben
so thöricht seyn, zu erwarten, daß unsere Moralsysteme und
Ethiken Tugendhafte, Edle und Heilige, als daß unsere Aesthetiken
Dichter, Bildner und Musiker erweckten. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 287-288).
Die Philosophie kann nirgends mehr thun, als das Vorhande deuten
und erklären, das Wesen der Welt, welches in concreto, d.h.
als Gefühl, Jedem verständlich sich ausspricht, zur deutlichen,
abstrakten Erkenntniß der Vernunft bringen, Dieses aber in jeder
möglichen Beziehung und von jedem Gesichtspunkt aus. Wie nun Dasselbe,
in den drei vorhergegangenen Büchern, in der der Philosophie eigenthümlichen
Allgemeinheit, von andern Gesichtspunkten aus zu leisten gesucht wurde;
so soll im gegenwärtigen Buch auf gleiche Weise das Handeln des Menschen
betrachtet werden; welche Seite der Welt wohl nicht nur, wie ich vorhin
bemerkte, nach subjektivem, sondern auch nach objektivem Urtheil, als
die wichtigste von allen befunden werden möchte. Ich werde dabei
unserer bisherigen Betrachtungsweise völlig getreu bleiben, auf das
bisher Vorgetragene als Voraussetzung mich stützen, ja eigentlich
nur den einen Gedanken, welcher der Inhalt dieser ganzen Schrift ist,
wie bisher an allen andern Gegenständen, jetzt eben so am Handeln
des Menschen entwickeln und damit das Letzte thun, was ich vermag zu einer
möglichst vollständigen Mittheilung desselben. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 288).
Der gegebene Gesichtspunkt und die angekündigte Behandlungsweise
geben es schon an die Hand, daß man in diesem ethischen Buche keine
Vorschriften, keine Pflichtenlehre zu erwarten hat; noch weniger soll
ein allgemeines Moral-Princip, gleichsam ein Universal-Recept zur Hervorbringung
aller Tugenden angegeben werden. Auch werden wir von keinem »unbedingten
Sollen« reden, weil solches, wie im Anhang ausgeführt,
einen Widerspruch enthält, noch auch von einem »Gesetz für
die Freiheit«, welches sich im selben Fall befindet. Wir werden
überhaupt ganz und gar nicht von Sollen reden: denn so redet man
zu Kindern und zu Völkern in ihrer Kindheit, nicht aber zu Denen,
welche die ganze Bildung einer mündig gewordenen Zeit sich angeeignet
haben. Es ist doch wohl handgreiflicher Widerspruch, den Willen frei zu
nennen und doch ihm Gesetze vorzuschreiben, nach denen er wollen soll;
»wollen soll« hölzernes Eisen! In Folge
unserer ganzen Ansicht aber ist der Wille nicht nur frei, sondern sogar
allmächtig: aus ihm ist nicht nur sein Handeln, sondern auch seine
Welt; und wie er ist, so erscheint sein Handeln, so erscheint seine Welt:
seine Selbsterkenntniß sind Beide und sonst nichts: er bestimmt
sich und eben damit Beide: denn außer ihm ist nichts, und sie sind
er selbst: nur so ist er wahrhaft autonomisch; nach jeder andern Ansicht
aber heteronomisch. Unser philosophisches Bestreben kann bloß dahin
gehn, das Handeln des Menschen, die so verschiedenen, ja entgegengesetzten
Maximen, deren lebendiger Ausdruck es ist, zu deuten und zu erklären,
ihrem Innersten Wesen und Gehalt nach, im Zusammenhang mit unserer bisherigen
Betrachtung und gerade so, wie wir bisher die übrigen Erscheinungen
der Welt zu deuten, ihr Innerstes Wesen zur deutlichen, abstrakten Erkenntniß
zu bringen gesucht haben. Unsere Philosophie wird dabei die selbe Immanenz
behaupten, wie in der ganzen bisherigen Betrachtung: sie wird nicht, Kants
großer Lehre zuwider, die Formen der Erscheinung, deren allgemeiner
Ausdruck der Satz vom Grunde ist, als einen Springstock gebrauchen wollen,
um damit die allein ihnen Bedeutung gebende Erscheinung selbst zu überfliegen
und im gränzenlosen Gebiet leerer Fiktionen zu landen. Sondern diese
wirkliche Welt der Erkennbarkeit, in der wir sind und die in uns ist,
bleibt, wie der Stoff, so auch die Gränze unserer Betrachtung: sie,
die so gehaltreich ist, daß auch die tiefste Forschung, deren der
menschliche Geist fähig wäre, sie nicht erschöpfen könnte.
Weil nun also die wirkliche, erkennbare Welt es auch unsern ethischen
Betrachtungen, so wenig als den vorhergegangenen, nie an Stoff und Realität
fehlen lassen wird; so werden wir nichts weniger nöthig haben, als
zu inhaltsleeren, negativen Begriffen unsere Zuflucht zu nehmen, und dann
etwan gar uns selbst glauben zu machen, wir sagten etwas, wenn wir, mit
hohen Augenbrauen, vom »Absoluten«, vom »Unendlichen«,
vom »Uebersinnlichen«, und was dergleichen bloße Negationen
mehr sind (ouden esti, h to ths oterhsews onoma, meta
amydras epinoias. nihil est, nisi negationis nomen, cum
obscura notione. Jul., or. 5), statt deren man kürzer Wolkenkukuksheim
(nephelokokkygia) sagen könnte, redeten: zugedeckte, leere Schüsseln
dieser Art werden wir nicht aufzutischen brauchen. Endlich werden
wir auch hier so wenig, wie im Bisherigen, Geschichten erzählen und
solche für Philosophie ausgeben. Denn wir sind der Meinung, daß
Jeder noch himmelweit von einer philosophischen Erkenntniß der Welt
entfernt ist, der vermeint, das Wesen derselben irgendwie, und sei es
noch so fein bemäntelt, historisch fassen zu können;
welches aber der Fall ist, sobald in seiner Ansicht des Wesens an sich
der Welt irgend ein Werden, oder Gewordenseyn, oder Werdenwerden
sich vorfindet, irgend ein Früher oder Später die mindeste Bedeutung
hat und folglich, deutlich oder versteckt, ein Anfangs- und ein Endpunkt
der Welt, nebst dem Wege zwischen beiden gesucht und gefunden wird und
das philosophirende Individuum wohl noch gar seine eigene Stelle auf diesem
Wege erkennt. Solches historisches Philosophiren liefert in den
meisten Fällen eine Kosmogonie, die viele Varietäten zuläßt,
sonst aber auch ein Emanationssystem, Abfallslehre, oder endlich, wenn,
aus Verzweiflung über fruchtlose Versuche auf jenen Wegen, auf den
letzten Weg getrieben, umgekehrt eine Lehre vom steten Werden, Entsprießen,
Entstehn, Hervortreten ans Licht aus dem Dunkeln, dem finstern Grund,
Urgrund, Ungrund und was dergleichen Gefasels mehr ist, welches man übrigens
am kürzesten abfertigt durch die Bemerkung, daß eine ganze
Ewigkeit, d.h. eine unendliche Zeit, bis zum jetzigen Augenblick bereits
abgelaufen ist, weshalb Alles, was da werden kann oder soll, schon geworden
seyn muß. Denn alle solche historische Philosophie, sie mag auch
noch so vornehm thun, nimmt, als wäre Kant nie dagewesen, die Zeit
für eine Bestimmung der Dinge an sich, und bleibt daher bei dem stehn,
was Kant die Erscheinung, im Gegensatz des Dinges an sich, und Plato das
Werdende, nie Seiende, im Gegensatz des Seienden, nie Werdenden nennt,
oder endlich was bei den Indern das Gewebe der Maja heißt: es ist
eben die dem Satz vom Grunde anheimgegebene Erkenntniß, mit der
man nie zum innern Wesen der Dinge gelangt, sondern nur Erscheinungen
ins Unendliche verfolgt, sich ohne Ende und Ziel bewegt, dem Eichhörnchen
im Rade zu vergleichen, bis man etwan endlich ermüdet, oben oder
unten, bei irgend einem beliebigen Punkte stille steht und nun für
denselben auch von Andern Respekt ertrotzen will. Die ächte philosophische
Betrachtungsweise der Welt, d.h. diejenige, welche uns ihr inneres Wesen
erkennen lehrt und so über die Erscheinung hinaus führt, ist
gerade die, welche nicht nach dem Woher und Wohin und Warum, sondern immer
und überall nur nach dem Was der Welt fragt, d.h. welche die Dinge
nicht nach irgend einer Relation, nicht als werdend und vergehend, kurz,
nicht nach einer der vier Gestalten des Satzes vom Grunde betrachtet;
sondern umgekehrt, gerade Das, was nach Aussonderung dieser ganzen, jenem
Satz nachgehenden Betrachtungsart noch übrig bleibt, das in allen
Relationen erscheinende, selbst aber ihnen nicht unterworfene, immer sich
gleiche Wesen der Welt, die Ideen derselben, zum Gegenstand hat. Von solcher
Erkenntniß geht, wie die Kunst, so auch die Philosophie aus, ja,
wie wir in diesem Buche finden werden, auch diejenige Stimmung des Gemüthes,
welche allein zur wahren Heiligkeit und zur Erlösung von der Welt
führt. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 288-290).
§
54 Vor Allem müssen wir deutlich erkennen, daß die Form
der Erscheinung des Willens, also die Form des Lebens oder der Realität,
eigentlich nur die Gegenwart ist, nicht Zukunft, noch Vergangenheit: diese sind
nur im Begriff, sind nur im Zusammenhange der Erkenntniß da, sofern sie
dem Satz vom Grunde folgt. In der Vergangenheit hat kein Mensch gelebt, und in
der Zukunft wird nie einer leben; sondern die Gegenwart allein ist die Form alles
Lebens, ist aber auch sein sicherer Besitz, der ihm nie entrissen werden kann.
Die Gegenwart ist immer da, samt ihrem Inhalt: Beide stehn fest, ohne zu wanken;
wie der Regenbogen auf dem Wasserfall. Denn dem Willen ist das Leben, dem Leben
die Gegenwart sicher und gewiß. Freilich, wenn wir zurückdenken
an die verflossenen Jahrtausende, an die Millionen von Menschen, die in ihnen
lebten; dann fragen wir: Was waren sie? Was ist aus ihnen geworden? Aber
wir dürfen dagegen nur die Vergangenheit unsers eigenen Lebens uns zurückrufen
und ihre Scenen lebhaft in der Phantasie erneuern, und nun wieder fragen: Was
war dies alles? Was ist aus ihm geworden? Wie mit ihm, so ist es mit dem
Leben jener Millionen. Oder sollten wir meinen, die Vergangenheit erhielte dadurch,
daß sie durch den Tod besiegelt ist, ein neues Daseyn? Unsere eigene Vergangenheit,
auch die nächste und der gestrige Tag, ist nur noch ein nichtiger Traum der
Phantasie, und das Selbe ist die Vergangenheit aller jener Millionen. Was war?
Was ist? Der Wille, dessen Spiegel das Leben ist, und das willensfreie
Erkennen, welches in jenem Spiegel ihn deutlich erblickt. Wer Dies noch nicht
erkannt hat, oder nicht erkennen will, muß zu jener obigen Frage nach dem
Schicksal vergangener Geschlechter, auch noch diese fügen: warum gerade er,
der Fragende, so glücklich ist, diese kostbare, flüchtige, allein reale
Gegenwart inne zu haben, während jene Hunderte von Menschengeschlechtern,
ja auch die Helden und Weisen jener Zeiten, in die Nacht der Vergangenheit gesunken
und dadurch zu Nichts geworden sind; er aber, sein unbedeutendes Ich, wirklich
da ist? oder kürzer, wenn gleich sonderbar: warum dies Jetzt, sein
Jetzt, doch gerade jetzt ist und nicht auch schon längst war?
Er sieht, indem er so seltsam fragt, sein Daseyn und seine Zeit als unabhängig
von einander an und jenes als in diese hineingeworfen: er nimmt eigentlich zwei
Jetzt an, eines das dem Objekt, das andere, das dem Subjekt angehört, und
wundert sich über den glücklichen Zufall ihres Zusammentreffens. In
Wahrheit aber macht (wie in der Abhandlung über den Satz vom Grunde gezeigt
ist) nur der Berührungspunkt des Objekts, dessen Form die Zeit ist, mit dem
Subjekt, welches keine Gestaltung des Satzes vom Grunde zur Form hat, die Gegenwart
aus. Nun ist aber alles Objekt der Wille, sofern er Vorstellung geworden, und
das Subjekt ist das nothwendige Korrelat alles Objekts; reale Objekte giebt es
aber nur in der Gegenwart: Vergangenheit und Zukunft enthalten bloße Begriffe
und Phantasmen, daher ist die Gegenwart die wesentliche Form der Erscheinung des
Willens und von dieser unzertrennlich. Die Gegenwart allein ist Das, was immer
da ist und unverrückbar feststeht. Empirisch aufgefaßt das Flüchtigste
von Allem, stellt sie dem metaphysischen Blick, der über die Formen der empirischen
Anschauung hinwegsieht, sich als das allein Beharrende dar, das Nunc stans der
Scholastiker. Die Quelle und der Träger ihres Inhalts ist der Wille zum Leben,
oder das Ding an sich, welches wir sind. Das, was immerfort wird und vergeht,
indem es entweder schon gewesen ist, oder noch kommen soll, gehört der Erscheinung
als solcher an, vermöge ihrer Formen, welche das Entstehn und Vergehn möglich
machen. Demnach denke man: Quid fuit? Quod est. Quid erit?
Quod fuit; und nehme es im strengen Sinn der Worte, verstehe also nicht simile,
sondern idem. Denn dem Willen ist das Leben, dem Leben die Gegenwart gewiß.
Daher auch kann Jeder sagen: »Ich bin ein für alle Mal Herr der Gegenwart,
und durch alle Ewigkeit wird sie mich begleiten, wie mein Schatten: demnach wundere
ich mich nicht, wo sie nur hergekommen sei, und wie es zugehe, daß sie gerade
jetzt sei.« Wir können die Zeit einem endlos drehenden Kreise
vergleichen: die stets sinkende Hälfte wäre die Vergangenheit, die stets
steigende die Zukunft; oben aber der untheilbare Punkt, der die Tangente berührt,
wäre die ausdehnungslose Gegenwart: wie die Tangente nicht mit fortrollt,
so auch nicht die Gegenwart, der Berührungspunkt des Objekts, dessen Form
die Zeit ist, mit dem Subjekt, das keine Form hat, weil es nicht zum Erkennbaren
gehört, sondern Bedingung alles Erkennbaren ist. Oder: die Zeit gleicht einem
unaufhaltsamen Strohm, und die Gegenwart einem Felsen, an dem sich jener bricht,
aber nicht ihn mit fortreißt. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als
Wille und Vorstellung, 1818, S. 294-296).Der Wille, als Ding
an sich, ist so wenig, als das Subjekt der Erkenntniß, welches zuletzt doch
in gewissem Betracht er selbst oder seine Aeußerung ist, dem Satze vom Grunde
unterworfen; und wie dem Willen das Leben, seine eigene Erscheinung, gewiß
ist, so ist es auch die Gegenwart, die einzige Form des wirklichen Lebens. Wir
haben demnach nicht nach der Vergangenheit vor dem Leben, noch nach der Zukunft
nach dem Tode zu forschen: vielmehr haben wir als die einzige Form, in welcher
der Wille sich erscheint, die Gegenwart zu erkennen76; sie wird ihm nicht entrinnen,
aber er ihr wahrlich auch nicht. Wen daher das Leben, wie es ist, befriedigt,
wer es auf alle Weise bejaht, der kann es mit Zuversicht als endlos betrachten
und die Todesfurcht als eine Täuschung bannen, welche ihm die ungereimte
Furcht eingiebt, er könne der Gegenwart je verlustig werden, und ihm eine
Zeit vorspiegelt ohne eine Gegenwart darin: eine Täuschung, welche in Hinsicht
auf die Zeit Das ist, was in Hinsicht auf den Raum jene andere, vermöge welcher
Jeder, in seiner Phantasie, die Stelle auf der Erdkugel, welche er gerade einnimmt,
als das Oben und alles Uebrige als das Unten ansieht: eben so knüpft Jeder
die Gegenwart an seine Individualität und meint, mit dieser verlösche
alle Gegenwart; Vergangenheit und Zukunft seien nun ohne dieselbe. Wie
aber auf der Erdkugel überall oben ist, so ist auch die Form alles Lebens
Gegenwart, und den Tod fürchten, weil er uns die Gegenwart entreißt,
ist nicht weiser, als fürchten, man könne von der runden Erdkugel, auf
welcher man glücklicherweise nun gerade oben steht, hinuntergleiten. Der
Objektivation des Willens ist die Form der Gegenwart wesentlich, welche als ausdehnungsloser
Punkt die nach beiden Seiten unendliche Zeit schneidet und unverrückbar fest
steht, gleich einem Immerwährenden Mittag, ohne kühlenden Abend; wie
die wirkliche Sonne ohne Unterlaß brennt, während sie nur scheinbar
in den Schooß der Nacht sinkt: daher, wenn ein Mensch den Tod als seine
Vernichtung fürchtet, es nicht anders ist, als wenn man dächte, die
Sonne könne am Abendklagen: »Wehe mir! ich gehe unter in ewige Nacht.«
(**) Hingegen auch umgekehrt:
wen die Lasten des Lebens drücken, wer zwar wohl das Leben möchte und
es bejaht, aber die Quaalen desselben verabscheut, und besonders das harte Loos,
das gerade ihm zugefallen ist, nicht länger tragen mag: ein solcher hat nicht
vom Tode Befreiung zu hoffen und kann sich nicht durch Selbstmord retten; nur
mit falschem Scheine lockt ihn der finstere kühle Orkus als Hafen der Ruhe.
Die Erde wälzt sich vom Tage in die Nacht; das Individuum stirbt; aber die
Sonne selbst brennt ohne Unterlaß ewigen Mittag. Dem Willen zum Leben ist
das Leben gewiß: die Form des Lebens ist Gegenwart ohne Ende; gleichviel
wie die Individu en, Erscheinungen der Idee, in der Zeit entstehn und vergehn,
flüchtigen Träumen zu vergleichen. Der Selbstmord erscheint uns
also schon hier als eine vergebliche und darum thörichte Handlung: wenn wir
in unserer Betrachtung weiter vorgedrungen seyn werden, wird er sich uns in einem
noch ungünstigem Lichte darstellen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 296-297). In
Eckermann's »Gesprächen mit Goethe« (zweite Auflage, Bd. 1, S.
154) sagt Goethe: »Unser Geist ist ein Wesen ganz unzerstörbarer Natur:
es ist ein Fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich,
die bloß unsern irdischen Augen unterzugehn scheint, die aber eigentlich
nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet.« Goethe hat
das Gleichniß von mir; nicht etwan ich von ihm. Ohne Zweifel gebraucht er
es, in diesem 1824 gehaltenen Gespräch, in Folge einer, vielleicht unbewußten,
Reminiscenz obiger Stelle; da solche, mit den selben Worten wie hier, in der ersten
Auflage, S. 401, steht; auch eben daselbst S. 528, wie hier am Schlusse des §
65, wiederkehrt. Jene erste Auflage war ihm im December 1818 übersandt worden,
und im März 1819 ließ er mir nach Neapel, wo ich mich damals befand,
seinen Beifall, durch meine Schwester, brieflich berichten, und hatte einen Zettel
beigelegt, worauf er die Zahlen einiger Seiten, welche ihm besonders gefallen,
angemerkt hatte: also hatte er mein Buch gelesen. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 297).
§
56Wir haben längst dieses den Kern und das Ansich jedes Dinges
ausmachende Streben als das selbe und nämliche erkannt, was in uns, wo es
sich am deutlichsten, am Lichte des vollesten Bewußtseins manifestirt, Wille
heißt. Wir nennen dann seine Hemmung durch ein Hindernis, welches sich zwischen
ihn und sein einstweiliges Ziel stellt, Leiden; hingegen sein Erreichen
des Ziels Befriedigung, Wohlseyn, Glück. Wir können diese Benennungen
auch auf jene, dem Grade nach schwachem, dem Wesen nach identischen Erscheinungen
der erkenntnißlosen Welt übertragen. Diese sehn wir alsdann in stetem
Leiden begriffen und ohne bleibendes Glück. Denn alles Streben entspringt
aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, so lange
es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie
stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehn wir überall
vielfach gehemmt, überall kämpfend; so lange also immer als Leiden:
kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maaß und Ziel des Leidens.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 325). §
57Auf jeder Stufe, welche die Erkenntniß beleuchtet, erscheint
sich der Wille als Individuum. Im unendlichen Raum und unendlicher Zeit findet
das menschliche Individuum sich als endliche, folglich als eine gegen Jene verschwindende
Größe, in sie hineingeworfen und hat, wegen ihrer Unbegränztheit,
immer nur ein relatives, nie ein absolutes Wann und Wo seines Daseyns:
denn sein Ort und seine Dauer sind endliche Theile eines Unendlichen und Gränzenlosen.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 326-327
).Das Leben der Allermeisten ist auch nur ein steter Kampf um diese
Existenz selbst, mit der Gewißheit ihn zuletzt zu verlieren. Was sie aber
in diesem so mühsäligen Kampfe ausdauern läßt, ist nicht
sowohl die Liebe zum Leben, als die Furcht vor dem Tode, der jedoch als unausweichbar
im Hintergrunde steht und jeden Augenblick herantreten kann. Das Leben
selbst ist ein Meer voller Klippen und Strudel, die der Mensch mit der größten
Behutsamkeit und Sorgfalt vermeidet, obwohl er weiß, daß, wenn es
ihm auch gelingt, mit aller Anstrengung und Kunst sich durchzuwinden, er eben
dadurch mit jedem Schritt dem größten, dem totalen, dem unvermeidlichen
und unheilbaren Schiffbruch näher kommt, ja gerade auf ihn zusteuert,
dem Tode: dieser ist das endliche Ziel der mühsäligen Fahrt und für
ihn schlimmer als alle Klippen, denen er auswich. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 328).Nun ist
es aber sogleich sehr bemerkenswerth, daß einerseits die Leiden und Quaalen
des Lebens leicht so anwachsen können, daß selbst der Tod, in der Flucht
vor welchem das ganze Leben besteht, wünschenswerth wird und man freiwillig
zu ihm eilt; und andererseits wieder, daß sobald Noth und Leiden dem Menschen
eine Rast vergönnen, die Langeweile gleich so nahe ist, daß er des
Zeitvertreibes nothwendig bedarf. Was alle Lebenden beschäftigt und in Bewegung
erhält, ist das Streben nach Daseyn. Mit dem Daseyn aber, wenn es ihnen gesichert
ist, wissen sie nichts anzufangen: daher ist das Zweite, was sie in Bewegung setzt,
das Streben, die Last des Daseyns los zu werden, es unfühlbar zu machen,
»die Zeit zu tödten«, d.h. der Langenweile zu entgehn. Demgemäß
sehn wir, daß fast alle vor Noth und Sorgen geborgene Menschen, nachdem
sie nun endlich alle andern Lasten abgewälzt haben, jetzt sich selbst zur
Last sind und nun jede durchgebrachte Stunde für Gewinn achten, also jeden
Abzug von eben jenem Leben, zu dessen möglichst langer Erhaltung sie bis
dahin alle Kräfte aufboten. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille
und Vorstellung, 1818, S. 328-329). $ 58Alle
Befriedigung, oder was man gemeinhin Glück nennt, ist eigentlich und wesentlich
immer nur negativ und durchaus nie positiv. Es ist nicht eine ursprünglich
und von selbst auf uns kommende Beglückung, sondern muß immer die Befriedigung
eines Wunsches seyn. Denn Wunsch, d.h. Mangel, ist die vorhergehende Bedingung
jedes Genusses. Mit der Befriedigung hört aber der Wunsch und folglich der
Genuß auf. Daher kann die Befriedigung oder Beglückung nie mehr seyn,
als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Noth: denn dahin gehört nicht
nur jedes wirkliche, offenbare Leiden, sondern auch jeder Wunsch, dessen Importunität
unsere Ruhe stört, ja sogar auch die ertödtende Langeweile, die uns
das Daseyn zur Last macht. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 335). § 63Wie auf
dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegrenzt, heulend Wellenberge erhebt
und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend;
so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt
und vertrauend auf das principium individuationis. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 368-369).Aus
dieser Ahndung stammt jenes so unvertilgbare und allen Menschen (ja vielleicht
selbst den klügeren Thieren) gemeinsame Grausen, das sie plötzlich ergreift,
wenn sie, durch irgend einen Zufall, irre werden am principio individuationis,
indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme
zu erleiden scheint: z.B. wenn es scheint, daß irgend eine Veränderung
ohne Ursache vor sich gienge, oder ein Gestorbener wieder dawäre, oder sonst
irgendwie das Vergangene oder das Zukünftige gegenwärtig, oder das Ferne
nah wäre. Das ungeheure Entsetzen über so etwas gründet sich darauf,
daß sie plötzlich irre werden an den Erkenntnißformen der Erscheinungen,
welche allein ihr eigenes Individuum von der übrigen Welt gesondert halten.
Diese Sonderung aber eben liegt nur in der Erscheinung und nicht im Dinge an sich:
eben darauf beruht die ewige Gerechtigkeit. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 369). § 71
Vor uns bleibt allerdings nur das Nichts. Aber Das, was sich gegen
dieses Zerfließen ins Nichts sträubt, unsere Natur, ist ja eben nur
der Wille zum Leben, der wir selbst sind, wie er unsere Welt ist. Daß wir
so sehr das Nichts verabscheuen, ist nichts weiter, als ein anderer Ausdruck davon,
daß wir so sehr das Leben wollen, und nichts sind, als dieser Wille, und
nichts kennen, als eben ihn. Wenden wir aber den Blick von unserer eigenen
Dürftigkeit und Befangenheit auf Diejenigen, welche die Welt überwanden,
in denen der Wille, zur vollen Selbsterkenntniß gelangt, sich in Allem wiederfand
und dann sich selbst frei verneinte, und welche dann nur noch seine letzte Spur,
mit dem Leibe, den sie belebt, verschwinden zu sehn abwarten; so zeigt sich uns,
statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Ueberganges von Wunsch
zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie befriedigten und nie ersterbenden
Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht, jener Friede,
der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüths,
jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer
Abglanz im Antlitz, wie ihn Raphael und Correggio dargestellt haben, ein ganzes
und sicheres Evangelium ist: nur die Erkenntniß ist geblieben, der Wille
ist verschwunden. Wir aber blicken dann mit tiefer und schmerzlicher Sehnsucht
auf diesen Zustand, neben welchem das Jammervolle und Heillose unsers eigenen,
durch den Kontrast, in vollem Lichte erscheint. Dennoch ist diese Betrachtung
die einzige, welche uns dauernd trösten kann, wann wir einerseits unheilbares
Leiden und endlosen Jammer als der Erscheinung des Willens, der Welt, wesentlich
erkannt haben, und andererseits, bei aufgehobenem Willen, die Welt zerfließen
sehn und nur das leere Nichts vor uns behalten. Also auf diese Weise, durch Betrachtung
des Lebens und Wandels der Heiligen, welchen in der eigenen Erfahrung zu begegnen
freilich selten vergönnt ist, aber welche ihre aufgezeichnete Geschichte
und, mit dem Stämpel innerer Wahrheit verbürgt, die Kunst uns vor die
Augen bringt, haben wir den finstern Eindruck jenes Nichts, das als das letzte
Ziel hinter aller Tugend und Heiligkeit schwebt, und das wir, wie die Kinder das
Finstere, fürchten, zu verscheuchen; statt selbst es zu umgehn, wie die Inder,
durch Mythen und bedeutungsleere Worte, wie Resorbtion in das Brahm, oder Nirwana
der Buddhaisten. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 426).
Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher
Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche
noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist
Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere
so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen
Nichts. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 426).
Anhang
Kritik
der Kantischen PhilosophieKants größtes Verdienst
ist die Unterscheidung der Erscheinung vom Dinge an sich, auf Grund
der Nachweisung, daß zwischen den Dingen und uns immer noch der Intellekt
steht, weshalb sie nicht nach dem, was sie an sich selbst seyn mögen, erkannt
werden können. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 450).Dem Einfachen steht ... nicht das Zusammengesetzte,
sondern das Extendirte, das Theilehabende, das Theilbare gegenüber.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 507).
Man mißversteht sich ... selbst, wenn man das Unendliche, welcher Art es
auch sei, als ein objektiv Vorhandenes und Fertiges, und unabhängig vom Regressus
zu denken vermeint. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 511).Nachdem wir das Ding an sich als den Willen
erkannt haben. Ueberhaupt liegt hier der Punkt, wo Kants Philosophie auf die meinige
hinleitet, oder wo diese aus ihr als ihrem Stamm hervorgeht. Hievon wird man sich
überzeugen, wenn man in der Kritik der reinen Vernunft, S. 356 und 537; v,
564 und 565, mit Aufmerksamkeit liest: mit dieser Stelle vergleiche man noch die
Einleitung zur Kritik der Urtheilskraft, S. XVIII und XIX der dritten, oder S.
13 der Rosenkranzischen Ausgabe, wo es sogar heißt: »Der Freiheitsbegriff
kann in seinem Objekt (das ist denn doch der Wille) ein Ding an sich, aber nicht
in der Anschauung, vorstellig machen; dagegen der Naturbegriff seinen Gegenstand
zwar in der Anschauung, aber nicht als Ding an sich vorstellig machen kann.«
Besonders aber lese man über die Auflösung der Antinomien den §
53 der Prolegomena und beantworte dann aufrichtig die Frage, ob alles dort Gesagte
nicht lautet wie ein Räthsel, zu welchem meine Lehre das Wort ist. Kant ist
mit seinem Denken nicht zu Ende gekommen: ich habe bloß seine Sache
durchgeführt. Demgemäß habe ich was Kant von der menschlichen
Erscheinung allein sagt auf alle Erscheinung überhaupt, als welche von jener
nur dem Grade nach verschieden ist, übertragen, nämlich daß das
Wesen an sich derselben ein absolut Freies, d.h. ein Wille ist. Wie fruchtbar
aber diese Einsicht im Verein mit Kants Lehre von der Idealität des Raumes,
der Zeit und der Kausalität ist, ergiebt sich aus meinem Werk. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 512-513)..
Die Welt selbst ist allein aus dem Willen (da sie eben er selbst ist, sofern er
erscheint) zu erklären und nicht durch Kausalität. Aber in der Welt
ist Kausalität das einzige Princip der Erklärung und geschieht Alles
lediglich nach Gesetzen der Natur. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als
Wille und Vorstellung, 1818, S. 518).Bis auf Kant stand ein
wirkliches Dilemma fest zwischen Materialismus und Theismus, d.h. zwischen der
Annahme, daß ein blinder Zufall, oder daß eine von außen ordnende
Intelligenz nach Zwecken und Begriffen, die Welt zu Stande gebracht hätte,
neque dabatur tertium. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille
und Vorstellung, 1818, S. 523).Es ist gewiß keines der
geringsten Verdienste Friedrichs des Großen, daß unter seiner Regierung
Kant sich entwickeln konnte und die »Kritik der reinen Vernunft« veröffentlichen
durfte. Schwerlich würde unter irgend einer andern Regierung ein besoldeter
Professor so etwas gewagt haben. Schon dem Nachfolger des großen Königs
mußte Kant versprechen, nicht mehr zu schreiben. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 524).Und Cicero
setzt (De nat. Deor., III, c. 26-31) weitläuftig auseinander, daß Vernunft
das nothwendige Mittel und Werkzeug zu allen Verbrechen ist. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 528).Für
das Vermögen der Begriffe habe ich die Vernunft erklärt. Diese
ganz eigene Klasse allgemeiner, nicht anschaulicher, nur durch Worte symbolisirter
und fixirter Vorstellungen ist es, die den Menschen vom Thiere unterscheidet und
ihm die Herrschaft auf Erden giebt. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als
Wille und Vorstellung, 1818, S. 528).Der Inhalt des absoluten
Solls, das Grundgesetz der praktischen Vernunft, ist nun das Gerühmte: »Handle
so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könnte.« Dieses Princip giebt Dem, welcher
ein Regulativ für seinen eigenen Willen verlangt, die Aufgabe gar eines für
den Willen Aller zu suchen. Dann fragt sich, wie ein solches zu finden
sei. Offenbar soll ich, um die Regel meines Verhaltens aufzufinden, nicht mich
allein berücksichtigen, sondern die Gesammtheit aller Individuen. Alsdann
wird, statt meines eigenen Wohlseins, das Wohlseyn Aller, ohne Unterschied, mein
Zweck. Derselbe bleibt aber noch immer Wohlseyn. Ich finde sodann, daß Alle
sich nur so gleich wohl befinden können, wenn Jeder seinem Egoismus den fremden
zur Schranke setzt. Hieraus folgt freilich, daß ich Niemanden beeinträchtigen
soll, weil, indem dies Princip als allgemein angenommen wird, auch ich nicht beeinträchtigt
werde, welches aber der alleinige Grund ist, weshalb ich, ein Moralprincip noch
nicht besitzend, sondern erst suchend, dieses zum allgemeinen Gesetz wünschen
kann. Aber offenbar bleibt, auf diese Weise, Wunsch nach Wohlseyn, d.h. Egoismus,
die Quelle dieses ethischen Princips. Als Basis der Staatslehre wäre es vortrefflich,
als Basis der Ethik taugt es nicht. Denn zu der in jenem Moralprincip aufgegebenen
Festsetzung eines Regulativs für den Willen Aller, bedarf, der es sucht,
nothwendig selbst wieder eines Regulativs, sonst wäre ihm ja Alles gleichgültig.
Dies Regulativ aber kann nur der eigene Egoismus seyn, da nur auf diesen das Verhalten
Anderer einfließt, und daher nur mittelst desselben und in Rücksicht
auf ihn, Jener einen Willen in Betreff des Handelns Anderer haben kann und es
ihm nicht gleichgültig ist. Sehr naiv giebt Kant dieses selbst zu erkennen,
S. 123 der »Kritik der praktischen Vernunft« (Rosenkranzische Ausgabe,
S. 192), wo er das Aufsuchen der Maxime für den Willen also ausführt:
»Wenn Jeder Anderer Noth mit völliger Gleichgültigkeit ansähe,
und du gehörtest mit zu einer solchen Ordnung der Dinge, würdest du
darin willigen?« Quam temere in nosmet legem sancimus iniquam!
wäre das Regulativ der nachgefragten Einwilligung. Eben so in der »Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten«, S. 56 der dritten, S. 50 der Rosenkranzischen
Ausgabe: »Ein Wille, der beschlösse. Niemanden in der Noth beizustehn,
würde sich widerstreiten, indem sich Fälle ereignen können, wo
er Anderer Liebe und Theilnahme bedarf« u.s.w. Dieses Princip der Ethik,
welches daher, beim Licht betrachtet, nichts Anderes, als ein indirekter und verblümter
Ausdruck des alten, einfachen Grundsatzes, quod tibi fieri non vis, alteri
ne feceris ist, bezieht sich also zuerst und unmittelbar auf das Passive,
das Leiden, und dann erst vermittelst dieses auf das Thun: daher wäre es,
wie gesagt, als Leitfaden zur Errichtung des Staats, welcher auf die Verhütung
des Unrechtleidens gerichtet ist, auch Allen und Jedem die größte Summe
von Wohlseyn verschaffen möchte, ganz brauchbar; aber in der Ethik, wo der
Gegenstand der Untersuchung das Thun als Thun und in seiner unmittelbaren Bedeutung
für den Thäter ist, nicht aber seine Folge, das Leiden, oder seine Beziehung
auf Andere, ist jene Rücksicht durchaus nicht zulässig, indem sie im
Grunde doch wieder auf ein Glücksäligkeitsprincip, also auf Egoismus,
hinausläuft. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 534-536). Die schon von Platon und Seneka behandelte Frage,
ob die Tugend sich lehren lasse, ist zu verneinen. Man wird sich endlich entschließen
müssen einzusehn, was auch der Christlichen Lehre von der Gnadenwahl den
Ursprung gab, daß, der Hauptsache und dem Innern nach, die Tugend gewissermaaßen
wie der Genius angeboren ist, und daß eben so wenig, als alle Professoren
der Aesthetik, mit vereinten Kräften, irgend Einem die Fähigkeit genialer
Produktionen, d.h. achter Kunstwerke beibringen können, eben so wenig alle
Professoren der Ethik und Prediger der Tugend einen unedeln Charakter zu einem
tugendhaften, edeln umzuschaffen vermögen, wovon die Unmöglichkeit sehr
viel offenbarer ist, als die der Umwandlung des Bleies in Gold; und das Aufsuchen
einer Ethik und eines obersten Princips derselben, die praktischen Einfluß
hätten und wirklich das Menschengeschlecht umwandelten und besserten, ist
ganz gleich dem Suchen des Steines der Weisen. Von der Möglichkeit
jedoch einer gänzlichen Sinnesänderung des Menschen (Wiedergeburt),
nicht mittelst abstrakter (Ethik), sondern mittelst intuitiver Erkenntniß
(Gnadenwirkung), ist am Ende unsers vierten Buches ausführlich geredet; der
Inhalt welches Buches mich überhaupt der Nothwendigkeit überhebt, hiebei
länger zu verweilen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 537).
Daß Kant in die eigentliche Bedeutung des ethischen Gehaltes
der Handlungen keineswegs eingedrungen sei, zeigt er endlich auch durch
seine Lehre vom höchsten Gut als der nothwendigen Vereinigung von
Tugend und Glücksäligkeit und zwar so, daß jene die Würdigkeit
zu dieser wäre. Schon der logische Tadel trifft ihn hier, daß
der Begriff der Würdigkeit, der hier den Maaßstab macht, bereits
eine Ethik als seinen Maaßstab voraussetzt, also nicht von ihm ausgegangen
werden durfte. In unserm vierten Buche hat sich ergeben, daß alle
ächte Tugend, nachdem sie ihren höchsten Grad erreicht hat,
zuletzt hinleitet zu einer völligen Entsagung, in der alles Wollen
ein Ende findet: hingegen ist Glücksäligkeit ein befriedigtes
Wollen, Beide sind also von Grund aus unvereinbar. Für Den, welchem
meine Darstellung eingeleuchtet hat, bedarf es weiter keiner Auseinandersetzung
der gänzlichen Verkehrtheit dieser Kantischen Ansicht vom höchsten
Gut. Und unabhängig von meiner positiven Darstellung habe ich hier
weiter keine negative zu geben. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 537).
Ergänzungen zum zweiten Buch
Kapitel 18 (dieses
Kapitel bezieht sich auf § 18 des 1. Bandes): Von der Erkennbarkeit
des Dinges an sich. |
 | | Diese
Graphik ist n i c h t von Arthur Schopenhauer, sondern
von mir ! HB |
Zu diesem Buche, welches den eigenthümlichsten und wichtigsten
Schritt meiner Philosophie, nämlich den von Kant als unmöglich
aufgegebenen Uebergang von der Erscheinung zum Dinge an sich, enthält,
habe ich die wesentlichste Ergänzung schon 1835 veröffentlicht,
unter dem Titel »Ueber den Willen in der Natur« (**).
Man würde sehr irren, wenn man die fremden Aussprüche, an welche
ich dort meine Erläuterungen geknüpft habe, für den eigentlichen
Stoff und Gegenstand jener dem Umfang nach kleinen, dem Inhalt nach wichtigen
Schrift halten wollte: vielmehr sind diese bloß der Anlaß,
von welchem ausgehend ich daselbst jene Grundwahrheit meiner Lehre mit
so großer Deutlichkeit, wie sonst nirgends, erörtert und bis
zur empirischen Naturerkenntniß herabgeführt habe. Und zwar
ist dies am erschöpfendesten und stringentesten unter der Rubrik
»Physische Astronomie« geschehn; so daß ich nicht hoffen
darf, jemals einen richtigeren und genaueren Ausdruck jenes Kernes meiner
Lehre zu finden, als der daselbst niedergelegte ist. Wer meine Philosophie
gründlich kennen und ernstlich prüfen will, hat daher vor Allem
die besagte Rubrik zu berücksichtigen. Ueberhaupt also würde
Alles in jener kleinen Schrift Gesagte den Hauptinhalt gegenwärtiger
Ergänzungen ausmachen, wenn es nicht, als ihnen vorangegangen, ausgeschlossen
bleiben müßte; wogegen ich es nun aber hier als bekannt voraussetze,
indem sonst gerade das Beste fehlen würde. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 723-724).
Zunächst
will ich jetzt, von einem allgemeinern Standpunkt aus, über den Sinn, in
welchem von einer Erkenntniß des Dinges an sich die Rede seyn kann und über
die nothwendige Beschränkung desselben einige Betrachtungen voranschicken.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 724).Was
ist Erkenntniß? Sie ist zunächst und wesentlich Vorstellung.
Was ist Vorstellung? Ein sehr komplicirter physiologischer Vorgang
im Gehirne eines Thiers, dessen Resultat das Bewußtseyn eines Bildes eben
daselbst ist. Offenbar kann die Beziehung eines solchen Bildes auf etwas
von dem Thiere, in dessen Gehirn es dasteht, gänzlich Verschiedenes nur eine
sehr mittelbare seyn. Dies ist vielleicht die einfachste und faßlichste
Art, die tiefe Kluft zwischen dem Idealen und Realen aufzudecken. Diese nämlich
gehört zu den Dingen, deren man, wie der Bewegung der Erde, nicht unmittelbar
inne wird: darum hatten die Alten sie, wie eben auch diese, nicht bemerkt. Hingegen,
von Cartesius zuerst, ein Mal nachgewiesen, hat sie seitdem den Philosophen keine
Ruhe gegönnt. Nachdem aber zuletzt Kant die völlige Diversität
des Idealen und Realen am allergründlichsten dargethan, war es ein so kecker,
wie absurder, jedoch auf die Urtheilskraft des philosophischen Publikums in Deutschland
ganz richtig berechneter und daher von glänzendem Erfolg gekrönter Versuch,
durch, auf angebliche intellektuale Anschauung sich berufende, Machtansprüche,
die absolute Identität Beider behaupten zu wollen. In Wahrheit hingegen
ist ein subjektives und ein objektives Daseyn, ein Seyn für sich und ein
Seyn für Andere, ein Bewußtseyn des eigenen Selbst und ein Bewußtseyn
von andern Dingen, uns unmittelbar gegeben, und Beide sind es auf so grundverschiedene
Weise, daß keine andere Verschiedenheit dieser gleich kommt. Von sich weiß
Jeder unmittelbar, von allem Andern nur sehr mittelbar. Dies ist die Thatsache
und das Problem. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 724).Hingegen ob, durch fernere Vorgänge im Innern
eines Gehirns, aus den darin entstandenen anschaulichen Vorstellungen oder Bildern
Allgemeinbegriffe (Universalia) abstrahirt werden, zum Behuf fernerer Kombinationen,
wodurch das Erkennen ein vernünftiges wird und nunmehr Denken heißt,
dies ist hier nicht mehr das Wesentliche, sondern von untergeordneter Bedeutung.
Denn alle solche Begriffe entlehnen ihren Inhalt allein aus der anschaulichen
Vorstellung, welche daher Urerkenntniß ist und also bei Untersuchung des
Verhältnisses zwischen dem Idealen und dem Realen allein in Betracht kommt.
Demnach zeugt es von gänzlicher Unkenntniß des Problems, oder ist wenigstens
sehr ungeschickt, jenes Verhältniß bezeichnen zu wollen als das zwischen
Seyn und Denken. Das Denken hat zunächst bloß zum Anschauen ein Verhältniß,
das Anschauen aber hat eines zum Seyn an sich des Angeschauten, und dieses Letztere
ist das große Problem, welches uns hier beschäftigt. Das empirische
Seyn hingegen, wie es vorliegt, ist nichts Anderes, als eben nur das Gegebenseyn
in der Anschauung: dieser ihr Verhältniß zum Denken ist aber kein Räthsel;
da die Begriffe, also der unmittelbare Stoff des Denkens, offenbar aus der Anschauung
abstrahirt sind; woran kein vernünftiger Mensch zweifeln kann. Beiläufig
gesagt, kann man, wie wichtig die Wahl der Ausdrücke in der Philosophie sei,
daran sehn, daß jener oben gerügte, ungeschickte Ausdruck und das aus
ihm entstandene Mißverständniß die Grundlage der ganzen Hegelschen
Afterphilosophie geworden ist, welche das Deutsche Publikum fünfundzwanzig
Jahre hindurch beschäftigt hat. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 724-725).Wollte man
nun aber sagen: »Die Anschauung ist schon die Erkenntniß des Dinges
an sich: denn sie ist die Wirkung des außer uns Vorhandenen, und wie dies
wirkt, so ist es: sein Wirken ist eben sein Seyn«; so steht dem entgegen:
1) daß das Gesetz der Kausalität, wie genugsam bewiesen, subjektiven
Ursprungs ist, so gut wie die Sinnesempfindung, von der die Anschauung ausgeht:
2) daß ebenfalls Zeit und Raum, in denen das Objekt sich darstellt, subjektiven
Ursprungs sind: 3) daß wenn das Seyn des Objekts eben in seinem Wirken besteht,
dies besagt, daß es bloß in den Veränderungen, die es in Andern
hervorbringt, besteht, mithin selbst und an sich gar nichts ist. Bloß
von der Materie ist es wahr, wie ich im Text gesagt und in der Abhandlung über
den Satz vom Grunde, am Schlusse des § 21, ausgeführt habe, daß
ihr Seyn in ihrem Wirken besteht, daß sie durch und durch nur Kausalität,
also die objektiv angeschaute Kausalität selbst ist: daher ist sie aber eben
auch nichts an sich (hê hylê to alêthinon pseudos, materia mendacium
verax), sondern ist, als Ingredienz des angeschauten Objekts, ein bloßes
Abstraktum, welches für sich allein in keiner Erfahrung gegeben werden kann.
Weiter unten wird sie, in einem eigenen Kapitel, ausführlich betrachtet werden.
Das angeschaute Objekt aber muß etwas an sich selbst seyn und nicht
bloß etwas für Andere: denn sonst wäre es schlechthin nur Vorstellung,
und wir hätten einen absoluten Idealismus, der am Ende theoretischer Egoismus
würde, bei welchem alle Realität wegfällt und die Welt zum bloßen
subjektiven Phantasma wird. Wenn wir inzwischen, ohne weiter zu fragen, bei der
Welt als Vorstellung ganz und gar stehn bleiben; so ist es freilich einerlei,
ob ich die Objekte für Vorstellungen in meinem Kopfe, oder für in Zeit
und Raum sich darstellende Erscheinungen erkläre: weil eben Zeit und Raum
selbst nur in meinem Kopfe sind. In diesem Sinne ließe sich alsdann eine
Identität des Idealen und Realen immerhin behaupten: jedoch wäre, nachdem
Kant dagewesen, nichts Neues damit gesagt. Ueberdies aber wäre dadurch das
Wesen der Dinge und der erscheinenden Welt offenbar nicht erschöpft; sondern
man stände damit noch immer erst auf der idealen Seite. Die reale Seite muß
etwas von der Welt als Vorstellung toto genere Verschiedenes seyn, nämlich
Das, was die Dinge an sich selbst sind: und diese gänzliche Diversität
des Idealen und Realen ist es, welche Kant am gründlichsten nachgewiesen
hat. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 725-726).Locke nämlich hatte den Sinnen die Erkenntniß
der Dinge, wie sie an sich sind, abgesprochen; Kant aber sprach sie auch dem anschauenden
Verstande ab, unter welchem Namen ich hier Das, was er die reine Sinnlichkeit
nennt, und das die empirische Anschauung vermittelnde Gesetz der Kausalität,
sofern es a priori gegeben ist, zusammenfasse. Nicht nur haben Beide Recht,
sondern auch ganz unmittelbar läßt sich einsehn, daß ein Widerspruch
in der Behauptung liegt, ein Ding werde erkannt nach Dem, was es an und für
sich, d.h. außer der Erkenntniß, sei. Denn jedes Erkennen ist, wie
gesagt, wesentlich ein Vorstellen: aber mein Vorstellen, eben weil es meines ist,
kann niemals identisch seyn mit dem Wesen an sich des Dinges außer mir.
Das An- und Fürsichseyn jedes Dinges muß nothwendig ein subjektives
seyn: in der Vorstellung eines Andern hingegen steht es eben so nothwendig als
ein objektives da; ein Unterschied, der nie ganz ausgeglichen werden kann. Denn
durch denselben ist die ganze Art seines Daseyns von Grund aus verändert:
als objektives setzt es ein fremdes Subjekt, als dessen Vorstellung es existirt,
voraus, und ist zudem, wie Kant nachgewiesen hat, in Formen eingegangen, die seinem
eigenen Wesen fremd sind, weil sie eben jenem fremden Subjekt, dessen Erkennen
erst durch dieselben möglich wird, angehören. Wenn ich, in diese Betrachtung
vertieft, etwan leblose Körper von leicht übersehbarer Größe
und regelmäßiger, faßlicher Form anschaue und nun versuche, dies
räumliche Daseyn, in seinen drei Dimensionen, als das Seyn an sich, folglich
als das den Dingen subjektive Da seyn derselben aufzufassen; so wird mir die Unmöglichkeit
der Sache geradezu fühlbar, indem ich jene objektiven Formen nimmermehr als
das den Dingen subjektive Seyn denken kann, vielmehr mir unmittelbar bewußt
werde, daß was ich da vorstelle ein in meinem Gehirn zu Stande gebrachtes
und nur für mich als erkennendes Subjekt existirendes Bild ist, welches nicht
das letzte, mithin subjektive Seyn an sich und für sich auch nur dieser leblosen
Körper ausmachen kann. Andererseits aber darf ich nicht annehmen, daß
auch nur diese leblosen Körper ganz allein in meiner Vorstellung existirten;
sondern muß ihnen, da sie unergründliche Eigenschaften und vermöge
dieser Wirksamkeit haben, ein Seyn an sich, irgend einer Art, zugestehn. Aber
eben diese Unergründlichkeit der Eigenschaften, wie sie zwar einerseits auf
ein von unserm Erkennen unabhängig Vorhandenes deutet, giebt andererseits
den empirischen Beleg dazu, daß unser Erkennen, weil es nur im Vorstellen
mittelst subjektiver Formen besteht, stets bloße Erscheinungen, nicht das
Wesen an sich der Dinge liefert. Hieraus nämlich ist es zu erklären,
daß in Allem, was wir erkennen, uns ein gewisses Etwas, als ganz unergründlich,
verborgen bleibt und wir gestehn müssen, daß wir selbst die gemeinsten
und einfachsten Erscheinungen nicht von Grund aus verstehn können. Denn nicht
etwan bloß die höchsten Produktionen der Natur, die lebenden Wesen,
oder die komplicirten Phänomene der unorganischen Welt bleiben uns unergründlich;
sondern selbst jeder Bergkrystall, jeder Schwefelkies, ist vermöge seiner
krystallographischen, optischen, chemischen, elektrischen Eigenschaften, für
die eindringende Betrachtung und Untersuchung, ein Abgrund von Unbegreiflichkeiten
und Geheimnissen. Dem könnte nicht so seyn, wenn wir die Dinge erkennten,
wie sie an sich selbst sind: denn da müßten wenigstens die einfacheren
Erscheinungen, zu deren Eigenschaften nicht Unkenntniß uns den Weg versperrt,
von Grund aus uns verständlich seyn und ihr ganzes Seyn und Wesen in die
Erkenntniß übergehn können. Es liegt also nicht am Mangelhaften
unserer Bekanntschaft mit den Dingen, sondern am Wesen des Erkennens selbst. Denn
wenn schon unsere Anschauung, mithin die ganze empirische Auffassung der sich
uns darstellenden Dinge, wesentlich und hauptsächlich durch unser Erkenntnißvermögen
bestimmt und durch dessen Formen und Funktionen bedingt ist; so kann es nicht
anders ausfallen, als daß die Dinge auf eine von ihrem selbst-eigenen Wesen
ganz verschiedene Weise sich darstellen und daher wie in einer Maske erscheinen,
welche das darunter Versteckte immer nur voraussetzen, aber nie erkennen läßt;
weshalb es dann als unergründliches Geheimniß durchblinkt, und nie
die Natur irgend eines Dinges ganz und ohne Rückhalt in die Erkenntniß
übergehn kann, noch viel weniger aber irgend ein Reales sich a priori konstruiren
läßt, wie ein Mathematisches. Also ist die empirische Unerforschlichkeit
aller Naturwesen ein Beleg a posteriori der Idealität und bloßen Erscheinungswirklichkeit
ihres empirischen Daseyns. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 726-727).Diesem allen zufolge wird man
auf dem Wege der objektiven Erkenntniß, mithin von der Vorstellung ausgehend,
nie über die Vorstellung, d.i. die Erscheinung, hinausgelangen, wird also
bei der Außenseite der Dinge stehn bleiben, nie aber in ihr Inneres dringen
und erforschen können, was sie an sich selbst, d.h. für sich selbst,
seyn mögen. So weit stimme ich mit Kant überein. Nun aber habe ich,
als Gegengewicht dieser Wahrheit, jene andere hervorgehoben, daß wir nicht
bloß das erkennende Subjekt sind, sondern andererseits auch selbst zu den
erkennenden Wesen gehören, selbst das Ding an sich sind; daß mithin
zu jenem selbst-eigenen und inneren Wesen der Dinge, bis zu welchem wir von außen
nicht dringen können, uns ein Weg von innen offen steht, gleichsam ein unterirdischer
Gang, eine geheime Verbindung, die uns, wie durch Verrath, mit Einem Male in die
Festung versetzt, welche durch Angriff von außen zu nehmen unmöglich
war. Das Ding an sich kann, eben als solches, nur ganz unmittelbar ins
Bewußtseyn kommen, nämlich dadurch, daß es selbst sich seiner
bewußt wird: es objektiv erkennen wollen, heißt etwas Widersprechendes
verlangen. Alles Objektive ist Vorstellung, mithin Erscheinung, ja bloßes
Gehirnphänomen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 727-728).
Kants Hauptresultat läßt sich im Wesentlichen
so resumiren: »Alle Begriffe, denen nicht eine Anschauung in Raum
und Zeit (sinnliche Anschauung) zum Grunde liegt, d.h. also die nicht
aus einer solchen Anschauung geschöpft worden, sind schlechterdings
leer, d.h. geben keine Erkenntniß. Da nun aber die Anschauung nur
Erscheinungen, nicht Dinge an sich, liefern kann; so haben wir auch von
Dingen an sich gar keine Erkenntniß.« Ich gebe dies
von Allem zu, nur nicht von der Erkenntniß, die Jeder von seinem
eigenen Wollen hat: diese ist weder eine Anschauung (denn alle Anschauung
ist räumlich) noch ist sie leer; vielmehr ist sie realer, als irgend
eine andere. Auch ist sie nicht a priori, wie die bloß formale,
sondern ganz und gar a posteriori; daher eben wir sie auch nicht, im einzelnen
Fall, anticipiren können, sondern hiebei oft des Irrthums über
uns selbst überführt werden. In der That ist unser Wollen
die einzige Gelegenheit, die wir haben, irgend einen sich äußerlich
darstellenden Vorgang zugleich aus seinem Innern zu verstehn, mithin das
einzige uns unmittelbar Bekannte und nicht, wie alles Uebrige, bloß
in der Vorstellung Gegebene. Hier also liegt das Datum, welches allein
tauglich ist, der Schlüssel zu allem Andern zu werden, oder, wie
ich gesagt habe, die einzige, enge Pforte zur Wahrheit. Demzufolge müssen
wir die Natur verstehn lernen aus uns selbst, nicht umgekehrt uns selbst
aus der Natur. Das uns unmittelbar Bekannte muß uns die Auslegung
zu dem nur mittelbar Bekannten geben; nicht umgekehrt. Versteht man etwan
das Fortrollen einer Kugel auf erhaltenen Stoß gründlicher,
als seine eigene Bewegung auf ein wahrgenommenes Motiv? Mancher mag es
wähnen: aber ich sage: es ist umgekehrt. Wir werden jedoch zu der
Einsicht gelangen, daß in den beiden soeben erwähnten Vorgängen
das Wesentliche identisch ist, wiewohl so identisch, wie der tiefste noch
hörbare Ton der Harmonie mit dem zehn Oktaven höher liegenden
gleichnamigen der selbe ist. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als
Wille und Vorstellung, 1818, S. 728-729).
Inzwischen ist wohl zu beachten, und ich habe
es immer festgehalten, daß auch die innere Wahrnehmung, welche wir von unserm
eigenen Willen haben, noch keineswegs eine erschöpfende und adäquate
Erkenntniß des Dinges an sich liefert. Dies würde der Fall seyn, wenn
sie eine ganz unmittelbare wäre: weil sie nun aber dadurch vermittelt ist,
daß der Wille, mit und mittelst der Korporisation, sich auch einen Intellekt
(zum Behuf seiner Beziehungen zur Außenwelt) schafft und durch diesen nunmehr
im Selbstbewußtseyn (dem nothwendigen Widerspiel der Außenwelt) sich
als Willen erkennt; so ist diese Erkenntniß des Dinges an sich nicht vollkommen
adäquat. Zunächst ist sie an die Form der Vorstellung gebunden, ist
Wahrnehmung und zerfällt, als solche, in Subjekt und Objekt. Denn auch im
Selbstbewußtseyn ist das Ich nicht schlechthin einfach, sondern besteht
aus einem Erkennenden, Intellekt, und einem Erkannten, Wille: jener wird nicht
erkannt, und dieser ist nicht erkennend, wenn gleich Beide in das Bewußtsein
Eines Ich zusammenfließen. Aber eben deshalb ist dieses Ich sich nicht durch
und durch intim, gleichsam durchleuchtet, sondern ist opak und bleibt daher sich
selber ein Räthsel. Also auch in der innern Erkenntniß findet noch
ein Unterschied Statt zwischen dem Seyn an sich ihres Objekts und der Wahrnehmung
desselben im erkennenden Subjekt. Jedoch ist die innere Erkenntniß von zwei
Formen frei, welche der äußern anhängen, nämlich von der
des Raums und von der alle Sinnesanschauung vermittelnden Form der Kausalität.
Hingegen bleibt noch die Form der Zeit, wie auch die des Erkanntwerdens und Erkennens
überhaupt. Demnach hat in dieser innern Erkenntniß das Ding an sich
seine Schleier zwar großen Theils abgeworfen, tritt aber doch noch nicht
ganz nackt auf. In Folge der ihm noch anhängenden Form der Zeit erkennt Jeder
seinen Willen nur in dessen successiven einzelnen Akten, nicht aber im Ganzen,
an und für sich: daher eben Keiner seinen Charakter a priori kennt, sondern
ihn erst erfahrungsmäßig und stets unvollkommen kennen lernt. Aber
dennoch ist die Wahrnehmung, in der wir die Regungen und Akte des eigenen Willens
erkennen, bei Weitem unmittelbarer, als jede andere: sie ist der Punkt, wo das
Ding an sich am unmittelbarsten in die Erscheinung tritt, und in größter
Nähe vom erkennenden Subjekt beleuchtet wird; daher eben der also intim erkannte
Vorgang der Ausleger jedes andern zu werden einzig und allein geeignet ist.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 729).Denn
bei jedem Hervortreten eines Willensaktes aus der dunklen Tiefe unsers Innern
in das erkennende Bewußtseyn geschieht ein unmittelbarer Uebergang des außer
der Zeit liegenden Dinges an sich in die Erscheinung. Demnach ist zwar der Willensakt
nur die nächste und deutlichste Erscheinung des Dinges an sich; doch folgt
hieraus, daß wenn alle übrigen Erscheinungen eben so unmittelbar und
innerlich von uns erkannt werden könnten, wir sie für eben Das ansprechen
müßten, was der Wille in uns ist. In diesem Sinne also lehre ich, daß
das innere Wesen eines jeden Dinges Wille ist, und nenne den Willen das Ding an
sich. Hiedurch wird Kants Lehre von der Unerkennbarkeit des Dinges an sich dahin
modificirt, daß dasselbe nur nicht schlechthin und von Grund aus erkennbar
sei, daß jedoch die bei Weitem unmittelbarste seiner Erscheinungen, welche
durch diese Unmittelbarkeit sich von allen übrigen toto genere unterscheidet,
es für uns vertritt, und wir sonach die ganze Welt der Erscheinungen zurückzuführen
haben auf diejenige, in welcher das Ding an sich in der allerleichtesten Verhüllung
sich darstellt und nur noch insofern Erscheinung bleibt, als mein Intellekt, der
allein das der Erkenntniß Fähige ist, von mir als dem Wollenden noch
immer unterschieden bleibt und auch die Erkenntnißform der Zeit, selbst
bei der innern Perception, nicht ablegt. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 730).Demzufolge läßt,
auch nach diesem letzten und äußersten Schritt, sich noch die Frage
aufwerfen, was denn jener Wille, der sich in der Welt und als die Welt darstellt,
zuletzt schlechthin an sich selbst sei? d.h. was er sei, ganz abgesehn davon,
daß er sich als Wille darstellt, oder überhaupt erscheint, d.h. überhaupt
erkannt wird. Diese Frage ist nie zu beantworten: weil, wie gesagt, das
Erkanntwerden selbst schon dem Ansichseyn widerspricht und jedes Erkannte schon
als solches nur Erscheinung ist. Aber die Möglichkeit dieser Frage zeigt
an, daß das Ding an sich, welches wir am unmittelbarsten im Willen erkennen,
ganz außerhalb aller möglichen Erscheinung, Bestimmungen, Eigenschaften,
Daseynsweisen haben mag, welche für uns schlechthin unerkennbar und unfaßlich
sind, und welche eben dann als das Wesen des Dinges an sich übrig bleiben,
wann sich dieses, wie im vierten Buche dargelegt wird, als Wille frei aufgehoben
hat, daher ganz aus der Erscheinung herausgetreten und für unsere Erkenntniß,
d.h. hinsichtlich der Welt der Erscheinungen, ins leere Nichts übergegangen
ist. Wäre der Wille das Ding an sich schlechthin und absolut; so wäre
auch dieses Nichts ein absolutes; statt daß es sich eben dort uns ausdrücklich
nur als ein relatives ergiebt. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille
und Vorstellung, 1818, S. 730).
Indem ich nun daran gehe, die, sowohl in unserm zweiten Buche,
als auch in der Schrift »Ueber den Willen in der Natur« (**)
gelieferte Begründung der Lehre, daß in sämmtlichen Erscheinungen
dieser Welt sich, auf verschiedenen Stufen, eben Das objektivirt, was
in der unmittelbarsten Erkenntniß sich als Wille kund giebt, noch
durch einige dahin gehörige Betrachtungen zu ergänzen, will
ich damit anfangen, eine Reihe psychologischer Thatsachen vorzuführen,
welche darthun, daß zunächst in unserm eigenen Bewußtseyn
der Wille stets als das Primäre und Fundamentale auftritt und durchaus
den Vorrang behauptet vor dem Intellekt, welcher sich dagegen durchweg
als das Sekundäre, Untergeordnete und Bedingte erweist. Diese Nachweisung
ist um so nöthiger, als alle mir vorhergegangenen Philosophen, vom
ersten bis zum letzten, das eigentliche Wesen, oder den Kern des Menschen
in das erkennende Bewußtseyn setzen, und demnach das Ich, oder bei
Vielen dessen transscendente Hypostase, genannt Seele, als zunächst
und wesentlich erkennend, ja denkend, und erst in Folge hievon, sekundärer
und abgeleiteter Weise, als wollend aufgefaßt und dargestellt haben.
Dieser uralte und ausnahmslose Grundirrthum, dieses enorme prôton
pseudos und fundamentale hysteron proteron ist, vor allen Dingen, zu beseitigen
und dagegen die naturgemäße Beschaffenheit der Sache zum völlig
deutlichen Bewußtseyn zu bringen. Da aber Dieses, nach Jahrtausenden
des Philosophirens, hier zum ersten Male geschieht, wird einige Ausführlichkeit
dabei an ihrer Stelle seyn. Das auffallende Phänomen,
daß in diesem grundwesentlichen Punkte alle Philosophen geirrt,
ja, die Wahrheit auf den Kopf gestellt haben, möchte, zumal bei denen
der Christlichen Jahrhunderte, zum Theil daraus zu erklären seyn,
daß sie sämmtlich die Absicht hatten, den Menschen als vom
Thiere möglichst weit verschieden darzustellen, dabei jedoch dunkel
fühlten, daß die Verschiedenheit Beider im Intellekt liegt,
nicht im Willen; woraus ihnen unbewußt die Neigung hervorgieng,
den Intellekt zum Wesentlichen und zur Hauptsache zu machen, ja, das Wollen
als eine bloße Funktion des Intellekts darzustellen. Daher
ist auch der Begriff einer Seele nicht nur, wie durch die Kritik der reinen
Vernunft feststeht, als transscendente Hypostase unstatthaft; sondern
er wird zur Quelle unheilbarer Irrthümer, dadurch, daß er,
in seiner »einfachen Substanz«, eine untheilbare Einheit der
Erkenntniß und des Willens vorweg feststellt, deren Trennung gerade
der Weg zur Wahrheit ist. Jener Begriff darf daher in der Philosophie
nicht mehr vorkommen, sondern ist den Deutschen Medicinern und Physiologen
zu überlassen, welche, nachdem sie Skalpel und Spatel weggelegt haben,
mit ihren bei der Konfirmation überkommenen Begriffen zu philosophiren
unternehmen. Sie mögen allenfalls ihr Glück damit in England
versuchen. Die französischen Physiologen und Zootomen haben sich
(bis vor Kurzem) von jenem Vorwurf durchaus frei gehalten. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 730-731).
Die
nächste, allen jenen Philosophen sehr unbequeme Folge ihres gemeinschaftlichen
Grundirrthums ist diese: da im Tode das erkennende Bewußtseyn augenfällig
untergeht; so müssen sie entweder den Tod als Vernichtung des Menschen gelten
lassen, wogegen unser Inneres sich auflehnt; oder sie müssen zu der Annahme
einer Fortdauer des erkennenden Bewußtseyns greifen, zu welcher ein starker
Glaube gehört, da Jedem seine eigene Erfahrung die durchgängige und
gänzliche Abhängigkeit des erkennenden Bewußtseyns vom Gehirn
sattsam bewiesen hat, und man eben so leicht eine Verdauung ohne Magen glauben
kann, wie ein erkennendes Bewußtseyn ohne Gehirn. Aus diesem Dilemma führt
allein meine Philosophie, als welche zuerst das eigentliche Wesen des Menschen
nicht in das Bewußtseyn, sondern in den Willen setzt, der nicht wesentlich
mit Bewußtseyn verbunden ist, sondern sich zum Bewußtseyn, d.h. zur
Erkenntniß, verhält wie Substanz zu Accidenz, wie ein Beleuchtetes
zum Licht, wie die Saite zum Resonanzboden, und der von innen in das Bewußtseyn
fällt, wie die Körperwelt von außen. Nunmehr können wir die
Unzerstörbarkeit dieses unsers eigentlichen Kerns und wahren Wesens fassen,
trotz dem offenbarten Untergehn des Bewußtseyns im Tode und dem entsprechenden
Nichtvorhandenseyn desselben vor der Geburt. Denn der Intellekt ist so vergänglich,
wie das Gehirn, dessen Produkt, oder vielmehr Aktion er ist. Das Gehirn aber ist,
wie der gesammte Organismus, Produkt, oder Erscheinung, kurz Sekundäres,
des Willens, welcher allein das Unvergängliche ist. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 732). Kapitel
19 (dieses Kapitel bezieht sich auf § 19 des 1. Bandes):
Vom Primat des Willens im Selbstbewußtseyn.
Der Wille, als das Ding an sich, macht das
innere, wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus: an sich selbst
ist er jedoch bewußtlos. Denn das Bewußtsein ist bedingt durch
den Intellekt, und dieser ist ein bloßes Accidenz unseres Wesens;
denn er ist eine Funktion des Gehirns, welches, nebst den ihm anhängigen
Nerven und Rückenmark, eine bloße Frucht, ein Produkt, ja insofern
ein Parasit des übrigen Organismus ist, als es nicht direkt eingreift
in dessen inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß
dadurch dient, daß es die Verhältnisse desselben zur Außenwelt
regulirt. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 732).
Der Organismus selbst hingegen ist die Sichtbarkeit, Objektität,
des individuellen Willens, das Bild desselben, wie es sich darstellt in
eben jenem Gehirn (welches wir, im ersten Buch, als die Bedingung der
objektiven Welt überhaupt, kennen gelernt haben), daher eben auch
vermittelt durch dessen Erkenntnißformen, Raum, Zeit und Kausalität,
folglich sich darstellend als ein Ausgedehntes, successiv Agirendes und
Materielles, d.h. Wirkendes. Sowohl direkt empfunden, als mittelst der
Sinne angeschaut werden die Glieder nur im Gehirn. Diesem zufolge
kann man sagen: der Intellekt ist das sekundäre Phänomen, der
Organismus das primäre, nämlich die unmittelbare Erscheinung
des Willens; der Wille ist metaphysisch, der Intellekt physisch;
der Intellekt ist, wie seine Objekte, bloße Erscheinung;
Ding an sich ist allein der Wille: sodann in einem mehr und mehr
bildlichen Sinne, mithin gleichnißweise: der Wille ist die Substanz
des Menschen, der Intellekt das Accidenz: der Wille ist die Materie,
der Intellekt die Form: der Wille ist die Wärme, der Intellekt
das Licht. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 732-733).
Nur mit Einem Worte will ich hier auf Dasjenige deuten, was im
folgenden Buche ausführlich erörtert wird, daß nämlich
die vollkommenste Erkenntniß, also die rein objektive, d.h. die
geniale Auffassung der Welt, bedingt ist durch ein so tiefes Schweigen
des Willens, daß, so lange sie anhält, sogar die Individualität
aus dem Bewußtsein verschwindet und der Mensch als reines Subjekt
des Erkennens, welches das Korrelat der Idee ist, übrig bleibt.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 750).
Selbst der Verstand der Thiere wird durch die Noth bedeutend gesteigert,
so daß sie in schwierigen Fällen Dinge leisten, über die
wir erstaunen: z.B. fast alle berechnen, daß es sicherer ist, nicht
zu fliehen, wann sie sich ungesehn glauben: daher liegt der Hase still
in der Furche des Feldes und läßt den Jäger dicht an sich
vorbeigehn; Insekten, wenn sie nicht entrinnen können, stellen sich
todt u.s.f.. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 752).
Wenn nun von einem Menschen gesagt wird: »er hat ein gutes
Herz, wiewohl einen schlechten Kopf«; von einem andern aber: »er
hat einen sehr guten Kopf, jedoch ein schlechtes Herz«; so fühlt
Jeder, daß beim Ersteren das Lob den Tadel weit überwiegt;
beim Andern umgekehrt. Dem entsprechend sehn wir, wenn Jemand eine schlechte
Handlung begangen hat, seine Freunde und ihn selbst bemüht, die Schuld
vom Willen auf den Intellekt zu wälzen und Fehler des Herzens für
Fehler des Kopfes auszugeben; schlechte Streiche werden sie Verirrungen
nennen, werden sagen, es sei bloßer Unverstand gewesen, Unüberlegtheit,
Leichtsinn, Thorheit; ja, sie werden zur Noth Paroxysmus, momentane Geistesstörung
und, wenn es ein schweres Verbrechen betrifft, sogar Wahnsinn vorschützen,
um nur den Willen von der Schuld zu befreien. Und eben so wir selbst,
wenn wir einen Unfall oder Schaden verursacht haben, werden, vor Andern
und vor uns selbst, sehr gern unsere stultitia anklagen, um nur
dem Vorwurf der malitia auszuweichen. Dem entsprechend ist, bei gleich
ungerechtem Urtheil des Richters, der Unterschied, ob er geirrt habe,
oder bestochen gewesen sei, so himmelweit. Alles dieses bezeugt genugsam,
daß der Wille allein das Wirkliche und das Wesentliche, der Kern
des Menschen ist, der Intellekt aber bloß sein Werkzeug, welches
immerhin fehlerhaft seyn mag, ohne daß er dabei betheiligt wäre.
Die Anklage des Unverstandes ist, vor dem moralischen Richterstuhle, ganz
und gar keine; vielmehr giebt sie hier sogar Privilegien. Und eben so
vor den weltlichen Gerichten ist es, um einen Verbrecher von aller Strafe
zu befreien, überall hinreichend, daß man die Schuld von seinem
Willen auf seinen Intellekt wälze, indem man entweder unvermeidlichen
Irrthum, oder Geistesstörung nachweist: denn da hat es nicht mehr
auf sich, als wenn Hand oder Fuß wider Willen ausgeglitten wären.
Dies habe ich ausführlich erörtert in dem meiner Preisschrift
über die Freiheit des Willens beigegebenen Anhang »über
die intellektuelle Freiheit«, wohin ich, um mich nicht zu wiederholen,
hier verweise. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 760-761).
Ueberall berufen sich Die, welche irgend eine Leistung zu Tage
fördern, im Fall solche ungenügend ausfällt, auf ihren
guten Willen, an dem es nicht gefehlt habe. Hiedurch glauben sie das Wesentliche,
das, wofür sie eigentlich verantwortlich sind, und ihr eigentliches
Selbstsicher zu stellen: das Unzureichende der Fähigkeiten hingegen
sehn sie an als den Mangel an einem tauglichen Werkzeug. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 761).
Ist Einer dumm, so entschuldigt man ihn damit, daß
er nicht dafür kann: aber wollte man Den, der schlecht ist, eben
damit entschuldigen; so würde man ausgelacht werden. Und doch ist
das Eine, wie das Andere, angeboren. Dies beweist, daß der Wille
der eigentliche Mensch ist, der Intellekt bloß sein Werkzeug.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 761).
Immer also ist es nur unser Wollen was als von uns abhängig,
d.h. als Aeußerung unsers eigentlichen Wesens betrachtet wird und
wofür man uns daher verantwortlich macht. Dieserhalb eben ist es
absurd und ungerecht, wenn man uns für unsern Glauben, also für
unsere Erkenntniß, zur Rede stellen will: denn wir sind genöthigt
diese, obschon sie in uns waltet, anzusehn als etwas, das so wenig in
unserer Gewalt steht, wie die Vorgänge der Außenwelt. Auch
hieran also wird deutlich, daß der Wille allein das Innere und Eigene
des Menschen ist, der Intellekt hingegen, mit seinen, gesetzmäßig
wie die Außenwelt vor sich gehenden Operationen, zu jenem sich als
ein Aeußeres, ein bloßes Werkzeug verhält. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 761).
Hohe Geistesgaben hat man allezeit angesehn als ein Geschenk der
Natur, oder der Götter: eben deshalb hat man sie Gaben, Begabung,
ingenii dotes, gifts (a man highly gifted) genannt, sie betrachtend als
etwas vom Menschen selbst Verschiedenes, ihm durch Begünstigung Zugefallenes.
Nie hingegen hat man es mit den moralischen Vorzügen, obwohl auch
sie angeboren sind, eben so genommen: vielmehr hat man diese stets angesehn
als etwas vom Menschen selbst Ausgehendes, ihm wesentlich Angehöriges,
ja, sein eigenes Selbst Ausmachendes. Hieraus nun folgt abermals, daß
der Wille das eigentliche Wesen des Menschen ist, der Intellekt hingegen
sekundär, ein Werkzeug, eine Ausstattung. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 761-762).
Diesem entsprechend verheißen alle Religionen für die
Vorzüge des Willens, oder Herzens, einen Lohn jenseit des Lebens,
in der Ewigkeit; keine aber für die Vorzüge des Kopfes, des
Verstandes. Die Tugend erwartet ihren Lohn in jener Welt; die Klugheit
hofft ihn in dieser; das Genie weder in dieser, noch in jener: es ist
sein eigener Lohn. Demnach ist der Wille der ewige Theil, der Intellekt
der zeitliche. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 762).
Verbindung, Gemeinschaft, Umgang zwischen Menschen, gründet
sich, in der Regel, auf Verhältnisse, die den Willen, selten auf
solche, die den Intellekt betreffen: die erstere Art der Gemeinschaft
kann man die materiale, die andere die formale nennen. Jener Art sind
die Bande der Familie und Verwandtschaft, ferner alle auf irgend einem
gemeinschaftlichen Zwecke, oder Interesse, wie das des Gewerbes, Standes,
der Korporation, Partei, Faktion u.s.w. beruhenden Verbindungen. Bei diesen
nämlich kommt es bloß auf die Gesinnung, die Absicht an; wobei
die größte Verschiedenheit der intellektuellen Fähigkeiten
und ihrer Ausbildung bestehn kann. Daher kann Jeder mit Jedem nicht nur
in Frieden und Einigkeit leben, sondern auch zum gemeinsamen Wohl Beider
mit ihm zusammen wirken und ihm verbündet seyn. Auch die Ehe ist
ein Bund der Herzen, nicht der Köpfe. Anders aber verhält es
sich mit der bloß formalen Gemeinschaft, als welche nur Gedankenaustausch
bezweckt: diese verlangt eine gewisse Gleichheit der intellektuellen Fähigkeiten
und der Bildung. Große Unterschiede hierin setzen zwischen Mensch
und Mensch eine unübersteigbare Kluft: eine solche liegt z.B. zwischen
einem großen Geist und einem Dummkopf, zwischen einem Gelehrten
und einem Bauern, zwischen einem Hofmann und einem Matrosen. Dergleichen
heterogene Wesen haben daher Mühe sich zu verständigen, so lange
es auf die Mittheilung von Gedanken, Vorstellungen und Ansichten ankommt.
Nichtsdestoweniger kann enge materiale Freundschaft zwischen ihnen Statt
finden, und sie können treue Verbündete, Verschworene und Verpflichtete
seyn. Denn in Allem was allein den Willen betrifft, wohin Freundschaft,
Feindschaft, Redlichkeit, Treue, Falschheit, und Verrath gehört,
sind sie völlig homogen, aus dem selben Teig geformt, und weder Geist
noch Bildung machen darin einen Unterschied: ja, oft beschämt hier
der Rohe den Gelehrten, der Matrose den Hofmann. Denn bei den verschiedensten
Graden der Bildung bestehn die selben Tugenden und Laster, Affekte und
Leidenschaften, und, wenn auch in ihren Aeußerungen etwas modificirt,
erkennen sie sich doch, selbst in den heterogensten Individuen sehr bald
gegenseitig, wonach die gleichgesinnten zusammentreten, die entgegengesetzten
sich anfeinden. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 762-763).
Glänzende Eigenschaften des Geistes erwerben Bewunderung,
aber nicht Zuneigung: diese bleibt den moralischen, den Eigenschaften
des Charakters, vorbehalten. Zu seinem Freunde wird wohl Jeder lieber
den Redlichen, den Gutmüthigen, ja selbst den Gefälligen, Nachgiebigen
und leicht Beistimmenden wählen, als den bloß Geistreichen.
Vor Diesem wird sogar durch unbedeutende, zufällige, äußere
Eigenschaften, welche gerade der Neigung eines Andern entsprechen, Mancher
den Vorzug gewinnen. Nur wer selbst viel Geist hat, wird den Geistreichen
zu seiner Gesellschaft wünschen; seine Freundschaft hingegen wird
sich nach den moralischen Eigenschaften richten: denn auf diesen
beruht seine eigentliche Hochschätzung eines Menschen, in welcher
ein einziger guter Charakterzug große Mängel des Verstandes
bedeckt und auslischt. Die erkannte Güte eines Charakters macht uns
geduldig und nachgiebig gegen Schwächen des Verstandes, wie auch
gegen die Stumpfheit und das kindische Wesen des Alters. Ein entschieden
edler Charakter, bei gänzlichem Mangel intellektueller Vorzüge
und Bildung, steht da, wie Einer, dem nichts abgeht; hingegen wird der
größte Geist, wenn mit starken moralischen Fehlern behaftet,
noch immer tadelhaft erscheinen. Denn wie Fackeln und Feuerwerk
vor der Sonne blaß und unscheinbar werden, so wird Geist, ja Genie,
und ebenfalls die Schönheit, überstrahlt und verdunkelt von
der Güte des Herzens. Wo diese in hohem Grade hervortritt, kann sie
den Mangel jener Eigenschaften so sehr ersetzen, daß man solche
vermißt zu haben sich schämt. Sogar der beschränkteste
Verstand, wie auch die grotteske Häßlichkeit, werden, sobald
die ungemeine Güte des Herzens sich in ihrer Begleitung kund gethan,
gleichsam verklärt, umstrahlt von einer Schönheit höherer
Art, indem jetzt aus ihnen eine Weisheit spricht, vor der jede andere
verstummen muß. Denn die Güte des Herzens ist eine transscendente
Eigenschaft, gehört einer über dieses Leben hinausreichenden
Ordnung der Dinge an und ist mit jeder andern Vollkommenheit inkommensurabel.
Wo sie in hohem Grade vorhanden ist, macht sie das Herz so groß,
daß es die Welt umfaßt, so daß jetzt Alles in ihm, nichts
mehr außerhalb liegt; da sie ja alle Wesen mit dem eigenen identificirt.
Alsdann verleiht sie auch gegen Andre jene gränzenlose Nachsicht,
die sonst Jeder nur sich selber widerfahren läßt. Ein solcher
Mensch ist nicht fähig, sich zu erzürnen: sogar wenn etwan seine
eigenen, intellektuellen oder körperlichen Fehler den boshaften Spott
und Hohn Anderer hervorgerufen haben, wirft er, in seinem Herzen, nur
sich selber vor, zu solchen Aeußerungen der Anlaß gewesen
zu seyn, und fährt daher, ohne sich Zwang anzuthun, fort, Jene auf
das liebreichste zu behandeln, zuversichtlich hoffend, daß sie von
ihrem Irrthum hinsichtlich seiner zurückkommen und auch in ihm sich
selber wiedererkennen werden. Was ist dagegen Witz und Genie? was
Bako von Verulam? (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 763-764).
Auf das selbe Ergebniß, welches wir hier aus der Betrachtung
unserer Schätzung Anderer erhalten haben, führt auch die der
Schätzung des eigenen Selbst. Wie ist doch die in moralischer Hinsicht
eintretende Selbstzufriedenheit so grundverschieden von der in intellektualer
Hinsicht! Die erstere entsteht, indem wir, beim Rückblick auf unsern
Wandel, sehn, daß wir mit schweren Opfern Treue und Redlichkeit
geübt, daß wir Manchem geholfen. Manchem verziehen haben, besser
gegen Andere gewesen sind, als diese gegen uns, so daß wir mit König
Lear sagen dürfen: »Ich bin ein Mann, gegen den mehr gesündigt
worden, als er gesündigt hat«; und vollends wenn vielleicht
gar irgend eine edle That in unserer Rückerinnerung glänzt!
Ein tiefer Ernst wird die stille Freude begleiten, die eine solche Musterung
uns giebt: und wenn wir dabei Andere gegen uns zurückstehn sehn;
so wird uns dies in keinen Jubel versetzen, vielmehr werden wir es bedauern
und werden aufrichtig wünschen, sie wären alle wie wir.
Wie ganz anders wirkt hingegen die Erkenntniß unserer intellektuellen
Ueberlegenheit! Ihr Grundbaß ist ganz eigentlich der oben angeführte
Ausspruch des Hobbes: Omnis animi voluptas, omnisque alacritas in eo
sita est, quod quis habeat, quibuscum conferens se, possit magnifice sentire
de se ipso. Uebermüthige, triumphirende Eitelkeit, stolzes, höhnisches
Herabsehn auf Andere, wonnevoller Kitzel des Bewußtseins entschiedener
und bedeutender Ueberlegenheit, dem Stolz auf körperliche Vorzüge
verwandt, das ist hier das Ergebniß. Dieser Gegensatz
zwischen beiden Arten der Selbstzufriedenheit zeigt an, daß die
eine unser wahres, inneres und ewiges Wesen, die andere einen mehr äußerlichen,
nur zeitlichen, ja fast nur körperlichen Vorzug betrifft. Ist doch
in der That der Intellekt die bloße Funktion des Gehirns, der Wille
hingegen Das, dessen Funktion der ganze Mensch, seinem Seyn und Wesen
nach, ist. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 764).
Erwägen wir, nach außen blickend, daß h
bioV bracuV, h de tecnh makra (vita brevis, ars longa), und
betrachten, wie die größten und schönsten Geister, oft
wann sie kaum den Gipfel ihrer Leistungsfähigkeit erreicht haben,
imgleichen große Gelehrte, wann sie eben erst zu einer gründlichen
Einsicht ihrer Wissenschaft gelangt sind, vom Tode hinweggerafft werden;
so bestätigt uns auch Dieses, daß der Sinn und Zweck des Lebens
kein intellektualer, sondern ein moralischer ist. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 764-765).
Der durchgreifende Unterschied zwischen den geistigen und den
moralischen Eigenschaften giebt sich endlich auch dadurch zu erkennen,
daß der Intellekt höchst bedeutende Veränderungen durch
die Zeit erleidet, während der Wille und Charakter von dieser unberührt
bleibt. Das Neugeborene hat noch gar keinen Gebrauch seines Verstandes,
erlangt ihn jedoch, innerhalb der ersten zwei Monate, bis zur Anschauung
und Apprehension der Dinge in der Außenwelt; welchen Vorgang ich
in der Abhandlung »Ueber das Sehn und die Farben«, S. 10 der
zweiten Auflage, näher dargelegt habe. Diesem ersten und wichtigsten
Schritte folgt viel langsamer, nämlich meistens erst im dritten Jahre,
die Ausbildung der Vernunft, bis zur Sprache und dadurch zum Denken. Dennoch
bleibt die frühe Kindheit unwiderruflich der Albernheit und Dummheit
preisgegeben: zunächst weil dem Gehirn noch die physische Vollendung
fehlt, welche es, sowohl seiner Größe als seiner Textur nach,
erst im siebenten Jahre erreicht. Sodann aber ist zu seiner energischen
Thätigkeit noch der Antagonismus des Genitalsystems erfordert; daher
jene erst mit der Pubertät anfängt. Durch dieselbe aber hat
alsdann der Intellekt erst die bloße Fähigkeit zu seiner psychischen
Ausbildung erlangt: diese selbst kann allein durch Uebung, Erfahrung und
Belehrung gewonnen werden. Sobald daher der Geist sich der kindischen
Albernheit entwunden hat, geräth er in die Schlingen zahlloser Irrthümer,
Vorurtheile, Chimären, mitunter von der absurdesten und krassesten
Art, die er eigensinnig festhält, bis die Erfahrung sie ihm nach
und nach entwindet, manche auch unvermerkt abhanden kommen: dieses Alles
geschieht erst im Lauf vieler Jahre; so daß man ihm zwar die Mündigkeit
bald nach dem zwanzigsten Jahre zugesteht, die vollkommene Reife jedoch
erst ins vierzigste Jahr, das Schwabenalter, versetzt hat. Allein während
diese psychische, auf Hülfe von außen beruhende Ausbildung
noch im Wachsen ist, fängt die innere physische Energie des
Gehirns bereits an wieder zu sinken. Diese nämlich hat, vermöge
ihrer Abhängigkeit vom Blutandrang und der Einwirkung des Pulsschlages
auf das Gehirn, und dadurch wieder vom Uebergewicht des arteriellen Systems
über das venöse, wie auch von der frischen Zartheit der Gehirnfasern,
zudem auch durch die Energie des Genitalsystems, ihren eigentlichen Kulminationspunkt
um das dreißigste Jahr: schon nach dem fünfunddreißigsten
wird eine leise Abnahme derselben merklich, die durch das allmälig
herankommende Uebergewicht des venösen Systems über das arterielle,
wie auch durch die immer fester und spröder werdende Konsistenz der
Gehirnfasern, mehr und mehr eintritt und viel merklicher sein würde,
wenn nicht andererseits die psychische Vervollkommnung, durch Uebung,
Erfahrung, Zuwachs der Kenntnisse und erlangte Fertigkeit im Handhaben
derselben, ihr entgegenwirkte; welcher Antagonismus glücklicherweise
bis ins späte Alter fortdauert, indem mehr und mehr das Gehirn einem
ausgespielten Instrumente zu vergleichen ist. Aber dennoch schreitet die
Abnahme der ursprünglichen, ganz auf organischen Bedingungen beruhenden
Energie des Intellekts zwar langsam, aber unaufhaltsam weiter: das Vermögen
ursprünglicher Konception, die Phantasie, die Bildsamkeit, das Gedächtniß,
werden merklich schwächer, und so geht es Schritt vor Schritt abwärts,
bis hinab in das geschwätzige, gedächtnißlose, halb bewußtlose,
endlich ganz kindische Alter. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 765-766).
Der Wille hingegen wird von allem diesem Werden, Wechsel und Wandel
nicht mitgetroffen, sondern ist, vom Anfang bis zum Ende, unveränderlich
der selbe. Das Wollen braucht nicht, wie das Erkennen, erlernt zu werden,
sondern geht sogleich vollkommen von Statten. Das Neugeborene bewegt sich
ungestüm, tobt und schreit: es will auf das heftigste; obschon es
noch nicht weiß, was es will. Denn das Medium der Motive, der Intellekt,
ist noch ganz unentwickelt: der Wille ist über die Außenwelt,
wo seine Gegenstände liegen, im Dunkeln, und tobt jetzt wie ein Gefangener
gegen die Wände und Gitter seines Kerkers. Doch allmälig wird
es Licht: alsbald geben die Grundzüge des allgemeinen menschlichen
Wollens und zugleich die hier vorhandene individuelle Modifikation derselben
sich kund. Der schon hervortretende Charakter zeigt sich zwar erst in
schwachen und schwankenden Zügen, wegen der mangelhaften Dienstleistung
des Intellekts, der ihm die Motive vorzuhalten hat; aber für den
aufmerksamen Beobachter kündigt er bald seine vollständige Gegenwart
an, und in Kurzem wird sie unverkennbar. Die Charakterzüge treten
hervor, welche für das ganze Leben bleibend sind: die Hauptrichtungen
des Willens, die leicht erregbaren Affekte, die vorherrschende Leidenschaft,
sprechen sich aus. Daher verhalten die Vorfälle in der Schule sich
zu denen des künftigen Lebenslaufes meistens wie das stumme Vorspiel,
welches dem im Hamlet bei Hofe aufzuführenden Drama vorhergeht und
dessen Inhalt pantomimisch verkündet, zu diesem selbst. Keineswegs
aber lassen sich eben so aus den im Knaben sich zeigenden intellektuellen
Fähigkeiten die künftigen prognosticiren: vielmehr werden die
ingenia praecocia, die Wunderkinder, in der Regel Flachköpfe; das
Genie hingegen ist in der Kindheit oft von langsamen Begriffen und faßt
schwer, eben weil es tief faßt. Diesem entspricht es, daß
Jeder lachend und ohne Rückhalt die Albernheiten und Dummheiten seiner
Kindheit erzählt, z.B. Goethe, wie er alles Kochgeschirr zum Fenster
hinausgeworfen (Dichtung und Wahrheit, Bd. 1, S. 7): denn man weiß,
daß alles Dieses nur das Veränderliche betrifft. Hingegen die
schlechten Züge, die boshaften und hinterlistigen Streiche seiner
Jugend wird ein kluger Mann nicht zum Besten geben: denn er fühlt,
daß sie auch von seinem gegenwärtigen Charakter noch Zeugniß
ablegen. Man hat mir erzählt, daß der Kranioskop und Menschenforscher
Gall, wann er mit einem ihm noch unbekannten Mann in Verbindung zu treten
hatte, diesen auf seine Jugendjahre und Jugendstreiche zu sprechen brachte,
um, wo möglich, daraus die Züge seines Charakters ihm abzulauschen;
weil dieser auch jetzt noch der selbe seyn mußte. Eben hierauf beruht
es, daß, während wir auf die Thorheiten und den Unverstand
unserer Jugendjahre gleichgültig, ja mit lächelndem Wohlgefallen
zurücksehn, die schlechten Charakterzüge eben jener Zeit, die
damals begangenen Bosheiten und Frevel, selbst im späten Alter als
unauslöschliche Vorwürfe dastehn und unser Gewissen beängstigen.
Wie nun also der Charakter sich fertig einstellt, so bleibt er
auch bis ins späte Alter unverändert. Der Angriff des Alters,
welcher die intellektuellen Kräfte allmälig verzehrt, läßt
die moralischen Eigenschaften unberührt. Die Güte des Herzens
macht den Greis noch verehrt und geliebt, wann sein Kopf schon die Schwächen
zeigt, die ihn dem Kindesalter wieder zu nähern anfangen. Sanftmuth,
Geduld, Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, Uneigennützigkeit, Menschenfreundlichkeit
u.s.w. erhalten sich durch das ganze Leben und gehn nicht durch Altersschwäche
verloren: in jedem hellen Augenblick des abgelebten Greises treten sie
unvermindert hervor, wie die Sonne aus Winterwolken. Und andererseits
bleibt Bosheit, Tücke, Habsucht, Hartherzigkeit, Falschheit, Egoismus
und Schlechtigkeit jeder Art auch bis ins späteste Alter unvermindert.
Wir würden Dem nicht: glauben, sondern ihn auslachen, der uns sagte:
»In frühem Jahren war ich ein boshafter Schurke, jetzt aber
bin ich ein redlicher und edelmüthiger Mann.« Recht schön
hat daher Walter Scott in Nigels fortunes am alten Wucherer gezeigt, wie
brennender Geiz, Egoismus und Unredlichkeit noch in voller Blüthe
stehn, gleich den Giftpflanzen im Herbst, und sich noch heftig äußern,
nachdem der Intellekt schon kindisch geworden. Die einzigen Veränderungen,
welche in unsern Neigungen vorgehn, sind solche, welche unmittelbare Folgen
der Abnahme unserer Körperkräfte und damit der Fähigkeiten
zum Genießen sind: so wird die Wollust der Völlerei Platz machen,
die Prachtliebe dem Geiz, und die Eitelkeit der Ehrsucht; eben wie der
Mann, welcher, ehe er noch einen Bart hatte, einen falschen anklebte,
späterhin seinen grau gewordenen Bart braun färben wird. Während
also alle organischen Kräfte, die Muskelstärke, die Sinne, das
Gedächtniß, Witz, Verstand, Genie, sich abnutzen und im Alter
stumpf werden, bleibt der Wille allein unversehrt und unverändert:
der Drang und die Richtung des Wollens bleibt die selbe. Ja, in manchen
Stücken zeigt sich im Alter der Wille noch entschiedener: so, in
der Anhänglichkeit am Leben, welche bekanntlich zunimmt; sodann in
der Festigkeit und Beharrlichkeit bei Dem, was er ein Mal ergriffen hat,
im Eigensinn; welches daraus erklärlich ist, daß die Empfänglichkeit
des Intellekts für andere Eindrücke und dadurch die Beweglichkeit
des Willens durch hinzuströhmende Motive abgenommen hat: daher die
Unversöhnlichkeit des Zorns und Hasses alter Leute: The young
man's wrath is like light straw on fire; // But like red-hot steel is
the old man's ire. (Old Ballad). (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 766-768).
Aus allen diesen Betrachtungen wird es dem tiefern Blicke unverkennbar,
daß, während der Intellekt eine lange Reihe allmäliger
Entwickelungen zu durchlaufen hat, dann aber, wie alles Physische, dem
Verfall entgegengeht, der Wille hieran keinen Theil nimmt, als nur sofern
er Anfangs mit der Unvollkommenheit seines Werkzeuges, des Intellekts,
und zuletzt wieder mit dessen Abgenutztheit zu kämpfen hat, selbst
aber als ein Fertiges auftritt und unverändert bleibt, den Gesetzen
der Zeit und des Werdens und Vergehns in ihr nicht unterworfen. Hiedurch
also giebt er sich als das Metaphysische, nicht selbst der Erscheinungswelt
Angehörige, zu erkennen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 768).
Ganz speciell aber heißen Liebeshändel Herzensangelegenheiten,
affaires de coeur; weil der Geschlechtstrieb der Brennpunkt des
Willens ist und die Auswahl in Bezug auf denselben die Hauptangelegenheit
des natürlichen menschlichen Wollens ausmacht, wovon ich den Grund
in einem ausführlichen Kapitel zum vierten Buche nachweisen werde.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 769).
10) Worauf beruht die Identität der Person?
Nicht auf der Materie des Leibes: sie ist nach wenigen Jahren eine andere.
Nicht auf der Form desselben: sie ändert sich im Ganzen und in allen
Theilen; bis auf den Ausdruck des Blickes, an welchem man daher auch nach
vielen Jahren einen Menschen noch erkennt; welches beweist, daß
trotz allen Veränderungen, die an ihm die Zeit hervorbringt, doch
etwas in ihm davon völlig unberührt bleibt: es ist eben Dieses,
woran wir, auch nach dem längsten Zwischenraume, ihn wiedererkennen
und den Ehemaligen unversehrt wiederfinden; eben so auch uns selbst: denn
wenn man auch noch so alt wird; so fühlt man doch im Innern sich
ganz und gar als den selben, der man war, als man jung, ja, als man noch
ein Kind war. Dieses, was unverändert stets ganz das Selbe bleibt
und nicht mitaltert, ist eben der Kern unsers Wesens, welcher nicht in
der Zeit liegt. Man nimmt an, die Identität der Person beruhe
auf der des Bewußtseyns. Versteht man aber unter dieser bloß
die zusammenhängende Erinnerung des Lebenslaufs; so ist sie nicht
ausreichend. Wir wissen von unserm Lebenslauf allenfalls etwas mehr, als
von einem ehemals gelesenen Roman; dennoch nur das Allerwenigste. Die
Hauptbegebenheiten, die interessanten Scenen haben sich eingeprägt:
im Uebrigen sind tausend Vorgänge vergessen, gegen einen, der behalten
worden. Je älter wir werden, desto spurloser geht Alles vorüber.
Hohes Alter, Krankheit, Gehirnverletzung, Wahnsinn, können das Gedächtniß
ganz rauben. Aber die Identität der Person ist damit nicht verlorengegangen. Sie beruht auf dem identischen Willen und dem unveränderlichen
Charakter desselben. Er eben auch ist es, der den Ausdruck des Blicks
unveränderlich macht. Im Herzen steckt der Mensch; nicht im
Kopf. Zwar sind wir, in Folge unserer Relation mit der Außenwelt,
gewohnt, als unser eigentliches Selbst das Subjekt des Erkennens, das
erkennende Ich, zu betrachten, welches am Abend ermattet, im Schlafe verschwindet,
am Morgen mit erneuerten Kräften heller strahlt. Dieses ist jedoch
die bloße Gehirnfunktion und nicht unser eigenstes Selbst. Unser
wahres Selbst, der Kern unsers Wesens, ist Das, was hinter jenem steckt
und eigentlich nichts Anderes kennt, als wollen und nichtwollen, zufrieden
und unzufrieden seyn, mit allen Modifikationen der Sache, die man Gefühle,
Affekte und Leidenschaften nennt. Dies ist Das, was jenes Andere hervorbringt;
nicht mitschläft, wann jenes schläft, und eben so, wann dasselbe
im Tode untergeht, unversehrt bleibt. Alles hingegen, was der Erkenntniß
angehört, ist der Vergessenheit ausgesetzt: selbst die Handlungen
von moralischer Bedeutsamkeit sind uns, nach Jahren, bisweilen nicht vollkommen
erinnerlich, und wir wissen nicht mehr genau und ins Einzelne, wie wir
in einem kritischen Fall gehandelt haben. Aber der Charakter selbst, von
dem die Thaten bloß Zeugniß ablegen, kann von uns nicht vergessen
werden: er ist jetzt noch ganz der selbe, wie damals. Der Wille selbst,
allein und für sich, beharrt: denn er allein ist unveränderlich,
unzerstörbar, nicht alternd, nicht physisch, sondern metaphysisch,
nicht zur Erscheinung gehörig, sondern das Erscheinende selbst. Wie
auf ihm auch die Identität des Bewußtseins, so weit sie geht,
beruht, habe ich oben, Kapitel 15 (**),
nachgewiesen, brauche mich also hier nicht weiter damit aufzuhalten
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 770-771).
11) Aristoteles sagt beiläufig, im Buch über
die Vergleichung des Wünschenswerthen: »gut leben ist besser
als leben« (beltion tou zhn to eu zhn,
Top. III, 2). Hieraus ließe sich, mittelst zweimaliger Kontraposition,
folgern: nicht leben ist besser als schlecht leben. Dies ist dem Intellekt
auch einleuchtend: dennoch leben die Allermeisten sehr schlecht, lieber
als gar nicht. Diese Anhänglichkeit an das Leben kann also nicht
im Objekt derselben ihren Grund haben, da das Leben, wie im vierten Buche
gezeigt worden, eigentlich ein stetes Leiden, oder wenigstens, wie weiter
unten, Kapitel 28 (**)
dargethan wird, ein Geschäft ist, welches die Kosten nicht deckt:
also kann jene Anhänglichkeit nur im Subjekt derselben gegründet
seyn. Sie ist aber nicht im Intellekt gegründet, ist keine
Folge der Ueberlegung, und überhaupt keine Sache der Wahl; sondern
dies Lebenwollen ist etwas, das sich von selbst versteht: es ist ein prius
des Intellekts selbst. Wir selbst sind der Wille zum Leben: daher müssen
wir leben, gut oder schlecht. Nur daraus, daß diese Anhänglichkeit
an ein Leben, welches ihrer so wenig werth ist, ganz a priori und
nicht a posteriori ist, erklärt sich die allem Lebenden einwohnende,
überschwängliche Todesfurcht, welche Rochefoucauld mit seltener
Freimüthigkeit und Naivetät, in seiner letzten Reflexion, ausgesprochen
hat, und auf der auch die Wirksamkeit aller Trauerspiele und Heldenthaten
zuletzt beruht, als welche wegfallen würde, wenn wir das Leben nur
nach seinem objektiven Werthe schätzten. Auf diesen unaussprechlichen
horror mortis gründet sich auch der Lieblingssatz aller gewöhnlichen
Köpfe, daß wer sich das Leben nimmt verrückt seyn müsse,
nicht weniger jedoch das mit einer gewissen Bewunderung verknüpfte
Erstaunen, welches diese Handlung, selbst in denkenden Köpfen, jedesmal
hervorruft, weil dieselbe der Natur alles Lebenden so sehr entgegenläuft,
daß wir Den, welcher sie zu vollbringen vermochte, in gewissem Sinne
bewundern müssen, ja sogar eine gewisse Beruhigung darin finden,
daß, auf die schlimmsten Fälle, dieser Ausweg wirklich offen
steht, als woran wir zweifeln könnten, wenn es nicht die Erfahrung
bestätigte. Denn der Selbstmord geht von einem Beschlüsse des
Intellekts aus: unser Lebenwollen aber ist ein prius des Intellekts.
Auch diese Betrachtung also, welche Kapitel 28 (**)
ausführlich zur Sprache kommt, bestätigt das Primat des Willens
im Selbstbewußtsein. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als
Wille und Vorstellung, 1818, S. 771-772).
12) Hingegen beweist nichts deutlicher die sekundäre, abhängige,
bedingte Natur des Intellekts, als seine periodische Intermittenz.
Im tiefen Schlaf hört alles Erkennen und Vorstellen gänzlich
auf. Allein der Kern unsers Wesens, das Metaphysische desselben, welches
die organischen Funktionen als ihr primum mobile nothwendig voraussetzen,
darf nie pausiren, wenn nicht das Leben aufhören soll, und ist auch,
als ein Metaphysisches, mithin Unkörperliches, keiner Ruhe bedürftig.
Daher haben die Philosophen, welche als diesen metaphysischen Kern eine
Seele, d.h. ein ursprünglich und wesentlich erkennendes Wesen
aufstellten, sich zu der Behauptung genöthigt gesehn, daß diese
Seele in ihrem Vorstellen und Erkennen ganz unermüdlich sei, solches
mithin auch im tiefsten Schlafe fortsetze; nur daß uns, nach dem
Erwachen, keine Erinnerung davon bliebe. Das Falsche dieser Behauptung
einzusehn wurde aber leicht, sobald man, in Folge der Lehre Kants,
jene Seele bei Seite gesetzt hatte. Denn Schlaf und Erwachen zeigen
dem unbefangenen Sinn auf das deutlichste, daß das Erkennen eine
sekundäre und durch den Organismus bedingte Funktion ist, so gut
wie irgend eine andere. Unermüdlich ist allein das Herz; weil
sein Schlag und der Blutumlauf nicht unmittelbar durch Nerven bedingt,
sondern eben die ursprüngliche Aeußerung des Willens sind.
Auch alle andern, bloß durch Gangliennerven, die nur eine sehr mittelbare
und entfernte Verbindung mit dem Gehirn haben, gelenkte, physiologische
Funktionen werden im Schlafe fortgesetzt, wiewohl die Sekretionen langsamer
geschehn: selbst der Herzschlag wird, wegen seiner Abhängigkeit von
der Respiration, als welche durch das Cerebralsystem (medulla oblongata)
bedingt ist, mit dieser ein wenig langsamer. Der Magen ist vielleicht
im Schlaf am thätigsten, welches seinem speciellen, gegenseitige
Störungen veranlassenden Consensus mit dem jetzt feiernden Gehirn
zuzuschreiben ist. Das Gehirn allein, und mit ihm das Erkennen,
pausirt im tiefen Schlafe ganz. Denn es ist bloß das Ministerium
des Aeußern, wie das Gangliensystem das Ministerium des Innern ist.
Das Gehirn, mit seiner Funktion des Erkennens, ist nichts weiter, als
eine vom Willen, zu seinen draußen liegenden Zwecken, aufgestellte
Vedette, welche oben, auf der Warte des Kopfes, durch die Fenster
der Sinne umherschaut, aufpaßt, von wo Unheil drohe und wo Nutzen
abzusehn sei, und nach deren Bericht der Wille sich entscheidet. Diese
Vedette ist dabei, wie jeder im aktiven Dienst Begriffene, in einem
Zustande der Spannung und Anstrengung, daher sie es gern sieht, wenn sie,
nach verrichteter Wacht, wieder eingezogen wird; wie jede Wache gern wieder
vom Posten abzieht. Dies Abziehn ist das Einschlafen, welches daher so
süß und angenehm ist und zu welchem wir so willfährig
sind: hingegen ist das Aufgerütteltwerden unwillkommen, weil es die
Vedette plötzlich wieder auf den Posten ruft: man fühlt
dabei ordentlich die nach der wohlthätigen Systole wieder eintretende
beschwerliche Diastole, das Wiederauseinanderfahren des Intellekts vom
Willen. Einer sogenannten Seele, die ursprünglich und von Hause aus
ein erkennendes Wesen wäre, müßte, im Gegentheil,
beim Erwachen zu Muthe seyn, wie dem Fisch, der wieder ins Wasser kommt.
Im Schlafe, wo bloß das vegetative Leben fortgesetzt wird, wirkt
der Wille allein nach seiner ursprünglichen und wesentlichen Natur,
ungestört von außen, ohne Abzug seiner Kraft durch die Thätigkeit
des Gehirns und Anstrengung des Erkennens, welches die schwerste organische
Funktion, für den Organismus aber bloß Mittel, nicht Zweck
ist: daher ist im Schlafe die ganze Kraft des Willens auf Erhaltung und,
wo es nöthig ist, Ausbesserung des Organismus gerichtet; weshalb
alle Heilung, alle wohlthätigen Krisen, im Schlaf erfolgen; indem
die vis naturae medicatrix erst dann freies Spiel hat, wann sie
von der Last der Erkenntnißfunktion befreit ist. Der Embryo, welcher
gar erst den Leib noch zu bilden hat, schläft daher fortwährend
und das Neugeborene den größten Theil seiner Zeit. In diesem
Sinne erklärt auch Burdach (Physiologie, Bd. 3, S. 484) ganz
richtig den Schlaf für den ursprünglichen Zustand. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 772-773).
Das Bedürfniß des Schlafes steht demgemäß
in geradem Verhältniß zur Intensität des Gehirnlebens,
also zur Klarheit des Bewußtseyns. Solche Thiere, deren Gehirnleben
schwach und dumpf ist, schlafen wenig und leicht, z.B. Reptilien und Fische:
wobei ich erinnere, daß der Winterschlaf fast nur dem Namen nach
ein Schlaf ist, nämlich nicht eine Inaktion des Gehirns allein, sondern
des ganzen Organismus, also eine Art Scheintod. Thiere von bedeutender
Intelligenz schlafen tief und lange. Auch Menschen bedürfen um so
mehr Schlaf, je entwickelter, der Quantität und Qualität nach,
und je thätiger ihr Gehirn ist. Montaigne erzählt von sich,
daß er stets ein Langschläfer gewesen, einen großen Theil
seines Lebens verschlafen habe und noch im hohem Alter acht bis neun Stunden
in Einem Zuge schlafe (Liv. III, ch. 13). Auch von Cartesius wird
uns berichtet, daß er viel geschlafen habe (Baillet, Vie de Descartes,
1693, p. 288). Kant hatte sich zum Schlaf sieben Stunden ausgesetzt: aber
damit auszukommen wurde ihm so schwer, daß er seinem Bedienten befohlen
hatte, ihn wider Willen und ohne auf seine Gegenreden zu hören, zur
bestimmten Zeit zum Aufstehn zu zwingen (Jachmann, Immanuel Kant,
S. 162). Denn je vollkommener wach Einer ist, d.h. je klarer und aufgeweckter
sein Bewußtsein, desto größer ist für ihn die Nothwendigkeit
des Schlafes, also desto tiefer und länger schläft er. Vieles
Denken, oder angestrengte Kopfarbeit wird demnach das Bedürfniß
des Schlafes vermehren. Daß auch fortgesetzte Muskelanstrengung
schläfrig macht, ist daraus zu erklären, daß bei dieser
das Gehirn fortdauernd, mittelst der medulla oblongata, des Rückenmarks
und der motorischen Nerven, den Muskeln den Reiz ertheilt, der auf ihre
Irritabilität wirkt, dasselbe also dadurch seine Kraft erschöpft:
die Ermüdung, welche wir in Armen und Beinen spüren, hat demnach
ihren eigentlichen Sitz im Gehirn; eben wie der Schmerz, den eben diese
Theile fühlen, eigentlich im Gehirn empfunden wird: denn es verhält
sich mit den motorischen, wie mit den sensibeln Nerven. Die Muskeln, welche
nicht vom Gehirn aktuirt werden, z.B. die des Herzens, ermüden eben
deshalb nicht. Aus dem selben Grunde ist es erklärlich, daß
man sowohl während, als nach großer Muskelanstrengung nicht
scharf denken kann. Daß man im Sommer viel weniger Energie des Geistes
hat, als im Winter, ist zum Theil daraus erklärlich, daß man
im Sommer weniger schläft: denn je tiefer man geschlafen hat, desto
vollkommener wach, desto »aufgeweckter« ist man nachher. Dies
darf uns jedoch nicht verleiten, den Schlaf über die Gebühr
zu verlängern; weil er alsdann an Intension, d.h. Tiefe und Festigkeit,
verliert, was er an Extension gewinnt; wodurch er zum bloßen Zeitverlust
wird. Dies meint auch Goethe, wenn er (im zweiten Theil des »Faust«)
vom Morgenschlummer sagt: »Schlaf ist Schaale: wirf sie fort.«
Ueberhaupt also bestätigt das Phänomen des Schlafes ganz
vorzüglich, daß Bewußtseyn, Wahrnehmen, Erkennen, Denken,
nichts Ursprüngliches in uns ist, sondern ein bedingter, sekundärer
Zustand. Es ist ein Aufwand der Natur, und zwar ihr höchster, den
sie daher, je höher er getrieben worden, desto weniger ohne Unterbrechung
fortführen kann. Es ist das Produkt, die Efflorescenz des cerebralen
Nervensystems, welches selbst, wie ein Parasit, vom übrigen Organismus
genährt wird. Dies hängt auch mit Dem zusammen, was in unserm
dritten Buche gezeigt wird, daß das Erkennen um so reiner und vollkommener
ist, je mehr es sich vom Wollen losgemacht und gesondert hat, wodurch
die rein objektive, die ästhetische Auffassung eintritt; eben wie
ein Extraktum so reiner ist, je mehr er sich von Dem, woraus er abgezogen
worden, gesondert und von allem Bodensatz geläutert hat. Den
Gegensatz zeigt der Wille, dessen unmittelbarste Aeußerung das ganze
organische Leben und zunächst das unermüdliche Herz ist.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 774-775).
Kapitel 20 (dieses Kapitel
bezieht sich auf § 20 des 1. Bandes): Objektivation des
Willens im thierischen Organismus.
Ich verstehe unter Objektivation das Sichdarstellen in
der realen Körperwelt. Inzwischen ist diese selbst, wie im ersten
Buch und dessen Ergänzungen ausführlich dargethan, durchaus
bedingt durch das erkennende Subjekt, also den Intellekt, mithin außerhalb
seiner Erkenntniß schlechterdings als solche undenkbar: denn sie
ist zunächst nur anschauliche Vorstellung und als solche Gehirnphänomen.
Nach ihrer Aufhebung würde das Ding an sich übrig bleiben. Daß
dieses der Wille sei, ist das Thema des zweiten Buchs, und wird daselbst
zuvörderst am menschlichen und thierischen Organismus nachgewiesen.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 776).
Die Erkenntniß der Außenwelt kann auch bezeichnet
werden als das Bewußtsein anderer Dinge, im Gegensatz des
Selbstbewußtseyns. Nachdem wir nun in diesem letztern den
Willen als das eigentliche Objekt oder den Stoff desselben gefunden haben,
werden wir jetzt, in der selben Absicht, das Bewußtseyn von andern
Dingen, also die objektive Erkenntniß, in Betracht nehmen. Hier
ist nun meine Thesis diese: was im Selbstbewußtsein, also subjektiv,
der Intellekt ist, das stellt im Bewußtseyn anderer Dinge, also
objektiv, sich als das Gehirn dar: und was im Selbstbewußtseyn,
also subjektiv, der Wille ist, das stellt im Bewußtseyn anderer
Dinge, also objektiv, sich als der gesammte Organismus dar.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 776).
Zu den für diesen Satz, sowohl in unserm zweiten Buche, als
in den beiden ersten Kapiteln der Abhandlung »Ueber den Willen in
der Natur« (**),
gelieferten Beweisen füge ich die folgenden Ergänzungen und
Erläuterungen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille
und Vorstellung, 1818, S. 776).
Zur Begründung des ersten Theiles jener Thesis ist das Meiste
schon im vorhergehenden Kapitel beigebracht, indem an der Nothwendigkeit
des Schlafes, an den Veränderungen durch das Alter, und an den Unterschieden
der anatomischen Konformation nachgewiesen wurde, daß der Intellekt,
als sekundärer Natur, durchgängig abhängt von einem einzelnen
Organ, dem Gehirn, dessen Funktion er ist, wie das Greifen Funktion der
Hand; daß er mithin physisch ist, wie die Verdauung, nicht metaphysisch,
wie der Wille. Wie gute Verdauung einen gesunden, starken Magen, wie Athletenkraft
muskulöse, sehnige Arme erfordert; so erfordert außerordentliche
Intelligenz ein ungewöhnlich entwickeltes, schön gebautes, durch
feine Textur ausgezeichnetes und durch energischen Pulsschlag belebtes
Gehirn. Hingegen ist die Beschaffenheit des Willens von keinem Organ abhängig
und aus keinem zu prognosticiren. Der größte Irrthum in Galls
Schädellehre ist, daß er auch für moralische Eigenschaften
Organe des Gehirns aufstellt. Kopfverletzungen mit Verlust von
Gehirnsubstanz wirken, in der Regel, sehr nachtheilig auf den Intellekt:
sie haben gänzlichen oder theilweisen Blödsinn zur Folge, oder
Vergessenheit der Sprache, auf immer oder auf eine Zeit, bisweilen jedoch
von mehreren gewußten Sprachen nur einer, bisweilen wieder bloß
der Eigennamen, imgleichen den Verlust anderer besessener Kenntnisse u.
dgl. m. Hingegen lesen wir nie, daß nach einem Unglücksfall
solcher Art der Charakter eine Veränderung erlitten hätte,
daß der Mensch etwan moralisch schlechter oder besser geworden wäre,
oder gewisse Neigungen oder Leidenschaften verloren, oder auch neue angenommen
hätte; niemals. Denn der Wille hat seinen Sitz nicht im Gehirn, und
überdies ist er, als das Metaphysische, das prius des Gehirns, wie
des ganzen Leibes, daher nicht durch Verletzungen des Gehirns veränderlich.
Nach einem von Spallanzani gemachten und von Voltaire wiederholten
Versuch28 bleibt eine Schnecke, der man den Kopf abgeschnitten, am Leben,
und nach einigen Wochen wächst ihr ein neuer Kopf, nebst Fühlhörnern:
mit diesem stellt sich Bewußtseyn und Vorstellung wieder ein; während
bis dahin das Thier, durch ungeregelte Bewegungen, bloßen, blinden
Willen zu erkennen gab. Auch hier also finden wir den Willen als die Substanz,
welche beharrt, den Intellekt hingegen bedingt durch sein Organ, als das
wechselnde Accidenz. Er läßt sich bezeichnen als der Regulator
des Willens. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 776-777).
Vielleicht ist es Tiedemann, welcher zuerst das cerebrale
Nervensystem mit einem Parasiten verglichen hat (Tiedemann und
Treviranus, Journal für Physiologie, Bd. 1, S. 62). Der Vergleich
ist treffend, sofern das Gehirn, nebst ihm anhängendem Rückenmark
und Nerven, dem Organismus gleichsam eingepflanzt ist und von ihm genährt
wird, ohne selbst seinerseits zur Erhaltung der Oekonomie desselben direkt
etwas beizutragen; daher das Leben auch ohne Gehirn bestehn kann, wie
bei den hirnlosen Mißgeburten, auch bei Schildkröten, die nach
abgeschnittenem Kopfe noch drei Wochen leben; nur muß dabei die
medulla oblongata, als Organ der Respiration, verschont seyn. Sogar
eine Henne, der Flourens das ganze große Gehirn weggeschnitten hatte,
lebte noch zehn Monate und gedieh. Selbst beim Menschen führt die
Zerstörung des Gehirns nicht direkt, sondern erst durch Vermittelung
der Lunge und dann des Herzens den Tod herbei. Dagegen besorgt das Gehirn
die Lenkung der Verhältnisse zur Außenwelt: dies allein ist
sein Amt, und hiedurch trägt es seine Schuld an den es ernährenden
Organismus ab; da dessen Existenz durch die äußern Verhältnisse
bedingt ist. Demgemäß bedarf es, unter allen Theilen allein,
des Schlafes: weil nämlich seine Thätigkeit von seiner
Erhaltung völlig gesondert ist, jene bloß Kräfte
und Substanz verzehrt, diese vom übrigen Organismus, als seiner Amme,
geleistet wird: indem also seine Thätigkeit zu seinem Bestande nichts
beiträgt, wird sie erschöpft, und erst wann sie pausirt, im
Schlaf, geht seine Ernährung ungehindert von Statten. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 777-778).
Der zweite Theil unserer obigen Thesis wird einer ausführlicheren
Erörterung bedürfen, selbst nach Allem, was ich bereits in den
angeführten Schriften darüber gesagt habe. Schon oben,
Kapitel 18 (**|**),
habe ich nachgewiesen, daß das Ding an sich, welches jeder, also
auch unserer eigenen Erscheinung zum Grunde liegen muß, im Selbstbewußtseyn
die eine seiner Erscheinungsformen, den Raum, abstreift, und allein die
andere, die Zeit, beibehält; weshalb es hier sich unmittelbarer als
irgendwo kund giebt, und wir es, nach dieser seiner unverhülltesten
Erscheinung, als Willen ansprechen. Nun aber kann, in der bloßen
Zeit allein, sich keine beharrende Substanz, dergleichen die Materie
ist, darstellen; weil eine solche, wie § 4 (**|**)
des ersten Bandes dargethan, nur durch die innige Vereinigung des Raumes
mit der Zeit möglich wird. Daher wird, im Selbstbewußtseyn,
der Wille nicht als das bleibende Substrat seiner Regungen wahrgenommen,
mithin nicht als beharrende Substanz angeschaut; sondern bloß seine
einzelnen Akte, Bewegungen und Zustände, dergleichen die Entschließungen,
Wünsche und Affekte sind, werden, successiv und während der
Zeit ihrer Dauer, unmittelbar, jedoch nicht anschaulich, erkannt. Die
Erkenntniß des Willens im Selbstbewußtseyn ist demnach keine
Anschauung desselben, sondern ein ganz unmittelbares Innewerden
seiner successiven Regungen. Hingegen für die nach außen gerichtete,
durch die Sinne vermittelte und im Verstande vollzogene Erkenntniß,
die neben der Zeit auch den Raum zur Form hat, welche Beide sie, durch
die Verstandesfunktion der Kausalität, aufs Innigste verknüpft,
wodurch sie eben zur Anschauung wird, stellt sich das Selbe, was in der
innern unmittelbaren Wahrnehmung als Wille gefaßt wurde, anschaulich
dar, als organischer Leib, dessen einzelne Bewegungen die Akte, dessen
Theile und Formen die bleibenden Bestrebungen, den Grundcharakter des
individuell gegebenen Willens veranschaulichen, ja, dessen Schmerz und
Wohlbehagen ganz unmittelbare Affektionen dieses Willens selbst sind.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 778-779).
Zunächst werden wir dieser Identität des Leibes mit
dem Willen inne in den einzelnen Aktionen Beider; da in diesen was im
Selbstbewußtseyn als unmittelbarer, wirklicher Willensakt erkannt
wird, zugleich und ungetrennt sich äußerlich als Bewegung des
Leibes darstellt, und Jeder seine, durch momentan eintretende Motive eben
so momentan eintretenden Willensbeschlüsse alsbald in eben so vielen
Aktionen seines Leibes so treu abgebildet erblickt, wie diese selbst in
seinem Schatten; woraus dem Unbefangenen auf die einfachste Weise die
Einsicht entspringt, daß sein Leib bloß die äußerliche
Erscheinung seines Willens ist, d.h. die Art und Weise wie, in seinem
anschauenden Intellekt, sein Wille sich darstellt; oder sein Wille selbst,
unter der Form der Vorstellung. Nur wenn wir dieser ursprünglichen
und einfachen Belehrung uns gewaltsam entziehn, können wir, auf eine
kurze Weile, den Hergang unserer eigenen Leibesaktion als ein Wunder anstaunen,
welches dann darauf beruht, daß zwischen dem Willensakt und der
Leibesaktion wirklich keine Kausalverbindung ist: denn sie sind eben unmittelbar
identisch, und ihre scheinbare Verschiedenheit entsteht allein
daraus, daß hier das Eine und Selbe in zwei verschiedenen Erkenntnißweisen,
der innern und der äußern, wahrgenommen wird. Das wirkliche
Wollen ist nämlich vom Thun unzertrennlich, und ein Willensakt im
engsten Sinn ist nur der, welchen die That dazu stämpelt. Hingegen
bloße Willensbeschlüsse sind, bis zur Ausführung, nur
Vorsätze und daher Sache des Intellekts allein: sie haben als solche
ihre Stelle bloß im Gehirn und sind nichts weiter, als abgeschlossene
Berechnungen der relativen Stärke der verschiedenen, sich entgegenstehenden
Motive, haben daher zwar große Wahrscheinlichkeit, aber nie Unfehlbarkeit.
Sie können nämlich sich als falsch ausweisen, nicht nur mittelst
Aenderung der Umstände, sondern auch dadurch, daß die Abschätzung
der respektiven Wirkung der Motive auf den eigentlichen Willen irrig war,
welches sich alsdann zeigt, indem die That dem Vorsatz untreu wird: daher
eben ist vor der Ausführung kein Entschluß gewiß. Also
ist allein im wirklichen Handeln der Wille selbst thätig, mithin
in der Muskelaktion, folglich in der Irritabilität: also objektivirt
sich in dieser der eigentliche Wille. Das große Gehirn ist der Ort
der Motive, woselbst, durch diese, der Wille zur Willkür wird, d.h.
eben durch Motive näher bestimmt wird. Diese Motive sind Vorstellungen,
welche auf Anlaß äußerer Reize der Sinnesorgane, mittelst
der Funktionen des Gehirns entstehn und auch zu Begriffen, dann zu Beschlüssen
verarbeitet werden. Wann es zum wirklichen Willensakt kommt, wirken diese
Motive, deren Werkstätte das große Gehirn ist, unter Vermittelung
des kleinen Gehirns, auf das Rückenmark und die von diesem ausgehenden
motorischen Nerven, welche dann auf die Muskeln wirken, jedoch bloß
als Reize der Irritabilität derselben; da auch galvanische, chemische
und selbst mechanische Reize die selbe Kontraktion, die der motorische
Nerv hervorruft, bewirken können. Also was im Gehirn Motiv
war, wirkt, wenn es durch die Nervenleitung zum Muskel gelangt, als bloßer
Reiz. Die Sensibilität an sich ist völlig unvermögend
einen Muskel zu kontrahiren: dies kann nur dieser selbst, und seine Fähigkeit
hiezu heißt Irritabilität, d.h. Reizbarkeit: sie ist
ausschließlich Eigenschaft des Muskels; wie Sensibilität ausschließliche
Eigenschaft des Nerven ist. Dieser giebt zwar dem Muskel den Anlaß
zu seiner Kontraktion; aber keineswegs ist er es, welcher, irgendwie mechanisch,
den Muskel zusammenzöge: sondern dies geschieht ganz allein vermöge
der Irritabilität, welche des Muskels selbst-eigene Kraft
ist. Diese ist, von außen aufgefaßt, eine Qualitas occulta;
und nur das Selbstbewußtseyn revelirt sie als den Willen. In der
hier kurz dargelegten Kausalkette, von der Einwirkung des außenliegenden
Motivs bis zur Kontraktion des Muskels, tritt nicht etwan der Wille als
letztes Glied derselben mit ein; sondern er ist das metaphysische Substrat
der Irritabilität des Muskels: er spielt also hier genau die selbe
Rolle, welche, in einer physikalischen oder chemischen Kausalkette, die
dabei dem Vorgange zum Grunde liegenden geheimnißvollen Naturkräfte
spielen, welche als solche nicht selbst als Glieder in der Kausalkette
begriffen sind, sondern allen Gliedern derselben die Fähigkeit zu
wirken verleihen; wie ich dies in § 26 (**)
des ersten Bandes ausführlich dargelegt habe. Daher würden wir
eine dergleichen geheimnißvolle Naturkraft eben auch der Kontraktion
des Muskels unterlegen; wenn diese uns nicht durch eine ganz anderweitige
Erkenntnißquelle, das Selbstbewußtseyn, aufgeschlossen wäre,
als Wille. Dieserhalb erscheint, wie oben gesagt, unsere eigene Muskelbewegung,
wenn wir vom Willen ausgehn, uns als ein Wunder; weil zwar von dem außenliegenden
Motiv bis zur Muskelaktion eine strenge Kausalkette fortgeht, der Wille
selbst aber nicht als Glied in ihr begriffen ist, sondern als das metaphysische
Substrat der Möglichkeit einer Aktuirung des Muskels durch Gehirn
und Nerv, auch der gegenwärtigen Muskelaktion zum Grunde liegt; daher
diese eigentlich nicht seine Wirkung, sondern seine Erscheinung
ist. Als solche tritt sie ein in der, vom Willen an sich selbst ganz verschiedenen,
Welt der Vorstellung, deren Form das Kausalitätsgesetz ist; wodurch
sie, wenn man vom Willen ausgeht, für die aufmerksame Reflexion,
das Ansehn eines Wunders erhält, für die tiefere Forschung aber
die unmittelbarste Beglaubigung der großen Wahrheit liefert, daß
was in der Erscheinung als Körper und ihr Wirken auftritt, an sich
Wille ist. Wenn nun etwan der motorische Nerv, der zu meiner Hand
leitet, durchschnitten ist; so kann mein Wille sie nicht mehr bewegen.
Dies liegt aber nicht daran, daß die Hand aufgehört hätte,
wie jeder Theil meines Leibes, die Objektität, die bloße Sichtbarkeit,
meines Willens zu seyn, oder mit andern Worten, daß die Irritabilität
verschwunden wäre; sondern daran, daß die Einwirkung des Motivs,
in Folge deren allein ich meine Hand bewegen kann, nicht zu ihr gelangen
und als Reiz auf ihre Muskeln wirken kann, da die Leitung vom Gehirn zu
ihr unterbrochen ist. Also ist eigentlich mein Wille, in diesem Theil,
nur der Einwirkung des Motivs entzogen. In der Irritabilität objektivirt
sich der Wille unmittelbar, nicht in der Sensibilität. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 779-781).
Um über diesen wichtigen Punkt allen Mißverständnissen,
besonders solchen, die von der rein empirisch betriebenen Physiologie
ausgehn, vorzubeugen, will ich den ganzen Hergang etwas gründlicher
auseinandersetzen. Meine Lehre besagt, daß der ganze Leib
der Wille selbst ist, sich darstellend in der Anschauung des Gehirns,
folglich eingegangen in dessen Erkenntnißformen. Hieraus folgt,
daß der Wille im ganzen Leibe überall gleichmäßig
gegenwärtig sei; wie dies auch nachweislich der Fall ist; da die
organischen Funktionen nicht weniger als die animalischen sein Werk sind.
Wie nun aber ist es hiemit zu vereinigen, daß die willkürlichen
Aktionen, diese unleugbarsten Aeußerungen des Willens, doch offenbar
vom Gehirn ausgehn, sodann erst, durch das Mark, in die Nervenstämme
gelangen, welche endlich die Glieder in Bewegung setzen, und deren Lähmung,
oder Durchschneidung, daher die Möglichkeit der willkürlichen
Bewegung aufhebt? Danach sollte man denken, daß der Wille, eben
wie der Intellekt, seinen Sitz allein im Gehirn habe und, eben wie dieser,
eine bloße Funktion des Gehirns sei. Diesem
ist jedoch nicht so; sondern der ganze Leib ist und bleibt die Darstellung
des Willens in der Anschauung, also der, vermöge der Gehirnfunktionen,
objektiv angeschaute Wille selbst. Jener Hergang, bei den Willensakten,
beruht aber darauf, daß der Wille, welcher, nach meiner Lehre, in
jeder Erscheinung der Natur, auch der vegetabilischen und unorganischen,
sich äußert, im menschlichen und thierischen Leibe als ein
bewußter Wille auftritt. Ein Bewußtsein aber
ist wesentlich ein einheitliches und erfordert daher stets einen centralen
Einheitspunkt. Die Nothwendigkeit des Bewußtseyns wird, wie ich
oft auseinandergesetzt habe, dadurch herbeigeführt, daß, in
Folge der gesteigerten Komplikation und dadurch der mannigfaltigeren Bedürfnisse
eines Organismus, die Akte seines Willens durch Motive gelenkt werden
müssen, nicht mehr, wie auf den tieferen Stufen, durch bloße
Reize. Zu diesem Behuf mußte er hier mit einem erkennenden Bewußtsein,
also mit einem Intellekt, als dem Medio und Ort der Motive, versehn auftreten.
Dieser Intellekt, wenn selbst objektiv angeschaut, stellt sich dar als
das Gehirn, nebst Dependenzien, also Rückenmark und Nerven. Er nun
ist es, in welchem, auf Anlaß äußerer Eindrücke,
die Vorstellungen entstehn, welche zu Motiven für den Willen werden.
Im vernünftigen Intellekt aber erfahren sie hiezu überdies
noch eine weitere Verarbeitung durch Reflexion und Ueberlegung. Ein solcher
Intellekt nun also muß zuvörderst alle Eindrücke, nebst
deren Verarbeitung durch seine Funktionen, sei es zu bloßer Anschauung,
oder zu Begriffen, in einen Punkt vereinigen, der gleichsam der Brennpunkt
aller seiner Strahlen wird, damit jene Einheit des Bewußtseins entstehe,
welche das theoretische Ich ist, der Träger des ganzen Bewußtseyns,
in welchem selbst es mit dem wollenden Ich, dessen bloße Erkenntnißfunktion
es ist, als identisch sich darstellt. Jener Einheitspunkt des Bewußtseyns,
oder das theoretische Ich, ist eben Kants synthetische Einheit der Apperception,
auf welche alle Vorstellungen sich wie auf eine Perlenschnur reihen und
vermöge deren das »Ich denke«, als Faden der Perlenschnur,
»alle unsere Vorstellungen muß begleiten können«A4.
Dieser Sammelplatz der Motive also, woselbst ihr Eintritt in den
einheitlichen Fokus des Bewußtseyns Statt hat, ist das Gehirn. Hier
werden sie im vernunftlosen Bewußtseyn bloß angeschauet, im
vernünftigen durch Begriffe verdeutlicht, also noch allererst
in abstracto gedacht und verglichen; worauf der Wille sich, seinem
individuellen und unwandelbaren Charakter gemäß, entscheidet,
und so der Entschluß hervorgeht, welcher nunmehr, mittelst
des Cerebellums, des Marks und der Nervenstämme, die äußeren
Glieder in Bewegung setzt. Denn, wenn gleich auch in diesen der Wille
ganz unmittelbar gegenwärtig ist, indem sie seine bloße Erscheinung
sind; so bedurfte er, wo er nach Motiven, oder gar nach Ueberlegung,
sich zu bewegen hat, eines solchen Apparats, zur Auffassung und Verarbeitung
der Vorstellungen zu solchen Motiven, in deren Gemäßheit seine
Akte hier als Entschlüsse auftreten; eben wie die Ernährung
des Bluts, durch den Chylus, eines Magens und der Gedärme bedarf,
in welchen dieser bereitet wird und dann als solcher ihm zufließt
durch den ductus thoracicus, welcher hier die Rolle spielt, die
dort das Rückenmark hat. Am einfachsten und allgemeinsten
läßt die Sache sich so fassen: der Wille ist in allen Muskelfasern
des ganzen Leibes als Irritabilität unmittelbar gegenwärtig,
als ein fortwährendes Streben zur Thätigkeit überhaupt.
Soll nun aber dieses Streben sich realisiren, also sich als Bewegung äußern;
so muß diese Bewegung, eben als solche, irgend eine Richtung haben:
diese Richtung aber muß durch irgend etwas bestimmt werden: d.h.
sie bedarf eines Lenkers: dieser nun ist das Nervensystem. Denn der bloßen
Irritabilität, wie sie in der Muskelfaser liegt und an sich purer
Wille ist, sind alle Richtungen gleichgültig: also bestimmt sie sich
nach keiner, sondern verhält sich wie ein Körper, der nach allen
Richtungen gleichmäßig gezogen wird; er ruht. Indem die Nerventhätigkeit
als Motiv (bei Reflexbewegungen als Reiz) hinzutritt, erhält die
strebende Kraft, d.i. die Irritabilität, eine bestimmte Richtung
und liefert jetzt die Bewegungen. Diejenigen äußeren
Willensakte jedoch, welche keiner Motive, also auch nicht der Verarbeitung
bloßer Reize zu Vorstellungen im Gehirn, daraus eben Motive werden,
bedürfen, sondern unmittelbar auf Reize, meistens innere, erfolgen,
sind die Reflexbewegungen, ausgehend vom bloßen Rückenmark,
wie z.B. die Spasmen und Krämpfe, in denen der Wille ohne Theilnahme
des Gehirns wirkt. Auf analoge Weise betreibt der Wille das organische
Leben, ebenfalls auf Nervenreiz, welcher nicht vom Gehirn ausgeht. Nämlich
der Wille erscheint in jedem Muskel als Irritabilität und ist folglich
für sich im Stande, diesen zu kontrahiren; jedoch nur überhaupt:
damit eine bestimmte Kontraktion, in einem gegebenen Augenblick, erfolge,
bedarf es, wie überall, einer Ursache, die hier ein Reiz seyn muß.
Diesen giebt überall der Nerv, welcher in den Muskel geht. Hängt
dieser Nerv mit dem Gehirn zusammen; so ist die Kontraktion ein bewußter
Willensakt, d.h. geschieht auf Motive, welche, in Folge äußerer
Einwirkung, im Gehirn, als Vorstellungen, entstanden sind. Hängt
der Nerv nicht mit dem Gehirn zusammen, sondern mit dem sympathicus
maximus; so ist die Kontraktion unwillkürlich und unbewußt,
nämlich ein dem organischen Leben dienender Akt, und der Nervenreiz
dazu wird veranlaßt durch innere Einwirkung, z.B. durch den Druck
der eingenommenen Nahrung auf den Magen, oder des Chymus auf die Gedärme,
oder des einströmenden Blutes auf die Wände des Herzens: er
ist demnach Magenverdauung, oder motus peristalticus, oder Herzschlag
u.s.w.. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 781-783).
Kapitel 21: Rückblick und allgemeinere Betrachtung.
Wäre nicht, wie die beiden vorhergehenden Kapitel darthun,
der Intellekt sekundärer Natur; so würde nicht Alles, was ohne
denselben, d.h. ohne Dazwischenkunft der Vorstellung, zu Stande kommt,
wie z.B. die Zeugung, die Entwickelung und Erhaltung des Organismus, die
Heilung der Wunden, der Ersatz oder die vikarirende Ergänzung verstümmelter
Theile, die heilbringende Krisis in Krankheiten, die Werke thierischer
Kunsttriebe und das Schaffen des Instinkts überhaupt, so unendlich
besser und vollkommener ausfallen, als Das, was mit Hülfe des Intellekts
geschieht, nämlich alle bewußten und beabsichtigten Leistungen
und Werke der Menschen, als welche, gegen jene andern gehalten, bloße
Stümperei sind. Ueberhaupt bedeutet Natur das ohne Vermittelung
des Intellekts Wirkende, Treibende, Schaffende. Daß nun eben dieses
identisch sei mit Dem, was wir in uns als Willen finden, ist das
alleinige Thema dieses zweiten Buchs, wie auch der Abhandlung »Ueber
den Willen in der Natur« (**).
Die Möglichkeit dieser Grunderkenntniß beruht darauf, daß
dasselbe in uns unmittelbar vom Intellekt, der hier als Selbstbewußtseyn
auftritt, beleuchtet wird; sonst wir es eben so wenig in uns, als außer
uns näher kennen lernen würden und ewig vor unerforschlichen
Naturkräften stehn bleiben müßten. Die Beihülfe des
Intellekts haben wir wegzudenken, wenn wir das Wesen des Willens
an sich selbst erfassen und dadurch, so weit es möglich ist, ins
Innere der Natur dringen wollen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 797-798).
Dieserhalb ist, beiläufig gesagt, mein direkter Antipode
unter den Philosophen Anaxagoras; da er zum Ersten und Ursprünglichen,
wovon Alles ausgeht, einen nous, eine Intelligenz, ein Vorstellendes,
beliebig annahm, und als der Erste gilt, der eine solche Ansicht aufgestellt
hat. Derselben gemäß wäre die Welt früher in der
bloßen Vorstellung, als an sich selbst vorhanden gewesen; während
bei mir der erkenntnißlose Wille es ist, der die Realität der
Dinge begründet, deren Entwickelung schon sehr weit gediehen seyn
muß, ehe es endlich, im animalen Bewußtseyn, zur Vorstellung
und Intelligenz kommt; so daß bei mir das Denken als das Allerletzte
auftritt. Inzwischen hat, nach dem Zeugniß des Aristoteles (Metaph.,
I, 4), Anaxagoras selbst mit seinem nous nicht viel anzufangen
gewußt, sondern ihn nur aufgestellt und dann eben stehn lassen,
wie einen gemalten Heiligen am Eingang, ohne zu seinen Entwickelungen
der Natur sich desselben zu bedienen, es sei denn in Nothfällen,
wann er sich ein Mal nicht anders zu helfen wußte. Alle Physikotheologie
ist eine Ausführung des, der (Anfangs dieses Kapitels ausgesprochenen)
Wahrheit entgegenstehenden, Irrthums, daß nämlich die vollkommenste
Art der Entstehung der Dinge, die durch Vermittelung eines Intellekts
sei. Daher eben schiebt dieselbe aller tiefern Ergründung der Natur
einen Riegel vor. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 798).
Seit Sokrates' Zeit und bis auf die unserige finden wir
als einen Hauptgegenstand des unaufhörlichen Disputirens der Philosophen
jenes ens rationis, genannt Seele. Wir sehn die Meisten die Unsterblichkeit,
welches sagen will, die metaphysische Wesenheit, derselben behaupten,
Andere jedoch, gestützt auf Thatsachen, welche die gänzliche
Abhängigkeit des Intellekts von körperlichen Organen unwidersprechlich
darthun, den Widerspruch dagegen unermüdet aufrecht erhalten. Jene
Seele wurde von Allen und vor Allem als schlechthin einfach
genommen: denn gerade hieraus wurde ihr metaphysisches Wesen, ihre Immaterialität
und Unsterblichkeit bewiesen; obgleich diese gar nicht ein Mal nothwendig
daraus folgt; denn, wenn wir auch die Zerstörung eines geformten
Körpers uns nur durch Zerlegung in seine Theile denken können;
so folgt daraus nicht, daß die Zerstörung eines einfachen Wesens,
von dem wir ohnehin keinen Begriff haben, nicht auf irgend eine andere
Art, etwan durch allmäliges Schwinden, möglich sei. Ich hingegen
gehe davon aus, daß ich die vorausgesetzte Einfachheit unsers subjektiv
bewußten Wesens, oder des Ichs, aufhebe, indem ich nachweise, daß
die Aeußerungen, aus welchen man dieselbe folgerte, zwei sehr verschiedene
Quellen haben, und daß allerdings der Intellekt physisch
bedingt, die Funktion eines materiellen Organs, daher von diesem abhängig,
und ohne dasselbe so unmöglich sei, wie das Greifen ohne die Hand,
daß er demnach zur bloßen Erscheinung gehöre und also
das Schicksal dieser theile, daß hingegen der Wille
an kein specielles Organ gebunden, sondern überall gegenwärtig,
überall das eigentlich Bewegende und Bildende, mithin das Bedingende
des ganzen Organismus sei, daß er in der That das metaphysische
Substrat der gesammten Erscheinung ausmache, folglich nicht, wie der Intellekt,
ein Posterius, sondern das Prius derselben, und diese von
ihm, nicht er von ihr, abhängig sei. Der Leib aber wird sogar zu
einer bloßen Vorstellung herabgesetzt, indem er nur die Art ist,
wie in der Anschauung des Intellekts, oder Gehirns, der Wille sich darstellt.
Der Wille hingegen, welcher in allen früheren, sonst noch so verschiedenen
Systemen als eines der letzten Ergebnisse auftritt, ist bei mir das Allererste.
Der Intellekt wird, als bloße Funktion des Gehirns, vom Untergang
des Leibes mitgetroffen; hingegen keineswegs der Wille. Aus dieser Heterogeneität
Beider, nebst der sekundären Natur des Intellekts, wird es begreiflich,
daß der Mensch, in der Tiefe seines Selbstbewußtseyns, sich
ewig und unzerstörbar fühlt, dennoch aber keine Erinnerung,
weder a parte ante noch a parte post, über seine Lebensdauer
hinaus haben kann. Ich will hier nicht der Erörterung der wahren
Unzerstörbarkeit unsers Wesens, als welche ihre Stelle im vierten
Buche hat, vorgreifen, sondern habe nur die Stelle, an welche sie sich
knüpft, bezeichnen wollen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 798-799).
Daß nun aber, in einem allerdings einseitigen, jedoch von
unserm Standpunkt aus wahren Ausdrucke, der Leib eine bloße Vorstellung
genannt wird, beruht darauf, daß ein Daseyn im Raum, als ein ausgedehntes,
und in der Zeit, als ein sich änderndes, in Beiden aber durch Kausalnexus
näher bestimmtes, nur möglich ist in der Vorstellung, als auf
deren Formen jene Bestimmungen sämmtlich beruhen, also in einem Gehirn,
in welchem demnach ein solches Daseyn als ein objektives, d.h. ein fremdes,
auftritt. Daher kann selbst unser eigener Leib diese Art von Daseyn nur
in einem Gehirn haben. Denn die Erkenntniß, welche ich von meinem
Leibe als einem Ausgedehnten, Raumerfüllenden und Beweglichen habe,
ist bloß mittelbar: sie ist ein Bild in meinem Gehirn, welches
mittelst Sinne und Verstand zu Stande kommt. Unmittelbar gegeben
ist mir der Leib allein in der Muskelaktion und im Schmerz oder Behagen,
welche Beide zunächst und unmittelbar dem Willen angehören.
Das Zusammenbringen aber dieser beiden verschiedenen Erkenntnißweisen
meines eigenen Leibes vermittelt nachher die fernere Einsicht, daß
alle andern Dinge, welche ebenfalls das beschriebene objektive Daseyn,
welches zunächst nur in meinem Gehirn ist, haben, deshalb nicht außer
demselben gar nicht vorhanden seien, sondern ebenfalls an sich zuletzt
eben Das seyn müssen, was sich dem Selbstbewußtseyn als Wille
kund giebt. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 799-800).
Kapitel 21 (dieses Kapitel
bezieht sich auf die letztere Hälfte des § 27 des 1. Bandes):
Objektive Ansicht des Intellekts.
Die Philosophen vor Kant, wenige ausgenommen, haben die
Erklärung des Hergangs unsers Erkennens von der verkehrten Seite
angegriffen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 804).
Besagtermaaßen also machte man, beim Proceß des Erkennens,
das allerletzte Produkt desselben, das abstrakte Denken, zum Ersten und
Ursprünglichen, griff demnach, wie gesagt, die Sache am verkehrten
Ende an. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 805).
Aber nicht nur die Anschauung der Außenwelt, oder das Bewußtsein
anderer Dinge, ist durch das Gehirn und seine Funktionen bedingt, sondern
auch das Selbstbewußtseyn. Der Wille an sich selbst ist bewußtlos
und bleibt es im größten Theile seiner Erscheinungen. Die sekundäre
Welt der Vorstellung muß hinzutreten, damit er sich seiner bewußt
werde; wie das Licht erst durch die es zurückwerfenden Körper
sichtbar wird und außerdem sich wirkungslos in die Finsterniß
verliert. Indem der Wille, zum Zweck der Auffassung seiner Beziehungen
zur Außenwelt, im thierischen Individuo, ein Gehirn hervorbringt,
entsteht erst in diesem das Bewußtsein des eigenen Selbst, mittelst
des Subjekts des Erkennens, welches die Dinge als daseiend, das Ich als
wollend auffaßt. Nämlich die im Gehirn aufs Höchste gesteigerte,
jedoch in die verschiedenen Theile desselben ausgebreitete Sensibilität
muß zuvörderst alle Strahlen ihrer Thätigkeit zusammenbringen,
sie gleichsam in einen Brennpunkt koncentriren, der jedoch nicht, wie
bei Hohlspiegeln, nach außen, sondern, wie bei Konvexspiegeln, nach
innen fällt: mit diesem Punkte nun beschreibt sie zunächst die
Linie der Zeit, auf der daher Alles, was sie vorstellt, sich darstellen
muß und welche die erste und wesentlichste Form alles Erkennens,
oder die Form des innern Sinnes ist. Dieser Brennpunkt der gesammten Gehirnthätigkeit
ist Das, was Kant die synthetische Einheit der Apperception nannte:
erst mittelst desselben wird der Wille sich seiner selbst bewußt,
indem dieser Fokus der Gehirnthätigkeit, oder das Erkennende, sich
mit seiner eigenen Basis, daraus er entsprungen ist, dem Wollenden, als
identisch auffaßt und so das Ich entsteht. Dieser Fokus der Gehirnthätigkeit
bleibt dennoch zunächst ein bloßes Subjekt des Erkennens und
als solches fähig, der kalte und antheilslose Zuschauer, der bloße
Lenker und Berather des Willens zu seyn, wie auch, ohne Rücksicht
auf diesen und sein Wohl oder Weh, die Außenwelt rein objektiv aufzufassen.
Aber sobald er sich nach innen richtet, erkennt er als die Basis seiner
eigenen Erscheinung den Willen, und fließt daher mit diesem in das
Bewußtseyn eines Ich zusammen. Jener Brennpunkt der Gehirnthätigkeit
(oder das Subjekt der Erkenntniß) ist, als untheilbarer Punkt, zwar
einfach, deshalb aber doch keine Substanz (Seele), sondern ein bloßer
Zustand. Das, dessen Zustand er selbst ist, kann nur indirekt, gleichsam
durch Reflex, von ihm erkannt werden: aber das Aufhören des Zustandes
darf nicht angesehn werden als die Vernichtung Dessen, von dem es ein
Zustand ist. Dieses erkennende und bewußte Ich verhält
sich zum Willen, welcher die Basis der Erscheinung desselben ist, wie
das Bild im Fokus des Hohlspiegels zu diesem selbst, und hat, wie jenes,
nur eine bedingte, ja eigentlich bloß scheinbare Realität.
Weit entfernt, das schlechthin Erste zu seyn (wie z.B. Fichte lehrte),
ist es im Grunde tertiär, indem es den Organismus voraussetzt, dieser
aber den Willen. Ich gebe zu, daß alles hier Gesagte doch
eigentlich nur Bild und Gleichniß, auch zum Theil hypothetisch sei:
allein wir stehn bei einem Punkte, bis zu welchem kaum die Gedanken, geschweige
die Beweise reichen. Ich bitte daher, es mit Dem zu vergleichen, was ich
im zwanzigsten Kapitel (**|**)
über diesen Gegenstand ausführlich beigebracht habe. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 805-806).
Wie demnach Locke Alles, was mittelst der Empfindung in
die Wahrnehmung kommt, den Sinnesorganen vindicirte, um es den Dingen
an sich abzusprechen; so hat Kant, in gleicher Absicht und auf dem selben
Wege weitergehend, Alles was die eigentliche Anschauung möglich macht,
nämlich Raum, Zeit und Kausalität, als Gehirnfunktion nachgewiesen;
wenn gleich er dieses physiologischen Ausdrucks sich enthalten hat, zu
welchem jedoch unsere jetzige, von der entgegengesetzten, realen Seite
kommende Betrachtungsweise uns nothwendig hinführt. Kant kam, auf
seinem analytischen Wege, zu dem Resultat, daß was wir erkennen
bloße Erscheinungen seien. Was dieser räthselhafte Ausdruck
eigentlich besage, wird aus unserer objektiven und genetischen Betrachtung
des Intellekts klar: es sind die Motive, für die Zwecke eines individuellen
Willens, wie sie in dem, zu diesem Behuf von ihm hervorgebrachten Intellekt
(welcher selbst, objektiv, als Gehirn erscheint) sich darstellen, und
welche, so weit man ihre Verkettung verfolgen mag, aufgefaßt, in
ihrem Zusammenhange die in Zeit und Raum sich objektiv ausbreitende Welt
liefern, welche ich die Welt als Vorstellung nenne. Auch verschwindet,
von unserm Gesichtspunkt aus, das Anstößige, welches in der
Kantischen Lehre daraus entsteht, daß, indem der Intellekt,
statt der Dinge, wie sie an sich sind, bloße Erscheinungen erkennt,
ja, in Folge derselben zu Paralogismen und ungegründeten Hypostasen
verleitet wird, mittelst »Sophistikationen, nicht der Menschen,
sondern der Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste sich nicht
losmachen, und vielleicht zwar nach vieler Bemühung den Irrthum verhüten,
den Schein aber, der ihn unaufhörlich zwackt und äfft, niemals
los werden kann«, es das Ansehn gewinnt, als sei unser Intellekt
absichtlich bestimmt, uns zu Irrthümern zu verleiten. Denn die hier
gegebene objektive Ansicht des Intellekts, welche eine Genesis desselben
enthält, macht begreiflich, daß er, ausschließlich zu
praktischen Zwecken bestimmt, das bloße Medium der Motive ist, mithin
durch richtige Darstellung dieser seine Bestimmung erfüllt, und daß,
wenn wir aus dem Komplex und der Gesetzmäßigkeit der hiebei
sich uns objektiv darstellenden Erscheinungen das Wesen der Dinge an sich
selbst zu konstruiren unternehmen, dieses auf eigene Gefahr und Verantwortlichkeit
geschieht. Wir haben nämlich erkannt, daß die ursprünglich
erkenntnißlose und im Finstern treibende innere Kraft der Natur,
welche, wenn sie sich bis zum Selbstbewußtseyn emporgearbeitet hat,
sich diesem als Wille entschleiert, diese Stufe nur mittelst Produktion
eines animalischen Gehirns und der Erkenntniß, als Funktion desselben,
erreicht, wonach in diesem Gehirn das Phänomen der anschaulichen
Welt entsteht. Nun aber dieses bloße Gehirnphänomen, mit der
seinen Funktionen unwandelbar anhängenden Gesetzmäßigkeit,
für das, unabhängig von ihm, vor ihm und nach ihm vorhandene,
objektive Wesen an sich selbst der Welt und der Dinge in ihr zu erklären,
ist offenbar ein Sprung, zu welchem nichts uns berechtigt. Aus diesem
mundus phaenomenon, aus dieser, unter so vielfachen Bedingungen
entstehenden Anschauung sind nun aber alle unsere Begriffe geschöpft,
haben allen Gehalt nur von ihr, oder doch nur in Beziehung auf sie. Daher
sind sie, wie Kant sagt, nur von immanentem, nicht von transscendentem
Gebrauch: d.h. diese unsere Begriffe, dieses erste Material des Denkens,
folglich noch mehr die durch ihre Zusammensetzung entstehenden Urtheile,
sind der Aufgabe, das Wesen der Dinge an sich und den wahren Zusammenhang
der Welt und des Daseyns zu denken, unangemessen: ja, dieses Unternehmen
ist dem, den stereometrischen Gehalt eines Körpers in Quadratzollen
auszudrücken, analog. Denn unser Intellekt, ursprünglich nur
bestimmt, einem individuellen Willen seine kleinlichen Zwecke vorzuhalten,
faßt demgemäß bloße Relationen der Dinge
auf und dringt nicht in ihr Inneres, in ihr eigenes Wesen: er ist demnach
eine bloße Flächenkraft, haftet an der Oberfläche der
Dinge und faßt bloße species transitivas, nicht das
wahre Wesen derselben. Hieraus eben entspringt es, daß wir kein
einziges Ding, auch nicht das einfachste und geringste, durch und durch
verstehn und begreifen können; sondern an jedem etwas uns völlig
Unerklärliches übrig bleibt. Eben weil der Intellekt
ein Produkt der Natur und daher nur auf ihre Zwecke berechnet ist, haben
die Christlichen Mystiker ihn recht artig das »Licht der Natur«
benannt und in seine Schranken zurückgewiesen: denn die Natur ist
das Objekt, zu welchem allein er das Subjekt ist. Jenem Ausdruck liegt
eigentlich schon der Gedanke zum Grunde, aus dem die Kritik der reinen
Vernunft entsprungen ist. Daß wir auf dem unmittelbaren Wege, d.h.
durch die unkritische, direkte Anwendung des Intellekts und seiner Data,
die Welt nicht begreifen können, sondern beim Nachdenken über
sie uns immer tiefer in unauflösliche Räthsel verstricken, rührt
eben daher, daß der Intellekt, also die Erkenntniß selbst,
schon ein Sekundäres, ein bloßes Produkt ist, herbeigeführt
durch die Entwickelung des Wesens der Welt, die ihm folglich bis dahin
vorhergängig war, und er zuletzt eintrat, als ein Durchbruch ans
Licht aus der dunkeln Tiefe des erkenntnißlosen Strebens, dessen
Wesen sich in dem zugleich dadurch entstehenden Selbstbewußtseyn
als Wille darstellt. Das der Erkenntniß als ihre Bedingung Vorhergängige,
wodurch sie allererst möglich wurde, also ihre eigene Basis, kann
nicht unmittelbar von ihr gefaßt werden; wie das Auge nicht sich
selbst sehn kann. Vielmehr sind die auf der Oberfläche der Dinge
sich darstellenden Verhältnisse zwischen Wesen und Wesen allein ihre
Sache, und sind es nur mittelst des Apparats des Intellekts, nämlich
seiner Formen, Raum, Zeit, Kausalität. Eben weil die Welt ohne Hülfe
der Erkenntniß sich gemacht hat, geht ihr ganzes Wesen nicht in
die Erkenntniß ein, sondern diese setzt das Daseyn der Welt schon
voraus; weshalb der Ursprung desselben nicht in ihrem Bereiche liegt.
Sie ist demnach beschränkt auf die Verhältnisse zwischen dem
Vorhandenen, und damit für den individuellen Willen, zu dessen Dienst
allein sie entstand, ausreichend. Denn der Intellekt ist, wie gezeigt
worden, durch die Natur bedingt, liegt in ihr, gehört zu ihr, und
kann daher nicht sich ihr als ein ganz Fremdes gegenüberstellen,
um so ihr ganzes Wesen schlechthin objektiv und von Grund aus in sich
aufzunehmen. Er kann, wenn das Glück gut ist, Alles in der Natur
verstehn, aber nicht die Natur selbst, wenigstens nicht unmittelbar.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 814-816).
So entmuthigend für die Metaphysik diese aus der Beschaffenheit
und dem Ursprung des Intellekts hervorgehende wesentliche Beschränkung
desselben auch seyn mag; so hat eben diese doch auch eine andere, sehr
tröstliche Seite. Sie benimmt nämlich den unmittelbaren Aussagen
der Natur ihre unbedingte Gültigkeit, in deren Behauptung der eigentliche
Naturalismus besteht. Wenn daher auch die Natur uns jedes Lebende
als aus dem Nichts hervorgehend und, nach einem ephemeren Daseyn, auf
immer dahin zurückkehrend darstellt, und sie sich daran zu vergnügen
scheint, unaufhörlich von Neuem hervorzubringen, um unaufhörlich
zerstören zu können, hingegen nichts Bestehendes zu Tage zu
fördern vermag; wenn wir demnach als das einzige Bleibende die Materie
anerkennen müssen, welche, unentstanden und unvergänglich, Alles
aus ihrem Schooße gebiert, weshalb ihr Name aus mater rerum
entstanden scheint, und neben ihr, als den Vater der Dinge, die Form,
welche, eben so flüchtig, wie jene beharrlich, eigentlich jeden Augenblick
wechselt und sich nur erhalten kann, so lange sie sich der Materie parasitisch
anklammert (bald diesem, bald jenem Theil derselben), aber wenn sie diesen
Anhall ein Mal ganz verliert, untergeht, wie die Paläotherien und
Ichthyosauren bezeugen; so müssen wir dies zwar als die unmittelbare
und unverfälschte Aussage der Natur anerkennen; aber, wegen des oben
auseinandergesetzten Ursprungs und daraus sich ergebender Beschaffenheit
des Intellekts, können wir dieser Aussage keine unbedingte
Wahrheit zugestehn, vielmehr nur eine durchweg bedingte, welche Kant
treffend als eine solche bezeichnet hat, indem er sie die Erscheinung
im Gegensatz des Dinges an sich nannte. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 816-817).
Wenn es, trotz dieser wesentlichen Beschränkung des Intellekts,
möglich wird, auf einem Umwege, nämlich mittelst der weit verfolgten
Reflexion und durch künstliche Verknüpfung der nach außen
gerichteten, objektiven Erkenntniß mit den Datis des Selbstbewußtseyns,
zu einem gewissen Verständniß der Welt und des Wesens der Dinge
zu gelangen; so wird dieses doch nur ein sehr limitirtes, ganz mittelbares
und relatives, nämlich eine parabolische Uebersetzung in die Formen
der Erkenntniß, also ein quadam prodire tenus seyn, welches
stets noch viele Probleme ungelöst übrig lassen muß.
Hingegen war der Grundfehler des alten, durch Kant zerstörten
Dogmatismus, in allen seinen Formen, dieser, daß er schlechthin
von der Erkenntniß, d.i. der Welt als Vorstellung,
ausgieng, um aus deren Gesetzen das Seiende überhaupt abzuleiten
und aufzubauen, wobei er jene Welt der Vorstellung, nebst ihren Gesetzen,
als etwas schlechthin Vorhandenes und absolut Reales nahm; während
das ganze Daseyn derselben von Grund aus relativ und ein bloßes
Resultat oder Phänomen des ihr zum Grunde liegenden Wesens an sich
ist, oder, mit andern Worten, daß er eine Ontologie konstruirte,
wo er bloß zu einer Dianoiologie Stoff hatte. Kant deckte
das subjektiv Bedingte und deshalb schlechterdings Immanente, d.h. zum
transscendenten Gebrauch Untaugliche, der Erkenntniß, aus
der eigenen Gesetzmäßigkeit dieser selbst, auf: weshalb er
seine Lehre sehr treffend Kritik der Vernunft nannte. Er führte
dies theils dadurch aus, daß er den beträchtlichen und durchgängigen
apriorischen Theil aller Erkenntniß nachwies, welcher, als durchaus
subjektiv, alle Objektivität verkümmert; theils dadurch, daß
er angeblich darthat, daß die Grundsätze der als rein objektiv
genommenen Erkenntniß, wenn bis ans Ende verfolgt, auf Widersprüche
leiteten. Nur aber hatte er voreilig angenommen, daß außer
der objektiven Erkenntniß, d.h. außer der Welt als
Vorstellung, uns nichts gegeben sei, als etwan noch das Gewissen,
aus welchem er das Wenige, was noch von Metaphysik übrig blieb, konstruirte,
nämlich die Moraltheologie, welcher er jedoch auch schlechterdings
nur praktische, durchaus nicht theoretische Gültigkeit zugestand.
Er hatte übersehn, daß, wenn gleich allerdings die objektive
Erkenntniß, oder die Welt als Vorstellung, nichts, als Erscheinungen,
nebst deren phänomenalen Zusammenhang und Regressus liefert; dennoch
unser selbsteigenes Wesen nothwendig auch der Welt der Dinge an sich angehört,
indem es in dieser wurzeln muß: hieraus aber müssen, wenn auch
die Wurzel nicht gerade zu Tage gezogen werden kann, doch einige Data
zu erfassen seyn, zur Aufklärung des Zusammenhangs der Welt der Erscheinungen
mit dem Wesen an sich der Dinge. Hier also liegt der Weg, auf welchem
ich über Kant und die von ihm gezogene Gränze hinausgegangen
bin, jedoch stets auf dem Boden der Reflexion, mithin der Redlichkeit,
mich haltend, daher ohne das windbeutelnde Vorgeben intellektualer Anschauung,
oder absoluten Denkens, welches die Periode der Pseudophilosophie zwischen
Kant und mir charakterisirt. Kant gieng, bei seiner Nachweisung
des Unzulänglichen der vernünftigen Erkenntniß zur Ergründung
des Wesens der Welt, von der Erkenntniß, als einer Thatsache,
die unser Bewußtseyn liefert, aus, verfuhr also, in diesem Sinne,
a posteriori. Ich aber habe in diesem Kapitel, wie auch in der Schrift
»Ueber den Willen in der Natur«, nachzuweisen gesucht, was
die Erkenntniß ihrem Wesen und Ursprung nach sei,
nämlich ein Sekundäres, zu individuellen Zwecken Bestimmtes:
woraus folgt, daß sie zur Ergründung des Wesens der Welt unzulänglich
seyn muß; bin also, insofern, zum selben Ziel a priori gelangt.
Man erkennt aber nichts ganz und vollkommen, als bis man darum herumgekommen
und nun von der andern Seite zum Ausgangspunkt zurückgelangt ist.
Daher muß man, auch bei der hier in Betracht genommenen, wichtigen
Grunderkenntniß, nicht bloß, wie Kant gethan, vom Intellekt
zur Erkenntniß der Welt gehn, sondern auch, wie ich hier unternommen
habe, von der als vorhanden genommenen Welt zum Intellekt. Dann wird diese,
im weitem Sinn, physiologische Betrachtung die Ergänzung jener ideologischen,
wie die Franzosen sagen, richtiger transscendentalen (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 817-818).
Kapitel 23 (dieses Kapitel
bezieht sich auf § 23 des 1. Bandes): Ueber die Objektivation
des Willens in der erkenntnislosen Natur.
Wenn wir den Willen da, wo ihn Niemand leugnet, also in den erkennenden
Wesen, betrachten; so finden wir überall, als seine Grundbestimmung,
die Selbsterhaltung eines jeden Wesens .... (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 826).
In Deutschland hat Kant's Lehre den Absurditäten der Atomistik
und der durchweg mechanischen Physik auf die Dauer vorgebeugt, wenn gleich
im gegenwärtigen Augenblick diese Ansichten auch hier grassiren;
welches eine Folge der durch Hegel herbeigeführten Seichtigkeit,
Rohheit und Unwissenheit ist. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 830).
Ergänzungen zum dritten Buch
Kapitel 30 (dieses Kapitel
bezieht sich auf § 33, 34 des 1. Bandes): Vom reinen Subjekt
des Erkennens.
Zur Auffassung einer Idee, zum Eintritt derselben in unser Bewußtseyn,
kommt es nur mittelst einer Veränderung in uns, die man auch als
einen Akt der Selbstverleugnung betrachten könnte; sofern sie darin
besteht, daß die Erkenntniß sich ein Mal vom eigenen Willen
gänzlich abwendet, also das ihr anvertraute theure Pfand jetzt gänzlich
aus den Augen läßt und die Dinge so betrachtet, als ob sie
den Willen nie etwas angehn könnten. Denn hiedurch allein wird die
Erkenntniß zum reinen Spiegel des objektiven Wesens der Dinge. Jedem
ächten Kunstwerk muß eine so bedingte Erkenntniß, als
sein Ursprung, zum Grunde liegen. Die zu derselben erforderte Veränderung
im Subjekte kann, eben weil sie in der Elimination alles Wollens besteht,
nicht vom Willen ausgehn, also kein Akt der Willkür seyn, d.h. nicht
in unserm Belieben stehn. Vielmehr entspringt sie allein aus einem temporären
Ueberwiegen des Intellekts über den Willen, oder, physiologisch betrachtet,
aus einer starken Erregung der anschauenden Gehirnthätigkeit, ohne
alle Erregung der Neigungen oder Affekte. Um dies etwas genauer zu erläutern,
erinnere ich daran, daß unser Bewußtseyn zwei Seiten hat:
theils nämlich ist es Bewußtseyn vom eigenen Selbst, welches
der Wille ist; theils Bewußtseyn von andern Dingen, und als solches
zunächst anschauende Erkenntniß der Außenwelt, Auffassung
der Objekte. Je mehr nun die eine Seite des gesammten Bewußtseyns
hervortritt, desto mehr weicht die andere zurück. Demnach wird das
Bewußtseyn anderer Dinge, also die anschauende Erkenntniß,
um so vollkommener, d.h. um so objektiver, je weniger wir uns dabei des
eigenen Selbstbewußt sind. Hier findet wirklich ein Antagonismus
Statt. Je mehr wir des Objekts uns bewußt sind, desto weniger des
Subjekts: je mehr hingegen dieses das Bewußtseyn einnimmt, desto
schwächer und unvollkommener ist unsere Anschauung der Außenwelt.
Der zur reinen Objektivität der Anschauung erforderte Zustand hat
theils bleibende Bedingungen, in der Vollkommenheit des Gehirns und der
seiner Thätigkeit günstigen physiologischen Beschaffenheit überhaupt;
theils vorübergehende, sofern derselbe begünstigt wird durch
Alles, was die Spannung und Empfänglichkeit des cerebralen Nervensystems,
jedoch ohne Erregung irgend einer Leidenschaft, erhöht. Man denke
hiebei nicht an geistige Getränke, oder Opium: vielmehr gehört
dahin eine ruhig durchschlafene Nacht, ein kaltes Bad und Alles was, durch
Beruhigung des Blutumlaufs und der Leidenschaftlichkeit, der Gehirnthätigkeit
ein unerzwungenes Uebergewicht verschafft. Diese naturgemäßen
Beförderungsmittel der cerebralen Nerventhätigkeit sind es vorzüglich,
welche, freilich um so besser, je entwickelter und energischer überhaupt
das Gehirn ist, bewirken, daß immer mehr das Objekt sich vom Subjekt
ablöst, und endlich jenen Zustand der reinen Objektivität der
Anschauung herbeiführen, welcher von selbst den Willen aus dem Bewußtseyn
eliminirt und in welchem alle Dinge mit erhöhter Klarheit und Deutlichkeit
vor uns stehn; so daß wir beinah bloß von ihnen wissen, und
fast gar nicht von uns; also unser ganzes Bewußtseyn fast nichts
weiter ist, als das Medium, dadurch das angeschaute Objekt in die Welt
als Vorstellung eintritt. Zum reinen willenlosen Erkennen kommt es also,
indem das Bewußtseyn anderer Dinge sich so hoch potenzirt, daß
das Bewußtseyn vom eigenen Selbst verschwindet. Denn nur dann faßt
man die Welt rein objektiv auf, wann man nicht mehr weiß, daß
man dazu gehört; und alle Dinge stellen sich um so schöner dar,
je mehr man sich bloß ihrer und je weniger man sich seiner selbst
bewußt ist. Da nun alles Leiden aus dem Willen, der das eigentliche
Selbst ausmacht, hervorgeht; so ist, mit dem Zurücktreten dieser
Seite des Bewußtseyns, zugleich alle Möglichkeit des Leidens
aufgehoben, wodurch der Zustand der reinen Objektivität der Anschauung
ein durchaus beglückender wird; daher ich in ihm den einen der zwei
Bestandtheile des ästhetischen Genusses nachgewiesen habe. Sobald
hingegen das Bewußtseyn des eigenen Selbst, also die Subjektivität,
d.i. der Wille, wieder das Uebergewicht erhält, tritt auch ein demselben
angemessener Grad von Unbehagen oder Unruhe ein: von Unbehagen, sofern
die Leiblichkeit (der Organismus, welcher an sich Wille ist) wieder fühlbar
wird; von Unruhe, sofern der Wille, auf geistigem Wege, durch Wünsche,
Affekte, Leidenschaften, Sorgen, das Bewußtseyn wieder erfüllt.
Denn überall ist der Wille, als das Princip der Subjektivität,
der Gegensatz, ja, Antagonist der Erkenntniß. Die größte
Koncentration der Subjektivität besteht im eigentlichen Willensakt,
in welchem wir daher das deutlichste Bewußtseyn unsers Selbst haben.
Alle andern Erregungen des Willens sind nur Vorbereitungen zu ihm: er
selbst ist für die Subjektivität Das, was für den elektrischen
Apparat das Ueberspringen des Funkens ist. Jede leibliche Empfindung
ist schon an sich Erregung des Willens und zwar öfterer der noluntas,
als der voluntas. Die Erregung desselben auf geistigem Wege ist die, welche
mittelst der Motive geschieht: hier wird also durch die Objektivität
selbst die Subjektivität erweckt und ins Spiel gesetzt. Dies tritt
ein, sobald irgend ein Objekt nicht mehr rein objektiv, also antheilslos,
aufgefaßt wird, sondern, mittelbar oder unmittelbar, Wunsch oder
Abneigung erregt, sei es auch nur mittelst einer Erinnerung: denn alsdann
wirkt es schon als Motiv, im weitesten Sinne dieses Worts. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 888-890).
Ich bemerke hiebei, daß das abstrakte Denken und das Lesen,
welche an Worte geknüpft sind, zwar im weitem Sinne auch zum Bewußtseyn
anderer Dinge, also zur objektiven Beschäftigung des Geistes, gehören;
jedoch nur mittelbar, nämlich mittelst der Begriffe: diese selbst
aber sind das künstliche Produkt der Vernunft und schon daher ein
Werk der Absichtlichkeit. Auch ist bei aller abstrakten Geistesbeschäftigung
der Wille der Lenker, als welcher ihr, seinen Absichten gemäß,
die Richtung ertheilt und auch die Aufmerksamkeit zusammenhält; daher
dieselbe auch stets mit einiger Anstrengung verknüpft ist: diese
aber setzt Thätigkeit des Willens voraus. Bei dieser Art der Geistesthätigkeit
hat also nicht die vollkommene Objektivität des Bewußtseyns
Statt, wie sie, als Bedingung, die ästhetische Auffassung, d.i. die
Erkenntniß der Ideen, begleitet. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 890).
Dem Obigen zufolge ist die reine Objektivität der Anschauung,
vermöge welcher nicht mehr das einzelne Ding als solches, sondern
die Idee seiner Gattung erkannt wird, dadurch bedingt, daß man nicht
mehr seiner selbst, sondern allein der angeschauten Gegenstände sich
bewußt ist, das eigene Bewußtseyn also bloß als der
Träger der objektiven Existenz jener Gegenstände übrig
geblieben ist. Was diesen Zustand erschwert und daher selten macht, ist,
daß darin gleichsam das Accidenz (der Intellekt) die Substanz (den
Willen) bemeistert und aufhebt, wenn gleich nur auf eine kurze Weile.
Hier liegt auch die Analogie und sogar Verwandtschaft desselben mit der
am Ende des folgenden Buches dargestellten Verneinung des Willens.
Obgleich nämlich die Erkenntniß, wie im vorigen Buche nachgewiesen,
aus dem Willen entsprossen ist und in der Erscheinung desselben, dem Organismus,
wurzelt; so wird sie doch gerade durch ihn verunreinigt, wie die Flamme
durch ihr Brennmaterial und seinen Rauch. Hierauf beruht es, daß
wir das rein objektive Wesen der Dinge, die in ihnen hervortretenden Ideen,
nur dann auffassen können, wann wir kein Interesse an ihnen selbst
haben, indem sie in keiner Beziehung zu unserm Willen stehn. Hieraus nun
wieder entspringt es, daß die Ideen der Wesen uns leichter aus dem
Kunstwerk, als aus der Wirklichkeit ansprechen. Denn was wir nur im Bilde,
oder in der Dichtung erblicken, steht außer aller Möglichkeit
irgend einer Beziehung zu unserm Willen; da es schon an sich selbst bloß
für die Erkenntniß daist und sich unmittelbar allein an diese
wendet. Hingegen setzt das Auffassen der Ideen aus der Wirklichkeit gewissermaaßen
ein Abstrahiren vom eigenen Willen, ein Erheben über sein Interesse,
voraus, welches eine besondere Schwungkraft des Intellekts erfordert.
Diese ist im höhern Grade und auf einige Dauer nur dem Genie eigen,
als welches eben darin besteht, daß ein größeres Maaß
von Erkenntnißkraft daist, als der Dienst eines individuellen Willens
erfordert, welcher Ueberschuß frei wird und nun ohne Bezug auf den
Willen die Welt auffaßt. Daß also das Kunstwerk die Auffassung
der Ideen, in welcher der ästhetische Genuß besteht, so sehr
erleichtert, beruht nicht bloß darauf, daß die Kunst, durch
Hervorhebung des Wesentlichen und Aussonderung des Unwesentlichen, die
Dinge deutlicher und charakteristischer darstellt, sondern eben so sehr
darauf, daß das zur rein objektiven Auffassung des Wesens der
Dinge erforderte gänzliche Schweigen des Willens am sichersten dadurch
erreicht wird, daß das angeschaute Objekt selbst gar nicht im Gebiete
der Dinge liegt, welche einer Beziehung zum Willen fähig sind, indem
es kein Wirkliches, sondern ein bloßes Bild ist. Dies nun gilt nicht
allein von den Werken der bildenden Kunst, sondern eben so von der Poesie:
auch ihre Wirkung ist bedingt durch die antheilslose, willenlose und dadurch
rein objektive Auffassung. Diese ist es gerade, welche einen angeschauten
Gegenstand malerisch, einen Vorgang des wirklichen Lebens poetisch erscheinen
läßt; indem nur sie über die Gegenstände der Wirklichkeit
jenen zauberischen Schimmer verbreitet, welchen man bei sinnlich angeschauten
Objekten das Malerische, bei den nur in der Phantasie geschauten das Poetische
nennt. Wenn die Dichter den heitern Morgen, den schönen Abend, die
stille Mondnacht u. dgl. m. besingen; so ist, ihnen unbewußt, der
eigentliche Gegenstand ihrer Verherrlichung das reine Subjekt des Erkennens,
welches durch jene Naturschönheiten hervorgerufen wird, und bei dessen
Auftreten der Wille aus dem Bewußtseyn verschwindet, wodurch diejenige
Ruhe des Herzens eintritt, welche außerdem auf der Welt nicht zu
erlangen ist. Wie könnte sonst z.B. der Vers Nox erat, et coelo
fulgebat luna sereno, // Inter minora sidera, so wohlthuend, ja, bezaubernd
auf uns wirken? Ferner daraus, daß auch die Neuheit und das
völlige Fremdseyn der Gegenstände einer solchen antheilslosen,
rein objektiven Auffassung derselben günstig ist, erklärt es
sich, daß der Fremde, oder bloß Durchreisende, die Wirkung
des Malerischen, oder Poetischen, von Gegenständen erhält, welche
dieselben auf den Einheimischen nicht hervorzubringen vermögen: so
z.B. macht auf Jenen der Anblick einer ganz fremden Stadt oft einen sonderbar
angenehmen Eindruck, den er keineswegs im Bewohner derselben hervorbringt:
denn er entspringt daraus, daß Jener, außer aller Beziehung
zu dieser Stadt und ihren Bewohnern stehend, sie rein objektiv anschaut.
Hierauf beruht zum Theil der Genuß des Reisens. Auch scheint hier
der Grund zu liegen, warum man die Wirkung erzählender oder dramatischer
Werke dadurch zu befördern sucht, daß man die Scene in ferne
Zeiten und Länder verlegt: in Deutschland nach Italien und Spanien;
in Italien nach Deutschland, Polen und sogar Holland. Ist nun die
völlig objektive, von allem Wollen gereinigte, intuitive Auffassung
Bedingung des Genusses ästhetischer Gegenstände; so ist sie
um so mehr die der Hervorbringung derselben. Jedes gute Gemälde,
jedes ächte Gedicht, trägt das Gepräge der beschriebenen
Gemüthsverfassung. Denn nur was aus der Anschauung, und zwar der
rein objektiven, entsprungen, oder unmittelbar durch sie angeregt ist,
enthält den lebendigen Keim, aus welchem ächte und originelle
Leistungen erwachsen können: nicht nur in den bildenden Künsten,
sondern auch in der Poesie, ja, in der Philosophie. Das punctum saliens
jedes schönen Werkes, jedes großen oder tiefen Gedankens, ist
eine ganz objektive Anschauung. Eine solche aber ist durchaus durch das
völlige Schweigen des Willens bedingt, welches den Menschen als reines
Subjekt des Erkennens übrig läßt. Die Anlage zum Vorwalten
dieses Zustandes ist eben das Genie. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 890-893).
Mit dem Verschwinden des Willens aus dem Bewußtseyn ist
eigentlich auch die Individualität, und mit dieser ihr Leiden und
ihre Noth, aufgehoben. Daher habe ich das dann übrig bleibende reine
Subjekt des Erkennens beschrieben als das ewige Weltauge, welches, wenn
auch mit sehr verschiedenen Graden der Klarheit, aus allen lebenden Wesen
sieht, unberührt vom Entstehn und Vergehn derselben, und so, als
identisch mit sich, als stets Eines und das Selbe, der Träger der
Welt der beharrenden Ideen, d.i. der adäquaten Objektität des
Willens, ist; während das individuelle und durch die aus dem Willen
entspringende Individualität in seinem Erkennen getrübte Subjekt,
nur einzelne Dinge zum Objekt hat und wie diese selbst vergänglich
ist. In dem hier bezeichneten Sinne kann man Jedem ein zwiefaches
Daseyn beilegen. Als Wille, und daher als Individuum, ist er nur Eines
und dieses Eine ausschließlich, welches ihm vollauf zu thun und
zu leiden giebt. Als rein objektiv Vorstellendes ist er das reine Subjekt
der Erkenntniß, in dessen Bewußtseyn allein die objektive
Welt ihr Daseyn hat: als solches ist er alle Dinge, sofern er sie anschaut,
und in ihm ist ihr Daseyn ohne Last und Beschwerde. Es ist nämlich
sein Daseyn, sofern es in seiner Vorstellung existirt; aber da ist es
ohne Wille. Sofern es hingegen Wille ist, ist es nicht in ihm. Wohl
ist Jedem in dem Zustande, wo er alle Dinge ist; wehe da, wo er ausschließlich
Eines ist. Jeder Zustand, jeder Mensch, jede Scene des Lebens,
braucht nur rein objektiv aufgefaßt und zum Gegenstand einer Schilderung,
sei es mit dem Pinsel oder mit Worten, gemacht zu werden, um interessant,
allerliebst, beneidenswerth zu erscheinen; aber steckt man darin,
ist man es selbst, da (heißt es oft) mag es der Teufel aushallen.
Daher sagt Goethe: Was im Leben uns verdrießt, // Man im Bilde
gern genießt. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille
und Vorstellung, 1818, S. 893).
In meinen Jünglingsjahren hatte ich eine Periode, wo ich
beständig bemüht war, mich und mein Thun von außen zu
sehn und mir zu schildern; wahrscheinlich um es mir genießbar
zu machen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 893).
Da die hier durchgeführte Betrachtung vor mir nie zur Sprache
gekommen ist, will ich einige psychologische Erläuterungen derselben
hinzufügen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 893).
Bei der unmittelbaren Anschauung der Welt und des Lebens betrachten
wir, in der Regel, die Dinge bloß in ihren Relationen, folglich
ihrem relativen, nicht ihrem absoluten Wesen und Daseyn nach. Wir werden
z.B. Häuser, Schiffe, Maschinen und dgl. ansehn mit dem Gedanken
an ihren Zweck und an ihre Angemessenheit zu demselben; Menschen mit dem
Gedanken an ihre Beziehung zu uns, wenn sie eine solche haben; nächstdem
aber mit dem an ihre Beziehung zu einander, sei es in ihrem gegenwärtigen
Thun und Treiben, oder ihrem Stande und Gewerbe nach, etwan ihre Tüchtigkeit
dazu beurtheilend u.s.w. Wir können eine solche Betrachtung der Relationen
mehr oder weniger weit verfolgen, bis zu den entferntesten Gliedern ihrer
Verkettung: die Betrachtung wird dadurch an Genauigkeit und Ausdehnung
gewinnen; aber ihrer Qualität und Art nach bleibt sie die selbe.
Es ist die Betrachtung der Dinge in ihren Relationen, ja, mittelst dieser,
also nach dem Satz vom Grunde. Dieser Betrachtungsweise ist Jeder meistens
und in der Regel hingegeben: ich glaube sogar, daß die meisten Menschen
gar keiner andern fähig sind. Geschieht es nun aber ausnahmsweise,
daß wir eine momentane Erhöhung der Intensität unserer
intuitiven Intelligenz erfahren; so sehn wir sogleich die Dinge mit ganz
andern Augen, indem wir sie jetzt nicht mehr ihren Relationen nach, sondern
nach Dem, was sie an und für sich selbst sind, auffassen und nun
plötzlich, außer ihrem relativen, auch ihr absolutes Daseyn
wahrnehmen. Alsbald vertritt jedes Einzelne seine Gattung: demnach fassen
wir jetzt das Allgemeine der Wesen auf. Was wir nun dergestalt erkennen,
sind die Ideen der Dinge: aus diesen aber spricht jetzt eine höhere
Weisheit, als die, welche von bloßen Relationen weiß. Auch
wir selbst sind dabei aus den Relationen herausgetreten und dadurch das
reine Subjekt des Erkennens geworden. Was nun aber diesen Zustand
ausnahmsweise herbeiführt, müssen innere physiologische Vorgänge
seyn, welche die Thätigkeit des Gehirns reinigen und erhöhen,
in dem Grade, daß eine solche plötzliche Springfluth derselben
entsteht. Von außen ist derselbe dadurch bedingt, daß wir
der zu betrachtenden Scene völlig fremd und von ihr abgesondert bleiben,
und schlechterdings nicht thätig darin verflochten sind. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 893-894).
Um einzusehn, daß eine rein objektive und daher richtige
Auffassung der Dinge nur dann möglich ist, wann wir dieselben ohne
allen persönlichen Antheil, also unter völligem Schweigen des
Willens betrachten, vergegenwärtige man sich, wie sehr jeder Affekt,
oder Leidenschaft, die Erkenntniß trübt und verfälscht,
ja, jede Neigung oder Abneigung, nicht etwan bloß das Urtheil, nein,
schon die ursprüngliche Anschauung der Dinge entstellt, färbt,
verzerrt. Man erinnere sich, wie, wann wir durch einen glücklichen
Erfolg erfreut sind, die ganze Welt sofort eine heitere Farbe und eine
lachende Gestalt annimmt; hingegen düster und trübe aussieht,
wann Kummer uns drückt; sodann, wie selbst ein lebloses Ding, welches
jedoch das Werkzeug zu irgend einem von uns verabscheuten Vorgang werden
soll, eine scheußliche Physiognomie zu haben scheint: z.B. das Schafott,
die Festung, auf welche wir gebracht werden, der Instrumentenkasten des
Chirurgus, der Reisewagen der Geliebten u.s.w., ja, Zahlen, Buchstaben,
Siegel, können uns furchtbar angrinzen und wie schreckliche Ungeheuer
auf uns wirken. Hingegen sehn die Werkzeuge zur Erfüllung unserer
Wünsche sogleich angenehm und lieblich aus, z.B. die bucklichte Alte
mit dem Liebesbrief; der Jude mit den Louisd'ors, die Strickleiter zum
entrinnen u.s.w. Wie nun hier, bei entschiedenem Abscheu oder Liebe, die
Verfälschung der Vorstellung durch den Willen unverkennbar ist; so
ist sie in minderem Grade vorhanden bei jedem Gegenstande, der nur irgend
eine entfernte Beziehung auf unsern Willen, d.h. auf unsere Neigung oder
Abneigung, hat. Nur wann der Wille, mit seinen Interessen, das Bewußtseyn
geräumt hat und der Intellekt frei seinen eigenen Gesetzen folgt,
und als reines Subjekt die objektive Welt abspiegelt, dabei aber doch,
obwohl von keinem Wollen angespornt, aus eigenem Triebe in höchster
Spannung und Thätigkeit ist, treten Farbe und Gestalt der Dinge in
ihrer wahren und vollen Bedeutung hervor: aus einer solchen Auffassung
allein also können ächte Kunstwerke hervorgehn, deren bleibender
Werth und stets erneuerter Beifall eben daraus entspringt, daß sie
allein das rein Objektive darstellen, als welches den verschiedenen subjektiven
und daher entstellten Anschauungen, als das ihnen allen Gemeinsame und
allein fest Stehende, zum Grunde liegt und durchschimmert als das gemeinsame
Thema aller jener subjektiven Variationen. Denn gewiß stellt die
vor unsern Augen ausgebreitete Natur sich in den verschiedenen Köpfen
sehr verschieden dar: und wie Jeder sie sieht, so allein kann er sie wiedergeben,
sei es durch den Pinsel, oder den Meißel, oder Worte, oder Geberden
auf der Bühne. Nur Objektivität befähigt zum Künstler:
sie ist aber allein dadurch möglich, daß der Intellekt, von
seiner Wurzel, dem Willen, abgelöst, frei schwebend, und doch höchst
energisch thätig sei. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als
Wille und Vorstellung, 1818, S. 894-895).
Dem Jüngling, dessen anschauender Intellekt noch mit frischer
Energie wirkt, stellt sich wohl oft die Natur mit vollkommener Objektivität
und daher in voller Schönheit dar. Aber den Genuß eines solchen
Anblicks stört bisweilen die betrübende Reflexion, daß
die gegenwärtigen, sich so schön darstellenden Gegenstände
nicht auch in einer persönlichen Beziehung zu ihm stehn, vermöge
deren sie ihn interessiren und freuen könnten: er erwartet nämlich
sein Leben in Gestalt eines interessanten Romans. »Hinter jenem
vorspringenden Felsen müßte die wohlberittene Schaar der Freunde
meiner harren, an jenem Wasserfall die Geliebte ruhen, dieses
schön beleuchtete Gebäude ihre Wohnung und jenes umrankte Fenster
das ihrige seyn; aber diese schöne Welt ist öde für
mich!« u.s.w. Dergleichen melancholische Jünglingsschwärmereien
verlangen eigentlich etwas sich geradezu Widersprechendes. Denn die Schönheit,
mit der jene Gegenstände sich darstellen, beruht gerade auf der reinen
Objektivität, d.i. Interessenlosigkeit, ihrer Anschauung, und würde
daher durch die Beziehung auf den eigenen Willen, welche der Jüngling
schmerzlich vermißt, sofort aufgehoben, mithin der ganze Zauber,
der ihm jetzt einen, wenn auch mit einer schmerzlichen Beimischung versetzten
Genuß gewährt, gar nicht vorhanden seyn. Das Selbe gilt
übrigens von jedem Alter und in jedem Verhältniß: die
Schönheit landschaftlicher Gegenstände, welche uns jetzt entzückt,
würde, wenn wir in persönlichen Beziehungen zu ihnen ständen,
deren wir uns stets bewußt bleiben, verschwunden seyn. Alles ist
nur so lange schön, als es uns nicht angeht. (Hier ist nicht die
Rede von verliebter Leidenschaft, sondern von ästhetischem Genuß.)
Das Leben ist nie schön, sondern nur die Bilder des Lebens sind es,
nämlich im verklärenden Spiegel der Kunst oder der Poesie; zumal
in der Jugend, als wo wir es noch nicht kennen. Mancher Jüngling
würde große Beruhigung erhalten, wenn man ihm zu dieser Einsicht
verhelfen könnte. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille
und Vorstellung, 1818, S. 895-896).
Warum wirkt der Anblick des Vollmondes so wohlthätig, beruhigend
und erhebend? Weil der Mond ein Gegenstand der Anschauung, aber nie des
Wollens ist: »Die Sterne, die begehrt man nicht, // Man freut
sich ihrer Pracht.« (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 896).
Ferner ist er erhaben, d.h. stimmt uns erhaben, weil er, ohne
alle Beziehung auf uns, dem irdischen Treiben ewig fremd, dahinzieht,
und Alles sieht, aber an nichts Antheil nimmt. Bei seinem Anblick schwindet
daher der Wille, mit seiner steten Noth, aus dem Bewußtseyn, und
läßt es als ein rein erkennendes zurück. Vielleicht mischt
sich auch noch ein Gefühl bei, daß wir diesen Anblick mit Millionen
theilen, deren individuelle Verschiedenheit darin erlischt, so daß
sie in diesem Anschauen Eines sind; welches ebenfalls den Eindruck des
Erhabenen erhöht. Dieser wird endlich auch dadurch befördert,
daß der Mond leuchtet, ohne zu wärmen; worin gewiß der
Grund liegt, daß man ihn keusch genannt und mit der Diana identificirt
hat. In Folge dieses ganzen wohlthätigen Eindruckes auf unser
Gemüth wird der Mond allmälig der Freund unsers Busens, was
hingegen die Sonne nie wird, welcher, wie einem überschwänglichen
Wohlthäter, wir gar nicht ins Gesicht zu sehn vermögen.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 896).
Als Zusatz zu dem, § 38 des ersten Bandes, über den
ästhetischen Genuß, welchen das Licht, die Spiegelung und die
Farben gewähren, Gesagten, finde hier noch folgende Bemerkung Raum.
Die ganz unmittelbare, gedankenlose, aber auch namenlose Freude, welche
der durch metallischen Glanz, noch mehr durch Transparenz verstärkte
Eindruck der Farben in uns erregt, wie z.B. bei farbigen Fenstern, noch
mehr mittelst der Wolken und ihres Reflexes, beim Sonnenuntergange,
beruht zuletzt darauf, daß hier auf die leichteste Weise, nämlich
auf eine beinahe physisch nothwendige, unser ganzer Antheil für das
Erkennen gewonnen wird, ohne irgend eine Erregung unsers Willens; wodurch
wir in den Zustand des reinen Erkennens treten, wenn gleich dasselbe hier,
in der Hauptsache, in einem bloßen Empfinden der Affektion der Retina
besteht, welches jedoch, als an sich von Schmerz oder Wollust völlig
frei, ohne alle direkte Erregung des Willens ist, also dem reinen Erkennen
angehört. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 897).
Kapitel 31 (dieses Kapitel bezieht sich auf §
36 des 1. Bandes): Vom Genie.
Die überwiegende Fähigkeit zu der in den beiden vorhergegangenen
Kapiteln geschilderten Erkenntnißweise, aus welcher alle ächten
Werke der Künste, der Poesie und selbst der Philosophie entspringen,
ist es eigentlich, die man mit dem Namen des Genies bezeichnet. Da dieselbe
demnach zu ihrem Gegenstande die (Platonischen) Ideen hat, diese aber
nicht in abstracto, sondern nur anschaulich aufgefaßt
werden; so muß das Wesen des Genies in der Vollkommenheit und Energie
der anschauenden Erkenntniß liegen. Dem entsprechend hören
wir als Werke des Genies am entschiedensten solche bezeichnen, welche
unmittelbar von der Anschauung ausgehn und an die Anschauung sich wenden,
also die der bildenden Künste, und nächstdem die der Poesie,
welche ihre Anschauungen durch die Phantasie vermittelt. Auch macht
sich schon hier die Verschiedenheit des Genies vom bloßen Talent
bemerkbar, als welches ein Vorzug ist, der mehr in der größern
Gewandtheit und Schärfe der diskursiven, als der intuitiven Erkenntniß
liegt. Der damit Begabte denkt rascher und richtiger als die Uebrigen;
das Genie hingegen schaut eine andere Welt an, als sie Alle, wiewohl nur
indem es in die auch ihnen vorliegende tiefer hineinschaut, weil sie in
seinem Kopfe sich objektiver, mithin reiner und deutlicher darstellt.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 897).
Der Intellekt ist, seiner Bestimmung nach, bloß das Medium
der Motive: demzufolge faßt er ursprünglich an den Dingen nichts
weiter auf, als ihre Beziehungen zum Willen, die direkten, die indirekten,
die möglichen. Bei den Thieren, wo es fast ganz bei den direkten
bleibt, ist eben darum die Sache am augenfälligsten: was auf ihren
Willen keinen Bezug hat, ist für sie nicht da. Deshalb sehn wir bisweilen
mit Verwunderung, daß selbst kluge Thiere etwas an sich Auffallendes
gar nicht bemerken, z.B. über augenfällige Veränderungen
an unserer Person oder Umgebung kein Befremden äußern. Beim
Normalmenschen kommen nun zwar die indirekten, ja die möglichen Beziehungen
zum Willen hinzu, deren Summe den Inbegriff der nützlichen Kenntnisse
ausmacht; aber in den Beziehungen bleibt auch hier die Erkenntniß
stecken. Daher eben kommt es im normalen Kopfe nicht zu einem ganz rein
objektiven Bilde der Dinge; weil seine Anschauungskraft, sobald sie nicht
vom Willen angespornt und in Bewegung gesetzt wird, sofort ermattet und
unthätig wird, indem sie nicht Energie genug hat, um aus eigener
Elasticität und zwecklos die Welt rein objektiv aufzufassen. Wo hingegen
dies geschieht, wo die vorstellende Kraft des Gehirns einen solchen Ueberschuß
hat, daß ein reines, deutliches, objektives Bild der Außenwelt
sich zwecklos darstellt, als welches für die Absichten des Willens
unnütz, in den höhern Graden sogar störend ist, und selbst
ihnen schädlich werden kann; da ist schon wenigstens die Anlage
zu jener Abnormität vorhanden, die der Name des Genies bezeichnet,
welcher andeutet, daß hier ein dem Willen, d.i. dem eigentlichen
Ich, Fremdes, gleichsam ein von außen hinzukommender Genius, thätig
zu werden scheint. Aber ohne Bild zu reden: das Genie besteht darin, daß
die erkennende Fähigkeit bedeutend stärkere Entwickelung erhalten
hat, als der Dienst des Willens, zu welchem allein sie ursprünglich
entstanden ist, erfordert. Daher könnte, der Strenge nach, die Physiologie
einen solchen Ueberschuß der Gehirnthätigkeit und mit ihr des
Gehirns selbst, gewissermaaßen den monstris per excessum
beizählen, welche sie bekanntlich den monstris per defectum
und denen per situm mutatum nebenordnet. Das Genie besteht also
in einem abnormen Uebermaaß des Intellekts, welches seine Benutzung
nur dadurch finden kann, daß es auf das Allgemeine des Daseyns verwendet
wird; wodurch es alsdann dem Dienste des ganzen Menschengeschlechts obliegt,
wie der normale Intellekt dem des Einzelnen. Um die Sache recht faßlich
zu machen, könnte man sagen: wenn der Normalmensch aus 2/3 Wille
und 1/3 Intellekt besteht; so hat hingegen das Genie 2/3 Intellekt und
1/3 Wille (in meiner Ausgabe ist zu lesen: »das
Genie 1/3 Intellekt und 1/3 Wille«; HB).
Dies ließe sich dann noch durch ein chemisches Gleichniß erläutern:
die Basis und die Säure eines Mittelsalzes unterscheiden sich dadurch,
daß in jeder von Beiden das Radikal zum Oxygen das umgekehrte Verhältniß,
von dem im andern, hat. Die Basis nämlich, oder das Alkali, ist dies
dadurch, daß in ihr das Radikal überwiegend ist gegen das Oxygen,
und die Säure ist dies dadurch, daß in ihr das Oxygen das Ueberwiegende
ist. Eben so nun verhalten sich, in Hinsicht auf Willen und Intellekt,
Normalmensch und Genie. Daraus entspringt zwischen ihnen ein durchgreifender
Unterschied, der schon in ihrem ganzen Wesen, Thun und Treiben sichtbar
ist, recht eigentlich aber in ihren Leistungen an den Tag tritt. Noch
könnte man als Unterschied hinzufügen, daß, während
jener totale Gegensatz zwischen den chemischen Stoffen die stärkste
Wahlverwandtschaft und Anziehung zu einander begründet, beim Menschengeschlecht
eher das Gegentheil sich einzufinden pflegt. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 897-899).
Der Wille, welcher die Wurzel des Intellekts ist, widersetzt sich
jeder auf irgend etwas Anderes als seine Zwecke gerichteten Thätigkeit
desselben. Daher ist der Intellekt einer rein objektiven und tiefen Auffassung
der Außenwelt nur dann fähig, wann er sich von dieser seiner
Wurzel wenigstens einstweilen abgelöst hat. So lange er derselben
noch verbunden bleibt, ist er aus eigenen Mitteln gar keiner Thätigkeit
fähig, sondern schläft in Dumpfheit, so oft der Wille (das Interesse)
ihn nicht weckt und in Bewegung setzt. Geschieht dies jedoch, so ist er
zwar sehr tauglich, dem Interesse des Willens gemäß, die Relationen
der Dinge zu erkennen, wie dies der kluge Kopf thut, der immer auch ein
aufgeweckter, d.h. vom Wollen lebhaft erregter Kopf seyn muß; aber
er ist eben deshalb nicht fähig, das rein objektive Wesen der Dinge
zu erfassen. Denn das Wollen und die Zwecke machen ihn so einseitig, daß
er an den Dingen nur das sieht, was sich darauf bezieht, das Uebrige aber
theils verschwindet, theils verfälscht ins Bewußtseyn tritt.
So wird z.B. ein in Angst und Eile Reisender den Rhein mit seinen Ufern
nur als einen Queerstrich, die Brücke darüber nur als einen
diesen schneidenden Strich sehn. Im Kopfe des von seinen Zwecken erfüllten
Menschen sieht die Welt aus, wie eine schöne Gegend auf einem Schlachtfeldplan
aussieht. Freilich sind dies Extreme, der Deutlichkeit wegen genommen:
allein auch jede nur geringe Erregung des Willens wird eine geringe, jedoch
stets jenen analoge Verfälschung der Erkenntniß zur Folge haben.
In ihrer wahren Farbe und Gestalt, in ihrer ganzen und richtigen Bedeutung
kann die Welt erst dann hervortreten, wann der Intellekt, des Wollens
ledig, frei über den Objekten schwebt und ohne vom Willen angetrieben
zu seyn, dennoch energisch thätig ist. Allerdings ist dies der Natur
und Bestimmung des Intellekts entgegen, also gewissermaaßen widernatürlich,
daher eben überaus selten: aber gerade hierin liegt das Wesen des
Genies, als bei welchem allein jener Zustand in hohem Grade und
anhaltend Statt findet, während er bei den Uebrigen nur annäherungs-
und ausnahmsweise eintritt. In dem hier dargelegten Sinne nehme
ich es, wenn Jean Paul (»Vorschule der Aesthetik«,
§ 12) das Wesen des Genies in die Besonnenheit setzt.
Nämlich der Normalmensch ist in den Strudel und Tumult des Lebens,
dem er durch seinen Willen angehört, eingesenkt: sein Intellekt ist
erfüllt von den Dingen und den Vorgängen des Lebens; aber diese
Dinge und das Leben selbst, in objektiver Bedeutung, wird er gar nicht
gewahr; wie der Kaufmann auf der Amsterdammer Börse vollkommen vernimmt
was sein Nachbar sagt, aber das dem Rauschen des Meeres ähnliche
Gesumme der ganzen Börse, darüber der entfernte Beobachter erstaunt,
gar nicht hört. Dem Genie hingegen, dessen Intellekt vom Willen,
also von der Person, abgelöst ist, bedeckt das diese Betreffende
nicht die Welt und die Dinge selbst; sondern es wird ihrer deutlich inne,
es nimmt sie, an und für sich selbst, in objektiver Anschauung, wahr:
in diesem Sinne ist es besonnen. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 902-903).
Die hier dargelegten Betrachtungen über das Genie schließen
sich ergänzend an die im 22. Kapitel (**)
enthaltene Darstellung des in der ganzen Reihe der Wesen wahrnehmbaren,
immer weitern Auseinandertretens des Willens und des Intellekts.
Dieses eben erreicht im Genie seinen höchsten Grad, als wo es bis
zur völligen Ablösung des Intellekts von seiner Wurzel, dem
Willen, geht, so daß der Intellekt hier völlig frei wird, wodurch
allererst die Welt als Vorstellung zur vollkommenen Objektivation gelangt.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 904).
Jetzt noch einige die Individualität des Genies betreffende
Bemerkungen. Schon Aristoteles hat, nach Cicero (Tusc.,
I, 33), bemerkt, omnes ingeniosos melancholicos esse; welches sich,
ohne Zweifel, auf die Stelle in des Aristoteles Problemata, 30, I, bezieht.
Auch Goethe sagt: »Meine Dichtergluth war sehr gering,
// So lang ich dem Guten entgegenging: // Dagegen brannte sie lichterloh,
// Wann ich vor drohendem Uebel floh. // Zart Gedicht, wie Regenbogen,
// Wird nur auf dunkeln Grund gezogen: // Darum behagt dem Dichtergenie
// Das Element der Melancholie.« Dies ist daraus zu erklären,
daß, da der Wille seine ursprüngliche Herrschaft über
den Intellekt stets wieder geltend macht, dieser, unter ungünstigen
persönlichen Verhältnissen, sich leichter derselben entzieht;
weil er von widerwärtigen Umständen sich gern ab wendet, gewissermaaßen
um sich zu zerstreuen, und nun mit desto größerer Energie sich
auf die fremde Außenwelt richtet, also leichter rein objektiv wird.
Günstige persönliche Verhältnisse wirken umgekehrt. Im
Ganzen und Allgemeinen jedoch beruht die dem Genie beigegebene Melancholie
darauf, daß der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekt er sich
beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 904).
Alle Pfuscher sind es, im letzten Grunde, dadurch, daß ihr
Intellekt, dem Willen noch zu fest verbunden, nur unter dessen Anspornung
in Thätigkeit geräth, und daher eben ganz in dessen Dienste
bleibt. Sie sind demzufolge keiner andern, als persönlicher Zwecke
fähig. Diesen gemäß schaffen sie schlechte Gemälde,
geistlose Gedichte, seichte, absurde, sehr oft auch unredliche Philosopheme,
wann es nämlich gilt, durch fromme Unredlichkeit, sich hohen Vorgesetzten
zu empfehlen. All ihr Thun und Denken ist also persönlich. Daher
gelingt es ihnen höchstens, sich das Aeußere, Zufällige
und Beliebige fremder, ächter Werke als Manier anzueignen, wo sie
dann, statt des Kerns, die Schaale fassen, jedoch vermeinen, Alles erreicht,
ja, jene übertroffen zu haben. Wird dennoch das Mißlingen offenbar;
so hofft Mancher, es durch seinen guten Willen am Ende doch zu erreichen.
Aber gerade dieser gute Wille macht es unmöglich; weil derselbe doch
nur auf persönliche Zwecke hinausläuft: bei solchen aber kann
es weder mit Kunst, noch Poesie, noch Philosophie je Ernst werden. Auf
Jene paßt daher ganz eigentlich die Redensart: sie stehn sich selbst
im Lichte. Ihnen ahndet es nicht, daß allein der von der Herrschaft
des Willens und allen seinen Projekten losgerissene und dadurch frei thätige
Intellekt, weil nur er den wahren Ernst verleiht, zu ächten Produktionen
befähigt: und das ist gut für sie; sonst sprängen sie ins
Wasser. Der gute Wille ist in der Moral Alles; aber
in der Kunst ist er nichts: da gilt, wie schon das Wort andeutet, allein
das Können. Alles kommt zuletzt darauf an, wo der eigentliche
Ernst des Menschen liegt. Bei fast Allen liegt er ausschließlich
im eigenen Wohl und dem der Ihrigen; daher sie dies und nichts Anderes
zu fördern im Stande sind; weil eben kein Vorsatz, keine willkürliche
und absichtliche Anstrengung, den wahren, tiefen, eigentlichen Ernst verleiht,
oder ersetzt, oder richtiger verlegt. Denn er bleibt stets da, wo die
Natur ihn hingelegt hat: ohne ihn aber kann Alles nur halb betrieben werden.
Daher sorgen, aus dem selben Grunde, geniale Individuen oft schlecht für
ihre eigene Wohlfahrt. Wie ein bleiernes Anhängsel einen Körper
immer wieder in die Lage zurückbringt, die sein durch dasselbe determinirter
Schwerpunkt erfordert; so zieht der wahre Ernst des Menschen die Kraft
und Aufmerksamkeit seines Intellekts immer dahin zurück, wo er liegt:
alles Andere treibt der Mensch ohne wahren Ernst. Daher sind allein
die höchst seltenen, abnormen Menschen, deren wahrer Ernst nicht
im Persönlichen und Praktischen, sondern im Objektiven und Theoretischen
liegt, im Stande, das Wesentliche der Dinge und der Welt, also die höchsten
Wahrheiten, aufzufassen und in irgend einer Art und Weise wiederzugeben.
Denn ein solcher außerhalb des Individui, in das Objektive
fallender Ernst desselben ist etwas der menschlichen Natur Fremdes, etwas
Unnatürliches, eigentlich Uebernatürliches: jedoch allein durch
ihn ist ein Mensch groß, und demgemäß wird alsdann sein
Schaffen einem von ihm verschiedenen Genius zugeschrieben, der
ihn in Besitz nehme. Einem solchen Menschen ist sein Bilden, Dichten oder
Denken Zweck, den Uebrigen ist es Mittel. Diese suchen dabei
ihre Sache, und wissen, in der Regel, sie wohl zu fördern,
da sie sich den Zeitgenossen anschmiegen, bereit, den Bedürfnissen
und Launen derselben zu dienen: daher leben sie meistens in glücklichen
Umständen; Jener oft in sehr elenden. Denn sein persönliches
Wohl opfert er dem objektiven Zweck: er kann eben nicht anders; weil dort
sein Ernst liegt. Sie halten es umgekehrt: darum sind sie klein; er aber
ist groß. Demgemäß ist sein Werk für alle Zeiten,
aber die Anerkennung desselben fängt meistens erst bei der Nachwelt
an: sie leben und sterben mit ihrer Zeit. Groß überhaupt
ist nur Der, welcher bei seinem Wirken, dieses sei nun ein praktisches,
oder ein theoretisches, nicht seine Sache sucht; sondern allein
einen objektiven Zweck verfolgt: er ist es aber selbst dann noch,
wann, im Praktischen, dieser Zweck ein mißverstandener, und sogar
wenn er, in Folge davon, ein Verbrechen seyn sollte. Daß er nicht
sich und seine Sache sucht, dies macht ihn, unter allen Umständen,
groß. Klein hingegen ist alles auf persönliche
Zwecke gerichtete Treiben; weil der dadurch in Thätigkeit Versetzte
sich nur in seiner eigenen, verschwindend kleinen Person erkennt und findet.
Hingegen wer groß ist, erkennt sich in Allem und daher im Ganzen:
er lebt nicht, wie Jener, allein im Mikrokosmos, sondern noch mehr im
Makrokosmos. Darum eben ist das Ganze ihm angelegen, und er sucht es zu
erfassen, um es darzustellen, oder um es zu erklären, oder um praktisch
darauf zu wirken. Denn ihm ist es nicht fremd; er fühlt daß
es ihn angeht. Wegen dieser Ausdehnung seiner Sphäre nennt man ihn
groß. Demnach gebührt nur dem wahren Helden, in irgend einem
Sinn, und dem Genie jenes erhabene Prädikat: es besagt, daß
sie, der menschlichen Natur entgegen, nicht ihre eigene Sache gesucht,
nicht für sich, sondern für Alle gelebt haben. Wie nun
offenbar die Allermeisten stets klein seyn müssen und niemals
groß seyn können; so ist doch das Umgekehrte nicht möglich,
daß nämlich Einer durchaus, d.h. stets und jeden Augenblick,
groß sei: »Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht, //
Und die Gewohnheit nennt er seine Amme.« Jeder große Mann
nämlich muß dennoch oft nur das Individuum seyn, nur sich im
Auge haben, und das heißt klein seyn. Hierauf beruht die sehr richtige
Bemerkung, daß kein Held es vor seinem Kammerdiener bleibt; nicht
aber darauf, daß der Kammerdiener den Helden nicht zu schätzen
verstehe; welches Goethe, in den »Wahlverwandtschaften«
(Bd. 2, Kap. 5), als Einfall der Ottilie auftischt. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 905-907).
Das Genie ist sein eigener Lohn: denn das Beste was Einer ist,
muß er nothwendig für sich selbst seyn. »Wer mit einem
Talente, zu einem Talente geboren ist, findet in demselben sein schönstes
Daseyn«, sagt Goethe. Wenn wir zu einem großen Mann
der Vorzeit hinaufblicken, denken wir nicht: »Wie glücklich
ist er, von uns Allen noch jetzt bewundert zu werden«; sondern:
»Wie glücklich muß er gewesen seyn im unmittelbaren Genuß
eines Geistes, an dessen zurückgelassenen Spuren Jahrhunderte sich
erquicken.« Nicht im Ruhme, sondern in Dem, wodurch man ihn erlangt,
liegt der Werth, und in der Zeugung unsterblicher Kinder der Genuß.
Daher sind Die, welche die Nichtigkeit des Nachruhmes daraus zu beweisen
suchen, daß wer ihn erlangt, nichts davon erfährt, dem Klügling
zu vergleichen, der einem Manne, welcher auf einen Haufen Austerschaalen
im Hofe seines Nachbarn neidische Blicke würfe, sehr weise die gänzliche
Unbrauchbarkeit derselben demonstriren wollte. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 907).
Der gegebenen Darstellung des Wesens des Genies zufolge ist dasselbe
insofern naturwidrig, als es darin besteht, daß der Intellekt, dessen
eigentliche Bestimmung der Dienst des Willens ist, sich von diesem Dienste
emancipirt, um auf eigene Hand thätig zu seyn. Demnach ist das Genie
ein seiner Bestimmung untreu gewordener Intellekt. Hierauf beruhen die
demselben beigegebenen Nachtheile, zu deren Betrachtung wir jetzt den
Weg uns dadurch bahnen, daß wir das Genie mit dem weniger entschiedenen
Ueberwiegen des Intellekts vergleichen. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 907).
Der Intellekt des Normalmenschen, streng an den Dienst seines
Willens gebunden, mithin eigentlich bloß mit der Aufnahme der Motive
beschäftigt, läßt sich ansehn als der Komplex von Drahtfäden,
womit jede dieser Puppen auf dem Welttheater in Bewegung gesetzt wird.
Hieraus entspringt der trockene, gesetzte Ernst der meisten Leute, der
nur noch von dem der Thiere übertroffen wird, als welche niemals
lachen. Dagegen könnte man das Genie, mit seinem entfesselten Intellekt,
einem unter den großen Drahtpuppen des berühmten Mailändischen
Puppentheaters mitspielenden, lebendigen Menschen vergleichen, der unter
ihnen der Einzige wäre, welcher Alles wahrnähme und daher gern
sich von der Bühne auf eine Weile losmachte, um aus den Logen das
Schauspiel zu genießen; das ist die geniale Besonnenheit.
Aber selbst der überaus verständige und vernünftige
Mann, den man beinahe weise nennen könnte, ist vom Genie gar sehr
und zwar dadurch verschieden, daß sein Intellekt eine praktische
Richtung behält, auf die Wahl der allerbesten Zwecke und Mittel bedacht
ist, daher im Dienste des Willens bleibt und demnach recht eigentlich
naturgemäß beschäftigt ist. Der feste, praktische Lebensernst,
welchen die Römer als gravitas bezeichneten, setzt voraus,
daß der Intellekt nicht den Dienst des Willens verlasse, um hinauszuschweifen
zu Dem, was diesen nicht angeht: darum läßt er nicht jenes
Auseinandertreten des Intellekts und des Willens zu, welches Bedingung
des Genies ist. Der kluge, ja der eminente Kopf, der zu großen Leistungen
im Praktischen Geeignete, ist es gerade dadurch, daß die Objekte
seinen Willen lebhaft erregen und zum rastlosen Nachforschen ihrer Verhältnisse
und Beziehungen anspornen. Auch sein Intellekt ist also mit dem Willen
fest verwachsen. Vor dem genialen Kopf hingegen schwebt, in seiner objektiven
Auffassung, die Erscheinung der Welt als ein ihm Fremdes, ein Gegenstand
der Kontemplation, der sein Wollen aus dem Bewußtseyn verdrängt.
Um diesen Punkt dreht sich der Unterschied zwischen der Befähigung
zu Thaten und der zu Werken. Die letztere verlangt Objektivität
und Tiefe der Erkenntniß, welche gänzliche Sonderung des Intellekts
vom Willen zur Voraussetzung hat: die erstere hingegen verlangt Anwendung
der Erkenntniß, Geistesgegenwart und Entschlossenheit, welche erfordert,
daß der Intellekt unausgesetzt den Dienst des Willens besorge. Wo
das Band zwischen Intellekt und Wille gelöst ist, wird der von seiner
natürlichen Bestimmung abgewichene Intellekt den Dienst des Willens
vernachlässigen: er wird z.B. selbst in der Noth des Augenblicks
noch seine Emancipation geltend machen und etwan die Umgebung, von welcher
dem Individuo gegenwärtige Gefahr droht, ihrem malerischen Eindruck
nach aufzufassen nicht umhin können. Der Intellekt des vernünftigen
und verständigen Mannes hingegen ist stets auf seinem Posten, ist
auf die Umstände und deren Erfordernisse gerichtet: ein solcher wird
daher in allen Fällen das der Sache Angemessene beschließen
und ausführen, folglich keineswegs in jene Excentricitäten,
persönliche Fehltritte, ja, Thorheiten verfallen, denen das Genie
darum ausgesetzt ist, daß sein Intellekt nicht ausschließlich
der Führer und Wächter seines Willens bleibt, sondern, bald
mehr bald weniger, vom rein Objektiven in Anspruch genommen wird. Den
Gegensatz, in welchem die beiden hier abstrakt dargestellten, gänzlich
verschiedenen Arten der Befähigung zu einander stehn, hat Goethe
uns im Widerspiel des Tasso und Antonio veranschaulicht. Die oft bemerkte
Verwandtschaft des Genies mit dem Wahnsinn beruht eben hauptsächlich
auf jener, dem Genie wesentlichen, dennoch aber naturwidrigen Sonderung
des Intellekts vom Willen. Diese aber selbst ist keineswegs Dem zuzuschreiben,
daß das Genie von geringerer Intensität des Willens begleitet
sei; da es vielmehr durch einen heftigen und leidenschaftlichen Charakter
bedingt ist: sondern sie ist daraus zu erklären, daß der praktisch
Ausgezeichnete, der Mann der Thaten, bloß das ganze und volle Maaß
des für einen energischen Willen erforderten Intellekts hat, während
den meisten Menschen sogar dieses abgeht; das Genie aber in einem völlig
abnormen, wirklichen Uebermaaß von Intellekt besteht, dergleichen
zum Dienste keines Willens erfordert ist. Dieserhalb eben sind die Männer
der ächten Werke tausend Mal seltener, als die Männer der Thaten.
Jenes abnorme Uebermaaß des Intellekts eben ist es, vermöge
dessen dieser das entschiedene Uebergewicht erhält, sich vom Willen
losmacht und nun, seines Ursprungs vergessend, aus eigener Kraft und Elasticität
freithätig ist; woraus die Schöpfungen des Genies hervorgehn.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 907-909).
Eben dieses nun ferner, daß das Genie im Wirken des freien,
d.h. vom Dienste des Willens emancipirten Intellekts besteht, hat zur
Folge, daß die Produktionen desselben keinen nützlichen Zwecken
dienen. Es werde musicirt, oder philosophirt, gemalt, oder gedichtet;
ein Werk des Genies ist kein Ding zum Nutzen. Unnütz zu seyn,
gehört zum Charakter der Werke des Genies: es ist ihr Adelsbrief.
Alle übrigen Menschenwerke sind da zur Erhaltung, oder Erleichterung
unserer Existenz; bloß die hier in Rede stehenden nicht: sie allein
sind ihrer selbst wegen da, und sind, in diesem Sinn, als die Blüthe,
oder der reine Ertrag des Daseyns anzusehn. Deshalb geht beim Genuß
derselben uns das Herz auf: denn wir tauchen dabei aus dem schweren Erdenäther
der Bedürftigkeit auf. Diesem analog sehn wir, auch außerdem,
das Schöne selten mit dem Nützlichen vereint. Die hohen und
schönen Bäume tragen kein Obst: die Obstbäume sind kleine,
häßliche Krüppel. Die gefüllte Gartenrose ist nicht
fruchtbar, sondern die kleine, wilde, fast geruchlose ist es. Die schönsten
Gebäude sind nicht die nützlichen: ein Tempel ist kein Wohnhaus.
Ein Mensch von hohen, seltenen Geistesgaben, genöthigt einem bloß
nützlichen Geschäft, dem der Gewöhnlichste gewachsen wäre,
obzuliegen, gleicht einer köstlichen, mit schönster Malerei
geschmückten Vase, die als Kochtopf verbraucht wird; und die nützlichen
Leute mit den Leuten von Genie vergleichen, ist wie Bausteine mit Diamanten
vergleichen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 909-910).
Der bloß praktische Mensch also gebraucht seinen Intellekt
zu Dem, wozu ihn die Natur bestimmte, nämlich zum Auffassen der Beziehungen
der Dinge, theils zu einander, theils zum Willen des erkennenden Individuums.
Das Genie hingegen gebraucht ihn, der Bestimmung desselben entgegen, zum
Auffassen des objektiven Wesens der Dinge. Sein Kopf gehört daher
nicht ihm, sondern der Welt an, zu deren Erleuchtung in irgend einem Sinne
er beitragen wird. Hieraus müssen dem damit begünstigten Individuo
vielfältige Nachtheile erwachsen (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 910).
Darum also fehlt dem Genie die Nüchternheit, als welche
gerade darin besteht, daß man in den Dingen nichts weiter sieht,
als was ihnen, besonders in Hinsicht auf unsere möglichen Zwecke,
wirklich zukommt: daher kann kein nüchterner Mensch ein Genie seyn.
Zu den angegebenen Nachthellen gesellt sich nun noch die übergroße
Sensibilität, welche ein abnorm erhöhtes Nerven- und Cerebral-Leben
mit sich bringt, und zwar im Verein mit der das Genie ebenfalls bedingenden
Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit des Wollens, die sich physisch als
Energie des Herzschlages darstellt. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 911).
Aus allem Diesen entspringt sehr leicht jene Ueberspanntheit der
Stimmung, jene Heftigkeit der Affekte, jener schnelle Wechsel der Laune,
unter vorherrschender Melancholie, die Goethe uns im Tasso vor
Augen gebracht hat. Welche Vernünftigkeit, ruhige Fassung, abgeschlossene
Uebersicht, völlige Sicherheit und Gleichmäßigkeit des
Betragens zeigt doch der wohlausgestattete Normalmensch, im Vergleich
mit der bald träumerischen Versunkenheit, bald leidenschaftlichen
Aufregung des Genialen, dessen innere Quaal der Mutterschooß unsterblicher
Werke ist. Zu diesem Allen kommt noch, daß das Genie wesentlich
einsam lebt. Es ist zu selten, als daß es leicht auf seines Gleichen
treffen könnte, und zu verschieden von den Uebrigen, um ihr Geselle
zu seyn. Bei ihnen ist das Wollen, bei ihm das Erkennen das Vorwaltende:
daher sind ihre Freuden nicht seine, seine nicht ihre. Sie sind bloß
moralische Wesen und haben bloß persönliche Verhältnisse:
er ist zugleich ein reiner Intellekt, der als solcher der ganzen Menschheit
angehört. Der Gedankengang des von seinem mütterlichen Boden,
dem Willen, abgelösten und nur periodisch zu ihm zurückkehrenden
Intellekts wird sich von dem des normalen, auf seinem Stamme haftenden,
bald durchweg unterscheiden. Daher, und wegen der Ungleichheit des Schritts,
ist Jener nicht zum gemeinschaftlichen Denken, d.h. zur Konversation mit
den Andern geeignet: sie werden an ihm und seiner drückenden Ueberlegenheit
so wenig Freude haben, wie er an ihnen. Sie werden daher sich behaglicher
mit ihres Gleichen fühlen, und er wird die Unterhaltung mit seines
Gleichen, obschon sie in der Regel nur durch ihre nachgelassenen Werke
möglich ist, vorziehn. .... Das glücklichste Loos, was dem Genie
werden kann, ist Entbindung vom Thun und Lassen, als welches nicht sein
Element ist, und freie Muße zu seinem Schaffen. Aus diesem
Allen ergiebt sich, daß wenn gleich das Genie den damit Begabten
in den Stunden, wo er, ihm hingegeben, ungehindert im Genuß desselben
schwelgt, hoch beglücken mag; dasselbe dennoch keineswegs geeignet
ist, ihm einen glücklichen Lebenslauf zu bereiten, vielmehr das Gegentheil.
Dies bestätigt auch die in den Biographien niedergelegte Erfahrung.
Dazu kommt noch ein Mißverhältniß nach außen, indem
das Genie, in seinem Treiben und Leisten selbst, meistens mit seiner Zeit
im Widerspruch und Kampfe steht. Die bloßen Talentmänner kommen
stets zu rechter Zeit: denn, wie sie vom Geiste ihrer Zeit angeregt und
vom Bedürfniß derselben hervorgerufen werden; so sind sie auch
gerade nur fähig diesem zu genügen. Sie greifen daher ein in
den fortschreitenden Bildungsgang ihrer Zeitgenossen, oder in die schrittweise
Förderung einer speciellen Wissenschaft: dafür wird ihnen Lohn
und Beifall. Der nächsten Generation jedoch sind ihre Werke nicht
mehr genießbar: sie müssen durch andere ersetzt werden, die
dann auch nicht ausbleiben. Das Genie hingegen trifft in seine Zeit, wie
ein Komet in die Planetenbahnen, deren wohlgeregelter und übersehbarer
Ordnung sein völlig excentrischer Lauf fremd ist. Demnach kann es
nicht eingreifen in den vorgefundenen, regelmäßigen Bildungsgang
der Zeit, sondern wirft seine Werke weit hinaus in die vorliegende Bahn
(wie der sich dem Tode weihende Imperator seinen Speer unter die Feinde),
auf welcher die Zeit solche erst einzuholen hat. Sein Verhältniß
zu den während dessen kulminirenden Talentmännern könnte
es in den Worten des Evangelisten ausdrücken: O kairos ho emos oupô
parestin; ho de kairos ho hymeteros pantote estin hetoimos (Johannes,
7, 6). Das Talent vermag zu leisten was die Leistungsfähigkeit,
jedoch nicht die Apprehensionsfähigkeit der Uebrigen überschreitet:
daher findet es sogleich seine Schätzer. Hingegen geht die Leistung
des Genies nicht nur über die Leistungs-, sondern auch über
die Apprehensionsfähigkeit der Andern hinaus: daher werden Diese
seiner nicht unmittelbar inne. Das Talent gleicht dem Schützen, der
ein Ziel trifft, welches die Uebrigen nicht erreichen können; das
Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht ein Mal zu sehn
vermögen: daher sie nur mittelbar, also spät, Kunde davon erhalten,
und sogar diese nur auf Treu und Glauben annehmen. Demgemäß
sagt Goethe im Lehrbrief: »Die Nachahmung ist uns angeboren; das
Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden,
seltner geschätzt«. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 911-912).
Noch habe ich hier eine besondere Bemerkung hinzuzufügen
über den kindlichen Charakter des Genies, d.h. über eine
gewisse Aehnlichkeit, welche zwischen dem Genie und dem Kindesalter Statt
findet. In der Kindheit nämlich ist, wie beim Genie, das Cerebral-
und Nervensystem entschieden überwiegend: denn seine Entwickelung
eilt der des übrigen Organismus weit voraus; so daß bereits
mit dem siebenten Jahre das Gehirn seine volle Ausdehnung und Masse erlangt
hat. .... Am spätesten hingegen fängt die Entwickelung des Genitalsystems
an, und erst beim Eintritt des Mannesalters sind Irritabilität, Reproduktion
und Genitalfunktion in voller Kraft, wo sie dann, in der Regel, das Uebergewicht
über die Gehirnfunktion haben. Hieraus ist es erklärlich, daß
die Kinder, im Allgemeinen, so klug, vernünftig, wißbegierig
und gelehrig, ja, im Ganzen, zu aller theoretischen Beschäftigung
aufgelegter und tauglicher, als die Erwachsenen, sind: sie haben nämlich
in Folge jenes Entwickelungsganges mehr Intellekt als Willen, d.h. als
Neigung, Begierde, Leidenschaft. Denn Intellekt und Gehirn sind Eins,
und eben so ist das Genitalsystem Eins mit der heftigsten aller Begierden:
daher ich dasselbe den Brennpunkt des Willens genannt habe. Eben weil
die heillose Thätigkeit dieses Systems noch schlummert, während
die des Gehirns schon volle Regsamkeit hat, ist die Kindheit die Zeit
der Unschuld und des Glückes, das Paradies des Lebens, das verlorene
Eden, auf welches wir, unsern ganzen übrigen Lebensweg hindurch,
sehnsüchtig zurückblicken. Die Basis jenes Glückes aber
ist, daß in der Kindheit unser ganzes Daseyn viel mehr im Erkennen,
als im Wollen liegt; welcher Zustand zudem noch von außen durch
die Neuheit aller Gegenstände unterstützt wird. Daher liegt
die Welt, im Morgenglanze des Lebens, so frisch, so zauberisch schimmernd,
so anziehend vor uns. Die kleinen Begierden, schwankenden Neigungen und
geringfügigen Sorgen der Kindheit sind gegen jenes Vorwalten der
erkennenden Thätigkeit nur ein schwaches Gegengewicht. Der unschuldige
und klare Blick der Kinder, an dem wir uns erquicken, und der bisweilen,
in einzelnen, den erhabenen, kontemplativen Ausdruck, mit welchem Raphael
seine Engelsköpfe verherrlicht hat, erreicht, ist aus dem Gesagten
erklärlich. Demnach entwickeln die Geisteskräfte sich viel früher,
als die Bedürfnisse, welchen zu dienen sie bestimmt sind: und hierin
verfährt die Natur, wie überall, sehr zweckmäßig.
Denn in dieser Zeit der vorwaltenden Intelligenz sammelt der Mensch einen
großen Vorrath von Erkenntnissen, für künftige, ihm zur
Zeit noch fremde Bedürfnisse. Daher ist sein Intellekt jetzt unablässig
thätig, faßt begierig alle Erscheinungen auf, brütet darüber
und speichert sie sorgfältig auf, für die kommende Zeit,
der Biene gleich, die sehr viel mehr Honig sammelt, als sie verzehren
kann, im Vorgefühl künftiger Bedürfnisse. Gewiß ist
was der Mensch bis zum Eintritt der Pubertät an Einsicht und Kenntniß
erwirbt, im Ganzen genommen, mehr, als Alles was er nachher lernt, würde
er auch noch so gelehrt: denn es ist die Grundlage aller menschlichen
Erkenntnisse. Bis zur selben Zeit waltet im kindlichen Leibe die
Plasticität vor, deren Kräfte späterhin, nachdem sie ihr
Werk vollendet hat, durch eine Metastase, sich auf das Generationssystem
werfen, wodurch mit der Pubertät der Geschlechtstrieb eintritt und
jetzt allmälig der Wille das Uebergewicht erhält. Dann folgt
auf die vorwaltend theoretische, lernbegierige Kindheit das unruhige,
bald stürmische, bald schwermüthige Jünglingsalter, welches
nachher in das heftige und ernste Mannesalter übergeht. Gerade weil
im Kinde jener unheilschwangere Trieb fehlt, ist das Wollen desselben
so gemäßigt und dem Erkennen untergeordnet, woraus jener Charakter
von Unschuld, Intelligenz und Vernünftigkeit entsteht, welcher dem
Kindesalter eigenthümlich ist. Worauf nun die Aehnlichkeit
des Kindesalters mit dem Genie beruhe, brauche ich kaum noch auszusprechen:
im Ueberschuß der Erkenntnißkräfte über die Bedürfnisse
des Willens, und im daraus entspringenden Vorwalten der bloß erkennenden
Thätigkeit. Wirklich ist jedes Kind gewissermaaßen ein Genie,
und jedes Genie gewissermaaßen ein Kind. Die Verwandtschaft Beider
zeigt sich zunächst in der Naivetät und erhabenen Einfalt, welche
ein Grundzug des ächten Genies ist: sie tritt auch außerdem
in manchen Zügen an den Tag; so daß eine gewisse Kindlichkeit
allerdings zum Charakter des Genies gehört. In Riemers Mittheilungen
über Goethe wird (Bd. I, S. 184) erwähnt, daß Herder und
Andere Goethen tadelnd nachsagten, er sei ewig ein großes Kind:
gewiß haben sie es mit Recht gesagt, nur nicht mit Recht getadelt.
Auch von Mozart hat es geheißen, er sei zeitlebens ein Kind
geblieben. (Nissens Biographie Mozarts: S. 2 und 529.) Schlichtegrolls
Nekrolog (von 1791, Bd. II, S. 109) sagt von ihm: »Er wurde früh
in seiner Kunst ein Mann; in allen übrigen Verhältnissen aber
blieb er beständig ein Kind.« Jedes Genie ist schon darum ein
großes Kind, weil es in die Welt hineinschaut als in ein Fremdes,
ein Schauspiel, daher mit rein objektivem Interesse. Demgemäß
hat es, so wenig wie das Kind, jene trockene Ernsthaftigkeit der Gewöhnlichen,
als welche, keines andern als des subjektiven Interesses fähig, in
den Dingen immer bloß Motive für ihr Thun sehn. Wer nicht zeitlebens
gewissermaaßen ein großes Kind bleibt, sondern ein ernsthafter,
nüchterner, durchweg gesetzter und vernünftiger Mann wird, kann
ein sehr nützlicher und tüchtiger Bürger dieser Welt seyn;
nur nimmermehr ein Genie. In der That ist das Genie es dadurch, daß
jenes, dem Kindesalter natürliche, Ueberwiegen des sensibeln Systems
und der erkennenden Thätigkeit sich bei ihm, abnormerweise, das ganze
Leben hindurch erhält, also hier ein perennirendes wird. Eine Spur
davon zieht sich freilich auch bei manchen gewöhnlichen Menschen
noch bis ins Jünglingsalter hinüber; daher z.B. an manchen Studenten
noch ein rein geistiges Streben und eine geniale Excentricität unverkennbar
ist. Allein die Natur kehrt in ihr Gleis zurück: sie verpuppen sich
und erstehn, im Mannesalter, als eingefleischte Philister, über die
man erschrickt, wann man sie in spätern Jahren wieder antrifft.
Auf dem ganzen hier dargelegten Hergang beruht auch Goethes schöne
Bemerkung: »Kinder halten nicht was sie versprechen; junge Leute
sehr selten, und wenn sie Wort halten, hält es ihnen die Welt nicht.«
(Wahlverwandtschaften, Th. I, Kap. 10.) Die Welt nämlich, welche
die Kronen, die sie für das Verdienst hoch emporhielt, nachher Denen
aufsetzt, welche Werkzeuge ihrer niedrigen Absichten werden, oder aber
sie zu betrügen verstehn. Dem Gesagten gemäß giebt
es, wie eine bloße Jugendschönheit, die fast Jeder ein Mal
besitzt (beauté du diable), auch eine bloße Jugend-Intellektualität,
ein gewisses geistiges, zum Auffassen, Verstehn, Lernen geneigtes und
geeignetes Wesen, welches Jeder in der Kindheit, Einige noch in der Jugend
haben, das aber danach sich verliert, eben wie jene Schönheit. Nur
bei höchst Wenigen, den Auserwählten, dauert das Eine, wie das
Andere, das ganze Leben hindurch fort; so daß selbst im höhern
Alter noch eine Spur davon sichtbar bleibt: dies sind die wahrhaft schönen,
und die wahrhaft genialen Menschen. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 915-917).
Das hier in Erwägung genommene Ueberwiegen des cerebralen
Nervensystems und der Intelligenz in der Kindheit, nebst dem Zurücktreten
derselben im reifen Alter, erhält eine wichtige Erläuterung
und Bestätigung, dadurch, daß bei dem Thiergeschlechte, welches
dem Menschen am nächsten stehet, den Affen, das selbe Verhältniß
in auffallendem Grade Statt findet. Es ist allmälig gewiß geworden,
daß der so höchst intelligente Orang-Utan ein junger Pongo
ist, welcher, wann herangewachsen, die große Menschenähnlichkeit
des Antlitzes und zugleich die erstaunliche Intelligenz verliert, indem
der untere, thierische Theil des Gesichts sich vergrößert,
die Stirn dadurch zurücktritt, große cristae, zur Muskelanlage,
den Schädel thierisch gestalten, die Thätigkeit des Nervensystems
sinkt und an ihrer Stelle eine außerordentliche Muskelkraft sich
entwickelt, welche, als zu seiner Erhaltung ausreichend, die große
Intelligenz jetzt überflüssig macht. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 917-918).
Kapitel 32 (dieses Kapitel bezieht sich auf §
36 des 1. Bandes): Ueber den Wahnsinn.
In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in die Beleuchtung
des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an welcher der Wahnsinn
auf den Geist einbrechen kann. Jeder widrige neue Vorfall nämlich
muß vom Intellekt assimilirt werden, d.h. im System der sich auf
unsern Willen und sein Interesse beziehenden Wahrheiten eine Stelle erhalten,
was immer Befriedigenderes er auch zu verdrängen haben mag. Sobald
dies geschehn ist, schmerzt er schon viel weniger; aber diese Operation
selbst ist oft sehr schmerzlich, geht auch meistens nur langsam und mit
Widerstreben von Statten. Inzwischen kann nur sofern sie jedesmal richtig
vollzogen worden, die Gesundheit des Geistes bestehn. Erreicht hingegen,
in einem einzelnen Fall, das Widerstreben und Sträuben des Willens
wider die Aufnahme einer Erkenntniß den Grad, daß jene Operation
nicht rein durchgeführt wird; werden demnach dem Intellekt gewisse
Vorfälle oder Umstände völlig unterschlagen, weil der Wille
ihren Anblick nicht ertragen kann; wird alsdann, des nothwendigen Zusammenhangs
wegen, die dadurch entstandene Lücke beliebig ausgefüllt;
so ist der Wahnsinn da. Denn der Intellekt hat seine Natur aufgegeben,
dem Willen zu gefallen: der Mensch bildet sich jetzt ein was nicht ist.
Jedoch wird der so entstandene Wahnsinn jetzt der Lethe unerträglicher
Leiden: er war das letzte Hülfsmittel der geängstigten Natur,
d.i. des Willens. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 920).
Kapitel 35 (dieses Kapitel bezieht sich auf §
43 des 1. Bandes): Zur Aestetetik der Architektur.
In Gemäßheit der im Texte gegebenen Ableitung des rein
Aesthetischen der Baukunst aus den untersten Stufen der Objektivation
des Willens, oder der Natur, deren Ideen sie zu deutlicher Anschaulichkeit
bringen will, ist das einzige und beständige Thema derselben Stütze
und Last, und ihr Grundgesetz, daß keine Last ohne genügende
Stütze, und keine Stütze ohne angemessene Last, mithin das Verhältniß
dieser Beiden gerade das passende sei. Die reinste Ausführung dieses
Themas ist Säule und Gebälk: daher ist die Säulenordnung
gleichsam der Generalbaß der ganzen Architektur geworden.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 929).
Wollen wir jedoch, wie wir als den eigentlichen, ästhetischen
Grundgedanken der antiken Baukunst die Entfaltung des Kampfes zwischen
Starrheit und Schwere erkannt haben, auch in der Gothischen einen analogen
Grundgedanken auffinden; so müßte es dieser seyn, daß
hier die gänzliche Ueberwältigung und Besiegung der Schwere
durch die Starrheit dargestellt werden soll. Denn demgemäß
ist hier die Horizontallinie, welche die der Last ist, fast ganz verschwunden,
und das Wirken der Schwere tritt nur noch indirekt, nämlich in Bogen
und Gewölbe verlarvt, auf, während die Vertikallinie, welche
die der Stütze ist, allein herrscht, und in unmäßig hohen
Strebepfeilern, Thürmen, Thürmchen und Spitzen ohne Zahl, welche
unbelastet in die Höhe gehn, das siegreiche Wirken der Starrheit
versinnlicht. Während in der antiken Baukunst das Streben und Drängen
von oben nach unten eben so wohl vertreten und dargelegt ist, wie das
von unten nach oben; so herrscht hier das letztere entschieden vor: wodurch
auch jene oft bemerkte Analogie mit dem Krystall entsteht, da dessen Anschießen
ebenfalls mit Ueberwältigung der Schwere geschieht. Wenn wir nun
diesen Sinn und Grundgedanken der Gothischen Baukunst unterlegen und diese
dadurch als gleichberechtigten Gegensatz der antiken aufstellen wollten;
so wäre dagegen zu erinnern, daß der Kampf zwischen Starrheit
und Schwere, welchen die antike Baukunst so offen und naiv darlegt, ein
wirklicher und wahrer, in der Natur gegründeter ist; die gänzliche
Ueberwindung der Schwere durch die Starrheit hingegen ein bloßer
Schein bleibt, eine Fiktion, durch Täuschung beglaubigt. Wie
aus dem hier angegebenen Grundgedanken und den oben bemerkten Eigenthümlichkeiten
der Gothischen Baukunst der mysteriöse und hyperphysische Charakter,
welcher derselben zuerkannt wird, hervorgeht, wird Jeder sich leicht deutlich
machen können. Hauptsächlich entsteht er, wie schon erwähnt,
dadurch, daß hier das Willkürliche an die Stelle des rein Rationellen,
sich als durchgängige Angemessenheit des Mittels zum Zweck Kundgebenden,
getreten ist. Das viele eigentlich Zwecklose und doch so sorgfältig
Vollendete erregt die Voraussetzung unbekannter, unerforschlicher, geheimer
Zwecke, d.i. das mysteriöse Ansehn. Hingegen ist die glänzende
Seite der Gothischen Kirchen die innere; weil hier die Wirkung des von
schlanken, krystallinisch aufstrebenden Pfeilern getragenen, hoch hinaufgehobenen
und, bei verschwundener Last, ewige Sicherheit verheißenden Kreuzgewölbes
auf das Gemüth eindringt, die meisten der erwähnten Uebelstände
aber draußen liegen. An antiken Gebäuden ist die Außenseite
die vortheilhaftere; weil man dort Stütze und Last besser übersieht,
im Innern hingegen die flache Decke stets etwas Niederdrückendes
und Prosaisches behält. An den Tempeln der Alten war auch meistentheils,
bei vielen und großen Außenwerken, das eigentliche Innere
klein. Einen erhabeneren Anstrich erhielt es durch das Kugelgewölbe
einer Kuppel, wie im Pantheon, von welcher daher auch die Italiäner,
in diesem Stil bauend, den ausgedehntesten Gebrauch gemacht haben. Dazu
stimmt, daß die Alten, als südliche Völker, mehr im Freien
lebten, als die nordischen Nationen, welche die Gothische Baukunst vorgezogen
haben. Wer nun aber schlechterdings die Gothische Baukunst als
eine wesentliche und berechtigte gelten lassen will, mag, wenn er zugleich
Analogien liebt, sie den negativen Pol der Architektur, oder auch die
Moll-Tonart derselben benennen. Im Interesse des guten Geschmacks
muß ich wünschen, daß große Geldmittel dem objektiv,
d.h. wirklich Guten und Rechten, dem an sich Schönen, zugewendet
werden, nicht aber Dem, dessen Werth bloß auf Ideenassociationen
beruht. Wenn ich nun sehe, wie dieses ungläubige Zeitalter die vom
gläubigen Mittelalter unvollendet gelassenen Gothischen Kirchen so
emsig ausbaut, kommt es mir vor, als wolle man das dahingeschiedene Christenthum
einbalsamiren. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 935-936).
Kapitel 37 (dieses Kapitel bezieht sich auf §
51 des 1. Bandes): Zur Aestetetik der Dichtkunst.
Als die einfachste und richtigste Definition der Poesie möchte
ich diese aufstellen, daß sie die Kunst ist, durch Worte die Einbildungskraft
ins Spiel zu versetzen. Wie sie dies zu Wege bringt, habe ich im ersten
Bande, § 51, angegeben. Eine specielle Bestätigung des dort
Gesagten giebt folgende Stelle aus einem seitdem veröffentlichten
Briefe Wielands an Merck: »Ich habe drittehalb Tage
über eine einzige Strophe zugebracht, wo im Grunde die Sache auf
einem einzigen Worte, das ich brauchte und nicht finden konnte, beruhte.
Ich drehte und wandte das Ding und mein Gehirn nach allen Seiten; weil
ich natürlicherweise, wo es um ein Gemälde zu thun ist, gern
die nämliche bestimmte Vision, welche vor meiner Stirn schwebte,
auch vor die Stirn meiner Leser bringen möchte, und dazu oft, ut
nosti, von einem einzigen Zuge, oder Drucker, oder Reflex, Alles abhängt.«
(Briefe an Merck, postum, S. 193.) Dadurch, daß die Phantasie
des Lesers der Stoff ist, in welchem die Dichtkunst ihre Bilder darstellt,
hat diese den Vortheil, daß die nähere Ausführung und
die feineren Züge in der Phantasie eines Jeden so ausfallen, wie
es seiner Individualität, seiner Erkenntnißsphäre und
seiner Laune gerade am angemessensten ist und ihn daher am lebhaftesten
anregt; statt daß die bildenden Künste sich nicht so anbequemen
können, sondern hier ein Bild, eine Gestalt Allen genügen soll:
diese aber wird doch immer, in Etwas, das Gepräge der Individualität
des Künstlers, oder seines Modells, tragen, als einen subjektiven,
oder zufälligen, nicht wirksamen Zusatz; wenn gleich um so weniger,
je objektiver, d.h. genialer der Künstler ist. Schon hieraus ist
es zum Theil erklärlich, daß die Werke der Dichtkunst eine
viel stärkere, tiefere und allgemeinere Wirkung ausüben, als
Bilder und Statuen: diese nämlich lassen das Volk meistens ganz kalt,
und überhaupt sind die bildenden die am schwächsten wirkenden
Künste. Hiezu giebt einen sonderbaren Beleg das so häufige Auffinden
und Entdecken von Bildern großer Meister in Privathäusern und
allerlei Lokalitäten, wo sie, viele Menschenalter hindurch, nicht
etwan vergraben und versteckt, sondern bloß unbeachtet, also wirkungslos,
gehangen haben. Zu meiner Zeit in Florenz (1823) wurde sogar eine Raphael'sche
Madonna entdeckt, welche eine lange Reihe von Jahren hindurch im Bedientenzimmer
eines Palastes (im Quartiere di S. Spirito) an der Wand gehangen
hatte: und Dies geschieht unter Italiänern, dieser vor allen übrigen
mit Schönheitssinn begabten Nation. Es beweist, wie wenig direkte
und unvermittelte Wirkung die Werke der bildenden Künste haben, und
daß ihre Schätzung weit mehr, als die aller andern, der Bildung
und Kenntniß bedarf. Wie unfehlbar macht hingegen eine schöne,
das Herztreffende Melodie ihre Reise um das Erdenrund, und wandert eine
vortreffliche Dichtung von Volk zu Volk. Daß die Großen und
Reichen gerade den bildenden Künsten die kräftigste Unterstützung
widmen und nur auf ihre Werke beträchtliche Summen verwenden, ja,
heut zu Tage eine Idololatrie, im eigentlichen Sinne, für ein Bild
von einem berühmten, alten Meister den Werth eines großen Landgutes
hingiebt, Dies beruht hauptsächlich auf der Seltenheit der Meisterstücke,
deren Besitz daher dem Stolze zusagt, sodann aber auch darauf, daß
der Genuß derselben gar wenig Zeit und Anstrengung erfordert und
jeden Augenblick, auf einen Augenblick, bereit ist; während Poesie
und selbst Musik ungleich beschwerlichere Bedingungen stellen. Dem
entsprechend lassen die bildenden Künste sich auch entbehren: ganze
Völker, z.B. die Mohammedanischen, sind ohne sie; aber ohne Musik
und Poesie ist keines. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille
und Vorstellung, 1818, S. 941-942).
Die Absicht nun aber, in welcher der Dichter unsere Phantasie
in Bewegung setzt, ist, uns die Ideen zu offenbaren, d.h. an einem Beispiel
zu zeigen, was das Leben, was die Welt sei. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 943).
Der erzählende, auch der dramatische Dichter nimmt aus dem
Leben das ganz Einzelne heraus und schildert es genau in seiner Individualität,
offenbart aber hiedurch das ganze menschliche Daseyn; indem er zwar scheinbar
es mit dem Einzelnen, in Wahrheit aber mit Dem, was überall und zu
allen Zeiten ist, zu thun hat. Hieraus entspringt es, daß Sentenzen,
besonders der dramatischen Dichter, selbst ohne generelle Aussprüche
zu seyn, im wirklichen Leben häufige Anwendung finden. Zur
Philosophie verhält sich die Poesie, wie die Erfahrung sich zur empirischen
Wissenschaft verhält. Die Erfahrung nämlich macht uns mit der
Erscheinung im Einzelnen und beispielsweise bekannt: die Wissenschaft
umfaßt das Ganze derselben, mittelst allgemeiner Begriffe. So will
die Poesie uns mit den (Platonischen) Ideen der Wesen mittelst des Einzelnen
und beispielsweise bekannt machen: die Philosophie will das darin sich
aussprechende innere Wesen der Dinge im Ganzen und Allgemeinen erkennen
lehren. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 944-945).
Metrum und Reim sind eine Fessel, aber auch eine Hülle, die
der Poet um sich wirft, und unter welcher es ihm vergönnt ist zu
reden, wie er sonst nicht dürfte: und das ist es, was uns freut.
Er ist nämlich für Alles was er sagt nur halb verantwortlich:
Metrum und Reim müssen es zur andern Hälfte vertreten.
Das Metrum, oder Zeitmaaß, hat, als bloßer Rhythmus, sein
Wesen allein in der Zeit, welche eine reine Anschauung a priori ist, gehört
also, mit Kant zu reden, bloß der reinen Sinnlichkeit
an; hingegen ist der Reim Sache der Empfindung im Gehörorgan, also
der empirischen Sinnlichkeit. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 945).
Wie demnach in der lyrischen Poesie das subjektive Element vorherrscht,
so ist dagegen im Drama das objektive allein und ausschließlich
vorhanden. Zwischen Beiden hat die epische Poesie, in allen ihren Formen
und Modifikationen, von der erzählenden Romanze bis zum eigentlichen
Epos, eine breite Mitte inne. Denn obwohl sie in der Hauptsache objektiv
ist; so enthält sie doch ein bald mehr bald minder hervortretendes
subjektives Element, welches am Ton, an der Form des Vertrags, wie auch
an eingestreuten Reflexionen seinen Ausdruck findet. Wir verlieren nicht
den Dichter so ganz aus den Augen, wie beim Drama. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 949-950).
Der Zweck des Dramas überhaupt ist, uns an einem Beispiel
zu zeigen, was das Wesen und Daseyn des Menschen sei. Dabei kann nun die
traurige, oder die heitere Seite derselben uns zugewendet werden, oder
auch deren Uebergänge. Aber schon der Ausdruck »Wesen und Daseyn
des Menschen« enthält den Keim zu der Kontroverse, ob das Wesen,
d.i. die Charaktere, oder das Daseyn, d.i. das Schicksal, die Begebenheit,
die Handlung, die Hauptsache sei. Uebrigens sind Beide so fest mit einander
verwachsen, daß wohl ihr Begriff, aber nicht ihre Darstellung sich
trennen läßt. Denn nur die Umstände, Schicksale, Begebenheiten
bringen die Charaktere zur Aeußerung ihres Wesens, und nur aus den
Charakteren entsteht die Handlung, aus der die Begebenheiten hervorgehn.
Allerdings kann, in der Darstellung, das Eine oder das Andere mehr hervorgehoben
seyn; in welcher Hinsicht das Charakterstück und das Intriguenstück
die beiden Extreme bilden. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als
Wille und Vorstellung, 1818, S. 950).
Ich räume ein, daß im Trauerspiel der Alten dieser
Geist der Resignation selten direkt hervortritt und ausgesprochen wird.
Oedipus Koloneus stirbt zwar resignirt und willig; doch tröstet ihn
die Rache an seinem Vaterland, Iphigenia Aulika ist sehr willig zu sterben;
doch ist es der Gedanke an Griechenlands Wohl, der sie tröstet und
die Veränderung ihrer Gesinnung hervorbringt, vermöge welcher
sie den Tod, dem sie zuerst auf alle Weise entfliehen wollte, willig übernimmt.
Kassandra, im Agamemnon des großen Aeschylos, stirbt willig, arkeitw
bios (1306); aber auch sie tröstet der Gedanke an Rache.
Herkules, in den Trachinerinnen, giebt der Nothwendigkeit nach, stirbt
gelassen, aber nicht resignirt. Eben so der Hippolytos des Euripides,
bei dem es uns auffällt, daß die ihn zu trösten erscheinende
Artemis ihm Tempel und Nachruhm verheißt, aber durchaus nicht auf
ein über das Leben hinausgehendes Daseyn hindeutet, und ihn im Sterben
verläßt, wie alle Götter von dem Sterbenden weichen:
im Christenthum treten sie zu ihm heran; und eben so im Brahmanismus und
Buddhaismus, wenn auch bei letzterem die Götter eigentlich exotisch
sind. Hippolytos also, wie fast alle tragischen Helden der Alten, zeigt
Ergebung in das unabwendbare Schicksal und den unbiegsamen Willen der
Götter, aber kein Aufgeben des Willens zum Leben selbst. Wie der
Stoische Gleichmuth von der Christlichen Resignation sich von Grund aus
dadurch unterscheidet, daß er nur gelassenes Ertragen und gefaßtes
Erwarten der unabänderlich nothwendigen Uebel lehrt, das Christenthum
aber Entsagung, Aufgeben des Wollens; eben so zeigen die tragischen Helden
der Alten standhaftes Unterwerfen unter die unausweichbaren Schläge
des Schicksals, das Christliche Trauerspiel dagegen Aufgeben des ganzen
Willens zum Leben, freudiges Verlassen der Welt, im Bewußtseyn ihrer
Werthlosigkeit und Nichtigkeit. Aber ich bin auch ganz der Meinung,
daß das Trauerspiel der Neuern höher steht, als das der Alten.
Shakespeare ist viel größer als Sophokles: gegen Goethes Iphigenia
könnte man die des Euripides beinahe roh und gemein finden. Die Bakchantinnen
des Euripides sind ein empörendes Machwerk zu Gunsten der heidnischen
Pfaffen. Manche antike Stücke haben gar keine tragische Tendenz;
wie die Alkeste und Iphigenia Taurika des Euripides: einige haben widerwärtige,
oder gar ekelhafte Motive; so die Antigone und Philoktet. Fast alle zeigen
das Menschengeschlecht unter der entsetzlichen Herrschaft des Zufalls
und Irrthums, aber nicht die dadurch veranlaßte und davon erlösende
Resignation. Alles, weil die Alten noch nicht zum Gipfel und Ziel des
Trauerspiels, ja, der Lebensansicht überhaupt, gelangt waren.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 951-952).
Wenn nun als die Tendenz und letzte Absicht des Trauerspiels
sich uns ergeben hat ein Hinwenden zur Resignation, zur Verneinung des
Willens zum Leben; so werden wir in seinem Gegensatz, dem Lustspiel,
die Aufforderung zur fortgesetzten Bejahung dieses Willens leicht erkennen.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 955).
Kapitel 38 (dieses Kapitel bezieht sich auf §
51 des 1. Bandes): Ueber Geschichte.
.Was endlich das, besonders durch die überall so geistesverderbliche
und verdummende Hegelsche Afterphilosophie aufgekommene Bestreben,
die Weltgeschichte als ein planmäßiges Ganzes zu fassen, oder,
wie sie es nennen, »sie organisch zu konstruiren«, betrifft;
so liegt demselben eigentlich ein roher und platter Realismus zum
Grunde, der die Erscheinung für das Wesen an sich der Welt
hält und vermeint, auf sie, auf ihre Gestalten und Vorgänge
käme es an; wobei er noch im Stillen von gewissen mythologischen
Grundansichten unterstützt wird, die er stillschweigend voraussetzt:
sonst ließe sich fragen, für welchen Zuschauer denn eine dergleichen
Komödie eigentlich aufgeführt würde? Denn, da nur
das Individuum, nicht aber das Menschengeschlecht wirkliche, unmittelbare
Einheit des Bewußtseyns hat; so ist die Einheit des Lebenslaufes
dieses eine bloße Fiktion. Zudem, wie in der Natur nur die Species
real, die genera bloße Abstraktionen sind, so sind im Menschengeschlecht
nur die Individuen und ihr Lebenslauf real, die Völker und ihr Leben
bloße Abstraktionen. Endlich laufen die Konstruktionsgeschichten,
von plattem Optimismus geleitet, zuletzt immer auf einen behaglichen,
nahrhaften, fetten Staat, mit wohlgeregelter Konstitution, guter Justiz
und Polizei, Technik und Industrie und höchstens auf intellektuelle
Vervollkommnung hinaus; weil diese in der That die allein mögliche
ist, da das Moralische im Wesentlichen unverändert bleibt. Das Moralische
aber ist es, worauf, nach dem Zeugniß unsers innersten Bewußtseyns,
Alles ankommt: und dieses liegt allein im Individuo, als die Richtung
seines Willens. In Wahrheit hat nur der Lebenslauf jedes Einzelnen Einheit,
Zusammenhang und wahre Bedeutsamkeit: er ist als eine Belehrung anzusehn,
und der Sinn derselben ist ein moralischer. Nur die innern Vorgänge,
sofern sie den Willen betreffen, haben wahre Realität und sind wirkliche
Begebenheiten; weil der Wille allein das Ding an sich ist. In jedem Mikrokosmos
liegt der ganze Makrokosmos, und dieser enthält nichts mehr als jener.
Die Vielheit ist Erscheinung, und die äußern Vorgänge
sind bloße Konfigurationen der Erscheinungswelt, haben daher unmittelbar
weder Realität noch Bedeutung, sondern erst mittelbar, durch ihre
Beziehung auf den Willen der Einzelnen. Das Bestreben sie unmittelbar
deuten und auslegen zu wollen, gleicht sonach dem, in den Gebilden der
Wolken Gruppen von Menschen und Thieren zu sehn. Was die Geschichte
erzählt, ist in der That nur der lange, schwere und verworrene Traum
der Menschheit. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 959-960).
Die Hegelianer, welche die Philosophie der Geschichte sogar als
den Hauptzweck aller Philosophie ansehn, sind auf Plato zu verweisen,
der unermüdlich wiederholt, daß der Gegenstand der Philosophie
das Unveränderliche und immerdar Bleibende sei, nicht aber Das, was
bald so, bald anders ist. Alle Die, welche solche Konstruktionen des Weltverlaufs,
oder, wie sie es nennen, der Geschichte, aufstellen, haben die Hauptwahrheit
aller Philosophie nicht begriffen, daß nämlich zu aller Zeit
das Selbe ist, alles Werden und Entstehn nur scheinbar, die Ideen allein
bleibend, die Zeit ideal. Dies will der Plato, Dies will der Kant. Man
soll demnach zu verstehn suchen, was da ist, wirklich ist, heute und immerdar,
d.h. die Ideen (in Plato's Sinn) erkennen. Die Thoren hingegen
meinen, es solle erst etwas werden und kommen. Daher räumen sie der
Geschichte eine Hauptstelle in ihrer Philosophie ein und konstruiren dieselbe
nach einem vorausgesetzten Weltplane, welchem gemäß Alles zum
Besten gelenkt wird, welches dann finaliter eintreten soll und
eine große Herrlichkeit seyn wird. Demnach nehmen sie die Welt als
vollkommen real und setzen den Zweck derselben in das armsälige Erdenglück,
welches, selbst wenn noch so sehr von Menschen gepflegt und vom Schicksal
begünstigt, doch ein hohles, täuschendes, hinfälliges und
trauriges Ding ist, aus welchem weder Konstitutionen und Gesetzgebungen,
noch Dampfmaschinen und Telegraphen jemals etwas wesentlich Besseres machen
können. Besagte Geschichts-Philosophen und -Verherrlicher sind demnach
einfältige Realisten, dazu Optimisten und Eudämonisten, mithin
platte Gesellen und eingefleischte Philister, zudem auch eigentlich schlechte
Christen; da der wahre Geist und Kern des Christenthums, eben so wie des
Brahmanismus und Buddhaismus, die Erkenntniß der Nichtigkeit des
Erdenglücks, die völlige Verachtung desselben und Hinwendung
zu einem ganz anderartigen, ja, entgegengesetzten Daseyn ist: Dies, sage
ich, ist der Geist und Zweck des Christenthums, der wahre »Humor
der Sache«; nicht aber ist es, wie sie meinen, der Monotheismus;
daher eben der atheistische Buddhaismus dem Christenthum viel näher
verwandt ist, als das optimistische Judenthum und seine Varietät,
der Islam. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 960-961).
Erst durch die Geschichte wird ein Volk sich seiner selbst vollständig
bewußt. Demnach ist die Geschichte als das vernünftige Selbstbewußtseyn
des menschlichen Geschlechtes anzusehn, und ist diesem Das, was dem Einzelnen
das durch die Vernunft bedingte, besonnene und zusammenhängende Bewußtseyn
ist, durch dessen Ermangelung das Thier in der engen, anschaulichen Gegenwart
befangen bleibt. Daher ist jede Lücke in der Geschichte wie eine
Lücke im erinnernden SelbstBewußtseyn eines Menschen; und vor
einem Denkmal des Uralterthums, welches seine eigene Kunde überlebt
hat, wie z.B. die Pyramiden, Tempel und Paläste in Yukatan, stehn
wir so besinnungslos und einfältig, wie das Thier vor der menschlichen
Handlung, in die es dienend verflochten ist, oder wie ein Mensch vor seiner
eigenen alten Zifferschrift, deren Schlüssel er vergessen hat, ja,
wie ein Nachtwandler, der was er im Schlafe gemacht hat, am Morgen vorfindet.
In diesem Sinne also ist die Geschichte anzusehn als die Vernunft, oder
das besonnene Bewußtseyn des menschlichen Geschlechts, und vertritt
die Stelle eines dem ganzen Geschlechte unmittelbar gemeinsamen Selbstbewußtseyns,
so daß erst vermöge ihrer dasselbe wirklich zu einem Ganzen,
zu einer Menschheit, wird. Dies ist der wahre Werth der Geschichte; und
dem gemäß beruht das so allgemeine und überwiegende Interesse
an ihr hauptsächlich darauf, daß sie eine persönliche
Angelegenheit des Menschengeschlechts ist. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 962).
Kapitel 39 (dieses Kapitel bezieht sich auf §
52 des 1. Bandes): Zur Metaphysik der Musik.
Die vier Stimmen aller Harmonie, also Baß, Tenor, Alt und
Sopran, oder Grundton, Terz, Quinte und Oktave, entsprechen den vier Abstufungen
in der Reihe der Wesen, also dem Mineralreich, Pflanzenreich, Thierreich
und dem Menschen. Dies erhält noch eine auffallende Bestätigung
an der musikalischen Grundregel, daß der Baß in viel weiterem
Abstande unter den drei obern Stimmen bleiben soll, als diese zwischen
einander haben; so daß er sich denselben nie mehr, als höchstens
bis auf eine Oktave nähern darf, meistens aber noch weiter darunter
bleibt, wonach dann der regelrechte Dreiklang seine Stelle in der dritten
Oktave vom Grundton hat. Dem entsprechend ist die Wirkung der weiten
Harmonie, wo der Baß fern bleibt, viel mächtiger und schöner,
als die der engen, wo er näher heraufgerückt ist, und die nur
wegen des beschränkten Umfangs der Instrumente eingeführt wird.
Diese ganze Regel aber ist keineswegs willkürlich, sondern hat ihre
Wurzel in dem natürlichen Ursprung des Tonsystems; sofern nämlich
die nächsten, mittelst der Nebenschwingungen mittönenden, harmonischen
Stufen die Oktave und deren Quinte sind. In dieser Regel nun erkennen
wir das musikalische Analogen der Grundbeschaffenheit der Natur, vermöge
welcher die organischen Wesen unter einander viel näher verwandt
sind, als mit der leblosen, unorganischen Masse des Mineralreichs, zwischen
welcher und ihnen die entschiedenste Gränze und die weiteste Kluft
in der ganzen Natur Statt findet. Daß die hohe Stimme, welche
die Melodie singt, doch zugleich integrirender Theil der Harmonie ist
und darin selbst mit dem tiefsten Grundbaß zusammenhängt, läßt
sich betrachten als das Analogon davon, daß die selbe Materie, welche
in einem menschlichen Organismus Träger der Idee des Menschen ist,
dabei doch zugleich auch die Ideen der Schwere und der chemischen Eigenschaften,
also der niedrigsten Stufen der Objektivation des Willens, darstellen
und tragen muß. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille
und Vorstellung, 1818, S. 964-965).
Weil die Musik nicht, gleich allen andern Künsten, die Ideen,
oder Stufen der Objektivation des Willens, sondern unmittelbar den Willen
selbst darstellt; so ist hieraus auch erklärlich, daß sie
auf den Willen, d.i. die Gefühle, Leidenschaften und Affekte des
Hörers, unmittelbar einwirkt, so daß sie dieselben schnell
erhöht, oder auch umstimmt. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 965).
Ich gehe von der allgemein bekannten und durch neuere Einwürfe
keineswegs erschütterten Theorie aus, daß alle Harmonie der
Töne auf der Koincidenz der Vibrationen beruht, welche, wann zwei
Töne zugleich erklingen, etwan bei jeder zweiten, oder bei jeder
dritten, oder bei jeder vierten Vibration eintrifft, wonach sie dann Oktave,
Quinte, oder Quarte von einander sind u.s.w. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 966).
Weil nun ferner, in Folge der zum Grunde gelegten physikalischen
Theorie, das eigentlich Musikalische der Töne in der Proportion der
Schnelligkeit ihrer Vibrationen, nicht aber in ihrer relativen Stärke
liegt; so folgt das musikalische Gehör, bei der Harmonie, stets vorzugsweise
dem höchsten Ton, nicht dem stärksten: daher sticht, auch bei
der stärksten Orchesterbegleitung, der Sopran hervor und erhält
dadurch ein natürliches Recht auf den Vortrag der Melodie, welches
zugleich unterstützt wird durch seine, auf der selben Schnelligkeit
der Vibrationen beruhende, große Beweglichkeit, wie sie sich in
den figurirten Sätzen zeigt, und wodurch der Sopran der geeignete
Repräsentant der erhöhten, für den leisesten Eindruck empfänglichen
und durch ihn bestimmbaren Sensibilität, folglich des auf der obersten
Stufe der Wesenleiter stehenden, aufs höchste gesteigerten Bewußtseyns
wird. Seinen Gegensatz bildet, aus den umgekehrten Ursachen, der schwerbewegliche,
nur in großen Stufen, Terzen, Quarten und Quinten, steigende und
fallende und dabei in jedem seiner Schritte durch feste Regeln geleitete
Baß, welcher daher der natürliche Repräsentant des gefühllosen,
für feine Eindrücke unempfänglichen und nur nach allgemeinen
Gesetzen bestimmbaren, unorganischen Naturreiches ist. Er darf sogar nie
um einen Ton, z.B. von Quarte auf Quinte steigen; da dies in den obern
Stimmen die fehlerhafte Quinten- und Oktaven-Folge herbeiführt: daher
kann er, ursprünglich und in seiner eigenen Natur, nie die Melodie
vortragen. Wird sie ihm dennoch zugetheilt; so geschieht es mittelst des
Kontrapunkts, d.h. er ist ein versetzter Baß, nämlich
eine der obern Stimmen ist herabgesetzt und als Baß verkleidet:
eigentlich bedarf er dann noch eines zweiten Grundbasses zu seiner Begleitung,
Diese Widernatürlichkeit einer im Basse liegenden Melodie führt
herbei, daß Baßarien, mit voller Begleitung, uns nie den reinen,
ungetrübten Genuß gewähren, wie die Sopranarie, als welche,
im Zusammenhang der Harmonie, allein naturgemäß ist. Beiläufig
gesagt, könnte ein solcher melodischer, durch Versetzung erzwungener
Baß, im Sinn unserer Metaphysik der Musik, einem Marmorblocke verglichen
werden, dem man die menschliche Gestalt aufgezwungen hat: dem steinernen
Gast im »Don Juan« ist er eben dadurch wundervoll angemessen.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 968-969).
Die Melodie besteht aus zwei Elementen, einem rhythmischen und
einem harmonischen: jenes kann man auch als das quantitative, dieses als
das qualitative bezeichnen, da das erstere die Dauer, das letztere die
Höhe und Tiefe der Töne betrifft. In der Notenschrift hängt
das erstere den senkrechten, das letztere den horizontalen Linien an.
Beiden liegen rein arithmetische Verhältnisse, also die der Zeit,
zum Grunde: dem einen die relative Dauer der Töne, dem andern die
relative Schnelligkeit ihrer Vibrationen. Das rhythmische Element ist
das wesentlichste; da es, für sich allein und ohne das andere eine
Art Melodie darzustellen vermag, wie z.B. auf der Trommel geschieht: die
vollkommene Melodie verlangt jedoch beide. Sie besteht nämlich in
einer abwechselnden Entzweiung und Versöhnung[ derselben;
wie ich sogleich zeigen werde, aber zuvor, da von dem harmonischen Elemente
schon im Bisherigen die Rede gewesen, das rhythmische etwas näher
betrachten will. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 969-970).
Der Rhythmus ist in der Zeit was im Raume die Symmetrie
ist, nämlich Theilung in gleiche und einander entsprechende Theile,
und zwar zunächst in größere, welche wieder in kleinere,
jenen untergeordnete, zerfallen. In der von mir aufgestellten Reihe der
Künste bilden Architektur und Musik die beiden äußersten
Enden. Auch sind sie, ihrem innern Wesen, ihrer Kraft, dem Umfang ihrer
Sphäre und ihrer Bedeutung nach, die heterogensten, ja, wahre Antipoden:
sogar auf die Form ihrer Erscheinung erstreckt sich dieser Gegensatz,
indem die Architektur allein im Raum ist, ohne irgend eine Beziehung
auf die Zeit, die Musik allein in der Zeit, ohne irgend eine Beziehung
auf den Raum. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 970).
Nach dieser Erörterung des Rhythmus habe ich jetzt
darzuthun, wie in der stets erneuerten Entzweiung und Versöhnung
des rhythmischen Elements der Melodie mit dem harmonischen das Wesen derselben
besteht. Ihr harmonisches Element nämlich hat den Grundton zur Voraussetzung,
wie das rhythmische die Taktart, und besteht in einem Abirren[534] von
demselben, durch alle Töne der Skala, bis es, auf kürzerem oder
längerem Umwege, eine harmonische Stufe, meistens die Dominante oder
Unterdominante, erreicht, die ihm eine unvollkommene Beruhigung gewährt:
dann aber folgt, auf gleich langem Wege, seine Rückkehr zum Grundton,
mit welchem die vollkommene Beruhigung eintritt. Beides muß nun
aber so geschehn, daß das Erreichen der besagten Stufe, wie auch
das Wiederfinden des Grundtons, mit gewissen bevorzugten Zeitpunkten
des Rhythmus zusammentreffe, da es sonst nicht wirkt. Also, wie die harmonische
Tonfolge gewisse Töne verlangt, vorzüglich die Tonika, nächst
ihr die Dominante u.s.w.; so fordert seinerseits der Rhythmus gewisse
Zeitpunkte, gewisse abgezählte Takte und gewisse Theile dieser Takte,
welche man die schweren, oder guten Zeiten, oder die accentuirten Takttheile
nennt, im Gegensatz der leichten, oder schlechten Zeiten, oder unaccentuirten
Takttheile. Nun besteht die Entzweiung jener beiden Grundelemente
darin, daß indem die Forderung des einen befriedigt wird, die des
andern es nicht ist, die Versöhnung aber darin, daß beide zugleich
und auf ein Mal befriedigt werden. Nämlich jenes Herumirren der Tonfolge,
bis zum Erreichen einer mehr oder minder harmonischen Stufe, muß
diese erst nach einer bestimmten Anzahl Takte, sodann aber auf einem guten
Zeittheil des Taktes antreffen, wodurch dieselbe zu einem gewissen Ruhepunkte
für sie wird; und eben so muß die Rückkehr zur Tonika
diese nach einer gleichen Anzahl Takte und ebenfalls auf einem guten Zeittheil
wiederfinden, wodurch dann die völlige Befriedigung eintritt. So
lange dieses geforderte Zusammentreffen der Befriedigungen beider Elemente
nicht erreicht wird, mag einerseits der Rhythmus seinen regelrechten Gang
gehn, und andererseits die geforderten Noten oft genug vorkommen; sie
werden dennoch ganz ohne jene Wirkung bleiben, durch welche die Melodie
entsteht .... (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 971-972).
Hier trifft die harmonische Tonfolge gleich am Schluß des
ersten Takts auf die Tonika: allein sie erhält dadurch keine Befriedigung;
weil der Rhythmus im schlechtesten Takttheile begriffen[535] ist. Gleich
darauf, im zweiten Takt, hat der Rhythmus das gute Takttheil; aber die
Tonfolge ist auf die Septime gekommen. Hier sind also die beiden Elemente
der Melodie ganz entzweit; und wir fühlen uns beunruhigt.
In der zweiten Hälfte der Periode trifft Alles umgekehrt, und sie
werden, im letzten Ton, versöhnt. Dieser Vorgang ist in jeder Melodie,
wiewohl meistens in viel größerer Ausdehnung, nachzuweisen.
Die dabei nun Statt findende beständige Entzweiung und Versöhnung
ihrer beiden Elemente ist, metaphysisch betrachtet, das Abbild der Entstehung
neuer Wünsche und sodann ihrer Befriedigung. Eben dadurch schmeichelt
die Musik sich so in unser Herz, daß sie ihm stets die vollkommene
Befriedigung seiner Wünsche vorspiegelt. Näher betrachtet, sehn
wir in diesem Hergang der Melodie eine gewissermaaßen innere Bedingung
(die harmonische) mit einer äußern (der rhythmischen) wie durch
einen Zufall zusammentreffen, welchen freilich der Komponist herbeiführt
und der insofern dem Reim in der Poesie zu vergleichen ist: dies aber
eben ist das Abbild des Zusammentreffens unserer Wünsche mit den
von ihnen unabhängigen, günstigen, äußeren Umständen,
also das Bild des Glücks. Noch verdient hiebei die Wirkung
des Vorhalts beachtet zu werden. Er ist eine Dissonanz, welche
die mit Gewißheit erwartete, finale Konsonanz verzögert; wodurch
das Verlangen nach ihr verstärkt wird und ihr Eintritt desto mehr
befriedigt: offenbar ein Analogen der durch Verzögerung erhöhten
Befriedigung des Willens. Die vollkommene Kadenz erfordert den vorhergehenden
Septimenackord auf der Dominante; weil nur auf das dringendeste Verlangen
die am tiefsten gefühlte Befriedigung und gänzliche Beruhigung
folgen kann. Durchgängig also besteht die Musik in einem steten Wechsel
von mehr oder minder beunruhigenden, d.i. Verlangen erregenden Ackorden,
mit mehr oder minder beruhigenden und befriedigenden; eben wie das Leben
des Herzens (der Wille) ein steter Wechsel von größerer oder
geringerer Beunruhigung, durch Wunsch oder Furcht, mit eben so verschieden
gemessener Beruhigung ist. Demgemäß besteht die harmonische
Fortschreitung in der kunstgerechten Abwechselung der Dissonanz und Konsonanz.
Eine Folge bloß konsonanter Ackorde würde übersättigend,
ermüdend und leer seyn, wie der languor, den die Befriedigung aller
Wünsche herbeiführt. Daher müssen[536] Dissonanzen, obwohl
sie beunruhigend und fast peinlich wirken, eingeführt werden, aber
nur um, mit gehöriger Vorbereitung, wieder in Konsonanzen aufgelöst
zu werden. Ja, es giebt eigentlich in der ganzen Musik nur zwei Grundackorde:
den dissonanten Septimenackord und den harmonischen Dreiklang, als auf
welche alle vorkommenden Ackorde zurückzuführen sind. Dies ist
eben Dem entsprechend, daß es für den Willen im Grunde nur
Unzufriedenheit und Befriedigung giebt, unter wie vielerlei Gestalten
sie auch sich darstellen mögen. Und wie es zwei allgemeine Grundstimmungen
des Gemüths giebt, Heiterkeit oder wenigstens Rüstigkeit, und
Betrübniß oder doch Beklemmung; so hat die Musik zwei allgemeine
Tonarten Dur und Moll, welche jenen entsprechen, und sie muß stets
sich in einer von beiden befinden. Es ist aber in der That höchst
wunderbar, daß es ein weder physisch schmerzliches, noch auch konventionelles,
dennoch sogleich ansprechendes und unverkennbares Zeichen des Schmerzes
giebt: das Moll. Daran läßt sich ermessen, wie tief die Musik
im Wesen der Dinge und des Menschen gegründet ist. Bei nordischen
Völkern, deren Leben schweren Bedingungen unterliegt, namentlich
bei den Russen, herrscht das Moll vor, sogar in der Kirchenmusik.
Allegro in Moll ist in der Französischen Musik sehr häufig und
charakterisirt sie: es ist, wie wenn Einer tanzt, während ihn der
Schuh drückt. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 972-973).
Ergänzungen zum vierten Buch
Kapitel 44: Metaphysik der Geschlechtsliebe.
|
Ihr Weisen, hoch und tief gelahrt,
Die ihr's ersinnt und wißt,
Wie, wo und wann sich Alles paart?
Warum sich's liebt und küßt?
Ihr hohen Weisen, sagt mir's an!
Ergrübelt, was mir da,
Ergrübelt mir, wo, wie und wann,
Warum mir so geschah?
Bürger.
|
Dieses Kapitel ist das letzte von vieren, deren mannigfaltige
gegenseitige Beziehungen zu einander, vermöge welcher sie gewissermaaßen
ein untergeordnetes Ganzes bilden, der aufmerksame Leser erkennen wird,
ohne daß ich nöthig hätte, durch Berufungen und Zurückweisungen
meinen Vortrag zu unterbrechen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1041).
Die Dichter ist man gewohnt hauptsächlich mit der Schilderung
der Geschlechtsliebe beschäftigt zu sehn. Diese ist in der Regel
das Hauptthema aller dramatischen Werke, der tragischen, wie der komischen,
der romantischen, wie der klassischen, der Indischen, wie der Europäischen:
nicht weniger ist sie der Stoff des bei Weitem größten Theils
der lyrischen Poesie, und ebenfalls der epischen; zumal wenn wir dieser
die hohen Stöße von Romanen beizählen wollen, welche,
in allen civilisirten Ländern Europas, jedes Jahr so regelmäßig
wie die Früchte des Bodens erzeugt, schon seit Jahrhunderten. Alle
diese Werke sind, ihrem Hauptinhalte nach, nichts Anderes, als vielseitige,
kurze oder ausführliche Beschreibungen der in Rede stehenden Leidenschaft.
Auch haben die gelungensten Schilderungen derselben, wie z.B. Romeo und
Julie, die neue Heloise, der Werther, unsterblichen Ruhm erlangt. Wenn
dennoch Rochefoucauld meint, es sei mit der leidenschaftlichen Liebe wie
mit den Gespenstern, Alle redeten davon, aber Keiner hätte sie gesehn;
und ebenfalls Lichtenberg in seinem Aufsatze »Ueber die Macht der
Liebe« die Wirklichkeit und Naturgemäßheit jener Leidenschaft
bestreitet und ableugnet; so ist dies ein großer Irrthum. Denn es
ist unmöglich, daß ein der menschlichen Natur Fremdes und ihr
Widersprechendes, also eine bloß aus der Luft gegriffene Fratze,
zu allen Zeiten vom Dichtergenie unermüdlich dargestellt und von
der Menschheit mit unveränderter Theilnahme aufgenommen werden könne;
da ohne Wahrheit kein Kunstschönes seyn kann: Rien n'est beau
que le vrai; le vrai seul est aimable. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1041-1042).
Allerdings aber bestätigt es auch die Erfahrung, wenn gleich
nicht die alltägliche, daß Das, was in der Regel nur als eine
lebhafte, jedoch noch bezwingbare Neigung vorkommt, unter gewissen Umständen
anwachsen kann zu einer Leidenschaft, die an Heftigkeit jede andere übertrifft,
und dann alle Rücksichten beseitigt, alle Hindernisse mit unglaublicher
Kraft und Ausdauer überwindet, so daß für ihre Befriedigung
unbedenklich das Leben gewagt, ja, wenn solche schlechterdings versagt
bleibt, in den Kauf gegeben wird. Die Werther und Jacopo Ortis existiren
nicht bloß im Romane; sondern jedes Jahr hat deren in Europa wenigstens
ein halbes Dutzend aufzuweisen: sed ignotis perierunt mortibus illi: denn
ihre Leiden finden keinen andern Chronisten, als den Schreiber amtlicher
Protokolle, oder den Berichterstatter der Zeitungen. Doch werden die Leser
der polizeigerichtlichen Aufnahmen in Englischen und Französischen
Tagesblättern die Richtigkeit meiner Angabe bezeugen. Noch größer
aber ist die Zahl Derer, welche die selbe Leidenschaft ins Irrenhaus bringt.
Endlich hat jedes Jahr auch einen und den andern Fall von gemeinschaftlichem
Selbstmord eines liebenden, aber durch äußere Umstände
verhinderten Paares aufzuweisen; wobei mir inzwischen unerklärlich
bleibt, wie Die, welche, gegenseitiger Liebe gewiß, im Genüsse
dieser die höchste Säligkeit zu finden erwarten, nicht lieber
durch die äußersten Schritte sich allen Verhältnissen
entziehn und jedes Ungemach erdulden, als daß sie mit dem Leben
ein Glück aufgeben, über welches hinaus ihnen kein größeres
denkbar ist. Was aber die niedern Grade und die bloßen Anflüge
jener Leidenschaft anlangt, so hat Jeder sie täglich vor Augen und,
so lange er nicht alt ist, meistens auch im Herzen. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1042).
Also kann man, nach dem hier in Erinnerung Gebrachten, weder an
der Realität, noch an der Wichtigkeit der Sache zweifeln, und sollte
daher, statt sich zu wundern, daß auch ein Philosoph dieses beständige
Thema aller Dichter ein Mal zu dem seinigen macht, sich darüber wundern,
daß eine Sache, welche im Menschenleben durchweg eine so bedeutende
Rolle spielt, von den Philosophen bisher so gut wie gar nicht in Betrachtung
genommen ist und als ein unbearbeiteter Stoff vorliegt. Wer sich noch
am meisten damit abgegeben hat, ist Plato, besonders im »Gastmahl«
und im »Phädrus«: was er jedoch darüber vorbringt,
hält sich im Gebiete der Mythen, Fabeln und Scherze, betrifft auch
größtentheils nur die Griechische Knabenliebe. Das Wenige,
was Rousseau im Discours sur l'inégalité (p. 96, ed. Bip.)
über unser Thema sagt, ist falsch und ungenügend. Kants Erörterung
des Gegenstandes, im dritten Abschnitt der Abhandlung »Ueber das
Gefühl des Schönen und Erhabenen« (S. 435 fg. der Rosenkranzischen
Ausgabe), ist sehr oberflächlich und ohne Sachkenntniß, daher
zum Theil auch unrichtig. Endlich Platners Behandlung der Sache in seiner
Anthropologie, §§ 1347 fg., wird Jeder platt und seicht finden.
Hingegen verdient Spinoza's Definition, wegen ihrer überschwänglichen
Naivetät, zur Aufheiterung, angeführt zu werden: Amor est titillatio,
concomitante idea causae externae (Eth., IV, prop. 44, dem.). Vorgänger
habe ich demnach weder zu benutzen, noch zu widerlegen: die Sache hat
sich mir objektiv aufgedrungen und ist von selbst in den Zusammenhang
meiner Weltbetrachtung getreten. Den wenigsten Beifall habe ich
übrigens von Denen zu hoffen, welche gerade selbst von dieser Leidenschaft
beherrscht sind, und demnach in den sublimsten und ätherischesten
Bildern ihre überschwänglichen Gefühle auszudrücken
suchen: ihnen wird meine Ansicht zu physisch, zu materiell erscheinen;
so metaphysisch, ja transscendent, sie auch im Grunde ist. Mögen
sie vorläufig erwägen, daß der Gegenstand, welcher sie
heute zu Madrigalen und Sonetten begeistert, wenn er 18 Jahre früher
geboren wäre, ihnen kaum einen Blick abgewonnen hätte.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 1042-1043).
Denn alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch geberden
mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe, ja, ist durchaus nur ein näher
bestimmter, specialisirter, wohl gar im strengsten Sinn individualisirter
Geschlechtstrieb. Wenn man nun, dieses fest haltend, die wichtige Rolle
betrachtet, welche die Geschlechtsliebe in allen ihren Abstufungen und
Nuancen, nicht bloß in Schauspielen und Romanen, sondern auch in
der wirklichen Welt spielt, wo sie, nächst der Liebe zum Leben, sich
als die stärkste und thätigste aller Triebfedern erweist, die
Hälfte der Kräfte und Gedanken des jüngern Theiles der
Menschheit fortwährend in Anspruch nimmt, das letzte Ziel fast jedes
menschlichen Bestrebens ist, auf die wichtigsten Angelegenheiten nachtheiligen
Einfluß erlangt, die ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder
Stunde unterbricht, bisweilen selbst die größten Köpfe
auf eine Weile in Verwirrung setzt, sich nicht scheut, zwischen die Verhandlungen
der Staatsmänner und die Forschungen der Gelehrten, störend,
mit ihrem Plunder einzutreten, ihre Liebesbriefchen und Haarlöckchen
sogar in ministerielle Portefeuilles und philosophische Manuskripte einzuschieben
versteht, nicht minder täglich die verworrensten und schlimmsten
Händel anzettelt, die werthvollsten Verhältnisse auflöst,
die festesten Bande zerreißt, bisweilen Leben, oder Gesundheit,
bisweilen Reichthum, Rang und Glück zu ihrem Opfer nimmt, ja, den
sonst Redlichen gewissenlos, den bisher Treuen zum Verräther macht,
demnach im Ganzen auftritt als ein feindsäliger Dämon, der Alles
zu verkehren, zu verwirren und umzuwerfen bemüht ist; da wird
man veranlaßt auszurufen: Wozu der Lerm? Wozu das Drängen,
Toben, die Angst und die Noth? Es handelt sich ja bloß darum, daß
jeder Hans seine Grethe finde: weshalb sollte eine solche Kleinigkeit
eine so wichtige Rolle spielen und unaufhörlich Störung und
Verwirrung in das wohlgeregelte Menschenleben bringen? Aber dem
ernsten Forscher enthüllt allmälig der Geist der Wahrheit die
Antwort: Es ist keine Kleinigkeit, worum es sich hier handelt; vielmehr
ist die Wichtigkeit der Sache dem Ernst und Eifer des Treibens vollkommen
angemessen. Der Endzweck aller Liebeshändel, sie mögen auf dem
Sockus, oder dem Kothurn gespielt werden, ist wirklich wichtiger, als
alle andern Zwecke im Menschenleben, und daher des tiefen Ernstes, womit
Jeder ihn verfolgt, völlig werth. Das nämlich, was dadurch entschieden
wird, ist nichts Geringeres, als die Zusammensetzung der nächsten
Generation. Die dramatis personae, welche auftreten werden, wann wir abgetreten
sind, werden hier, ihrem Daseyn und ihrer Beschaffenheit nach, bestimmt,
durch diese so frivolen Liebeshändel. Wie das Seyn, die Existentia,
jener künftigen Personen durch unsern Geschlechtstrieb überhaupt,
so ist das Wesen, die Essentia derselben durch die individuelle Auswahl
bei seiner Befriedigung, d.i. die Geschlechtsliebe, durchweg bedingt,
und wird dadurch, in jeder Rücksicht, unwiderruflich festgestellt.
Dies ist der Schlüssel des Problems: wir werden ihn, bei der Anwendung,
genauer kennen lernen, wann wir die Grade der Verliebtheit, von der flüchtigsten
Neigung bis zur heftigsten Leidenschaft, durchgehn, wobei wir erkennen
werden, daß die Verschiedenheit derselben aus dem Grade der Individualisation
der Wahl entspringt. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille
und Vorstellung, 1818, S. 1043-1044).
Die sämmtlichen Liebeshändel der gegenwärtigen
Generation zusammengenommen sind demnach des ganzen Menschengeschlechts
ernstliche meditatio compositionis generationis futurae, e qua iterum
pendent innumerae generationes. Diese hohe Wichtigkeit der Angelegenheit,
als in welcher es sich nicht, wie in allen übrigen, um individuelles
Wohl und Wehe, sondern um das Daseyn und die specielle Beschaffenheit
des Menschengeschlechts in künftigen Zeiten handelt und daher der
Wille des Einzelnen in erhöhter Potenz, als Wille der Gattung, auftritt,
diese ist es, worauf das Pathetische und Erhabene der Liebesangelegenheiten,
das Transscendente ihrer Entzückungen und Schmerzen beruht, welches
in zahllosen Beispielen darzustellen die Dichter seit Jahrtausenden nicht
müde werden; weil kein Thema es an Interesse diesem gleich thun kann,
als welches, indem es das Wohl und Wehe der Gattung betrifft, zu allen
übrigen, die nur das Wohl der Einzelnen betreffen, sich verhält
wie Körper zu Fläche. Daher eben ist es so schwer, einem Drama
ohne Liebeshändel Interesse zu ertheilen, und wird andererseits,
selbst durch den täglichen Gebrauch, dies Thema niemals abgenutzt.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 1044-1045).
Was im individuellen Bewußtseyn sich kund giebt als Geschlechtstrieb
überhaupt und ohne die Richtung auf ein bestimmtes Individuum des
andern Geschlechts, das ist an sich selbst und außer der Erscheinung
der Wille zum Leben schlechthin. Was aber im Bewußtseyn erscheint
als auf ein bestimmtes Individuum gerichteter Geschlechtstrieb, das ist
an sich selbst der Wille, als ein genau bestimmtes Individuum zu leben.
In diesem Falle nun weiß der Geschlechtstrieb, obwohl an sich ein
subjektives Bedürfniß, sehr geschickt die Maske einer objektiven
Bewunderung anzunehmen und so das Bewußtseyn zu täuschen: denn
die Natur bedarf dieses Stratagems zu ihren Zwecken. Daß es aber,
so objektiv und von erhabenem Anstrich jene Bewunderung auch erscheinen
mag, bei jedem Verliebtseyn doch allein abgesehn ist auf die Erzeugung
eines Individuums von bestimmter Beschaffenheit, wird zunächst dadurch
bestätigt, daß nicht etwan die Gegenliebe, sondern der Besitz,
d.h. der physische Genuß, das Wesentliche ist. Die Gewißheit
jener kann daher über den Mangel dieses keineswegs trösten:
vielmehr hat in solcher Lage schon Mancher sich erschossen. Hingegen nehmen
stark Verliebte, wenn sie keine Gegenliebe erlangen können, mit dem
Besitz, d.i. dem physischen Genuß, vorlieb. Dies belegen alle gezwungenen
Heirathen, imgleichen die so oft, ihrer Abneigung zum Trotz, mit großen
Geschenken, oder sonstigen Opfern, erkaufte Gunst eines Weibes, ja auch
die Fälle der Nothzucht. Daß dieses bestimmte Kind erzeugt
werde, ist der wahre, wenn gleich den Theilnehmern unbewußte Zweck
des ganzen Liebesromans: die Art und Weise, wie er erreicht wird, ist
Nebensache. Wie laut auch hier die hohen und empfindsamen, zumal
aber die verliebten Seelen aufschreien mögen, über den derben
Realismus meiner Ansicht; so sind sie doch im Irrthum. Denn, ist nicht
die genaue Bestimmung der Individualitäten der nächsten Generation
ein viel höherer und würdigerer Zweck, als Jener ihre überschwänglichen
Gefühle und übersinnlichen Seifenblasen? Ja, kann es, unter
Irdischen Zwecken, einen wichtigeren und größeren geben? Er
allein entspricht der Tiefe, mit welcher die leidenschaftliche Liebe gefühlt
wird, dem Ernst, mit welchem sie auftritt, und der Wichtigkeit, die sie
sogar den Kleinigkeiten ihres Bereiches und ihres Anlasses beilegt. Nur
sofern man diesen Zweck als den wahren unterlegt, erscheinen die Weitläuftigkeiten,
die endlosen Bemühungen und Plagen zur Erlangung des geliebten Gegenstandes,
der Sache angemessen. Denn die künftige Generation, in ihrer ganzen
individuellen Bestimmtheit, ist es, die sich mittelst jenes Treibens und
Mühens ins Daseyn drängt. Ja, sie selbst regt sich schon in
der so umsichtigen, bestimmten und eigensinnigen Auswahl zur Befriedigung
des Geschlechtstriebes, die man Liebe nennt. Die wachsende Zuneigung zweier
Liebenden ist eigentlich schon der Lebenswille des neuen Individuums,
welches sie zeugen können und möchten; ja, schon im Zusammentreffen
ihrer sehnsuchtsvollen Blicke entzündet sich sein neues Leben, und
giebt sich kund als eine künftig harmonische, wohl zusammengesetzte
Individualität. Sie fühlen die Sehnsucht nach einer wirklichen
Vereinigung und Verschmelzung zu einem einzigen Wesen, um alsdann nur
noch als dieses fortzuleben; und diese erhält ihre Erfüllung
in dem von ihnen Erzeugten, als in welchem die sich vererbenden Eigenschaften
Beider, zu Einem Wesen verschmolzen und vereinigt, fortleben. Umgekehrt,
ist die gegenseitige, entschiedene und beharrliche Abneigung zwischen
einem Mann und einem Mädchen die Anzeige, daß was sie zeugen
könnten nur ein übel organisirtes, in sich disharmonisches,
unglückliches Wesen seyn würde. Deshalb liegt ein tiefer Sinn
darin, daß Calderon die entsetzliche Semiramis zwar die Tochter
der Luft benennt, sie jedoch als die Tochter der Nothzucht, auf welche
der Gattenmord folgte, einführt. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1045-1046).
Was nun aber zuletzt zwei Individuen verschiedenen Geschlechts
mit solcher Gewalt ausschließlich zu einander zieht, ist der in
der ganzen Gattung sich darstellende Wille zum Leben, der hier eine seinen
Zwecken entsprechende Objektivation seines Wesens anticipirt in dem Individuo,
welches jene Beiden zeugen können. Dieses nämlich wird vom Vater
den Willen, oder Charakter, von der Mutter den Intellekt haben, die Korporisation
von Beiden: jedoch wird meistens die Gestalt sich mehr nach dem Vater,
die Größe mehr nach der Mutter richten, dem Gesetze
gemäß, welches in den Bastarderzeugungen der Thiere an den
Tag tritt und hauptsächlich darauf beruht, daß die Größe
des Fötus sich nach der Größe des Uterus richten muß.
So unerklärlich die ganz besondere und ihm ausschließlich eigenthümliche
Individualität eines jeden Menschen ist; so ist es eben auch die
ganz besondere und individuelle Leidenschaft zweier Liebenden;
ja, im tiefsten Grunde ist Beides Eines und das Selbe: die Erstere ist
explicite was die Letztere implicite war. Als die allererste Entstehung
eines neuen Individuums und das wahre punctum saliens seines Lebens ist
wirklich der Augenblick zu betrachten, da die Eltern anfangen einander
zu lieben, to fancy each other nennt es ein sehr treffender Englischer
Ausdruck, und, wie gesagt, im Begegnen und Heften ihrer sehnsüchtigen
Blicke entsteht der erste Keim des neuen Wesens, der freilich, wie alle
Keime, meistens zertreten wird. Dies neue Individuum ist gewissermaaßen
eine neue (Platonische) Idee: wie nun alle Ideen mit der größten
Heftigkeit in die Erscheinung zu treten streben, mit Gier die Materie
hiezu ergreifend, welche das Gesetz der Kausalität unter sie alle
austheilt; so strebt eben auch diese besondere Idee einer menschlichen
Individualität mit der größten Gier und Heftigkeit nach
ihrer Realisation in der Erscheinung. Diese Gier und Heftigkeit eben ist
die Leidenschaft der beiden künftigen Eltern zu einander. Sie hat
unzählige Grade, deren beide Extreme man immerhin als Aphroditê
pandêmos und ourania bezeichnen mag: dem Wesen nach ist sie
jedoch überall die selbe. Hingegen dem Grade nach wird sie um so
mächtiger seyn, je individualisirter sie ist, d.h. je mehr das geliebte
Individuum, vermöge aller seiner Theile und Eigenschaften, ausschließlich
geeignet ist, den Wunsch und das durch seine eigene Individualität
festgestellte Bedürfniß des liebenden zu befriedigen. Worauf
es nun aber hiebei ankommt, wird uns im weiteren Verfolge deutlich werden.
Zunächst und wesentlich ist die verliebte Neigung gerichtet auf Gesundheit,
Kraft und Schönheit, folglich auch auf Jugend; weil der Wille zuvörderst
den Gattungscharakter der Menschenspecies, als die Basis aller Individualität,
darzustellen verlangt: die alltägliche Liebelei (Aphroditê
pandêmos) geht nicht viel weiter. Daran knüpfen sich sodann
speciellere Anforderungen, die wir weiterhin im Einzelnen untersuchen
werden, und mit denen, wo sie Befriedigung vor sich sehn, die Leidenschaft
steigt. Die höchsten Grade dieser aber entspringen aus derjenigen
Angemessenheit beider Individualitäten zu einander, vermöge
welcher der Wille, d.i. der Charakter, des Vaters und der Intellekt der
Mutter, in ihrer Verbindung, gerade dasjenige Individuum vollenden, nach
welchem der Wille zum Leben überhaupt, welcher in der ganzen Gattung
sich darstellt, eine dieser seiner Größe angemessene, daher
das Maaß eines sterblichen Herzens übersteigende Sehnsucht
empfindet, deren Motive eben so über den Bereich des individuellen
Intellekts hinausliegen. Dies also ist die Seele einer eigentlichen, großen
Leidenschaft. Je vollkommener nun die gegenseitige Angemessenheit
zweier Individuen zu einander, in jeder der so mannigfachen, weiterhin
zu betrachtenden Rücksichten ist, desto stärker wird ihre gegenseitige
Leidenschaft ausfallen. Da es nicht zwei ganz gleiche Individuen giebt,
muß jedem bestimmten Mann ein bestimmtes Weib, stets in Hinsicht
auf das zu Erzeugende, am vollkommensten entsprechen. So selten,
wie der Zufall ihres Zusammentreffens, ist die eigentlich leidenschaftliche
Liebe. Weil inzwischen die Möglichkeit einer solchen in Jedem vorhanden
ist, sind uns die Darstellungen derselben in den Dichterwerken verständlich.
Eben weil die verliebte Leidenschaft sich eigentlich um das zu
Erzeugende und dessen Eigenschaften dreht und hier ihr Kern liegt, kann
zwischen zwei jungen und wohlgebildeten Leuten verschiedenen Geschlechts,
vermöge der Uebereinstimmung ihrer Gesinnung, ihres Charakters, ihrer
Geistesrichtung, Freundschaft bestehn, ohne daß Geschlechtsliebe
sich einmischte; ja sogar kann in dieser Hinsicht eine gewisse Abneigung
zwischen ihnen vorhanden seyn. Der Grund hievon ist darin zu suchen, daß
ein von ihnen erzeugtes Kind körperlich oder geistig disharmonirende
Eigenschaften haben, kurz, seine Existenz und Beschaffenheit den Zwecken
des Willens zum Leben, wie er sich in der Gattung darstellt, nicht entsprechen
würde. Im entgegengesetzten Fall kann, bei Heterogeneität der
Gesinnung, des Charakters und der Geistesrichtung, und bei der daraus
hervorgehenden Abneigung, ja Feindsäligkeit, doch die Geschlechtsliebe
aufkommen und bestehn; wo sie dann über jenes Alles verblendet: verleitet
sie hier zur Ehe, so wird es eine sehr unglückliche.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 1046-1048).
Jetzt zur gründlicheren Untersuchung der Sache. Der
Egoismus ist eine so tief wurzelnde Eigenschaft aller Individualität
überhaupt, daß, um die Thätigkeit eines individuellen
Wesens zu erregen, egoistische Zwecke die einzigen sind, auf welche man
mit Sicherheit rechnen kann. Zwar hat die Gattung auf das Individuum ein
früheres, näheres und größeres Recht, als die hinfällige
Individualität selbst: jedoch kann, wann das Individuum für
den Bestand und die Beschaffenheit der Gattung thätig seyn und sogar
Opfer bringen soll, seinem Intellekt, als welcher bloß auf individuelle
Zwecke berechnet ist, die Wichtigkeit der Angelegenheit nicht so faßlich
gemacht werden, daß sie derselben gemäß wirkte. Daher
kann, in solchem Fall, die Natur ihren Zweck nur dadurch erreichen, daß
sie dem Individuo einen gewissen Wahn einpflanzt, vermöge dessen
ihm als ein Gut für sich selbst erscheint, was in Wahrheit bloß
eines für die Gattung ist, so daß dasselbe dieser dient, während
es sich selber zu dienen wähnt; bei welchem Hergang eine bloße,
gleich darauf verschwindende Chimäre ihm vorschwebt und als Motiv
die Stelle einer Wirklichkeit vertritt. Dieser Wahn ist der Instinkt.
Derselbe ist, in den allermeisten Fällen, anzusehn als der Sinn der
Gattung, welcher das ihr Frommende dem Willen darstellt. Weil aber der
Wille hier individuell geworden; so muß er dergestalt getäuscht
werden, daß er Das, was der Sinn der Gattung ihm vorhält, durch
den Sinn des Individui wahrnimmt, also individuellen Zwecken nachzugehn
wähnt, während er in Wahrheit bloß generelle (dies Wort
hier im eigentlichsten Sinn genommen) verfolgt. Die äußere
Erscheinung des Instinkts beobachten wir am besten an den Thieren, als
wo seine Rolle am bedeutendesten ist; aber den innern Hergang dabei können
wir, wie alles Innere, allein an uns selbst kennen lernen. Nun meint man
zwar, der Mensch habe fast gar keinen Instinkt, allenfalls bloß
den, daß das Neugeborene die Mutterbrust sucht und ergreift. Aber
in der That haben wir einen sehr bestimmten, deutlichen, ja komplicirten
Instinkt, nämlich den der so feinen, ernstlichen und eigensinnigen
Auswahl des andern Individuums zur Geschlechtsbefriedigung. Mit dieser
Befriedigung an sich selbst, d.h. sofern sie ein auf dringendem Bedürfniß
des Individuums beruhender sinnlicher Genuß ist, hat die Schönheit
oder Häßlichkeit des andern Individuums gar nichts zu schaffen.
Die dennoch so eifrig verfolgte Rücksicht auf diese, nebst der daraus
entspringenden sorgsamen Auswahl, bezieht sich also offenbar nicht auf
den Wählenden selbst, obschon er es wähnt, sondern auf den wahren
Zweck, auf das zu Erzeugende, als in welchem der Typus der Gattung möglichst
rein und richtig erhalten werden soll. Nämlich durch tausend physische
Zufälle und moralische Widerwärtigkeiten entstehn gar vielerlei
Ausartungen der menschlichen Gestalt: dennoch wird der ächte Typus
derselben, in allen seinen Theilen, immer wieder hergestellt; welches
geschieht unter der Leitung des Schönheitssinnes, der durchgängig
dem Geschlechtstriebe vorsteht, und ohne welchen dieser zum ekelhaften
Bedürfniß herabsinkt. Demgemäß wird Jeder, erstlich,
die schönsten Individuen, d.h. solche, in welchen der Gattungscharakter
am reinsten ausgeprägt ist, entschieden vorziehn und heftig begehren;
zweitens aber wird er am andern Individuo besonders die Vollkommenheiten
verlangen, welche ihm selbst abgehn, ja sogar die Unvollkommenheiten,
welche das Gegentheil seiner eigenen sind, schön finden: daher suchen
z.B. kleine Männer große Frauen, die Blonden lieben die Schwarzen
u.s.w. Das schwindelnde Entzücken, welches den Mann beim Anblick
eines Weibes von ihm angemessener Schönheit ergreift und ihm die
Vereinigung mit ihr als das höchste Gut vorspiegelt, ist eben der
Sinn der Gattung, welcher den deutlich ausgedrückten Stämpel
derselben erkennend, sie mit diesem perpetuiren möchte. Auf diesem
entschiedenen Hange zur Schönheit beruht die Erhaltung des Typus
der Gattung: daher wirkt derselbe mit so großer Macht. Wir werden
die Rücksichten, welche er befolgt, weiter unten speciell betrachten.
Was also den Menschen hiebei leitet, ist wirklich ein Instinkt, der auf
das Beste der Gattung gerichtet ist, während der Mensch selbst bloß
den erhöhten eigenen Genuß zu suchen wähnt. In
der That haben wir hieran einen lehrreichen Aufschluß über
das innere Wesen alles Instinkts, als welcher fast durchgängig, wie
hier, das Individuum für das Wohl der Gattung in Bewegung setzt.
Denn offenbar ist die Sorgfalt, mit der ein Insekt eine bestimmte Blume,
oder Frucht, oder Mist, oder Fleisch, oder, wie die Ichneumonien, eine
fremde Insektenlarve aufsucht, um seine Eier nur dort zu legen, und um
dieses zu erreichen weder Mühe noch Gefahr scheut, derjenigen sehr
analog, mit welcher ein Mann zur Geschlechtsbefriedigung ein Weib von
bestimmter, ihm individuell zusagender Beschaffenheit sorgsam auswählt
und so eifrig nach ihr strebt, daß er oft, um diesen Zweck zu erreichen,
aller Vernunft zum Trotz, sein eigenes Lebensglück opfert, durch
thörichte Heirath, durch Liebeshändel, die ihm Vermögen,
Ehre und Leben kosten, selbst durch Verbrechen, wie Ehebruch, oder Nothzucht;
Alles nur, um, dem überall souveränen Willen der Natur gemäß,
der Gattung auf das Zweckmäßigste zu dienen, wenn gleich auf
Kosten des Individuums. Ueberall nämlich ist der Instinkt ein Wirken
wie nach einem Zweckbegriff, und doch ganz ohne denselben. Die Natur pflanzt
ihn da ein, wo das handelnde Individuum den Zweck zu verstehn unfähig,
oder ihn zu verfolgen unwillig seyn würde: daher ist er, in der Regel,
nur den Thieren, und zwar vorzüglich den untersten, als welche den
wenigsten Verstand haben, beigegeben, aber fast allein in dem hier betrachteten
Fall auch dem Menschen, als welcher den Zweck zwar verstehn könnte,
ihn aber nicht mit dem nöthigen Eifer, nämlich sogar auf Kosten
seines individuellen Wohls, verfolgen würde. Also nimmt hier, wie
bei allem Instinkt, die Wahrheit die Gestalt des Wahnes an, um auf den
Willen zu wirken. Ein wollüstiger Wahn ist es, der dem Manne vorgaukelt,
er werde in den Armen eines Weibes von der ihm zusagenden Schönheit
einen größern Genuß finden, als in denen eines jeden
andern; oder der gar, ausschließlich auf ein einziges Individuum
gerichtet, ihn fest überzeugt, daß dessen Besitz ihm ein überschwängliches
Glück gewähren werde. Demnach wähnt er, für seinen
eigenen Genuß Mühe und Opfer zu verwenden, während es
bloß für die Erhaltung des regelrechten Typus der Gattung geschieht,
oder gar eine ganz bestimmte Individualität, die nur von diesen Eltern
kommen kann, zum Daseyn gelangen soll. So völlig ist hier der Charakter
des Instinkts, also ein Handeln wie nach einem Zweckbegriff und doch ganz
ohne denselben, vorhanden, daß der von jenem Wahn Getriebene den
Zweck, welcher allein ihn leitet, die Zeugung, oft sogar verabscheut und
verhindern möchte: nämlich bei fast allen unehelichen Liebschaften.
Dem dargelegten Charakter der Sache gemäß wird, nach dem endlich
erlangten Genuß, jeder Verliebte eine wundersame Enttäuschung
erfahren, und darüber erstaunen, daß das so sehnsuchtsvoll
Begehrte nichts mehr leistet, als jede andere Geschlechtsbefriedigung;
so daß er sich nicht sehr dadurch gefördert sieht. Jener Wunsch
nämlich verhielt sich zu allen seinen übrigen Wünschen,
wie sich die Gattung verhält zum Individuo, also wie ein Unendliches
zu einem Endlichen. Die Befriedigung hingegen kommt eigentlich nur der
Gattung zu Gute und fällt deshalb nicht in das Bewußtseyn des
Individuums, welches hier, vom Willen der Gattung beseelt, mit jeglicher
Aufopferung, einem Zwecke diente, der gar nicht sein eigener war. Daher
also findet jeder Verliebte, nach endlicher Vollbringung des großen
Werkes, sich angeführt: denn der Wahn ist verschwunden, mittelst
dessen hier das Individuum der Betrogene der Gattung war. Demgemäß
sagt Plato sehr treffend: hêdonê hapantôn alazonestaton
(voluptas omnium maxime vaniloqua). Phileb 319. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1048-1051).
Dies Alles aber wirft seinerseits wieder Licht zurück auf
die Instinkte und Kunsttriebe der Thiere. Ohne Zweifel sind auch diese
von einer Art Wahn, der ihnen den eigenen Genuß vorgaukelt, befangen,
während sie so emsig und mit Selbstverleugnung für die Gattung
arbeiten, der Vogel sein Nest baut, das Insekt den allein passenden Ort
für die Eier sucht, oder gar Jagd auf Raub macht, der, ihm selber
ungenießbar, als Futter für die künftigen Larven neben
die Eier gelegt werden muß, die Biene, die Wespe, die Ameise ihrem
künstlichen Bau und ihrer höchst komplicirten Oekonomie obliegen.
Sie Alle leitet sicherlich ein Wahn, welcher dem Dienste der Gattung die
Maske eines egoistischen Zweckes vorsteckt. Um uns den innern oder subjektiven
Vorgang, der den Aeußerungen des Instinkts zum Grunde liegt, faßlich
zu machen, ist dies wahrscheinlich der einzige Weg. Aeußerlich aber,
oder objektiv, stellt sich uns, bei den vom Instinkt stark beherrschten
Thieren, namentlich den Insekten, ein Ueberwiegen des Ganglien- d.i. des
subjektiven Nervensystems über das objektive oder Cerebral-System
dar; woraus zu schließen ist, daß sie nicht sowohl von der
objektiven, richtigen Auffassung, als von subjektiven, Wunsch erregenden
Vorstellungen, welche durch die Einwirkung des Gangliensystems auf das
Gehirn entstehn, und demzufolge von einem gewissen Wahn getrieben werden:
und dies wird der physiologische Hergang bei allem Instinkt seyn.
Zur Erläuterung erwähne ich noch, als ein anderes, wiewohl schwächeres
Beispiel vom Instinkt im Menschen, den kapriziösen Appetit der Schwangeren:
er scheint daraus zu entspringen, daß die Ernährung des Embryo
bisweilen eine besondere oder bestimmte Modifikation des ihm zufließenden
Blutes verlangt; worauf die solche bewirkende Speise sich sofort der Schwangeren
als Gegenstand heißer Sehnsucht darstellt, also auch hier ein Wahn
entsteht. Demnach hat das Weib einen Instinkt mehr als der Mann: auch
ist das Gangliensystem beim Weibe viel entwickelter. Aus dem
großen Uebergewicht des Gehirns beim Menschen erklärt sich,
daß er wenigere Instinkte hat, als die Thiere, und daß selbst
diese wenigen leicht irre geleitet werden können. Nämlich der
die Auswahl zur Geschlechtsbefriedigung instinktiv leitende Schönheitssinn
wird irre geführt, wenn er in Hang zur Päderastie ausartet;
Dem analog, wie die Schmeißfliege (Musca vomitoria), statt ihre
Eier, ihrem Instinkt gemäß, in faulendes Fleisch zu legen,
sie in die Blüthe des Arum dracunculus legt, verleitet durch den
kadaverosen Geruch dieser Pflanze. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1051-1052).
Daß nun aller Geschlechtsliebe ein durchaus auf das zu Erzeugende
gerichteter Instinkt zum Grunde liegt, wird seine volle Gewißheit
durch genauere Zergliederung desselben erhalten, der wir uns deshalb nicht
entziehn können. Zuvörderst gehört hieher, daß
der Mann von Natur zur Unbeständigkeit in der Liebe, das Weib zur
Beständigkeit geneigt ist. Die Liebe des Mannes sinkt merklich, von
dem Augenblick an, wo sie Befriedigung erhalten hat: fast jedes andere
Weib reizt ihn mehr als das, welches er schon besitzt: er sehnt sich nach
Abwechselung. Die Liebe des Weibes hingegen steigt von eben jenem Augenblick
an. Dies ist eine Folge des Zwecks der Natur, welche auf Erhaltung und
daher auf möglichst starke Vermehrung der Gattung gerichtet ist.
Der Mann nämlich kann, bequem, über hundert Kinder im Jahre
zeugen, wenn ihm eben so viele Weiber zu Gebote stehn; das Weib hingegen
könnte, mit noch so vielen Männern, doch nur ein Kind im Jahr
(von Zwillingsgeburten abgesehn) zur Welt bringen. Daher sieht er sich
stets nach andern Weibern um; sie hingegen hängt fest dem Einen an:
denn die Natur treibt sie, instinktmäßig und ohne Reflexion,
sich den Ernährer und Beschützer der künftigen Brut zu
erhalten. Demzufolge ist die eheliche Treue dem Manne künstlich,
dem Weibe natürlich, und also Ehebruch des Weibes, wie objektiv,
wegen der Folgen, so auch subjektiv, wegen der Naturwidrigkeit, viel unverzeihlicher
als der des Mannes. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille
und Vorstellung, 1818, S. 1052).
Aber um gründlich zu seyn und die volle Ueberzeugung zu gewinnen,
daß das Wohlgefallen am andern Geschlecht, so objektiv es uns dünken
mag, doch bloß verlarvter Instinkt, d.i. Sinn der Gattung, welche
ihren Typus zu erhalten strebt, ist, müssen wir sogar die bei diesem
Wohlgefallen uns leitenden Rücksichten näher untersuchen und
auf das Specielle derselben eingehn, so seltsam auch die hier zu erwähnenden
Specialitäten in einem philosophischen Werke figuriren mögen.
Diese Rücksichten zerfallen in solche, welche unmittelbar den Typus
der Gattung, d.i. die Schönheit, betreffen, in solche, welche auf
psychische Eigenschaften gerichtet sind, und endlich in bloß relative,
welche aus der erforderten Korrektion oder Neutralisation der Einseitigkeiten
und Abnormitäten der beiden Individuen durch einander hervorgehn.
Wir wollen sie einzeln durchgehn. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1052-1053).
Die oberste, unsere Wahl und Neigung leitende Rücksicht ist
das Alter. Im Ganzen lassen wir es gelten von den Jahren der eintretenden
bis zu denen der aufhörenden Menstruation, geben jedoch der Periode
vom achtzehnten bis achtundzwanzigsten Jahre entschieden den Vorzug. Außerhalb
jener Jahre hingegen kann kein Weib uns reizen: ein altes, d.h. nicht
mehr menstruirtes Weib erregt unsern Abscheu, Jugend ohne Schönheit
hat immer noch Reiz; Schönheit ohne Jugend keinen. Offenbar
ist die hiebei uns unbewußt leitende Absicht die Möglichkeit
der Zeugung überhaupt: daher verliert jedes Individuum an Reiz für
das andere Geschlecht in dem Maaße, als es sich von der zur Zeugung
oder zur Empfängniß tauglichsten Periode entfernt. Die
zweite Rücksicht ist die der Gesundheit: akute Krankheiten stören
nur vorübergehend, chronische, oder gar Kachexien, schrecken ab;
weil sie auf das Kind übergehn. Die dritte Rücksicht
ist das Skelett: weil es die Grundlage des Typus der Gattung ist. Nächst
Alter und Krankheit stößt nichts uns so sehr ab, wie eine verwachsene
Gestalt: sogar das schönste Gesicht kann nicht dafür entschädigen;
vielmehr wird selbst das häßlichste, bei geradem Wüchse,
unbedingt vorgezogen. Ferner empfinden wir jedes Mißverhältniß
des Skeletts am stärksten, z.B. eine verkürzte, gestauchte,
kurzbeinige Figur u. dgl. m., auch hinkenden Gang, wo er nicht Folge eines
äußern Zufalls ist. Hingegen kann ein auffallend schöner
Wuchs alle Mängel ersetzen: er bezaubert uns. Hieher gehört
auch der hohe Werth, den Alle auf die Kleinheit der Füße legen:
er beruht darauf, daß diese ein wesentlicher Charakter der Gattung
sind, indem kein Thier Tarsus und Metatarsus zusammengenommen so klein
hat, wie der Mensch, welches mit dem aufrechten Gange zusammenhängt:
er ist ein Plantigrade. Demgemäß sagt auch Jesus Sirach (26,
23: nach der verbesserten Uebersetzung von Kraus): »Ein Weib, das
gerade gebaut ist und schöne Füße hat, ist wie die goldenen
Säulen auf den silbernen Stühlen.« Auch die Zähne
sind uns wichtig; weil sie für die Ernährung wesentlich und
ganz besonders erblich sind. Die vierte Rücksicht ist eine
gewisse Fülle des Fleisches, also ein Vorherrschen der vegetativen
Funktion, der Plasticität; weil diese dem Fötus reichliche Nahrung
verspricht: daher stößt große Magerkeit uns auffallend
ab. Ein voller weiblicher Busen übt einen ungemeinen Reiz auf das
männliche Geschlecht aus: weil er, mit den Propagationsfunktionen
des Weibes in direktem Zusammenhange stehend, dem Neugeborenen reichliche
Nahrung verspricht. Hingegen erregen übermäßig fette Weiber
unsern Widerwillen: die Ursache ist, daß diese Beschaffenheit auf
Atrophie des Uterus, also auf Unfruchtbarkeit deutet; welches nicht der
Kopf, aber der Instinkt weiß. Erst die letzte Rücksicht
ist die auf die Schönheit des Gesichts. Auch hier kommen vor Allem
die Knochentheile in Betracht; daher hauptsächlich auf eine schöne
Nase gesehn wird, und eine kurze, aufgestülpte Nase Alles verdirbt.
Ueber das Lebensglück unzähliger Mädchen hat eine kleine
Biegung der Nase, nach unten oder nach oben, entschieden, und mit Recht:
denn es gilt den Typus der Gattung. Ein kleiner Mund, mittelst kleiner
Maxillen, ist sehr wesentlich, als specifischer Charakter des Menschenantlitzes,
im Gegensatz der Thiermäuler. Ein zurückliegendes, gleichsam
weggeschnittenes Kinn ist besonders widerlich; weil mentum prominulum
ein ausschließlicher Charakterzug unserer Species ist. Endlich kommt
die Rücksicht auf schöne Augen und Stirn: sie hängt mit
den psychischen Eigenschaften zusammen, zumal mit den intellektuellen,
welche von der Mutter erben. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als
Wille und Vorstellung, 1818, S. 1053-1054).
Die unbewußten Rücksichten, welche andererseits die
Neigung der Weiber befolgt, können wir natürlich nicht so genau
angeben. Im Ganzen läßt sich Folgendes behaupten. Sie geben
dem Alter von 30 bis 35 Jahren den Vorzug, namentlich auch vor dem der
Jünglinge, die doch eigentlich die höchste menschliche Schönheit
darbieten. Der Grund ist, daß sie nicht vom Geschmack, sondern vom
Instinkt geleitet werden, welcher im besagten Alter die Akme der Zeugungskraft
erkennt. Ueberhaupt sehn sie wenig auf Schönheit, namentlich des
Gesichts: es ist als ob sie diese dem Kinde zu geben allein auf sich nähmen.
Hauptsächlich gewinnt sie die Kraft und der damit zusammenhängende
Muth des Mannes: denn diese versprechen die Zeugung kräftiger Kinder
und zugleich einen tapfern Beschützer derselben. Jeden körperlichen
Fehler des Mannes, jede Abweichung vom Typus, kann, in Hinsicht auf das
Kind, das Weib bei der Zeugung aufheben, dadurch daß sie selbst
in den nämlichen Stücken untadelhaft ist, oder gar auf der entgegengesetzten
Seite excedirt. Hievon ausgenommen sind allein die Eigenschaften des Mannes,
welche seinem Geschlecht eigenthümlich sind und welche daher die
Mutter dem Kinde nicht geben kann: dahin gehört der männliche
Bau des Skeletts, breite Schultern, schmale Hüften, gerade Beine,
Muskelkraft, Muth, Bart u.s.w. Daher kommt es, daß Weiber oft häßliche
Männer lieben, aber nie einen unmännlichen Mann: weil sie dessen
Mängel nicht neutralisiren können. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1054).
Die zweite Art der Rücksichten, welche der Geschlechtsliebe
zum Grunde liegen, ist die auf die psychischen Eigenschaften. Hier werden
wir finden, daß das Weib durchgängig von den Eigenschaften
des Herzens oder Charakters im Manne angezogen wird, als welche
vom Vater erben. Vorzüglich ist es Festigkeit des Willens, Entschlossenheit
und Muth, vielleicht auch Redlichkeit und Herzensgüte, wodurch das
Weib gewonnen wird. Hingegen üben intellektuelle Vorzüge keine
direkte und instinktmäßige Gewalt über sie aus; eben weil
sie nicht vom Vater erben. Unverstand schadet bei Weibern nicht: eher
noch könnte überwiegende Geisteskraft, oder gar Genie, als eine
Abnormität, ungünstig wirken. Daher sieht man oft einen häßlichen,
dummen und rohen Menschen einen wohlgebildeten, geistreichen und liebenswürdigen
Mann bei Weibern ausstechen. Auch werden Ehen aus Liebe bisweilen geschlossen
zwischen geistig höchst heterogenen Wesen: z.B. er roh, kräftig
und beschränkt, sie zartempfindend, fein denkend, gebildet, ästhetisch
u.s.w.; oder er gar genial und gelehrt, sie eine Gans: Sic visum Veneri;
cui placet impares // Formas atque animos sub juga aënea // Saevo
mittere cum joco. Der Grund ist, daß hier ganz andere Rücksichten
vorwalten, als die intellektuellen: die des Instinkts. Bei der
Ehe ist es nicht auf geistreiche Unterhaltung, sondern auf die Erzeugung
der Kinder abgesehn: sie ist ein Bund der Herzen, nicht der Köpfe.
Es ist ein eiteles und lächerliches Vorgeben, wenn Weiber behaupten,
in den Geist eines Mannes sich verliebt zu haben, oder es ist die Ueberspannung
eines entarteten Wesens. Männer hingegen werden in der instinktiven
Liebe nicht durch die Charakter-Eigenschaften des Weibes bestimmt; daher
so viele Sokratesse ihre Xanthippen gefunden haben, z.B. Shakespeare,
Albrecht Dürer, Byron u. s. w. Wohl aber wirken hier die intellektuellen
Eigenschaften ein; weil sie von der Mutter erben: jedoch wird ihr Einfluß
von dem der körperlichen Schönheit, als welche, wesentlichere
Punkte betreffend, unmittelbarer wirkt, leicht überwogen. Inzwischen
geschieht es, im Gefühl oder nach der Erfahrung jenes Einflusses,
daß Mütter ihre Töchter schöne Künste, Sprachen
u. dgl. erlernen lassen, um sie für Männer anziehend zu machen;
wobei sie dem Intellekt durch künstliche Mittel nachhelfen wollen,
eben wie vorkommenden Falls den Hüften und Busen. Wohl zu
merken, daß hier überall die Rede allein ist von der ganz unmittelbaren,
instinktartigen Anziehung, aus welcher allein die eigentliche Verliebtheit
erwächst. Daß ein verständiges und gebildetes Weib, Verstand
und Geist an einem Manne schätzt, daß ein Mann, aus vernünftiger
Ueberlegung, den Charakter seiner Braut prüft und berücksichtigt,
thut nichts zu der Sache, wovon es sich hier handelt: dergleichen begründet
eine vernünftige Wahl bei der Ehe, aber nicht die leidenschaftliche
Liebe, welche unser Thema ist. (Arthur Schopenhauer, Die Welt
als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1054-1056).
Bis hieher habe ich bloß die absoluten Rücksichten,
d.h. solche, die für Jeden gelten, in Betracht genommen: ich komme
jetzt zu den relativen, welche individuell sind; weil bei ihnen es darauf
abgesehn ist, den bereits sich mangelhaft darstellenden Typus der Gattung
zu rektificiren, die Abweichungen von demselben, welche die eigene Person
des Wählenden schon an sich trägt, zu korrigiren und so zur
reinen Darstellung des Typus zurückzuführen. Hier liebt daher
Jeder, was ihm abgeht. Von der individuellen Beschaffenheit ausgehend
und auf die individuelle Beschaffenheit gerichtet, ist die auf solchen
relativen Rücksichten beruhende Wahl viel bestimmter, entschiedener
und exklusiver, als die bloß von den absoluten ausgehende; daher
der Ursprung der eigentlich leidenschaftlichen Liebe, in der Regel, in
diesen relativen Rücksichten liegen wird, und nur der der gewöhnlichen,
leichteren Neigung in den absoluten. Demgemäß pflegen es nicht
gerade die regelmäßigen, vollkommenen Schönheiten zu seyn,
welche die großen Leidenschaften entzünden. Damit eine solche
wirklich leidenschaftliche Neigung entstehe, ist etwas erfordert, welches
sich nur durch eine chemische Metapher ausdrücken läßt:
beide Personen müssen einander neutralisiren, wie Säure und
Alkali zu einem Mittelsalz. Die hiezu erforderlichen Bestimmungen sind
im Wesentlichen folgende. Erstlich: alle Geschlechtlichkeit ist Einseitigkeit.
Diese Einseitigkeit ist in Einem Individuo entschiedener ausgesprochen
und in höherm Grade vorhanden, als im Andern: daher kann sie in jedem
Individuo besser durch Eines als das Andere vom andern Geschlecht ergänzt
und neutralisirt werden, indem es einer der seinigen individuell entgegengesetzten
Einseitigkeit bedarf, zur Ergänzung des Typus der Menschheit im neu
zu erzeugenden Individuo, als auf dessen Beschaffenheit immer Alles hinausläuft.
Die Physiologen wissen, daß Mannheit und Weiblichkeit unzählige
Grade zulassen, durch welche jene bis zum widerlichen Gynander und Hypospad(i)äus
sinkt, diese bis zur anmuthigen Androgyne steigt: von beiden Seiten aus
kann der vollkommene Hermaphroditismus erreicht werden, auf welchem Individuen
stehn, welche, die gerade Mitte zwischen beiden Geschlechtern haltend,
keinem beizuzählen, folglich zur Fortpflanzung untauglich sind. Zur
in Rede stehenden Neutralisation zweier Individualitäten durch einander
ist dem zu Folge erfordert, daß der bestimmte Grad seiner Mannheit
dem bestimmten Grad ihrer Weiblichkeit genau entspreche; damit beide Einseitigkeiten
einander gerade aufheben. Demnach wird der männlichste Mann das weiblichste
Weib suchen und vice versa, und eben so jedes Individuum das ihm im Grade
der Geschlechtlichkeit entsprechende. Inwiefern nun hierin zwischen Zweien
das erforderliche Verhältniß Statt habe, wird instinktmäßig
von ihnen gefühlt, und liegt, nebst den andern relativen Rücksichten,
den höhern Graden der Verliebtheit zum Grunde. Während daher
die Liebenden pathetisch von der Harmonie ihrer Seelen reden, ist meistens
die hier nachgewiesene, das zu erzeugende Wesen und seine Vollkommenheit
betreffende Zusammenstimmung der Kern der Sache, und an derselben auch
offenbar viel mehr gelegen, als an der Harmonie ihrer Seelen, welche
oft, nicht lange nach der Hochzeit, sich in eine schreiende Disharmonie
auflöst. Hieran schließen sich nun die ferneren relativen Rücksichten,
welche darauf beruhen, daß Jedes seine Schwächen, Mängel
und Abweichungen vom Typus durch das Andere aufzuheben trachtet, damit
sie nicht im zu erzeugenden Kinde sich perpetuiren, oder gar zu völligen
Abnormitäten anwachsen. Je schwächer in Hinsicht auf Muskelkraft
ein Mann ist, desto mehr wird erkräftige Weiber suchen: eben so das
Weib ihrerseits. Da nun aber dem Weibe eine schwächere Muskelkraft
naturgemäß und in der Regel ist; so werden auch in der Regel
die Weiber den kräftigeren Männern den Vorzug geben.
Ferner ist eine wichtige Rücksicht die Größe. Kleine Männer
haben einen entschiedenen Hang zu großen Weibern, und vice versa:
und zwar wird in einem kleinen Manne die Vorliebe für große
Weiber um so leidenschaftlicher seyn, als er selbst von einem großen
Vater gezeugt und nur durch den Einfluß der Mutter klein geblieben
ist; weil er vom Vater das Gefäßsystem und die Energie desselben,
die einen großen Körper mit Blut zu versehn vermag, überkommen
hat: waren hingegen sein Vater und Großvater schon klein; so wird
jener Hang sich weniger fühlbar machen. Der Abneigung eines großen
Weibes gegen große Männer liegt die Absicht der Natur zum Grunde,
eine zu große Rasse zu vermeiden, wenn sie, mit den von diesem Weibe
zu ertheilenden Kräften, zu schwach ausfallen würde, um lange
zu leben. Wählt dennoch ein solches Weib einen großen Gatten,
etwan um sich in der Gesellschaft besser zu präsentiren; so wird,
in der Regel, die Nachkommenschaft die Thorheit büßen.
Sehr entschieden ist ferner die Rücksicht auf die Komplexion. Blonde
verlangen durchaus Schwarze oder Braune; aber nur selten diese jene. Der
Grund hievon ist, daß blondes Haar und blaue Augen schon eine Spielart,
fast eine Abnormität ausmachen: den weißen Mäusen, oder
wenigstens den Schimmeln analog. In keinem andern Welttheil sind sie,
selbst nicht in der Nähe der Pole, einheimisch, sondern allein in
Europa, und offenbar von Skandinavien ausgegangen. Beiläufig sei
hier meine Meinung ausgesprochen, daß dem Menschen die weiße
Hautfarbe nicht natürlich ist, sondern er von Natur schwarze, oder
braune Haut hat, wie unsere Stammväter die Hindu; daß folglich
nie ein weißer Mensch ursprünglich aus dem Schooße der
Natur hervorgegangen ist, und es also keine weiße Rasse giebt, so
viel auch von ihr geredet wird, sondern jeder weiße Mensch ein abgeblichener
ist. In den ihm fremden Norden gedrängt, wo er nur so besteht, wie
die exotischen Pflanzen, und, wie diese, im Winter des Treibhauses bedarf,
wurde der Mensch, im Laufe der Jahrtausende, weiß. Die Zigeuner,
ein Indischer, erst seit ungefähr vier Jahrhunderten eingewanderter
Stamm, zeigen den Uebergang von der Komplexion der Hindu zur unserigen64.
In der Geschlechtsliebe strebt daher die Natur zum dunkeln Haar und braunen
Auge, als zum Urtypus, zurück: die weiße Hautfarbe aber ist
zur zweiten Natur geworden; wiewohl nicht so, daß die braune der
Hindu uns abstieße. Endlich sucht auch in den einzelnen Körpertheilen
Jedes das Korrektiv seiner Mängel und Abweichungen, und um so entschiedener,
je wichtiger der Theil ist. Daher haben stumpfnäsige Individuen ein
unaussprechliches Wohlgefallen an Habichtsnasen, an Papagaiengesichtern:
eben so ist es rücksichtlich aller übrigen Theile. Menschen
von übermäßig schlankem, lang gestreckten Körper-
und Gliederbau können sogar einen über die Gebühr gedrungenen
und verkürzten schön finden. Analog walten die Rücksichten
auf das Temperament: Jeder wird das entgegengesetzte vorziehn; jedoch
nur in dem Maaß als das seinige ein entschiedenes ist. Wer
selbst, in irgend einer Rücksicht, sehr vollkommen ist, sucht und
liebt zwar nicht die Unvollkommenheit in eben dieser Rücksicht, söhnt
sich aber leichter als Andere damit aus; weil er selbst die Kinder vor
großer Unvollkommenheit in diesem Stücke sichert. Z.B. wer
selbst sehr weiß ist, wird sich an einer gelblichen Gesichtsfarbe
nicht stoßen: wer aber diese hat, wird die blendende Weiße
göttlich schön finden. Der seltene Fall, daß ein
Mann sich in ein entschieden häßliches Weib verliebt, tritt
ein, wann, bei der oben erörterten genauen Harmonie des Grades der
Geschlechtlichkeit, ihre sämmtlichen Abnormitäten gerade die
entgegengesetzten, also das Korrektiv, der seinigen sind. Die Verliebtheit
pflegt alsdann einen hohen Grad zu erreichen. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1056-1058).
Der tiefe Ernst, mit welchem wir jeden Körpertheil des Weibes
prüfend betrachten, und sie ihrerseits das Selbe thut, die kritische
Skrupulosität, mit der wir ein Weib, das uns zu gefallen anfängt,
mustern, der Eigensinn unserer Wahl, die gespannte Aufmerksamkeit, womit
der Bräutigam die Braut beobachtet, seine Behutsamkeit, um in keinem
Theile getäuscht zu werden, und der große Werth, den er auf
jedes Mehr oder Weniger, in den wesentlichen Theilen, legt, Alles
dieses ist der Wichtigkeit des Zweckes ganz angemessen. Denn das Neuzuerzeugende
wird, ein ganzes Leben hindurch, einen ähnlichen Theil zu tragen
haben: ist z.B. das Weib nur ein wenig schief; so kann dies leicht ihrem
Sohn einen Puckel aufladen, und so in allem Uebrigen. Bewußtseyn
von dem Allen ist freilich nicht vorhanden; vielmehr wähnt Jeder
nur im Interesse seiner eigenen Wollust (die im Grunde gar nicht dabei
betheiligt seyn kann) jene schwierige Wahl zu treffen; aber er trifft
sie genau so, wie es, unter Voraussetzung seiner eigenen Korporisation,
dem Interesse der Gattung gemäß ist, deren Typus möglichst
rein zu erhalten die geheime Aufgabe ist. Das Individuum handelt hier,
ohne es zu wissen, im Auftrage eines Höheren, der Gattung: daher
die Wichtigkeit, welche es Dingen beilegt, die ihm, als solchem, gleichgültig
seyn könnten, ja müßten. Es liegt etwas ganz Eigenes
in dem tiefen, unbewußten Ernst, mit welchem zwei junge Leute verschiedenen
Geschlechts, die sich zum ersten Male sehn, einander betrachten; dem forschenden
und durchdringenden Blick, den sie auf einander werfen; der sorgfältigen
Musterung, die alle Züge und Theile ihrer beiderseitigen Personen
zu erleiden haben. Dieses Forschen und Prüfen nämlich ist die
Meditation des Genius der Gattung über das durch sie Beide mögliche
Individuum und die Kombination seiner Eigenschaften. Nach dem Resultat
derselben fällt der Grad ihres Wohlgefallens an einander und ihres
Begehrens nach einander aus. Dieses kann, nachdem es schon einen bedeutenden
Grad erreicht hatte, plötzlich wieder erlöschen, durch die Entdeckung
von Etwas, das vorhin unbemerkt geblieben war. Dergestalt also
meditirt in Allen, die zeugungsfähig sind, der Genius der Gattung
das kommende Geschlecht. Die Beschaffenheit desselben ist das große
Werk, womit Kupido, unablässig thätig, spekulirend und
sinnend, beschäftigt ist. Gegen die Wichtigkeit seiner großen
Angelegenheit, als welche die Gattung und alle kommenden Geschlechter
betrifft, sind die Angelegenheiten der Individuen, in ihrer ganzen ephemeren
Gesammtheit, sehr geringfügig: daher ist er stets bereit, diese rücksichtslos
zu opfern. Denn er verhält sich zu ihnen wie ein Unsterblicher zu
Sterblichen, und seine Interessen zu den ihren wie unendliche zu endlichen.
Im Bewußtsein also, Angelegenheiten höherer Art, als alle solche,
welche nur individuelles Wohl und Wehe betreffen, zu verwalten, betreibt
er dieselben, mit erhabener Ungestörtheit, mitten im Getümmel
des Krieges, oder im Gewühl des Geschäftslebens, oder zwischen
dem Wüthen einer Pest, und geht ihnen nach bis in die Abgeschiedenheit
des Klosters. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 1058-1059).
Wir haben im Obigen gesehn, daß die Intensität der
Verliebtheit mit ihrer Individualisirung wächst, indem wir nachwiesen,
wie die körperliche Beschaffenheit zweier Individuen eine solche
seyn kann, daß, zum Behuf möglichster Herstellung des Typus
der Gattung, das eine die ganz specielle und vollkommene Ergänzung
des andern ist, welches daher seiner ausschließlich begehrt. In
diesem Fall tritt schon eine bedeutende Leidenschaft ein, welche eben
dadurch, daß sie auf einen einzigen Gegenstand und nur auf diesen
gerichtet ist, also gleichsam im speciellen Auftrag der Gattung auftritt,
sogleich einen edleren und erhabeneren Anstrich gewinnt. Aus dem entgegengesetzten
Grunde ist der bloße Geschlechtstrieb, weil er, ohne Individualisirung,
auf Alle gerichtet ist und die Gattung bloß der Quantität nach,
mit wenig Rücksicht auf die Qualität, zu erhalten strebt, gemein.
Nun aber kann die Individualisirung, und mit ihr die Intensität der
Verliebtheit, einen so hohen Grad erreichen, daß, ohne ihre Befriedigung,
alle Güter der Welt, ja, das Leben selbst seinen Werth verliert.
Sie ist alsdann ein Wunsch, welcher zu einer Heftigkeit anwächst,
wie durchaus kein anderer, daher zu jedem Opfer bereit macht und, im Fall
die Erfüllung unabänderlich versagt bleibt, zum Wahnsinn, oder
zum Selbstmord führen kann. Die einer solchen überschwänglichen
Leidenschaft zum Grunde liegenden unbewußten Rücksichten müssen,
außer den oben nachgewiesenen, noch andere seyn, welche wir nicht
so vor Augen haben. Wir müssen daher annehmen, daß hier nicht
nur die Korporisation, sondern auch der Wille des Mannes und der Intellekt
des Weibes eine specielle Angemessenheit zu einander haben, in Folge welcher
von ihnen allein ein ganz bestimmtes Individuum erzeugt werden kann, dessen
Existenz der Genius der Gattung hier beabsichtigt, aus Gründen, die,
als im Wesen des Dinges an sich liegend, uns unzugänglich sind. Oder,
eigentlich zu reden: der Wille zum Leben verlangt hier, sich in einem
genau bestimmten Individuo zu objektiviren, welches nur von diesem Vater
mit dieser Mutter gezeugt werden kann. Dieses metaphysische Begehr des
Willens an sich hat zunächst keine andere Wirkungssphäre in
der Reihe der Wesen, als die Herzen der künftigen Eltern, welche
demnach von diesem Drange ergriffen werden und nun ihrer selbst wegen
zu wünschen wähnen, was bloß einen für jetzt noch
rein metaphysischen, d.h. außerhalb der Reihe wirklich vorhandener
Dinge liegenden Zweck hat. Also der aus der Urquelle aller Wesen hervorgehende
Drang des künftigen, hier erst möglich gewordenen Individuums,
ins Daseyn zu treten, ist es, was sich in der Erscheinung darstellt als
die hohe, Alles außer sich gering achtende Leidenschaft der künftigen
Eltern für einander, in der That als ein Wahn ohne Gleichen, vermöge
dessen ein solcher Verliebter alle Güter der Welt hingeben würde,
für den Beischlaf mit diesem Weibe, der ihm doch in Wahrheit
nicht mehr leistet, als jeder andere. Daß es dennoch bloß
hierauf abgesehn sei, geht daraus hervor, daß auch diese hohe Leidenschaft,
so gut wie jede andere, im Genuß erlischt, zur großen
Verwunderung der Theilnehmer. Sie erlischt auch dann, wann, durch etwanige
Unfruchtbarkeit des Weibes (welche, nach Hufeland, aus 19 zufälligen
Konstitutionsfehlern entspringen kann), der eigentliche metaphysische
Zweck vereitelt wird; eben so, wie er es täglich wird in Millionen
zertretener Keime, in denen doch auch das selbe metaphysische Lebensprincip
zum Daseyn strebt; wobei kein anderer Trost ist, als daß dem Willen
zum Leben eine Unendlichkeit von Raum, Zeit, Materie und folglich unerschöpfliche
Gelegenheit zur Wiederkehr offen steht. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1059-1061).
Dem Theophrastus Paracelsus, der dieses Thema nicht behandelt
hat und dem mein ganzer Gedankengang fremd ist, muß doch ein Mal
die hier dargelegte Einsicht, wenn auch nur flüchtig, vorgeschwebt
haben, indem er, in ganz anderm Kontext und in seiner desultorischen Manier,
folgende merkwürdige Aeußerung hinschrieb: Hi sunt, quos
Deus copulavit, ut eam, quae fuit Uriae et David; quamvis ex diametro
(sic enim sibi humana mens persuadebat) cum justo et legitimo matrimonio
pugnaret hoc. sed propter Salomonem, qui aliunde
nasci non potuit, nisi ex Bathsebea, conjuncto David semine, quamvis meretrice,
conjunxit eos Deus (De vita longa, I, 5). (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1061).
Die Sehnsucht der Liebe, der himeros, welchen in zahllosen Wendungen
auszudrücken die Dichter aller Zeiten unablässig beschäftigt
sind und den Gegenstand nicht erschöpfen, ja, ihm nicht genug thun
können, diese Sehnsucht, welche an den Besitz eines bestimmten Weibes
die Vorstellung einer unendlichen Säligkeit knüpft und einen
unaussprechlichen Schmerz an den Gedanken, daß er nicht zu erlangen
sei, diese Sehnsucht und dieser Schmerz der Liebe können nicht
ihren Stoff entnehmen aus den Bedürfnissen eines ephemeren Individuums;
sondern sie sind der Seufzer des Geistes der Gattung, welcher hier ein
unersetzliches Mittel zu seinen Zwecken zu gewinnen, oder zu verlieren
sieht und daher tief aufstöhnt. Die Gattung allein hat unendliches
Leben und ist daher unendlicher Wünsche, unendlicher Befriedigung
und unendlicher Schmerzen fähig. Diese aber sind hier in der engen
Brust eines Sterblichen eingekerkert: kein Wunder daher, wenn eine solche
bersten zu wollen scheint und keinen Ausdruck finden kann für die
sie erfüllende Ahndung unendlicher Wonne oder unendlichen Wehes.
Dies also giebt den Stoff zu aller erotischen Poesie erhabener Gattung,
die sich demgemäß in transscendente, alles Irdische überfliegende
Metaphern versteigt. Dies ist das Thema des Petrarka, der Stoff zu den
St. Preuxs, Werthern und Jacopo Ortis, die außerdem nicht zu verstehn,
noch zu erklären seyn würden. Denn auf etwanigen geistigen,
überhaupt auf objektiven, realen Vorzügen der Geliebten kann
jene unendliche Werthschätzung derselben nicht beruhen; schon weil
sie dazu dem Liebenden oft nicht genau genug bekannt ist; wie dies Petrarka's
Fall war. Der Geist der Gattung allein vermag mit Einem Blicke zu sehn,
welchen Werth sie für ihn, zu seinen Zwecken hat. Auch entstehn
die großen Leidenschaften in der Regel beim ersten Anblick: Whoever
lov'd, that lov'd not at first sight? (Shakespeare, As you like
it, III, 5). (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 1061-1062).
Merkwürdig ist in dieser Hinsicht eine Stelle in dem seit
250 Jahren berühmten Roman Guzman de Alfarache, von Mateo Aleman:
No es necessario, para que uno ame, que pase distancia de tiempo, que
siga discurso, ni haga eleccion, sino que con aquella primera y sola vista,
concurran juntamente cierta correspondencia ó consonancia, ó
lo que acá solemos vulgarmente decir, una confrontacion de sangre,
à que por particular influxo suelen mover las estrellas. (Damit
Einer liebe, ist es nicht nöthig, daß viel Zeit verstreiche,
daß er Ueberlegung anstelle und eine Wahl treffe; sondern nur, daß
bei jenem ersten und alleinigen Anblick eine gewisse Angemessenheit und
Uebereinstimmung gegenseitig zusammentreffe, oder Das, was wir hier im
gemeinen Leben eine Sympathie des Blutes zu nennen pflegen, und wozu ein
besonderer Einfluß der Gestirne anzutreiben pflegt.) P. II, L. III,
c. 5. Demgemäß ist auch der Verlust der Geliebten, durch einen
Nebenbuhler, oder durch den Tod, für den leidenschaftlich Liebenden
ein Schmerz, der jeden andern übersteigt; eben weil er transscendenter
Art ist, indem er ihn nicht bloß als Individuum trifft, sondern
ihn in seiner essentia aeterna, im Leben der Gattung angreift, in deren
speciellem Willen und Auftrage er hier berufen war. Daher ist Eifersucht
so quaalvoll und so grimmig, und ist die Abtretung der Geliebten das größte
aller Opfer. Ein Held schämt sich aller Klagen, nur nicht
der Liebesklagen; weil in diesen nicht er, sondern die Gattung winselt.
In der »großen Zenobia« des Calderon ist im zweiten
Akt eine Scene zwischen der Zenobia und dem Decius, wo dieser sagt: Cielos,
luego tu me quieres? // Perdiera cien mil victorias, // Volviérame,
etc. (Himmel! also Du liebst mich?! Dafür würde ich hunderttausend
Siege aufgeben, würde umkehren, u.s.w.). (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1062).
Hier wird die Ehre, welche bisher jedes Interesse überwog,
aus dem Felde geschlagen, sobald die Geschlechtsliebe, d.i. das Interesse
der Gattung, ins Spiel kommt und einen entschiedenen Vortheil vor sich
sieht: denn dieses ist gegen jedes, auch noch so wichtige Interesse bloßer
Individuen unendlich überwiegend. Ihm allein weichen daher Ehre,
Pflicht und Treue, nachdem sie jeder andern Versuchung, selbst der Drohung
des Todes, widerstanden haben. Eben so finden wir im Privatleben,
daß in keinem Punkte Gewissenhaftigkeit so selten ist, wie in diesem:
sie wird hier bisweilen sogar von sonst redlichen und gerechten Leuten
bei Seite gesetzt, und der Ehebruch rücksichtslos begangen, wann
die leidenschaftliche Liebe, d.h. das Interesse der Gattung, sich ihrer
bemächtigt hat. Es scheint sogar, als ob sie dabei einer höheren
Berechtigung sich bewußt zu seyn glaubten, als die Interessen der
Individuen je verleihen können; eben weil sie im Interesse der Gattung
handeln. Merkwürdig ist in dieser Hinsicht Chamfort's Aeußerung:
Quand un homme et une femme ont l'un pour l'autre une passion violente,
il me semble toujours que, quelque(s) soient les obstacles qui les séparent,
un mari, des parens etc., les deux amans sont l'un à l'autre, de
par la Nature, qu'ils s'appartiennent de droit divin, malgré les
lois et les conventions humaines.. Wer sich hierüber ereifern wollte,
wäre auf die auffallende Nachsicht zu verweisen, welche der Heiland
im Evangelio der Ehebrecherin widerfahren läßt, indem er zugleich
die selbe Schuld bei allen Anwesenden voraussetzt. Der größte
Theil des Dekameron erscheint, von diesem Gesichtspunkt aus, als bloßer
Spott und Hohn des Genius der Gattung über die von ihm mit Füßen
getretenen Rechte und Interessen der Individuen, Mit gleicher Leichtigkeit
werden Standesunterschiede und alle ähnlichen Verhältnisse,
wann sie der Verbindung leidenschaftlich Liebender entgegenstehn, beseitigt
und für nichtig erklärt vom Genius der Gattung, der seine, endlosen
Generationen angehörenden Zwecke verfolgend solche Menschensatzungen
und Bedenken wie Spreu wegbläst. Aus dem selben tief liegenden Grunde
wird, wo es die Zwecke verliebter Leidenschaft gilt, jede Gefahr willig
übernommen und selbst der sonst Zaghafte wird hier muthig.
Auch im Schauspiele und im Roman sehn wir, mit freudigem Antheil, die
jungen Leute, welche ihre Liebeshändel, d.i. das Interesse der Gattung,
verfechten, den Sieg davontragen über die Alten, welche nur auf das
Wohl der Individuen bedacht sind. Denn das Streben der Liebenden scheint
uns um so viel wichtiger, erhabener und deshalb gerechter, als jedes ihm
etwan entgegenstehende, wie die Gattung bedeutender ist, als das Individuum.
Demgemäß ist das Grundthema fast aller Komödien das Auftreten
des Genius der Gattung mit seinen Zwecken, welche dem persönlichen
Interesse der dargestellten Individuen zuwiderlaufen und daher das Glück
derselben zu untergraben drohen. In der Regel setzt er es durch, welches,
als der poetischen Gerechtigkeit gemäß, den Zuschauer befriedigt;
weil dieser fühlt, daß die Zwecke der Gattung denen der Individuen
weit vorgehn. Daher verläßt er, am Schluß, die sieggekrönten
Liebenden ganz getrost, indem er mit ihnen den Wahn theilt, sie hätten
ihr eigenes Glück gegründet, welches sie vielmehr dem Wohl der
Gattung zum Opfer gebracht haben, dem Willen der vorsorglichen Alten entgegen.
In einzelnen, abnormen Lustspielen hat man versucht, die Sache umzukehren
und das Glück der Individuen, auf Kosten der Zwecke der Gattung,
durchzusetzen: allein da empfindet der Zuschauer den Schmerz, den der
Genius der Gattung erleidet, und wird durch die dadurch gesicherten Vortheile
der Individuen nicht getröstet. Als Beispiele dieser Art fallen mir
ein Paar sehr bekannte kleine Stücke bei: La reine de 16 ans, und
Le mariage de raison. In Trauerspielen mit Liebeshändeln gehn meistens,
indem die Zwecke der Gattung vereitelt werden, die Liebenden, welche deren
Werkzeug waren, zugleich unter: z.B. in Romeo und Julia, Tankred, Don
Karlos, Wallenstein, Braut von Messina u.a.m. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1063-1064).
Das Verliebtseyn eines Menschen liefert oft komische, mitunter
auch tragische Phänomene; Beides, weil er, vom Geiste der Gattung
in Besitz genommen, jetzt von diesem beherrscht wird und nicht mehr sich
selber angehört: dadurch wird sein Handeln dem Individuo unangemessen.
Was, bei den höhern Graden des Verliebtseyns, seinen Gedanken einen
so poetischen und erhabenen Anstrich, sogar eine transscendente und hyperphysische
Richtung giebt, vermöge welcher er seinen eigentlichen, sehr physischen
Zweck ganz aus den Augen zu verlieren scheint, ist im Grunde Dieses, daß
er jetzt vom Geiste der Gattung, dessen Angelegenheiten unendlich wichtiger,
als alle, bloße Individuen betreffenden sind, beseelt ist, um, in
dessen speciellem Auftrag, die ganze Existenz einer indefinit langen Nachkommenschaft,
von dieser individuell und genau bestimmten Beschaffenheit, welche sie
ganz allein von ihm als Vater und seiner Geliebten als Mutter erhalten
kann, zu begründen, und die außerdem, als eine solche, nie
zum Daseyn gelangt, während die Objektivation des Willens zum Leben
dieses Daseyn ausdrücklich erfordert. Das Gefühl, in Angelegenheiten
von so transscendenter Wichtigkeit zu handeln, ist es, was den Verliebten
so hoch über alles Irdische, ja über sich selbst emporhebt und
seinen sehr physischen Wünschen eine so hyperphysische Einkleidung
giebt, daß die Liebe eine poetische Episode sogar im Leben des prosaischesten
Menschen wird; in welchem letzteren Fall die Sache bisweilen einen komischen
Anstrich gewinnt. Jener Auftrag des in der Gattung sich objektivirenden
Willens stellt, im Bewußtseyn des Verliebten, sich dar unter der
Maske der Anticipation einer unendlichen Säligkeit, welche für
ihn in der Vereinigung mit diesem weiblichen Individuo zu finden wäre.
In den höchsten Graden der Verliebtheit wird nun diese Chimäre
so strahlend, daß, wenn sie nicht erlangt werden kann, das Leben
selbst allen Reiz verliert und nunmehr so freudenleer, schaal und ungenießbar
erscheint, daß der Ekel davor sogar die Schrecken des Todes überwindet;
daher es dann bisweilen freiwillig abgekürzt wird. Der Wille eines
solchen Menschen ist in den Strudel des Willens der Gattung gerathen,
oder dieser hat so sehr das Uebergewicht über den individuellen Willen
erhalten, daß, wenn solcher in ersterer Eigenschaft nicht wirksam
seyn kann, er verschmäht, es in letzterer zu seyn. Das Individuum
ist hier ein zu schwaches Gefäß, als daß es die, auf
ein bestimmtes Objekt koncentrirte, unendliche Sehnsucht des Willens der
Gattung ertragen könnte. In diesem Fall ist daher der Ausgang Selbstmord,
bisweilen doppelter Selbstmord beider Liebenden; es sei denn, daß
die Natur, zur Rettung des Lebens, Wahnsinn eintreten ließe, welcher
dann mit seinem Schleier das Bewußtseyn jenes hoffnungslosen Zustandes
umhüllt. Kein Jahr geht hin, ohne durch mehrere Fälle
aller dieser Arten die Realität des Dargestellten zu belegen.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 1064-1065).
Aber nicht allein hat die unbefriedigte verliebte Leidenschaft
bisweilen einen tragischen Ausgang, sondern auch die befriedigte führt
öfter zum Unglück, als zum Glück. Denn ihre Anforderungen
kollidiren oft so sehr mit der persönlichen Wohlfahrt des Betheiligten,
daß sie solche untergraben, indem sie mit seinen übrigen Verhältnissen
unvereinbar sind und den darauf gebauten Lebensplan zerstören. Ja,
nicht allein mit den äußern Verhältnissen ist die Liebe
oft im Widerspruch, sondern sogar mit der eigenen Individualität,
indem sie sich auf Personen wirft, welche, abgesehn vom Geschlechtsverhältniß,
dem Liebenden verhaßt, verächtlich, ja zum Abscheu seyn würden.
Aber so sehr viel mächtiger ist der Wille der Gattung als der des
Individuums, daß der Liebende über alle jene ihm widerlichen
Eigenschaften die Augen schließt. Alles übersieht, Alles verkennt
und sich mit dem Gegenstande seiner Leidenschaft auf immer verbindet:
so gänzlich verblendet ihn jener Wahn, welcher, sobald der Wille
der Gattung erfüllt ist, verschwindet und eine verhaßte Lebensgefährtin
übrig läßt. Nur hieraus ist es erklärlich, daß
wir oft sehr vernünftige, ja ausgezeichnete Männer mit Drachen
und Eheteufeln verbunden sehn, und nicht begreifen, wie sie eine solche
Wahl haben treffen können. Dieserhalb stellten die Alten den Amor
blind dar. Ja, ein Verliebter kann sogar die unerträglichen Temperaments-
und Charakterfehler seiner Braut, welche ihm ein gequältes Leben
verheißen, deutlich erkennen und bitter empfinden, und doch nicht
abgeschreckt werden: I ask not, I care not, // If guilt's in thy heart;
// I know that I love thee, // Whatever thou art. (Ich frag' nicht,
ich sorg' nicht, //Ob Schuld in dir ist: // Ich lieb' dich, das weiß
ich, // Was immer du bist.). (Arthur Schopenhauer, Die Welt als
Wille und Vorstellung, 1818, S. 1065-1066).
Denn im Grunde sucht er nicht seine Sache, sondern die eines Dritten,
der erst entstehn soll; wiewohl ihn der Wahn umfängt, als wäre
was er sucht seine Sache. Aber gerade dieses Nicht seine-Sache-suchen,
welches überall der Stämpel der Größe ist, giebt
auch der leidenschaftlichen Liebe den Anstrich des Erhabenen und macht
sie zum würdigen Gegenstande der Dichtung. Endlich verträgt
sich die Geschlechtsliebe sogar mit dem äußersten Haß
gegen ihren Gegenstand; daher schon Plato sie der Liebe der Wölfe
zu den Schaafen verglichen hat. Dieser Fall tritt nämlich ein, wann
ein leidenschaftlich Liebender, trotz allem Bemühen und Flehen, unter
keiner Bedingung Erhörung finden kann: I love and hate her (Ich
liebe und hasse sie.). (Shakespeare, Cymb., III, 5.). (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1066).
Der Haß gegen die Geliebte, welcher sich dann entzündet,
geht bisweilen so weit, daß er sie ermordet und darauf sich selbst.
Ein Paar Beispiele dieser Art pflegen sich jährlich zu ereignen:
man wird sie in den Englischen und Französischen Zeitungen finden.
Ganz richtig ist daher der Goethe'sche Vers: Bei aller verschmähten
Liebe! beim höllischen Elemente! // Ich wollt', ich wüßt'
was ärger's, daß ich's fluchen könnte! Es ist wirklich
keine Hyperbel, wenn ein Liebender die Kälte der Geliebten und die
Freude ihrer Eitelkeit, die sich an seinem Leiden weidet, als Grausamkeit
bezeichnet. Denn er steht unter dem Einfluß eines Triebes, der,
dem Instinkt der Insekten verwandt, ihn zwingt, allen Gründen der
Vernunft zum Trotz, seinen Zweck unbedingt zu verfolgen, und alles Andere
hintanzusetzen: er kann nicht davon lassen. Nicht Einen, sondern schon
manchen Petrarka hat es gegeben, der unerfüllten Liebesdrang, wie
eine Fessel, wie einen Eisenblock am Fuß, sein Leben hindurch schleppen
mußte und in einsamen Wäldern seine Seufzer aushauchte; aber
nur dem einen Petrarka wohnte zugleich die Dichtergabe ein; so daß
von ihm Goethes schöner Vers gilt: Und wenn der Mensch in seiner
Quaal verstummt, // Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 1066-1067).
In der That führt der Genius der Gattung durchgängig
Krieg mit den schützenden Genien der Individuen, ist ihr Verfolger
und Feind, stets bereit das persönliche Glück schonungslos zu
zerstören, um seine Zwecke durchzusetzen; ja, das Wohl ganzer Nationen
ist bisweilen das Opfer seiner Launen geworden: ein Beispiel dieser Art
führt uns Shakespeare vor in Heinrich VI., Th. 3, A. 3, Sc. 2 und
3. Dies Alles beruht darauf, daß die Gattung, als in welcher die
Wurzel unsers Wesens liegt, ein näheres und früheres Recht auf
uns hat, als das Individuum; daher ihre Angelegenheiten vorgehn. Im Gefühl
hievon haben die Alten den Genius der Gattung im Kupido personificirt,
einem, seines kindischen Aussehns ungeachtet, feindsäligen, grausamen
und daher verschrienen Gott, einem kapriziösen, despotischen Dämon,
aber dennoch Herrn der Götter und Menschen: sy d'ô theôn
tyranne k'anthrôpôn, Erôs! (Tu, deorum hominumque
tyranne, Amor!) (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 1067).
Mörderisches Geschoß, Blindheit und Flügel sind
seine Attribute. Die letzteren deuten auf den Unbestand: dieser tritt,
in der Regel, erst mit der Enttäuschung ein, welche die Folge der
Befriedigung ist. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 1067).
Weil nämlich die Leidenschaft auf einem Wahn beruhte, der
Das, was nur für die Gattung Werth hat, vorspiegelte als für
das Individuum werthvoll, muß, nach erlangtem Zwecke der Gattung,
die Täuschung verschwinden. Der Geist der Gattung, welcher das Individuum
in Besitz genommen hatte, läßt es wieder frei. Von ihm verlassen
fällt es zurück in seine ursprüngliche Beschränkung
und Armuth, und sieht mit Verwunderung, daß nach so hohem, heroischen
und unendlichen Streben, für seinen Genuß nichts abgefallen
ist, als was jede Geschlechtsbefriedigung leistet: es findet sich, wider
Erwarten, nicht glücklicher als zuvor. Es merkt, daß es der
Betrogene des Willens der Gattung gewesen ist. Daher wird, in der Regel,
ein beglückter Theseus seine Ariadne verlassen. Wäre Petrarka's
Leidenschaft befriedigt worden; so wäre, von Dem an, sein Gesang
verstummt, wie der des Vogels, sobald die Eier gelegt sind. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1067).
Hier sei es beiläufig bemerkt, daß, so sehr auch meine
Metaphysik der Liebe gerade den in dieser Leidenschaft Verstrickten mißfallen
wird, dennoch, wenn gegen dieselbe Vernunftbetrachtungen überhaupt
etwas vermöchten, die von mir aufgedeckte Grundwahrheit, vor allem
Andern, zur Ueberwältigung derselben befähigen müßte.
Allein es wird wohl beim Ausspruch des alten Komikers bleiben: Quae
res in se neque consilium, neque modum habet ullum, eam consilio regere
non potes. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 1068).
Ehen aus Liebe werden im Interesse der Gattung, nicht der Individuen,
geschlossen. Zwar wähnen die Betheiligten ihr eigenes Glück
zu fördern: allein ihr wirklicher Zweck ist ein ihnen selbst fremder,
indem er in der Hervorbringung eines nur durch sie möglichen Individuums
liegt. Durch diesen Zweck zusammengeführt sollen sie fortan suchen,
so gut als möglich mit einander auszukommen. Aber sehr oft wird das
durch jenen instinktiven Wahn, welcher das Wesen der leidenschaftlichen
Liebe ist, zusammengebrachte Paar im Uebrigen von der heterogensten Beschaffenheit
seyn. Dies kommt an den Tag, wann der Wahn, wie er nothwendig muß,
verschwindet. Demgemäß fallen die aus Liebe geschlossenen Ehen
in der Regel unglücklich aus: denn durch sie wird für die kommende
Generation auf Kosten der gegenwärtigen gesorgt. Quien se casa por
amores, ha de vivir con dolores (Wer aus Liebe heirathet, hat unter Schmerzen
zu leben) sagt das Spanische Sprichwort. Umgekehrt verhält
es sich mit den aus Konvenienz meistens nach Wahl der Eltern, geschlossenen
Ehen. Die hier waltenden Rücksichten, welcher Art sie auch seyn mögen,
sind wenigstens reale, die nicht von selbst verschwinden können.
Durch sie wird für das Glück der Vorhandenen, aber freilich
zum Nachtheil der Kommenden, gesorgt; und jenes bleibt doch problematisch.
Der Mann, welcher, bei seiner Verheirathung, auf Geld, statt auf Befriedigung
seiner Neigung sieht, lebt mehr im Individuo, als in der Gattung; welches
der Wahrheit gerade entgegengesetzt ist, daher es sich als naturwidrig
darstellt und eine gewisse Verachtung erregt. Ein Mädchen, welches,
dem Rath seiner Eltern entgegen, den Antrag eines reichen und nicht alten
Mannes ausschlägt, um, mit Hintansetzung aller Konvenienzrücksichten,
allein nach seinem instinktiven Hange zu wählen, bringt sein individuelles
Wohl dem der Gattung zum Opfer. Aber eben deswegen kann man ihm einen
gewissen Beifall nicht versagen: denn es hat das Wichtigere vorgezogen
und im Sinne der Natur (näher, der Gattung) gehandelt; während
die Eltern im Sinne des individuellen Egoismus riechen. Dem Allen
zufolge gewinnt es den Anschein, als müßte, bei Abschließung
einer Ehe, entweder das Individuum oder das Interesse der Gattung zu kurz
kommen. Meistens steht es auch so: denn daß Konvenienz und leidenschaftliche
Liebe Hand in Hand giengen, ist der seltenste Glücksfall. Die physisch,
moralisch, oder intellektuell elende Beschaffenheit der meisten Menschen
mag zum Theil ihren Grund darin haben, daß die Ehen gewöhnlich
nicht aus reiner Wahl und Neigung, sondern aus allerlei äußern
Rücksichten und nach zufälligen Umständen geschlossen werden.
Wird jedoch neben der Konvenienz auch die Neigung in gewissem Grade berücksichtigt;
so ist dies gleichsam eine Abfindung mit dem Genius der Gattung. Glückliche
Ehen sind bekanntlich selten; eben weil es im Wesen der Ehe liegt, daß
ihr Hauptzweck: nicht die gegenwärtige, sondern die kommende Generation
ist. Indessen sei zum Tröste zarter und liebender Gemüther noch
hinzugefügt, daß bisweilen der leidenschaftlichen Geschlechtsliebe
sich ein Gefühl ganz andern Ursprungs zugesellt, nämlich wirkliche,
auf Uebereinstimmung der Gesinnung gegründete Freundschaft, welche
jedoch meistens erst dann hervortritt, wann die eigentliche Geschlechtsliebe
in der Befriedigung erloschen ist. Jene wird alsdann meistens daraus entspringen,
daß die einander ergänzenden und entsprechenden physischen,
moralischen und intellektuellen Eigenschaften beider Individuen, aus welchen,
in Rücksicht auf das zu Erzeugende, die Geschlechtsliebe entstand,
eben auch in Beziehung auf die Individuen selbst, als entgegengesetzte
Temperamentseigenschaften und geistige Vorzüge sich zu einander ergänzend
verhalten und dadurch eine Harmonie der Gemüther begründen.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 1068-1069).
Die ganze hier abgehandelte Metaphysik der Liebe steht mit meiner
Metaphysik überhaupt in genauer Verbindung, und das Licht, welches
sie auf diese zurückwirft, läßt sich in Folgendem resumiren.
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
S. 1069).
Es hat sich ergeben, daß die sorgfältige und durch
unzählige Stufen bis zur leidenschaftlichen Liebe steigende Auswahl
bei der Befriedigung des Geschlechtstriebes auf dem höchst ernsten
Antheil beruht, welchen der Mensch an der speciellen persönlichen
Beschaffenheit des kommenden Geschlechts nimmt. Dieser überaus merkwürdige
Antheil nun bestätigt zwei in den vorhergegangenen Kapiteln dargethane
Wahrheiten: 1) Die Unzerstörbarkeit des Wesens an sich des Menschen,
als welches in jenem kommenden Geschlechte fortlebt. Denn jener so lebhafte
und eifrige, nicht aus Reflexion und Vorsatz, sondern aus dem Innersten
Zuge und Triebe unsers Wesens entspringende Antheil könnte nicht
so unvertilgbar vorhanden seyn und so große Macht über den
Menschen ausüben, wenn dieser absolut vergänglich wäre
und ein von ihm wirklich und durchaus verschiedenes Geschlecht bloß
der Zeit nach auf ihn folgte. 2) Daß sein Wesen an sich mehr in
der Gattung als im Individuo liegt. Denn jenes Interesse an der speciellen
Beschaffenheit der Gattung, welches die Wurzel aller Liebeshändel,
von der flüchtigsten Neigung bis zur ernstlichsten Leidenschaft,
ausmacht, ist Jedem eigentlich die höchste Angelegenheit, nämlich
die, deren Gelingen oder Mißlingen ihn am empfindlichsten berührt;
daher sie vorzugsweise die Herzensangelegenheit genannt wird: auch wird
diesem Interesse, wann es sich stark und entschieden ausgesprochen hat,
jedes bloß die eigene Person betreffende nachgesetzt und nöthigenfalls
aufgeopfert. Dadurch also bezeugt der Mensch, daß ihm die Gattung
näher liegt, als das Individuum, und er unmittelbarer in Jener, als
in Diesem lebt. Warum demnach hängt der Verliebte, mit gänzlicher
Hingebung, an den Augen seiner Auserkorenen und ist bereit, ihr jedes
Opfer zu bringen? Weil sein unsterblicher Theil es ist, der nach
ihr verlangt; nach allem Sonstigen immer nur der sterbliche. Jenes
lebhafte, oder gar inbrünstige, auf ein bestimmtes Weib gerichtete
Verlangen ist sonach ein unmittelbares Unterpfand der Unzerstörbarkeit
des Kerns unsers Wesens und seines Fortbestandes in der Gattung. Diesen
Fortbestand nun aber für etwas Geringfügiges und Ungenügendes
zu halten, ist ein Irrthum, der daraus entspringt, daß man unter
dem Fortleben der Gattung sich nichts weiter denkt, als das künftige
Daseyn uns ähnlicher, jedoch in keinem Betracht mit uns identischer
Wesen, und dies wieder, weil man, von der nach außen gerichteten
Erkenntniß ausgehend, nur die äußere Gestalt der Gattung,
wie wir diese anschaulich auffassen, und nicht ihr inneres Wesen in Betracht
zieht. Dieses innere Wesen aber gerade ist es, was unserm eigenen Bewußtseyn,
als dessen Kern, zum Grunde liegt, daher sogar unmittelbarer, als dieses
selbst ist und, als Ding an sich, frei vom principio individuationis,
eigentlich das Selbe und Identische ist in allen Individuen, sie mögen
neben, oder nach einander daseyn. Dieses nun ist der Wille zum Leben,
also gerade Das, was Leben und Fortdauer so dringend verlangt. Dies eben
bleibt demnach vom Tode verschont und unangefochten. Aber auch: es kann
es zu keinem bessern Zustande bringen, als sein gegenwärtiger ist:
mithin ist ihm, mit dem Leben, das beständige Leiden und Sterben
der Individuen gewiß. Von diesem es zu befreien, ist der Verneinung
des Willens zum Leben vorbehalten, als durch welche der individuelle Wille
sich vom Stamm der Gattung losreißt und jenes Daseyn in derselben
aufgiebt. Für Das, was er sodann ist, fehlt es uns an Begriffen,
ja, an allen Datis zu solchen. Wir können es nur bezeichnen als Dasjenige,
welches die Freiheit hat, Wille zum Leben zu seyn, oder nicht. Für
den letztern Fall bezeichnet der Buddhaismus es mit dem Worte Nirwana,
dessen Etymologie in der Anmerkung zum Schlusse des 41. Kapitels gegeben
worden. Es ist der Punkt, welcher aller menschlichen Erkenntniß,
eben als solcher, auf immer unzugänglich bleibt. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1069-1070).
Wenn wir nun, vom Standpunkte dieser letzten Betrachtung aus,
in das Gewühl des Lebens hineinschauen, erblicken wir Alle mit der
Noth und Plage desselben beschäftigt, alle Kräfte anstrengend,
die endlosen Bedürfnisse zu befriedigen und das vielgestaltete Leiden
abzuwehren, ohne jedoch etwas Anderes dafür hoffen zu dürfen,
als eben die Erhaltung dieses geplagten, individuellen Daseyns, eine kurze
Spanne Zeit hindurch. Dazwischen aber, mitten in dem Getümmel, sehn
wir die Blicke zweier Liebenden sich sehnsüchtig begegnen;
jedoch warum so heimlich, furchtsam und verstohlen? Weil diese
Liebenden die Verräther sind, welche heimlich danach trachten, die
ganze Noth und Plackerei zu perpetuiren, die sonst ein baldiges Ende erreichen
würde, welches sie vereiteln wollen, wie ihres Gleichen es früher
vereitelt haben. Diese Betrachtung greift nun schon in das folgende
Kapitel hinüber. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille
und Vorstellung, 1818, S. 1071).
|
Houtôs anaidôs exekinêsas tode
to rhêma; kai pou touto pheuxesthai dokeis;
Pepheuga; t' alêthes gar ischyron trephô.
( »So schamlos hast du auszusprechen dich erkühnt
Ein solches Wort und glaubst der Strafe zu entgehn?«
»Entgangen bin ich; denn die Wahrheit zeugt für
mich.«)
Sophokles.
|
Anhang zum vorstehenden Kapitel.
Auf Seite 1052 habe ich der Päderastie beiläufig erwähnt
und sie als einen irre geleiteten Instinkt bezeichnet. Dies schien mir,
als ich die zweite Auflage bearbeitete, genügend. Seitdem hat weiteres
Nachdenken über diese Verirrung mich in derselben ein merkwürdiges
Problem, jedoch auch dessen Lösung entdecken lassen. Diese setzt
das vorstehende Kapitel voraus, wirft aber auch wieder Licht auf dasselbe
zurück, gehört also zur Vervollständigung, wie zum Beleg
der dort dargelegten Grundansicht. (Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1071).
An sich selbst betrachtet nämlich stellt die Päderastie
sich dar als eine nicht bloß widernatürliche, sondern auch
im höchsten Grade widerwärtige und Abscheu erregende Monstrosität,
eine Handlung, auf welche allein eine völlig perverse, verschrobene
und entartete Menschennatur irgend ein Mal hätte gerathen können,
und die sich höchstens in ganz vereinzelten Fällen wiederholt
hätte. Wenden wir nun aber uns an die Erfahrung; so finden wir das
Gegentheil hievon: wir sehn nämlich dieses Laster, trotz seiner Abscheulichkeit,
zu allen Zeiten und in allen Ländern der Welt, völlig im Schwange
und in häufiger Ausübung. Allbekannt ist, daß dasselbe
bei Griechen und Römern allgemein verbreitet war, und ohne Scheu
und Schaam öffentlich eingestanden und getrieben wurde. Hievon zeugen
alle alten Schriftsteller, mehr als zur Genüge. Zumal sind die Dichter
sammt und sonders voll davon: nicht ein Mal der keusche Vergil ist auszunehmen
(Ecl. 2). Sogar den Dichtern der Urzeit, dem Orpheus (den deshalb die
Mänaden zerrissen) und dem Thamyris, ja, den Göttern selbst,
wird es angedichtet. Ebenfalls reden die Philosophen viel mehr von dieser,
als von der Weiberliebe: besonders scheint Plato fast keine andere zu
kennen, und eben so die Stoiker, welche sie als des Weisen würdig
erwähnen (Stob. ecl. eth., L. II, c. 7). Sogar dem Sokrates rühmt
Plato, im Symposion, es als eine beispiellose Heldenthat nach, daß
er den, sich ihm dazu anbietenden Alkibiades verschmäht habe. In
Xenophons Memorabilien spricht Sokrates von der Päderastie als einer
untadelhaften, sogar lobenswerthen Sache. (Stob. Flor., Vol. 1, p. 57.)
Eben so in den Memorabilien (Lib. I, cap. 3, § 8), woselbst Sokrates
vor den Gefahren der Liebe warnt, spricht er so ausschließlich von
der Knabenliebe, daß man denken sollte, es gäbe gar keine Weiber.
Auch Aristoteles (Pol. II, 9) spricht von der Päderastie als etwas
Gewöhnlichem, ohne sie zu tadeln, führt an, daß sie bei
den Kelten in öffentlichen Ehren gestanden habe, und bei den Kretern
die Gesetze sie begünstigt hätten, als Mittel gegen Uebervölkerung,
erzählt (c. 10) die Männerliebschaft des Gesetzgebers Philolaos
u.s.w. Cicero sagt sogar: Apud Graecos opprobrio fuit adolescentibus,
si amatores non haberent. Für gelehrte Leser bedarf es hier überhaupt
keiner Belege: sie erinnern sich deren zu Hunderten: denn bei den Alten
ist Alles voll davon. Aber selbst bei den roheren Völkern, namentlich
bei den Galliern, war das Laster sehr im Schwange. Wenden wir uns nach
Asien, so sehn wir alle Länder dieses Welttheils, und zwar von den
frühesten Zeiten an, bis zur gegenwärtigen herab, von dem Laster
erfüllt, und zwar ebenfalls ohne es sonderlich zu verhehlen: Hindu
und Chinesen nicht weniger, als die Islamitischen Völker, deren Dichter
wir ebenfalls viel mehr mit der Knaben-, als mit der Weiberliebe beschäftigt
finden; wie denn z.B. im Gulistan des Sadi das Buch »von der Liebe«
ausschließlich von jener redet. Auch den Hebräern war dies
Laster nicht unbekannt; da Altes und Neues Testament desselben als strafbar
erwähnen. Im Christlichen Europa endlich hat Religion, Gesetzgebung
und öffentliche Meinung ihm mit aller Macht entgegenarbeiten müssen:
im Mittelalter stand überall Todesstrafe darauf, in Frankreich noch
im 16. Jahrhundert der Feuertod, und in England wurde noch während
des ersten Drittels dieses Jahrhunderts die Todesstrafe dafür unnachläßlich
vollzogen; jetzt ist es Deportation auf Lebenszeit. So gewaltiger Maaßregeln
also bedurfte es, um dem Laster Einhalt zu thun; was denn zwar in bedeutendem
Maaße gelungen ist, jedoch keineswegs bis zur Ausrottung desselben;
sondern es schleicht, unter dem Schleier des tiefsten Geheimnisses, allezeit
und überall umher, in allen Ländern und unter allen Ständen,
und kommt, oft wo man es am wenigsten erwartet, plötzlich zu Tage.
Auch ist es in den früheren Jahrhunderten, trotz allen Todesstrafen,
nicht anders damit gewesen: dies bezeugen die Erwähnungen desselben
und Anspielungen darauf in den Schriften aus allen jenen Zeiten.
Wenn wir nun alles Dieses uns vergegenwärtigen und wohl erwägen;
so sehn wir die Päderastie zu allen Zeiten und in allen Ländern
auf eine Weise auftreten, die gar weit entfernt ist von der, welche wir
zuerst, als wir sie bloß an sich selbst betrachteten, also a priori,
vorausgesetzt hatten. Nämlich die gänzliche Allgemeinheit und
beharrliche Unausrottbarkeit der Sache beweist, daß sie irgendwie
aus der menschlichen Natur selbst hervorgeht; da sie nur aus diesem Grunde
jederzeit und überall unausbleiblich auftreten kann als ein Beleg
zu dem Naturam expellas furca, tamen usque recurret. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1071-1073).
Dieser Folgerung können wir daher uns schlechterdings nicht
entziehn, wenn wir redlich verfahren wollen. Ueber diesen Thatbestand
aber hinwegzugehn und es beim Schelten und Schimpfen auf das Laster bewenden
zu lassen, wäre freilich leicht, ist jedoch nicht meine Art mit den
Problemen fertig zu werden; sondern, meinem angeborenen Beruf, überall
der Wahrheit nachzuforschen und den Dingen auf den Grund zu kommen, auch
hier getreu, erkenne ich zunächst das sich darstellende und zu erklärende
Phänomen, nebst der unvermeidlichen Folgerung daraus, an. Daß
nun aber etwas so von Grund aus Naturwidriges, ja, der Natur gerade in
ihrem wichtigsten und angelegensten Zweck Entgegentretendes aus der Natur
selbst hervorgehn sollte, ist ein so unerhörtes Paradoxon, daß
dessen Erklärung sich als ein schweres Problem darstellt, welches
ich jedoch jetzt, durch Aufdeckung des ihm zum Grunde liegenden Naturgeheimnisses
lösen werde. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 1073).
Zum Ausgangspunkt diene mir eine Stelle des Aristoteles in Polit.,
VII, 16. Daselbst setzt er auseinander, erstlich: daß zu
junge Leute schlechte, schwache, mangelhafte und klein bleibende Kinder
zeugen; und weiterhin, daß das Selbe von den Erzeugnissen der zu
alten gilt: ta gar tôn presbyterôn ekgona, kathaper ta tôn
neôterôn, atelê gignetai, kai tois sômasi, kai
tais dianoiais, ta de tôn gegêrakotôn asthenê
(nam, ut juniorum, ita et grandiorum natu foetus inchoatis atque imperfectis
corporibus mentibusque nascuntur: eorum vero, qui senio confecti sunt,
suboles infirma et imbecilla est). Was nun dieserhalb Aristoteles als
Regel für den Einzelnen, das stellt Stobäos als Gesetz für
die Gemeinschaft auf, am Schlusse seiner Darlegung der peripatetischen
Philosophie (Ecl. eth., L. II, c. 7 in fine): pros tên rômên
tôn sômatôn kai teleiotêta dein mête neôterôn
agan, mête presbyterôn tous gamous poieisthai, atelê
gar gignesthai, kat' amphoteras tas hêlikias, kai teleiôs
asthenê ta ekgona (oportet, corporum roboris et perfectionis causa,
nec juniores justo, nec seniores matrimonio jungi, quia circa utramque
aetatem proles fieret imbecillis et imperfecta). Aristoteles schreibt
daher vor, daß, wer 54 Jahre alt ist, keine Kinder mehr in die Welt
setzen soll; wiewohl er den Beischlaf noch immer, seiner Gesundheit, oder
sonst einer Ursache halber, ausüben mag. Wie Dies zu bewerkstelligen
sei, sagt er nicht: seine Meinung geht aber offenbar dahin, daß
die in solchem Alter erzeugten Kinder durch Abortus wegzuschaffen sind;
da er diesen, wenige Zeilen vorher, anempfohlen hat. Die Natur
nun ihrerseits kann die der Vorschrift des Aristoteles zum Grunde liegende
Thatsache nicht leugnen, aber auch nicht aufheben. Denn, ihrem Grundsatz
natura non facit saltus zufolge, konnte sie die Saamenabsonderung des
Mannes nicht plötzlich einstellen; sondern auch hier, wie bei jedem
Absterben, mußte eine allmälige Deterioration vorhergehn. Die
Zeugung während dieser nun aber würde schwache, stumpfe, sieche,
elende und kurzlebende Menschen in die Welt setzen. Ja, sie thut es nur
zu oft: die in späterm Alter gezeugten Kinder sterben meistens früh
weg, erreichen wenigstens nie das hohe Alter, sind, mehr oder weniger,
hinfällig, kränklich, schwach, und die von ihnen Erzeugten sind
von ähnlicher Beschaffenheit. Was hier von der Zeugung im deklinirenden
Alter gesagt ist, gilt eben so von der im unreifen. Nun aber liegt der
Natur nichts so sehr am Herzen, wie die Erhaltung der Species und ihres
ächten Typus; wozu wohlbeschaffene, tüchtige, kräftige
Individuen das Mittel sind: nur solche will sie. Ja, sie betrachtet und
behandelt (wie Kapitel 41 [**]
gezeigt worden) im Grunde die Individuen nur als Mittel; als Zweck bloß
die Species. Demnach sehn wir hier die Natur, in Folge ihrer eigenen Gesetze
und Zwecke, auf einen mißlichen Punkt gerathen und wirklich in der
Bedrängniß. Auf gewaltsame und von fremder Willkür abhängige
Auskunftsmittel, wie das von Aristoteles angedeutete, konnte sie, ihrem
Wesen zufolge, unmöglich rechnen, und eben so wenig darauf, daß
die Menschen, durch Erfahrung belehrt, die Nachtheile zu früher und
zu später Zeugung erkennen und demgemäß ihre Gelüste
zügeln würden, in Folge vernünftiger, kalter Ueberlegung.
Auf Beides also konnte, in einer so wichtigen Sache, die Natur es nicht
ankommen lassen. Jetzt blieb ihr nichts Anderes übrig, als von zwei
Uebeln das kleinere zu wählen. Zu diesem Zweck nun aber mußte
sie ihr beliebtes Werkzeug, den Instinkt, welcher, wie in vorstehendem
Kapitel gezeigt, das so wichtige Geschäft der Zeugung überall
leitet und dabei so seltsame Illusionen schafft, auch hier in ihr Interesse
ziehn; welches nun aber hier nur dadurch geschehn konnte, daß sie
ihn irre leitete (lui donna le change). Die Natur kennt nämlich nur
das Physische, nicht das Moralische: sogar ist zwischen ihr und der Moral
entschiedener Antagonismus. Erhaltung des Individui, besonders aber der
Species, in möglichster Vollkommenheit, ist ihr alleiniger Zweck.
Zwar ist nun auch physisch die Päderastie den dazu verführten
Jünglingen nachtheilig; jedoch nicht in so hohem Grade, daß
es nicht von zweien Uebeln das kleinere wäre, welches sie demnach
wählt, um dem sehr viel größern, der Depravation der Species,
schon von Weitem auszuweichen und so das bleibende und zunehmende Unglück
zu verhüten. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, S. 1073-1075).
Dieser Vorsicht der Natur zufolge stellt, ungefähr in dem
von Aristoteles angegebenen Alter, in der Regel, eine päderastische
Neigung sich leise und allmälig ein, wird immer deutlicher und entschiedener,
in dem Maaße, wie die Fähigkeit, starke und gesunde Kinder
zu zeugen, abnimmt. So veranstaltet es die Natur. Wohl zu merken
jedoch, daß von diesem eintretenden Hange bis zum Laster selbst
noch ein sehr weiter Weg ist. Zwar wenn, wie im alten Griechenland und
Rom, oder zu allen Zeiten in Asien, ihm kein Damm entgegengesetzt ist,
kann er, vom Beispiel ermuthigt, leicht zum Laster führen, welches
dann, in Folge hievon, große Verbreitung erhält. In Europa
hingegen stehn demselben so überaus mächtige Motive der Religion,
der Moral, der Gesetze und der Ehre entgegen, daß fast Jeder schon
vor dem bloßen Gedanken zurückbebt, und wir demgemäß
annehmen dürfen, daß unter etwan drei Hundert, welche jenen
Hang spüren, höchstens Einer so schwach und hirnlos seyn wird,
ihm nachzugeben; um so gewisser, als dieser Hang erst in dem Alter eintritt,
wo das Blut abgekühlt und der Geschlechtstrieb überhaupt gesunken
ist, und er andererseits an der gereiften Vernunft, an der durch Erfahrung
erlangten Umsicht und der vielfach geübten Festigkeit so starke Gegner
findet, daß nur eine von Haus aus schlechte Natur ihm unterliegen
wird. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 1075).
Inzwischen wird der Zweck, den die Natur dabei hat, dadurch erreicht,
daß jene Neigung Gleichgültigkeit gegen die Weiber mit sich
führt, welche mehr und mehr zunimmt, zur Abneigung wird und endlich
bis zum Widerwillen anwächst. Hierin erreicht die Natur ihren eigentlichen
Zweck um so sicherer, als, je mehr im Manne die Zeugungskraft abnimmt,
desto entschiedener ihre widernatürliche Richtung wird. Diesem
entsprechend finden wir die Päderastie durchgängig als ein Laster
alter Männer. Nur solche sind es, welche dann und wann, zum öffentlichen
Skandal, darauf betroffen werden. Dem eigentlich männlichen Alter
ist sie fremd, ja, unbegreiflich. Wenn ein Mal eine Ausnahme hievon vorkommt;
so glaube ich, daß es nur in Folge einer zufälligen und vorzeitigen
Depravation der Zeugungskraft seyn kann, welche nur schlechte Zeugungen
liefern könnte, denen vorzubeugen, die Natur sie ablenkt. Daher auch
richten die in großen Städten leider nicht seltenen Kinäden
ihre Winke und Anträge stets an ältere Herren, niemals an die
im Alter der Kraft stehenden, oder gar an junge Leute. Auch bei den Griechen,
wo Beispiel und Gewohnheit hin und wieder eine Ausnahme von dieser Regel
herbeigeführt haben mag, finden wir von den Schriftstellern, zumal
den Philosophen, namentlich Plato und Aristoteles, in der Regel, den Liebhaber
ausdrücklich als ältlich dargestellt. Insbesondere ist in dieser
Hinsicht eine Stelle des Plutarch bemerkenswerth im Liber amatorius, c.
5: Ho paidikos erôs, opse gegonôs, kai par' hôran tô
biô, nothos kai skotios, exelaunei ton gnêsion erôta
kai presbyteron. (Puerorum amor, qui, quum tarde in vita et intempestive,
quasi spurius et occultus, exstitisset, germanum et natu majorem amorem
expellit.) Sogar unter den Göttern finden wir nur die ältlichen,
den Zeus und den Herakles, mit männlichen Geliebten versehn, nicht
den Mars, Apollo, Bakchus, Merkur. Inzwischen kann im Orient der
in Folge der Polygamie entstehende Mangel an Weibern hin und wieder gezwungene
Ausnahmen zu dieser Regel veranlassen: eben so in noch neuen und daher
weiberlosen Kolonien, wie Kalifornien u.s.w. Dem entsprechend nun
ferner, daß das unreife Sperma, eben so wohl wie das durch Alter
depravirte, nur schwache, schlechte und unglückliche Zeugungen liefern
kann, ist, wie im Alter, so auch in der Jugend eine erotische Neigung
solcher Art zwischen Jünglingen oft vorhanden, führt aber wohl
nur höchst selten zum wirklichen Laster, indem ihr, außer den
oben genannten Motiven, die Unschuld, Reinheit, Gewissenhaftigkeit und
Verschämtheit des jugendlichen Alters entgegensteht. (Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1075-1076).
Aus dieser Darstellung ergiebt sich, daß, während das
in Betracht genommene Laster den Zwecken der Natur, und zwar im Allerwichtigsten
und ihr Angelegensten, gerade entgegenzuarbeiten scheint, es in Wahrheit
eben diesen Zwecken, wiewohl nur mittelbar, dienen muß, als Abwendungsmittel
größerer Uebel. Es ist nämlich ein Phänomen der absterbenden
und dann wieder der unreifen Zeugungskraft, welche der Species Gefahr
drohen: und wiewohl sie alle Beide aus moralischen Gründen pausiren
sollten; so war hierauf doch nicht zu rechnen; da überhaupt die Natur
das eigentlich Moralische bei ihrem Treiben nicht in Anschlag bringt.
Demnach griff die, in Folge ihrer eigenen Gesetze, in die Enge getriebene
Natur, mittelst Verkehrung des Instinkts, zu einem Nothbehelf, einem Stratagem,
ja, man möchte sagen, sie bauete sich eine Eselsbrücke, um,
wie oben dargelegt, von zweien Uebeln dem größern zu entgehn.
Sie hat nämlich den wichtigen Zweck im Auge, unglücklichen Zeugungen
vorzubeugen, welche allmälig die ganze Species depraviren könnten,
und da ist sie, wie wir gesehn haben, nicht skrupulös in der Wahl
der Mittel. Der Geist, in welchem sie hier verfährt, ist der selbe,
in welchem sie, wie oben, Kapitel 27 (**)
a, angeführt, die Wespen antreibt, ihre Jungen zu erstechen: denn
in beiden Fällen greift sie zum Schlimmen, um Schlimmerem zu entgehn:
sie führt den Geschlechtstrieb irre, um seine verderblichsten Folgen
zu vereiteln. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, S. 1076-1077).
Meine Absicht bei dieser Darstellung ist zunächst die Lösung
des oben dargelegten auffallenden Problems gewesen; sodann aber auch die
Bestätigung meiner, im vorstehenden Kapitel ausgeführten Lehre,
daß bei aller Geschlechtsliebe der Instinkt die Zügel führt
und Illusionen schafft, weil der Natur das Interesse der Gattung allen
andern vorgeht, und daß Dies sogar bei der hier in Rede stehenden,
widerwärtigen Verirrung und Ausartung des Geschlechtstriebes gültig
bleibt; indem auch hier, als letzter Grund, die Zwecke der Gattung sich
ergeben, wiewohl sie, in diesem Fall, bloß negativer Art sind, indem
die Natur dabei prophylaktisch verfährt. Diese Betrachtung wirft
daher auf meine gesammte Metaphysik der Geschlechtsliebe Licht zurück.
Ueberhaupt aber ist durch diese Darstellung eine bisher verborgene Wahrheit
zu Tage gebracht, welche, bei aller ihrer Seltsamkeit, doch neues Licht
auf das innere Wesen, den Geist und das Treiben der Natur wirft. Demgemäß
hat es sich dabei nicht um moralische Verwarnung gegen das Laster, sondern
um das Verständniß des Wesens der Sache gehandelt. Uebrigens
ist der wahre, letzte, tief metaphysische Grund der Verwerflichkeit der
Päderastie dieser, daß, während der Wille zum Leben sich
darin bejaht, die Folge solcher Bejahung, welche den Weg zur Erlösung
offen hält, also die Erneuerung des Lebens, gänzlich abgeschnitten
ist. Endlich habe ich auch, durch Darlegung dieser paradoxen Gedanken,
den durch das immer weitere Bekanntwerden meiner von ihnen so sorgfältig
verhehlten Philosophie jetzt sehr deconcertirten Philosophieprofessoren
eine kleine Wohlthat zufließen lassen wollen, indem ich ihnen Gelegenheit
eröffnete zu der Verläumdung, daß ich die Päderastie
in Schutz genommen und anempfohlen hätte. (Arthur Schopenhauer,
Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1077).
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