Lob, Kritik, Skepsis.
Einleitung.
Der Philosophenalltag Peter Sloterdijks war und ist für ihn garantiert
nicht immer so angenehm wie ein Kaffeeklatsch am Sonntagnachmittag bei
Oma. Er mußte bisher bereits drei gegen ihn zum Teil öffenntlich
aufgeführte Hexenprozesse durchstehen, die verharmlosend
Sloterdijk-Debatten
genannt wurden und leider immer noch werden (**|**|**).
Während also hierbei Sloterdijk die böse Hexe zu
sein hat, darf die sogenannte Frankfurter Schule die Rolle
des Großinquisitors - stellvertretend - übernehmen. Auf einer
meiner Webseiten ist deshalb auch als Fazit aus diesen angeblichen Sloterdijk-Debatten
zu lesen: Die »Sloterdijk-Debatten« sind einige Beispiele
mehr für die Versuche seitens unseres Vormundtschaftsstaates, seine
Gegner mittels Zensur wie der »Politischen
Korrektheit« mundtot zu machen. Das ist Diktatur!
Mein Respekt gilt Sloterdijk und jenen anderen (**)
- leider nur wenigen - Menschen, die Mut und Widerstand gezeigt haben
gegen die Zensur unserer Herrschenden aus Politik und Medien, die unsere
Rechte mit Füßen treten, unsere Freiheit und besonders unsere
Meinungsfreiheit verbieten! (**).
Dies sei vorausgeschickt, um meine Solidarität mit diesen Menschen
zu bekunden! Es ist auch nicht ganz so wichtig, ob Sloterdijk aus den
sogenannten Sloterdijk-Debatten gestärkt hervorging oder
nicht, ob er der ersten davon seine Fernsehsendung Das Philosophische
Quartett (**)
verdankt oder nicht - wichtig ist, daß er mundtot gemacht werden
sollte!
Peter Sloterdijk geht davon aus, daß wir schon
in der Postmoderne angekommen wären (**|**|**|**|**|**|**|**|**|**|**).
Das beurteile ich anders. Die Moderne ist noch nicht zu Ende, auch wenn
sie sich bereits in ihrer Spätphase (**|**)
befindet.
Die abendländische Moderne im engeren Sinne (?) beginnt
in etwa mit der Industriellen
Revolution, die begrifflich dem, was Sloterdijk den Techno-Kreditismus
nennt, weil er den ungeschickten Terminius »Kapitalismus«
(**)
zu Recht vermeiden will, wohl am nächsten kommt. Die abendländische
Moderne begann spätestens dann, als auf die Industrielle Revolution
die erste Bürgerliche
Revolution folgte. Aber wann wird sie zu Ende sein? Nun, eindeutig
dann, wenn die Phänomene, mit denen sie begann, nichts Revolutionäres
mehr an sich haben werden und keine für sie typische Expansion mehr
zu bewirken in der Lage sein werden. Dies ist noch nicht der Fall, und
deshalb ist die Moderne noch nicht zu Ende.
Wird die Moderne überhaupt zu Ende gehen können oder bis zum
Ende der Menschheit durchhalten? - Unsere Moderne kann man
auch als unseren Historismus
bezeichnen - gekennzeichnet durch Eurozentrismus bzw. Europäismus.
Unser Historismus, der uns unter anderem gelehrt hat, daß
auch in der Geschichte mit großen Zahlen gerechnet werden muß,
wird sich auch in Zukunft (wahrscheinlich sogar mit deren großen
Zahlen **)
behaupten, denn er hat seine Krise überstanden, das heißt:
wir haben unsere Krise überlebt. (Hubert Brune, Moderne,
2001 **).
Jedenfalls ist die von Sloterdijk diagnostizierte Postmoderne
nirgendwo so richtig in Sicht.
Biographie.
Peter Sloterdijk
|
1. Stadium
(Winter) |
2. Stadium
(Frühling) |
3. Stadium
(Sommer) |
4. Stadium
(Herbst) |
Vor-/Urdenken:
Sloterdijks
Vor-/Urphilosophie |
Frühdenken:
Sloterdijks
Frühphilosophie |
Hochdenken:
Sloterdijks
Hochphilosophie |
Spätdenken:
Sloterdijks
Spätphilosophie |
(Dauer: 21
Jahre) |
(Dauer: 15
Jahre) |
(Dauer: 23
Jahre) |
(Dauer: ?
) |
1947 bis
1968 |
1968 bis
1983 |
1983 bis
2006 |
2006 bis
? |
Geburt
(26.06.) |
KRITIK
DER
ZYNISCHNEN VERNUNFT |
|
Übergang
Schule &
Bw. / Studium |
| |
Zorn
und Zeit |
Frühe
Kindheit |
Grund-
schule |
Gymnasium
und Bundeswehr |
1968
- 1974 |
1974
- 1978 |
1978
- 1983 |
1983
- 1989 |
1989
- 1999 |
1999
- 2006 |
2006
- ? |
|
|
|
Peter Sloterdijks Geburt war kompliziert, und
auf sie folgte eine schwere Gelbsucht aufgrund einer Rhesus-Inkompatibilität
bei den Eltern. Ich habe sozusagen als Toter angefangen. Eine komplizierte
Geburt, eine Rhesus-Unverträglichkeit bei den Eltern, das reicht
für einen Start als Beinahe-Toter. Unmittelbar nach der Geburt trat
eine schwere Gelbsucht bei mir auf, was Beobachter zu der Aussage veranlaßte,
daß blaue Augen bei gelber Haut besonders vorteilhaft zur Wirkung
kommen. Ich empfand das freilich nicht als ästhetisches Privileg.
(Peter Sloterdijk, in: Schweizer Monatshefte, Juni 2007, S. 34 ff. ):
Peters deutsche Mutter, Jahrgang 1915, hatte als junges Mädchen auf
dem Luisen-Gymnasium in München um das Jahr 1934 ihr Abitur gemacht.
Später während des Zweiten Weltkrieges war sie in den Niederlanden
stationiert, wo sie bei der Wehrmacht eine Position als Radarüberwacherin
innehatte. Das ist richtig, meine Mutter war während des Krieges
in Holland stationiert, sie hatte in der Armee eine Position als Radarüberwacherin
eingenommen und da von Großbritannien aus die Flugzeugverbindung
über dem Kanal, über holländischem Territorium angeflogen
sind, war das eine sehr sinnvolle Funktion. Sie selber schilderte dies
als die glücklichste Zeit ihres Lebens. (Peter Sloterdijk,
in: Deutschlandfunk, 30.07.2015 )
In den Nachkriegsjahren lernte Peters Mutter in Deutschland ihren niederländischen
Ehemann und Peters Vater kennen, einen 1912 geborenen Matrosen bei der
niederländischen Handelsmarine und späteren Berufskraftfahrer.
(Vgl. Hans-Jürgen Heinrichs, Peter Sloterdijk - Die Kunst des
Philosophierens, 2011). Die Ehe hielt nicht lange, so daß Peter
und seine Schwester, wie er schrieb, »ohne prägendes väterliches
Element« aufwuchsen. »1947 geboren, blieb ich ein von der
Vaterseite her so gut wie völlig ungeprägter junger Mann. Zur
rechten Zeit sah ich ein, ich sollte mich zu einer Art von Selbstbevaterung
entschließen. Was Bemutterung ist, vorgefunden oder gewählt,
und wie man sie allmählich zurückläßt, das wußte
ich schon ziemlich gut. Was Bevaterung bedeutet, wußte ich nicht.
Ich mußte mir meine Väter oder Instruktoren zusammensuchen,
dazu war es nötig, sich in der Welt umzusehen. .... Der Durchbruch
kam, als ich verstand, daß ich mir selber die Welt erzählen
sollte. (Peter Sloterdijk, in: Welt, 29.06.2013
**).
Die Familie zog nach München. Hier besuchte
Peter bis zum Abitur das Wittelsbacher Gymnasium lediglich von einer kurzen
Episode seines kurzen Aufenthaltes um das Jahr 1957 in einem Internat
am Ammersee unterbrochen, aus dem er mit Freunden floh ( ).
Von 1968 bis 1974 studierte Sloterdijk in München und Hamburg Philosophie,
Geschichte und Germanistik. Schon 1971 stellte er seine Magisterarbeit
mit dem Titel Strukturalismus als poetische Hermeneutik (**)
fertig. 1972 folgten eine Studie mit dem Titel Die Ökonomie der
Sprachspiele - Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution
(**)
und ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte
(**).
Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk aufgrund seiner von Professor Klaus
Briegleb betreuten Doktorarbeit zum Thema Literatur und Organisation
von Lebenserfahrung - Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie
der Weimarer Republik 19181933 (**)
durch den Fachbereich Sprachwissenschaften der Universität Hamburg
promoviert. In dieser Zeit war Sunhild Bonfert fünfzehn Jahre seine
Lebensgefährtin. Sloterdijks Doktorarbeit von 1976 wurde noch im
selben Jahr als Buch mit dem Titel Literatur und Organisation von Lebenserfahrung
- Autobiographien der Zwanziger Jahre (**)
veröffentlicht. Auf einer von Sloterdijks Webseiten wird der Inhalt
dieses Buches wie folgt vorgestellt:
Lebensgeschichtliches Erzählen ist
eine Form sozialen Handelns, denn die Autobiographie bildet eine
literarische Gattung, in der einzelne ihre Lebenserfahrung organisieren,
indem sie ihr individuelles Leben in einen Zusammenhang mit öffentlichen
Interessen, Sinnbedürfnissen und Neugierden stellen. Wie sprechen
einzelne Menschen nun über sich selbst und ihre Lebensläufe
im 20. Jahrhundert, in einer Zeit, die geprägt ist gerade vom
Verfall des bürgerlichen Individualismus?
In diesen Analysen zu neueren »Sozialgeschichte des öffentlichen
Redens über das eigene Leben« wird gezeigt, wie die Arbeit
der nachträglichen Sinngebung und Rechtfertigung das lebensgeschichtliche
Erzählen durchzieht und daß in den bürgerlichen
und proletarischen Lebensberichten aus der Zeit der Weimarer Republik
eine heimliche »Protopolitik der Erfahrung« wirksam
ist: In ihr organisiert und verallgemeinert das Bewußtsein
die viralen Erlebnisse von Schmerz, Konflikt und Widerspruch. Ob
in der Beschwörung der Kindheit und in der Vergegenwärtigung
kindlicher Erfahrungsstrukturen, ob in der Erinnerung an Krisen
und experimentellens Leben der Jugendzeit oder in den Berichten
vom Erlebnis des Krieges, von Gefängnis, Irrenhaus, Bohemejahren,
seelischer Krankheit und Reisen stets geht es um die Dialektik
der Erfahrung, die Arbeit des Bewußtseins zwischen individulelem
Erleben und dem Begreifen nach öffentlichen Normen. Ideologische
Verengung oder offenes, dialektisches Lernen an den Erfahrungen
der Widersprüche kennzeichnen die autobiographischen Entwürfe
der Weimarer Zeit.
Der erste Teil der vorliegenden Arbeit stellt Begriff sowie Entstehung
und Entwicklung der Gattung »Autobiographie« das. Im
Hauptteil arbeitet Sloterdijk anhand zahlreicher Beispiele bestimmte
Muster der literarischen »Organisation von Lebenserfahrung«
heraus und zeigt die Kriterien, nach denen sich Lebenslaufstrukturen
in Literatur umsetzen und wie das literarische Subjekt Alltagswissen,
Erinnerungen an die eigene Entwicklungsgeschichte, psychische Konflikte
und öffentliche Probleme in einen Literarischen Sozialisationsversuch
überträgt.  |
Ich habe dieses Buch leider nicht gelesen, sage aber trotzdem, daß
in ihm das Denkmuster Sloterdijks, das ich noch weiter unten näher
erläutern werde (**|**),
weil es sich wie ein roter Faden durch alle seine Bücher zieht -
jedenfalls durch die, die ich gelesen habe (**)
-, schon deutlich zu erkennen ist (**).
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Chandra Mohan Jain
(1931-1990)
(auch: Acharya Rajneesh;
Bhagwan Shree Rajneesh;
Osho).
In dessen Aschram in Poona
erlebte Peter Sloterdijk
von 1978 bis 1980
die Experimentierphase
seines Lebens.
|
Nicht völlig unberücksichtigt lassen möchte ich die Tatsache,
daß Sloterdijk von 1978 bis 1980 sich im Aschram von Bhagwan Shree
Rajneesh (später: Osho) im indischen Poona (heute: Pune) aufhielt.
In einem im Frühjahr 1997 veröffentlichten Gespräch mit
Hans-Jürgen Heinrichs ( )
beschrieb er die Umstimmungserfahrung, die er dort erlebt hat, als eine
irreversible, ohne die seine Schriftstellerei nicht zu denken
sei, nannte Bhagwan Shree Rajneesh einen Wittgenstein der Religionen
und eine der größten Figuren des Jahrhunderts.
Sloterdijk zufolge gab es einen ziemlich weiten Horizont, innerhalb
dessen Gestalten wie Osho oder Bhagwan Shree Rajneesh, wie er sich damals
nannte, und Lacan und viele andere aus der Szene der psychotherapeutischen
Avantgarde unseres Jahrhunderts eine wichtige Rolle für mich gespielt
haben, und er - Sloterdijk - sei ja auch immer bereit gewesen,
den Preis für relevante Informationen zu entrichten. Als ich nach
Indien gefahren bin, da war ich schon ein promovierter Akademiker der
westlichen Hemisphäre, aber ich wußte, Osho kommt nicht hierher,
ich muß zu ihm. Die Frage, ob 6000 Kilometer Anreise für ein
Studium nicht zu weit sind, hat sich für mich nicht gestellt, weil
ich immer davon überzeugt war, daß Menschen sich dorthin bewegen
müssen, wo das nächste Kapitel ihres Lebens geschrieben wird.
Das ist doch der Sinn von Beweglichkeit. Diese Reise war für mich
eine lebenswichtige: von den Metamorphosen dieser Impulse lebe ich bis
heute, denn sie sind längst selbständig geworden und können
nicht mehr im Namen des Impulsgebers repräsentiert werden. .... Ich
wundere mich ein bißchen, warum die Aussagen über Lacan in
meinem Text so schroff wirken. Sie sind überhaupt nicht so gemeint.
Die einzige Pointe besteht darin, daß ich meinen intellektuellen
Freunden signalisieren wollte, daß sie unrecht haben, immer nur
den einen zu zitieren und den anderen zu verschweigen. Ich glaube, daß
die beiden eine sehr ähnliche Arbeit gemacht haben, und daß
Osho - als der asiatische Charakter in diesem Tandem - in mancher Hinsicht
noch viel weitergegangen ist als der berühmte Europäer. Kurzum,
ich sehe sie eigentlich als zwei Figuren, die strukturell zusammenzunehmen
sind, und wenn ich den einen auf Kosten des anderen herausgestrichen habe,
dann war dies vor allem ein Bekenntnis zu meiner persönlichen Dankbarkeitssituation,
die gegenüber Osho oder Bhagwan Shree Rajneesh eine hundertfach intensivere
und größere ist als gegenüber Lacan, von dem ich immer
nur ein Leser war und immer ein Leser, der das Glück, lesen zu dürfen,
nie besonders empfunden hat, weil er die abstoßenden Komponenten
von Lacans Werk und Stil von Anfang an überdeutlich bemerkt hat.
.... Ich bin natürlich Gast in dem Feld, in dem Figuren wie Lacan
operiert haben, so wie sie ihrerseits sich als Gäste ihrer Inspiratoren
gewußt haben. Das ist bei einem spirituellen Meister wie Rajneesh
viel einfacher, weil er in einer Tradition der Ego-Kritik steht, die seit
weit über zweitausend Jahren ununterbrochen fortwirkt; man muß
hier nur an die buddhistische Anatta-Theorie denken, oder an den Vedanta.
Die Gegenstücke hierzu im europäischen Raum zu finden, fällt
schwerer, gleichwohl gibt es sie, namentlich in der platonischen Linie.
- Warum ich dies nicht unberücksichtigt lassen möchte? Nun,
ich glaube, daß Sloterdijk nicht insgesamt zu verstehen ist, wenn
man seine Entwicklung während seines Aufenthalts im Aschram von Bhagwan
Shree Rajneesh nicht berücksichtigt. Auf die Frage, was ihn von
den Hamburger Professoren gen Osten trieb, was er von Bhagwan
Shree Rajneesh gelernt habe und warum er überhaupt nach
Indien gegangen und nicht an der Universität geblieben sei,
antwortete Sloterdijk: Das ist eine längere Geschichte, ich
kann den Ablauf nur kurz andeuten. Ich bekam um 1974 zeitweilig eine Vertretungsassistentenstelle
an der Hamburger Universität angeboten, ich akzeptierte und übersiedelte.
Dieses Jahr in Hamburg wurde für mich eine sehr fruchtbare Zeit,
ein Wendejahr in meinem Leben. Die damalige Nähe zu Klaus Briegleb,
dem Ordinarius für Neuere Deutsche Literatur, war für
mich ein Glücksfall, ich kannte ihn aus München, er war in meinen
Augen, und nicht nur in meinen, der herausragende Literaturwissenschaftler
des Landes und in den Hamburger Jahren auf der Höhe seiner Kunst.
Und genauso glücklich war die Konstellation mit den älteren
Kommilitonen, ein intellektueller Wirbel, auch gruppenerotisch nicht uninteressant.
Was die Universität anging, wußte ich von da an, das ist nicht
mein Maulwurfshügel. Als mein Vertrag auslief, bin ich nach München
zurückgegangen. Anschließend begannen die wilderen Gruppenjahre:
Wohngemeinschaft, Psychotherapie, Meditationsgruppe, Neue Linke, Neuer
Mensch. Ständig spukten solche Motive durch den Raum. Man glaubte
damals an die Theorie wie an eine messianische Kraft. Die
Zeit zwischen 1974 und 1980 wurde die Experimentierphase meines Lebens.
Die Dissertation war geschrieben, viele Möglichkeiten standen offen,
das einzige, was ich eindeutig wußte, war, daß ich in die
Universität nicht zurückgehe. Sollte es ein Leiden an der Unbestimmtheit
geben, so war es mir damals unbekannt. Ich empfand die Freiheit, noch
einige Orientierungsjahre vor mir zu haben, als beflügelnde Nichtfestlegung.
(Peter Sloterdijk, in: Welt, 29.06.2013
**).
In Indien ist ein neues Kapitel
aufgeschlagen worden, ich habe eine radikale Umstimmung erlebt,
ich habe Impulse aufgenommen, von denen ich bis auf den heutigen
Tag lebe, besser gesagt: von den Metamorphosen dieser Impulse, denn
die Anregungen von damals sind längst wieder anonym geworden,
sie haben sich ein paarmal gedreht und sich in eine eigensinnige
Richtung entwickelt. - Eines ist sicher: In Indien war ich einer
Einstrahlung ausgesetzt, die lange nachwirkte. Ohne die Alchemie,
die dort vor sich gegangen ist, dieses Herausspringen aus der alteuropäischen
Melancholie ... wäre meine Schriftstellerei in ihrer Anfangszeit
nicht zu denken. Es gibt in ihr, besonders in den Büchern der
achtziger Jahre, eine Art von Hintergrundstrahlung, ein Echo auf
den vitalen Urknall, der damals passiert ist. (Peter Sloterdijk,
in: ders. und Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 16-17 **). |
Sloterdijk erlebte also von 1978 bis 1980 im indischen Poona beim Bhagwan
Shree Rajneesh (eigentlich: Chandra Mohan Jain) einen vitalen Urknall
(**),
dessen Hintergrundstrahlung, ein Echo auf den vitalen Urknall
(**),
besonders in Sloterdijks
Büchern der achtziger Jahre (**)
zu finden sei.
Nach 1980 war es so weit, daß ich anfangen konnte,
mich weiter vorzuwagen. Damals habe ich meinen Ton gefunden, falls man
das so unbedarft ausdrücken kann. Es war, als hätte ich das
Instrument entdeckt, auf dem ich meine Art von Musik machen sollte. Das
Instrument wurde gestimmt in dem Moment, als ich begriff, worin meine
Chance besteht. (Peter Sloterdijk, in: Welt, 29.06.2013
**).
Von 1980 bis 1991 war Sloterdijk freier Schriftsteller. 1988
las er die Frankfurter Poetik-Vorlesungen im Rahmen der Stiftungsgastdozentur
für Poetik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in
Frankfurt (am Main). Von 1992 bis 2017 hatte er den Lehrstuhl für
Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Hochschule für
Gestaltung in Karlsruhe inne. Zudem wurde Sloterdijk 1993 Leiter des
Institutes für Kulturphilosophie an der Akademie der bildenden
Künste in Wien, bis er schließlich 2001 eine Vertragsprofessur
am Ordinariat für Kulturphilosophie und Medientheorie in Wien
übernahm. Daneben war er Gastdozent am Bard College, New York,
am Pariser Collège international de philosophie, am Kolleg Friedrich
Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar und an der Eidgenössischen
Technischen Hochschule in Zürich. Schon 2000 war er Schirmherr der
Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt geworden, die sich
aber nach zehn Jahren von ihm trennte. In Nachfolge von Heinrich Klotz
hatte er von 2001 bis 2015 das Rektoramt der Staatlichen Hochschule für
Gestaltung Karlsruhe übernommen, an der er neben der administrativen
Leitung weiterhin lehrte. Zu den prominentesten Schülern Sloterdijks
zählt sein als Parteiphilosoph der AfD bekannt gewordener
langjähriger Karlsruher Assistent Marc Jongen. 2001 und 2002 war
Sloterdijk Fellow des Kollegs Friedrich Nietzsche. Im In- und Ausland
erhöhte sich Sloterdijks Bekanntheitsgrad besonders wegen seiner
regen Vortragstätigkeit. Von 2002 bis 2012 war er Moderator
zusammen mit Rüdiger Safranski der Gesprächsrunde Das
Philosophische Quartett (
**)
im ZDF. Seit 2008 ist Sloterdijk Mitglied der Freien Akademie der Künste
in Hamburg. Auch ist er beisitzendes Mitglied im 2008 gegründeten
Frankfurter Zukunftsrat. 2012 erweiterte er seinen Tätigkeitsbereich
und schrieb das Libretto der Oper Babylon von Jörg Widmann.
Anläßlich von Sloterdijks 70. Geburtstag veranstaltete das
Zentrum für Kunst und Medien vom 23. bis zum 25. Juni 2017 unter
dem Titel Von Morgenröten, die noch nicht geleuchtet haben
ein Symposium. Im Mai 2019 wurde bekannt, daß sein Archiv als Vorlaß
an das Deutsche Literaturarchiv Marbach geht ( ).
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Peter und Mona Sloterdijk in
Karlsruhe. Eine Aufnahme aus
dem Film Gefährliches Denken
von Holger Preuße, 1997 ( ). |
Eine dritte Ehe ging Sloterdijk 1994 mit der Österreicherin Regina
Haslinger ein, nachdem schon 1993 ihre Tochter Mona geboren war. In dem
1997 veröffentlichten ZDF-Film Gefährliches Denken
von Holger Preuße ist Mona übrigens auch zu sehen ( ).
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Die Lektion, die von ihr (gemeint
ist die Tochter Mona; HB), kam, war nicht philosophischer Art,
sie führte zur Gewahrwerdung eines Schwindels, dem ich bis ... 1993,
ihrem Geburtsjahr, erlegen war. In meinem Milieu war ich umgeben von Leuten,
die von der Fortpflanzung abrieten, ausnahmslos: »Kinder? Herrje!
Bloß nicht! Schlaflose Nächte, endloses Geschrei, geborene
Tyrannen du kommst zu nichts mehr!« Ich stellte fest, in
dieser Angelegenheit war ich immer irregeführt worden, rundum. Nicht
ein einziger Mensch hatte mir verraten, daß es nichts Wundervolleres
gibt. Meine Frau und ich waren über das Kind unvorstellbar froh.
Die ersten zwei Jahre lebten wir in einem Delirium. Ständig haben
wir gejubelt, und die Kleine mit uns. Die Lektion bestand darin, daß
man sich vom Erwachsensein erst einen halbwegs realistischen Begriff macht,
wenn man in der Elternposition angekommen ist. Sonst wird man nur älter,
aber erwachsen nie. Andererseits: Erwachsenheit ist ein schwieriger Begriff,
man sollte mit ihm nicht renommieren. (Peter Sloterdijk,
in: SZ-Magazin, 12.11.2014
**). |
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Und am 19.04.2009 berichteten Journalisten der Bild-Zeitung von ihrem
Besuch bei der kleinen Familie Sloterdijk: Deutschlands bekanntester
Philosoph war seit 41 Jahren nicht mehr beim Friseur und hat seinen Hochzeitstag
vergessen. Sein Buch »Du mußt dein Leben ändern«
stürmt zur Zeit die Bestsellerlisten. Im BamS-Gespräch spricht
er über Fitneß für Geist und Körper und sagt, warum
die Liebe überschätzt wird. PS: Auch seine dritte Frau ist dieser
Meinung. - Irgendwie war es ihm in Südfrankreich doch zu kalt. Dieser
ständige Regen über die Ostertage, der frische Wind. Peter Sloterdijk
ist müde. Knapp 750 Kilometer ist er von seinem Ferienort in der
Provence in seinem Chrysler Voyager zurück nach Karlsruhe gefahren,
seine Frau Regina und die 15-jährige Tochter Mona mit dabei. Ganz
spontan hatten sie sich zum Aufbruch entschieden. Aber diese lange Strecke
und dieser »akustische Trash«, der aus dem Autoradio kam.
»Da standen mir die Haare zu Berge«, sagt Sloterdijk, und
angesichts seiner Frisur fragt man sich, ob gerade irgendwo ein Radio
dudelt. Wir sind in Karlsruhe, in der Altbauwohnung von Professor Peter
Sloterdijk, Deutschlands bekanntestem zeitgenössischem Philosophen.
Mehr als 20000 Bücher stehen in den edlen Regalen aus Birnbaumholz,
in der Ecke des Wohnzimmers parkt ein Fitneß-Rad. Der Computer läuft,
eine Wiese leuchtet als Bildschirmhintergrund. .... Die Tür geht
auf, Regina Haslinger-Sloterdijk betritt den Raum. Die 54-Jährige
trägt ein schwarzes kurzes Kleid, knallrote Schuhe, eine grüne
Brille »eine klassige Frau«, entfährt es unserem
Fotografen später. Die promovierte Kulturwissenschaftlerin arbeitet
als freie Kuratorin, häufig in Wien, wo die Familie ebenfalls eine
Wohnung hat. Ach, Mäuslein ist auch da, sagt der Philosoph
und streckt seiner Tochter die Hand entgegen. Mona ist 15 Jahre alt, lebt
in einem Internat im Schwarzwald. ( ).
Floh auch Mona - so wie ihr Vater 1957 (**)
- im Alter von 10 Jahren mit Freunden aus dem Internat? ( ).
Leider wurde Sloterdijks dritte Ehe ebenfalls geschieden. Seit 2017 hat
Sloterdijk eine vierte Ehefrau: Beatrice Sloterdijk, geborene Kolster,
Hamburger Journalistin, frühere langjährige Lebensgefährtin
Sloterdijks. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Karlsruhe, Berlin und in der
Nähe von Chantemerle-lès-Grignan in der Provence. Doch Sloterdijks
Tochter Mona hat mittlerweile eine eigene Wohnung in Berlin.
Erläuterung
der Lebenslauf-Tabelle (**).
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Peter Sloterdijk im noch unvollendeten Zyklus
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Es geht bei der
Lebenslauf-Tabelle und ihrer Erläuterung auch um eine Bewertung,
ja, aber bei dieser Bewertung geht es nicht in erster Linie, sondern
nur in zweiter Linie um die Werke, denn in erster Linie
geht es um Sloterdijks nicht immer, aber doch oft von außen beeinflußte
Biographie, besonders um seine Denk-Biographie.
Denk-Biographie von Peter Sloterdijk
(*1947 ):
1. Stadium (Winter
- 1947-1968) und seine 3 Stufen:
Sloterdijks frühe Kindheit bis (1. Stufe); Grundschulzeit (2.
Stufe); Gymnasial- und Bundeswehrzeit (3. Stufe), also bis zum Übergang
zur Universität (1968).
2. Stadium (Frühling
- 1968-1983) und seine 3 Stufen:
Sloterdijks Studienzeit von 1968 bis 1974 (4. Stufe); die Zeit vom
Ende des Studiums bis zum Bruch mit einigen Traditionen der abendländische
Kultur und Hinwendung zur indischen Kultur, also die Zeit von 1974
bis 1978 (5. Stufe); der rd. zweijährige Aufenthalt in
Indien, die Rückkehr und freie Schriftstellerei bis zur Veröffentlichung
seiner Kritik der zynischen Vernunft, also die Zeit von 1978
bis 1983 (6. Stufe).
3. Stadium (Sommer -
1983-2006) und seine 3 Stufen:
Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft und die Auswirkungen
bis zum Fall der Mauer, also die Zeit von 1983 bis 1989
(7. Stufe); vom Fall der Mauer bis zur Elmauer Rede (Regeln
für den Menschenpark) als dem Beginn der sogenannten Sloterdijk-Debatten
( )
also die Zeit von 1989 bis 1999 (8. Stufe); von der sogenannten 1.
Sloterdijk-Debatte ( )
bis zum Erscheinen des Buches Zorn und Zeit, also die Zeit
von 1999 bis 2006 (9. Stufe).
4. Stadium (Herbst -
2006- ? ) und seine 3 Stufen:
Sloterdijks Buch Zorn und Zeit bis zum Beginn der sogenannten
3. Sloterdijk-Debatte ( ),
also die Zeit von 2006 bis 2015 (10. Stufe); vom Beginn der sogenannten
3. Sloterdijk-Debatte ( )
bis ? ..., also die Zeit von 2015 bis ? (11. Stufe); ... die
Zeit von ? bis ? (12. Stufe). |
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Peter Sloterdijks Auf und Ab
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Daß Sloterdijk 1957 aus einem Internat am Ammersee mit Freunden
floh, habe ich schon gesagt (**).
Aus seinem 1. Stadium (1947-1968) ist mir sonst - abgesehen
von wenigen Daten - nicht viel bekannt. Innerhalb des 2. Stadiums
(1968-1983) zeigt die 4. Stufe (1968-1974) bereits durch Sloterdijks Wahl
der Studienfächer Germanistik, Geschichte, Philosophie und seiner
Magisterarbeit Strukturalismus als poetische Hermeneutik
(1971), seiner Studie Die Ökonomie der Sprachspiele - Zur
Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution (1972) und
seines Essays Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte
(1972) recht deutlich sein Interesse am Strukturalismus, das als eine
Richtungsangabe der weiteren Geistesentwicklung Sloterdijks gedeutet werden
kann. Die 4. Stufe ist damit geklärt. Weiter: Die Zeit zwischen
1974 und 1980 wurde die Experimentierphase meines Lebens (**),
sagte Peter Sloterdijk selbst, gemäß der von mir erstellten
Lebenslauf-Tabelle bedeutet diese Zeit rd. eineinhalb Stufen, nämlich
die 5. Stufe (1974-1978) und rd. die Hälfte (1978-1980) der
6. Stufe (1978-1983). Den rd. zweijährigen Aufenthalt in Indien,
die Rückkehr aus Indien, die freie Schriftstellerei bis zur Veröffentlichung
der Kritik der zynischen Vernunft habe ich deshalb
zusammengefaßt, weil sie zusammen eine Linie bzw. eine Exponentialkurve
darstellen von der Zeit nach der Gebundenheit durch das Studentsein,
über die erst noch allmähliche und dann aber sehr sprunghafte
Hinwendung zum vitalen Urknall (**),
nämlich zum Kulminationspunkt, den die 1983 erfolgte Veröffentlichung
der Kritik der zynischen Vernunft in Sloterdijks Denk-Biographie
darstellt. Damit will ich sagen, daß Sloterdijks denk-biographischer
Höhepunkt und damit auch Dreh- und Angelpunkt das Werk Kritik
der zynischen Vernunft ist. Ich sage damit nicht, daß
ich dieses Werk für Sloterdijks bestes Werk halte - nein, denn sein
bestes Werk ist ja jenes, das ich in meiner Liste der Top 100 der
Bücher ab 1800 an die dritte Stelle (**)
gesetzt habe, wie später noch erwähnt werden wird (**|**)
-, ich sage das, weil das Werk Kritik der zynischen Vernunft
für die Entwicklung Sloterdijks das bedeutendste Werk war, ist und
bleiben wird. Hauptsächlich diesem Werk verdankt er allen späteren
Ruhm, und voraus ging diesem Werk ein Schaffen und etwas Außergewöhliches,
das Sloterdijks Aussagen zufolge dieses Schaffen erst ermöglicht
hatte, nämlich der Aufenthalt im Aschram von Bhagwan Shree Rajneesh
im indischen Poona. Das Experiment in Indien als die unmittelbare Vorbedingung
für das Schaffen und Veröffentlichen des Werks Kritik
der zynischen Vernunft und besonders dieses Schaffen und Veröffentlichen
selbst sind die drei bedeutsamsten Ereignisse in Sloterdijks Denk-Biographie,
bedeuten seine 6. Stufe (1978-1983), wobei die Kritik der zynischen
Vernunft als Höhepunkt gleichzeitig der Eckpunkt, der Übergang
zur 7. Stufe (1983-1999) ist. Alles, was vor diesem Höhepunkt
war, steht von nun an in dessen Rückwärts-Schatten, und
alles, was nach diesem Höhepunkt kommen sollte, sollte in
dessen Vorwärts-Schatten stehen. Die 7. Stufe bedeutet schon
die erste der Abststiegsstufen. Bitte nicht falsch verstehen, denn es
geht hier nicht um einen subjektiven Geschmack, sondern um
eine objektive Beurteilung dessen, was Sloterdijk wahrscheinlich selber
weiß: die Kritik der zynischen Vernunft war,
ist und bleibt sein Höhepunkt. Die 7. Stufe (1983-1989) als die erste
des 3. Stadiums (1983-2006) steht für eine Art
von Hintergrundstrahlung, ein Echo auf den vitalen Urknall, der damals
passiert ist (**),
wie Sloterdijk selber sagte, jedoch die gesamten 1980er Jahre dafür
veranschlagend. Der Fall der Mauer (9. November 1989) stellt den
Übergang zur 8. Stufe (1989-1999) dar und endet mit Sloterdijks Elmauer
Rede über die Regeln für den Menschenpark (17. Juli
1999), die er in leicht veränderter Fassung zwar schon am 15. Juni
1997 in Basel gehalten hatte, jedoch ohne eine negative Auswirkung, die
dann aber die Elmauer Rede sehr wohl zeitigte: die 1. Sloterdijk-Debatte
(**),
die auch den Beginn aller Sloterdijk-Debatten (**)
bedeuten sollte. Dieser Beginn steht für den Übergang zur 9.
Stufe (1999-2006). Daß noch in der 8. Stufe Sloterdijks
Sphären I (Blasen) und Sphären II (Globen) - d.h.
die ersten beiden Bände seiner Sphären-Trilogie - erschienen,
aber Sphären III (Schäume) erst in der 9. Stufe, hat
nicht damit zu tun, daß die drei Bücher seiner Sphären-Trilogie
voneinander thematisch so getrennt wären, wie sie es zeitlich sind,
und auch nicht damit, daß dieses Großwerk (oft als Opus
magnum gepriesen) keine großartige Leistung Sloterdijks
wäre, was es zweifellos ist (**|**).
Sloterdijks Sphären-Großwerk darf sich deswegen auf zwei denk-biographische
Stufen verteilen, weil es (a) sowieso eine stringente Fortsetzung in Sloterdijks
Denken entsprechend seinem Denkmuster (**|**)
darstellt, darum Sloterdijks Absicht dazu schon seit seinen ersten Werken
zu erkennen war, und (b) selbst eine Stufe bilden könnte, aber eben
nicht muß (siehe: a). Es gibt unter den vier jeweils Übergänge
bildenden Eckpunkten in Sloterdijks Denk-Biographie bis heute nur drei:
(1) Eckpunkt bzw. Übergang Schule/Studium, (2) Eckpunkt bzw.
Übergang (hier sogar als Höhepunkt) Kritik der zynischen
Vernunft, (3) Eckpunkt bzw. Übergang Zorn und
Zeit.
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Vielleicht bin ich
auch ein bißchen der Lexikon-Mann. (Peter Sloterdijk,
in: SZ-Magazin, 12.11.2014
**). |
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Ich habe keine Fragen an tote Philosophen, ausgenommen
an Fichte, mit dem ich nicht ganz fertig bin. Es gibt aber einen Denker,
den ich für den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts halte, obwohl
fast niemand ihn kennt: Gotthard Günther. Mit ihm würde ich
gern über mehrwertige Logik reden und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit,
sie mit der zweiwertigen Alltagsvernunft in ein überschaubares Verhältnis
zu setzen. (Peter Sloterdijk,
in: SZ-Magazin, 12.11.2014
**). |
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Der Philosoph ... soll
seinen Lesern beweisen, daß der Armutsverdacht gegen sich
selbst ... unbegründet ist, daß wir von der Tiefe her
eugentlich reiche Geschöpfe sind - und diesen Beweis führe
ich seit ich denken kann mit wachsender Intensität. (Peter
Sloterdijk, in: SPIEGEL-Film, 2015 **). |
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Für Konservatismus
gibt es zwei Definitionen, die erste ist anthropologisch, die andere
prozessual oder historisch. Der primäre Konservatismus zeichnet
sich durch seinen anthropologischen Pessimismus aus. .... Der prozessuale
oder historische Konservatismus beruht auf der Einsicht, daß
zivilisatorische Errungenschaften verloren werden können. Es
gibt keine Garantie, daß die gleiche Welt in der nächsten
Generation weiterbesteht. Das gilt auch für Frieden, Wohlstand
und den Schutz des Sozialstaats. Man könnte vielleicht damit
leben, daß es in der nächsten Generation keine großen
Erzähler oder Künstler mehr gibt oder keine großen
Komponisten. Dramatisch wird es, wenn der Rechtsstaat, der Sozialstaat
und die Wohnkultur gefährdet werden. Das letztere nenne ich
nicht willkürlich: Von der Behausung hängt das Grundgefühl
des In-der-Welt-Seins von Menschen ganz wesentlich ab. (Peter
Sloterdijk, in: DER SPIEGEL, 30.06.2017
**). |
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Den Übergang von der 9. zur 10. Stufe (2006-2015), zugleich der Übergang
vom 3. zum 4. Stadium (2006- ? ), bildet Sloterdijks
2006 veröffentlichtes Buch Zorn und Zeit, weil
dieses Buch wieder für eine neue Denkrichtung innerhalb des Sloterdijkschen
Denkmusters steht, wenn auch längst nicht so sehr wie beim Eckpunkt
bzw. Übergang (und sogar Höhepunkt) Kritik der zynischen
Vernunft, durch deren 1983 erfolgte Veröffentlichung Sloterdijk
endlich klar geworden war, daß er eine neue Denkrichtung
innerhalb seines Denkmusters in die Welt setzten kann, also auch dem Außen
gegenüber sich als fähig dazu betrachten kann, weil er gelernt
hatte, sich weiter vorzuwagen (**),
und seinen Ton gefunden (**),
sein Instrument entdeckt (**)
hatte. Nun, 23 Jahre später, geschah in einem geringereren Ausmaß
etwas Ähnliches: Sloterdijk erkannte, daß es nötig geworden
war, die Verbindung der eigenen Herkunft mit der eigenen politische Position
noch deutlicher und auch bezüglich dieser Verbindung noch mehr Imperative
in Richtung unserer thymós-vergessenen therapeutischen Kultur
(**)
auszusprechen, als er es je zuvor getan hatte. Den Übergang
von der 10. zur 11. Stufe (2015- ? ) brachte die 3. Sloterdijk-Debatte
(**),
weil Sloterdijk dazu, ein Outing zu wagen und sich auch ganz direkt einen
Linkskonservativen (**|**)
zu nennen (**|**).
Ein Immunologe - und ja wohl erst recht ein Allgemein-Immunologe
(**)
- kann nur ein Konservativer sein.
Der Denkverein Eintracht Einfluß.
Der Denkverein Eintracht Einfluß
auf Peter Sloterdijk und seine Taktik 
In Sloterdijks 2009 veröffentlichtem Buch Du
mußt dein Leben ändern heißt es u.a:
Impfung mit dem Ungeheuren:
Nietzsche als Immunologe. Mit Nietzsche verbindet
sich das wenig verstandene logische Hauptereignis des 19. und 20.
Jahrhunderts: die Transformation der Metaphysik in Allgemeine Immunologie
- ein Ereignis, an dessen Nachvollzug die moderne Philosophie ebenso
wie die Theologie und die konventionelle Soziologie bis heute gescheitert
sind. (Allein die Luhmannsche Systemtheorie hat aufgrund ihres metabiologischen
Ansatzes den immunologischen Imperativ in ihre Grundlagen intergriert.
Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 504 ff. [**].)
Durch die Offenlegung von Immunität als System und Prinzip
wird der Mensch sich selbst neu erklärt. Er expliziert sich
als ein Wesen, das sich im Ungeheuren - Heidegger sagt: In-der-Welt
- sichern muß, selbst um den Preis monströser Bündnisse.
Klärungen dieses Typs hätten den Status der »Religion«
als der (neben dem Rechtswesen) umfassendsten immunitären Praxis
symbolischen Typs unmittelbar affizieren müssen - doch es hat
ein ganzes Jahrhundert gedauert, bis jüngere Formen von Kulturtheorie
und Theologie von den neuen Reflexionspotentialen Gebrauch machten.
Dabei waren schon in der Romantik die Weichen
gestellt worden. ** |
In Sloterdijks 2012 veröffentlichtem Buch Zeilen
und Tage kann man für den 21. September 2010 den folgenden
Eintrag lesen:
Wer die roten Fäden meiner
Arbeiten seit der Kritik der zynischen Vernunft suchte, hätte
sie finden können in dem sich nach und nach verdeutlichenden
Programm einer Umwandlung von Metaphysik in Allgemeine Immunologie
und in den diversen Anläufen zu einer Theorie der Psychopolitik
.... ** |
Allgemeine Immunologie als Ersatz für Metaphysik, ja,
aber mit der Theorie zu einer Psychopolitik ist doch die Metaphysik
wieder da, zumindest für den Teil, der die Psyche betrifft,
denn die Psyche ist metaphysisch.
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M = Mittelpunkt;
F = Brennpunkte;
S = Scheitelpunkte;
Rot = Hauptachse;
Grün = Nebenachse. |
Betrachten wir die roten Fäden (**|**)
Sloterdijks als die zwei von ihm selbst genannten - nämlich (1.)
die Umwandlung von Metaphysik in Allgemeine Immunologie (**|**)
und (2.) die Theorie der Psychopolitik (**|**)
und damit die Wiedereinführung der Metaphysik durch den Begriff Psyche
(**) -,
so können wir diese zwei auch als Brennpunkte einer Ellipse
verstehen, wobei wir die Ellipse als Sloterdijks Denkmuster (**),
einen Ausschnitt aus seinem Dasein und Sosein in der Welt deuten,
und zwar sowohl auf synchroner als auch auf diachroner Ebene. Wir werden
nun diejenigen neuzeitlichen Philosophen oder Dichter und
Denker, die Sloterdijk am meisten beeinflußt haben, zu betrachten
haben. Ich habe achtzehn davon ausgewählt. Es hätten auch mehr
sein können. Die achtzehn Einflußgrößen Sloterdiks
sind sein Denk-Trainer, sein Denk-Arzt (-Immunologe),
sein Denk-Betreuer, seine elf Denk-Spieler und
seine vier Denk-Ersatzspieler, um einmal mehr das Denken mit
dem Fußballsport in Verbindung zu bringen ( ):
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Achtzehn Denker mit dem wahrscheinlich größten Einfluß
auf Sloterdijk. In der Waagerechten (von links nach rechts) sind sie
gemäß ihrer Geburtsdaten, in der Senkrechten (von oben
nach unten) gemäß ihrer Stärke an Einfluß auf
Sloterdijk geordnet. |
Wenn in diesem Zusammenhang von Einfluß, Einwirkung
oder Wirkung die Rede ist, dann folgt daraus nicht immer eine
Bejahung bzw. Übernahme. Ein Floh kann auf einen Menschen wirken,
einwirken, Einfluß ausüben, ohne daß der Mensch den Floh
bejaht bzw. übernimmt, z.B. ihn als seinen Vorgesetzten
akzeptiert. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob jede Person mit Einfluß
auf Sloterdijk immer auch mit der von mir oben angegebenen Stärke
an Einfluß tatsächlich übereinstimmt; doch behaupte ich,
Sloterdijk gut genug zu kennen, um eine solche Übereinstimmung zumindest
für die ersten zwei Ebenen (siehe die Bilder von oben nach unten:
1. und 2. Ebene [**]),
wahrscheinlich auch für die nächsten zwei Ebenen (siehe die
Bilder von oben nach unten: 3. und 4. Ebene [**])
garantieren zu können, denn nur bei den letzten zwei Ebenen (siehe
die Bilder von oben nach unten: 5. und 6. Ebene [**])
habe ich durchaus überlegt, ob ich nicht auch andere Personen hätte
wählen können. Diese achtzehn Personen bedeuten für Sloterdijks
Denkentwicklung seinen Denk-Trainer, seinen Denk-Arzt
(-Immunologe), seinen Denk-Betreuer, seine elf
Denk-Spieler und seine vier Denk-Ersatzspieler,
wie oben schon erwähnt (**).
In der rechts zu sehenden Abbildung sind sie mit ihren Namen erwähnt.
Der Denk-Trainer und der Denk-Arzt (-Immunologe)
haben in etwa denselben Grad an Einfluß, nämlich den größten
bzw. stärksten. Dicht gefolgt vom Denk-Betreuer. Die
elf Denk-Spieler sind in der Abbildung zwar nummeriert, jedoch
nicht im Sinne ihrer Einflußgröße, sondern gemäß
ihrer Lebensdaten, also rein chronologisch geordnet. Aber sie haben dennoch
unterschiedliche Einflußgrößen. Nur soll sich jeder Leser
davon selbst ein Bild machen. Ich verrate nur soviel, daß der Denk-Spieler
mit der Nummer 7 und der Denk-Spieler mit der Nummer 10 stärkeren
Einfluß haben als die anderen Denk-Spieler. Doch muß
ich das nicht wirklich verraten, weil die unterschiedlichen Einflußstärken
sich ja schon aus der aus sechs Ebenen bestehenden Anordnung der obigen
Bilder ergeben (**).
Die vier Denk-Ersatzspieler kommen folgerichtig aus der sechsten
Ebene, die aus insgesamt sechs Denk-Spielern besteht. Warum ich
so vorgegangen bin? Nun, erstens, weil ich 32 Sloterdijk-Bücher
gelesen habe ( ),
zweitens, weil ich gerechterweise von Sloterdijks eigener Beschreibung
seiner roten Fäden (**|**)
ausgegangen bin, obwohl ich das gar nicht hätte tun müssen (aber
eben aus Gerechtigkeitsgründen dennoch getan habe), weil Sloterdijks
eigene Beschreibung mein Verstehen Sloterdijks bzw. sein Denkmuster
(**|**)
ohnehin bestätigt. Ich verstehe ihn als einen die Existenz bzw. Existenzphilosophie
ins Zentrum des Denkens stellenden Lebensphilosophen (**)
mit einer Tendenz zum Idealismus. (**).
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Denktrinität: Denk-Arzt, Denk-Trainer
und Denk-Vereinsmitglied.
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Er richtet sich nach den Denk-Anweisungen seines Denk-Trainers
Heidegger, seines Denk-Arztes (-Immunologen) Nietzsche
und seines Denk-Betreuers Hegel. Seinen
eigenen Aussagen zufolge geht es ihm um eine Umwandlung von
Metaphysik in Allgemeine Immunologie (**|**)
und eine Theorie der Psychopolitik (**|**).
Sein Immunologisches ist auch nach meinem Dafürhalten
durchaus im allgemeinen Sinne gemeint. Sein Psychopolitisches
ist jedoch schon allein aus begrifflichen Gründen eine seiner Schwachstellen,
weil er damit zu oft übertreibt, in Psychologismen und Sozioligismen
flüchtet. Mit seiner Umwandlung von Metaphysik in Allgemeine
Immunologie einerseits und seiner Theorie der Psychopolitik
andererseits dreht Sloterdijk sich in einem Kreis bzw. einer Spirale,
weil er die Metaphysik einerseits ablehnt oder zumindest umwandeln will
und andererseits durch den Begriff Psyche (**)
wieder einführt und danach wieder mit dem Umwandeln weitermachen
muß oder kann (je nach Deutung). Es kann ja sein, daß er deshalb
häufig sehr dicke Bücher schreibt und überhaupt sehr viel
schreibt, denn er bewegt sich ja stets in einem Kreis bzw. einer Spirale:
Metaphysik in Immunologie umwandelnd, Theorie der Psychopolitik und dadurch
zumindest teilweise wieder Metaphysik betreibend, diese wieder in Immunologie
umwandelnd ... usw. .... Wenn wir einmal nur von der Politik absehen,
dann ergibt sich bei Sloterdijk immer wieder ein Kreis bzw. eine Spirale
der Umwandlung von Metaphysik in Immunologie bei gleichzeitiger Herstellung
von Metaphysik mit folgenden möglichen Ergebnissen: (a) mehr Immunologie
als Metaphysik, (b) mehr Metaphysik als Immunologie, (c) gleicher Anteil
von Metaphysik und Immunologie -, wobei noch zu fragen ist, ob es
Sloterdijk sogar irgendwann gelingt, (aa) die Metaphysik durch Immunologie
zum Verschwinden, (ba) die Immunologie durch Metaphysik wie bei
der Infinitesimalrechnung ins unendlich Kleine mit dem Grenzwert
Null und somit fast zum Verschwinden oder (ca) beide zum Verschwinden
zu bringen. Auf diese Weise wird er immer wieder sagen können,
(aa) dieses in jenes umgewandelt und darum zum Verschwinden gebracht oder
(ba) jenes durch dieses bis ins Unendliche verkleinert und darum fast
zum Verschwinden oder sogar (ca) beides zum Verschwinden gebracht zu haben.
Ja (gut!), aber er wird nichts davon beweisen können, weil immer
wieder gesagt werden kann, daß doch das jeweils eine auch als das
jeweils andere deutbar sei und deshalb auch jedes der jeweiligen Ergebnisse
stets fragwürdig bleibe. Der jeweilige Beweis läßt sich
also nicht erbringen, weil er in der jeweiligen Voraussetzung schon enthalten
ist. Sloterdijks Kreis entpuppt sich so als ein Kreis beim Beweisen
(Circulus in probando), der auch fehlerhafter Kreis
(Circulus Vitiosus) genannt wird (**).
Wollte Sloterdijk sagen, daß er Metaphysik mit Metaphysik bekämpfe
(weil sie schneller wachse als die für ihre Ersetzung zuständige
Immunologie) und immer einen Rest an Politik übrigbehalte, dann betriebe
er eine Theorie der Homöopolitik (**);
wollte er sagen, daß er, indem er den Anteil an Metaphysik (durch
Immunologie) sowohl herabsetze als auch (durch Metaphysik, nämlich:
Psyche) heraufsetze, eine Herabsetzung der Metaphysik erreiche,
so bliebe in diesem Satz des Widerspruchs (**)
der Widerspruch (**)
zumindest solange erhalten, wie dem Wort Anteil keinerlei
Information über die Quantität beigefügt bliebe. Daß
eine Theorie der Homöopolitik immer eine Option ist, steht
außer Frage; daß ein Widerspruch auch für die Erkenntnis
nicht unbedingt hinderlich sein muß, haben Hegel (Sloterdijks
Denk-Betreuer), vor ihm schon Fichte, dann Schelling, später
insbesondere und mit sehr starken Argumenten Luhmann gezeigt (alle drei
Sloterdijks Denk-Spieler).
Nun ist es also heraus: Sloterdijks Kritiker aus dem Zensurstrom
hätten dann, wenn sie es nicht anders meinten, recht mit ihrer Behauptung,
Sloterdijk sei ein Heideggerianer, Nietzscheaner und Hegelianer. Aber
was wollen sie mit ihrer Aussage bezwecken? Nun, sie wollen tadeln
( ).
Ich dagegen will loben ( ).
Das ist und bleibt der Unterschied zwischen ihnen auf der Seite des Bösen
( )
und mir wie auch Sloterdijk selbst und vielen anderen auf der Seite des
Guten ( ).
|
I (1 bis 2) |
II (2 bis 3) |
III (nach 3) |
Keine Schrift
und kein Postheroismus |
Schrift, aber
kein Postheroismus |
Schrift
und Postheroismus |
Rd. 0,31 bis 3,72
Millionen Jahre (geschätzt) |
Rd.
6000 Jahre (geschätzt) |
Rd.
10 bis 194 Jahre * |
99,84%
bzw.
98,06% bis 99,84% |
0,16%
bzw.
1,88% |
0,0003% bis
0,005% bzw. 0,003% bis 0,063% |
|
* 2001 als
das Jahr der Gegenwart.
|
|
In Sloterdijks Philosophie bzw. Denkmuster (**|**)
geht es auf der diachronen Ebene um ein Drei-Stadien-Modell: Prähistorie-Historie-Posthistorie,
Prämoderne-Moderne-Postmoderne, Frühkultur-Hochkultur-Spätkultur,
Paläopolitik-Politik-Hyperpolitik, Blasen-Globen-Schäume
u.ä. Beispiele künden davon. Die Evolution bzw. Geschichte der
Menschheit bildet dafür den Zeitrahmen, in dem es somit insgesamt
um vier zeitliche Grenzen bzw. Übergänge geht: (1) Beginn der
Menschheit (wann auch immer dieser Anfang war), (2) Beginn der Schrift,
(3) die Zeit zwischen der Achsenzeit und der französischen Revolution
bzw. dem Zusammenbruch der Sowjetunion (diesem letzteren, weil es
ihm um den Übergang vom Eisernen zum Silbernen Zeitalter geht,
das den Postheroismus, das Ende der Geschichte [Posthistorie]
als Metapher für die Außerkraftsetzung des im Eisernen
Zeitalter herrschenden Realitätsprinzips im Gefolge nicht-heroischer
Maßnahmen gegen die fünf Nöte [**]
und die Postmoderne als das mediale Ausschlachtung des Unbehagens
am Zweitbesten [**]
bedeutet), (4) die Gegenwart. Somit ist das erste Stadium (zwischen 1
und 2) das mit der weitaus größten Dauer und das dritte Stadium
(zwischen 3 und 4) das mit der kleinsten Dauer, jedenfalls bis jetzt,
denn die Grenze bzw. den Übergang in Richtung Zukunft bildet für
das dritte Stadium ja die Gegenwart (siehe 4). Dieses Drei-Stadien-Modell
kann dialektisch, zyklisch und linear verstanden werden, wobei aber schon
an den Präfixen der meisten Wortkompositionen für die drei Stadien
erkennbar ist, daß das Lineare gegenüber dem Zyklischen und
Dialektischen deutlich zu kurz kommt. Man könnte sich dieses Drei-Stadien-Modell
auch als Modell namens Evolution-Revolution-Evolution oder
Evolution-Geschichte-Evolution vorstellen - zumindest habe
ich das gerade getan. Für Sloterdijk hat das Ende
der Geschichte (die Nachgeschichte, Posthistorie) entweder schon mit seinem
Denk-Betreuer Hegel im Jahre 1807 (**)
oder eben erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991 begonnen
(siehe 3). Sloterdijk zufolge geht es seitdem (nach 3) um die Schicksalsfrage
...: ob es gelingt, die Standards des episodisch aufgetauchten Silbernen
Zeitalters zu stabilisieren oder ob der Rückfall in ein Eisernes
Zeitalter vor der Tür steht, von dessen Aktualität alte und
neue Realisten überzeugt sind - nicht zuletzt unter Hinweis auf die
Tatsache, daß mehr als zwei Drittel (hier
irrt Sloterdijk, denn es sind mehr als VIER FÜNFTEL! HB) der
Menschheit es nie verlassen haben (**).
Ich habe auf meiner Seite Neu-/Nachgeschichte gesagt:
Bisher hat es noch kein Mensch vermocht, das Ende der Geschichte
im engeren Sinne zu bestimmen. **
|
Der Philosoph meines Namens würde gern mit
der Formel durchkommen: »Leben heißt Immunität
ins Unendliche ausdehnen.« Beim Publikum hat das für
die nächsten hundert Jahre keine Chance. Verstehen Sie dies
nicht als Resignation. In meinen späteren Tagen möchte
ich mich noch einmal an die Arbeit machen und Metaphysik als allgemeine
Immunologie darstellen, als Lehre von der Welt als Aggression und
Schutz. Nach dem Jahr 2200 wird es Schulstandard sein. Letztlich
aber geht es mir darum, den Abgrund zwischen Leben und Philosophie
zu überbrücken. Ich frage mich, ob dazu nicht vielleicht
ein einziger Satz genügt, bei welchem dem Kollegen Descartes
die Ohren klingen: Man denkt an mich, also bin ich. Mit etwas Glück
wird daraus: Ich bin, seit sie an mich denkt. Je mehr Plagiatoren
in der Zukunft herumlaufen, die die Quelle weder kennen noch nennen,
desto besser. (Peter Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12.11.2014
**). |
|
Eigentlich will uns Sloterdijk immer wieder sagen, daß
es im synchronen Bereich, den wir auch als den Raum bezeichnen
können, um Immunologie der Lebewesen und Psychopolitik
der Menschen ginge, die durch den diachronen Bereich, den wir auch
als die Zeit oder Geschichte bezeichnen können, ihre
Veränderungen wahrnehmen, auf sie reagieren, neue bewirken, auf die
dann wieder reagiert wird usw., wobei dieser Prozeß dem schon besprochenen
Drei-Stadien-Modell (**)
entspricht. Das Wort Immunologie verrät uns schon die
hauptsächlichen Einflußgrößen: sein Denk-Arzt
(-Immunologe) Nietzsche und sein Denk-Trainer
Heidegger, aber auch sein Denk-Betreuer Hegel und seine Denk-Spieler,
besonders Spengler und Luhmann. Um zu verhindern, daß insbesondere
sein Denk-Arzt seine Denk-Spieler dem Impfzwang
(Motto: »Ich impfe euch mit dem Wahnsinn [**])
und dem Zwang zu Nahtoderfahrungen (Motto: »Was
mich nicht umbringt, macht mich stärker [**|**])
unterzieht, braucht er unbedingt den alten Haudegen Hegel
als Denk-Betreuer. Schwieriger als beim Wort Immunologie
ist die Zuordnung beim Wort Psychopolitik, was auch damit
zu tun hat, daß nach vier Jahrtausenden Geschichte des Wortes Psyche
immer noch niemand weiß, was mit dem Wort eigentlich gemeint ist.
Sloterdijks Drei-Stadien-Modell ist hauptsächlich vom Dialektik-Modell
seines Denk-Betreuers Hegel und vom Zyklen-Modell seines Denk-Spielers
Spengler beeinflußt. Zyklisch ist Sloterdijks Drei-Stadien-Modell,
weil Sloterdijk etwas vorstellt und beschreibt, das einmal angefangen
hat und danach blüht, ab einem bestimmten Zeitpunkt verwelkt, vollendet
ist oder beendet wird, jedenfalls endet. Das ist durchaus im Sinne aller
Zyklentheoretiker, besonders aber im Sinne des Zyklentheoretikers und
Kulturmorphologen Spengler zu verstehen, der ja einer der wichtigsten
Denk-Spieler Sloterdijks ist. Dialektisch ist Sloterdijks
Drei-Stadien-Modell, weil die drei Stadien gemäß Sloterdijks
Denk-Betreuer Hegel verlaufen: das 1. Stadium wie Hegels These,
das 2. Stadium wie Hegels Antithese und das 3. Stadium wie
Hegels Synthese. Die Synthese steht für die bei Sloterdijk
gehäuft auftauchenden Gedankenspiele in Richtung Postmoderne
und Posthistorie (Posthistoire) - auch versteckt,
denn diese stecken ja auch z.B. hinter seinem bzw. Gehlens Begriff Spätkultur,
hinter seinem Begriff Hyperpolitik, hinter seinem Begriff
Schäume usw. -, steht auch für die Negation
der Negation, für die dadurch von neuem gesetzte These auf
einer emporgehobenen Ebene, für die These als das in erhöhter
Form Bewahrte, als das Aufgehobene in Hegels Sinne (**|**),
d.h. auch für die Vollendung bzw. das Ende eines dialektischen Prozesses,
obschon dieser dann wieder von neuem beginnen kann, indem die Synthese
zur These wird. Solche dialektischen Prozesse sind einerseits selbst wie
Zyklen und andererseits als Integrale in einem größeren Zyklus
oder mehreren größeren Zyklen zu verstehen.
Ein Präsident ist auch kein
Gott 
Sloterdijk ist bezüglich seiner Außenrichtung
zwar hartnäckig, bleibt seinem Denkmuster (**|**)
stets nach außen hin treu; trotzdem ist er in vielerlei Hinsicht
auch inkonsequent. Diese Inkonsequenz mag einerseits an seiner Eitelkeit
und andererseits an eben jenem schon erwähnten Widerspruch liegen,
denn die Herabsetzung von Metaphysik (durch Immunologie) bei gleichzeitiger
Heraufsetzung von Metaphysik (durch Psyche) bedeutet nicht
unbedingt trotzdem eine Herabsetzung von Metaphysik (**|**).
Zwar läßt sich dieser Widerspruch auflösen, wenn bekannt
ist, ob Sloterdijk die Metaphysik mehr herauf- als herab- oder mehr herab-
als heraufsetzt; doch dafür muß man Sloterdijk bzw. seine Texte
schon ziemlich gut kennen, und der auf diese etwaige oder tatsächliche
Unkenntnis bezogene Unsicherheitsfaktor auf der Seite der meisten Leser
kommt Sloterdijk insofern zugute, als daß er sich nicht festlegen
muß, sich ja auch gar nicht gern festlegen will und auch nicht festlegen
lassen will, so daß z.B. der Eindruck entstehen kann, er sei ein
nur die Phänomene sprechen lassender Phänomenologe oder ein
das Beliebige liebender Postmoderner oder ein sehr belesener
und redelüsterner Erzählkünstler oder ein inkonsequenter
Zögerer und Zauderer, der Angst vor seiner eigenen Herabsetzung,
vor dem Verlust an Geld, Ansehen, Kompetenz und Einfluß hat und
der außerdem aufgrund seiner Eitelkeit seine Inkonsequenz sogar
nur noch deutlicher zeigt.
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PROGRESSIV |
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L
I
N
K
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MITTIG |
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KONSERVATIV |
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Zu Sloterdijks
politgeometrischer Position:
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Zu Sloterdijks Inkonsequenz scheint auch zu gehören, daß
er z.B. niemals direkt von den Globalisten (**),
ihren für ihre Weltherrschaft unerläßlichen Strategien,
ihren Geostrategien (**),
zu denen vor allem das unbedingt zu verhindernde Bündnis zwischen
Deutschland und Rußland gehört ( ),
ihren Denktankstellen (think tanks), ihrer Geopolitik, ihrer
NATO-Begründung, der zufolge die Deutschen unbedingt unten
gehalten werden sollen (**),
ihrem Tiefen Staat, ihrer Polit- und Wirtschaftsmafia, ihren
Geheimdiensten und ihren anderen geheimen Machenschaften spricht. Wenn
er das alles, was es ja gibt und größtenteils von den Globalisten
selbst auch gar nicht mehr geleugnet wird, in die roten Fäden
(**|**)
seiner Philosophie, in sein Denkmuster (**|**)
miteinbezöge und dann auch direkt anspräche, dann bezöge
er erstmals wirklich eine, nämlich seine politische Position
ein und müßte nicht immer vor seinen Gesprächspartnern
und seinem Publikum so herumeiern, wie er es häufig tut.
Er hat bisher nur einmal wenigstens zugegeben, ein Linkskonservativer
zu sein (**|**|**|**|**|**|**).
Wenn er deutlicher werden würde, was seinen politischen Standort
angeht, würde er sich auch nicht immer solchen peinlichen
Interviews aussetzen, in denen seine Inkonsequenz lediglich
ausgebeutet wird, mittlerweile sogar auch schon beim Sender 3-Sat
(**).
Wen wundert eine solche Ausbeutung denn noch? Oder liegt hierbei etwa
eine Inszenierung auf der Basis eines Deals, also wieder einmal
Korruption vor?
Zwar ist Sloterdijk mit zunehmendem Alter bezüglich
seiner politischen Position ein wenig deutlicher geworden, doch das liegt
nicht nur an der Reife, die er erreicht hat, sondern auch an den auf ihn
verübten Überfällen, die von den Lügenmedien Sloterdijk-Debatten
genannt werden, und an anderen äußeren Umständen, die
ebenfalls zugenommen haben, auf ihn immer mehr Druck ausüben, in
der Letztbegründung von ganz oben kommen und immer
mehr auf ihn einregnen. Warum wehrt er sich nicht dagegen
ganz direkt in seinen Büchern, in seinen Reden in der Öffentlichkeit,
im Fernsehen und im Internet? Gehört es zu seiner Strategie, dies
nicht zu tun? (Sein Denk-Arzt
Nietzsche meinte ja, daß Philosophie immer auch Strategie sein müsse.)
Ja, es gehört zu seiner Strategie, jedenfalls größtenteils,
und diese ist eben leider auch durch jene Inkonsequenz gekennzeichnet.
** **
Auch für die Beurteilung bestimmter Phänomene mußte
Sloterdijk erst reif werden. Zuvor hat ihn aber nicht nur seine mangelhafte
Reife, sondern auch seine in manchen Bereichen zu starke und darum gefährliche
Abhängigkeit jener Denk-Arznei, die ihm sein Denk-Arzt
Nietzsche - trotz der Warnungen seitens seines Denk-Betreuers
Hegel vor den vielen Risiken und Nebenwirkungen - verordnet
hat, sprich sein übertriebener Nietzscheanismus veranlaßt,
bestimmte Phänomene falsch zu beurteilen. Seine teilweise extrem
übertriebenen und nachweisbar sowie nachweislich falschen Urteile
über das Christentum im allgemeinen und die Deutschen im besonderen
scheint er direkt aus Nietzsches Büchern, besonders aus den Nietzsches
Einlieferung in die Irrenanstalt bereits andeutenden Büchern abgeschrieben
zu haben. Erst seit Sloterdijk seine Reife bzw. seinen Herbst
(**|**)
erreichte, hat diese Art der Übertreibung wenigstens insoweit nachgelassen,
als daß seine Inkonsequenz davon unberührt geblieben ist, sich
also seitdem eher bei anderen Themen zeigt. Sloterdijk braucht seine Inkonsequenz,
zu der u.a. seine Fremdwörtersucht (**)
gehört, weil sie jene schon erwähnte Spirale (**)
stabilisiert, die ihn bei seiner Entwicklung schützt. Der größte
Teil meines Immunsystems ist meine Inkonsequenz - mein Vorschlag
für den Titel eines seiner nächsten Bücher.
Man sollte Sloterdijks Inkonsequenz dennoch nicht
immer nur negativ bewerten. Als Strategie und als Ergebnis aus
einer Mischung aus Eitelkeit, Übertreibung, Skepsis, Widersprüchlichkeit,
Ironie (einschließlich Selbstironie), Romantik, Idealismus, Realismus,
Existenz-/Lebensphilosophie, Phänomenologie, Postmodernität
und Erzählkunst hat sie auch eine nicht zu unterschätzende positive
Seite. Sie erscheint dann eher als eine Gelassenheit, die Sloterdijk ja
ohnehin gern einfordert, so wie er es von seinem Denk-Trainer
Heidegger gelernt hat. Außerdem ist Sloterdijk nur der Präsident
seiner, weil von ihm selbst ausgewählten Eintracht Einfluß
auf Peter Sloterdijk. Auch ein solcher Präsident ist kein Gott,
noch nicht einmal ein Denk-Fußballgott.
Danksagung an den Präsidenten
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Ich möchte Sloterdijk ganz sicher nicht herabsetzen, denn
er ist derjenige Schriftsteller, dem ich zu verdanken habe, daß
ich bisher 32 seiner Bücher lesen konnte ( ).
Bis heute hat kein anderer Schriftsteller als eben nur Sloterdijk mich
bewegen können, 32 seiner Bücher zu kaufen, zu lesen und im
Endeffekt immerhin 30 davon positiv zu bewerten. Die schrecklichen
Kinder der Neuzeit, Nicht gerettet, Zorn und Zeit,
Sphären II, Du mußt dein Leben ändern,
Im Weltinnenraum des Kapitals, Sphären III,
Die Sonne und der Tod, Sphären I, Die
nehmende Hand und die gebende Seite, Kritik der zynischen
Vernuft, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, Falls
Europa erwacht, Im selben Boot, Regeln
für den Menschenpark, Eurotaoismus,
um nur diejenige Hälfte, d.h. diejenigen 16 Bücher zu nennen,
die ich in dieser Reihenfolge am meisten positiv bewertet habe (**),
während ich von der anderen Hälfte, d.h. von den anderen 16
Büchern immerhin 14 Bücher ebenfalls positiv, wenn auch weniger
positiv, und nur 2 Bücher negativ bewertet habe. Wer von 32 gelesenen
Büchern 30 positiv bewertet, hat eine Ausbringung von 93,75%. Das
ist bei 32 gelesenen Büchern eine beachtliche Ausbringung. Es gibt
nur wenige Schriftsteller, die bei mir dieses oder ein ähnliches
Ergebnis erreicht haben. Bei mir ist Peter Sloterdijk quantitativ (32
Bücher) auf Rang 1 und qualitativ (93,75% positiv / 6,25% negativ)
auf Rang 13 zu finden, was hinsichlich beider, d.h. im Mittel von Quantität
und Qualiät immerhin Rang 7 bedeutet. 
Das Großwerk will zerlegt sein! -
Eine Rezension der drei Bücher des Sphären-Werkes: (I) Blasen
(1998), (II) Globen (1999), (III) Schäume
(2004).
Die Sphären-Trilogie ist in der Tat ein Großwerk, eine großartige
Leistung Sloterdijks (**). Die Mikrosphärologie
Blasen erschien 1998, die Makrosphärologie Globen erschien
1999, die Pluralsphärologie Schäume erschien 2004.
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Das Projekt »Sphären« läßt sich
auch als Versuch verstehen, das in
Heideggers Frühwerk subthematisch eingeklemmte Projekt Sein
und Raum
- in einem wesentlichen Aspekt zumindest - aus seiner Verschüttung
zu bergen.
Wir sind der Meinung, daß von Heideggers Interesse an Verwurzelung
durch eine Theorie der Paare, der Genien, der ergänzten Existenz
soviel zu
seinem Recht kommt, wie überhaupt von ihm gerettet werden kann.
(Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger
2001, S. 403 **).
Diese Monsterbuch mit seinen 2550 Seiten müßte
eigentlich,
wenn es nicht Sphären hieße, Sein und Raum
heißen.
(Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 230 **).
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Der Titel Sphären ist als anthropologischer Begriff (**|**)
und kulturtheoretisch zu verstehen. Er verweist auf Sloterdijks spenglerianische
Leitthese, nach der das Leben eine Formsache ist (**):
So wie Oswald Spengler (**)
nach Johann Wolfgang (von) Goethes Morphologie (**),
so will Sloterdijk den Versuch wagen, nach Oswald Spenglers ...
Morphologie der Weltgeschichte (**)
wieder einem Formbegriff eine höchstrangige Stellung in einer anthropologischen
und kulturtheoretischen Untersuchung zuzuweisen. (Peter Sloterdijk,
Sphären I - Blasen, 1998, S. 78). Sloterdijk will räumlich
stets im Uterus beginnen: Der Humanraum ist buchstäblich
ab utero, zunächst bipolar, auf entwickelteren Stufen pluripolar
geformt; er besitzt die Struktur und Dynamik eines beseelten Ineinandergreifens
von Lebewesen, die auf Nähe und Teilhabe aneinander angelegt sind
.... Der Mensch, sofern er das Wesen ist, das »existiert«,
ist das Genie der Nachbarschaft. Heidegger (**)
hat das in seiner kreativsten Zeit auf den Begriff gebracht: Sind Existierende
zusammen da, halten sie sich »in derselben Sphäre von Offenbarkeit«.
Sie sind füreinander erreichbar und doch einander transzendent -
eine Beobachtung, die zu unterstreichen die Denker des Dialogs nicht müde
werden. Aber nicht nur Personen, auch die Dinge und die Umstände
werden auf ihre Weise vom Prinzip Nachbarschaft erfaßt. Deswegen
bedeutet »Welt« für uns den Zusammenhang von Zugangsmöglichkeiten.
»Dasein bringt schon die Sphäre möglicher Nachbarschaft
mit sich; es ist von Hause aus schon Nachbar zu ....« (Martin Heidegger,
Einführung in die Metaphysik, 1935, S. 138). Steine, die nebeneinander
liegen, kennen das ekstatische Offensein füreinander nicht. Nicht
alle geben das zu. (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume,
2004, S. 14-15). Sloterdijks Trilogie-Werk müßte eigentlich,
wenn es nicht Sphären hieße, Sein und Raum heißen
(Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 230);
ja, es ist als Anschlußprojekt zu Heideggers »Sein und
Zeit« (**)
zu verstehen und beschreibt aus philosophisch-anthropologischer Sicht
die kulturelle Entwicklung der Menschheitsgeschichte. Der kugelförmige
Raum mit seiner mehr oder weniger starken Ausdehnung gehört Sloterdijk
zufolge zu den wichtigsten Grunderfahrungen und Grundstrukturen des Lebens.
Die Auseinandersetzung mit der sphärischen Lebenswelt des Menschen
eröffne einen Blick auf den Menschen selbst. (Florian Langenscheidt,
Das Beste an Deutschland - 250 Gründe, unser Land heute zu lieben,
2006, S. 318). Sloterdijks spenglerianische Leitthese, nach der das Leben
eine Formsache ist, suggeriert, daß Leben, Sphärenbilden
und Denken verschiedene Ausdrücke für dasselbe sind, so
Sloterdijk.
In Sloterdijks Trilogie-Projekt ist es sogar möglich,
mit dem dritten Teil von Sphären zu beginnen, als ob er der
erste wäre. Er ist es in gewisser Hinsicht tatsächlich, weil das
Unternehmen im ganzen nur von seinem abschließenden Pol her zu überblicken
ist. .... In den beiden vorausgehenden Bänden wird der Versuch unternommen,
dem Ausdruck Sphäre den Rang eines Grundbegriffs zu verleihen,
der sich in topologische, anthropologische, immunologische, semiologische
Bedeutungsaspekte verzweigt.
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Jede Lage im Schaum bedeutet eine
auf die eigene Blase
bezogene relative Verschränkung von Umsicht und Blindheit;
jedes In-der-Welt-Sein, als Im-Schaum-Sein verstanden,
eröffnet eine Lichtung im Undurchdringlichen.
(Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004,
S. 63). |
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Sphären I schlägt eine (der Autor meint: stellenweise neue)
Beschreibung des menschlichen Raumes vor, die betont, daß durch das
nahe Zusammen-Sein von Menschen mit Menschen ein bisher zu wenig beachtetes
Interieur gestiftet wird. Wir nennen dieses Innen die Mikrosphäre und
charakterisieren es als ein sehr empfindliches und lernfähiges seelenräumliches
(wenn man will moralisches) Immunsystem. Der Akzent wird auf die These gesetzt,
daß das Paar gegenüber dem Individuum die wirklichere Größe
darstellt - was zugleich bedeutet, daß die Wir-Immunität gegenüber
der Ich-Immunität das tiefere Phänomen verkörpert. In einer
Zeit, die auf die Elementarteilchen (**)
und die Individuen schwört, versteht sich eine solche These nicht von
selbst. .... In Sphären II werden aus Einsicht in die ekstatisch-surreale
Natur des erlebten und bewohnten Raums Konsequenzen gezogen. Dies geschieht
in Form einer großen Erzählung über die Expansion des Seelischen
im Zuge von imperialen und kognitiven Weltbesetzungen. .... Sphären
III, Schäume, bietet eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters
unter dem Gesichtspunkt, daß das »Leben« sich multifokal,
multiperspektivisch und heterarchisch entfaltet. Ihr Ausgangspunkt liegt
in einer nicht-metaphysischen und nicht-holistischen Definition des Lebens:
Seine Immunisierung kann nicht mehr mit Mitteln der ontologischen Simplifikation,
der Zusammenfassung in der glatten Allkugel, gedacht werden. Wenn »Leben«
grenzenlos vielfältig räumebildend wirkt, so nicht nur, weil jede
Monade (**)
ihre je eigene Umwelt hat, sondern mehr noch, weil alle mit anderen Leben
verschränkt und aus zahllosen Einheiten zusammengesetzt sind. Leben
artikuliert sich auf ineinander verschachtelten simultanen Bühnen,
es produziert und verzehrt sich in vernetzten Werkstätten. Doch was
für uns das Entscheidende ist: Es bringt den Raum, in dem es ist und
der in ihm ist, jeweils erst hervor. (Peter Sloterdijk, Sphären
III - Schäume, 2004, S. 13-16 und 23-24). Vgl. auch: Schaum-Theorie
(**),
Schaum-Metapher (**),
Neo-Monadologie (**).
Es bleibt zu fragen, ob es stimmt, daß wir in einer Zeit leben,
die Sloterdijk zufolge auf die Individuen schwört, schwört
doch Sloterdijk selbst in seinem ersten Sphärenbuch Blasen
noch auf das von Nietzsche ihm angepriesene Dividuum. Aus
den Dividuen der Blasen haben die Globen wohl
Individuen der Schäume gemacht. Doch wenn es trotzdem
so ein sollte, daß unsere Zeit der Schäume Sloterdijk zufolge
auf die Individuen schwört, dann schwört
sie nach meinem Dafürhalten nur dann auf die Individuen,
wenn es um den Konsumismus geht, ansonsten aber überhaupt nicht.
Abgesehen davon, daß wir das Wort Individuen durch das
Wort Einzelwesen oder das Wort Personen ersetzen
sollten, um von Sloterdijk verursachte Mißverständnisse zu
vermeiden, ist doch immer noch wahr, daß jeder Lohnabhängige
im Abendland viel mehr arbeiten muß, als es nötig wäre,
wenn er als jenes Individuum, genauer nämlich als Einzelwesen,
als Person anerkannt wäre. Die Arbeit als solche erfordert nicht
mehr, sondern weniger investierte Zeit, weil immer mehr Maschinen immer
mehr Menschen ersetzen, weil sie immer mehr gelernt haben und folglich
immer mehr leisten können, wodurch Menschen immer mehr ins Abseits
gedrängt, nämlich überflüssig werden. Immer weniger
Menschen werden auf dem Arbeitsmarkt benötigt. Diese immer weniger
werdenden Menschen sind einem Konkurrenzkampf ausgeliefert wie nie zuvor,
werden nicht oder kaum noch von Gewerkschaften unterstützt, weil
der Globalismus diese verbietet, zwar nicht - wie der staatliche Kommunismus
dies tut - durch vom Staat direkt erlassene Gesetze, sondern durch private
Interessen, die auf zweiter Ebene durch ebenfalls private, also nicht-staatliche
und auf dritter Ebene durch staatliche Institutionen zu Gesetzen werden.
Insofern haben wir es beim Globalismus mit einem Monopolismus und damit
verbundenem Kommunismus privat gelenkter Art zu tun.
Offenbar ist Sloterdijks sphärische Trilogie ein Ausgleichsversuch
zwischen Idealismus und Skeptizismus - deshalb meine Frage: Neuerer
Idealismus (Neuere Akademie) oder Jüngere Lebensphilosophie
(Jüngerer Skeptizismus)? (**).
Der Ausgleich zwischen den manischen und den skeptischen Tendenzen
... ist in der Gleichung auszudrücken: Aufschwung minus Abschwung
gleich Null - man darf hiebei an Heraklits Diktum denken, der Weg hinauf
und der Weg hinab seien derselbe. (**|**).
Naturgemäß kann man für Aufschwung auch Enthusiasmus einsetzen
oder Übertriebenheit und Antigravitation, für Abschwung wären
Skepsis, Parodie und Schwerkraft sinnvolle Ersatzausdrücke,
so der Literaturkritiker (**)
im Gespräch über das Oxymoron, denn für ihn geht
es in Sloterdijks Büchern darum, den poetischen Elan in Kooperation
mit der Skepsis zu bringen. (**)
.... Den Schlüssel zu seiner Arbeitsweise hat der Autor ... in der
Einleitung zu dem Band Globen versteckt (**)
.... Das Sphärenwerk ist, von seinem Mittelteil her beurteilt, nichts
anderes als ein Essay über den Superlativ, es beschreibt seine intimen
Anfänge, seinen monologischen Triumph, seine pluralistische Transformation
.... (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume,
2004, S. 872, 862, 867). Sloterdijk hat, so der Makrohistoriker
(**)
im Gespräch über das Oxymoron, die Menschheitsgeschichte
auf einen triadischen Nenner gebracht: Der neolithische Einschnitt
trennt das altsteinliche Jäger-und-Sammler-Weltalter von den folgenden
agrokulturellen Zivilisationen mitsamt ihren Königsherrschaften und
befehlenden Administrationen; der industrielle Einschnitt wiederum trennt
seit wenig mehr als zweihundert Jahren das Weltalter der trägen lokalen
Herrschaften von den beschleunigten Lebensformen der Modernität.
Wenn diese Drei-Reiche-Lehre, wenn ich so sagen darf, an eine gewisse
idealistische Prozeßtheorie (**)
erinnert - tant pis für Hegel (**)
und die Seinen. .... Wir Makrohistoriker verstehen uns als skeptische
Nachkommen der Universalhistoriker (**)
.... Die Trilogie ... ist ... ein Geschichtsbuch, eine große Erzählung
von den Weisen des In-der-Welt-Seins (**)
in den drei Stadien oder Verfassungen der Zivilisation - dem Jäger-und-Sammler-Zeitalter,
dem Agroimperien-Zeitalter und dem technischen Zeitalter. .... Die Moderne
ist, um mit dem Autor zu sprechen, die Ära der zunehmenden Kofragilität
.... Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, will ich für meinen
Teil feststellen, ... daß hier der Versuch unternommen wurde, die
Geschichte der Menschen als Raumgeschichte zu erzählen, genauer,
als eine Geschichte der Raumerzeugung und der Raumorganisation.
(Ebd., S. 860, 861, 867f., 869, 884). Verschiedene endliche Größen
seien im Verhältnis zum Unendlichen gleich, argumentiert der Theologe
(**)
im Gespräch über das Oxymoron, und diese Mathematik
des lieben Gottes hatte schon einen gewissen Erbauungswert. Indem sie
alle dazu anhielt, sich als Fast-Nichtse angesichts des Ungeheuren zu
verstehen, trug sie das Ihre dazu bei, das Auseinanderfallen der Christenmenschen
zumindest auf symbolischer Ebene zu verhindern. Zur Zeit fehlt uns eine
solche Rechenart. (Ebd., S. 884).
Unterziehen wir Sloterdijks Trilogie der idealistischen
Dialektik Hegels (**)
- die Blasen (Mikrosphörologie - Sphären I )
als Thesis, die Globen (Makrosphörologie - Sphären
II )
als Antithesis, die Schäume (Pluralsphärologie -
Spären III )
als Synthesis - und verrechnen Idealismus mit Skeptizismus
(abendländischer Skeptizismus ist Lebensphilosohie **),
dann erhalten wir entweder (1.) einen positiven
Restwert (einen idealistischen Optimismus) oder (2.)
einen neutralen Restwert (Null als Ausgleich bzw. als Oxymoron)
oder (3.) einen negativen Restwert (einen
skeptizistischen Pessimismus) - wobei Optimismus und Pessimimus
nicht als affektive Gestimmtheiten verstanden werden dürfen! (Vgl.
ebd., S. 873f.). Das Oxymoron (das Scharf-Stumpfe) wäre
hier als süßbitter oder bittersüß,
als leichtschwer oder schwerleicht, als geglücktgescheitert
oder gescheitertgeglückt, als Glückselend oder
Elendsglück, als gelehrte Unwissenheit (docta ignorantia;
N. von Kues **)
oder unwissende Gelehrtheit u.s.w. zu definieren. (Vgl. ebd.,
S. 877f. und 883). Doch, so weiß der Theologe (**)
im Gespräch über das Oxymoron: Drei Viertel der
Menschheit (**)
bleiben bis auf weiteres von den Chancen des Wohlstandsklimas ausgeschlossen,
soviel sich heute erkennen läßt. Angesichts der Kürze
des Lebens bedeutet »bis auf weiteres« für immer. Die
moralischen Implikationen dieser Feststellung sind nicht leicht absehbar.
Auch sie stellen eine Art von Oxymoron dar, jedoch eines, in dem das Bittere
überwiegt. (Siehe 3.). Wäre die
Menschheit ein höherstufiges Subjekt, wie die Idealisten (**)
sich ausdrücken, dürfte man von ihr behaupten, sie sei als ganze
eine gescheitertgeglückte. (Siehe 2.).
Aber das wäre zu erbaulich. Die oxymorische Form versagt hier, weil
die Menschheit, solange eine Universalkultur des Ausgleichs nicht entwickelt
wurde, keinen Akteur verkörpert, dem etwas teils gelingen, teils
mißlingen könnte. Das Ungeheure ist die Spaltung selbst: hier
gelingt etwas fast ganz, und dort mißlingt etwas fast ganz. Das
Gelingen und das Scheitern verteilen sich über Situationen, die kaum
miteinander kommunizieren. Sie bilden die härteste Differenz, die
wir denken können, vielleicht sogar eine härtere als die von
Tod und Leben. .... Eine Mitte gibt es nicht. Wer wollte da eine Synthese
wagen, die keine billige Lüge wäre? .... Auf unabsehbare
Zeit bleiben die Chancen zum gelingenden Leben zwischen den Reichtumszonen
und den Armutszonen so asymmetrisch verteilt, daß die Spannung ins
Unerträgliche steigen muß. (Ebd., S. 882-883).
Nur wenn die abendländische Kultur (seit ihrer Moderne: Zivilisation
**)
- sich auch abgrenzt, ihre Grenzen zukünftig stärker als gegenwärtig
schließt, bleibt ihr auch weiterhin ihr Reichtum als Süße.
(Siehe 1.). Gerade weil der umgekehrte Eindruck
entstehen kann, ja soll, damit das Oxymoron (siehe
2.) in Erinnerung bleibt, wird durch das erwähnte Problem
der globalen Drei-Viertel-Armut die Vermutung nahegelegt, daß das
Ergebnis aus der Verrechnung von Idealismus (**)
und Skeptizismus (**),
das Ergebnis aus Sloterdijks Trilogie derjenige skeptizistische Pessimismus
(siehe 3.) ist, der den idealistischen
Optimismus (siehe 1.) in erhöhter
Form in sich bewahrt, aufhebt (**).
Hegels Dialektik (**)
bestätigt unsere Vermutung: der Lebensphilosoph Sloterdijk ist ein
abendländischer Skeptizist (**),
der den Idealismus (**)
in erhöhter Form in sich bewahrt hat. (Vgl. Hegels Aufheben
**).
Der umgekehrte Eindruck kann, ja soll entstehen, und zwar dann, wenn Sloterdijk
diese Behauptung negiert - das heißt: die Thesis durch die
Antithesis aufhebt (**),
um unangreifbar bleiben zu können, denn Sloterdijks Spaß an
Sprachspielen und Parodien kennt keine Grenzen, und bei bewußter
Überlegenheit nennt Sloterdijk auch gern den Heger der Sympathien
für alle Übertreibungen: die Skepsis (**).
Die Philosophie kann und will ja auch, wie Sloterdijk 2005 behauptete,
kunstmäßig betrieben werden als eine Quasi-Wissenschaft
von den Totalisierungen und ihrer Metaphern, als erzählende Theorie
der Genesis des Allgemeinen und schließlich als Meditation des Seins-in-Situationen
- alias In-der-Welt-Seins (**);
ich nenne das »Theorie der Immersion« oder allgemeine Theorie
des Zusammenseins und begründe von dort her die Verwandtschaft der
jüngeren Philosophie mit der Kunst der Installation. Sloterdijks
Sphären-Projekt ist ein umfangreicher (spenglerianischer)
Versuch, das Erzählerische und das Philosophische auf eine
teils neo-skeptische, teils neo-morphologische Weise miteinander zu konfigurieren,
und manchmal darf bei ihm auch die diskrete Komik das Hauptmerkmal
sein. (Vgl. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005,
S. 14 und 16). Sloterdijk will Morphologie und Skeptizismus (das bedeutet:
Lebensphilosophie inklusive Existenzphilosophie) konfigurieren, wobei
Heideggers Existenzialien (In-Sein, In-der-Welt-Sein
u.a.) für ihn eine besondere Rolle spielen.
 |
| Der Versuch dieser Zusammenfügung
macht - für mich auf jeden Fall - Sloterdijk so sympathisch. Skeptizismus
oder Skepsis muß man von Kritizismus oder Kritik eindeutig unterscheiden
(können): Skepsis ist der Habitus, das Überzogene am Gewöhnlichen
auflaufen zu lassen und endgültige Ergebnisse stets als vorläufige
hinzustellen. .... Anders als der Kritizismus, der an Herabsetzungen interessiert
bleibt, hegt die Skepsis Sympathien für Übertreibungen aller
Art, im Bewußtsein, ihnen nicht erliegen zu müssen. (Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S.
263 und 273).
Ein anderer Skeptiker bzw. Skeptizist soll deshalb zitiert werden:
Die systematische Philosophie liegt uns heute unendlich fern;
die ethische ist abgeschlossen. Es bleibt noch eine dritte, dem antiken
Skeptizismus entsprechende Möglichkeit innerhalb der abendländischen
Geisteswelt, die, welche durch die bisher unbekannte Methode der
vergleichenden historischen Morphologie bezeichnet wird. Eine Möglichkeit,
das heißt eine Notwendigkeit. Der
antike Skeptizismus ist ahistorisch: er zweifelt, indem er einfach nein
sagt. Der des Abendlandes muß, wenn er innere Notwendigkeit besitzen,
wenn er ein Symbol unseres dem Ende sich zuneigenden Seelentums sein
soll, durch und durch historisch sein. Er hebt auf, indem er alles als
relativ, als geschichtliche Erscheinung versteht. Er verfährt physiognomisch.
Die skeptische Philosophie tritt im Hellenismus als Negation der Philosophie
auf - man erklärt sie für zwecklos. Wir nehmen demgegenüber
die Geschichte der Philosophie als letztes ernsthaftes Thema
der Philosophie an. Das ist Skepsis. Man verzichtet auf absolute
Standpunkte, der Grieche, indem er über die Vergangenheit seines
Denkens lächelt, wir, indem wir sie als Organismus begreifen. In
diesem Buche liegt der Versuch vor, diese »unphilosophische Philosophie«
der Zukunft - es würde die letzte Westeuropas sein - zu skizzieren.
Der Skeptizismus
ist Ausdruck einer reinen Zivilisation; er zersetzt das Weltbild der
voraufgegangenen Kultur. Hier erfolgt die Auflösung aller älteren
Probleme ins Genetische. Die Überzeugung, daß alles, was
ist, auch geworden ist, daß allem Naturhaften und Erkennbaren
ein Historisches zugrunde liegt, ... auch Ausdruck eines Lebendigen
sein muß. Auch Erkenntnisse und Wertungen sind Akte lebender Menschen.
Dem vergangenen Denken war die äußere Wirklichkeit Erkenntnisprodukt
und Anlaß ethischer Schätzungen; dem künftigen ist sie
vor allem Ausdruck und Symbol. Die Morphologie der Weltgeschichte
wird notwendig zu einer universellen Symbolik. Damit fällt
auch der Anspruch des höheren Denkens, allgemeine und ewige Wahrheiten
zu besitzen. Wahrheiten gibt es nur in bezug auf ein bestimmtes Menschentum.
Meine Philosophie selbst würde demnach Ausdruck und Spiegelung
nur der abendländischen Seele, im Unterschiede etwa von
der antiken und indischen, und zwar nur in deren heutigem zivilisierten
Stadium sein, womit ihr Gehalt als Weltanschauung, ihre praktische Tragweite
und ihr Geltungsbereich bestimmt sind. Also: Es besteht
die Möglichkeit einer dritten und letzten Stufe westeuropäischer
Philosophie: die eines physiognomischen Skeptizismus. Das Geheimnis
der Welt erscheint nacheinander als Erkenntnisproblem, Wertproblem,
Formproblem. Kant sah die Ethik als Erkenntnisgegenstand, das 19. Jahrhundert
sah die Erkenntnis als Gegenstand der Wertung. Der Skeptiker würde
beides lediglich als historischen Ausdruck einer Kultur betrachten.
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes - Umrisse einer Morphologie
der Weltgeschichte, 1918, S. 63-64 und 481 **)
Sloterdijk zufolge war es bereits ein genialischer
Gewaltstreich, Kulturen insgesamt als »Lebewesen höchsten Ranges«
zu isolieren und diese zu fensterlosen Einheiten zu erklären, die
ganz nach immanennten Gesetzen aufgehen und verfallen, und erst recht
konnte es nicht ohne Forcierung abgehen, wenn Spengler seine Kulturen
als jeweils tausendjährige Reiche einer regionalen Seelenstimmung
deuten wollte - gewissermaßen als Seifenblasen höchster Ordnung,
die durch Innenspannungen okkulter Natur in Form gehalten würden.
(Peter Sloterdijk, Sphären I - Blasen, 1998, S. 79).
Die Seifenblasen sind nun aber eher Sloterdijks
Sache. Sloterdijk verkennt, wenn er der Anwendung morphologischer
Begriffe in den Kulturwissenschaften ... eher entmutigende Wirkungen
(ebd.) unterstellt, daß die heutigen von ihm als Kulturwissenschaften
bezeichneten Geldempfänger-Wissenschaften mehr noch als
alle anderen Wissenschaften sind, weil sie sich vom Geld abhängig
gemacht haben, also korrupt geworden sind. Sie dienen nicht mehr der Wissenschaft
und damit der Erkenntnis. Der von Sloterdijk Spengler zugestandenen Ehrenplatz
in der Geschichte der Kulturphilosophien ist von daher mehr wert
als irgendeine Anwendung morphologischer Begriffe in den Kulturwissenschaften
(ebd.), so daß ich Sloterdijks Aussage zwar ähnlich formuliere,
aber dabei die Rollenwerte vertausche: Spenglers Rolle für die Erkenntnis
ist gerade aufgrund seiner morphologisch ausgerichteten Kulturphilosophie
wertvoller als die Sloterdijks, die nämlich den korrupten Vorgaben
folgt, wenn sie suggeriert, mehr kulturwissenschaftlich
als kulturphilosophisch ausgerichtet zu sein, denn Sloterdijk begründet
seine Rolle ja auch noch: Unser eigener Versuch
kann daher einem solchen Modell nicht allzuviel verdanken - es sei denn
eine eindrucksvolle Belehrung über das, was in Zukunft zu meiden
ist (ebd.). Sind aber seine Übertreibungen, seine Psychologismen
und Soziologismen - abgesehen davon, daß sie mit Wissenschaft nichts
zu tun haben - für die Erkenntnis, welche auch immer, besser geeignet?
Ich sage: Nein.
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Sphären (3 Bände, 1998-2004)
ist ein opus magnum, das sich sowohl vom Umfang als auch von
der Bedeutung her hinter dem Untergang des Abendlandes oder
dem Geist als Widersacher der Seele nicht verstecken muß.
Seine These lautet, Leben bedeutet Sphären zu bilden.
Von der Blase, in der sich der Mensch im Mutterleib befinde,
über die Globen als begreifbaren Vorstellungskosmos bis
hin zu den Schäumen, in denen wir existieren, ohne es
wahrhaben zu wollen. Neben diesem anthropologischen Ansatz verfolgt
Sloterdijk die Absicht, die große Erzählung der Menschheit
zu schreiben, ohne dabei im Seienden stehenzubleiben; getreu Heideggers
Satz: »Der vulgäre Verstand sieht vor lauter Seiendem die
Welt nicht«. Die unfaßbare Komplexität der Wirklichkeit
ordnet Sloterdijk, im Anschluß an Spenglers Morphologie, in
Sphären, um sie so theoretisch beschreiben zu können. Darauf
aufbauend, entwickelt er mit Im Weltinnenraum des Kapitals
Grundlagen für eine philosophische Theorie der Globalisierung.
Wiederum in einem Drei-Phasen-Modell (**|**)
schildert er den Vorgang von der antiken Kosmologie über die
»terrestrische Globalisierung« bis hin zur seitdem einsetzenden
und bis heute anhaltenden Auflösung (Sloterdijk spricht von Kompression")
des globalen Raums in der Kommunikation. (Erik Lehnert, Autorenporträt
Peter Sloterdijk, in: Sezession, Juni 2008 ). |
Im Gegensatz zu der eben angesprochenen Textstelle (**),
die sich in der Einleitung auf Seite 79 des 1. Bandes befindet (**),
bewertet Sloterdijk an sehr vielen anderen Textstellen Spengler positiv
(**|**|**|**|**|**|**|**|**|**).
Der Grund ist der, daß Sloterdijk sich hin und wieder bedeckt hält,
weil hier das gilt, auf das ich weiter unten in einer anderen Rezension
noch näher eingehen werde: Sloterdijk möchte Anerkennung und
muß dem entsprechen, was nicht tabuisiert ist, zumindest aber dem
entsprechen, was als schick gilt, und Werte wie Wahrheit,
Tatsächliches, Formales, Konservatives, denen auch Spengler zugeneigt
war, sind mittlerweile von den Nihilisten zum Abschuß freigegeben,
jedenfalls nichts, was der Mode entspricht, und die Mode dominiert vieles.
(**). In Wirklichkeit kann man
auf jene Werte gar nicht verzichten. Wäre es anders, wären sie
von den Nihilisten nicht zum Abschuß freigegeben. Diejenigen,
die darauf verzichten, gehen eines der höchsten Risiken ein. Das
ist schlimm und dumm genug, soll hier aber nicht weiter unser Thema sein.
Sloterdijk ist ein Sprachvirtuose - und das weiß er natürlich.
Er versteckt seine Unsicherheit und Abwehrhaltung gegenüber Vereinnahmungen
hinter Fremdwörtern (**)
und Metaphern; er bleibt eitel, inkonsequent (**|**|**|**|**),
übertreibend, skeptisch (**),
widersprüchlich (**|**|**),
der Romantik, Ironie (**)
und Selbstironie zuneigend; er gibt gelegentlich Unwahrheiten, an die
er selbst nicht glaubt, von sich, um sie später ins Gegenteil zu
verkehren, weil er in Wahrheit doch an die Wahrheit glaubt. Auch darauf
werde ich später näher eingehen (**|**).
In Wahrheit glaubt Sloterdijk an die Grundlinie des von Spengler
richtig prophezeiten Endes jeder Kultur (**):
an den Zustand, in dem es unmöglich ist, zu entscheiden, ob
die Einzelnen außergewöhnlich fit oder außergewöhnlich
dekadent sind (**).
Sloterdijk braucht Spengler als Ideentrainer (**),
möchte ihn progressiv fruchtbar machen (**),
empfiehlt ihn als einen Experten in Primärraumfragen
(**).
Diese und viele andere positive Aussagen Sloterdijks über Spengler
kehren die von mir oben zitierte (**)
negative Aussage Sloterdijks über Spengler um 180 Grad um. Sloterdijks
Widersprüche und Sprachzaubereien sind typisch für seinen Schlingerkurs.
Dieser Schlingerkurs hat System, wie schon gesagt. Wenn also Sloterdijk
sagt, sein Versuch einer Sphärologie könne dem Spenglerschen
Modell nicht allzuviel verdanken (**)
kann man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen,
daß er aus eben genannten Gründen flunkert.
Sonst sind Hegel und besonders Nietzsche und Heidegger bei Sloterdijk
im Vordergrund, hier aber: Spengler, Heidegger, Luhmann. Sloterdijk will
die Nachfolge Spenglers und Heideggers, denn Sloterdijk will Spenglers
Kulturmorphologie (aber möglichst ohne Untergang, denn der
ist nicht schick) wegen dessen Raumphilosophie und Heideggers
Daseinsanalyse (aber möglichst ohne Sein zum Tode, denn das
ist nicht schick) wegen dessen Seins- und Daseinsphilosophie
(Existenzphilosophie), und beide können zu einer Systemtheorie Luhmannscher
Art zusammengefaßt werden, weil Sloterdijk die Immunsysteme auch
im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie auffaßt (**),
sie auf Paare und größere Kollektive, später rein schaumtheoretisch
auch auf Personen als Individuen, die sie aber wegen ihrer Fragilität
nicht wirklich sein können, so anwendet, daß sie in einem jeweiligen
Raum sind (existieren), der ihr jeweiliges Immunsystem bildet - angefangen
beim Uterus. Die Grundlagen bieten der Raum (bei Spengler: die Kulturen,
die ja ebenfalls als räumliche Immunsysteme zu verstehen sind) und
das Sein, und zwar genauer das Dasein (bei Heidegger: das menschliche
Dasein, wobei das Morphem [kleinstes bedeutungstragendes Element der Sprache]
bzw. das Adverb [zum Verb gehöriges Umstandswort] Da
im Substantiv Dasein schon das Räumliche andeutet, das
zum Verb sein [siehe: da sein] bzw. ontologisch
zum Begriff Sein [siehe: Da-Sein] gehört).
Spengler, Heidegger, Luhmann sind diejenigen, dessen unmittelbare Nachfolge
Sloterdijk antreten will. Er will Spenglers angeblichen Pessimismus
(obwohl der nur Realismus und Objektivismus war) und Heideggers Nähe
zum Nationalsozialismus (obwohl die nur von sehr kurzer Dauer war) lieber
beiseite lassen, weil beide zwar einer früheren, aber nicht mehr
der heutigen Mode (**|**)
entsprechen. Ansonsten jedoch sind beide - Spengler und Heidegger - wie
auch Luhmann seine Lehrer und Meister, und zwar trotz der Tatsache, daß
diese ihrerseits von Lehrern und Meistern beeinflußt waren, deren
Namen hier aufzuführen ich mir jetzt erspare: ich hätte nämlich
bis zu Leibniz zurückzugehen - und tatsächlich: auch Leibniz
spielt in Sloterdijks Philosophie eine nicht zu unterschätzende Rolle,
besonders in Sloterdijks sphärologisch-schaumtheoretischer Neo-Monadologie
(**|**|**).
Und was ist mit der Frage: Blasen Globen Schäume??
Das ist eine gute Frage. Eher ist es aber so: Blasen vergloben zu
Schäumen. Das nennt man dann Globalisierung oder:
Globen blasen Schäume. Zwischen der Zeit, in der ausschließlich
Blasen die Immunverhältnisse regeln, und der Zeit, in der die Schäume
die Immunverhältnisse regeln, muß es eine andere Zeit geben,
die jene beiden miteinander verbindet, eine Übergangszeit also. Das
ist die Zeit der Globen, der Globalisierung mit dem Endprodukt Globalismus,
der uns die Schäume zeigt, weil die Globalisierung die meisten Blasen
durch Urbanisierung erst nur zu relativ kleinen und mittleren Schäumen
(Städten), dann aber zu großen Schäumen (Großstädten)
und sogar zu Weltschäumen (Weltstädten) gemacht und so den Globus
zum Schäumen gebracht hat.
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Die Zeit gebiert den Raum, der
Raum aber tötet die Zeit. (Oswald Spengler, Der Untergang
des Abendlandes, 1918, S. 224 **).
Das Dasein hat selbst ein eigenes »Im-Raum-sein«,
das aber seinerseits nur möglich ist auf dem Grunde des
In-der-Welt-seins überhaupt. (Martin Heidegger, Sein
und Zeit, 1927, S. 56 **)
Als Ausgangspunkt jeder systemtheoretischen Analyse hat, darüber
besteht heute wohl fachlicher Konsens, die Differenz von System
und Umwelt zu dienen. (Niklas Luhmann, Soziale Systeme,
1984, S. 35 **).
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Kein anderer als Spengler war es, der das zuerst verdeutlicht hat, besonders
in dem Kapitel Städte und Völker (**)
seines Hauptwerkes Der Untergang des Abendlandes (1918-1922),
so daß Sloterdijk von ihm nur hätte abschreiben müssen
(oder hat er das auch getan und danach die Wörter im Text nur etwas
umgestellt?). Einer der vielen Abschnitte innerhalb des zu dem eben genannten
Kapitel gehörenden Unterkapitels Die Seele der Stadt
(**)
heißt: Weltgeschichte ist Stadtgeschichte (**).
Der letzte dieser vielen Abschnitte heißt: Unfruchtbarkeit
und Zerfall (**).
In Spenglers Hauptwerk und speziell in jenem genannten Kapitel ist Sloterdijks
Sphären-Trilogie fast komplett vorweggenommen. Ist Sloterdijk somit
ein Scharlatan? Nein, denn er hat ja seinen eigenen Text vorgelegt, aber
der Inhalt dieses Textex bzw. die ihm zugrunde liegenden Gedanken wurden
schon 1918 und 1922 von Spengler veröffentlicht, nämlich in
seinem zwei Bände umfassenden Hauptwerk. Auch das geamte Skepsis-Thema
ist schon in Spenglers Hauptwerk ausführlich besprochen. Sloterdijks
Sphären-Trilogie ist und bleibt eine aus dem Geist der Skepsis
heraus entstandenes Werk. Diese Sphären-Trilogie könnte auch
Sein und Raum heißen - die Ähnlichkeit mit
Heideggers Sein und Zeit (1927) ist nicht zufällig,
verweist aber auch wiederum auf Spengler, weil er sich noch mehr als Heidegger
auf den Raum bezogen hat. Und das ist gut so - selbst dann, wenn Sloterdijk
manchmal nicht so gerne direkt in einer Einleitung zugeben will, wem er
was zu welchen Anteilen zu verdanken hat, dann dies im Verlauf des gesamten
weiteren Textes aber doch immer wieder ekennen läßt und dadurch
indirekt zugibt. Sloterdijk hat eine von Spengler und Heidegger raum-und-zeit-philosophisch
und von Luhmann systemtheoretisch vorbereitete Sphärologie vorgelegt.
Sloterdijks Sphärologie ist deshalb trotzdem kein komplettes Plagiat.
Doch Sloterdijk sollte zugeben, daß er vieles anderen verdankt.
Sloterdijk will das menschliche Sein einerseits so
wie Spengler entweder nur einem Raum, nämlich der Natur (Umwelt)
oder mehreren verschiedenen Räumen, nämlich den Kulturen (**|**),
andererseits so wie Heidegger nur einem Raum, nämlich der Welt zuordnen,
d.h. als ein In-der-Welt-Sein (**)
verstehen, und darum auch nur eine Gesellschaft der Welt zuordnen, was
Luhmann im Rahmen seiner Gesellschaftstheorie ebenfalls getan hat. Luhmann
zufolge gibt es seit Beginn der Moderne - womit nur die abendländische
Moderne gemeint sein kann, was aber bei Luhmann wie nach ihm bei Sloterdijk
unerwähnt bleibt (!!!) - nur noch eine Gesellschaft: die Weltgesellschaft
(**|**|**|**|**|**|**).
Gemäß Luhmanns Systemtheorie gab es vor der Moderne
Gesellschaften mit Differenzierungsformen durch (a) Segmentation (vgl.
Abstammung, Genealogie, Filiation, Überlieferung u.ä.), (b)
Zentrum/Peripherie, (c) Stratifikation, gibt es seit der Moderne
aber nur noch eine Gesellschaft - die Weltgesellschaft - mit
der Differenzierungsform durch (d) Funktion. (**).
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Meine Einteilung der Menschheitsgeschichte in zwei bzw. drei Kulturformen.
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JSAK und
HK |
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JSK und
AHK |
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JSK und
AK und HK |
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(1) Primitivkulturform.
(2) Historienkulturform. |
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(1) Primitivkulturform.
(2) Agri-Historienkulturform. |
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(1) Primitivkulturform.
(2) Agrikulturform.
(3) Historienkulturform. |
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Man kann, wie ich es tue, für die Menschengeschichte eine Zwei- oder
Dreiteilung vornehmen: Steinzeit, Agrarzeit (nur bei einer
Dreiteilung, bei einer Zweiteilung wird sie entweder der Steinzeit oder
der Schriftzeit zugeordnet), Schriftzeit. Ich klammere die Zeit
der abendländischen Moderne (noch) aus, weil ich es noch nicht
als historisch erwiesen erachte, daß sie aus jener Zwei- oder Dreiteilung
eine Drei- oder Vierteilung macht. Das sehen Luhmann und Sloterdijk anders,
weil sie unsere abendländische Moderne als etwas deuten, was
sie nicht oder jedenfalls noch nicht ist: eine Menschheitsmoderne.
Diese Deutung Luhmanns und Sloterdijks (sofern er nicht einfach Luhmann
folgt) und die damit einhergende Angleichung von Menschheitsmoderne
und Weltgesellschaft sind zu verstehen als eine Verabendländisierung
der Welt, eine Verabendländisierung aller Menschen (**|**).
Die Menschheitsmoderne und die Weltgesellschaft
sind Projektionen abendländischer Menschen auf alle Menschen
und die Welt, haben darum mit der Realität nichts zu tun,
wenn man von bestimmten Institutionen, die mittlerweile ihre Regeln über
den Erdball verbreiten, absieht, obwohl sie ebenfalls abendländische
Institutionen sind, und zwar auch dann, wenn sie von nicht-abendländischen
Menschen akzeptiert werden. Das Thema ist eben nur relativ bewertbar.
Solange die Geschichtswissenschaft die Menschheitsmoderne
und die Weltgesellschaft nicht nachweisen kann, werden diese
beiden abendländischen, mehr Wunsch als Wirklichkeit repräsentierenden
Konstrukte noch nicht zu den geschichtlichen Tatsachen gezählt.
Wenn in Sloterdijks Sphärologie der Schaum die Metapher
für die sehr komplexe Gesellschaft gemäß Luhmanns
Systemtheorie ist und es Luhmanns Systemtheorie zufolge gilt, Komplexität
zu reduzieren oder in der entropischen (chaotischen) Komplexität
unterzugehen, dann kann Sloterdijks Schlußfolgerung aus seiner
Sphären-Trilogie eigentlich nur sein, daß es gelten
muß, den Schaum zu reduzieren oder in dem entropischen (chaotischen)
Schaum unterzugehen.
Die schrecklichen Kinder der Neuzeit sollen endlich
lernen! - Eine
Rezension des 2014 erschienenen Buches:
Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische
Experiment der Moderne.
Vorbemerkungen.
Zunächst möchte ich über das hier
inhaltlich zu besprechende Buch sagen, daß ich es trotz der von
Sloterdijk in diesem Buch begangenen, weiter unten erörterten vier
Fehler (**) in meiner Liste der
Top 100 der Bücher ab 1800 an die dritte Stelle gesetzt
habe (**)
und mich für dieses Buch bedanke.
Die in Sloterdijks Werken häufig zu findende Einteilung
der Kultur in drei evolutive bzw. historische Stadien - Frühkultur,
Hochkultur, Spätkultur (diese im Sinne Gehlens verstanden) - deckt
sich nicht mit der Einteilung, die ich mit meiner Kultur- und Geschichtsphilosophie
bevorzuge (**|**).
Das, was ich die bis zur Erfindung der Schrift dauernde, also sehr lange
dauernde menschliche Primitivkultur bzw. Jäger-und-Sammler-Kultur
nenne, nennt er Frühkultur; das, was ich die menschliche
Historienkultur (bestehend aus acht Historienkulturen)
nenne, nennt er Hochkultur, die ihm zufolge von der Schrifterfindungszeit
entweder (a) bis zur Achsenzeit (Jaspers) oder (b) bis zum
späten Mittelalter bzw. zum Beginn der Neuzeit bzw. sogar bis zur
französischen Revolution reicht; die Zeit danach ist gemäß
meiner Kulturtheorie immer noch eine Zeit der Historienkultur (trotzdem
ich diese selbst in Ur/Vor-, Früh-, Hoch- und Spätform eingeteilt
habe), aber für Sloterdijk ist sie die Zeit der Spätkultur
(im Sinne Gehlens verstanden - wie schon gesagt). **
Bedeutung des Konservativen.
Sloterdijks und auch meiner Kultur- und Geschichtsphilosophie
zufolge gilt in der menschlichen Primitivkultur, die Sloterdijk
jedoch Frühkultur nennt, daß mit dem Tode bestraft
wird, wer es wagt, die eigene Gemeinschaft und Herkunft zu hinterfragen,
zu kritisieren. Sloterdijk nennt die Verfassung, in der sich diese Menschengruppen
befinden, eine Besessenheit (**).
Das, was er die Hochkultur nennt, vermittelt sozusagen
zwischen der Frühkultur und der Spätkultur,
da in der Hochkultur die ersten schrecklichen Kinder
- also solche, die gegen Gemeinschaft und Herkunft aufbegehren - auftauchen
und ihre Eigenart immer mehr zum Durchbruch, aber noch nicht zur Vorherrschaft
kommt, denn deren Vorherrschaft gehört schon zur Spätkultur.
Sind in der Frühkultur Kopierfehler nicht erlaubt, werden
sie in der Hochkultur erstmals erlaubt, allerdings noch unter
Vorbehalt, der dann in der Spätkultur nicht mehr existent
ist, weil die durch die schrecklichen Kinder ausgelöste Unruhe dann
bereits chronisch und mit unbeirrter Angriffslust, um nicht von
Angriffspflicht zu sprechen (**),
bereits ein Synonym für Moderne und Zivilisation
ist. In der Spätkultur herrscht die Feindschaft gegenüber
allem Gemeinschaftlichen, aller Herkunft, aller Überlieferung, aller
Genealogie, aller Geschichte, aller Vergangenheit u.ä. vor. Die Entwicklung
von der Früh- bis zur Spätkultur läßt
sich gemäß Sloterdijk beschreiben als ein Weg von der absoluten
Macht des Konservativen bis hin zur absoluten Ohnmacht des Konservativen,
die mit dem Ende der Spätkultur erreicht sein wird, wann
auch immer das der Fall sein wird. Meiner Forschung zufolge kann im Leben
eine absolute Ohnmacht des Konservativen nie erreicht werden.
Ist es möglich, sich ohne ein konservatives Element zu entwickeln?
Nein. Deshalb meine ich, daß Sloterdijks eigentliche Botschaft die
folgende ist:
Kehrt um, weil euer Weg eine bodenlose Sackgasse
ist. |
Sloterdijk weiß, daß die schrecklichen Kinder der Neuzeit
nicht mehr viel Zeit haben für die Korrektur ihrer falschen Entwicklung.
Sie ist eine bodenlose Sackgasse.
Darum: wehe, wehe, wehe, wenn ich auf
das Ende sehe!! (Wilhelm Busch **).
|
Für Sloterdijk ist die Aufhebung der Korruption der Ernstfall
des Lernens. Wer ein Lernender ist, häuft nicht bloß Informationen
an. Er versteht, daß wirkliches Lernen etwas von einer Bekehrung
hat. Gäbe es in der Kulturtheorie ein Pendant
zu dem, was im katholischen Altaraufbau das Allerheiligste verkörpert,
es könnte nichts anderes sein als dieser am weitesten heruntergekommene
Begriff der Gegenwart: »Lernen«. Im kommenden Jahrhundert
sollte man ihn wie eine numinose Präsenz in einem Offenbarungszelt
hüten. An seltenen Tagen dürfte man ihn für einige Momente
enthüllen. Ist nicht der Verdacht begründet, das Lernen sei
der unbekannte Gott, von dem es seinerzeit in einer Anmerkung von seherischer
Dunkelheit hieß, nur noch ein solcher könne uns retten (**)?
(**).
Also lautet der Beschluß: Daß
der Mensch was lernen muß. (Wilhelm Busch **). |
Wer glaubt im Ernst mit dem Philosophen Neurath daran, man könne
Schiffe auf hoher See umbauen? Ja, wer behauptet noch, auf unserem Schiff
gebe es eine Kommandobrücke? Kurzum, in unseren
Tagen kann niemand wissen, was den Sachgehalt von sirenischen Wörtern
wie »Nachhaltigkeit« und »Zukunftsfähigkeit«
ausmacht. Wer imstande wäre, zwischen Gang, Drift und Sturz zu unterscheiden,
müßte prophetisch begabt sein. Dies ist der Zustand, auf den
Heidegger anspielte, als er seine Bemerkung aussprach, nur noch ein Gott
könne uns retten (**).
(**).
Wenn man Sloterdijks drei Stadien Früh-, Hoch- und Spätkultur
auf die jeweiligen Vorränge von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft bezieht und diese einer starken Vergeistigung unterzieht,
dann ergeben sich für den Fremdwörtersüchtigen (**|**):
Passéismus, Präsentismus und Futurismus. Daß
aber der Passéismus heute als der Verlierer der Evolution
feststeht (**),
bezweifle ich. Ich bezweifle auch, daß der Streit zwischen
dem Futurismus der Moderne und dem Präsentismus der Postmoderne vorerst
nicht entschieden (**)
sein soll, weil es eine Postmoderne noch gar nicht wirklich gibt (**).
Bringen wir einerseits den Passéismus und den Konservativismus
und andererseits den Futurismus und den Progressivismus miteinander in
Verbindung, sollte man sich sofort fragen, wie es ohne Bezug zur Vergangenheit
- und das bedeutet eben u.a.: zur Herkunft, zur Überlieferung, zur
Genealogie, zur Filiation, zur Geschichte - möglich sein soll, daß
die schrecklichen Kinder der Neuzeit sich in der verlernten Kunst
des Dauerns üben (**).
Ein solches Lernen, das sich aus der Übung in der Kunst des Dauerns
ergibt, kann auf die Dauer (**|**)
nur dann gutgehen, wenn dabei die Vergangenheit mitberücksichtigt
wird. Es ist ja gerade die Vergangenheit, von der wir mit größter
Sicherheit wissen, daß sie gedauert hat, von Dauer ist und bleiben
wird. Wer die Vergangenheit vergißt, hat keine Zukunft. Wider das
Vergessen, gegen das Vergessen muß gekämpft werden.
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Peter
Sloterdijk, 1988 |
1988 veröffentlichte Sloterdijk die folgenden Zeilen in seinem
Buch Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen: Wenn
die paradoxe Redensart von einer »konservativen Revolution«
einen Sinn haben soll, den wir bejahen können, weil er die dubiosen
Konstruktionen, die im Deutschland der zwanziger Jahre unter diesem
Titel zirkulierten, hinter sich gelassen hat, dann eben diesen: man
muß radikal an der Vergegenwärtigung von Vergangenem festhalten,
um eine Revolution im Vergangenen, das wir auf unbewußte Weise
noch sind, als anderen Anfang möglich zu machen. Die Richtung
dieser Revolution ist offenkundig: sie führt, wenn sie gelingt,
vom Weltkrieg der namentlich gepanzerten Sekundärsubjektivität
in die anonyme Innigkeit weltlöslicher Bewußtseine.
(**).
Können Sie das bejahen? |
Wenn der Passéismus heute als der Verlierer der Evolution
feststeht (**),
was man ja bezweifeln kann (und wie gesagt: ich tue das auch **),
dann bedeutet das, daß der Futurismus aus oben genannten Gründen
ebenfalls heute als der Verlierer der Evolution feststeht, was Sloterdijk
jedoch nicht sagt. Ohne Herkunft keine Zukunft. Nur Nihilisten können
überzeugt davon sein, daß der Verlierer der Geschichte
die Vergangenheit sei. Diese Überzeugung ist typisch für
linke Nihilisten. Logischerweise ist sie falsch (links bedeutet
ja auch falsch). Die Geschichte bezieht sich auf die Vergangenheit
und zieht aus ihr Erkenntnisse für die Gegenwart und die Zukunft.
Das Ende der Geschichte (**)
ist zwar nicht nur ein Lieblingsthema der Linken allein, doch sind die
Linken davon am meisten beeindruckt. Sloterdijk hat
sich als einen Linkskonservativen bezeichnet, z.B. am 09.03.2016
in der Zeitschrift Die Zeit (**|**),
und er liebäugelt mit dem Ende der Geschichte, wenn auch
nicht so konsequent wie manch anderer (**|**).
Die Konsequenzen aus dem Ende der Geschichte wie auch aus
dem Verlust der Vergangenheit (siehe Passéismus als
Verlierer der Evolution [**])
zieht er meiner Meinung nach nur zögerlich, obwohl er sie den Lesern
seiner Bücher (auch mahnend) näherzubringen versucht. Will Sloterdijk
mit seinem Bekenntnis zum Linkskonservativismus sich unangreifbar machen?
Ist es so, daß seine Warnungen und Mahnungen seine echten Überzeugungen
nur verdecken sollen? Gemäß der Grammatik
ist ein Linkskonservativer ein Konservativer linker Art, aber in erster
Linie eben ein Konservativer, denn nicht das erste, sondern das zweite
Element (hier: ein Nomen [Substantiv]) in jeder Wortkomposition (hier:
Linkskonservativer) bestimmt die Bedeutung erster Linie. Das
erste Element beschreibt die Komposition, also das neugebildete Nomen
aus ursprünglich zwei Elementen (hier: Adjektiv und Nomen [Links{Adjektiv}konservativer{Nomen}]),
indem es das zweite Element dieser Komposition zusätzlich bestimmt,
denn das zweite Element ist ja schon durch sich selbst bestimmt.
Also ist Sloterdijk gemäß eigenem Bekunden
ein Konservativer, und zwar ein Konservativer mit linken Eigenschaften.
Nur steht er nicht immer ganz zum Konservativismus. Es ist ja auch nicht
schick, konservativ zu sein. Die Mode macht es ihm unmöglich,
immer voll und ganz zum Konservativismus zu stehen (**).
Die Politkorrektheit duldet keine Verlierer der Geschichte.
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Philosophie ist für
Peter Sloterdijk eine Art Therapie, unentbehrliche Lebenshilfe.
Kritische Meditation nennt er selbst die Richtung seines Denkens.
Kritik übt er vor allerm an der Selbstüberforderung des
Menschen, die erkennbar wird im permanenten Fortschritt. Sloterdijk
deutet den Fortschritt als Flucht vor menschlichen Hinfälligkeit,
als Sturz, Absturz in die Zukunft. Ein altes Motiv in der Philosophie.
(Lutz Göhnermeier, in: Zur Weltkommen - Philosophieren mit
Peter Sloterdijk [Film], 1990 ).
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denn ihr zufolge sollen alle sich als Sieger der Geschichte,
ja sogar als Sieger über die Geschichte betrachten,
obwohl weder diese Sieger noch jene Verlierer
existieren. Als Konservativer gehört Sloterdijk gemäß
des politkorrekten Diktats zu den Verlierern der Geschichte.
Vielleicht versucht Sloterdijk diesen Angriffen auszuweichen, indem er
sich einen Linkskonservativen nennt (**|**);
aber vielleicht ist er doch eben ein Linkskonservativer. Ein Linkskonservativer
ist ja derjenige Konservative, der auf der politisch linken Seite zu verorten
ist. Der Konservative an sich ist unten, am Boden, zu verorten,
weil er bodenständig ist, festen Kontakt zur Herkunft hat. Das Linke
ist also kein Widerspruch zum Konservativen an sich, sondern nur
zum Rechten, innerhalb des Konservativen also zum Rechtskonservativen.
Die Oppositon des Rechtskonservativen ist das Linksprogressive; die Opposition
des Linkskonservativen ist das Rechtsprogressive. Ein Rechtskonservativer
ist nicht progressiv, nicht links, nicht mittig; ein Linkskonservativer
ist nicht progressiv, nicht rechts, nicht mittig. Beide bilden nur innerhalb
des Konservativen selbst eine Opposition. Die Progressiven
sind die Abgehobenen, die Konservativen die Bodenständigen. Beide
bilden also in der Vertikalen eine Opposition zueinander, während
die Linken und die Rechten in der Horizontalen eine Opposition zueinander
bilden.
Das Progressive ist so ungewiß wie die Zukunft,
das Konservative so gewiß wie die Herkunft (Vergangenheit). Die
Tatsache, daß in Wohlstandsgesellschaften die Progressiven eine
Mehrheit gegenüber den Konservativen bilden, hat so gut wie ausnahmslos
mit ihrem kulturellen Sosein zu tun, das ihren Wohlstand herbeigeführt
hat, und ist dieser Wohlstand erst einmal erreicht und wächst weiter,
dann wird dadurch das Progressive angesprochen und wächst ebenfalls
weiter.
Unsere abendländischen Wirtschafts-Experten glauben,
daß der Wohlstand bis in den Himmel wächst - was er natürlich
nicht kann -, und so glauben auch viele Progressive, daß
der Fortschritt bis in alle Ewigkeit wächst. Und sind sie nicht nach
rechts, sondern nach links ausgerichtet, keine Arbeits-/Leistungsträger,
sondern gierige Arbeits-/Leistungsverweigerer, dann neigen sie zum Egalitarismus
- sprich: Kommunismus -, denn der verspricht allen alles und verteilt
gestohlenes Geld und Eigentum an die, die an ihn glauben, und bekämpft
die, die das nicht tun. Auch weil die Progressiven, insbesondere die arbeits-/leistungsverweigernden
Linksprogressiven, oft mehr erwarten und darum auch mehr nachfragen, als
ihnen die doch wahrnehmbare reale Welt und die realen Märkte anbieten
können, sind sie sehr anfällig für Gier und Neid und also
für den Egalitarismus, weil der ihnen die Umverteilung verspricht.
Die Konservativen, insbesondere die Rechtskonservativen, sind bescheiden,
weil sie bodenständig sind, darum sehr realistisch orientiert sind
und viel weniger erwarten, viel weniger nachfragen als ihre Gegenspieler.
Die z.B. von den Keynesianern (**)
extrem überschätzte Bedeutung der Nachfrage und des Konsums
sowie die damit verbundene Ignoranz gegenüber der Langfristigkeit
sind für die Progressiven, die hier und jetzt konsumieren wollen,
eine sehr angenehme Angelegenheit, für die Konservativen ein riesiges
Übel.
Die Verdrängung des Konservativen, der Vergangenheit (Herkunft),
die Sloterdijk zufolge zumindest als Passéismus heute als
der Verlierer der Evolution feststeht (**),
hat also mit dem immer schneller gewachsenen und immer mehr versprochenen
Wohlstand bei gleichzeitig wachsender Ignoranz gegenüber der Zukunft,
den Verbindlichkeiten, vor allem den langfristigen, der Nachhaltigkeit,
der Umweltzerstörung u.s.w. zu tun. Dieser Wohlstand, der sich immer
mehr auch auf einen Konsumterrorismus stützt, betrifft die Abendländer
und ihre Ableger, nicht aber alle anderen Menschen, denn diese bleiben
von dem hohen Wohlstand ausgeschlossen. Diese Ausgeschlossenen bilden
eine Mehrheit und werden jeden Tag mehr (vgl. die Demographie dazu **).
Also kann es nicht stimmen, daß die Menschheit das Konservative
und die Herkunft (Vergangenheit) durch das Progressive und die Zukunft
verdrängt habe, daß der Passéismus heute als der Verlierer
der Evolution feststehe. Denn das Gegenteil ist richtig: Die Menschheit
ist konservativer, herkunftsorientierter und passéistischer geworden,
so daß man feststellen muß, daß das Konservative, die
Herkunft (Vergangenheit), also auch der Passéismus der Gewinner
der Evolution ist, der er immer schon gewesen ist und auch bleiben wird.
Ob das im Abendland von immer mehr Menschen anders beurteilt wird, ist
ziemlich bedeutungslos; aber es sagt viel über die Abendländer
aus: sie stehen als Verlierer da, weil sie am Untergehen
sind. Wer die Herkunft leugnet und sich nicht konservieren lassen will,
den bestraft das Leben. Jedes Lebewesen speist sich
aus der Herkunft (Vergangenheit) im sowohl evolutionären als auch
geschichtlichen Sinne. Wenn man die Vergangenheit (Herkunft) so sehr theoretisiert,
daß sie Passéismus genannt werden kann, ist sie
zwar stark vergeistigt, aber deswegen im Kern für Lebewesen trotzdem
nur auf die Herkunft (Vergangenheit) bezogen. Schon in der Genetik geht
es um Kopien, und diese Kopien sind nichts anderes als eine Weitergabe
von Informationen (vgl. Gen-Code), die ihrerseits eine Herkunft haben.
Es geht also im Grunde schon in der Genetik um die Weitergabe von Herkunft
- die Genetik ist sogar die evolutionäre Basis für alle Weitergaben,
weil aus ihr die Urweitergabe kommt. Es handelt sich hier um Kopien, und
diese Kopien sind zu speichern, sprich: zu konservieren. Alles
andere, was um diesen Gen-Konservativismus herum geschieht - auch die
Schädigungen durch Kopierfehler bzw. Mutationen - ist ohne ihn nicht
möglich oder geschieht außerhalb seiner Sphäre ohne Evolution.
Progressives kann es also nur geben, wenn es Konservatives gibt. Gibt
es kein Konservatives, gibt es keine Evolution; gibt es keine Evolution,
gibt es auch keine Geschichte (Historie). Nur die reine Kosmogenese kann
ohne Evolution und also auch ohne Geschichte auskommen (**).
Zwar können Kosmogenese und Evolution wissenschaftlich erforscht
und erzählt werden und sind dann Teil der Geschichte, doch die Geschichte
bleibt als Art einer Entwicklung eingebettet in Kosmogenese und Evolution.
Aus Sicht der Wissenschaft ist also nicht die Philosophie, sondern die
Geschichte die Königin der Wissenschaft, d.h. die oberste
Wissenschaftsdisziplin. Aber aus Sicht der gesamten Entwicklung selbst
erscheint sie später als Evolution und Kosmogenese und bleibt ihnen
deswegen entwicklungsmäßig untergeordnet. Erwerbsmäßig
ist es umgekehrt - Wissenschaft z.B. wird erworben. Wenn also nicht die
Natur, sondern ein Wesen, das willentlich alles in Gang gesetzt hat, der
unbewegte Beweger (Aristoteles) ist oder alles schon von Anfang
an da war, dann ist die Geschichte auch die Königin aller Entwicklung.
Sloterdijks Fehler ist ein Proton Pseudos, d.h.
seine Voraussetzung, daß die Welt abendländisch sei, alle Menschen
Abendländer seien, ist falsch (**|**).
Nur im Abendland und zum geringeren Teil auch in seinen Ablegern ist
der Passéismus zum Verlierer der Evolution (**)
geworden, genauer gesagt: zum Verlierer der abendländischen Kulturgeschichte,
die ihrerseits dabei ist, zum Verlierer der Geschichte zu werden, so wie
andere Kulturgeschichten vor ihr. Der Grund dafür sind die zerstörten
Werte.
Und Sloterdijk schrieb: Im Kopier-Vorgang ist
die Möglichkeit, daß Nachkommen »aus der Art schlagen«,
seit jeher angelegt. Kulturen kennen wie Gene die Mutation als Normalrisiko.
Die Gefahr, die eigenen Kinder könnten zu »schrecklichen Kindern«
werden, ist so alt wie die höhere Zivilisation .... (**).
Er weiß: Die Bannung der Gefahr der Fehlkopie brachte den
älteren »Konservatismus« hervor .... (**).
Das meint der Linkskonservative; doch der Mittigkonservative neigt eher
dazu, eine nichtkausale Korrelation zwischen dem Konservieren und der
Bannung der Gefahr der Fehlkopie zu sehen, weil bereits das Kopieren und
das Konservieren so wie das Kopiertwerden und das Konserviertwerden zum
selben Prozeß gehören und gerade deswegen die Fehlkopie letztlich
nicht bannen können, wie ja die entsprechenden Entwicklungen auch
deutlich zeigen (**). Lesen wir,
was der Linkskonservative über die ja tatsächlich geschehende,
aber letztlich - z.B. am Ende eines bestimmten Zyklus - doch nicht mehr
erfolgreiche Bannung der Gefahr der Fehlkopie richtig festgestellt
hat: Frühe »Kulturen« - aufgefaßt als Ensembles
von Obsessionen, die mehraltrige menschliche Kollektive im Griff halten,
gleich ob es sich um Sippen, Stämme oder Ethnien handelt - erleben
die unverhandelbare Notwendigkeit ihres Daseins in der von ihnen selbst
generierten und ihren Teilnehmern ungefragt aufgedrungenen Überzeugung,
daß die Lebensweise, die den Mitgliedern des Kollektivs eingeprägt
wurde, es unter allen Umständen verdient, im Dasein der Nachkommen
wiederholt zu werden. Wer einer Kultur in diesem Sinn »angehört«,
muß sich früher oder später dazu bereit erklären,
eine durch Elternschaft zu bestätigende Besessenheit weiterzureichen.
Was man von den Alten selber empfangen und erlitten hat, soll um jeden
Preis in den Jungen fortleben. - Kein Mensch der alten Welt hat dieses
Axiom bezweifelt. Für die Angehörigen der älteren Fortpflanzungsketten
sind Wiederholbarkeit und Wahrheit ihres modus vivendi ein und
dasselbe. Eigene Kinder haben, das heißt zunächst nicht mehr
und nicht weniger als dafür sorgen, daß hinreichend ähnliche
Kopien der Älteren in den Jungen entstehen. Ähnlich genug scheinen
die Nachkommen geraten zu sein, wenn die unvermeidlichen mutativen Variationen,
genetisch wie kulturell, durch die konstanten Muster in Schach gehalten
werden. (Vor dem Zeitalter der Schrift wird dieser Effekt durch die Unduldsamkeit
des »Habitus« bzw. der neuronal gefestigten Verhaltensmuster
garantiert. Schrift erlaubt die Auslagerungen von Intoleranz ins äußere
Medium bzw. in die »Institutionen«. Sie setzt die Flexibilisierung
frei, die man eines Tages als Navigation in den »Spielräumen
des Verstehens«, das heißt als Hermeneutik bzw. als Ausübung
des Rechts auf Subjektivität, beschreibt.) (**).
Ja, da ist er: der Raum der scheinbar immer größer werdenden
Freiheit, den Kant die intelligible Welt genannt hat.
|
1. |
Gene |
Variation als Mutation, Kopierfehler |
2. |
Gehirne |
Wie - 1.. Außerdem: Deutungsvielfalt |
3. |
Schriftkulturen |
Wie - 2.. Außerdem: Externer Ort |
4. |
Maschinenkulturen |
Wie - 3.. Außerdem: Maschinen ändern sich
selbst |
|
|
|
Wir halten als ersten Speicher für Informationen und die Kopien
die Gene, als einen solchen zweiten die Gehirne und einen solchen dritten
die Schriftkulturen fest (**).
Diese drei Speicher bilden jeweils den Anfang eines neuen Stadiums: (1.)
des Lebens bzw. der Evolution im weitesten Sinne (**);
(2.) des Höheren Lebens bzw. der Evolution im engeren Sinne
(**);
(3.) der Schrift bzw. der Geschichte im weiteren Sinne (**).
Alle drei sind evolutionäre Entwicklungen, aber nur die dritte ist
außerdem eine historische Entwicklung. Die von Sloterdijk besprochenen
erfolgreichen Veränderungen durch die schrecklichen Kinder fanden
alle innerhalb der Schriftkulturen (Historienkulturen) statt. Wann dieser
Prozeß beendet sein wird, ist noch nicht genau abzusehen, aber die
von den Abendländern erfundenen Maschinen sind mittlerweile mit so
viel künstlicher Intelligenz versehen, daß diese wahrscheinlich
den vierten Speicher für Informationen und Kopien bedeuten. (**).
Vier Fehler - leider.
Daß Sloterdijk häufig die Welt mit
allen Menschen verabendländisiert, ist ein Fehler, wie schon
gesagt (**|**).
Im Zusammenhang mit allen Menschen und Abendländern
verwendet Sloterdijk bestimmte Wörter semantisch nicht immer richtig:
Antike, Mittelalter, Neuzeit, Kultur,
Zivilisation, Moderne und andere. Ich wähle
hier als Beispiel die Verwendung des Wortes Moderne: Sloterdijk
verwendet das Wort Moderne im Sinne einer Moderne
der Menschheit, obwohl er die Moderne der Abendländer
meint und auch nur meinen kann. Die Abendländer haben zwar versucht,
ihre Moderne allen anderen, nämlich den nichtabendländischen
Menschen näherzubringen, doch gelungen ist ihnen das nur selten,
und ihre den Wohlstand anhebende Technik allein hat nicht ausgereicht,
um ihre Moderne, deren Grundlage ihre Kultur mit allen ihren Werten und
Normen ist, erfolgreich an die Nichtabendländer weiterzugeben. Es
ist auch und besonders heute noch so, daß die Nichtabendländer
zwar die von den Abendländern (besonders den Deutschen und Engländern)
erfundene, weil den hohen Wohlstand bringende Technik haben wollen, aber
alles andere der Abendländer strikt ablehnen. Die Nichtabendländer
wollen den Wohlstand des Teufels, den sie hassen. Es gibt
keine nur aus abendländischen Menschen bestehende Menschheit,
folglich gibt es auch keine Moderne einer nur aus abendländischen
Menschen bestehenden Menschheit.
Sloterdijks zweiter Fehler ist seine schon erwähnte Vorliebe
für alles Postische, z.B. die Postmoderne
(**|**|**|**|**|**|**|**|**|**|**|**),
die Posthistorie (**|**)
u.ä., alles Finalische, z.B. das Ende der Geschichte
(**|**),
auch wenn er dies hin und wieder verneint (**).
All dieser Postismus und all dieser Finalismus,
die sich thematisch sehr ähneln, nötigen ihn, alles immer von
einem Nach und einem Ende her zu beurteilen. Mir
ist das nicht fremd. Auch ich tue das gerne, halte mich damit aber dennoch
zurück, weil ich weiß, daß ich damit noch warten muß.
Es gibt schon einige Anzeichen für nicht wenig Postisches
und Finalisches, aber es ist ein Fehler, bestimmte Anzeichen
aus der Kunst, besonders aus der Architektur, als postmodern
zu bezeichnen, obwohl sie noch modern sind und die Kunst schon gegen Ende
des 18. Jahrhunderts abzusinken begann, zunächst nur in wenigen Bereichen
und trotz der Tatsche, daß in anderen Bereichen noch für einige
Zeit Geniales erreicht wurde. Für posthistorische Anzeichen gilt
entsprechendes. Ein Ende der Geschichte ist noch nicht erreicht (**|**).
Ein dritter Fehler Sloterdijks ist die Tatsache, daß er in dem
hier zu rezensierenden Buch - und übrigens auch in seinen anderen
Büchern - mehrere falsche Fakten und falsche Daten der Geschichte
angegeben hat. Ich werde darauf nicht näher eingehen, weil dieser
dritte Fehler eventuell nicht wie die anderen drei Fehler auf Sloterdijks
Hang zur Übertreibung, sondern schlicht auf Sloterdijks Unwissenheit
über diesen aus mehreren Einzelfehlern bestehenden Gesamtfehler zurückzuführen
ist.
Sloterdijks vierter Fehler betrifft seine zum Teil übertriebene
Kritik am Christentum. Diese Kritik fällt zwar bei weitem nicht
so extrem aus wie bei Nietzsche oder anderen Christenhassern; aber sie
ist dennoch auch nicht harmlos. Ein Beispiel: Nach wie vor sind
die Einprägungen des metaphysischen Masochismus augustinischer Herkunft
mitsamt seiner Fracht an politischer Phobokratie und existentieller Körperfeindschaft
in den Archipelen des Christentums spürbar - zwei Grundübel,
zu denen sich Quietismus, Erwählungspanik, Kulpablilismus, sexualneurotische
Befangenheit und Kult des Elends gesellen. Kein harmloser Befund, bedenkt
man, daß das Christentum mit über zwei Milliarden nominellen
Gläubigen bis auf weiteres die numerisch größte, zudem
theologisch intensivste Religionsmacht der Welt darstellt, mögen
auch die düsteren Erbsachen heute fast überall in die unauffälligen
Dialekte von Empathie, Sozialarbeit und Solidarität umcodiert worden
sein. (**).
Phobokratie, Körperfeindschaft, Quietismus, Erwählungspanik,
Kulpablilismus, sexualneurotische Befangenheit und Kult des Elends
- treffen diese Beschreibungen immer noch zu wie vielleicht früher
einmal? Sind sie wirklich heute fast überall in die unauffälligen
Dialekte von Empathie, Sozialarbeit und Solidarität umcodiert worden?
Will Sloterdijk hier eine auf den Vergleich zwischen dem Christentum und
den anderen Religionsformen fußende Kritik dazu benutzen, um das
Christentum erneut zu reformieren oder doch nur zu diskreditieren? Kann
das Christentum überhaupt so werden, wie die anderen Religionen sind?
Wenn das Christentum nicht mehr christlich ist, ist es doch kein Christentum
mehr. Oder hat Sloterdijk recht, weil er das Christentum gar nicht kritisiert,
sondern nur beschreibt? Sind z.B. da, wo es um Empathie, Sozialarbeit
und Solidarität geht, wirklich Phobokratie, Körperfeindschaft,
Quietismus, Erwählungspanik, Kulpablilismus, sexualneurotische Befangenheit
und Kult des Elends am Werk?
|
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Beginnen wir mit dem Auftritt des vaterlosen Jesus von Nazareth,
des schrecklichsten Kindes der Weltgeschichte (**),
wie Sloterdijk Jesus nennt. Gemäß Sloterdijk mußte der
Versuch des Christentums, aus der Unmöglichkeit eine Möglichkeit
und dadurch wieder den Anschluß an die Wirklichkeit zu bekommen,
scheitern. Der Versuch, aus der Anti-Genealogie des vaterlosen Jesus
von Nazareth, des schrecklichsten Kindes der Weltgeschichte (**),
das nicht von einem physischen, sondern von einem metaphysischen Vater
abstammen wollte, wieder eine Genealogie zu machen, konnte nicht oder
nur unter absurden, paradoxen, eben widersprüchlichen Bedingungen
funktionieren. Die Evangelisten Matthäus und Lukas wollten Jesus
sogar von David bis Abraham abstammen lassen. Das überzeugt nicht,
weil dadurch die Abstammung von Gott gegenstandslos wird. Jesus soll ja
unmißverständlich als der Sohn Gottes aus asexueller
Zeugung und supranaturaler Verkörperungskausalität hervorgegangen
sein. Gleichzeitig soll er einen Nachkommen Abrahams und Davids in direkter
Zeugungslinie darstellen .... (**).
Das geht nicht. Matthäus und Lukas verkünden eine Re-Genealogisierung
der anti-genealogischen Revolte (**),
die man auch die Re-Familalisierung der anti-familalen Revolte
nennen könnte. Der alle weltliche Herkunft ablehnende Jesus soll
seiner Herkunft wieder zugeführt werden: so beginnen Re-Genealogisierung,
Re-Familalisierung, Re-Paternalisierung, obwohl Anti-Genealogisierung,
Anti-Familalisierung, Anti-Paternalisierung ihnen zugrunde liegen. Das
kann auf Dauer nicht gutgehen.
Auf die Revolution des, wie Sloterdijk sagt,
vaterlosen Jesus von Nazareth, des schrecklichsten Kindes der Weltgeschichte
(**),
folgte eine Konterrevolution bzw. Restauration. Die
Wandlung des Christentums zu einer Religion von Söhnen, die durch
Ausübung von Pastoralmacht in die von Jesus verbotene Vaterrolle
zurückdrängten, spiegelt das unerkannte spirituelle Hauptereignis
der Spätantike wider: Man könnte es die Konterrevolution der
Bischöfe nennen - oder die klerikokratische Restauration. (**).
Die bischofskirchliche Rückwende setzte - über die schon
bei den Evangelisten angestrebte Re-Genealogisierung und Re-Familialisierung
der Botschaft hinaus - jene extreme Re-Paternalisierung des christlichen
Gemeindelebens in Gang, ohne die man sich von der Physiognomie des Christentums
zwischen 300 und 1800 n. Chr. weder nach seiner alltäglichen noch
nach seiner doktrinalen Seite ein angemessenes Bild zu machen vermöchte.
(**).
Im Einflußbereich des römischen Katholizismus, wie auch
in den griechischen und russischen Orthodoxien, ist dieses patrozentrische
Bild bis heute aktuell (**),
was gemäß Sloterdijk für das von Paulus und Augustinus
vorgeprägte sexualneurotische Erbe des Christentums, um von der schier
unsterblichen Unterströmung ekklesiopathischer Verschrobenheiten
inmitten der spirituellen Kooperationen nicht weiter zu reden (**),
spricht.
|
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Abgesehen von der Ausnahme der Anführungsstriche
beim Wort Abendland - denn dieses Wort ist das einzig richtige,
wenn der Raum beschrieben werden soll, um den es hier nur geht (**|**)
-, kann man folgendes unterschreiben: Die Säkularisation der
Erbsünde hat zwar das metaphysische Gift neutralisiert, das, destilliert
in der Hexenküche des Augustinismus, im »Abendland« über
anderthalb Jahrtausende weitergereicht wurde. Doch hat die Ausschaltung
der Erb-Belastung a priori zugleich den Blick auf zahlreiche Formen
ambivalenter Erblichkeiten im säkularen Bereich freigegeben. Um vorsichtiger
zu reden: Sie hat das Bewußtsein von den Schwierigkeiten des Erbe-,
Nachkomme- und Schuldner-Seins auf neue Bahnen gelenkt. Ein Massenansturm
auf Positionen des »voraussetzungslosen Lebens« garantiert
den Modernisierungen ihren Zulauf. In diesem Punkt ist die entente
cordiale zwischen dem Liberalismus und dem Sozialismus mit Händen
zu greifen. Die scheinbar unversöhnlichen Gegenspieler sind die besten
Freunde, wenn es darum geht, die familialen, genealogischen und in erfolgreichen
Filiationen gegründeten Prämisen des »sozialen Lebens«
zu verdunkeln. (**).
Seit ihrem Aufstieg als schreckliche Kinder
sind Liberalisten und Sozialisten moderne Säkular-Jesuisten,
moderne Säkular-Paulisten, moderne Säkular-Augustinisten,
die sprechen und handeln im Auftrag der nach ihrem Aufstieg als schreckliche
Kinder zu den schrecklichsten Kindern gewordenen modernen
Finanz-Jesuisten, modernen Finanz-Paulisten, modernen Finanz-Augustinisten.
**
Die Erbsünde geht auf den vom Judentum zum Christentum gewechselten
Paulus (vormals: Saulus) und in verschärfter Form auf Augustinus
zurück, obwohl sie ja auch den Juden nicht entgangen sein konnte,
weil eine solche Deutung der Vertreibung aus dem Paradies naheliegt. Dazu
schrieb Sloterdijk: Augustinus ... löste mit seiner verschärften
Sünden-Doktrin eine Verdüsterung aus, von der sich die westliche
Welt bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt. Er wollte sich nicht
damit zufriedengeben, den außerparadiesischen status quo
der Menschen demütig zur Kenntnis zu nehmen. Er drängte darauf,
den Fall tiefer zu motivieren, indem er ihn zu einem Entfremdungsdrama
zwischen Mensch und Gott überhöhte, bei dem die Rolle des böse
lachenden Dritten dem Satan zufiel, dem selbstverliebten Anführer
der aufrührerischen Engel. (**).
Die Ewig-Buße wegen der Erbsünde hatte schon Paulus als gerechtfertigt
angesehen (**),
also auch das Mitenthaltensein eines jeden Menschen in dem Ursprungsmann
Adam, so daß jeder »in Adam« mitkorrupt
(**)
ist. Augustinus ging noch weiter, weil er jedem Menschen auch noch das
Sündigenmüssen unterstellte. Es ist ihm zufolge dem Menschen
nicht möglich, nicht zu sündigen (vgl. non posse non peccare).
Der Mensch ist das Lebewesen, das nicht nicht sündigen kann
(**).
Da die Sünde eine sexuell übertragbare Krankheit
(**)
ist, beinhaltet der Geschlechtsakt die Wiederholung der ersten Sünde,
weil er nicht ohne superbia, das heißt nicht ohne die überhebliche
Selbstbevorzugung des Geschöpfs vor seinem Schöpfer, zustande
kommt. Der sexuelle Höhepunkt ist die Spur des teuflischen Hochmuts,
in dem sich die Kreatur von ihrem Ursprung abwendet, um sich selber an
die erste Stelle zu rücken. (Vgl.: De Civitate Dei, 14. Buch,
Abschnitt 15: »Der Hochmut der Übertretung ist schlimmer als
die Übertretung selbst«.) Wären die Menschen fähig
geblieben, sich fortzupflanzen, ohne ihren sinnlichen Aufruhr zu genießen,
wären sie dem Heil näher geblieben. (**).
Im Stand der Korruption ist der Mensch zur Selbstbevorzugung verdammt.
Der Wille der Eigenmacht wohnt den Nachkommen Adams allzu tief inne, als
daß er ihn aus eigenem Entschluß abstreifen könnte.
(**).
|
Im Gespräch mit Wolfram Weimer
sagte Sloterdijk 2006 bezüglich Unterwerfungslust und ihrer Überwindung
durch den Protestantismus: Wir müssen die Idee eines Lebens
aus dem Können in unterwerfungslustige Kulturen einführen,
damit sich auch die Religion wandelt, von einer Religion der Unterwerfung
zu einer Religion des betreuten Könnens, also, europäisch
gesprochen, Protestantismus, der Glaube des von Gott getragenen Könnens.
(**).
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Nur für einige Erwählte wird der Sturz in die Erbsünde
reversibel (**).
Hier scheint die Stelle zu sein, an der vermutet werden darf, daß
dem Christentum die Erwählungspanik (**)
zumindest nicht fremd sei. Ich bezweifle jedoch, daß sich davon
die westliche Welt bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt
(**)
hat. Und was die Feindschaft des Christentums gegenüber allem Körperlichen,
Sexuellen und Selbstbewußten angeht, so läßt sich doch
rasch erkennnen, daß gerade im christlichen Abendland eben genau
diese Feindschaft bekämpft wird, größtenteils schon besiegt
ist. Da, wo der Protestantismus dominiert, ist dies mehr der Fall als
da, wo der Katholizismus dominiert, obwohl der Katholizismus dabei ist,
aufzuholen. Wer Freizügigkeit gegenüber Körper, Sex und
Selbstbewußtheit, Toleranz gegenüber allem genießen will,
der kommt ins Abendland, wo sogar diejenigen toleriert werden, die es
vernichten wollen.
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In der F.A.Z erschien am 27.09.2009
Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer
von Sloterdijk, in dem u.a. folgendes zu lesen ist: Vermutlich
sind Fragen des Nehmens und Gebens - neben der Sexualität -
die sensitivsten Angelegenheiten, die überhaupt vor Publikum
verhandelt werden können. Es sind die Fragen, die unverkennbar
die thymotischen (die stolzhaften, die zornhaften und die ressentimenthaften)
Leidenschaften aufwühlen - Affekte, denen ich in meinem Buch
»Zorn und Zeit« (**)
einigermaßen umfangreiche Überlegungen gewidmet habe.
(**).
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Hier wäre es angebracht, an Sloterdijks 2006 erschienenes
Buch Zorn und Zeit zu erinnern (**).
Das Urchristentum war auch ein Gegner des Zorns, zumindest aber ein Gegner
der Gewalt. Daran haben sich aber die Herrscher weder im Abendland noch
sonstwo in christlichen Gebieten gehalten. Zwar wurde das Volk im christlichen
Sinne erzogen; doch die politischen und vor allem die rein machtpolitischen
Verhältnisse - insbesondere die zwischen Kirche und Kaiser bzw. Klerus
und Adel - zeigten von Anfang an ein ganz anderes Bild. Im Volk mag sich
vielleicht das im christlichen Sinne Anerzogene teilweise und wohl zu
einem immer geringer werdenden Prozentsatz erhalten haben, doch das Bild
des modernen Abendlandes zeigt, daß dieser Prozentsatz schon zu
Beginn der abendländischen Moderne sehr gering gewesen sein muß,
ja daß er wahrscheinlich sogar auch vorher nur gering war und kaum
jemand den Predigten wirklich Glauben schenkte (der Alltag erforderte
eher einen anderen Glauben). Die Tatsache aber, daß das heutige
Abendland dem Zorn gegenüber ignorant ist und auch sonst eher so
wie ein Raum des Urchristentums erscheint (Toleranz gegenüber allem)
scheint Sloterdijk recht zu geben. Auf Seite 32 des Buches Zorn
und Zeit heißt es z.B.: Kaum treten bei Individuen oder
Gruppen »Symptome« wie Stolz, Empörung, Zorn, Ambition,
hoher Selbstbehauptungswille und akute Kampfbereitschaft auf, nimmt der
Parteigänger der thymós-vergessenen Kultur Zuflucht
zu der Vorstellung, diese Leute müßten Opfer eines neurotischen
Komplexes sein. Die Therapeuten stehen hier in der Tradition der christlichen
Moralisten, die von der natürlichen Dämonie der Selbstliebe
sprechen, sobald die thymotischen Energien sich offen zu erkennen geben.
Haben die Europäer über den Stolz wie den Zorn nicht von den
Tagen der Kirchenväter an zu hören bekommen, solche Regungen
seien es, die den Verworfenen den Weg in den Abgrund weisen? (**).
Das ist wohl wahr.
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Peter Sloterdijk bei der Präsentation seines
Buches Kritik der zynischen Vernuft, 1983
|
Es zeigt sich in Sloterdijks Buch über die schrecklichen
Kinder wie in allen seinen Büchern, jedenfalls in denen, die
ich gelesen habe (immerhin 32 an der Zahl **),
immer wieder dasselbe Denkmuster (**)
- d.i. vor allem: Umwandlung von Metaphysik in Allgemeine Immunologie
und ... Theorie der Psychopolitik (**|**)
-, zu dem auch der Gedanke des Wechsels vom Gegen-Herrschaftlichen zum
Herrschaftlichen oder vom Herrschaftlichen zum Gegen-Herrschaftlichen
gehört. Unter den von mir gelesenen 32 Sloterdijk-Büchern reicht
Sloterdijks 1983 erschienenes Buch Kritik der zynischen Vernuft
zeitlich am weitesten zurück - und schon in ihm läßt sich
jener Gedanke erkennen: Der Zynismus der Altgriechen wandelte sich zur
Herrschaftsform bzw. zu dem, was Sloterdijk das aufgeklärte
falsche Bewußtsein (**)
nannte und dem er den Kynismus entgegensetzte. Auf einer am
08.02.2015 veröffentlichten Webseite von Oshonews heißt
es dazu:
Sloterdijk concludes that,
unlike the ancient Greek version, Cynicism no longer stands for
values of the natural and ethical kind that bind people beyond their
religious and economically useful convictions. Rather, it has become
a mode of thought that defines its actions in terms of a »final
end« of a purely materialistic sort and reduces the »ought«
to an economic strategy aimed at maximizing profit. This contemporary
sort of Cynicism remains silent, however, when it comes to social,
and altruistic goals having to do with the »good life«
the original Cynics were seeking. ( ).
Meine Übersetzung: Sloterdijk
kommt zu dem Schluß, daß der Zynismus im Gegensatz zur
altgriechischen Version nicht mehr für Werte der natürlichen
und ethischen Art steht, die die Menschen über ihre religiösen
und wirtschaftlich nützlichen Überzeugungen hinaus binden.
Vielmehr ist er zu einer Denkweise geworden, die ihr Handeln als
»endgültiges Ende« einer rein materialistischen
Art definiert und das »Sollen« auf eine auf Gewinnmaximierung
ausgerichtete Wirtschaftsstrategie reduziert. Diese zeitgenössische
Art von Zynismus schweigt jedoch, wenn es um soziale und uneigennützige
Ziele geht, die mit dem »guten Leben« zu tun haben,
das die ursprünglichen Zyniker suchten. |
Mit dem Geschichtsverlauf von Jesus Gegen-Herrschaftlichkeit über
Paulus und Augustinus Herrschaftlichkeit bis zur Herrschaftlichkeit
von Paulismus und Augustinismus verhält es sich ähnlich wie
mit dem Geschichtsverlauf vom altgriechischen Zynismus der Gegen-Herrschaftlichkeit
über einen römisch-christlichen Zynismus der Herrschaftlichkeit
bis zum modernen Zynismus der Herrschaftlichkeit. Der Zynismus der Gegen-Herrschaftlichkeit
wurde im Verlauf der Geschichte zum Zynismus der Herrschafllichkeit, dem
Sloterdijk in seinem Buch Kritik der zynischen Vernunft
einen von ihm Kynismus genannten neuen Zynismus
der Gegen-Herrschaftlichkeit entgegenstellte. Und das macht Sloterdijk
in seinem Buch Die schrecklichen Kinder der Neuzeit
prinzipiell genauso: Die Gegen-Herrschaftlichkeit mit dem damit verbundenen
Heil als Erhellendem, das der Heiland Jesus verkündete, wurde schon
von Paulus durch Verdunkelungen zur Herrschaftlichkeit umgepolt, so daß
Augustinus diese nur noch zu verstärken brauchte, und diese Herrschaftlichkeit
führte zu ihrer modernen Variante, nämlich zum Säkular-Paulismus
und wiederum durch Verstärkung zum Säkular-Augustinismus, so
daß Sloterdijk dieser Herrschaftlichkeit ebenfalls eine Gegen-Herrschaftlichkeit
entgegensetzte - nämlich die Aufhebung der Korruption
(**)
als den Enstfall des Lernens (**),
weil es auch etwas von einer Bekehrung hat (**).
(So gesehen bestehen die auf uns einwirkende Herrschaft mittels Zynismus
und die auf uns einwirkende Herrschaft mittels Verdunkelungen schon seit
etwa der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr.!) Im Unterschied zum 1983 erschienenen
Buch Kritik der zynischen Vernuft, in dem auch die
Aufklärung kritisert wird, wird im 2014 erschienenen Buch Die
schrecklichen Kinder der Neuzeit die Aufklärung nicht
kritisiert, sondern gefordert - nämlich eine, die der Aufhebung
der Korruption durch das Lernen dienen soll. Der genannte Unterschied
ist somit auch in Sloterdijk selber zu finden, weil der Text des 2014
erschienenen Buches gegenüber dem Text des 1983 erschienenen Buches
von mehr Reife Sloterdijks zeugt.
|
Am 15.10.2000, anläßlich
des 156. Geburtstages Nietzsches, sagte Sloterdijk: Die Sonne
ist der absolute Sponsor; und deswegen muß ein Aufklärer
die Sonne nachahmen, weil eine Aufklärung, die mehr nimmt als
gibt, letzten Endes gar keine ist - mit anderen Worten: Aufklärung
ist nur als angewandte Großzügigkeit möglich.
(**).
 |
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Ist jede Geschichte ... besser als keine Geschichte (**),
jede Erzählung ... besser als keine Erzählung (**)?
Erhellt auch ein dunkler Mythos die Lage, indem er dem Unbehagen
eine Fassung gibt (**)?
Kann sich keine dunkle Erzählung ... den Wirkungen von Aufklärung
entziehen, die alte Geschichten unter neue Beleuchtungen stellt
(**)?
Ist also auch jeder Mythos besser als kein Mythos? Ja, wahrscheinlich.
Aber daraus folgt nicht, daß man diesen oder jenen Mythos
und keinen anderen zuerst erzählen und dann weitererzählen muß.
Man hätte ja einen anderen Mythos als diesen oder jenen zuerst
erzählen und dann weitererzählen können. Außerdem
muß jeder Aufklärer die Sonne nachahmen
(**).
Die Erzählung in der Bibel von der Vertreibung aus dem Paradies
legt selbst schon eine Deutung in Richtung Erbsünde nahe.
Man hat so die Verfasser der Bibel, dann Paulus und schließlich
Augustinus für eine solche Deutung verantworlich zu machen, aber
trotzdem in Rechnung zu stellen, daß die Verdunkelung der ursprünglichen
Erzählung schon von dieser selbst ausgegangen ist - weil sich diese
superdunkle Erzählung durch ihr Deutungsangebot in Richtung zunehmender
Dunkelheit bereits selbst verdunkelt hat - und erst danach über Paulus
bis Augustinus an Dunkelheit zugenommen hat. Somit haben wir auf der Seite
der Verdunkelungschronolgie die Reihenfolge (1) Verfasser der Bibel,
(2) Paulus, (3) Augustinus und auf der Seite des Verdunkelungsgrades
die Reihenfolge (1) Augustinus, (2) Paulus, (3) Verfasser der Bibel. Durchschnittlich
sind dann alle drei gleichermaßen schuldig (denn jeder der
drei Täter hat den Durchschnitt 4:2=2).
Warum hatte man überhaupt erst den superdunklen Mythos von
der Vertreibung aus dem Paradies erzählt? Und wie gesagt:
Schon die Bibel selbst hatte ihren Text durch ein Deutungsangebot aus
der Dunkelheit in Richtung größerer Dunkelheit schon verdunkelt,
und später Paulus es verstanden, die Texte der Bibel noch mehr zu
verdunkeln; aber Augustinus hat sogar Paulus noch übertroffen. Du,
Volk, sollst so leben, wie ich es dir sage, weil es so, wie ich es dir
sage, in der Bibel zu lesen ist; aber das, was ich und die anderen Auserwählten
tun, muß dir gleichgülig bleiben, weil du das nie tun dürfen
und auch nie ändern können wirst - dies könnte Augustinus
Gedanke gewesen sein, als er seinen Gottesstaat (Über
den Gottesstaat: De Civitate Dei) schrieb. Ein Sprichwort
dazu: Wasser predigen und Wein trinken.
Erbsünde. In der christlichen Theologie der Zustand
der Sünde, in den jeder als ein Ergebnis des Sündenfalls von
Adam hineingeboren wird. Die Grundlage davon in der Bibel ist Paulus
Lehre, »daß durch einen Mann (Adam) die Sünde in die
Welt kam«, so daß »durch die Übertretung dieses
einen die vielen starben« (Römer, 5, 12). Sie wurde von den
frühen griechischen Vätern entwickelt, wurde aber genauer
bei den lateinischen Schriftstellern des 2-5. Jh. gefaßt und gipfelte
in Augustinus Formulierung. Adams Sünde wurde seitdem von
den Eltern auf das Kind durch »sinnliche Begierde« übertragen,
in diesem Fall sündige sexuelle Erregung, die die Zeugung begleitet.
Das Menschengeschlecht ist damit zu einer »Masse von Sünden«
(massa damnata) geworden, wie z.B. durch die Praxis, selbst neugeborene
Kinder mit Exorzismus zu taufen, gezeigt wird. (John Bowker [Hrsg.],
Das Oxford-Lexikon der Weltreligionen, 1999 [Ausgabe von 2003],
S. 282 [Stichwort Erbsünde]).
Ich kritisiere nicht Sloterdijks Kritik an Paulus und Augustinus
Lehren an sich, sondern nur seine Behauptung, daß sich davon die
westliche Welt bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt (**)
habe.
|
In Sloterdijks Notiz
vom 03.05.2010, die in seinem 2012 erschienenen Buch Zeilen
und Tage zu lesen ist, ist u.a. der Vorschlag zu finden,
Luther anläßlich seines 2017 zu feiernden Thesen-Jubiläums
vor dem Gericht der Geistesgeschichte ... zu befragen, ob
seine Theologie die Hauptaufgabe seiner Zeit, die Befreiung vom
Augustinismus, bewältigt (**)
habe.  |
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Die Sünden- und Gnadenlehre beeindruckten Paulus
und Augustinus sehr. Augustinus vertrat deshalb auch im besonderen die
Lehre von der Prädestination, die besagt, daß der
Mensch zur Seligkeit oder zur Verdammnis von Gott vorausbestimmt sei.
Die Menschengeschichte, die Augustinus in seinem Werk Über
den Gottesstaat darstellte, war für ihn ein Kampf zweier Reiche
oder Staaten gegeneinander: des Reiches der irdisch Gesinnten, der Gottesfeinde,
des Weltreiches (civitas terrena oder diaboli) und des Gottesreiches
(civitas dei). Dabei identifizierte er das Gottesreich seiner irdischen
Erscheinung nach aber nicht ohne weiteres mit der römischen Kirche.
Kann man Augustinus Gottesreich
oder Gottesstaat heute eher auf das Reich oder
den Staat (als den Tiefen Staat) der Globalisten
und ihrer Kartelle beziehen? (**|**).
Sind die Globalisten das Zielsubjekt der schrecklichen Kinder der Neuzeit,
also die schrecklichsten Kinder der Neuzeit? (**|**).
Haben sie sich nicht mittlerweile so weit abgehoben (wir erinnern uns:
Die »Progressiven« sind die »Abgehobenen«
**) vom Rest der Menschheit, daß
dieser nur noch als das Weltreich bzw. der Weltstaat
im Sinne von Realstaat und Realwirtschaft zu deuten
ist? Ist die Entzweiung dieser Reiche oder Staaten
aus einem ursprünglichen einheitichen Reich oder Staat
nicht mittlerweile so weit fortgeschritten (wir erinnern uns
wieder an die Progressiven **),
daß eine Wiedervereinigung unmöglich erscheint
oder sogar schon ist? Sind es nicht diese zwei Reiche oder
Staaten, auf die Kulturen sowieso unweigerlich zusteuern und
am Ende ihrer Modernen und Zivilisationen auch mehr oder weniger verwirklichen?
Haben nicht auch die schrecklichen und besonders die schrecklichsten
Kinder der abendländischen Neuzeit das Reich Gottes auf
das Irdische übertragen, wie Augustinus es wollte: eine irdische
Erscheinung des Reiches Gottes im Himmel als Gottesstaat
auf der Erde? Ja, offenbar! Augustinus wollte diese Verwirklichung.
Die schrecklichsten Kinder der abendländischen Neuzeit wollen
auch eine solche Verwirklichung, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen.
Sie sagen nämlich: Ihr sollt sündigen!. Augustinus
sagte: Ihr müßt sündigen!. Denn Augustinus
glaubte zu wissen, daß Menschen nicht fähig sind, nicht zu
sündigen (vgl. non posse non peccare), d.h.: ihr
müßt sündigen, weil ihr nicht nicht sündigen könnt.
Die schrecklichsten Kinder der abendländischen Neuzeit glauben
zu wissen, daß Menschen sündigen wollen, d.h.: ihr sollt
sündigen, weil ihr sündigen wollt. Augustinus wollte,
daß die Menschen die Sünde verneinen, glaubte aber zu wissen,
daß sie der Sünde niemals völlig widerstehen können.
Die schrecklichsten Kinder der abendländischen Neuzeit wollen,
daß die Menschen die Sünde bejahen, weil sie glauben zu wissen,
daß sie alle die Sünde begehen wollen. Beide - Augustinus und
die schrecklichsten Kinder der abendländischen Neuzeit - zählen
sich zu den Erwählten, die abgehoben (wir erinnern uns
noch einmal: Die »Progressiven« sind die »Abgehobenen«
**) und somit weit entfernt vom
Rest der Menschheit sind.
Die Zeiten des Müssens wegen des Nicht-anders-Könnens
sind größtenteils zumindest im Abendland und seinen Ablegern
vorbei. Die Zeiten des Sollens wegen des Wollens sind
im Abendland noch relativ jung und werden uns wohl noch mehr beschäftigen
als bis jetzt schon.
Ein anderes Beispiel für das Sollen
wegen des Wollens ist der Keynesianismus. Er setzt auf die Nachfrage,
bejaht den Konsum unbedingt, also auch die Sünde unbedingt. Deshalb
sagt er: Ihr sollt konsumieren, weil ihr konsumieren wollt!.
Einige noch nicht zu schrecklichen Kindern Gewordene deuten das wie folgt:
Ihr sollt sündigen, weil ihr sündigen wollt!. Sie
lehnen den Keynesianismus strikt ab. Aber wie groß ist die Zahl
der Menschen dieser noch unschrecklich gebliebenen Art, die im Konsumterror
noch eine Sünde sieht? Allein schon die Internetsprache verrät
doch, wie sehr der Keynesianismus trotz seiner leicht nachweisbaren Fehler
und Schwächen um sich greift: Im Internet wird nicht mehr gelesen
oder angeschaut, angehört u.s.w., sondern
konsumiert. Verdummung!
Modernes Fragen-Dreieck.
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Sloterdijks Dasein im Hiatus oder: Das moderne Fragen-Dreieck
De Maistre - Tschernyschewski - Nietzsche (**)
besagt, daß das Denken im europäischen 19. Jahrhundert sich
wesentlich in einem Fragen-Dreieck bewegt habe. Tatsächlich
waren die wesentlichen Reflexionen der beginnenden Moderne stets nur Antworten
auf die von Joseph de Maistre (1753-1821) in seinen Soireen von Sankt
Petersburg erörterte Frage: »Wie konnte Gott die französische
Revolution zulassen?«. Sie reagierten ferner auf die Titelfrage
von Nikolai Tschernyschewskis Roman Was tun?, der im Jahr 1863
erschien, und schließlich auf die durch Friedrich Nietzsche in der
Fröhlichen Wissenschaft von 1882 aufgeworfene Frage des Tollen
Menschen: »Stürzen wir nicht fortwährend?« (**).
(**).
Sloterdijk zufolge spiegelt sich das, was man den »revolutionären
Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts« (Karl
Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im
Denken des 19. Jahrhunderts, 1941) genannt hat, ... in de Maistres,
Tschernyschewskis und Nietzsches Fragen wider als die begriffene Unmöglichkeit,
das alteuropäisch Haus des Seins gelassen zu bewohnen. Eine monströse
Baustelle war an seine Stelle getreten. (**).
De Maistre schämte sich für Frankreich, dessen Revolution,
die nur Terror, Gewaltherrschaft, Kriege, unzählige Tote mit sich
brachte. Er betonte, wann immer es ihm nötig schien, er sei
zu keiner Zeit Franzose gewesen und habe nicht vor, es je zu werden
(**).
Für de Maistre waren Männer wie Marat, Robespierre, Napoleon
und ihresgleichen eben nichts anderes als genialische Automaten, denen
Gott die trübe Freiheit gewährt hatte, sich einem höllischen
Arbeitgeber anzudienen. Was Wunder, wenn sie unter dem Kommando dieses
Herrn die Staaten in ein Blutbad ohnegleichen stürzten? De Maistre
begreift das Weltgeschehen zwischen 1789 und 1809 - er kennt zum Zeitpunkt
der Soireen die kulminierenden Gewaltschauspiele von Moskau, Leipzig
und Waterloo noch nicht - als Ausfluß einer von Gott ironisch zugelassenen
Satanokratie (**).
De Maistre meinte, Gott habe, indem er die Revolution und alles
Folgende duldete, der Welt Gelegenheit bieten wollen, zu erfahren, wie
es ihr ergeht, wenn sie ganz sich selber überlassen ist - ahnend,
daß sie, wenn sie sich in Übersteigerung wiegt, ihren höchsten
Idealen zu folgen, zu einem Tummelplatz infernaler Mächte gerät.
(**).
Unzählige Opfer und unendliches Leid, Terror und Zwang waren doch
Tatsachen. Und Napoleon sagte: »Ein Mann wie ich pfeift auf
das Leben von einer Million Menschen«. (**).
Für de Maistre legt das nicht endende Blutbad der Jahre seit
1793 die Wahrheit über die Wirklichkeitsmächte der neuen Zeit
offen. Obschon das Zählen der Toten erst eine Passion des 20. Jahrhunderts
wurde, spürten schon die Zeitgenossen der Napoleonischen Kriege,
daß eine Ära der Verschwendung von Menschenleben begonnen hatte.
(**).
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PROGRESSIV |
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L
I
N
K
S |
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T
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MITTIG |
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KONSERVATIV |
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De Maistre war ein Konservativer in Reinform oder ein Rechtskonservativer,
jedenfalls kein Linkskonservativer und kein Mittigkonservativer,
generell kein Mittiger und erst recht kein Progressiver.
In den Augen des großen Liberalismus-Verweigerers ist die
entgrenzte Gewalt, wie sie im Revolutionszeitalter ausbrach, um sich nur
episodisch zu beruhigen, durchaus nicht das bedauerliche schlimme Mittel
zum guten Zweck, wie die unentwegten Progressiven zu behaupten nicht müde
werden - sie ist der unverhüllte Ausfluß ihres leitenden Prinzips.
- Das Böse wäre freilich nie in respektable Positionen gelangt,
hätte es sich nicht seit jeher darauf verstanden, eine gewinnende
Seite vorzuweisen. Es könnte die Menschen nicht anziehen, binden
und vorantreiben, wenn es sich nicht als das Normale, Humane und Notwendige
zu maskieren wüßte. Wenn die Anreger, Exekutoren und Interpreten
der Blutbäder immerzu von Freiheit und Gleichheit, von Eigentum und
Fortschritt, von Menschenrecht, Verfassung und Herrschaft der Vernunft
reden, ja, wenn sie uns alle mit ihren Ansprachen momenthaft begeistern,
so beweist die nur, daß sie den Rhetorikunterricht des Teufels mit
Erfolg besucht haben - und wie wenig wir noch immer imstande sind, uns
gegen ihre suggestiven Reden zu immunisieren. (**).
Es gilt demnach, die Macht der Reden nüchtern zu untersuchen. Die
methodologische Frage, wie Gott die französiche Revolution zulassen
konnte, übersetzt sich in die abgründige Erkundigung, wie den
Menschen der Ära nach dem großen Einschnitt sich selbst mit
Phrasen und Proklamationen genug verzaubern, um unter noblen Vorwänden
die gräßlichsten Gewalttaten begehen zu können. Damit
ist eine Problemstruktur bezeichnet, die sich unter dem Begriff »Ideologiekritik«
in die intellektuellen Profile des 19. und 20. Jahrhunderts einprägen
wird. Den vollendeten Ironiker de Maistre hätte es nicht überrascht,
daß Ideologiekritik zur Spezialdisziplin der kommunistischen Bewegung
wurde. Wo der Kommunismus an die Macht gelangt war, stellte er dank der
routinierten Verbindung der humanen Phraseologie mit dem vollendeten Partei-
und Staatsterrorismus die übrigen Praktiken auf dem Feld der Auslöschungen
in den Schatten. (**).
Kommen wir deshalb zu den beiden anderen Fragen in Sloterdijks modernem
Fragen-Dreieck:
Die anderen zwei zum modernen Fragen-Dreieck gehörenden Fragen
- Was tun? und Stürzen wir nicht fortwährend?
- betreffen den Streit um die Programmierung der Weltveränderungsmacht
und den Streit um die Rationalität oder Irrationalität
der Mobilisation .... Es ist das Ringen zweier miteinander unverträglicher
Bewegungsbilder: Was von der einen Seite als gewußter und gewollte
Fortschritt auf langen, manchmal gewundenen Alleen ausgelegt wird, erscheint
der anderen Partei als ein chronisches Nach-vorne-Stürzen, das sich
als Tat, Projekt und planvolles Handeln camoufliert. Die beiden Beschreibungen
führen sich gegenseitig eine je für die andere Seite unerträgliche
Ironisierung zu. Wer dem unheimlichen Bild vom Sturz nach vorne den Vorzug
gibt, erscheint in den Augen der Fortschrittlichen wie ein boshafter blinder
Passagier an Bord eines Schiffs, das dank der Arbeit der anderen zielsicher
der hellen Zukunft entgegenfährt. Wer hingegen an einen garantierten
Fortschritt glaubt, ist in den Augen derer, die überall den Sturz
nach vorne spüren, ein schlafwandelnder Philisiter, der schon vom
Dach gefallen ist und noch im Sturz den Vorwärts liest. -
Das 20. Jahrhundert erweist sich rückblickend als eine Zeit, in der
die beiden Grundaussagen über die bewegte Welt den Versuch unternahmen,
sich gegenseitig zu absorbieren. Als Martin Heidegger begann, den Sturz
nach vorn mit dem bewußt unternommenen Schritt zu amalgamieren,
gelang ihm um 1927 die Begriffsprägung »Geworfenheit«
- ein Ausdruck, der den Vorrang des Sturzes respektiert, doch ein gewisses
Maß an dessen Aneignung durch den Gang suggeriert. Dies mündet
in einen existententialistischen Heroismus, dessen zeitweilige Nähe
zu Hitlers Version des Sozialismus in einem Land bekannt ist, wenn auch
seine Bewertung noch immer für Differenzen Anlaß gibt. Umgekehrt
haben Liberale und Sozialisten aus dem Scheitern des Konzepts von linearem
Fortschritt die Konsequenz gezogen, man könne auch aus der progressiven
Grundstellung Kompromisse schließen mit dem kaum noch abzustreitenden
Geschehen fortwährenden Stürzens - oder wie man das Mitgerissenwerden
durch unlenkbare Bewegungen nennen will. Denker dieser Tendenz retteten
den für sie unentbehrlichen Rest des aktivistischn Optimismus mit
Hilfe der Doktrin, jenseits der Alternative von Stürzen und Gehen
solle auch in schwerem Gelände ein gewisses Maß an selbstbestimmter
Navigation möglich bleiben. - Ein wirksames Bild für den Kompromiß
der optimistischen Aktivisten mit der unaufhebbaren Passivität in
der globalen Drift hat der österreichische Philosoph Otto Neurath
gefunden, als er 1932 davon sprach, wir seien wie Schiffer, »die
ihr Schiff auf hoher See umbauen müssen«. .... Noch niemand
scheint auf die Idee gekommen zu sein, man müsse Flugzeuge während
des Flugs in großer Höhe umbauen. Hin und wieder hört
man jedoch die Befürchtung, das Flugzeuge, an dessen Bord die Menschheit
in die Zukunft reist, sei gestartet, bevor die Techniker das Fahrwerk
zur Landung eingebaut hatten. (**).
Dieser Deutung kann man nur zustimmen.
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Mein Frankreich? |
Der Zeitpunkt für den Durchbruch des politischen
Erfolgs der schrecklichen Kinder war mit der nordamerikanischen
Revolution von 1776 und der französichen Revolution von 1789 gekommen.
Seitdem ist das Wachsen des Hiatus wahrnehmbar, zunächst
politisch, dann terrormäßig, kriegerisch (also immer noch politisch,
nur eben noch schlimmer), juristisch, religiös, theologisch,
philosophisch und sonstwie, z.B. modisch, künsterisch (in jeder
Art, also auch architektonisch und musikalisch), sportlich. Wir haben
es seitdem mit der Umwertung aller Werte, d.h. mit dem Nihilismus zu tun
- einer Zeit der bürgerlichen Gessellschaft, der zivilisatorischen
Moderne einer Kultur. 2008 sagte Sloterdijk in seiner Fernsehsendung Das
Philosophische Quartett: Es gibt ein starkes Argument eines
deutschen Staatsrechtlers ...: »Wer Menschheit sagt,
will betrügen« (Carl Schmitt). Das heißt, man täuscht
ein »Super-Wir« vor, das es noch gar nicht gibt, das in Wirklichkeit
wiederum eine maskierte partikulare Stimme ist. Nach dem Schema hat ja
übrigens auch die Ideologiekritik in den letzten 200 Jahren funktioniert.
Da treten z.B. so ein paar französische Rechtsannwälte ... auf
- es sind vielleicht ein paar 100 Leute - und nennen sich selbst »die
Menschheit«. Daraus ist die französische Revolution
hervorgegangen. Und so funktioniert das immer. Es gibt immer eine kleine
Avantgarde - die nennt sich selbst »Menschheit« - und trägt
sozusagen die Flamme vor allen anderen her und sagt: »Alles hört
auf mein Kommando!« (**).
Ja, so funktioniert das immer! In Sloterdijks 2012 erschienenen Buch Zeilen
und Tage heißt es entsprechend: Der erste Schurkenstaat
der Moderne, das revolutionäre Frankreich .... (**).
Außerdem: Wovon träumt Frankreich denn seit 1871, wenn
nicht von den Zeiten vor der Niederlage? (**).
Nach Frankreichs Niederlagen durch die Preußen bei Roßbach
(1757) und während der Napoleonischen Kriege (Aspern, 1809, Leipzig,
1813; Paris, 1814; Waterloo, 1815) war es eigentlich schon am Ende, doch
die Niederlagen setzten sich fort: im Deutsch-Französischen Krieg
(1870-1871), der die hohenzollernsche Reichsgründung zur Folge hatte,
im 1. Weltkrieg, im 2. Weltkrieg, im Indochinakrieg (vorletzter
Kolonialkrieg Frankreichs), der deswegen zum Vietnamkrieg
(Vernichtungskrieg der USA) wurde, im Algerienkrieg (letzter
Kolonialkrieg Frankreichs), um nur die bekanntesten zu nennen, die Frankreich
verloren hat, und zwar entweder während oder am Ende des jeweiligen
Krieges. Wie die Franzosen ihre Befreiung von der deutschen
Besatzung durch die USA und das BE (British Empire) mißinterpretieren,
ist ebenfalls bekannt: Wie die Franzosen nach der libération
plötzlich neben den Siegern aufmarschierten, als ob nie etwas gewesen
wäre, in dopppelter Heuchelei ..., so haben die Niederländer
nach 1945 sich etwas vorgemacht und ihre Nachkriegswirklichkeit auf einen
nicht selbst erfochtenen Sieg aufgebaut. Die nachträgliche nukleare
Großmannssucht der Franzosen ist das formale Äquivalent der
nachträglichen kosmopolitischen Umarmungssucht der Holländer.
(**).
Sloterdijk zufolge hat z.B. Cioran ... Spenglers Thesen über
das Schicksal des Abendlandes aufs französische Format schrumpfen
(**)
lassen und die These vertreten, daß die Reste von französischem
»Leben« ... nur noch in der Pariser Banlieue (**)
zu finden seien. Die Franzosen haben seit ihrem Erfolg durch
Revolution, Terror und Krieg nur noch verloren. Goethe
über die Folgen der französischen Revolution: Bis dahin war
alles Streben, danach war alles Fordern. (**).
Auch darum ist nach meinem Dafürhalten in Sloterdijks Fragen-Dreieck
die erste der drei Fragen die fundamentale Frage: »Wie
konnte Gott die französische Revolution zulassen?«. (**)
Mit dieser Revolution ist der Untergang Frankreichs - und
nicht nur der, sondern auch der Untergang des gesamten Abendlandes - eingeläutet
worden. Trägt auch darum eines von Sloterdijks 2013 erschienenen
Büchern den Titel Mein Frankreich?
Was Sloterdijk den Hiatus nennt, ist
die immer größer werdende, sich obendrein unter dem Stichwort
Freiheit artikulierende Kluft zwischen Herkunft und Zukunft,
zwischen Konservativem und Progressivem, zwischen Vormodernem und Nachmodernem,
zwischen der Zeit vor dem Hiatus und der Zeit nach dem Hiatus.
Diese Freiheit ist der Ausdruck für den Hiatus, und in
dieser Kluft ist die Moderne als die bürgerliche Gesellschaft zuhause
- unheimlich. Es geht um die Asymmetrie zwischen Herkunftswelten
und Zukunftsverhältnissen (**).
Die Modernen sind zu dieser Freiheit verdammt, weil sie sich
in den Hiatus begeben haben und nun in ihm unheimlich zuhause sind.
Ist eine solche Freiheit im Hiatus das, was Menschen
wollen?
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Zukunft |
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Gegenwart |
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Herkunft |
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Nachmoderne |
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Moderne |
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Vormoderne |
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Nach der Zivilisation |
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Nach dem Nihilismus |
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Vor dem Nihilismus |
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Nach der Freiheit |
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Vor der Freiheit |
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Nach der Asymmetrie |
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Asymmetrie |
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Vor der Asymmetrie |
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Zivilisationsdynamischer Hauptsatz.
Der zivilisationsdynamische Hauptsatz lautet: Im Weltprozeß
nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt, als unter
Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können.
Das heißt: Der chronische Überschuß an Mobilisierungen
von Aktivitäten und die fortschreitende Auslösung tatbewegter
Ereignisströme, die sich in objektiven Relikten niederschlagen, treibt
das Weltverhältnis und Wirklichkeitserlebnis der Modernen in stetig
wachsende Asymmetrien. Dieses Zuviel an neuen Kausal-Motiven ist für
die globale kulturelle Entropie verantwortlich, die jeder Zeitgenosse
seit dem frühen 19. Jahrhundert am Weltbefund unwillkürlich
konstatiert, am eigenen Dasein nicht weniger als im Wandel der Mitwelten.
Insbesondere das Hauptsymptom des beginnenden 21. Jahrhunderts, aktuelle
Schulden mit neuen Schulden zu »bezahlen«, ist nur ein Symptom
unter den vielen, die das ständige Vorangleiten und Vorwärtsstürmen
im generalisierten Futurismus anzeigen. In der schon alltäglichen,
pervers normalisierten Praxis der Schuldenumwälzung erkennt man die
systemische Drift zu wachsenden Ungleichgewichten. (**).
Der zivilisationsdynamische Hauptsatz besagt also, daß die
Summe der Freisetzungen von Energien im Zivilisationsprozeß regelmäßig
die Leistungsfähigkeit kultivierender Bindekräfte übersteigt
(**).
Spenglerisch gesagt: Die Kultur wird von ihrer eigenen Zivilisation
gefressen. Gerade in der riskanten Lebensform der großen
Macht-Stadt, in der sich Völker, Mythen, Finten und Ambitionen mischen,
macht sich das zivilisationsdynamische Grundgesetz bemerkbar, wonach durch
den aktuellen modus vivendi unvermeidlich mehr unvorhersehbare
Energien, mehr unbekannte Unruhen und mehr neuartige Störungen der
bestehenden Ordnung freigesetzt werden, als diese mit ihren bordeigenen
Mitteln unter Kontrolle bringen kann. (**).
Dies ist typisch für die Zeit der Zivilisation bzw. Moderne einer
Kultur als die Zeit der Groß- und Weltstädte, wie
auch Spengler immer wieder betonte (**).
Der zivilisationsdynamische Hauptsatz und seine fünfundzwanzig
Untersätze ergänzen die Thesen Niklas Luhmanns über die
Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme in der Moderne (**)
durch eine systemhistorische Dimension, wobei sie den Akzent auf die »Emissionen«
bzw. die Wirkungsüberschüsse modernisierter Praxisspiele setzen.
Mit ihrer Hilfe lassen sich kaum traktierbare und zu Mystifikation verführende
Großbegriffe wie »Ereignis«, »Freiheit«,
»Zufälligkeit« und »Zukunftsoffenheit« in
diskrete Aspekte zerlegen und auf problematische Tendenzen überprüfen,
ohne daß damit Zugeständnisse an eine verbrauchte »Kulturkritik«
verbunden wären. Solche Exzesse ins Unplanbare kann auch die Zauberformel
jüngerer Evolutionstheorien: »Emergenz«, nicht zur Ruhe
bringen. Ja, der Verdacht drängt sich auf, man rede über »Selbstorganisation«
und Neuentstehung von »Ordnung« am liebsten dann, wenn offenkundig
ist, daß wir der Entropie bis auf weiteres nur mit Weihwasser begegnen.
(**).
Sloterdijk hat mit seinem Buch über die schrecklichen Kinder
wirklich ein hochaktuelles Thema vorgelegt, weil es am allermeisten die
Moderne als Zivilisation bzw. bürgerliche Gesellschaft, die Freiheit,
die Asymmetrie zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Konservativem und
Progressivem, zwischen Vormodernem und Nachmodernem, die Antigenealogie,
die Gegenwart betrifft (**). Der
zivilisationsdynamische Hauptsatz beweist eine Durschlagskraft:
Indem der Eintritt von vormals Erbelosen und Illegitimen in den ausgeweiteten
Spielraum legitimer Forderungen voranschreitet, setzt der Prozeß
zu jedem Zeitpunkt sehr viel mehr Reklamationen nach Würden, Chancen
und Vorzugspositionen frei, als mit Mitteln des jeweiligen aktuellen Zustands
befriedigt werden können. Nie wird sich das drastischer enthüllen
als im Gefolge der us-amerikanischen und französischen Erklärungen
allgemeiner »Menschenrechte« am Ende des 18. Jahrhunderts.
Mit diesen Sprechakten, zeitgemäß, unumgänglich, hochherzig
und uneinlösbar, wie sie waren, setzte das nie mehr zu beendende
Weltalter der Reklamationen ein. (**).
Man könnte auch sagen, daß die bürgerliche Gesellschaft
als Zivilisation bzw. Moderne eben dekadent, nihilistisch ist. Doch Sloterdijk
meidet solch eine Diagnose bzw. Bewertung, weil diese seiner Meinung nach
ihrerseits Nihilismus produzieren, wie er z.B. am 02.12.1998
in der Fernsehsendung Nachtstudio (mit dem Titel: Der Zufall
in der Geschichte - gibts den?) sagte, um dennoch schon im
folgenden Jahr, als der zweite Band seines Projektes - Sphären
II - Globen (1999) - erschien, der Öffentlichkeit mitzuteilen:
Die neuen Immunitätstechniken empfehlen sich als Existentialstrategien
für Gesellschaften aus Einzelnen, bei denen der Lange Marsch ...
zum Ziel geführt hat - zur Grundlinie des von Spengler richtig prophezeiten
Endes jeder Kultur: jenem Zustand, in dem es unmöglich ist, zu entscheiden,
ob die Einzelnen außergewöhnlich fit oder außergewöhnlich
dekadent sind. Jenseits dieser Linie verlöre die letzte metaphysische
Differenz, die von Nietzsche verteidigte Unterscheidung von Vornehmheit
und Gemeinheit, ihre Kontur, und was am Projekt Mensch hoffnungsvoll und
groß erschien, verschwände wie am Meeresufer ein Gesicht im
Sand. (**).
Ist nun beispielsweise das Hauptsymptom des beginnenden 21. Jahrhunderts,
aktuelle Schulden mit neuen Schulden zu »bezahlen« ... nur
ein Symptom unter den vielen, die das ständige Vorangleiten und Vorwärtsstürmen
im generalisierten Futurismus (**)
und diese systemische Drift zu wachsenden Ungleichgewichten
(**)
in der schon alltäglichen, pervers normalisierten Praxis der
Schuldenumwälzung (**)
kein neues, sondern ein im Grunde schon bekanntes, wenn auch dem Umfang
nach in früheren Zeiten noch kleineres Problem? Ja, ist es. Denn:
Zur Zeit des dritten spanischen Staatsbankrotts von 1596 (nach den
Ausfällen von 1557 und 1575) unter Philipp II. machten die Zinszahlungen
der Krone 40 Prozent des Staatshaushalt aus. Dennoch konnten zahllose
Kredite nicht zur Zufriedenheit der Gläubiger bedient werden. Im
Jahr 1787 mußten von den Einnahmen der französischen Krone,
die sich auf 427 Millionen Livres beliefen, 285 Millionen für Schuldendienste
ausgegeben werden, während der Staatsdefizit weiter wuchs - woraus
im übrigen hervorgeht, daß der auf Dauer gestellte Betrug des
Fiskus an der Gesellschaft der Produktiven - abgesichert durch legale
Enteignungsmacht - keine Erfindung des 20. und 21. Jahrhunderts darstellt:
Er rechnete lange vor der Wende zu demokratischen Prozeduren, unter die
Gründungsgeheimnisse des neuzeitlichen Staatswesens. .... Als ein
tausendjähriges Reich des Defizits hatten die alteuropäische
Aristokratie und ihr »Staat« Bestand gehabt. Sobald man besser
zu rechnen lernte, waren ihre Tage gezählt. Was man später »Ausbeutung«
nannte, war nichts anderes als das weltalterlange Zugeständnis der
Reichen an die Armen, für ihre Überziehungen aufzukommen. Dieses
Regime gelangte mit dem »Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft«
an sein uvermeidliches Ende. (**).
Es vollzog sich das, was man die bürgerlichen »Aufstiege«
nennt, in Form eines Prozesses, bei dem sich eine Subversion an die andere,
eine Reklamation an die folgende, eine Umwertung der Werte an die nächste
reihte, bis die irreversible Umdeutung der genealogischen Verhältnisse
erreicht war, das heißt der Nullpunkt der Legitimierung durch Herkommen
und die förmliche Gleichstellung aller in einem genealogisch unmarkierten
Raum. Daß das mit »Chancengleichheit« nur wenig zu tun
hat, illustriert das Werk des Historikers Gregory Clark: The Son also
Rises: Surnames and the History of Social Mobility, 2014, das versucht,
den Beweis zu führen, daß ein relativ kleiner Stock von Elite-Familien
während der letzten 300 bis 400 Jahre ihre Position zu verteidigen
wußte, indes auf der Vorderbühne der Historie überwiegend
neue Gesichter den Ton angaben. (**).
Und genau das ist heute in noch größerem Ausmaß der Fall.
Diese beiden Phänomene korrelieren miteinander. Je reicher und also
mächtiger die zu den schrecklichsten Kindern gewordene
Elite von oben, desto gleichgestellter und also
aufgestiegener die schrecklichen Kinder, die Subversiven,
Reklamierer, Empörer und Umwerter von unten und desto ausgebeuteter
und verschuldeter die Leistungsträger (Mittelschicht). **
**
**
**
**
**
Abschlußbemerkungen.
Das Buch über die schrecklichen Kinder
ist Peter Sloterdijks bestes Buch. Trotz der in diesem
Buch enthaltenen vier Fehler (**)
habe ich es in meiner Liste der Top 100 der Bücher ab 1800
an die dritte Stelle gesetzt (**),
wie oben schon erwähnt (**).
Wirklich: dieses Buch hat es in sich (Martin Meyer). Seine
große Bedeutung liegt nicht nur in der Tatsache, daß in ihm
viel Geschichtsphilosophie enthalten ist, was bei allen anderen Werken
Sloterdijks auch der Fall ist, sondern in der Aktualität des Themas,
was bei fast allen anderen Werken Sloterdijks zwar auch, aber nicht
mit derselben Konsequenz der Fall ist. Vielleicht hat diese Tatsache auch
mit der globalen Finanzkrise von 2008 (**),
die zu einer globalen Staatenkrise - in Verbindung mit Kriegen natürlich
- weitergetrieben wurde, zu tun, was nämlich im Falle der hysterischen
Reaktion auf Sloterdijks philosophische Reaktion auf eben diese globale
Finanzkrise zu einer zweiten unnötigen Debatte (**)
von 2009 bis 2010 und möglicherweise deshalb anschließend zu
einer Bedenk-, Vorbereitungs- und Bearbeitungzeit für das Buch über
die schrecklichen Kinder führte, bevor dieses großartige
Werk 2014 veröffentlicht wurde. Wer angesichts solcher Dramatiken
ein aktuelles Thema auch im Zusammenhang mit der Zukunft - und sei sie
noch so düster und noch so sehr ignoriert - vorlegen will, muß
auch das Interesse der Leserschaft angesichts eben dieser Umstände
berücksichtigen und entsprechend didaktisch vorgehen und das Lernen
in seiner gesamten Bedeutung direkt ansprechen:
Aufhebung der Korruption wäre
das weltliche Gegenstück zur Reue, mit der in christlicher
Tradition die Wiederaufrichtung des Menschen nach dem Fall beginnt.
Die Aufhebung der Korruption ist der Enstfall des Lernens. Wer ein
Lernender ist, häuft nicht bloß Informationen an. Er
versteht, daß wirkliches Lernen etwas von einer Bekehrung
hat. Gäbe es in der Kulturtheorie ein Pendant zu dem,
was im katholischen Altaraufbau das Allerheiligste verkörpert,
es könnte nichts anderes sein als dieser am weitesten heruntergekommene
Begriff der Gegenwart: »Lernen«. Im kommenden Jahrhundert
sollte man ihn wie eine numinose Präsenz in einem Offenbarungszelt
hüten. An seltenen Tagen dürfte man ihn für einige
Momente enthüllen. Ist nicht der Verdacht begründet, das
Lernen sei der unbekannte Gott, von dem es seinerzeit in einer Anmerkung
von seherischer Dunkelheit hieß, nur noch ein solcher könne
uns retten (**)?
(**).
|
So scheint der Titel meiner Rezension zu passen: Die schrecklichen
Kinder der Neuzeit sollen endlich lernen! (**).
Da ich mich immer schon für das Lernen interessiert habe und seit
mittlerweile sehr langer Zeit als Lehrer arbeite (**),
ist mir ein zum Lernen aufrufendes Buch besonders sympathisch.
Das Lernen und alles damit Zusammenhängende, also die gesamte Bildung,
der Betrieb an Universitäten und Schulen und darum ein beträchtlicher
Teil unserer Kultur haben so sehr nachgelassen wie noch nie zuvor in unserer
Geschichte. Schlimmer noch: Es ist Absicht dahinter. Die Bildungsmisere
ist strategisch geplant. Hinter ihr steckt der Nihilismus bzw.
der Hiatus, um es auf Sloterdijkisch zu sagen. Die Bildungsanstalten
sind stets sein erstes Opfer, weil (a) Kinder und Jugendliche leichter
zu beeinfussen sind als Erwachsene und (b) außerhalb der Familie
Kinder und Jugendliche effektiver in Richtung Nihlismus bzw. Hiatus, Antigenealogismus,
Umwertung aller überlieferten Werte u.s.w. zu beeinflussen sind als
innerhalb der Familie, denn die Familie soll ja zerstört werden -
sie ist einer der wichtigsten unter den überlieferten Werten - und
wir wissen, daß sie schon seit langem zerstört wird.
|
Über Sloterdijks
Buch Die schrecklichen Kinder der Neuzeit schrieb
Götz Kubitschek am 13. August 2014: Ich halte Sloterdijks
Buch für sehr wichtig. ( ).
Er hielt es sogar für so wichtig, daß er seiner Leserschaft
eine Auslosung und anschließende Veröffentlichung der
zwei besten Rezensionen anbot. Gabriele Folz-Friedl siegte: Sloterdijks
jüngstes Werk scheint mehr noch als alle seine voraufgehenden
einen Nerv getroffen zu haben, was nicht nur Verkaufszahlen, sondern
allseits überbordende Rezeptionen beweisen. ( ).
Zweiter wurde Peter Niemann: Das Buch ist lesenswert, absolut
lesenswert. .... Das Hintergrundwissen des Autors ist, wie man es
von ihm kennt, abgrundtief ... - und das Buch fordert selbst den
gebildetesten Leser angsichts des überreichen Wissens- und
Wortschatzfundus heraus. ( ).
Hoffentlich hat Sloterdijk diese Komplimente richtig verarbeitet
(**).
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Außerdem ist es so, daß ich Sloterdijks
Buch über die schrecklichen Kinder trotz der darin
- und auch in seinen anderen Büchern - enthaltenen vier Fehler (**),
von denen ich zumindest drei in erster Linie auf Sloterdijks Hang zur
Übertreibung zurückführe (**),
als ein gelungenes Werk anerkenne, weil Sloterdijk darin erklären
kann, warum und wie in lebensphilosophischer Hinsicht die abendländische
Moderne das geworden ist, was sie ist, denn er erklärt es aus der
Geschichte und besonders aus der Geistesgeschichte (das hat er zwar auch
in seinen früheren Werken schon getan, jedoch unter anderen Gesichtspunkten).
Nachteilhaft sind lediglich die eben erwähnten vier Fehler Sloterdijks,
denen auch die zu den drei der vier Fehler gehörenden Psychologismen
und Soziologismen angehören, die also ebenfalls größtenteils
als Übertreibungen zu bewerteten sind, wenn nicht sogar zu den Gründen
für Übertreibungen zu zählen sind.
Nach uns die Sintflut kann nur sagen, wer entweder schon
ein schreckliches Kind ist oder schon weiß, was schreckliche
Kinder so alles anrichten. Die historischen Beispiele für schreckliche
Kinder, die Sloterdijk anführt, überzeugen als solche
völlig. Und es läßt sich tatsächlich historisch nachverfolgen,
besonders seit dem Hiatus, daß die schrecklichen Kinder
immer mehr, immer schrecklicher geworden sind - bis hin zu den bislang
schrecklichsten, nämlich diejenigen aus dem Gläubiger-Schuldner-System,
die angeblich die Elite bilden.
Über Sloterdijks zivilisationsdynamischen Hauptsatz
(**) habe
ich mich sehr gefreut, weil er wirklich eine Ergänzung zu den Thesen
Niklas Luhmanns über die Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme in
der Moderne (**)
durch eine systemhistorische Dimension (**)
bedeutet. Luhmann hat sich darüber hoffentlich ebenfalls gefreut
- auch wenn er schon tot ist (**)
-, denn Luhmanns die Menschen nur als Umwelt kennende Kommunikation
wird ihm gemäß ja sogar auch nach dem Tod aller Menschen
noch kommunizieren (**|**).
Die Sprache spricht ewig.
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X = Linkskonservatives. |
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X = Mittigkonservatives. |
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X X
= Links- und Mittigkonservatives;
X = Deckung (Rein-Konservatives).
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Wenn Sloterdijk ein Linkskonservativer (**)
ist und ich ein Mittigkonservativer (**),
dann stimmen wir im Rein-Konservativen überein (vgl.
auch in den nebenstehenden Abbidungen). 2016 sagte Sloterdijk, als er
noch sehr stark unter dem Eindruck der 3. Sloterdijk-Debatte
(**)
stand: Es trifft zu, daß Safranski und ich gegen die »Flutung«
Deutschlands mit unkontrollierbaren Flüchtlingswellen Bedenken ausgedrückt
haben. Aus meiner Sicht bringen unsere Einlassungen eine linkskonservative
Sorge um den gefährdeten sozialen Zusammenhalt auf den Begriff. Linkskonservatismus,
der meine Farbe ist seit langem, rechnet unter die Nuancen, die in Gefahr
sind, im differenzenfeindlichen Klima ausgelöscht zu werden.
(**).
Und: Wenn man einen gewissen Grad der Teilhabe an sozialen Gütern
erlangt hat, entwickelt man ein Bewahrungsinteresse. Der Sozialstaat ist
strukturell konservativ-expansiv. Auch der Rechtsstaat lebt davon, daß
es in jeder Generation genügend viele Akteure gibt, die ihn erhalten
und weiterdenken wollen.
Tatsache ist, daß die Rendite, also die Rückkehr
des Resultats - das ist ja das Wort Rendite in der Sache verstanden
-, die Rückkehr des Resultats schneller eintrifft als die neue
Generation. Die neue Generation ist immer eine Sache, die 25, 30
Jahre braucht, bevor sie eintrifft in ihrer ganzen Wirklichkeit
und Wirkungsmächtigkeit. So lange will der Mensch in der modernen
Gesellschafts- und Weltform nicht mehr warten. .... Für
eine Generation hat heute niemand mehr Zeit.
Und das Ruhrgebiet ist sicher auch eine Landschaft, in der diese
Mobilmachung der langsamen Prozesse zugunsten der schnelleren Prozesse
sich in exemplarischer Form darstellt. (Peter Sloterdijk,
Projekte der Ungeduld [Film], 2010 **.)
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Ohne Errungenschaftskonservatismus kann ein Gemeinwesen unseres Typs nicht
existieren, deshalb habe ich vor kurzem eine Vokabel wie »linkskonservativ«
benutzt, um die Gegend zu kennzeichnen, aus der ich argumentiere. Das
Echo war bezeichnend: Sobald man daran erinnert, daß gerade die
progressiven politischen Systeme, und die Bundesrepublik Deutschland gehört
dazu, Bewahrungs- und Abgrenzungsinteressen haben, heftet sich die Meute
des abstrakt Universalistischen an deine Fersen. (**).
Ja, das ist die Argumentation eines Linkskonservativen. Wie sieht nun
die Deckung von Linkskonservativem und Mittigkonservativem aus?
Ganz einfach: Die Deckung ist das Rein-Konservative (siehe
X in der drittens der drei nebenstehenden
Abbildungen), also das, was das Konservative ohne jede Tendenz ist:
das reine Konservative (d.h. ohne linke, mittige oder rechte
Tendenz).
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Es gibt nicht wenige Leute - und es sind nicht die dümmsten
-, die uns heute darauf hinweisen, daß möglicherweis
eine gewisse Demobilisierung, eine Verlangsamung der Renditeerwartung
im weitesten Sinn des Wortes - der Resultaterwartung, der Ergebniserwartung
-, daß eine Verlangsamung dieser Vorgänge uns möglicherweise
besser täte als die immer weiter gehende Beschleunigung des
Renditegedankens. Denn die natürliche Grenze ist eben immer
die, die durch die Generation gesetzt wird. Und die Generation
ist eben der Vorgang, der sich in einem sehr langsamen Umschlag,
in einem etwa 25-Jahre-Rhythmus, vollzieht und der etwa viermal
in einem Jahrhundert stattfinden kann. Aber der Kapitalist hat nicht
Zeit dafür, daß nur viermal in einem Jahrhundert es in
der Kasse klingelt, sondern er möchte - wie wir jetzt alle
wissen inzwischen - alle Vierteljahre einmal in seine Bücher
schauen und möchte, daß es alle drei Monate klingelt.
Die kulturelle Weisheit dürfte darin bestehen,
daß wir heute diese Option auf Hyperbeschleunigung ... zurücknehmen
und uns mit etwas langsameren Rhythmen zufriedengeben. (Peter
Sloterdijk, Projekte der Ungeduld [Film], 2010 **.)
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Als Mittigkonservativer habe ich mit dem Linken überhaupt
nichts zu tun, also auch nichts mit der linken Tendenz eines Linkskonservativen
wie Sloterdijk. Wenn Sloterdijk sich über das Fehlen des Bewahrungsinteresses
beim Sozialstaat beklagt, hat das für den Mittigkonservativen eine
etwas andere Wertbedeutung als für Sloterdijk als Linkskonservativen.
Den Mittigkonservativen interessiert an erster Stelle das Mittigkonservative,
an zweiter Stelle das Konservativmittige, an dritter Stelle das, was sonst
noch zum Konservativen gehört, an vierter Stelle das, was sonst noch
zum Mittigen gehört, an fünfter Stelle das, was als Konservatives
zum Linken oder Rechten gehört, an sechster Stelle das, was als Mittiges
zum Linken oder Rechten gehört, an siebter Stelle das, was überhaupt
nichts mit dem Konservativen und Mittigen zu tun hat. Man setzt halt Prioritäten.
Natürlich setze ich mich als Mittigkonservativer auch mit allen anderen
Themen auseinander; aber ich bewerte sie anders als jeder Nicht-Mittigkonservative.
Der menschliche Konservatismus läßt sich einfach
auf Dauer nicht mehr leugnen. .... Ich sage: Im 21. Jahrhundert
werden alle Menschen konservativ sein. Und zwar auf Grund der
Tatsache, daß wirklich progressiv nur noch die Apparate und
die Algorithmen sein werden. Und der Mensch wird als eine alte schwerfällige
Biomasse dahinter herkommen als eine ewige Nachhut der Entwicklung.
(Peter Sloterdijk, Projekte der Ungeduld [Film], 2014 **.)
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Es geht hierbei also zumeist um Werte, und Werte haben viel mit Interesse
zu tun. Herkunft (Vergangenheit), Abstammung, Überlieferung, Geschichte,
Familie, Heimat, aber eben auch die Umwelt, der Planet als unser und aller
Lebewesen Daseinsort gehören zu meinen obersten Werten. Das
ist bei Sloterdijk dann nicht sehr viel anders, wenn man die Linkstendenz
in seinem Konservativsein und die Mittigtendenz in meinem Konservativsein
vernachlässigt, also: nur das Rein-Konservative berücksischtigt.
Die Motive für die bereits angesprochenen vier Fehler (**)
in diesem hier rezensierten und auch allen anderen Werken Sloterdijks
führe ich auf die Linkstendenz in seinem Konservativsein zurück,
denn es gibt nicht nur Indizien, sondern auch Beweise dafür, daß
drei von Sloterdijks Hypothesen - (1.) daß alle Menschen Abendländer
seien, (2.) daß die Postmoderne und die Posthistorie bzw. das Ende
der Geschichte durchaus schon erreicht sein könnten, (3.) daß
die Abendländer (diesmal nicht zufällig nicht als Menschheit
verstanden) bis heute unter den Folgen der ihnen von Paulus und noch mehr
von Augustinus eingetrichterten bösen Verdunkelungen einer mythologischen
Erzählung zu leiden hätten - falsch sind. Wären alle Menschen
Abendländer, die Postmoderne und die Posthistorie bzw. das Ende der
Geschichte durchaus schon erreicht und die echten Abendländer auch
heute noch sehr an der Paulus/Augustinus-Krankheit Leidende, dann wäre
das eine große Freude für die Linken - aber eben nicht für
andere. Jeder Linkskonservative vertritt schon per
Definition mehr das Konservative als das Linke - so wie es die Grammatik
des Wortes Linkskonservativer hergibt (**).
Also muß auch Sloterdijk mehr das Konservative als das Linke vertreten,
und wenn er das nicht tut, dann darf er sich eben nicht einen Linkskonservativen
nennen. Zwar sind zumindest drei der vier Fehler zu relativieren, weil
Sloterdijk sie selbst hin und wieder insofern korrigiert, als daß
er sie relativiert, besonders in Gesprächen; aber in den meisten
seiner Bücher sind sie eben enthalten ich habe
32 seiner Bücher gelesen (**),
hiervon das letzte 2016.
Ich weiß also, daß Sloterdijk hin und wieder übertreibt
und deswegen in Gesprächen nicht selten einige seiner Aussagen relativiert
oder sogar verneint. Das sei ihm ja auch gegönnt. Trotzdem wüßten
bestimmt nicht wenige aus seiner Leserschaft auch ganz gerne, wann er
an welchen Textstellen übertreibt. (**|**).
Auf einer der Webseiten Sloterdijks ist die folgende Aussage zu lesen:
Es versteht sich bei diesem Autor von selbst, daß seine Äußerungen
im Modus der ironischen Übertreibung auftreten und als solche
gelesen werden müssen ( ).
Da diese Aussage auf einer von Sloterdijks eigenen Webseiten zu
lesen ist, kann man davon ausgehen, daß er mit ihr einverstanden
ist. Das freut mich. 
Abendländer sind nach wie vor strikt von Nichtabendländern
zu unterscheiden. Die Moderne ist nicht vorbei, sondern lediglich in ihrer
Spätphase. Auch ist die Geschichte nicht zu Ende. Und die Abendländer
leiden nicht an einer von Paulus und Augustinus verursachten seelischen
oder/und geistigen Krankheit, sondern an einer Kulturschwäche, die
man Zivilisation nennt und für die die Umwertung ihrer
Werte, also der Nihilismus symptomatisch ist. Diese Zivilisation mit all
ihren Symptomen war schon angelegt, als von der abendländischen Kultur
noch gar nichts zu erkennen war, und wirkte schon zu dieser Zeit wie ein
Attraktor in der Zukunft, der auch bei der Entwicklung von Leben eine
sehr entscheidende Rolle spielt, d.h. sowohl in der Evolution als auch
in der Geschichte. Wenigstens insofern kennt das Leben ein Ziel. Und mit
der Kultur ist das überhaupt nicht anders. Was diesen Attraktor angeht,
so meine ich - wie Sloterdijk -, daß auch z.B. Jesus, Paulus und
Augustinus mit dazu beigetragen haben, auf einen solches Ziel hinzuwirken.
Zusätzlich aber meine ich - nicht wie Sloterdijk -, daß
dieses Wirken von Jesus, Paulus und Augustinus nicht die übertriebenen
Auswirkungen hatte, die Sloterdijks Hypothese unterstellt, sondern lediglich
solche, die dazu dienten, daß später, nämlich mit Beginn
der abendländischen Moderne bzw. Zivilisation, eine Umwertung aller
Werte und also ein Nihilismus sich ereignen kann, so daß es dann
kein Wunder mehr ist, wenn tatsächlich z.B. die schrecklichen und
besonders die schrecklichsten Kinder eine unter umgekehrten Vorzeichen
(wegen der Umwertung) sich offenbarende Ähnlichkeit mit eben Jesus
(als Säkular-Jesuisten), Paulus (als Säkular-Paulisten)
und Augustinus (als Säkular-Augustinisten) aufweisen, wie
ich oben schon erklärt habe (**|**|**).
Wahrscheinlich haben alle Entwicklungen, eben auch geschichtliche,
einen Vektorpunkt in der Zukunft, einen Attraktor, der die Prozesse durch
mehrere, auch alternative (und an verschiedenen Punkten durchaus wählbare)
Rinnen, Bahnen (oder »Chreoden«: C. H. Waddington) auf sich
lenkt. Einmal in einem solchen verzweigungsfreien Bahnstück läuft
dann alles »wie am Schnürchen« - auch die destruktiven
Prozeßschritte. (Thomas Hoof **).
Darum ist es auch kein Wunder, wenn trotz der langen
Zeitspanne aus einem Jesus ein Säkular-Jesuist, aus einem
Paulus ein Säkular-Paulist und aus einem Augustinus ein Säkular-Augustinist
werden kann. Vertreter des Weltreiches (der civitas terrena oder
diaboli **) können auch
heiliggesprochen werden - die Voraussetzung für diese (Schein-)Heiligsprechung
ist lediglich, daß die entsprechenden Werte umgewertet worden sind.
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Es reicht auch nicht, die Heiligen durch die Spitzensportler zu
ersetzen - und die sündige Mehrheit durch die Zuschauer (**),
wie es in dem 2000 erschienen Sloterdijk-Buch Die Verachtung
der Massen - Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft
heißt. Unterstützt wird dann zwar die moderne Gesellschaft
(**),
die übrigens immer noch unsere moderne Gesellschaft
ist, was man gar nicht oft genug sagen kann (**|**|**);
doch gerade sie und besonders ihre Herrscher haben es ja
nötig, sich zu ändern. Überdies hatte schon das Christentum
die Idee des Heiligen ins Kollektive entwickelt und in der communio
sanctorum die Denkfigur jener »christlichen Demokratie«
vorbereitet, die in der Moderne zu einer Fraktion unter anderen werden
sollte. In ihr ist jene »gute Masse« als Ensemble von gehorsamen
Einzelnen vorgedacht, die als die wahre Masse aus revolutionären
Kooperateuren in den kanonischen Schriften der Linken wiederkehren sollte.
Die Maler der Renaissance haben den Übergang ins homogen Menschliche
vorweggenommen, als sie im 15. Jahrhundert damit begannen, die Personen
der Heiligen Geschichte ohne die bis dahin obligaten Heiligenscheine darzustellen.
(**).
Damit begann nämlich der Übergang von den Heiligenscheinen zu
den Scheinheiligenscheinen.
Ich bin mir leider nicht sicher, ob wir Erfolg haben werden mit der
von Sloterdijk angebotenen Alternative zwischen Hegel versus de-Maistre
durch eine geistvolle gewaltkritische dritte Position (**)
- gewissermaßen eine Synthese in Hegels Sinne -, die Pierre-Simon
Ballanche entwickelte, denn: unter dem Titel »soziale Palingenesie«
ersann er eine christliche Geschichtsphilosophie, die auf dem Gedanken
des »Fortschritts durch göttliche Prüfungen« beruhte.
Sie entwirft die Evolution der Menschheit als Drama der vorzeitlichen
Erbsünde und ihrer von der Vorhersehung gewollten, stets erneuerten
Entsühnung (**).
Damit hatte Ballanche, indem er die Geschichte der Menschheit als
permanente Palingenesie, das heißt als ständige Wiedergeburt
aus der Verirrung, konzipierte, erstmals das Schema vom Trial and Erorr
auf die Ebenen der Zivilisationsgeschichte angewendet, wenn auch noch
in penetrant religiöser Codierung. Sein Wiedergeburtsdenken geht
von der Einsicht aus, daß Sünder Geschichte machen, indes nur
verhärtete Sünder sich weigern, aus ihren Taten zu lernen. Der
wahre Fortschritt ist die Sühne des Verbrechers. (**).
Sloterdijk scheint ja diesbezüglich zuverläsig zu sein, denn
Ballanche habe in seinem Werk über die »soziale Palingenesie,
das heißt die Wiedergeburt des lernenden und reuefähigen Geistes
bei seinem Gang durch die Generationen, die Grundlagen für eine realistische
historische Ethik geschaffen. Es handelt von der permanenten Revolution
der schuldhaften Exzesse und ihrer Korrektur durch den Lauf der Dinge:
Fortschritt durch Prüfungen ist die einzig glaubhafte Devise in Zeiten
evoluionärer Turbulenz. (Vgl. S. 63 [**]).
In seinem Gang formiert sich »die Menschheit« als ko-immune
Gemeinschaft (zum Begriff Ko-Immunität vgl. Peter Sloterdijk, Du
mußt dein Leben ändern - Über Anthropotechnik, 2009,
S. 699 [**])
von geschichtlichen Wesen, die sich an ihre Fehler, Irrtümer und
Verbrechen erinnern und diese Erinnerungen in kritischen Selbstdefinitionen
aufbewahren. (**).
Ja, Sünder machen Geschichte, aus der Geschichte wissen wir aber
auch, daß die Sünder regelmäßig aus der Geschichte
nicht lernen, nicht zur Sühne bereit sind, nicht
bereit sind, aus ihren Taten zu lernen.
Das Immunologische ist in Sloterdijks Büchern immer ein
Thema (**),
also auch in seinem 2009 erschienen Buch Du mußt dein Leben
ändern, in dem es u.a. heißt: Immunsysteme
sind verkörperte bzw. institutionalisierte Verletzungs- und Schädigungserwartungen,
die auf der Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem beruhen. Während
sich die biologische Immunität auf die Ebene des Einzelorganismus
bezieht, betreffen die beiden sozialen Immunsysteme die überorganismischen,
sprich die kooperativen, transaktionalen, konvivialen Dimensionen menschlicher
Existenz. Das solidaristische System garantiert Rechtsicherheit, Daseinsvorsorge
und Verwandtschaftsgefühle jenseits der jeweils eigenen Familien;
das symbolische gewährt Weltbildsicherheit, Kompensation der Todesgewißheit
und generationenübergreifende Normenkonstanz. Auch auf dieser Ebene
gilt die Definition: »Leben« ist die Erfolgsphase eines Immunsystems.
(**).
Wie das biologische Immunsystem können auch das solidaristische
und das symbolische Phasen der Schwäche, ja sogar der Beinahe-Erfolglosigkeit
durchlaufen. Solche äußern sich in der Selbst- und Welterfahrung
der Menschen als Labilität des Wertbewußtseins und als Ungewißheit
hinsichtlich der Belastbarkeit unserer Solidaritäten. Ihr Zusammenbruch
ist mit dem Kollektivtod gleichbedeutend. (**).
Somit gehen die Immunsysteme nicht nur durch die Evolution, sondern auch
durch die Geschichte: Alle Geschichte ist die Geschichte von Immunsystemkämpfen.
(**).
Augustinus zufolge ist es dem Menschen nicht möglich, nicht zu sündigen
(vgl. non posse non peccare). Der Mensch ist das Lebewesen,
das nicht nicht sündigen kann (**).
Und: Der Mensch ist ein Lebewesen, das nicht nicht üben kann
- wenn üben heißt: ein Aktionsmuster so wiederholen, daß
infolge seiner Ausführung die Disposition zur nächsten Wiederholung
verbessert wird. (**),
so Sloterdijk. Wenn der Mensch nicht fähig ist, nicht
zu sündigen und nicht zu üben, wenn er also sowohl
sündigen als auch üben muß, dann sollte
er sein Sündigen so bekämpfen, indem er weniger das Sündigen
als mehr den Kampf gegen das Sündigen übt. Er muß
die Sünde so bekämpfen, wie es ihm mittels Übungen möglich
ist - und möglich ist ihm bei Übungen ähnlich viel wie
beim Sündigen. Somit stehen sich hier zwei Phänomene als Kontrahenten
gegenüber. Lange bevor Sloterdijk sein Buch über die schrecklichen
Kinder veröffentlichte, hatte er einen schon alten Imperativ
sogar als Buchtitel in die Welt gesetzt: Du mußt dein Leben
ändern, 2009. Man bringt diesen Imperativ und die schrecklichen
Kinder am besten zusammen, indem man erkennt, daß dieser Imperativ
den schrecklichen und besonders den schrecklichsten Kindern dazu
dienen soll, ihre Sünden mit Übungen zu besiegen, nämlich
durch Lernübungen, weil ja auch gilt, daß
wirkliches Lernen etwas von einer Bekehrung hat (**).
Und das ist gut so. Laßt uns hoffen (oder doch nur beten?), daß
die richtigen Übungen möglichst bald den immer nötiger
werdenden Erfolg bringen werden. Nur noch das Lernen kann uns retten
(**)!
© Hubert Brune, 2001 (zuletzt aktualisiert: 2019).
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