Die fröhliche Wissenschaft,
1882 
Vorrede
Ich
wohne in meinem eignen Haus, // Hab niemandem nie nichts nachgemacht // Und
lachte noch jeden Meister aus, // Der nicht sich selber ausgelacht.Über
meiner Haustür (Ebd., 1882, Leitspruch).Die Dankbarkeit
strömt fortwährend aus, als ob eben das Unerwartetste geschehn sei,
die Dankbarkeit eines Genesenden denn die Genesung war dieses Unerwartetste.
»Fröhliche Wissenschaft«: das bedeutet die Saturnalien eines
Geistes, der einem furchtbaren langen Drucke geduldig widerstanden hat
geduldig, streng, kalt, ohne sich zu unterwerfen, aber ohne Hoffnung und
der jetzt mit einem Male von der Hoffnung angefallen wird, von der Hoffnung auf
Gesundheit, von der Trunkenheit der Genesung. (Ebd., 1882, S. 7).Aber
lassen wir Herrn Nietzsche: was geht es uns an, daß Herr Nietzsche wieder
gesund wurde? .... Ein Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen, wie die nach
dem Verhältnis von Gesundheit und Philosophie, und für den Fall, daß
er selber krank wird, bringt er seine ganze wissenschaftliche Neugierde mit in
seine Krankheit. Man hat nämlich, vorausgesetzt, daß man eine Person
ist, notwendig auch die Philosophie seiner Person: doch gibt es da einen erheblichen
Unterschied. Bei dem einen sind es seine Mängel, welche philosophieren, bei
dem andren seine Reichtümer und Kräfte. (Ebd., 1882, S. 8).Wir
müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und
mütterlich ihnen alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft,
Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängnis in uns haben. Leben das heißt
für uns alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln;
auch alles, was uns trifft, wir können gar nicht anders. Und was die
Krankheit angeht: würden wir nicht fast zu fragen versucht sein, ob sie uns
überhaupt entbehrlich ist? Erst der große Schmerz ist der letzte Befreier
des Geistes, als der Lehrmeister des großen Verdachtes, der aus jedem
U ein X macht, ein echtes rechtes X, das heißt den vorletzten Buchstaben
vor dem letzten .... Erst der große Schmerz, jener lange langsame Schmerz,
der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt
werden, zwingt uns Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen,
alles Gutmütige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht
vordem unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu tun. Ich zweifle, ob ein
solcher Schmerz »verbessert«-; aber ich weiß, daß er uns
vertieft. Sei es nun, daß wir ihm unsern Stolz, unsern Hohn, unsre Willenskraft
entgegenstellen lernen und es dem Indianer gleichtun, der, wie schlimm auch gepeinigt,
sich an seinem Peiniger durch die Bosheit seiner Zunge schadlos hält; sei
es, daß wir uns vor dem Schmerz in jenes orientalische Nichts zurückziehen
man heißt es Nirwana , in das stumme, starre, taube Sich-Ergeben,
Sich-Vergessen, Sich-Auslöschen: man kommt aus solchen langen gefährlichen
Übungen der Herrschaft über sich als ein andrer Mensch heraus, mit einigen
Fragezeichen mehr, vor allem mit dem Willen, fürderhin mehr, tiefer,
strenger, härter, böser, stiller zu fragen, als man bis dahin gefragt
hatte. Das Vertrauen zum Leben ist dahin: das Leben selbst wurde zum Problem.
Möge man ja nicht glauben, daß einer damit notwendig zum Düsterling
geworden sei! Selbst die Liebe zum Leben ist noch möglich nur liebt
man anders. Es ist die Liebe zu einem Weibe, das uns Zweifel macht .... Der Reiz
alles Problematischen, die Freude am X ist aber bei solchen geistigeren, vergeistigteren
Menschen zu groß, als daß diese Freude nicht immer wieder wie eine
helle Glut über alle Not des Problematischen, über alle Gefahr der Unsicherheit,
selbst über die Eifersucht des Liebenden zusammenschlüge. Wir kennen
ein neues Glück. (Ebd., 1882, S. 11-12).Zuletzt, daß
das Wesentlichste nicht ungesagt bleibe: man kommt aus solchen Abgründen,
aus solchem schweren Siechtum, auch aus dem Siechtum des schweren Verdachts, neugeboren
zurück, gehäutet, kitzliger, boshafter, mit einem feineren Geschmacke
für die Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren
Sinnen, mit einer zweiten gefährlicheren Unschuld in der Freude, kindlicher
zugleich und hundertmal raffinierter, als man jemals vorher gewesen war.
(Ebd., 1882, S. 12).Wenn wir Genesenden überhaupt eine Kunst
noch brauchen, so ist es eine andre Kunst eine spöttische,
leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche
Kunst, welche wie eine helle Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert!
Vor allem: eine Kunst für Künstler, nur für Künstler! Wir
verstehn uns hinterdrein besser auf das, was dazu zuerst nottut, die Heiterkeit,
jede Heiterkeit, meine Freunde! auch als Künstler : ich möchte
es beweisen. Wir wissen einiges jetzt zu gut, wir Wissenden: oh wie wir nunmehr
lernen, gut zu vergessen, gut nicht-zu-wissen, als Künstler! (Ebd.,
1882, S. 13).»Ist es wahr, daß der liebe Gott überall
zugegen ist?« fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: »aber
ich finde das unanständig« ein Wink für Philosophen! Man
sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Rätsel
und bunte Ungewißheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib,
das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen? Vielleicht ist ihr
Name, griechisch zu reden, Baubo? (Ebd., 1882, S. 14).
Scherz, List und Rache Vorspiel in deutschen
Reimen
Zwiegespräch.
A. War ich krank? Bin ich genesen? Und wer ist mein Arzt gewesen? Wie vergaß
ich alles das! B. Jetzt erst glaub ich dich genesen: Denn gesund ist, wer vergaß.
(Ebd., 1882, S. 16).Bei der dritten Häutung.
Schon krümmt und bricht sich mir die Haut, // Schon giert mit neuem Drange,
// So viel sie Erde schon verdaut, // Nach Erd in mir die Schlange. // Schon kriech
ich zwischen Stein und Gras // Hungrig auf krummer Fährte, // Zu essen das,
was stets ich aß, // Dich, Schlangenkost, dich, Erde! (Ebd., 1882,
S. 17).Mann und Weib. »Raub dir das Weib, für
das dein Herze fühlt!« So denkt der Mann; das Weib raubt nicht,
es stiehlt. (Ebd., 1882, S. 20).Bitte. Ich
kenne mancher Menschen Sinn // Und weiß nicht, wer ich selber bin! // Mein
Auge ist mir viel zu nah // Ich bin nicht, was ich seh und sah. // Ich
wollte mir schon besser nützen, // Könnt ich mir selber ferner sitzen.
// Zwar nicht so ferne wie mein Feind! // Zu fern sitzt schon der nächste
Freund // Doch zwischen dem und mir die Mitte! // Erratet ihr, um was ich
bitte? (Ebd., 1882, S. 20).Jugendschriften.
Meiner Weisheit A und O // Klang mir hier: was hört ich doch! // Jetzo klingt
mirs nicht mehr so, // Nur das ewge Ah! und Oh! // Meiner Jugend hör ich
noch. (Ebd., 1882, S. 24).Der Fromme spricht.
Gott liebt uns, weil er uns erschuf! // »Der Mensch schuf Gott!«
sagt drauf ihr Feinen. // Und soll nicht lieben, was er schuf? // Solls
gar, weil er es schuf, verneinen? // Das hinkt, das trägt des Teufels Huf.
(Ebd., 1882, S. 24).Heraklitismus. Alles Glück
auf Erden, // Freunde, gibt der Kampf! // Ja, um Freund zu werden, // Braucht
es Pulverdampf! // Eins in Drein sind Freunde: //Brüder vor der Not, // Gleiche
vor dem Feinde, // Freie vor dem Tod! (Ebd., 1882, S. 25).Zuspruch.
Auf Ruhm hast du den Sinn gericht? // Dann acht der Lehre: // Beizeiten
leiste frei Verzicht // Auf Ehre! (Ebd., 1882, S. 25).Der
Weise spricht. Dem Volke fremd und nützlich doch dem Volke, //
Zieh ich des Weges, Sonne bald, bald Wolke // Und immer über diesem
Volke! (Ebd., 1882, S. 27).Den Kopf verloren.
Sie hat jetzt Geist wie kams, daß sie ihn fand? // Ein
Mann verlor durch sie jüngst den Verstand. // Sein Kopf war reich vor diesem
Zeitvertreibe: // Zum Teufel ging sein Kopf nein! nein! zum Weibe!
(Ebd., 1882, S. 27).Fromme Wünsche.
»Mögen alle Schlüssel doch // Flugs verloren gehen, // Und in
jedem Schlüsselloch // Sich der Dietrich drehen!« // Also denkt zu
jeder Frist // Jeder, der ein Dietrich ist. (Ebd., 1882, S. 27).Höhere
Menschen. Der steigt empor ihn soll man loben! // Doch
jener kommt allzeit von oben! // Der lebt dem Lobe selbst enthoben, // Der ist
von droben! (Ebd., 1882, S. 30).Ecce homo.
Ja! Ich weiß, woher ich stamme! // Ungesättigt gleich der Flamme
// Glühe und verzehr ich mich. // Licht wird alles, was ich fasse, // Kohle
alles, was ich lasse: // Flamme bin ich sicherlich. (Ebd., 1882, S. 30).Sternen-Moral.
Vorausbestimmt zur Sternenbahn, //Was geht dich, Stern, das Dunkel
an? // Roll selig hin durch diese Zeit! // Ihr Elend sei dir fremd und weit! //
Der fernsten Welt gehört dein Schein: // Mitleid soll Sünde für
dich sein! // Nur ein Gebot gilt dir: sei rein! (Ebd., 1882, S. 31).
1. Buch
Der
Haß, die Schadenfreude, die Raub- und Herrschsucht und was alles sonst böse
genannt wird: es gehört zu der erstaunlichen Ökonomie der Arterhaltung,
freilich zu einer kostspieligen, verschwenderischen und im ganzen höchst
törichten Ökonomie welche aber bewiesenermaßen unser
Geschlecht bisher erhalten hat. (Ebd., 1882, in: Werke in drei Bänden,
2. Band, S. 33).Das Arterhaltende. Die stärksten
und bösesten Geister haben bis jetzt die Menschheit am meisten vorwärts
gebracht: sie entzündeten immer wieder die einschlafenden Leidenschaften
alle geordnete Gesellschaft schläfert die Leidenschaften ein ,
sie weckten immer wieder den Sinn der Vergleichung, des Widerspruchs, der Lust
am Neuen, Gewagten, Unerprobten, sie zwangen die Menschen, Meinungen gegen Meinungen,
Musterbilder gegen Musterbilder zu stellen. Mit den Waffen, mit Umsturz der Grenzsteine,
durch Verletzung der Pietäten zumeist: aber auch durch neue Religionen und
Moralen! Dieselbe »Bosheit« ist in jedem Lehrer und Prediger des Neuen,
welche einen Eroberer verrufen macht, wenn sie auch sich feiner äußert,
nicht sogleich die Muskeln in Bewegung setzt und eben deshalb auch nicht so verrufen
macht! Das Neue ist aber unter allen Umständen das Böse, als
das, was erobern, die alten Grenzsteine und die alten Pietäten umwerfen will;
und nur das Alte ist das Gute! Die guten Menschen jeder Zeit sind die, welche
die alten Gedanken in die Tiefe graben und mit ihnen Frucht tragen, die Ackerbauer
des Geistes. Aber jenes Land wird endlich ausgenützt, und immer wieder muß
die Pflugschar des Bösen kommen. Es gibt jetzt eine gründliche
Irrlehre der Moral, welche namentlich in England sehr gefeiert wird: nach ihr
sind die Urteile »gut« und »böse« die Aufsammlung
der Erfahrungen über »zweckmäßig« und »unzweckmäßig«;
nach ihr ist das »gut« Genannte das Arterhaltende, das »bös«
Genannte aber das der Art Schädliche. In Wahrheit sind aber die bösen
Triebe in ebenso hohem Grade zweckmäßig, arterhaltend und unentbehrlich
wie die guten: nur ist ihre Funktion eine verschiedene. (Ebd., 1882,
S. 40).Etwas für Arbeitsame. Wer jetzt aus den
moralischen Dingen ein Studium machen will, eröffnet sich ein ungeheures
Feld der Arbeit. Alle Arten Passionen müssen einzeln durchdacht, einzeln
durch Zeiten, Völker, große und kleine Einzelne verfolgt werden; ihre
ganze Vernunft und alle ihre Wertschätzungen und Beleuchtungen der Dinge
sollen ans Licht hinaus! Bisher hat alles das, was dem Dasein Farbe gegeben hat,
noch keine Geschichte: oder wo gäbe es eine Geschichte der Liebe, der Habsucht,
des Neides, des Gewissens, der Pietät, der Grausamkeit? Selbst eine vergleichende
Geschichte des Rechtes, oder auch nur der Strafe, fehlt bisher vollständig.
Hat man schon die verschiedene Einteilung des Tages, die Folgen einer regelmäßigen
Festsetzung von Arbeit, Fest und Ruhe zum Gegenstand der Forschung gemacht? Kennt
man die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel? Gibt es eine Philosophie der
Ernährung? (Der immer wieder losbrechende Lärm für und wider den
Vegetarismus beweist schon, daß es noch keine solche Philosophie gibt!)
Sind die Erfahrungen über das Zusammenleben, zum Beispiel die Erfahrungen
der Klöster, schon gesammelt? Ist die Dialektik der Ehe und Freundschaft
schon dargestellt? Die Sitten der Gelehrten, der Kaufleute, Künstler, Handwerker
haben sie schon ihre Denker gebunden? Es ist so viel daran zu denken! Alles,
was bis jetzt die Menschen als ihre »Existenz-Bedingungen« betrachtet
haben, und alle Vernunft, Leidenschaft und Aberglaube an dieser Betrachtung
ist dies schon zu Ende erforscht? Allein die Beobachtung des verschiedenen Wachstums
welches die menschlichen Triebe je nach dem verschiedenen moralischen Klima gehabt
haben und noch haben könnten, gibt schon zu viel der Arbeit für den
Arbeitsamsten; es bedarf ganzer Geschlechter und planmäßig zusammenarbeitender
Geschlechter von Gelehrten, um hier die Gesichtspunkte und das Material zu erschöpfen.
Dasselbe gilt von der Nachweisung der Gründe für die Verschiedenheit
des moralischen Klimas (»weshalb leuchtet hier diese Sonne eines
moralischen Grundurteils und Hauptwertmessers und dort jene?«). Und
wieder eine neue Arbeit ist es, welche die Irrtümlichkeit aller dieser Gründe
und das ganze Wesen des bisherigen moralischen Urteils feststellt. Gesetzt, alle
diese Arbeiten seien getan, so träte die heikeligste aller Fragen in den
Vordergrund: ob die Wissenschaft imstande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem
sie bewiesen hat, daß sie solche nehmen und vernichten kann, und
dann würde ein Experimentieren am Platze sein, an dem jede Art von Heroismus
sich befriedigen könnte, ein jahrhundertelanges Experimentieren, welches
alle großen Arbeiten und Aufopferungen der bisherigen Geschichte in Schatten
stellen könnte. Bisher hat die Wissenschaft ihre Zyklopen-Bauten noch nicht
gebaut; auch dafür wird die Zeit kommen! (Ebd., 1882, S. 42-43).Vom
Ziele der Wissenschaft. Wie? Das letzte Ziel der Wissenschaft sei,
dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen?
Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären,
daß, wer möglichst viel von der einen haben will, auch möglichst
viel von der andern haben muß daß, wer das »Himmelhoch-Jauchzen«
lernen will, sich auch für das »Zum-Tode-betrübt« bereit
halten muß? Und so steht es vielleicht! Die Stoiker glaubten wenigstens,
daß es so stehe, und waren konsequent, als sie nach möglichst wenig
Lust begehrten, um möglichst wenig Unlust vom Leben zu haben. (Wenn man den
Spruch im Munde führte: »Der Tugendhafte ist der Glücklichste«,
so hatte man in ihm sowohl ein Aushängeschild der Schule für die große
Masse, als auch eine kasuistische Feinheit für die Feinen.) Auch heute noch
habt ihr die Wahl: entweder möglichst wenig Unlust, kurz Schmerzlosigkeit
und im Grunde dürften Sozialisten und Politiker aller Parteien ihren
Leuten ehrlicherweise nicht mehr verheißen oder möglichst
viel Unlust als Preis für das Wachstum einer Fülle von feinen und
bisher selten gekosteten Lüsten und Freuden! Entschließt ihr euch für
das erstere, wollt ihr also die Schmerzhaftigkeit der Menschen herabdrücken
und vermindern, nun, so müßt ihr auch ihre Fähigkeit zur Freude
herabdrücken und vermindern. In der Tat kann man mit der Wissenschaft
das eine wie das andre Ziel fördern! Vielleicht ist sie jetzt noch bekannter
wegen ihrer Kraft, den Menschen um seine Freuden zu bringen und ihn kälter,
statuenhafter, stoischer zu machen. Aber sie könnte auch noch als die große
Schmerzbringerin entdeckt werden und dann würde vielleicht zugleich
ihre Gegenkraft entdeckt sein, ihr ungeheures Vermögen, neue Sternenwelten
der Freude aufleuchten zu lassen! (Ebd., 1882, S. 47-48).Antiker
Stolz. Die antike Färbung der Vornehmheit fehlt uns, weil unserm
Gefühle der antike Sklave fehlt. Ein Grieche edler Abkunft fand zwischen
seiner Höhe und jener letzten Niedrigkeit solche ungeheure Zwischen-Stufen
und eine solche Ferne, daß er den Sklaven kaum noch deutlich sehen konnte:
selbst Plato hat ihn nicht ganz mehr gesehen. Anders wir, gewöhnt wie wir
sind an die Lehre von der Gleichheit der Menschen, wenn auch nicht an die
Gleichheit selber. Ein Wesen, das nicht über sich selber verfügen kann
und dem die Muße fehlt das gilt unserm Auge noch keineswegs als etwas
Verächtliches; es ist von derlei Sklavenhaftem vielleicht zu viel an jedem
von uns, nach den Bedingungen unserer gesellschaftlichen Ordnung und Tätigkeit,
welche grundverschieden von denen der Alten sind. Der griechische Philosoph
ging durch das Leben mit dem geheimen Gefühle, daß es viel mehr Sklaven
gebe, als man vermeine nämlich daß jedermann Sklave sei, der
nicht Philosoph sei; sein Stolz schwoll über, wenn er erwog, daß auch
die Mächtigsten der Erde unter diesen seinen Sklaven seien. Auch dieser Stolz
ist uns fremd und unmöglich: nicht einmal im Gleichnis hat das Wort »Sklave«
für uns seine volle Kraft. (Ebd., 1882, S. 53).Das
Böse. Prüfet das Leben der besten und fruchtbarsten Menschen
und Völker und fragt euch, ob ein Baum, der stolz in die Höhe wachsen
soll, des schlechten Wetters und der Stürme entbehren könne: ob Ungunst
und Widerstand von außen, ob irgendwelche Arten von Haß, Eifersucht,
Eigensinn, Mißtrauen, Härte, Habgier und Gewaltsamkeit nicht zu den
begünstigenden Umständen gehören, ohne welche ein großes
Wachstum selbst in der Tugend kaum möglich ist? Das Gift, an dem die schwächere
Natur zugrunde geht, ist für den Starken Stärkung und er nennt
es auch nicht Gift. (Ebd., 1882, S. 53-54).Würde
der Torheit. Einige Jahrtausende weiter auf der Bahn des letzten Jahrhunderts!
und in allem, was der Mensch tut, wird die höchste Klugheit sichtbar
sein: aber eben damit wird die Klugheit alle ihre Würde verloren haben. Es
ist dann zwar notwendig, klug zu sein, aber auch so gewöhnlich und so gemein,
daß ein edlerer Geschmack diese Notwendigkeit als eine Gemeinheit
empfinden wird. Und ebenso wie eine Tyrannei der Wahrheit und Wissenschaft imstande
wäre, die Lüge hoch im Preise steigen zu machen, so könnte eine
Tyrannei der Klugheit eine neue Gattung von Edelsinn hervortreiben. Edel sein
das hieße dann vielleicht: Torheiten im Kopfe haben. (Ebd.,
1882, S. 54).An die Lehrer der Selbstlosigkeit. Man
nennt die Tugenden eines Menschen gut, nicht in Hinsicht auf die Wirkungen,
welche sie für ihn selber haben, sondern in Hinsicht auf die Wirkungen, welche
wir von ihnen für uns und die Gesellschaft voraussetzen man ist von
jeher im Lobe der Tugenden sehr wenig »selbstlos«, sehr wenig »unegoistisch«
gewesen! Sonst nämlich hätte man sehen müssen, daß die Tugenden
(wie Fleiß, Gehorsam, Keuschheit, Pietät, Gerechtigkeit) ihren Inhabern
meistens schädlich sind, als Triebe, welche allzu heftig und begehrlich
in ihnen walten und von der Vernunft sich durchaus nicht im Gleichgewicht zu den
andern Trieben halten lassen wollen. Wenn du eine Tugend hast, eine wirkliche,
ganze Tugend (und nicht nur ein Triebchen nach einer Tugend!) so bist du
ihr Opfer! Aber der Nachbar lobt eben deshalb deine Tugend! Man lobt den
Fleißigen, ob er gleich die Sehkraft seiner Augen oder die Ursprünglichkeit
und Frische seines Geistes mit diesem Fleiße schädigt: man ehrt und
bedauert den Jüngling, welcher sich »zuschanden gearbeitet hat«,
weil man urteilt: »Für das ganze Große der Gesellschaft ist auch
der Verlust des besten einzelnen nur ein kleines Opfer! Schlimm, daß das
Opfer nottut! Viel schlimmer freilich, wenn der einzelne anders denken und seine
Erhaltung und Entwicklung wichtiger nehmen sollte, als seine Arbeit im Dienste
der Gesellschaft!« Und so bedauert man diesen Jüngling, nicht um seiner
selbst willen, sondern weil ein ergebenes und gegen sich rücksichtsloses
Werkzeug ein sogenannter »braver Mensch« durch
diesen Tod der Gesellschaft verlorengegangen ist. Vielleicht erwägt man
noch, ob es im Interesse der Gesellschaft nützlicher gewesen sein würde,
wenn er minder rücksichtslos gegen sich gearbeitet und sich länger erhalten
hätte ja man gesteht sich wohl einen Vorteil davon zu, schlägt
aber jenen andern Vorteil, daß ein Opfer gebracht ist und die Gesinnung
des Opfertiers sich wieder einmal augenscheinlich bestätigt hat, für
höher und nachhaltiger an. Es ist also einmal die Werkzeug-Natur in den Tugenden,
die eigentlich gelobt wird, wenn die Tugenden gelobt werden, und sodann der blinde
in jeder Tugend waltende Trieb, welcher durch den Gesamt-Vorteil des Individuums
sich nicht in Schranken halten läßt, kurz: die Unvernunft in der Tugend,
vermöge deren das Einzelwesen sich zur Funktion des Ganzen umwandeln läßt.
Das Lob der Tugenden ist das Lob von etwas Privat-Schädlichem das
Lob von Trieben, welche dem Menschen seine edelste Selbstsucht und die Kraft zur
höchsten Obhut über sich selber nehmen. Freilich: zur Erziehung
und zur Einverleibung tugendhafter Gewohnheiten kehrt man eine Reihe von Wirkungen
der Tugend heraus, welche Tugend und Privat-Vorteil als verschwistert erscheinen
lassen und es gibt in der Tat eine solche Geschwisterschaft! Der blind
wütende Fleiß zum Beispiel, diese typische Tugend eines Werkzeugs,
wird dargestellt als der Weg zu Reichtum und Ehre und als das heilsamste Gift
gegen die Langeweile und die Leidenschaften: aber man verschweigt seine Gefahr,
seine höchste Gefährlichkeit. Die Erziehung verfährt durchweg so:
sie sucht den einzelnen durch eine Reihe von Reizen und Vorteilen zu einer Denk-
und Handlungsweise zu bestimmen, welche, wenn sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft
geworden ist, wider seinen letzten Vorteil, aber »zum allgemeinen
Besten« in ihm und über ihn herrscht. Wie oft sehe ich es, daß
der blind wütende Fleiß zwar Reichtümer und Ehre schafft, aber
zugleich den Organen die Feinheit nimmt, vermöge deren es einen Genuß
an Reichtum und Ehren geben könnte, ebenso, daß jenes Hauptmittel gegen
die Langeweile und die Leidenschaften zugleich die Sinne stumpf und den Geist
widerspenstig gegen neue Reize macht. (Das fleißigste aller Zeitalter
unser Zeitalter weiß aus seinem vielen Fleiße und Gelde nichts
zu machen, als immer wieder mehr Geld und immer wieder mehr Fleiß: es gehört
eben mehr Genie dazu, auszugeben, als zu erwerben! Nun, wir werden unsre
»Enkel« haben!) Gelingt die Erziehung, so ist jede Tugend des einzelnen
eine öffentliche Nützlichkeit und ein privater Nachteil im Sinne des
höchsten privaten Zieles, wahrscheinlich irgendeine geistig-sinnliche
Verkümmerung oder gar der frühzeitige Untergang: man erwäge der
Reihe nach von diesem Gesichtspunkte aus die Tugend des Gehorsams, der Keuschheit,
der Pietät, der Gerechtigkeit. Das Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften
also desjenigen, der nicht seine ganze Kraft und Vernunft auf seine Erhaltung,
Entwicklung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung verwendet, sondern in
bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht sogar gleichgültig
oder ironisch lebt dieses Lob ist jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit
entsprungen! Der »Nächste« lobt die Selbstlosigkeit, weil er
durch sie Vorteile hat! Dächte der Nächste selber »selbstlos«,
so würde er jenen Abbruch an Kraft, jene Schädigung zu seinen
Gunsten abweisen, der Entstehung solcher Neigungen entgegenarbeiten und vor allem
seine Selbstlosigkeit eben dadurch bekunden, daß er dieselbe nicht gut
nennte! Hiermit ist der Grundwiderspruch jener Moral angedeutet, welche
gerade jetzt sehr in Ehren steht: die Motive zu dieser Moral stehen im
Gegensatz zu ihrem Prinzip! Das, womit sich diese Moral beweisen will,
widerlegt sie aus ihrem Kriterium des Moralischen! Der Satz »du sollst dir
selber entsagen und dich zum Opfer bringen« dürfte, um seiner eignen
Moral nicht zuwiderzugehen, nur von einem Wesen dekretiert werden, welches damit
selber seinem Vorteil entsagte und vielleicht in der verlangten Aufopferung der
einzelnen seinen eigenen Untergang herbeiführte. Sobald aber der Nächste
(oder die Gesellschaft) den Altruismus um des Nutzens willen anempfiehlt,
wird der gerade entgegengesetzte Satz, »du sollst den Vorteil, auch auf
Unkosten alles anderen, suchen«, zur Anwendung gebracht, also in einem Atem
ein »Du sollst« und »Du sollst nicht« gepredigt!
(Ebd., 1882, S. 54-57).Die Anzeichen der Korruption.
Man beachte an jenen von Zeit zu Zeit notwendigen Zuständen der Gesellschaft,
welche mit dem Wort »Korruption« bezeichnet werden, folgende Anzeichen.
Sobald irgendwo die Korruption eintritt, nimmt ein bunter Aberglaube überhand,
und der bisherige Gesamtglaube eines Volkes wird blaß und ohnmächtig
dagegen: der Aberglaube ist nämlich die Freigeisterei zweiten Ranges
wer sich ihm ergibt, wählt gewisse ihm zusagende Formen und Formeln aus und
erlaubt sich ein Recht der Wahl. Der Abergläubische ist, im Vergleich mit
dem Religiösen, immer viel mehr »Person« als dieser, und eine
abergläubische Gesellschaft wird eine solche sein, in der es schon viele
Individuen und Lust am Individuellen gibt. Von diesem Standpunkte aus gesehen,
erscheint der Aberglaube immer als ein Fortschritt gegen den Glauben und als Zeichen
dafür, daß der Intellekt unabhängiger wird und sein Recht haben
will. Über Korruption klagen dann die Verehrer der alten Religion und Religiosität
sie haben bisher auch den Sprachgebrauch bestimmt und dem Aberglauben eine
üble Nachrede selbst bei den freiesten Geistern gemacht. Lernen wir, daß
er ein Symptom der Aufklärung ist. Zweitens beschuldigt man
eine Gesellschaft, in der die Korruption Platz greift, der Erschlaffung:
und ersichtlich nimmt in ihr die Schätzung des Krieges und die Lust am Kriege
ab, und die Bequemlichkeiten des Lebens werden jetzt ebenso heiß erstrebt
wie ehedem die kriegerischen und gymnastischen Ehren. Aber man pflegt zu übersehen,
daß jene alte Volks-Energie und Volks-Leidenschaft, welche durch den Krieg
und die Kampfspiele eine prachtvolle Sichtbarkeit bekam, jetzt sich in unzählige
Privat-Leidenschaften umgesetzt hat und nur weniger sichtbar geworden ist; ja
wahrscheinlich ist in Zuständen der Korruption die Macht und Gewalt der jetzt
verbrauchten Energie eines Volkes größer als je, und das Individuum
gibt so verschwenderisch davon aus, wie es ehedem nicht konnte es war damals
noch nicht reich genug dazu! Und so sind es gerade die Zeiten der »Erschlaffung«,
wo die Tragödie durch die Häuser und Gassen läuft, wo die große
Liebe und der große Haß geboren werden und die Flamme der Erkenntnis
lichterloh zum Himmel aufschlägt. Drittens pflegt man, gleichsam zur
Entschädigung für den Tadel des Aberglaubens und der Erschlaffung, solchen
Zeiten der Korruption nachzusagen, daß sie milder seien und daß jetzt
die Grausamkeit, gegen die ältere gläubigere und stärkere Zeit
gerechnet, sehr in Abnahme komme. Aber auch dem Lobe kann ich nicht beipflichten,
ebensowenig als jenem Tadel: nur so viel gebe ich zu, daß jetzt die Grausamkeit
sich verfeinert, und daß ihre älteren Formen von nun an wider den Geschmack
gehen; aber die Verwundung und Folterung durch Wort und Blick erreicht in Zeiten
der Korruption ihre höchste Ausbildung jetzt erst wird die Bosheit
geschaffen und die Lust an der Bosheit. Die Menschen der Korruption sind witzig
und verleumderisch; sie wissen, daß es noch andere Arten des Mordes gibt
als durch Dolch und Überfall sie wissen auch, daß alles Gutgesagte
geglaubt wird. Viertens: wenn »die Sitten verfallen«, so tauchen
zuerst jene Wesen auf, welche man Tyrannen nennt: es sind die Vorläufer und
gleichsam die frühreifen Erstlinge der Individuen . Noch eine kleine
Weile: und diese Frucht der Früchte hängt reif und gelb am Baume eines
Volkes und nur um dieser Früchte willen gab es diesen Baum! Ist der
Verfall auf seine Höhe gekommen und der Kampf aller Art Tyrannen ebenfalls,
so kommt dann immer der Cäsar, der Schluß-Tyrann, der dem ermüdeten
Ringen um Alleinherrschaft ein Ende macht, indem er die Müdigkeit für
sich arbeiten läßt. Zu seiner Zeit ist gewöhnlich das Individuum
am reifsten und folglich die »Kultur« am höchsten und fruchtbarsten
aber nicht um seinetwillen und nicht durch ihn: obwohl die höchsten
Kultur-Menschen ihrem Cäsar damit zu schmeicheln lieben, daß sie sich
als sein Werk ausgeben. Die Wahrheit aber ist, daß sie Ruhe von außen
nötig haben, weil sie ihre Unruhe und Arbeit in sich haben. In diesen Zeiten
ist die Bestechlichkeit und der Verrat am größten: denn die Liebe zu
dem eben erst entdeckten ego ist jetzt viel mächtiger als die Liebe
zum alten, verbrauchten, totgeredeten »Vaterlande«; und das Bedürfnis,
sich irgendwie gegen die furchtbaren Schwankungen des Glücks sicherzustellen,
öffnet auch edlere Hände, sobald ein Mächtiger und Reicher sich
bereit zeigt, Gold in sie zu schütten. Es gibt jetzt so wenig sichere Zukunft:
da lebt man für heute: ein Zustand der Seele, bei dem alle Verführer
ein leichtes Spiel spielen man läßt sich nämlich auch nur
»für heute« verführen und bestechen und behält sich
die Zukunft und die Tugend vor! Die Individuen, diese wahren An- und Für-sichs,
sorgen, wie bekannt, mehr für den Augenblick als ihre Gegensätze, die
Herden-Menschen, weil sie sich selber für ebenso unberechenbar halten wie
die Zukunft; ebenso knüpfen sie sich gerne an Gewaltmenschen an, weil sie
sich Handlungen und Auskünfte zutrauen, die bei der Menge weder auf Verständnis
noch auf Gnade rechnen können aber der Tyrann oder Cäsar versteht
das Recht des Individuums auch in seiner Ausschreitung und hat ein Interesse daran,
einer kühneren Privatmoral das Wort zu reden und selbst die Hand zu bieten.
Denn er denkt von sich und will über sich gedacht haben, was Napoleon einmal
in seiner klassischen Art und Weise ausgesprochen hat: »Ich habe das Recht,
auf alles, worüber man gegen mich Klage führt, durch ein ewiges Das-bin-ich!
zu antworten. Ich bin abseits von aller Welt, ich nehme von niemandem Bedingungen
an. Ich will, daß man sich auch meinen Phantasien unterwerfe und es ganz
einfach finde, wenn ich mich diesen oder jenen Zerstreuungen hingebe.« So
sprach Napoleon einmal zu seiner Gemahlin, als diese Gründe hatte, die eheliche
Treue ihres Gatten in Frage zu ziehen. Die Zeiten der Korruption sind die,
in welchen die Äpfel vom Baume fallen: ich meine die Individuen, die Samenträger
der Zukunft, die Urheber der geistigen Kolonisation und Neubildung von Staats-
und Gesellschaftsverbänden. Korruption ist nur ein Schimpfwort für die
Herbstzeiten eines Volkes. (Ebd., 1882, S. 59-62).Verschiedene
Unzufriedenheit. Die schwachen und gleichsam weiblichen Unzufriednen
sind die Erfindsamen für die Verschönerung und Vertiefung des Lebens;
die starken Unzufriednen die Mannspersonen unter ihnen, im Bilde zu bleiben
für Verbesserung und Sicherung des Lebens. Die ersteren zeigen darin
ihre Schwäche und Weiberart, daß sie sich gerne zeitweilig täuschen
lassen und wohl schon mit ein wenig Rausch und Schwärmerei einmal fürlieb
nehmen, aber im ganzen nie zu befriedigen sind und an der Unheilbarkeit ihrer
Unzufriedenheit leiden; überdies sind sie die Förderer aller derer,
welche opiatische und narkotische Tröstungen zu schaffen wissen, und eben
darum jenen gram, die den Arzt höher als den Priester schätzen
dadurch unterhalten sie die Fortdauer der wirklichen Notstände! Hätte
es nicht seit den Zeiten des Mittelalters eine Überzahl von Unzufriedenen
dieser Art in Europa gegeben, so würde vielleicht die berühmte europäische
Fähigkeit zur beständigen Verwandlung gar nicht entstanden sein:
denn die Ansprüche der starken Unzufriedenen sind zu grob und im Grunde zu
anspruchslos, um nicht endlich einmal zur Ruhe gebracht werden zu können.
China ist das Beispiel eines Landes, wo die Unzufriedenheit im großen und
die Fähigkeit der Verwandlung seit vielen Jahrhunderten ausgestorben ist;
und die Sozialisten und Staats-Götzendiener Europas könnten es mit ihren
Maßregeln zur Verbesserung und Sicherung des Lebens auch in Europa leicht
zu chinesischen Zuständen und einem chinesischen »Glücke«
bringen, vorausgesetzt, daß sie hier zuerst jene kränklichere, zartere,
weiblichere, einstweilen noch überreichlich vorhandene Unzufriedenheit und
Romantik ausrotten könnten. Europa ist ein Kranker, der seiner Unheilbarkeit
und ewigen Verwandlung seines Leidens den höchsten Dank schuldig ist: diese
beständigen neuen Lagen, diese ebenso beständigen neuen Gefahren, Schmerzen
und Auskunftsmittel haben zuletzt eine intellektuale Reizbarkeit erzeugt, welche
beinahe so viel als Genie, und jedenfalls die Mutter alles Genies ist. (Ebd.,
1882, S. 62-63).Nicht zur Erkenntnis vorausbestimmt.
Es gibt eine gar nicht seltene blöde Demütigkeit, mit der behaftet man
ein für allemal nicht zum Jünger der Erkenntnis taugt. Nämlich:
in dem Augenblick, wo ein Mensch dieser Art etwas Auffälliges wahrnimmt,
dreht er sich gleichsam auf dem Fuße um und sagt sich: »du hast dich
getäuscht! Wo hast du deine Sinne gehabt! Dies darf nicht die Wahrheit sein!«
und nun, statt noch einmal schärfer hinzusehen und hinzuhören,
läuft er wie eingeschüchtert dem auffälligen Dinge aus dem Wege
und sucht es sich so schnell wie möglich aus dem Kopfe zu schlagen. Sein
innerlicher Kanon nämlich lautet: »ich will nichts sehen, was der üblichen
Meinung über die Dinge widerspricht! Bin ich dazu gemacht, neue Wahrheiten
zu entdecken? Es gibt schon der alten zu viele.« (Ebd., 1882, S. 63).Was
heißt Leben? Leben das heißt: fortwährend etwas
von sich abstoßen, das sterben will; Leben das heißt: grausam
und unerbittlich gegen alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an
uns, wird. Leben das heißt also: ohne Pietät gegen Sterbende,
Elende und Greise sein? Immerfort Mörder sein? Und doch hat der alte
Moses gesagt: »Du sollst nicht töten!« (Ebd., 1882, S.
63).Der Entsagende. Was tut der Entsagende? Er strebt
nach einer höheren Welt, er will weiter und ferner und höher fliegen
als alle Menschen der Bejahung er wirft vieles weg, was seinen Flug
beschweren würde, und manches darunter, was ihm nicht unwert, nicht unliebsam
ist: er opfert es seiner Begierde zur Höhe. Dieses Opfern, dieses Wegwerfen
ist nun gerade das, was allein sichtbar an ihm wird: danach gibt man ihm den Namen
des Entsagenden, und als dieser steht er vor uns, eingehüllt in seine Kapuze
und wie die Seele eines härenen Hemdes. Mit diesem Effekte, den er auf uns
macht, ist er aber wohl zufrieden: er will vor uns seine Begierde, seinen Stolz,
seine Absicht, über uns hinauszufliegen, verborgen halten. Ja! Er
ist klüger, als wir dachten, und so höflich gegen uns dieser
Bejahende! Denn das ist er gleich uns, auch indem er entsagt. (Ebd., 1882,
S. 64).Handel und Adel. Kaufen und verkaufen gilt
jetzt als gemein wie die Kunst des Lesens und Schreibens; jeder ist jetzt darin
eingeübt, selbst wenn er kein Handelsmann ist, und übt sich noch an
jedem Tage in dieser Technik: ganz wie ehemals, im Zeitalter der wilderen Menschheit,
jedermann Jäger war und sich Tag für Tag in der Technik der Jagd übte.
Damals war die Jagd gemein: aber wie diese endlich ein Privilegium der Mächtigen
und Vornehmen wurde und damit den Charakter der Alltäglichkeit und Gemeinheit
verlor dadurch, daß sie aufhörte notwendig zu sein und eine
Sache der Laune und des Luxus wurde : so könnte es irgendwann einmal
mit dem Kaufen und Verkaufen werden. Es sind Zustände der Gesellschaft denkbar,
wo nicht verkauft und gekauft wird, und wo die Notwendigkeit dieser Technik allmählich
ganz verlorengeht: vielleicht, daß dann einzelne, welche dem Gesetze des
allgemeinen Zustandes weniger unterworfen sind, sich dann das Kaufen und Verkaufen
wie einen Luxus der Empfindung erlauben. Dann erst bekäme der Handel
Vornehmheit, und die Adeligen würden sich dann vielleicht ebensogern mit
dem Handel abgeben, wie bisher mit dem Kriege und der Politik: während umgekehrt
die Schätzung der Politik sich dann völlig geändert haben könnte.
Schon jetzt hört sie auf, das Handwerk des Edelmanns zu sein: und es wäre
möglich, daß man sie eines Tages so gemein fände, um sie, gleich
aller Partei- und Tagesliteratur, unter die Rubrik »Prostitution des Geistes«
zu bringen. (Ebd., 1882, S. 66-67).Ketzerei und Hexerei.
Anders denken, als Sitte ist das ist lange nicht so sehr die Wirkung
eines besseren Intellektes als die Wirkung starker, böser Neigungen, loslösender,
isolierender, trotziger, schadenfroher, hämischer Neigungen. Die Ketzerei
ist das Seitenstück zur Hexerei, und gewiß ebenso wenig als diese etwas
Harmloses oder gar an sich selber Verehrungswürdiges. Die Ketzer und die
Hexen sind zwei Gattungen böser Menschen: gemeinsam ist ihnen, daß
sie sich auch als böse fühlen, daß aber ihre unbezwingliche Lust
ist, an dem, was herrscht (Menschen oder Meinungen), sich schädigend auszulassen.
Die Reformation, eine Art Verdoppelung des mittelalterlichen Geistes, zu einer
Zeit, als er bereits das gute Gewissen nicht mehr bei sich hatte, brachte sie
beide in größter Fülle hervor. (Ebd., 1882, S. 68).Letzte
Worte. Man wird sich erinnern, daß der Kaiser Augustus, jener
fürchterliche Mensch, der sich ebenso in der Gewalt hatte und der ebenso
schweigen konnte wie irgendein weiser Sokrates, mit seinem letzten Worte indiskret
gegen sich selber wurde: er ließ zum ersten Male seine Maske fallen, als
er zu verstehen gab, daß er eine Maske getragen und eine Komödie gespielt
habe, er hatte den Vater des Vaterlandes und die Weisheit auf dem Throne gespielt,
gut bis zur Illusion! Plaudite amici, comoedia finita est! (applaudiert,
Freunde, die Komödie ist zu Ende! HB)
Der Gedanke des sterbenden Nero: qualis artifex pereo! (welch
ein Künstler geht in mir zugrunde! HB)
war auch der Gedanke des sterbenden Augustus: Histrionen-Eitelkeit! Histrionen-Schwatzhaftigkeit!
Und recht das Gegenstück zum sterbenden Sokrates! Aber Tiberius starb
schweigsam, dieser gequälteste aller Selbstquäler der war
echt und kein Schauspieler! Was mag dem wohl zuletzt durch den Kopf gegangen
sein! Vielleicht dies: »Das Leben das ist ein langer Tod. Ich Narr,
der ich so vielen das Leben verkürzte! War ich dazu gemacht, ein Wohltäter
zu sein? Ich hätte ihnen das ewige Leben geben sollen: so hätte ich
sie ewig sterben sehen können. Dafür hatte ich ja so gute
Augen: qualis spectator pereo!« Als er nach einem langen Todeskampfe
doch wieder zu Kräften zu kommen schien, hielt man es für ratsam, ihn
mit Bettkissen zu ersticken er starb eines doppelten Todes. (Ebd.,
1882, S. 69).Die Explosiven. Erwägt man, wie
explosionsbedürftig die Kraft junger Männer daliegt, so wundert man
sich nicht, sie so unfein und so wenig wählerisch sich für diese oder
jene Sache entscheiden zu sehen: das, was sie reizt, ist der Anblick des Eifers,
der um eine Sache ist, und gleichsam der Anblick der brennenden Lunte nicht
die Sache selber. Die feineren Verführer verstehen sich deshalb darauf, ihnen
die Explosion in Aussicht zu stellen und von der Begründung ihrer Sache abzusehen:
mit Gründen gewinnt man diese Pulverfässer nicht! (Ebd., 1882,
S. 70).Vom Mangel der vornehmen Form. Soldaten und
Führer haben immer noch ein viel höheres Verhalten zueinander als Arbeiter
und Arbeitgeber. Einstweilen wenigstens steht alle militärisch begründete
Kultur noch hoch über aller sogenannten industriellen Kultur: letztere in
ihrer jetzigen Gestalt ist überhaupt die gemeinste Daseinsform, die es bisher
gegeben hat. Hier wirkt einfach das Gesetz der Not: man will leben und muß
sich verkaufen, aber man verachtet den, der diese Not ausnützt und sich den
Arbeiter kauft. Es ist seltsam, daß die Unterwerfung unter mächtige,
furchterregende, ja schreckliche Personen, unter Tyrannen und Heerführer,
bei weitem nicht so peinlich empfunden wird als diese Unterwerfung unter unbekannte
und uninteressante Personen, wie es alle Größen der Industrie sind:
in dem Arbeitgeber sieht der Arbeiter gewöhnlich nur einen listigen, aussaugenden,
auf alle Not spekulierenden Hund von Menschen, dessen Name, Gestalt, Sitte und
Ruf ihm ganz gleichgültig sind. Den Fabrikanten und Groß-Unternehmern
des Handels fehlten bisher wahrscheinlich allzusehr alle jene Formen und Abzeichen
der höheren Rasse, welche erst die Personen interessant werden lassen;
hätten sie die Vornehmheit des Geburts-Adels im Blick und in der Gebärde,
so gäbe es vielleicht keinen Sozialismus der Massen. Denn diese sind im Grunde
bereit zur Sklaverei jeder Art, vorausgesetzt daß der Höhere
über ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen geboren
legitimiert durch die vornehme Form! Der gemeinste Mann fühlt,
daß die Vornehmheit nicht zu improvisieren ist und daß er in ihr die
Frucht langer Zeiten zu ehren hat aber die Abwesenheit der höheren
Form und die berüchtigte Fabrikanten-Vulgarität mit roten feisten Händen
bringen ihn auf den Gedanken, daß nur Zufall und Glück hier den einen
über den andern erhoben habe: wohlan, so schließt er bei sich, versuchen
wir einmal den Zufall und das Glück! Werfen wir einmal die Würfel!
und der Sozialismus beginnt. (Ebd., 1882, S. 71-72).Arbeit
und Langeweile. Sich Arbeit suchen um des Lohnes willen darin
sind sich in den Ländern der Zivilisation jetzt fast alle Menschen gleich;
ihnen allen ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel; weshalb sie in der
Wahl der Arbeit wenig fein sind, vorausgesetzt daß sie einen reichlichen
Gewinn abwirft. Nun gibt es seltnere Menschen, welche lieber zugrunde gehen wollen,
als ohne Lust an der Arbeit arbeiten: jene Wählerischen, schwer zu
Befriedigenden, denen mit einem reichlichen Gewinn nicht gedient wird, wenn die
Arbeit nicht selber der Gewinn aller Gewinne ist. Zu dieser seltenen Gattung von
Menschen gehören die Künstler und Kontemplativen aller Art, aber auch
schon jene Müßiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf Reisen
oder in Liebeshändeln und Abenteuern zubringen. Alle diese wollen Arbeit
und Not, sofern sie mit Lust verbunden ist, und die schwerste, härteste Arbeit,
wenn es sein muß. Sonst aber sind sie von einer entschlossenen Trägheit,
sei es selbst, daß Verarmung, Unehre, Gefahr der Gesundheit und des Lebens
an diese Trägheit geknüpft sein sollte. Sie fürchten die Langeweile
nicht so sehr als die Arbeit ohne Lust: ja sie haben viel Langeweile nötig,
wenn ihnen ihre Arbeit gelingen soll. Für den Denker und für
alle empfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme »Windstille«
der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht;
er muß sie ertragen, muß ihre Wirkung bei sich abwarten
das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen
können! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten
ohne Lust gemein ist. Es zeichnet vielleicht die Asiaten vor den Europäern
aus, daß sie einer längeren, tieferen Ruhe fähig sind als diese;
selbst ihre Narcotica wirken langsam und verlangen Geduld, im Gegensatz zu der
widrigen Plötzlichkeit des europäischen Giftes, des Alkohols.
(Ebd., 1882, S. 72-73).Kenntnis der Not. Vielleicht
werden die Menschen und Zeiten durch nichts so sehr voneinander geschieden als
durch den verschiednen Grad von Kenntnis der Not, den sie haben: Not der Seele
wie des Leibes. In bezug auf letztere sind wir Jetzigen vielleicht allesamt, trotz
unsrer Gebrechen und Gebrechlichkeiten, aus Mangel an reicher Selbst-Erfahrung
Stümper und Phantasten zugleich: im Vergleich zu einem Zeitalter der Furcht
dem längsten aller Zeitalter , wo der einzelne sich selber gegen
Gewalt zu schützen hatte und um dieses Zieles willen selber Gewaltmensch
sein mußte. Damals machte ein Mann seine reiche Schule körperlicher
Qualen und Entbehrungen durch und begriff selbst in einer gewissen Grausamkeit
gegen sich, in einer freiwilligen Übung des Schmerzes, ein ihm notwendiges
Mittel seiner Erhaltung; damals erzog man seine Umgebung zum Ertragen des Schmerzes,
damals fügte man gern Schmerz zu und sah das Furchtbarste dieser Art über
andere ergehen, ohne ein anderes Gefühl als das der eigenen Sicherheit. Was
die Not der Seele aber betrifft, so sehe ich mir jetzt jeden Menschen darauf an,
ob er sie aus Erfahrung oder Beschreibung kennt; ob er diese Kenntnis zu heucheln
doch noch für nötig hält, etwa als ein Zeichen der feineren Bildung,
oder ob er überhaupt an große Seelenschmerzen im Grunde seiner Seele
nicht glaubt und es ihm bei Nennung derselben ähnlich ergeht wie bei Nennung
großer körperlicher Erduldungen: wobei ihm seine Zahn- und Magenschmerzen
einfallen. So aber scheint es mir bei den meisten jetzt zu stehen. Aus der allgemeinen
Ungeübtheit im Schmerz beiderlei Gestalt und einer gewissen Seltenheit des
Anblicks eines Leidenden ergibt sich nun eine wichtige Folge: man haßt jetzt
den Schmerz viel mehr als frühere Menschen und redet ihm viel übler
nach als je, ja man findet schon das Vorhandensein des Schmerzes als eines
Gedankens kaum erträglich und macht dem gesamten Dasein eine Gewissenssache
und einen Vorwurf daraus. Das Auftauchen pessimistischer Philosophien ist durchaus
nicht das Merkmal großer furchtbarer Notstände; sondern diese Fragezeichen
am Werte alles Lebens werden in Zeiten gemacht, wo die Verfeinerung und Erleichterung
des Daseins bereits die unvermeidlichen Mückenstiche der Seele und des Leibes
als gar zu blutig und bösartig befindet und in der Armut an wirklichen Schmerz-Erfahrungen
am liebsten schon quälende allgemeine Vorstellungen als das Leid höchster
Gattung erscheinen lassen möchte. Es gäbe schon ein Rezept gegen
pessimistische Philosophien und die übergroße Empfindlichkeit, welche
mir die eigentliche »Not der Gegenwart« zu sein scheint : aber
vielleicht klingt dies Rezept schon zu grausam und würde selber unter die
Anzeichen gerechnet werden, auf Grund deren hin man jetzt urteilt: »das
Dasein ist etwas Böses«. Nun! Das Rezept gegen »die Not«
lautet: Not. (Ebd., 1882, S. 77-78).Wahrheitssinn.
Ich lobe mir eine jede Skepsis, auf welche mir erlaubt ist zu antworten:
»Versuchen wir's!« Aber ich mag von allen Dingen und allen Fragen,
welche das Experiment nicht zulassen, nichts mehr hören. Dies ist die Grenze
meines »Wahrheitssinnes«: denn dort hat die Tapferkeit ihr Recht verloren.
(Ebd., 1882, S. 80).Was andere von uns wissen. Das,
was wir von uns selber wissen und im Gedächtnis haben, ist für das Glück
unsres Lebens nicht so entscheidend, wie man glaubt. Eines Tages stürzt das,
was andre von uns wissen (oder zu wissen meinen) über uns her
und jetzt erkennen wir, daß es das Mächtigere ist. Man wird mit seinem
schlechten Gewissen leichter fertig als mit seinem schlechten Rufe. (Ebd.,
1882, S. 80).Das Bewußtsein vom Scheine. Wie
wundervoll und neu und zugleich wie schauerlich und ironisch fühle ich mich
mit meiner Erkenntnis zum gesamten Dasein gestellt! Ich habe für mich entdeckt,
daß die alte Mensch- und Tierheit, ja die gesamte Urzeit und Vergangenheit
alles empfindenden Seins in mir fortdichtet, fortliebt, forthaßt, fortschließt
ich bin plötzlich mitten in diesem Traum erwacht, aber nur zum Bewußtsein,
daß ich eben träume und daß ich weiterträumen muß,
um nicht zugrunde zu gehn: wie der Nachtwandler weiterträumen muß,
um nicht hinabzustürzen. Was ist mir jetzt »Schein«! Wahrlich
nicht der Gegensatz irgendeines Wesens was weiß ich von irgendwelchem
Wesen auszusagen, als eben nur die Prädikate seines Scheins! Wahrlich nicht
eine tote Maske, die man einem unbekannten X aufsetzen und auch wohl abnehmen
könnte! Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das so
weit in seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, daß hier
Schein und Irrlicht und Geistertanz und nichts mehr ist daß unter
allen diesen Träumenden auch ich, der »Erkennende«, meinen Tanz
tanze, daß der Erkennende ein Mittel ist, den irdischen Tanz in die Länge
zu ziehn, und insofern zu den Festordnern des Daseins gehört, und daß
die erhabene Konsequenz und Verbundenheit aller Erkenntnisse vielleicht das höchste
Mittel ist und sein wird, die Allgemeinheit der Träumerei und die Allverständlichkeit
aller dieser Träumenden untereinander und eben damit die Dauer des Traumes
aufrechtzuerhalten. (Ebd., 1882, S. 81).Der letzte
Edelsinn. Was macht denn »edel«? Gewiß nicht, daß
man Opfer bringt; auch der rasend Wollüstige bringt Opfer. Gewiß nicht,
daß man überhaupt einer Leidenschaft folgt; es gibt verächtliche
Leidenschaften. Gewiß nicht, daß man für andere etwas tut und
ohne Selbstsucht: vielleicht ist die Konsequenz der Selbstsucht gerade bei dem
Edelsten am größten. Sondern daß die Leidenschaft, die
den Edlen befällt, eine Sonderheit ist, ohne daß er um diese Sonderheit
weiß: der Gebrauch eines seltenen und singulären Maßstabes und
beinahe eine Verrücktheit: das Gefühl der Hitze in Dingen, welche sich
für alle andern kalt anfühlen: ein Erraten von Werten, für die
die Waage noch nicht erfunden ist: ein Opferbringen auf Altären, die einem
unbekannten Gotte geweiht sind: eine Tapferkeit ohne den Willen zur Ehre: eine
Selbstgenügsamkeit, welche Überfluß hat und an Menschen und Dinge
mitteilt. Bisher war es also das Seltene und die Unwissenheit um dies Seltensein,
was edel machte. Dabei erwäge man aber, daß durch diese Richtschnur
alles Gewöhnte, Nächste und Unentbehrliche, kurz das am meisten Arterhaltende,
und überhaupt die Regel in der bisherigen Menschheit, unbillig beurteilt
und im ganzen verleumdet worden ist, zugunsten der Ausnahmen. Der Anwalt der Regel
werden das könnte vielleicht die letzte Form und Feinheit sein, in
welcher der Edelsinn auf Erden sich offenbart. (Ebd., 1882, S. 81-82).Die
Begierde nach Leiden. Denke ich an die Begierde, etwas zu tun, wie
sie die Millionen junger Europäer fortwährend kitzelt und stachelt,
welche alle die Langeweile und sich selber nicht ertragen können,
so begreife ich, daß in ihnen eine Begierde etwas zu leiden sein muß,
um aus ihrem Leiden einen probablen Grund zum Tun, zur Tat herzunehmen. Not ist
nötig! Daher das Geschrei der Politiker, daher die vielen falschen, erdichteten,
übertriebenen »Notstände« aller möglichen Klassen und
die blinde Bereitwilligkeit, an sie zu glauben. Diese junge Welt verlangt, von
außen her solle nicht etwa das Glück sondern das
Unglück kommen oder sichtbar werden; und ihre Phantasie ist schon voraus
geschäftig, ein Ungeheuer daraus zu formen, damit sie nachher mit einem Ungeheuer
kämpfen könne. Fühlten diese Notsüchtigen in sich die Kraft,
von innen her sich selber wohlzutun, sich selber etwas anzutun, so würden
sie auch verstehen, von innen her sich eine eigene, selbsteigene Not zu schaffen.
Ihre Erfindungen könnten dann feiner sein, und ihre Befriedigungen könnten
wie gute Musik klingen: während sie jetzt die Welt mit ihrem Notgeschrei
und folglich gar zu oft erst mit dem Notgefühle anfüllen! Sie
verstehen mit sich nichts anzufangen und so malen sie das Unglück
anderer an die Wand: sie haben immer andere nötig! Und immer wieder andere
andere! Verzeihung, meine Freunde, ich habe gewagt, mein Glück an
die Wand zu malen. (Ebd., 1882, S. 82-83).
2. Buch
Richard
Wagner hat sich bis in die Mitte seines Lebens durch Hegel irreführen lassen;
er tat dasselbe noch einmal, als er später Schopenhauers Lehre aus seinen
Gestalten herauslas und mit »Wille«, »Genie« und »Mitleid«
sich selber zu formulieren begann. Trotzdem wird es wahr bleiben: nichts geht
gerade so sehr wider den Geist Schopenhauers als das eigentlich Wagnerische an
den Helden Wagners ich meine, die Unschuld der höchsten Selbstsucht,
der Glaube an die große Leidenschaft als an das Gute an sich, mit einem
Worte, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden. »Das alles riecht eher
noch nach Spinoza als nach mir« würde vielleicht Schopenhauer
sagen. So gute Gründe also Wagner hätte, sich gerade nach anderen Philosophen
umzusehen als nach Schopenhauer: die Bezauberung, der er in betreff dieses Denkers
unterlegen ist, hat ihn nicht nur gegen alle andern Philosophen, sondern sogar
gegen die Wissenschaft selber blind gemacht; immer mehr will seine ganze Kunst
sich als Seitenstück und Ergänzung der Schopenhauerischen Philosophie
geben und immer ausdrücklicher verzichtet sie auf den höheren Ehrgeiz,
Seitenstück und Ergänzung der menschlichen Erkenntnis und Wissenschaft
zu werden. (Ebd., 1882, S. 118-119).Schopenhauerisch ist
zum Beispiel Wagners Ereiferung über die Verderbnis der deutschen Sprache;
und wenn man hierin die Nachahmung gutheißen sollte, so darf doch auch nicht
verschwiegen werden, daß Wagners Stil selber nicht wenig an all den Geschwüren
und Geschwülsten krankt, deren Anblick Schopenhauer so wütend machte,
und daß in Hinsicht auf die deutsch schreibenden Wagnerianer die Wagnerei
sich so gefährlich zu erweisen beginnt, als nur irgendeine Hegelei sich erwiesen
hat. Schopenhauerisch ist Wagners Haß gegen die Juden, denen er selbst in
ihrer größten Tat nicht gerecht zu werden vermag: die Juden sind ja
die Erfinder des Christentums! Schopenhauerisch ist der Versuch Wagners, das Christentum
als ein verwehtes Korn des Buddhismus aufzufassen und für Europa, unter zeitweiliger
Annäherung an katholisch-christliche Formeln und Empfindungen, ein buddhistisches
Zeitalter vorzubereiten. Schopenhauerisch ist Wagners Predigt zugunsten der Barmherzigkeit
im Verkehre mit Tieren .... Wenigstens ist Wagners Haß gegen die Wissenschaft,
der aus seiner Predigt spricht, gewiß nicht vom Geiste der Mildherzigkeit
und Güte eingegeben noch auch, wie es sich von selber versteht, vom
Geiste überhaupt. (Ebd., 1882, S. 119).Bleiben
wir Wagner in dem treu, was an ihm wahr und ursprünglich ist und namentlich
dadurch, daß wir, seine Jünger, uns selber in dem treu bleiben, was
an uns wahr und ursprünglich ist. (Ebd., 1882, S. 120).Es
wäre ein Rückfall für uns, gerade mit unsrer reizbaren Redlichkeit
ganz in die Moral zu geraten und um der überstrengen Anforderungen willen,
die wir hierin an uns stellen, gar noch selber zu tugendhaften Ungeheuern und
Vogelscheuchen zu werden. Wir sollen auch über der Moral stehen können:
und nicht nur stehen, mit der ängstlichen Steifigkeit eines solchen,
der jeden Augenblick auszugleiten und zu fallen fürchtet, sondern auch über
ihr schweben und spielen! (Ebd., 1882, S. 128).
3. Buch
Neue
Kämpfe. Nachdem Buddha tot war, zeigte man noch jahrhundertelang
seinen Schatten in einer Höhle einen ungeheuren schauerlichen Schatten.
Gott ist tot: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch jahrtausendelang
Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. Und wir wir
müssen auch noch seinen Schatten besiegen! (Ebd., 1882, S. 129^).Hüten
wir uns! Hüten wir uns, zu denken, daß die Welt ein lebendiges
Wesen sei. Wohin sollte sie sich ausdehnen? Wovon sollte sie sich nähren?
Wie könnte sie wachsen und sich vermehren? Wir wissen ja ungefähr, was
das Organische ist: und wir sollten das unsäglich Abgeleitete, Späte,
Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen,
Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es jene tun, die das All einen Organismus nennen?
Davor ekelt mir. Hüten wir uns schon davor, zu glauben, daß das All
eine Maschine sei; es ist gewiß nicht auf ein Ziel konstruiert, wir tun
ihm mit dem Wort »Maschine« eine viel zu hohe Ehre an. Hüten
wir uns, etwas so Formvolles, wie die zyklischen Bewegungen unserer Nachbarsterne
überhaupt und überall vorauszusetzen; schon ein Blick in die Milchstraße
läßt Zweifel auftauchen, ob es dort nicht viel rohere und widersprechendere
Bewegungen gibt, ebenfalls Sterne mit ewigen geradlinigen Fallbahnen und dergleichen.
Die astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme; diese Ordnung und die
ziemliche Dauer, welche durch sie bedingt ist, hat wieder die Ausnahme der Ausnahmen
ermöglicht: die Bildung des Organischen. Der Gesamtcharakter der Welt ist
dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern
der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle
unsere ästhetischen Menschlichkeiten heißen. Von unserer Vernunft aus
geurteilt, sind die verunglückten Würfe weitaus die Regel, die Ausnahmen
sind nicht das geheime Ziel, und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise,
die nie eine Melodie heißen darf, und zuletzt ist selbst das Wort
»verunglückter Wurf« schon eine Vermenschlichung, die einen Tadel
in sich schließt. Aber wie dürften wir das All tadeln oder loben! Hüten
wir uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren Gegensätze nachzusagen:
es ist weder vollkommen, noch schön, noch edel, und will nichts von alledem
werden, es strebt durchaus nicht danach, den Menschen nachzuahmen! Es wird durchaus
durch keines unserer ästhetischen und moralischen Urteile getroffen! Es hat
auch keinen Selbsterhaltungstrieb und überhaupt keine Triebe; es kennt auch
keine Gesetze. Hüten wir uns, zu sagen, daß es Gesetze in der Natur
gebe. Es gibt nur Notwendigkeiten: da ist keiner, der befiehlt, keiner, der gehorcht,
keiner, der übertritt. Wenn ihr wißt, daß es keine Zwecke gibt,
so wißt ihr auch, daß es keinen Zufall gibt: denn nur neben einer
Welt von Zwecken hat das Wort »Zufall« einen Sinn. Hüten wir
uns, zu sagen, daß Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur
eine Art des Toten, und eine sehr seltene Art. Hüten wir uns, zu denken,
die Welt schaffe ewig Neues. Es gibt keine ewig dauerhaften Substanzen; die Materie
ist ein ebensolcher Irrtum wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am Ende
mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes
nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben!
Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen,
neu erlösten Natur zu vernatürlichen! (Ebd., 1882, S. 129-130).Ursprung
der Erkenntnis. Der Intellekt hat ungeheure Zeitstrecken hindurch nichts
als Irrtümer erzeugt; einige davon ergaben sich als nützlich und arterhaltend:
wer auf sie stieß oder sie vererbt bekam, kämpfte seinen Kampf für
sich und seinen Nachwuchs mit größerem Glücke. Solche irrtümliche
Glaubenssätze, die immer weiter vererbt und endlich fast zum menschlichen
Art- und Grundbestand wurden, sind zum Beispiel diese: daß es dauernde Dinge
gebe, daß es gleiche Dinge gebe, daß es Dinge, Stoffe, Körper
gebe, daß ein Ding das sei, als was es erscheine, daß unser Wollen
frei sei, daß was für mich gut ist, auch an und für sich gut sei.
Sehr spät erst traten die Leugner und Anzweifler solcher Sätze auf
sehr spät erst trat die Wahrheit auf, als die unkräftigste Form der
Erkenntnis. Es schien, daß man mit ihr nicht zu leben vermöge, unser
Organismus war auf ihren Gegensatz eingerichtet; alle seine höheren Funktionen,
die Wahrnehmungen der Sinne und jede Art von Empfindung überhaupt, arbeiteten
mit jenen uralt einverleibten Grundirrtümern. Mehr noch: jene Sätze
wurden selbst innerhalb der Erkenntnis zu den Normen, nach denen man »wahr«
und »unwahr« bemaß bis hinein in die entlegensten Gegenden
der reinen Logik. Also: die Kraft der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem
Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter
als Lebensbedingung. Wo Leben und Erkennen in Widerspruch zu kommen schienen,
ist nie ernstlich gekämpft worden; da galt Leugnung und Zweifel als Tollheit.
Jene Ausnahme-Denker, wie die Eleaten, welche trotzdem die Gegensätze der
natürlichen Irrtümer aufstellten und festhielten, glaubten daran, daß
es möglich sei, dieses Gegenteil auch zu leben: sie erfanden den Weisen
als den Menschen der Unveränderlichkeit, Unpersönlichkeit, Universalität
der Anschauung, als eins und alles zugleich, mit einem eigenen Vermögen für
jene umgekehrte Erkenntnis; sie waren des Glaubens, daß ihre Erkenntnis
zugleich das Prinzip des Lebens sei. Um dies alles aber behaupten zu können,
mußten sie sich über ihren eignen Zustand täuschen: sie mußten
sich Unpersönlichkeit und Dauer ohne Wechsel andichten, das Wesen des Erkennenden
verkennen, die Gewalt der Triebe im Erkennen leugnen und überhaupt die Vernunft
als völlig freie, sich selbst entsprungene Aktivität fassen; sie hielten
sich die Augen dafür zu, daß auch sie im Widersprechen gegen das Gültige,
oder im Verlangen nach Ruhe oder Alleinbesitz oder Herrschaft zu ihren Sätzen
gekommen waren. Die feinere Entwicklung der Redlichkeit und der Skepsis machte
endlich auch diese Menschen unmöglich; auch ihr Leben und Urteilen ergab
sich als unabhängig von uralten Trieben und Grundirrtümern alles empfindenden
Daseins. Jene feinere Redlichkeit und Skepsis hatte überall dort ihre
Entstehung, wo zwei entgegengesetzte Sätze auf das Leben anwendbar
erschienen, weil sich beide mit den Grundirrtümern vertrugen, wo also über
den höheren oder geringeren Grad des Nutzens für das Leben gestritten
werden konnte; ebenfalls dort, wo neue Sätze sich dem Leben zwar nicht nützlich,
aber wenigstens auch nicht schädlich zeigten, als Äußerungen eines
intellektuellen Spieltriebes, und unschuldig und glücklich gleich allem Spiele.
Allmählich füllte sich das menschliche Gehirn mit solchen Urteilen und
Überzeugungen, es entstand in diesem Knäuel Gärung, Kampf und Machtgelüst.
Nützlichkeit und Lust nicht nur, sondern jede Art von Trieben nahm Partei
in dem Kampfe um die »Wahrheiten«; der intellektuelle Kampf wurde
Beschäftigung, Reiz, Beruf, Pflicht, Würde : das Erkennen und
das Streben nach dem Wahren ordnete sich endlich als Bedürfnis in die anderen
Bedürfnisse ein. Von da an war nicht nur der Glaube und die Überzeugung,
sondern auch die Prüfung, die Leugnung, das Mißtrauen, der Widerspruch
eine Macht, alle »bösen« Instinkte waren der Erkenntnis
untergeordnet und in ihren Dienst gestellt und bekamen den Glanz des Erlaubten,
Geehrten, Nützlichen und zuletzt das Auge und die Unschuld des Guten.
Die Erkenntnis wurde also zu einem Stück Leben selber und als Leben zu einer
immerfort wachsenden Macht: bis endlich die Erkenntnisse und jene uralten Grundirrtümer
aufeinander stießen, beide als Leben, beide als Macht, beide in demselben
Menschen. Der Denker: das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und
jene lebenerhaltenden Irrtümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch
der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht bewiesen hat.
Im Verhältnis zu der Wichtigkeit dieses Kampfes ist alles andere gleichgültig:
die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt, und der erste
Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit
verträgt die Wahrheit die Einverleibung? das ist die Frage, das ist
das Experiment. (Ebd., 1882, S. 131-133).Herkunft des
Logischen. Woher ist die Logik im menschlichen Kopfe entstanden? Gewiß
aus der Unlogik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muß.
Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt schließen,
gingen zugrunde: es könnte immer noch wahrer gewesen sein! Wer zum Beispiel
das »Gleiche« nicht oft genug aufzufinden wußte, in betreff
der Nahrung oder in betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam subsumierte,
zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des
Fortlebens als der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet.
Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein
unlogischer Hang denn es gibt an sich nichts Gleiches , hat erst
alle Grundlage der Logik geschaffen. Ebenso mußte, damit der Begriff der
Substanz entstehe, der unentbehrlich für die Logik ist, ob ihm gleich im
strengsten Sinne nichts Wirkliches entspricht, lange Zeit das Wechselnde
an den Dingen nicht gesehen, nicht empfunden worden sein; die nicht genau sehenden
Wesen hatten einen Vorsprung vor denen, welche alles »im Flusse« sahen.
An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vorsicht im Schließen,
jeder skeptische Hang eine große Gefahr für das Leben. Es würden
keine lebenden Wesen erhalten sein, wenn nicht der entgegengesetzte Hang, lieber
zu bejahen als das Urteil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten als abzuwarten,
lieber zuzustimmen als zu verneinen, lieber zu urteilen als gerecht zu sein
außerordentlich stark angezüchtet worden wäre. Der Verlauf
logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirn entspricht einem
Prozesse und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht
sind; wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und
so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab. (Ebd.,
1882, S. 133-134).Ursache und Wirkung. »Erklärung«
nennen wir's: aber »Beschreibung« ist es, was uns vor älteren
Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet. Wir beschreiben besser
wir erklären ebensowenig wie alle Früheren. Wir haben da ein vielfaches
Nacheinander aufgedeckt, wo der naive Mensch und Forscher älterer Kulturen
nur zweierlei sah, »Ursache« und »Wirkung«, wie die Rede
lautete; wir haben das Bild des Werdens vervollkommnet, aber sind über das
Bild, hinter das Bild nicht hinausgekommen. Die Reihe der »Ursachen«
steht viel vollständiger in jedem Falle vor uns, wir schließen: dies
und das muß erst vorangehen, damit jenes folge aber begriffen
haben wir damit nichts. Die Qualität, zum Beispiel bei jedem chemischen Werden,
erscheint nach wie vor als ein »Wunder«, ebenso jede Fortbewegung;
niemand hat den Stoß »erklärt«. Wie könnten wir auch
erklären! Wir operieren mit lauter Dingen, die es nicht gibt, mit Linien,
Flächen, Körpern, Atomen, teilbaren Zeiten, teilbaren Räumen ,
wie soll Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir alles erst zum Bilde
machen, zu unserem Bilde! Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst getreue
Anmenschlichung der Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber beschreiben,
indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben. Ursache und Wirkung: eine
solche Zweiheit gibt es wahrscheinlich nie in Wahrheit steht ein Kontinuum
vor uns, von dem wir ein paar Stücke isolieren; so wie wir eine Bewegung
immer nur als isolierte Punkte wahrnehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern
erschließen. Die Plötzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen abheben,
führt uns irre; es ist aber nur eine Plötzlichkeit für uns. Es
gibt eine unendliche Menge von Vorgängen in dieser Sekunde der Plötzlichkeit,
die uns entgehen. Ein Intellekt, der Ursache und Wirkung als Kontinuum, nicht
nach unserer Art als willkürliches Zerteilt- und Zerstückt-sein, sähe,
der den Fluß des Geschehens sähe würde den Begriff Ursache
und Wirkung verwerfen und alle Bedingtheit leugnen. (Ebd., 1882, S. 134-135).Zur
Lehre von den Giften. Es gehört so viel zusammen, damit ein wissenschaftliches
Denken entstehe: und alle diese nötigen Kräfte haben einzeln erfunden,
geübt, gepflegt werden müssen! In ihrer Vereinzelung haben sie aber
sehr häufig eine ganz andere Wirkung gehabt als jetzt, wo sie innerhalb des
wissenschaftlichen Denkens sich gegenseitig beschränken und in Zucht halten
sie haben als Gifte gewirkt, zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende
Trieb, der abwartende Trieb, der sammelnde Trieb, der auflösende Trieb. Viele
Hekatomben von Menschen sind zum Opfer gebracht worden, ehe diese Triebe lernten,
ihr Nebeneinander zu begreifen und sich miteinander als Funktionen einer organisierenden
Gewalt in einem Menschen zu fühlen! Und wie ferne sind wir noch davon, daß
zum wissenschaftlichen Denken sich auch noch die künstlerischen Kräfte
und die praktische Weisheit des Lebens hinzufinden, daß ein höheres
organisches System sich bildet, in bezug auf welches der Gelehrte, der Arzt, der
Künstler und der Gesetzgeber, so wie wir jetzt diese kennen, als dürftige
Altertümer erscheinen müßten! (Ebd., 1882, S. 135-136).Die
vier Irrtümer. Der Mensch ist durch seine Irrtümer erzogen
worden: er sah sich erstens immer nur unvollständig, zweitens legte er sich
erdichtete Eigenschaften bei, drittens fühlte er sich in einer falschen Rangordnung
zu Tier und Natur, viertens erfand er immer neue Gütertafeln und nahm sie
eine Zeitlang als ewig und unbedingt, so daß bald dieser bald jener menschliche
Trieb und Zustand an der ersten Stelle stand und infolge dieser Schätzung
veredelt wurde. Rechnet man die Wirkung dieser vier Irrtümer weg, so hat
man auch Humanität, Menschlichkeit und »Menschenwürde« hinweggerechnet.
(Ebd., 1882, S. 136).Herden-Instinkt. Wo wir eine
Moral antreffen, da finden wir eine Abschätzung und Rangordnung der menschlichen
Triebe und Handlungen. Diese Schätzungen und Rangordnungen sind immer der
Ausdruck der Bedürfnisse einer Gemeinde und Herde: das, was ihr am ersten
frommt und am zweiten und dritten , das ist auch der oberste Maßstab
für den Wert aller einzelnen. Mit der Moral wird der einzelne angeleitet,
Funktion der Herde zu sein und nur als Funktion sich Wert zuzuschreiben. Da die
Bedingungen der Erhaltung einer Gemeinde sehr verschieden von denen einer andern
Gemeinde gewesen sind, so gab es sehr verschiedene Moralen; und in Hinsicht auf
noch bevorstehende wesentliche Umgestaltungen der Herden und Gemeinden, Staaten
und Gesellschaften kann man prophezeien, daß es noch sehr abweichende Moralen
geben wird. Moralität ist Herden-Instinkt im Einzelnen. (Ebd., 1882,
S. 136-137).Herden-Gewissensbiß. In den längsten
und fernsten Zeiten der Menschheit gab es einen ganz andern Gewissensbiß
als heutzutage. Heute fühlt man sich nur verantwortlich für das, was
man will und tut, und hat in sich selber seinen Stolz: alle unsere Rechtslehrer
gehen von diesem Selbst- und Lustgefühle des einzelnen aus, wie als ob hier
von jeher die Quelle des Rechts entsprungen sei. Aber die längste Zeit der
Menschheit hindurch gab es nichts Fürcherlicheres, als sich einzeln zu fühlen.
Allein sein, einzeln empfinden, weder gehorchen noch herrschen, ein Individuum
bedeuten das war damals keine Lust, sondern eine Strafe; man wurde verurteilt
»zum Individuum«. Gedankenfreiheit galt als das Unbehagen selber.
Während wir Gesetz und Einordnung als Zwang und Einbuße empfinden,
empfand man ehedem den Egoismus als eine peinliche Sache, als eine eigentliche
Not. Selbst sein, sich selber nach eigenem Maß und Gewicht schätzen
das ging damals wider den Geschmack. Die Neigung dazu würde als Wahnsinn
empfunden worden sein: denn mit dem Alleinsein war jedes Elend und jede Furcht
verknüpft. Damals hatte der »freie Wille« das böse Gewissen
in seiner nächsten Nachbarschaft: und je unfreier man handelte, je mehr der
Herden-Instinkt und nicht der persönliche Sinn aus der Handlung sprach, um
so moralischer schätzte man sich. Alles, was der Herde Schaden tat, sei es,
daß der einzelne es gewollt oder nicht gewollt hatte, machte damals dem
einzelnen Gewissensbisse und seinem Nachbar noch dazu, ja der ganzen Herde!
Darin haben wir am allermeisten umgelernt (Ebd., 1882, S. 137-138).Wohlwollen.
Ist es tugendhaft, wenn eine Zelle sich in die Funktion einer stärkeren
Zelle verwandelt? Sie muß es. Und ist es böse, wenn die stärkere
jene assimiliert? Sie muß es ebenfalls; so ist es für sie notwendig,
denn sie strebt nach überreichlichem Ersatz und will sich regenerieren. Demnach
hat man im Wohlwollen zu unterscheiden: den Aneignungstrieb und den Unterwerfungstrieb,
je nachdem der Stärkere oder der Schwächere Wohlwollen empfindet. Freude
und Begehren sind bei dem Stärkeren, der etwas zu seiner Funktion umbilden
will, beisammen: Freude und Begehrtwerdenwollen bei dem Schwächeren, der
Funktion werden möchte. Mitleid ist wesentlich das erstere, eine angenehme
Regung des Aneignungstriebes, beim Anblick des Schwächeren: wobei noch zu
bedenken ist, daß »stark« und »schwach« relative
Begriffe sind. (Ebd., 1882, S. 138).Im Horizont des Unendlichen.
Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die
Brücke hinter uns mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen!
Nun, Schifflein! Sieh dich vor! Neben dir liegt der Ozean, es ist wahr, er brüllt
nicht immer, und mitunter liegt er da wie Seide und Gold und Träumerei der
Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, daß er unendlich
ist und daß es nichts Furchtbareres gibt als Unendlichkeit. Oh des armen
Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs
stößt! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr
Freiheit gewesen wäre und es gibt kein »Land« mehr!
(Ebd., 1882, S. 142).Der tolle Mensch. Habt ihr nicht
von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete,
auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: »Ich suche Gott! Ich suche
Gott!« Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht
an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen?
sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält
er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert?
so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten
unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. »Wohin ist Gott?«
rief er, »ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet
ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht?
Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen
Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?
Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen
wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts,
nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch
ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter
geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen
am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm
der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen
Verwesung? auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und
wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?
Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter
unsern Messern verblutet wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser
könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele
werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu
groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden,
um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat
und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen
in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!«
Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen
und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß
sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich komme zu früh«, sagte
er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch
unterwegs und wandert es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.
Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen
Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehn und gehört zu werden. Diese
Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne und doch haben
sie dieselbe getan!« Man erzählt noch, daß der tolle
Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein
Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt,
habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn
sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?« (Ebd.,
1882, S. 143-144).Die Bedingungen Gottes. »Gott
selber kann nicht ohne weise Menschen bestehen« hat Luther gesagt
und mit gutem Rechte; aber »Gott kann noch weniger ohne unweise Menschen
bestehen« das hat der gute Luther nicht gesagt! (Ebd., 1882,
S. 147).Ein gefährlicher Entschluß. Der
christliche Entschluß, die Welt häßlich und schlecht zu finden,
hat die Welt häßlich und schlecht gemacht. (Ebd., 1882, S. 147).Christentum
und Selbstmord. Das Christentum hat das zur Zeit seiner Entstehung
ungeheure Verlangen nach dem Selbstmorde zu einem Hebel seiner Macht gemacht:
es ließ nur zwei Formen des Selbstmordes übrig, umkleidete sie mit
der höchsten Würde und den höchsten Hoffnungen und verbot alle
anderen auf eine furchtbare Weise. Aber das Martyrium und die langsame Selbstentleibung
des Asketen waren erlaubt. (Ebd., 1882, S. 147-148).Herkunft
der Sünde. Sünde, so wie sie jetzt überall empfunden
wird, wo das Christentum herrscht oder einmal geherrscht hat: Sünde ist ein
jüdisches Gefühl und eine jüdische Erfindung, und in Hinsicht auf
diesen Hintergrund aller christlichen Moralität war in der Tat das Christentum
darauf aus, die ganze Welt zu »verjüdeln«. Bis zu welchem Grade
ihm dies in Europa gelungen ist, das spürt man am feinsten an dem Grade von
Fremdheit, den das griechische Altertum eine Welt ohne Sündengefühle
immer noch für unsre Empfindung hat, trotz allem guten Willen zur
Annäherung und Einverleibung, an dem es ganze Geschlechter und viele ausgezeichnete
einzelne nicht haben fehlen lassen. »Nur wenn du bereuest, ist Gott dir
gnädig« das ist einem Griechen ein Gelächter und ein Ärgernis:
er würde sagen »so mögen Sklaven empfinden«. Hier ist ein
Mächtiger, Übermächtiger und doch Rachelustiger vorausgesetzt:
seine Macht ist so groß, daß ihm ein Schaden überhaupt nicht
zugefügt werden kann außer in dem Punkte der Ehre. Jede Sünde
ist eine Respekts-Verletzung, ein crimen laesae majestatis divinae
und nichts weiter! Zerknirschung, Entwürdigung, Sich-im-Staube-wälzen
das ist die erste und letzte Bedingung, an die seine Gnade sich knüpft:
Wiederherstellung also seiner göttlichen Ehre! Ob mit der Sünde sonst
Schaden gestiftet wird, ob ein tiefes, wachsendes Unheil mit ihr gepflanzt ist,
das einen Menschen nach dem andern wie eine Krankheit faßt und würgt
das läßt diesen ehrsüchtigen Orientalen im Himmel unbekümmert:
Sünde ist ein Vergehen an ihm, nicht an der Menschheit! wem er seine
Gnade geschenkt hat, dem schenkt er auch diese Unbekümmertheit um die natürlichen
Folgen der Sünde. Gott und Menschheit sind hier so getrennt, so entgegengesetzt
gedacht, daß im Grunde an letzterer überhaupt nicht gesündigt
werden kann jede Tat soll nur auf ihre übernatürlichen Folgen
hin angesehen werden, nicht auf ihre natürlichen: so will es das jüdische
Gefühl, dem alles Natürliche das Unwürdige an sich ist. Den Griechen
dagegen lag der Gedanke näher, daß auch der Frevel Würde haben
könne selbst der Diebstahl, wie bei Prometheus, selbst die Abschlachtung
von Vieh als Äußerung eines wahnsinnigen Neides, wie bei Ajax: sie
haben in ihrem Bedürfnis, dem Frevel Würde anzudichten und einzuverleiben,
die Tragödie erfunden eine Kunst und eine Lust, die dem Juden trotz
aller seiner dichterischen Begabung und Neigung zum Erhabnen im tiefsten Wesen
fremd geblieben ist. (Ebd., 1882, S. 149-150).Farbe der
Leidenschaften. Solche Naturen, wie die des Apostels Paulus, haben
für die Leidenschaften einen »bösen Blick«; sie lernen von
ihnen nur das Schmutzige, Entstellende und Herzbrechende kennen ihr idealer
Drang geht daher auf Vernichtung der Leidenschaften aus: im Göttlichen sehen
sie die völlige Reinheit davon. Ganz anders als Paulus und die Juden haben
die Griechen ihren idealen Drang gerade auf die Leidenschaften gewendet und diese
geliebt, gehoben, vergoldet und vergöttlicht; offenbar fühlten sie sich
in der Leidenschaft nicht nur glücklicher, sondern auch reiner und göttlicher
als sonst. Und nun die Christen? Wollten sie hierin zu Juden werden? Sind
sie es vielleicht geworden? (Ebd., 1882, S. 151-152).Räucherwerk.
Buddha sagt: »Schmeichle deinem Wohltäter nicht!« Man
spreche diesen Spruch nach in einer christlichen Kirche er reinigt sofort
die Luft von allem Christlichen. (Ebd., 1882, S. 152).Der
Monotheismus ... war vielleicht die größte Gefahr der bisherigen Menschheit
.... Im Polytheismus lag die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen vorgebildet:
die Kraft, sich neue und eigne Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch
eigenere: so daß es für den Menschen allein unter allen Tieren keine
ewigen Horizonte und Perspektiven gibt. (Ebd., 1882, S. 153-154).Religionskriege.
Der größte Fortschritt der Massen war bis jetzt der Religionskrieg:
denn er beweist, daß die Masse angefangen hat, Begriffe mit Ehrfurcht zu
behandeln. Religionskriege entstehen erst, wenn durch die feineren Streitigkeiten
der Sekten die allgemeine Vernunft verfeinert ist: so daß selbst der Pöbel
spitzfindig wird und Kleinigkeiten wichtig nimmt, ja es für möglich
hält, daß das »ewige Heil der Seele« an den kleinen Unterschieden
der Begriffe hänge. (Ebd., 1882, S. 154).Deutsche
Hoffnungen. Vergessen wir doch nicht, daß die Völkernamen
gewöhnlich Schimpfnamen sind. Die Tartaren sind zum Beispiel ihrem Namen
nach »die Hunde«: so wurden sie von den Chinesen getauft. Die »Deutschen«:
das bedeutet ursprünglich die »Heiden«; so nannten die Goten
nach ihrer Bekehrung die große Masse ihrer ungetauften Stammverwandten,
nach Anleitung ihrer Übersetzung der Septuaginta, in der die Heiden mit dem
Worte bezeichnet werden, welches im Griechischen »die Völker«
bedeutet: man sehe Ulfilas. Es wäre immer noch möglich, daß
die Deutschen aus ihrem alten Schimpfnamen sich nachträglich einen Ehrennamen
machten, indem sie das erste unchristliche Volk Europas würden: wozu
in hohem Maße angelegt zu sein, Schopenhauer ihnen zur Ehre anrechnete.
So käme das Werk Luthers zur Vollendung, der sie gelehrt hat, unrömisch
zu sein und zu sprechen: »hier stehe ich! Ich kann nicht anders!«
(Ebd., 1882, S. 155).Wo die Reformationen entstehen.
Zur Zeit der großen Kirchen-Verderbnis war in Deutschland die Kirche am
wenigsten verdorben: deshalb entstand hier die Reformation, als das Zeichen,
daß schon die Anfänge der Verderbnis unerträglich empfunden wurden.
Verhältnismäßig war nämlich kein Volk jemals christlicher,
als die Deutschen zur Zeit Luthers: ihre christliche Kultur war eben bereit, zu
einer hundertfältigen Pracht der Blüte auszuschlagen es fehlte
nur noch eine Nacht; aber diese brachte den Sturm, der allem ein Ende machte.
(Ebd., 1882, S. 155-156).Mißlingen der Reformationen.
Es spricht für die höhere Kultur der Griechen selbst in ziemlich
frühen Zeiten, daß mehrere Male die Versuche, neue griechische Religionen
zu gründen, gescheitert sind; es spricht dafür, daß es schon früh
eine Menge verschiedenartiger Individuen in Griechenland gegeben haben muß,
deren verschiedenartige Not nicht mit einem einzigen Rezepte des Glaubens und
Hoffens abzutun war. Pythagoras und Plato, vielleicht auch Empedokles, und bereits
viel früher die orphischen Schwarmgeister, waren darauf aus, neue Religionen
zu gründen; und die beiden Erstgenannten hatten so echte Religionsstifter-Seelen
und Talente, daß man sich über ihr Mißlingen nicht genug
verwundern kann: sie brachten es aber nur zu Sekten. Jedesmal, wo die Reformation
eines ganzen Volkes mißlingt und nur Sekten ihr Haupt emporheben, darf man
schließen, daß das Volk schon sehr vielartig in sich ist und sich
von den groben Herdeninstinkten und der Sittlichkeit der Sitte loszulösen
beginnt: ein bedeutungsvoller Schwebezustand, den man als Sittenverfall und Korruption
zu verunglimpfen gewohnt ist: während er das Reifwerden des Eies und das
nahe Zerbrechen der Eierschale ankündigt. Daß Luthers Reformation im
Norden gelang, ist ein Zeichen dafür, daß der Norden gegen den Süden
Europas zurückgeblieben war und noch ziemlich einartige und einfarbige Bedürfnisse
kannte; und es hätte überhaupt keine Verchristlichung Europas gegeben,
wenn nicht die Kultur der alten Welt des Südens allmählich durch eine
übermäßige Hinzumischung von germanischem Barbarenblut barbarisiert
und ihres Kultur-Übergewichtes verlustig gegangen wäre. Je allgemeiner
und unbedingter ein einzelner oder der Gedanke eines einzelnen wirken kann, um
so gleichartiger und um so niedriger muß die Masse sein, auf die da gewirkt
wird; während Gegenbestrebungen innere Gegenbedürfnisse verraten, welche
auch sich befriedigen und durchsetzen wollen. Umgekehrt darf man immer auf eine
wirkliche Höhe der Kultur schließen, wenn mächtige und herrschsüchtige
Naturen es nur zu einer geringen und sektiererischen Wirkung bringen: dies gilt
auch für die einzelnen Künste und die Gebiete der Erkenntnis. Wo geherrscht
wird, da gibt es Massen: wo Massen sind, da gibt es ein Bedürfnis nach Sklaverei.
Wo es Sklaverei gibt, da sind der Individuen nur wenige, und diese haben die Herdeninstinkte
und das Gewissen gegen sich. (Ebd., 1882, S. 156-157).Vom
Ursprunge der Religion. Das metaphysische Bedürfnis ist nicht
der Ursprung der Religionen, wie Schopenhauer will, sondern nur ein Nachschößling
derselben. Man hat sich unter der Herrschaft religiöser Gedanken an die Vorstellung
einer »anderen (hinteren, unteren, oberen) Welt« gewöhnt und
fühlt bei der Vernichtung der religiösen Gedanken eine unbehagliche
Leere und Entbehrung und nun wächst aus diesem Gefühle wieder
eine »andere Welt« heraus, aber jetzt nur eine metaphysische und nicht
mehr religiöse. Das aber, was in Urzeiten zur Annahme einer »andern
Welt« überhaupt führte, war nicht ein Trieb und Bedürfnis,
sondern ein Irrtum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine
Verlegenheit des Intellekts. (Ebd., 1882, S. 157-158).Was
uns fehlt. Wir lieben die große Natur und haben sie entdeckt:
das kommt daher, daß in unserem Kopfe die großen Menschen fehlen.
Umgekehrt die Griechen: ihr Naturgefühl ist ein anderes als das unsrige.
(Ebd., 1882, S. 159).An die Liebhaber der Zeit. Der
entlaufene Priester und der entlassene Sträfling machen fortwährend
Gesichter: was sie wollen, ist ein Gesicht ohne Vergangenheit. Habt ihr
aber schon Menschen gesehn, welche wissen, daß die Zukunft in ihrem Gesichte
sich spiegelt, und welche so höflich gegen euch, ihr Liebhaber der »Zeit«,
sind, daß sie ein Gesicht ohne Zukunft machen? (Ebd., 1882, S. 161).Von
einem Kranken. »Es steht schlecht um ihn!« Woran
fehlt es? »Er leidet an der Begierde, gelobt zu werden, und findet
keine Nahrung für sie.« Unbegreiflich! Alle Welt feiert ihn,
und man trägt ihn nicht nur auf den Händen, sondern auch auf den Lippen!
»Ja, aber er hat ein schlechtes Gehör für das Lob. Lobt
ihn ein Freund, so klingt es ihm, als ob dieser sich selber lobe; lobt ihn ein
Feind, so klingt es ihm, als ob dieser dafür gelobt werden wolle; lobt ihn
endlich einer der übrigen es sind gar nicht so viele übrig, so
berühmt ist er! , so beleidigt es ihn, daß man ihn nicht zum
Freund oder Feind haben wolle; er pflegt zu sagen: Was liegt mir an einem,
der gar noch gegen mich den Gerechten zu spielen vermag!« (Ebd.,
1882, S. 162-163).Die gute Zeit der freien Geister.
Die freien Geister nehmen sich auch vor der Wissenschaft noch ihre Freiheiten
und einstweilen gibt man sie ihnen auch , solange die Kirche noch
steht! Insofern haben sie jetzt ihre gute Zeit. (Ebd., 1882, S. 165-166).Justiz.
Lieber sich bestehlen lassen, als Vogelscheuchen um sich haben das
ist mein Geschmack. Und es ist unter allen Umständen eine Sache des Geschmacks
und nicht mehr! (Ebd., 1882, S. 166).Arm.
Er ist heute arm: aber nicht weil man ihm alles genommen, sondern weil er alles
weggeworfen hat was macht es ihm? Er ist daran gewöhnt, zu finden.
Die Armen sind es, welche seine freiwillige Armut mißverstehen.
(Ebd., 1882, S. 167).Schlechtes Gewissen. Alles,
was er jetzt tut, ist brav und ordentlich und doch hat er ein schlechtes
Gewissen dabei. Denn das Außerordentliche ist seine Aufgabe. (Ebd.,
1882, S. 167).Der Denker. Er ist ein Denker: das heißt
er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind. (Ebd.,
1882, S. 167).Gegen die Lobenden. A: »Man wird
nur von seinesgleichen gelobt!« B: »Ja! Und wer dich lobt, sagt zu
dir: du bist meinesgleichen!« (Ebd., 1882, S. 168).Gegen
manche Verteidigung. Die perfideste Art einer Sache zu schaden ist,
sie absichtlich mit fehlerhaften Gründen verteidigen. (Ebd., 1882,
S. 168).Kants Witz. Kant wollte auf eine »alle
Welt« vor den Kopf stoßende Art beweisen, daß »alle Welt«
recht habe das war der heimliche Witz dieser Seele. Er schrieb gegen die
Gelehrten zugunsten des Volks-Vorurteils, aber für Gelehrte und nicht für
das Volk. (Ebd., 1882, S. 168).Bedürfnis.
Das Bedürfnis gilt als die Ursache der Entstehung: in Wahrheit ist es oft
nur eine Wirkung des Entstandenen. (Ebd., 1882, S. 171).Ursache
und Wirkung. Vor der Wirkung glaubt man an andere Ursachen als nach
der Wirkung. (Ebd., 1882, S. 173).Zweck der Strafe.
Die Strafe hat den Zweck, den zu bessern, welcher straft, das ist
die letzte Zuflucht für die Verteidiger der Strafe. (Ebd., 1882, S.
174).Opfer. Über Opfer und Aufopferung denken
die Opfertiere anders als die Zuschauer: aber man hat sie von jeher nicht zu Worte
kommen lassen. (Ebd., 1882, S. 174).Schonung.
Väter und Söhne schonen sich viel mehr untereinander als Mütter
und Töchter. (Ebd., 1882, S. 174).Kritik der Tiere.
Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als ein Wesen ihresgleichen,
das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren
hat, als das wahnwitzige Tier, als das lachende Tier, als das weinende
Tier, als das unglückselige Tier. (Ebd., 1882, S. 175).Die
Natürlichen. »Das Böse hat immer den großen Effekt
für sich gehabt! Und die Natur ist böse! Seien wir also natürlich!«
so schließen im geheimen die großen Effekthascher der Menschheit,
welche man gar zu oft unter die großen Menschen gerechnet hat. (Ebd.,
1882, S. 175).Gegen die Vermittelnden. Wer zwischen
zwei entschlossenen Denkern vermitteln will, ist gezeichnet als mittelmäßig:
er hat das Auge nicht dafür, das Einmalige zu sehen; die Ähnlichseherei
und Gleichmacherei ist das Merkmal schwacher Augen. (Ebd., 1882, S. 176).Mangel
an Schweigsamkeit. Sein ganzes Wesen überredet nicht das
kommt daher, daß er nie eine gute Handlung die er tat, verschwiegen hat.
(Ebd., 1882, S. 176).Um die Menge zu bewegen. Muß
nicht der, welcher die Menge bewegen will, der Schauspieler seiner selber sein?
Muß er nicht sich selber erst ins Grotesk-Deutliche übersetzen und
seine ganze Person und Sache in dieser Vergröberung und Vereinfachung vortragen?
(Ebd., 1882, S. 178).Gedanken und Worte. Man kann
auch seine Gedanken nicht ganz in Worten wiedergeben. (Ebd., 1882, S. 179).Mathematik.
Wir wollen die Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften
hineintreiben, so weit dies nur irgend möglich ist; nicht im Glauben, daß
wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden, sondern um damit unsere menschliche
Relation zu den Dingen festzustellen. Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen
und letzten Menschenkenntnis. (Ebd., 1882, S. 180).Schuld.
Obschon die scharfsinnigsten Richter der Hexen und sogar die Hexen selber
von der Schuld der Hexerei überzeugt waren, war die Schuld trotzdem nicht
vorhanden. So steht es mit aller Schuld. (Ebd., 1882, S. 180).Verkannte
Leidende. Die großartigen Naturen leiden anders, als ihre Verehrer
sich einbilden: sie leiden am härtesten durch die unedlen, kleinlichen Wallungen
mancher bösen Augenblicke, kurz durch ihren Zweifel an der eigenen Großartigkeit
nicht aber durch die Opfer und Martyrien, welche ihre Aufgabe von ihnen
verlangt. Solange Prometheus Mitleid mit den Menschen hat und sich ihnen opfert,
ist er glücklich und groß in sich; aber wenn er neidisch auf Zeus und
die Huldigungen wird, welche jenem die Sterblichen bringen da leidet er!
(Ebd., 1882, S. 181).Nachahmer. A: »Wie? Du
willst keine Nachahmer?« B: »Ich will nicht, daß man mir etwas
nachmache; ich will, daß jeder sich etwas vormache: dasselbe, was ich
tue.« A: »Also ?« (Ebd., 1882, S. 182).Aus
der Erfahrung. Mancher weiß nicht, wie reich er ist, bis er erfährt,
was für reiche Menschen an ihm noch zu Dieben werden. (Ebd., 1882,
S. 182).Die Leugner des Zufalls. Kein Sieger glaubt
an den Zufall. (Ebd., 1882, S. 183).Aus dem Paradiese.
»Gut und Böse sind die Vorurteile Gottes« sagte
die Schlange. (Ebd., 1882, S. 183).Einmaleins.
Einer hat immer Unrecht: aber mit zweien beginnt die Wahrheit. Einer kann
sich nicht beweisen: aber zweie kann man bereits nicht widerlegen. (Ebd.,
1882, S. 183).Sub, specie aeterni. A: »Du entfernst
dich immer schneller von den Lebenden: bald werden sie dich aus ihren Listen streichen!«
B: »Es ist das einzige Mittel, um an dem Vorrecht der Toten teilzuhaben.«
A: »An welchem Vorrecht?« B: »Nicht mehr zu sterben.«
(Ebd., 1882, S. 183).Ohne Eitelkeit. Wenn wir lieben,
so wollen wir, daß unsere Mängel verborgen bleiben nicht aus
Eitelkeit, sondern weil das geliebte Wesen nicht leiden soll. Ja, der Liebende
möchte ein Gott scheinen und auch dies nicht aus Eitelkeit.
(Ebd., 1882, S. 184).Was wir tun. Was wir tun, wird
nie verstanden, sondern immer nur gelobt und getadelt. (Ebd., 1882, S. 184).Was
macht heroisch? Zugleich seinem höchsten Leide und seiner höchsten
Hoffnung entgegengehn. (Ebd., 1882, S. 185).Woran glaubst
du? Daran: daß die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen.
(Ebd., 1882, S. 185).Was sagt dein Gewissen?
»Du sollst der werden, der du bist.« (Ebd., 1882, S.
185).Wo liegen deine größten Gefahren?
Im Mitleiden. (Ebd., 1882, S. 185).Was liebst du an anderen?
Meine Hoffnungen. (Ebd., 1882, S. 185).Wen nennst
du schlecht? Den, der immer beschämen will. (Ebd., 1882,
S. 185).Was ist dir das Menschlichste? Jemandem Scham
ersparen. (Ebd., 1882, S. 186).Was ist das Siegel der
erreichten Freiheit? Sich nicht mehr vor sich selber schämen.
(Ebd., 1882, S. 186).
4. Buch: Sanctus Januarius
Der
du mit dem Flammenspeere // Meiner Seele Eis zerteilt, // Daß sie brausend
nun zum Meere // Ihrer höchsten Hoffnung eilt: // Heller stets und stets
gesunder, // Frei im liebevollsten Muß: // Also preist sie deine
Wunder, // Schönster Januarius!Genua, im Januar 1882 (Ebd.,
1882, S. 187).Zum neuen Jahre. Noch lebe ich, noch
denke ich: ich muß noch leben, denn ich muß noch denken. Sum, ergo
cogito: cogito, ergo sum. Heute erlaubt sich jedermann, seinen Wunsch und
liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute
von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über
das Herz lief welcher Gedanke mir Grund, Bürgschaft und Süßigkeit
alles weiteren Lebens sein soll! Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an
den Dingen als das Schöne sehen so werde ich einer von denen sein,
welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine
Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Häßliche führen. Ich will
nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen
sei meine einzige Verneinung! Und, alles in allem und großen: ich will irgendwann
einmal nur noch ein Jasagender sein! (Ebd., 1882, S. 187).Vorbereitende
Menschen. Ich begrüße alle Anzeichen dafür, daß
ein männlicheres, ein kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor allem die Tapferkeit
wieder zu Ehren bringen wird! Denn es soll einem noch höheren Zeitalter den
Weg bahnen und die Kraft einsammeln, welche jenes einmal nötig haben wird
jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntnis trägt und Kriege
führt um der Gedanken und ihrer Folgen willen. Dazu bedarf es für
jetzt vieler vorbereitender tapferer Menschen, welche doch nicht aus dem Nichts
entspringen können und ebensowenig aus dem Sand und Schleim der jetzigen
Zivilisation und Großstadt-Bildung: Menschen, welche es verstehen, schweigend,
einsam, entschlossen, in unsichtbarer Tätigkeit zufrieden und beständig
zu sein: Menschen, die mit innerlichem Hange an allen Dingen nach dem suchen,
was an ihnen zu überwinden ist: Menschen, denen Heiterkeit, Geduld,
Schlichtheit und Verachtung der großen Eitelkeiten ebenso zu eigen ist,
als Großmut im Siege und Nachsicht gegen die kleinen Eitelkeiten aller Besiegten:
Menschen mit einem scharfen und freien Urteil über alle Sieger und über
den Anteil des Zufalls an jedem Siege und Ruhme: Menschen mit eigenen Festen,
eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten, ge wohnt und sicher im Befehlen und gleich
bereit, wo es gilt, zu gehorchen, im einen wie im andern gleich stolz, gleich
ihrer eigenen Sache dienend: gefährdetere Menschen, fruchtbarere Menschen,
glücklichere Menschen! Denn, glaubt es mir! das Geheimnis, um die
größte Fruchtbarkeit und den größten Genuß vom Dasein
einzuernten, heißt: gefährlich leben! Baut eure Städte
an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit euresgleichen
und mit euch selber! Seid Räuber und Eroberer, solange ihr nicht Herrscher
und Besitzer sein könnt, ihr Erkennenden! Die Zeit geht bald vorbei, wo es
euch genug sein durfte, gleich scheuen Hirschen in Wäldern versteckt zu leben!
Endlich wird die Erkenntnis die Hand nach dem ausstrecken, was ihr gebührt
sie wird herrschen und besitzen wollen, und ihr mit ihr!
(Ebd., 1882, S. 192).Auf die Schiffe! Erwägt
man, wie auf jeden einzelnen eine philosophische Gesamt-Rechtfertigung seiner
Art, zu leben und zu denken, wirkt nämlich gleich einer wärmenden,
sengenden, befruchtenden, eigens ihm leuchtenden Sonne, wie sie unabhängig
von Lob und Tadel, selbstgenugsam, reich, freigebig an Glück und Wohlwollen
macht, wie sie unaufhörlich das Böse zum Guten umschafft, alle Kräfte
zum Blühen und Reifwerden bringt und das kleine und große Unkraut des
Grams und der Verdrießlichkeit gar nicht aufkommen läßt
so ruft man zuletzt verlangend aus: Oh daß doch viele solche neue Sonnen
noch geschaffen würden! Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch
der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein
haben! Nicht Mitleiden mit ihnen tut not! diesen Einfall des Hochmuts müssen
wir verlernen, solange auch bisher die Menschheit gerade an ihm gelernt und geübt
hat keine Beichtiger, Seelenbeschwörer und Sündenvergeber haben
wir für sie aufzustellen! Sondern eine neue Gerechtigkeit tut not!
Und eine neue Losung! Und neue Philosophen! Auch die moralische Erde ist rund!
Auch die moralische Erde hat ihre Antipoden! Auch die Antipoden haben ihr Recht
des Daseins! Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken und mehr als eine!
Auf die Schiffe, ihr Philosophen! (Ebd., 1882, S. 195-196).An
die Moral-Prediger. Ich will keine Moral machen, aber denen, welche
es tun, gebe ich diesen Rat: wollt ihr die besten Dinge und Zustände zuletzt
um alle Ehre und Wert bringen, so fahrt fort, sie in den Mund zu nehmen wie bisher!
Stellt sie an die Spitze eurer Moral und redet von früh bis abend von dem
Glück der Tugend, von der Ruhe der Seele, von der Gerechtigkeit und der immanenten
Vergeltung: so wie ihr es treibt, bekommen alle diese guten Dinge dadurch endlich
eine Popularität und ein Geschrei der Gasse für sich; aber dann wird
auch alles Gold daran abgegriffen sein und mehr noch: alles Gold darin
wird sich in Blei verwandelt haben. Wahrlich, ihr versteht euch auf die umgekehrte
Kunst der Alchimie, auf die Entwertung des Wertvollsten! Greift einmal zum Versuche
nach einem anderen Rezepte, um nicht wie bisher das Gegenteil von dem, was ihr
sucht, zu erreichen: leugnet jene guten Dinge, entzieht ihnen den Pöbel-Beifall
und den leichten Umlauf, macht sie wieder zu verborgenen Schamhaftigkeiten einsamer
Seelen, sagt, Moral sei etwas Verbotenes! Vielleicht gewinnt ihr so die
Art von Menschen für diese Dinge, auf welche einzig etwas ankommt, ich meine
die Heroischen. Aber dann muß etwas zum Fürchten daran sein
und nicht, wie bisher, zum Ekeln! Möchte man nicht heute in Hinsicht der
Moral sagen, wie Meister Eckardt: »ich bitte Gott, daß er mich quitt
mache Gottes!« (Ebd., 1882, S. 199).Unsere Luft.
Wir wissen es wohl: wer nur wie im Spazierengehen einmal einen Blick nach
der Wissenschaft hin tut, nach Art der Frauen und leider auch vieler Künstler:
für den hat die Strenge ihres Dienstes, diese Unerbittlichkeit im kleinen
wie im großen, diese Schnelligkeit im Wägen, Urteilen, Verurteilen
etwas Schwindel- und Furchteinflößendes. Namentlich erschreckt ihn,
wie hier das Schwerste gefordert, das Beste getan wird, ohne daß dafür
Lob und Auszeichnungen da sind, vielmehr, wie unter Soldaten, fast nur Tadel und
scharfe Verweise laut werden denn das Gutmachen gilt als die Regel,
das Verfehlte als die Ausnahme; die Regel aber hat hier wie überall einen
schweigsamen Mund. Mit dieser »Strenge der Wissenschaft« steht es
nun wie mit der Form und Höflichkeit der allerbesten Gesellschaft
sie erschreckt den Uneingeweihten. Wer aber an sie gewöhnt ist, mag gar nicht
anderswo leben als in dieser hellen, durchsichtigen, kräftigen, stark elektrischen
Luft, in dieser männlichen Luft. Überall sonst ist es ihm nicht
reinlich und luftig genug: er argwöhnt, daß dort seine beste Kunst
niemandem recht von Nutzen und ihm selber nicht zur Freude sein werde, daß
unter Mißverständnissen ihm sein halbes Leben durch die Finger schlüpfe,
daß fortwährend viel Vorsicht, viel Verbergen und Ansichhalten not
tue lauter große und unnütze Einbußen an Kraft! In diesem
strengen und klaren Elemente aber hat er seine Kraft ganz: hier kann er fliegen!
Wozu sollte er wieder hinab in jene trüben Gewässer, wo man schwimmen
und waten muß und seine Flügel mißfarbig macht! Nein!
Da ist es zu schwer für uns zu leben: was können wir dafür, daß
wir für die Luft, die reine Luft geboren sind, wir Nebenbuhler des Lichtstrahls,
und daß wir am liebsten auf Ätherstäubchen gleich ihm reiten würden,
und nicht von der Sonne weg, sondern zu der Sonne hin! Das aber können
wir nicht so wollen wir denn tun, was wir einzig können: der Erde
Licht bringen, »das Licht der Erde« sein! Und dazu haben wir unsere
Flügel und unsere Schnelligkeit und Strenge, um dessenthalben sind wir männlich
und selbst schrecklich, gleich dem Feuer. Mögen die uns fürchten, welche
sich nicht an uns zu wärmen und zu erhellen verstehen! (Ebd., 1882,
S. 200-201).Gegen die Verleumder der Natur. Das sind
mir unangenehme Menschen, bei denen jeder natürliche Hang sofort zur Krankheit
wird, zu etwas Entstellendem oder gar Schmählichem diese haben uns
zu der Meinung verführt, die Hänge und Triebe des Menschen seien böse;
sie sind die Ursache unserer großen Ungerechtigkeit gegen unsere Natur,
gegen alle Natur! Es gibt genug Menschen, die sich ihren Trieben mit Anmut und
Sorglosigkeit überlassen dürfen: aber sie tun es nicht, aus Angst
vor jenem eingebildeten »bösen Wesen« der Natur! Daher
ist es gekommen, daß so wenig Vornehmheit unter den Menschen zu finden ist:
deren Kennzeichen es immer sein wird, vor sich keine Furcht zu haben, von sich
nichts Schmähliches zu erwarten, ohne Bedenken zu fliegen, wohin es uns treibt
uns freigeborene Vögel! Wohin wir auch nur kommen, immer wird es frei
und sonnenlicht um uns sein. (Ebd., 1882, S. 201).Widersprechen
können. Jeder weiß jetzt, daß Widerspruch-vertragen-können
ein hohes Zeichen von Kultur ist. Einige wissen sogar, daß der höhere
Mensch den Widerspruch gegen sich wünscht und hervorruft, um einen Fingerzeig
über seine ihm bisher unbekannte Ungerechtigkeit zu bekommen. Aber das Widersprechen-Können,
das erlangte gute Gewissen bei der Feindseligkeit gegen das Gewohnte, Überlieferte,
Geheiligte das ist mehr als jenes Beides und das eigentlich Große,
Neue, Erstaunliche unserer Kultur, der Schritt aller Schritte des befreiten Geistes:
wer weiß das? (Ebd., 1882, S. 204).Was man den Künstlern
ablernen soll. Welche Mittel haben wir, uns die Dinge schön, anziehend,
begehrenswert zu machen, wenn sie es nicht sind? und ich meine, sie sind
es an sich niemals! Hier haben wir von den Ärzten etwas zu lernen, wenn sie
zum Beispiel das Bittere verdünnen oder Wein und Zucker in den Mischkrug
tun; aber noch mehr von den Künstlern, welche eigentlich fortwährend
darauf aus sind, solche Erfindungen und Kunststücke zu machen. Sich von den
Dingen entfernen, bis man vieles von ihnen nicht mehr sieht und vieles hinzusehn
muß, um sie noch zu sehen oder die Dinge um die Ecke und wie
in einem Ausschnitte sehen oder sie so stellen, daß sie sich teilweise
verstellen und nur perspektivische Durchblicke gestatten oder sie durch
gefärbtes Glas oder im Lichte der Abendröte anschauen oder ihnen
eine Oberfläche und Haut geben, welche keine volle Transparenz hat: das alles
sollen wir den Künstlern ablernen und im übrigen weiser sein als sie.
Denn bei ihnen hört gewöhnlich diese ihre feine Kraft auf, wo die Kunst
aufhört und das Leben beginnt; wir aber wollen die Dichter unseres Lebens
sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst. (Ebd., 1882, S. 204-205).Vorspiele
der Wissenschaft. Glaubt ihr denn, daß die Wissenschaften entstanden
und groß geworden wären, wenn ihnen nicht die Zauberer, Alchimisten,
Astrologen und Hexen vorangelaufen wären als die, welche mit ihren Verheißungen
und Vorspiegelungen erst Durst, Hunger und Wohlgeschmack an verborgenen und
verbotenen Mächten schaffen mußten? Ja, daß unendlich mehr
hat verheißen werden müssen, als je erfüllt werden kann, damit
überhaupt etwas im Reiche der Erkenntnis sich erfülle? Vielleicht
erscheint in gleicher Weise, wie uns sich hier Vorspiele und Vorübungen der
Wissenschaft darstellen, die durchaus nicht als solche geübt und empfunden
wurden, auch irgendeinem fernen Zeitalter die gesamte Religion als Übung
und Vorspiel: vielleicht könnte sie das seltsame Mittel dazu gewesen sein,
daß einmal einzelne Menschen die ganze Selbstgenügsamkeit eines Gottes
und alle seine Kraft der Selbsterlösung genießen können. Ja!
darf man fragen würde denn der Mensch überhaupt ohne jene religiöse
Schule und Vorgeschichte es gelernt haben, nach sich Hunger und Durst zu spüren
und aus sich Sattheit und Fülle zu nehmen? Mußte Prometheus erst wähnen,
das Licht gestohlen zu haben und dafür büßen um
endlich zu entdecken, daß er das Licht geschaffen habe, indem er nach
dem Lichte begehrte, und daß nicht nur der Mensch, sondern auch der
Gott das Werk seiner Hände und Ton in seinen Händen gewesen
sei? Alles nur Bilder des Bildners? ebenso wie der Wahn, der Diebstahl,
der Kaukasus, der Geier und die ganze tragische Prometheia aller Erkennenden?
(Ebd., 1882, S. 205-206).Was nur Wert hat in der jetzigen
Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach die Natur ist immer
wertlos : sondern dem hat man einen Wert einmal gegeben, geschenkt, und
wir waren diese Gebenden und Schenkenden! (Ebd., 1882, S. 207).Stoiker
und Epikureer. Der Epikureer sucht sich die Lage, die Personen und
selbst die Ereignisse aus, welche zu seiner äußerst reizbaren intellektuellen
Beschaffenheit passen, er verzichtet auf das übrige das heißt
das allermeiste , weil es eine zu starke und schwere Kost für ihn sein
würde. Der Stoiker dagegen übt sich, Steine und Gewürm, Glassplitter
und Skorpione zu verschlucken und ohne Ekel zu sein; sein Magen soll endlich gleichgültig
gegen alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüttet er
erinnert an jene arabische Sekte der Assaua, die man in Algier kennenlernt; und
gleich diesen Unempfindlichen hat er auch gerne ein eingeladenes Publikum bei
der Schaustellung seiner Unempfindlichkeit, dessen gerade der Epikureer gerne
enträt der hat ja seinen »Garten«! Für Menschen,
mit denen das Schicksal improvisiert, für solche, die in gewaltsamen Zeiten
und abhängig von plötzlichen und veränderlichen Menschen leben,
mag der Stoizismus sehr ratsam sein. Wer aber einigermaßen absieht, daß
das Schicksal ihm einen langen Faden zu spinnen erlaubt, tut wohl, sich
epikureisch einzurichten; alle Menschen der geistigen Arbeit haben es bisher getan!
Ihnen wäre es nämlich der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit
einzubüßen und die stoische harte Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt
zu bekommen. (Ebd., 1882, S. 210-211).Zugunsten der Kritik.
Jetzt erscheint dir etwas als Irrtum, das du ehedem als eine Wahrheit oder
Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stößt es von dir ab und wähnst,
daß deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber vielleicht war
jener Irrtum damals, als du noch ein andrer warst du bist immer ein andrer
, dir ebenso notwendig wie alle deine jetzigen »Wahrheiten«,
gleichsam als eine Haut, die dir vieles verhehlte und verhüllte, was du noch
nicht sehen durftest. Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getötet,
nicht deine Vernunft: du brauchst sie nicht mehr, und nun bricht sie in
sich selbst zusammen, und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr ans
Licht. Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches
es ist, wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, daß lebendige treibende
Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstoßen. Wir verneinen und
müssen verneinen, weil etwas in uns leben und sich bejahen will, etwas
das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen! Dies zugunsten
der Kritik. (Ebd., 1882, S. 211).Neue Haustiere.
Ich will meinen Löwen und meinen Adler um mich haben, damit ich allezeit
Winke und Vorbedeutungen habe, zu wissen, wie groß oder wie gering meine
Stärke ist. Muß ich heute zu ihnen hinabblicken und mich vor ihnen
fürchten? Und wird die Stunde wiederkommen, wo sie zu mir hinauf blicken,
und in Furcht? (Ebd., 1882, S. 215).Vom letzten Stündlein.
Stürme sind meine Gefahr: werde ich meinen Sturm haben, an dem ich
zugrunde gehe, wie Oliver Cromwell an seinem Sturme zugrunde ging? Oder werde
ich verlöschen wie ein Licht, das nicht erst der Wind ausbläst, sondern
das seiner selber müde und satt wurde ein ausgebranntes Licht? Oder
endlich: werde ich mich ausblasen, um nicht auszubrennen? (Ebd., 1882, S.
215).Neue Vorsicht. Laßt uns nicht mehr so
viel an Strafen, Tadeln und Bessern denken! Einen einzelnen werden wir selten
verändern; und wenn es uns gelingen sollte, so ist vielleicht unbesehens
auch etwas mitgelungen: wir sind durch ihn verändert worden! Sehen
wir viel mehr zu, daß unser eigener Einfluß auf alles Kommende
seinen Einfluß aufwiegt und überwiegt! Ringen wir nicht im direkten
Kampfe! und das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern
erheben wir uns selber um so höher! Geben wir unserem Vorbilde immer leuchtendere
Farben! Verdunkeln wir den andern durch unser Licht! Nein! Wir wollen nicht um
seinetwillen selber dunkler werden, gleich allen Strafenden und Unzufriedenen!
Gehen wir lieber beiseite! Sehen wir weg! (Ebd., 1882, S. 218-219).In
media vita! Nein! Das Leben hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr
zu Jahr finde ich es vielmehr wahrer, begehrenswerter und geheimnisvoller
von jenem Tage an, wo der große Befreier über mich kam, jener Gedanke,
daß das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe und
nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängnis, nicht eine Betrügerei!
Und die Erkenntnis selber: mag sie für andere etwas anderes sein, zum Beispiel
ein Ruhebett oder der Weg zu einem Ruhebett, oder eine Unterhaltung, oder ein
Müßiggang für mich ist sie eine Welt der Gefahren und Siege,
in der auch die heroischen Gefühle ihre Tanz- und Tummelplätze haben.
»Das Leben ein Mittel der Erkenntnis« mit diesem Grundsatze
im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich
lachen! Und wer verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der
sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstünde? (Ebd., 1882, S.
219-220).Der Dummheit Schaden tun. Gewiß hat
der so hartnäckig und überzeugt gepredigte Glaube von der Verwerflichkeit
des Egoismus im ganzen dem Egoismus Schaden getan (zugunsten, wie ich hundertmal
wiederholen werde, der Herden-lnstinkte!) namentlich dadurch, daß
er ihm das gute Gewissen nahm und in ihm die eigentliche Quelle alles Unglücks
suchen hieß. »Deine Selbstsucht ist das Unheil deines Lebens«
so klang die Predigt jahrtausendelang: es tat, wie gesagt, der Selbstsucht
Schaden und nahm ihr viel Geist, viel Heiterkeit, viel Erfindsamkeit, viel Schönheit;
es verdummte und verhäßlichte und vergiftete die Selbstsucht!
Das philosophische Altertum lehrte dagegen eine andere Hauptquelle des Unheils:
von Sokrates an wurden die Denker nicht müde zu predigen: »eure Gedankenlosigkeit
und Dummheit, euer Dahinleben nach der Regel, eure Unterordnung unter die Meinung
des Nachbars ist der Grund, weshalb ihr es so selten zum Glücke bringt
wir Denker sind als Denker die Glücklichsten.« Entscheiden wir hier
nicht, ob diese Predigt gegen die Dummheit bessere Gründe für sich hatte
als jene Predigt gegen die Selbstsucht; gewiß aber ist dies, daß sie
der Dummheit das gute Gewissen nahm diese Philosophen haben der Dummheit
Schaden getan! (Ebd., 1882, S. 222-223).Man schämt
sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse.
Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag ißt, das Auge auf das
Börsenblatt gerichtet, man lebt wie einer, der fortwährend etwas
»versäumen könnte«. »Lieber irgend etwas tun als nichts«
auch dieser Grundsatz ist eine Schnur, um aller Bildung und allem höheren
Geschmack den Garaus zu machen. Und so wie sichtlich alle Formen an dieser Hast
der Arbeitenden zugrundegehn: so geht auch das Gefühl für die Form selber,
das Ohr und Auge für die Melodie der Bewegungen zugrunde. Der Beweis dafür
liegt in der jetzt überall geforderten plumpen Deutlichkeit, in allen
den Lagen, wo der Mensch einmal redlich mit Menschen sein will, im Verkehre mit
Freunden, Frauen, Verwandten, Kindern, Lehrern, Schülern, Führern und
Fürsten man hat keine Zeit und keine Kraft mehr für die Zeremonien,
für die Verbindlichkeit mit Umwegen, für allen Esprit der Unterhaltung
und überhaupt für alles Otium. Denn das Leben auf der Jagd nach
Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben,
im beständigen Sich-Verstellen oder Überlisten oder Zuvorkommen: die
eigentliche Tugend ist jetzt, etwas in weniger Zeit zu tun als ein anderer. Und
so gibt es nur selten Stunden der erlaubten Redlichkeit: in diesen aber
ist man müde und möchte sich nicht nur »gehen lassen«, sondern
lang und breit und plump sich hinstrecken. Gemäß diesem Hange
schreibt man jetzt seine Briefe: deren Stil und Geist das eigentliche »Zeichen
der Zeit« sein werden. Gibt es noch ein Vergnügen an Gesellschaft und
an Künsten, so ist es ein Vergnügen, wie es müde gearbeitete Sklaven
sich zurecht machen. Oh über diese Genügsamkeit der »Freude«
bei unsern Gebildeten und Ungebildeten! Oh über diese zunehmende Verdächtigung
aller Freude! Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre
Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits »Bedürfnis der Erholung«
und fängt an sich vor sich selber zu schämen. »Man ist es seiner
Gesundheit schuldig« so redet man, wenn man auf einer Landpartie
ertappt wird. Ja es könnte bald so weit kommen, daß man einem Hange
zur vita contemplativa (das heißt zum spazierengehen mit Gedanken
und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe.
Nun! Ehedem war es umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf
sich. Ein Mensch von guter Abkunft verbarg seine Arbeit, wenn die Not ihn
zum Arbeiten zwang. Der Sklave arbeitete unter dem Druck des Gefühls, daß
er etwas Verächtliches tue das »Tun« selber war etwas
Verächtliches. »Die Vornehmheit und die Ehre sind allein bei otium
und bellum«: so klang die Stimme des antiken Vorurteils! (Ebd.,
1882, S. 223-224).Auch die Liebe muß man lernen. (Ebd.,
1882, S. 227).Hoch die Physik! Wie viel Menschen
verstehen denn zu beobachten! Und unter den wenigen, die es verstehen wie
viele beobachten sich selber! »Jeder ist sich selber der Fernste«
das wissen alle Nierenprüfer, zu ihrem Unbehagen; und der Spruch »erkenne
dich selbst!« ist, im Munde eines Gottes und zu Menschen geredet, beinahe
eine Bosheit. .... Und nun rede mir nicht vom kategorischen Imperativ, mein Freund!
dies Wort kitzelt mein Ohr und ich muß lachen, trotz deiner so ernsthaften
Gegenwart: ich gedenke dabei des alten Kant, der, zur Strafe dafür, daß
er »das Ding an sich« auch eine sehr lächerliche Sache!
sich erschlichen hatte, vom »kategorischen Imperativ«
beschlichen wurde und mit ihm im Herzen sich wieder zu »Gott«, »Seele«,
»Freiheit« und »Unsterblichkeit« zurückverirrte,
einem Fuchse gleich, der sich in seinen Käfig zurückverirrt und
seine Kraft und Klugheit war es gewesen, welche diesen Käfig erbrochen
hatte! Wie? Du bewunderst den kategorischen Imperativ in dir? Diese »Festigkeit«
deines sogenannten moralischen Urteils? Diese »Unbedingtheit« des
Gefühls »so wie ich, müssen hierin alle urteilen«? Bewundere
vielmehr deine Selbstsucht darin! Und die Blindheit, Kleinlichkeit und
Anspruchslosigkeit deiner Selbstsucht! Selbstsucht nämlich ist es, sein
Urteil als Allgemeingesetz zu empfinden; und eine blinde, kleinliche und anspruchslose
Selbstsucht hinwiederum, weil sie verrät, daß du dich selber noch nicht
entdeckt, dir selber noch kein eigenes, eigenstes Ideal geschaffen hast
dies nämlich könnte niemals das eines anderen sein, geschweige denn
aller, aller! Wer noch urteilt »so müßte in diesem
Falle jeder handeln«, ist noch nicht fünf Schritt weit in der Selbsterkenntnis
gegangen: sonst würde er wissen, daß es weder gleiche Handlungen gibt,
noch geben kann daß jede Handlung, die getan worden ist, auf eine
ganz einzige und unwiderbringliche Art getan wurde, und daß es ebenso mit
jeder zukünftigen Handlung stehen wird, daß alle Vorschriften des Handelns
sich nur auf die gröbliche Außenseite beziehen (und selbst die innerlichsten
und feinsten Vorschriften aller bisherigen Moralen) daß mit ihnen
wohl ein Schein der Gleichheit, aber eben nur ein Schein erreicht werden
kann daß jede Handlung, beim Hinblick oder Rückblick
auf sie, eine undurchdringliche Sache ist und bleibt daß unsere Meinungen
von »gut«, »edel«, »groß« durch unsere
Handlungen nie bewiesen werden können, weil jede Handlung unerkennbar ist
daß sicherlich unsere Meinungen, Wertschätzungen und Gütertafeln
zu den mächtigsten Hebeln im Räderwerk unserer Handlungen gehören,
daß aber für jeden einzelnen Fall das Gesetz ihrer Mechanik unnachweisbar
ist. Beschränken wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen
und Wertschätzungen und auf die Schöpfung neuer eigener Gütertafeln
über den »moralischen Wert unserer Handlungen« aber wollen
wir nicht mehr grübeln! Ja, meine Freunde! In Hinsicht auf das ganze moralische
Geschwätz der einen über die andern ist der Ekel an der Zeit! Moralisch
zu Gericht sitzen, soll uns wider den Geschmack gehen! Überlassen wir dies
Geschwätz und diesen üblen Geschmack denen, welche nicht mehr zu tun
haben, als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu
schleppen, und welche selber niemals Gegenwart sind den vielen also, den
allermeisten! Wir aber wollen die werden, die wir sind die Neuen,
die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Ge setzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!
Und dazu müssen wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und
Notwendigen in der Welt werden: wir müssen Physiker sein, um in jenem
Sinne Schöpfer sein zu können während bisher alle
Wertschätzungen und Ideale auf Unkenntnis der Physik oder im Widerspruche
mit ihr aufgebaut waren. Und darum: Hoch die Physik! Und höher noch das,
was uns zu ihr zwingt unsere Redlichkeit! (Ebd., 1882, S.
227-231).Geiz der Natur. Warum ist die Natur so kärglich
gegen den Menschen gewesen, daß sie ihn nicht leuchten ließ, diesen
mehr, jenen weniger, je nach seiner innern Lichtfülle? Warum haben große
Menschen nicht eine so schöne Sichtbarkeit in ihrem Aufgange und Niedergange
wie die Sonne? Wie viel unzweideutiger wäre alles Leben unter Menschen!
(Ebd., 1882, S. 231).Der Wille zum Leiden und die Mitleidigen.
Ist es euch selber zuträglich, vor allem mitleidige Menschen zu
sein? Und ist es den Leidenden zuträglich, wenn ihr es seid? Doch lassen
wir die erste Frage für einen Augenblick ohne Antwort. Das, woran
wir am tiefsten und persönlichsten leiden, ist fast allen anderen unverständlich
und unzugänglich: darin sind wir dem Nächsten verborgen, und wenn er
mit uns aus einem Topfe ißt. Überall aber, wo wir als Leidende bemerkt
werden, wird unser Leiden flach ausgelegt; es gehört zum Wesen der mitleidigen
Affektion, daß sie das fremde Leid des eigentlich Persönlichen entkleidet
unsre »Wohltäter« sind mehr als unsre Feinde die Verkleinerer
unsres Wertes und Willens. Bei den meisten Wohltaten, die Unglücklichen erwiesen
werden, liegt etwas Empörendes in der intellektuellen Leichtfertigkeit, mit
der da der Mitleidige das Schicksal spielt: er weiß nichts von der ganzen
inneren Folge und Verflechtung, welche Unglück für mich oder für
dich heißt! Die gesamte Ökonomie meiner Seele und deren Ausgleichung
durch das »Unglück«, das Aufbrechen neuer Quellen und Bedürfnisse,
das Zuwachsen alter Wunden, das Abstoßen ganzer Vergangenheiten das
alles, was mit dem Unglück verbunden sein kann, kümmert den lieben Mitleidigen
nicht: er will helfen und denkt nicht daran, daß es eine persönliche
Notwendigkeit des Unglücks gibt, daß mir und dir Schrecken, Entbehrungen,
Verarmungen, Mitternächte, Abenteuer, Wagnisse, Fehlgriffe so nötig
sind wie ihr Gegenteil, ja daß, um mich mystisch auszudrücken, der
Pfad zum eigenen Himmel immer durch die Wollust der eigenen Hölle geht. Nein,
davon weiß er nichts: die »Religion des Mitleidens« (oder »das
Herz«) gebietet zu helfen, und man glaubt am besten geholfen zu haben, wenn
man am schnellsten geholfen hat! Wenn ihr Anhänger dieser Religion dieselbe
Gesinnung, die ihr gegen die Mitmenschen habt, auch wirklich gegen euch selber
habt, wenn ihr euer eigenes Leiden nicht eine Stunde auf euch liegen lassen wollt
und immerfort allem möglichen Unglücke von ferne her schon vorbeugt,
wenn ihr Leid und Unlust überhaupt als böse, hassenswert, vernichtungswürdig,
als Makel am Dasein empfindet: nun, dann habt ihr, außer eurer Religion
des Mitleidens, auch noch eine andere Religion im Herzen, und diese ist vielleicht
die Mutter von jener die Religion der Behaglichkeit. Ach, wie wenig
wißt ihr vom Glücke des Menschen, ihr Behaglichen und Gutmütigen!
denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge,
die miteinander großwachsen oder, wie bei euch, miteinander klein
bleiben! (Ebd., 1882, S. 233-234).Der sterbende Sokrates.
Ich bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in allem, was er
tat, sagte und nicht sagte. Dieser spöttische und verliebte Unhold
und Rattenfänger Athens, der die übermütigsten Jünglinge zittern
und schluchzen machte, war nicht nur der weiseste Schwätzer, den es gegeben
hat: er war ebenso groß im Schweigen. Ich wollte, er wäre auch im letzten
Augenblicke des Lebens schweigsam gewesen vielleicht gehörte er dann
in eine noch höhere Ordnung der Geister. War es nun der Tod oder das Gift
oder die Frömmigkeit oder die Bosheit irgend etwas löste ihm
in jenem Augenblicke die Zunge und er sagte: »O Kriton, ich bin dem Asklepios
einen Hahn schuldig.« Dieses lächerliche und furchtbare »letzte
Wort« heißt für den, der Ohren hat: »O Kriton, das Leben
ist eine Krankheit!« Ist es möglich! Ein Mann wie er, der heiter
und vor aller Augen wie ein Soldat gelebt hat war Pessimist! Er hatte eben
nur eine gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urteil, sein
innerstes Gefühl versteckt! Sokrates, Sokrates hat am Leben gelitten!
Und er hat noch seine Rache dafür genommen mit jenem verhüllten,
schauerlichen, frommen und blasphemischen Worte! Mußte ein Sokrates sich
auch noch rächen? War ein Gran Großmut zu wenig in seiner überreichen
Tugend? Ach Freunde! Wir müssen auch die Griechen überwinden!
(Ebd., 1882, S. 236-237).Das größte
Schwergewicht. Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts ein Dämon
in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: »Dieses Leben,
wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige
Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz
und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und
Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und alles in derselben Reihe
und Folge und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen,
und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird
immer wieder umgedreht und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!«
Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen
und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren
Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: »du bist ein Gott und
nie hörte ich Göttlicheres!« Wenn jener Gedanke über dich
Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht
zermalmen; die Frage bei allem und jedem: »willst du dies noch einmal und
noch unzählige Male?« würde als das größte Schwergewicht
auf deinem Handeln liegen! Oder wie müßtest du dir selber und dem Leben
gut werden, um nach nichts mehr zu verlangen als nach dieser letzten ewigen
Bestätigung und Besiegelung? (Ebd., 1882, S. 237).Incipit
tragoedia. Als Zarathustra dreißig Jahre alt war, verließ
er seine Heimat und den See Urmi und ging in das Gebirge. Hier genoß er
seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde.
Endlich aber verwandelte sich sein Herz und eines Morgens stand er mit
der Morgenröte auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: »Du
großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest,
welchen du leuchtest! Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du
würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen
Adler und meine Schlange; aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir
deinen Überfluß ab und segneten dich dafür. Siehe! Ich bin meiner
Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zuviel gesammelt
hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken, ich möchte verschenken
und austeilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Torheit und
die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh geworden sind. Dazu muß ich
in die Tiefe steigen: wie du des Abends tust, wenn du hinter das Meer gehst und
noch der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn! ich muß,
gleich dir, untergehen, wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will. So
segne mich denn, du ruhiges Auge, das ohne Neid auch ein allzugroßes Glück
sehen kann! Segne den Becher, welcher überfließen will, daß das
Wasser golden aus ihm fließe und überallhin den Abglanz deiner Wonne
trage! Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder
Mensch werden.« Also begann Zarathustras Untergang. (Ebd.,
1882, S. 238).
5. Buch: Wir Furchtlosen
Was
es mit unsrer Heiterkeit auf sich hat. Das größte neuere
Ereignis daß »Gott tot ist«, daß der Glaube an
den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist beginnt bereits seine
ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die wenigen wenigstens, deren
Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel
ist, scheint eben irgendeine Sonne untergegangen, irgendein altes tiefes Vertrauen
in Zweifel umgedreht: ihnen muß unsre alte Welt täglich abendlicher,
mißtrauischer, fremder, »älter« scheinen. In der Hauptsache
aber darf man sagen; das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fern, zu abseits
vom Fassungsvermögen vieler, als daß auch nur seine Kunde schon angelangt
heißen dürfte; geschweige denn, daß viele bereits wüßten,
was eigentlich sich damit begeben hat und was alles, nachdem dieser Glaube
untergraben ist, nunmehr einfallen muß, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt,
in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral. Diese
lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die
nun bevorsteht: wer erriete heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder
dieser ungeheuren Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer
Verdüsterung und Sonnenfinsternis, derengleichen es wahrscheinlich noch nicht
auf Erden gegeben hat? .... Selbst wir geborenen Rätselrater, die wir gleichsam
auf den Bergen warten, zwischen Heute und Morgen hingestellt und in den Widerspruch
zwischen Heute und Morgen hineingespannt, wir Erstlinge und Frühgeburten
des kommenden Jahrhunderts, denen eigentlich die Schatten welche Europa alsbald
einwickeln müssen, jetzt schon zu Gesicht gekommen sein sollten: woran
liegt es doch, daß selbst wir ohne rechte Teilnahme für diese Verdüsterung,
vor allem ohne Sorge und Furcht für uns ihrem Heraufkommen entgegensehn?
Stehen wir vielleicht zu sehr noch unter den nächsten Folgen dieses Ereignisses
und diese nächsten Folgen, seine Folgen für uns
sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht traurig
und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht,
Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermutigung, Morgenröte .... In der
Tat, wir Philosophen und »freien Geister« fühlen uns bei der
Nachricht, daß der »alte Gott tot« ist, wie von einer neuen
Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit,
Erstaunen, Ahnung, Erwartung endlich erscheint uns der Horizont wieder
frei, gesetzt selbst, daß er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe
wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden
ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab
es noch niemals ein so »offnes Meer«. (Ebd., 1882, S. 239-240).
Inwiefern auch wir noch fromm sind.
In der Wissenschaft haben die Überzeugungen kein Bürgerrecht,
so sagt man mit gutem Grunde: erst wenn sie sich entschließen, zur
Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorläufigen Versuchs-Standpunktes,
einer regulativen Fiktion herabzusteigen, darf ihnen der Zutritt und sogar
ein gewisser Wert innerhalb des Reichs der Erkenntnis zugestanden werden
immerhin mit der Beschränkung, unter polizeiliche Aufsicht
gestellt zu bleiben, unter die Polizei des Mißtrauens. Heißt
das aber nicht, genauer besehen: erst wenn die Überzeugung aufhört,
Überzeugung zu sein, darf sie Eintritt in die Wissenschaft erlangen?
Finge nicht die Zucht des wissenschaftlichen Geistes damit an, sich keine
Überzeugungen mehr zu gestatten? .... So steht es wahrscheinlich:
nur bleibt übrig zu fragen, ob nicht, damit diese Zucht anfangen
könne, schon eine Überzeugung da sein müsse, und zwar
eine so gebieterische und bedingungslose, daß sie alle andern Überzeugungen
sich zum Opfer bringt. Man sieht, auch die Wissenschaft ruht auf einem
Glauben, es gibt gar keine »voraussetzungslose« Wissenschaft.
Die Frage, ob Wahrheit not tue, muß nicht nur schon vorher
bejaht, sondern in dem Grade bejaht sein, daß der Satz, der Glaube,
die Überzeugung darin zum Ausdruck kommt, »es tut nichts
mehr not als Wahrheit, und im Verhältnis zu ihr hat alles Übrige
nur einen Wert zweiten Rangs«. Dieser unbedingte Wille zur
Wahrheit: was ist er? Ist es der Wille, sich nicht täuschen zu
lassen? Ist es der Wille, nicht zu täuschen? Nämlich
auch auf diese letzte Weise könnte der Wille zur Wahrheit interpretiert
werden: vorausgesetzt, daß man unter der Verallgemeinerung »ich
will nicht täuschen« auch den einzelnen Fall »ich will
mich nicht täuschen« einbegreift. Aber warum nicht täuschen?
Aber warum nicht sich täuschen lassen? Man bemerke, daß
die Gründe für das erstere auf einem ganz andern Bereiche liegen
als die für das zweite: man will sich nicht täuschen lassen,
unter der Annahme, daß es schädlich, gefährlich, verhängnisvoll
ist, getäuscht zu werden in diesem Sinne wäre Wissenschaft
eine lange Klugheit, eine Vorsicht, eine Nützlichkeit, gegen die
man aber billigerweise einwenden dürfte: wie? ist wirklich das Sich-nicht-täuschen-lassen-wollen
weniger schädlich, weniger gefährlich, weniger verhängnisvoll?
Was wißt ihr von vornherein vom Charakter des Daseins, um entscheiden
zu können, ob der größere Vorteil auf Seiten des Unbedingt-Mißtrauischen
oder des Unbedingt-Zutraulichen ist? Falls aber beides nötig sein
sollte, viel Zutrauen und viel Mißtrauen: woher dürfte dann
die Wissenschaft ihren unbedingten Glauben, ihre Überzeugung nehmen,
auf dem sie ruht, daß Wahrheit wichtiger sei als irgendein andres
Ding, auch als jede andre Überzeugung? Eben diese Überzeugung
könnte nicht entstanden sein, wenn Wahrheit und Unwahrheit
sich beide fortwährend als nützlich bezeigten, wie es der Fall
ist. Also kann der Glaube an die Wissenschaft, der nun einmal unbestreitbar
da ist, nicht aus einem solchen Nützlichkeits-Kalkül seinen
Ursprung genommen haben, sondern vielmehr trotzdem, daß ihm die
Unnützlichkeit und Gefährlichkeit des »Willens zur Wahrheit«,
der »Wahrheit um jeden Preis« fortwährend bewiesen wird.
»Um jeden Preis«: oh wir verstehen das gut genug, wenn wir
erst einen Glauben nach dem andern auf diesem Altare dargebracht und abgeschlachtet
haben! Folglich bedeutet »Wille zur Wahrheit«
nicht »ich will mich nicht täuschen lassen«, sondern
es bleibt keine Wahl »ich will nicht täuschen,
auch mich selbst nicht«; und hiermit sind wir auf dem
Boden der Moral. Denn man frage sich nur gründlich: »warum
willst du nicht täuschen?« namentlich wenn es den Anschein
haben sollte und es hat den Anschein! als wenn das Leben
auf Anschein, ich meine auf Irrtum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung
angelegt wäre, und wenn andrerseits tatsächlich die große
Form des Lebens sich immer auf der Seite der unbedenklichsten polytropoi
gezeigt hat. Es könnte ein solcher Vorsatz vielleicht, mild ausgelegt,
eine Don-Quixoterie, ein kleiner schwärmerischer Aberwitz sein; er
könnte aber auch noch etwas Schlimmeres sein, nämlich ein lebensfeindliches
zerstörerisches Prinzip . .... »Wille zur Wahrheit«
das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein. Dergestalt
führt die Frage: warum Wissenschaft? zurück auf das moralische
Problem: wozu überhaupt Moral, wenn Leben, Natur, Geschichte
»unmoralisch« sind? Es ist kein Zweifel,
der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube
an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als
die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese »andre
Welt« bejaht, wie? muß er nicht ebendamit ihr Gegenstück,
diese Welt, unsre Welt verneinen? .... Doch man wird es
begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich daß es immer
noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft
ruht daß auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und
Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein
jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der
auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß
die Wahrheit göttlich ist .... Aber wie, wenn dies gerade immer mehr
unglaubwürdig wird, wenn nichts sich mehr als göttlich erweist,
es sei denn der Irrtum, die Blindheit, die Lüge wenn Gott
selbst sich als unsre längste Lüge erweist? (Ebd., 1882,
S. 240-243).
Moral als
Problem. Der Mangel an Person rächt sich überall; eine geschwächte,
dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit
taugt zu keinem guten Dinge mehr sie taugt am wenigsten zur Philosophie.
Die »Selbstlosigkeit« hat keinen Wert im Himmel und auf Erden; die
großen Probleme verlangen alle die große Liebe, und dieser
sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, die fest auf sich selber
sitzen. Es macht den erheblichsten Unterschied, ob ein Denker zu seinen Problemen
persönlich steht, so daß er in ihnen sein Schicksal, seine Not und
auch sein bestes Glück hat, oder aber »unpersönlich«: nämlich
sie nur mit den Fühlhörnern des kalten, neugierigen Gedankens anzutasten
und zu fassen versteht. Im letzteren Falle kommt nichts dabei heraus, so viel
läßt sich versprechen: denn die großen Probleme, gesetzt selbst,
daß sie sich fassen lassen, lassen sich von Fröschen und Schwächlingen
nicht halten, das ist ihr Geschmack seit Ewigkeit ein Geschmack übrigens,
den sie mit allen wackeren Weiblein teilen. Wie kommt es nun, daß
ich noch niemandem begegnet bin, auch in Büchern nicht, der zur Moral in
dieser Stellung als Person stünde, der die Moral als Problem und dies Problem
als seine persönliche Not, Qual, Wollust, Leidenschaft kennte? Ersichtlich
war bisher die Moral gar kein Problem; vielmehr das gerade, worin man, nach allem
Mißtrauen, Zwiespalt, Widerspruch, miteinander überein kam, der geheiligte
Ort des Friedens, wo die Denker auch von sich selbst ausruhten, aufatmeten, auflebten.
Ich sehe niemanden, der eine Kritik der moralischen Werturteile gewagt
hätte; ich vermisse hierfür selbst die Versuche der wissenschaftlichen
Neugierde, der verwöhnten versucherischen Psychologen- und Historiker-Einbildungskraft,
welche leicht ein Problem vorwegnimmt und im Fluge erhascht, ohne recht zu wissen,
was da erhascht ist. Kaum daß ich einige spärliche Ansätze ausfindig
gemacht habe, es zu einer Entstehungsgeschichte dieser Gefühle und
Wertschätzungen zu bringen (was etwas anderes ist als eine Kritik derselben
und noch einmal etwas anderes als die Geschichte der ethischen Systeme): in einem
einzelnen Falle habe ich alles getan, um eine Neigung und Begabung für diese
Art Historie zu ermutigen umsonst, wie mir heute scheinen will. Mit diesen
Moral-Historikern (namentlich Engländern) hat es wenig auf sich: sie stehen
gewöhnlich selbst noch arglos unter dem Kommando einer bestimmten Moral und
geben, ohne es zu wissen, deren Schildträger und Gefolge ab; etwa mit jenem
noch immer so treuherzig nachgeredeten Volks-Aberglauben des christlichen Europa,
daß das Charakteristikum der moralischen Handlung im Selbstlosen, Selbstverleugnenden,
Sich-Selbst-Opfernden, oder im Mitgefühle, im Mitleiden gelegen sei. Ihr
gewöhnlicher Fehler in der Voraussetzung ist, daß sie irgendeinen consensus
der Völker, mindestens der zahmen Völker über gewisse Sätze
der Moral behaupten und daraus deren unbedingte Verbindlichkeit, auch für
dich und mich, schließen; oder daß sie umgekehrt, nachdem ihnen die
Wahrheit aufgegangen ist, daß bei verschiedenen Völkern die moralischen
Schätzungen notwendig verschieden sind, einen Schluß auf Unverbindlichkeit
aller Moral machen: was beides gleich große Kindereien sind. Der
Fehler der Feineren unter ihnen ist, daß sie die vielleicht törichten
Meinungen eines Volks über seine Moral oder der Menschen über alle menschliche
Moral aufdecken und kritisieren, also über deren Herkunft, religiöse
Sanktion, den Aberglauben des freien Willens und dergleichen, und ebendamit vermeinen,
diese Moral selbst kritisiert zu haben. Aber der Wert einer Vorschrift »du
sollst« ist noch gründlich verschieden und unabhängig von solcherlei
Meinungen über dieselbe und von dem Unkraut des Irrtums, mit dem sie vielleicht
überwachsen ist: so gewiß der Wert eines Medikaments für den Kranken
noch vollkommen unabhängig davon ist, ob der Kranke wissenschaftlich oder
wie ein altes Weib über Medizin denkt. Eine Moral könnte selbst aus
einem Irrtume gewachsen sein: auch mit dieser Einsicht wäre das Problem ihres
Wertes noch nicht einmal berührt. Niemand also hat bisher den Wert
jener berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral, geprüft: wozu
zuallererst gehört, daß man ihn einmal in Frage stellt.
Wohlan! Dies eben ist unser Werk. (Ebd., 1882, S. 243-245).Unser
Fragezeichen. Aber ihr versteht das nicht? In der Tat, man wird Mühe
haben, uns zu verstehn. Wir suchen nach Worten, wir suchen vielleicht auch nach
Ohren. Wer sind wir doch? Wollten wir uns einfach mit einem älteren Ausdruck
Gottlose oder Ungläubige oder auch Immoralisten nennen, wir würden uns
damit noch lange nicht bezeichnet glauben: wir sind alles dreies in einem zu späten
Stadium, als daß man begriffe, als daß ihr begreifen könntet,
meine Herren Neugierigen, wie es einem dabei zumute ist. Nein! nicht mehr mit
der Bitterkeit und Leidenschaft des Losgerissenen, der sich aus seinem Unglauben
noch einen Glauben, einen Zweck, ein Martyrium selbst zurechtmachen muß!
Wir sind abgesotten in der Einsicht und in ihr kalt und hart geworden, daß
es in der Welt durchaus nicht göttlich zugeht, ja noch nicht einmal nach
menschlichem Maße vernünftig, barmherzig oder gerecht: wir wissen es,
die Welt, in der wir leben, ist ungöttlich, unmoralisch, »unmenschlich«
wir haben sie uns allzulange falsch und lügnerisch, aber nach Wunsch
und Willen unsrer Verehrung, das heißt nach einem Bedürfnisse
ausgelegt. Denn der Mensch ist ein verehrendes Tier! Aber er ist auch ein mißtrauisches:
und daß die Welt nicht das wert ist, was wir geglaubt haben, das
ist ungefähr das sicherste, dessen unser Mißtrauen endlich habhaft
geworden ist. So viel Mißtrauen, so viel Philosophie. Wir hüten uns
wohl zu sagen, daß sie weniger wert ist: es erscheint uns heute selbst zum
Lachen, wenn der Mensch in Anspruch nehmen wollte, Werte zu erfinden, welche den
Wert der wirklichen Welt überragen sollten gerade davon sind
wir zurückgekommen als von einer ausschweifenden Verirrung der menschlichen
Eitelkeit und Unvernunft, die lange nicht als solche erkannt worden ist. Sie hat
ihren letzten Ausdruck im modernen Pessimismus gehabt, einen älteren, stärkeren
in der Lehre des Buddha; aber auch das Christentum enthält sie, zweifelhafter
freilich und zweideutiger, aber darum nicht weniger verführerisch. Die ganze
Attitüde »Mensch gegen Welt«, der Mensch als »Welt-verneinendes«
Prinzip, der Mensch als Wertmaß der Dinge, als Welten-Richter, der zuletzt
das Dasein selbst auf seine Waagschalen legt und zu leicht befindet die
ungeheuerliche Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche zum Bewußtsein
gekommen und verleidet wir lachen schon, wenn wir »Mensch und
Welt« nebeneinandergestellt finden, getrennt durch die sublime Anmaßung
des Wörtchens »und«! Wie aber? Haben wir nicht eben damit, als
Lachende, nur einen Schritt weiter in der Verachtung des Menschen gemacht? Und
also auch im Pessimismus, in der Verachtung des uns erkennbaren Daseins? Sind
wir nicht eben damit dem Argwohne eines Gegensatzes verfallen, eines Gegensatzes
der Welt, in der wir bisher mit unsren Verehrungen zu Hause waren um deren
willen wir vielleicht zu leben aushielten , und einer andren Welt, die
wir selber sind: einem unerbittlichen, gründlichen, untersten Argwohn
über uns selbst, der uns Europäer immer mehr, immer schlimmer in Gewalt
bekommt und leicht die kommenden Geschlechter vor das furchtbare Entweder-Oder
stellen könnte: »entweder schafft eure Verehrungen ab oder euch
selbst!« Das letztere wäre der Nihilismus; aber wäre nicht
auch das erstere der Nihilismus? Dies ist unser Fragezeichen.
(Ebd., 1882, S. 245-247).Die Gläubigen und ihr Bedürfnis
nach Glauben. Wieviel einer Glauben nötig hat, um zu gedeihen,
wieviel »Festes«, an dem er nicht gerüttelt haben will, weil
er sich daran hält ist ein Gradmesser seiner Kraft (oder deutlicher
geredet, seiner Schwäche). Christentum haben, wie mir scheint, im alten Europa
auch heute noch die meisten nötig: deshalb findet es auch immer noch Glauben.
Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt
sein gesetzt, er hätte ihn nötig, so würde er ihn auch immer
wieder für »wahr« halten, gemäß jenem berühmten
»Beweise der Kraft«, von dem die Bibel redet. Metaphysik haben einige
noch nötig; aber auch jenes ungestüme Verlangen nach Gewißheit,
welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet,
das Verlangen, durchaus etwas fest haben zu wollen (während man es wegen
der Hitze dieses Verlangens mir der Begründung der Sicherheit leichter und
läßlicher nimmt): auch das ist noch das Verlangen nach Halt, Stütze,
kurz jener Instinkt der Schwäche, welcher Religionen, Metaphysiken,
Überzeugungen aller Art zwar nicht schafft, aber konserviert. In der
Tat dampft um alle diese positivistischen Systeme der Qualm einer gewissen pessimistischen
Verdüsterung, etwas von Müdigkeit, Fatalismus, Enttäuschung, Furcht
vor neuer Enttäuschung oder aber zur Schau getragener Ingrimm, schlechte
Laune, Entrüstungs-Anarchismus und was es alles für Symptome oder Maskeraden
des Schwächegefühls gibt. Selbst die Heftigkeit, mit der sich unsre
gescheitesten Zeitgenossen in ärmliche Ecken und Engen verlieren, zum Beispiel
in die Vaterländerei (so heiße ich das, was man in Frankreich chauvinisme,
in Deutschland »deutsch« nennt) oder in ästhetische Winkel-Bekenntnisse
nach Art des Pariser naturalisme (der von der Natur nur den Teil hervorzieht
und entblößt, welcher Ekel zugleich und Erstaunen macht man
heißt diesen Teil heute gern la vérité vraie )
oder in Nihilismus nach Petersburger Muster (das heißt in den Glauben
an den Unglauben, bis zum Martyrium dafür), zeigt immer vorerst das Bedürfnis
nach Glauben, Halt, Rückgrat, Rückhalt .... Der Glaube ist immer dort
am meisten begehrt, am dringlichsten nötig, wo es an Willen fehlt: denn der
Wille ist, als Affekt des Befehls, das entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit
und Kraft. Das heißt, je weniger einer zu befehlen weiß, um so dringlicher
begehrt er nach einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem Gott, Fürsten,
Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei-Gewissen. Woraus vielleicht abzunehmen
wäre, daß die beiden Weltreligionen, der Buddhismus und das Christentum,
ihren Entstehungsgrund, ihr plötzliches Um-sich-greifen zumal, in einer ungeheuren
Erkrankung des Willens gehabt haben möchten. Und so ist es in Wahrheit
gewesen: beide Religionen fanden ein durch Willens-Erkrankung ins Unsinnige aufgetürmtes,
bis zur Verzweiflung gehendes Verlangen nach einem »du sollst« vor,
beide Religionen waren Lehrerinnen des Fanatismus in Zeiten der Willens-Erschlaffung
und boten damit Unzähligen einen Halt, eine neue Möglichkeit zu wollen,
einen Genuß am Wollen. Der Fanatismus ist nämlich die einzige »Willensstärke«,
zu der auch die Schwachen und Unsichern gebracht werden können, als eine
Art Hypnotisierung des ganzen sinnlich-intellektuellen Systems zugunsten der überreichlichen
Ernährung (Hypertrophie) eines einzelnen Gesichts- und Gefühlspunktes,
der nunmehr dominiert der Christ heißt ihn seinen Glauben.
Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, daß ihm befohlen werden
muß, wird er »gläubig«; umgekehrt wäre eine Lust und
Kraft der Selbstbestimmung eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist
jedem Glauben jedem Wunsch nach Gewißheit den Abschied gibt, geübt,
wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können
und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie
Geist par excellence. (Ebd., 1882, S. 251-252).Mein Gedanke
ist, wie man sieht: daß das Bewußtsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz
des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts-und Herden-Natur
ist; daß es, wie daraus folgt, auch nur in bezug auf Gemeinschafts- und
Herden-Nützlichkeit fein entwickelt ist, und daß folglich jeder von
uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen,
»sich selbst zu kennen«, doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle
an sich zum Bewußtsein bringen wird, sein »Durchschnittliches«,
daß unser Gedanke selbst fortwährend durch den Charakter des
Bewußtseins durch den in ihm gebietenden »Genius der Gattung«
gleichsam majorisiert und in die Herden-Perspektive zurück-übersetzt
wird. Unsre Handlungen sind im Grunde allesamt auf eine unvergleichliche Weise
persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald
wir sie ins Bewußtsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr
.... Dies ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus, wie ich
ihn verstehe: die Natur des tierischen Bewußtseins bringt es mit
sich, daß die Welt, deren wir bewußt werden können, nur eine
Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte
Welt daß alles, was bewußt wird, eben damit flach, dünn,
relativ-dumm, generell, Zeichen, Herden-Merkzeichen wird, daß mit
allem Bewußtwerden eine große gründliche Verderbnis, Fälschung,
Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. Zuletzt ist das wachsende
Bewußtsein eine Gefahr; und wer unter den bewußtesten Europäern
lebt, weiß sogar, daß es eine Krankheit ist. Es ist, wie man errät,
nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung
überlasse ich den Erkenntnistheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik
(der Volks-Metaphysik) hängengeblieben sind. Es ist erst recht nicht der
Gegensatz von »Ding an sich« und Erscheinung: denn wir »erkennen«
bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben
eben gar kein Organ für das Erkennen, für die »Wahrheit«:
wir »wissen« (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel, als
es im Interesse der Menschen-Herde, der Gattung, nützlich sein mag:
und selbst, was hier »Nützlichkeit« genannt wird, ist zuletzt
auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnisvollste
Dummheit, an der wir einst zugrunde gehn. (Ebd., 1882, S. 258-259).Der
Ursprung unsres Begriffs »Erkenntnis«. Ich nehme diese
Erklärung von der Gasse; ich hörte jemanden aus dem Volke sagen »er
hat mich erkannt« : dabei fragte ich mich: was versteht eigentlich
das Volk unter Erkenntnis? was will es, wenn es »Erkenntnis« will?
Nichts weiter als dies: etwas Fremdes soll auf etwas Bekanntes zurückgeführt
werden. Und wir Philosophen haben wir unter Erkenntnis eigentlich mehr
verstanden? Das Bekannte, das heißt: das woran wir gewöhnt sind, so
daß wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgendeine Regel,
in der wir stecken, alles und jedes, in dem wir uns zu Hause wissen wie?
ist unser Bedürfnis nach Erkennen nicht eben dies Bedürfnis nach Bekanntem,
der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen etwas aufzudecken,
das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der Instinkt der Furcht
sein, der uns erkennen heißt? Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht
eben das Frohlocken des wiedererlangten Sicherheitsgefühls sein? .... Dieser
Philosoph wähnte die Welt »erkannt«, als er sie auf die »Idee«
zurückgeführt hatte: ach, war es nicht deshalb, weil ihm die »Idee«
so bekannt, so gewohnt war? weil er sich so wenig mehr vor der »Idee«
fürchtete? Oh über diese Genügsamkeit der Erkennenden! man
sehe sich doch ihre Prinzipien und Welträtsel-Lösungen darauf an! Wenn
sie etwas an den Dingen, unter den Dingen, hinter den Dingen wiederfinden, das
uns leider sehr bekannt ist, zum Beispiel unser Einmaleins oder unsre Logik oder
unser Wollen und Begehren, wie glücklich sind sie sofort! Denn »was
bekannt ist, ist erkannt«: darin stimmen sie überein. Auch die Vorsichtigsten
unter ihnen meinen, zum mindesten sei das Bekannte leichter erkennbar als
das Fremde; es sei zum Beispiel methodisch geboten, von der »inneren Welt«,
von den »Tatsachen des Bewußtseins« auszugehen, weil sie die
uns bekanntere Welt sei! Irrtum der Irrtümer! Das Bekannte ist das
Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu »erkennen«, das heißt
als Problem zu sehen, das heißt als fremd, als fern, als »außer
uns« zu sehn .... Die große Sicherheit der natürlichen Wissenschaften
im Verhältnis zur Psychologie und Kritik der Bewußtseins-Elemente
unnatürlichen Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte
ruht gerade darauf, daß sie das Fremde als Objekt nehmen: während es
fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges ist, das Nicht-Frem de überhaupt
als Objekt nehmen zu wollen. (Ebd., 1882, S. 259-261).Inwiefern
es in Europa immer »künstlerischer« zugehn wird. Die
Lebens-Fürsorge zwingt auch heute noch in unsrer Übergangszeit,
wo so vieles aufhört zu zwingen fast allen männlichen Europäern
eine bestimmte Rolle auf, ihren sogenannten Beruf; einigen bleibt dabei
die Freiheit, eine anscheinende Freiheit, diese Rolle selbst zu wählen, den
meisten wird sie gewählt. Das Ergebnis ist seltsam genug: fast alle Europäer
verwechseln sich in einem vorgerückteren Alter mit ihrer Rolle, sie selbst
sind die Opfer ihres »guten Spiels«, sie selbst haben vergessen, wie
sehr Zufall, Laune, Willkür damals über sie verfügt haben, als
sich ihr »Beruf« entschied und wie viele andre Rollen sie vielleicht
hätten spielen können: denn es ist nunmehr zu spät! Tiefer
angesehn, ist aus der Rolle wirklich Charakter geworden, aus der Kunst
Natur. Es gab Zeitalter, in denen man mit steifer Zuversichtlichkeit, ja mit Frömmigkeit
an seine Vorherbestimmung für gerade dies Geschäft, gerade diesen Broterwerb
glaubte und den Zufall darin, die Rolle, das Willkürliche schlechterdings
nicht anerkennen wollte: Stände, Zünfte, erbliche Gewerbs-Vorrechte
haben mit Hilfe dieses Glaubens es zustande gebracht, jene Ungeheuer von breiten
Gesellschafts-Türmen aufzurichten, welche das Mittelalter auszeichnen und
denen jedenfalls eins nachzurühmen bleibt: Dauerfähigkeit ( und
Dauer ist auf Erden ein Wert ersten Ranges!). Aber es gibt umgekehrte Zeitalter,
die eigentlich demokratischen, wo man diesen Glauben mehr und mehr verlernt und
ein gewisser kecker Glaube und Gesichtspunkt des Gegenteils in den Vordergrund
tritt, jener Athener-Glaube, der in der Epoche des Perikles zuerst bemerkt wird,
jener Amerikaner-Glaube von heute, der immer mehr auch Europäer-Glaube werden
will: wo der einzelne überzeugt ist, ungefähr alles zu können,
ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein, wo jeder mit sich versucht,
improvisiert, neu versucht, mit Lust versucht, wo alle Natur aufhört und
Kunst wird .... Die Griechen, erst in diesen Rollen-Glauben einen
Artisten-Glauben, wenn man will eingetreten, machten, wie bekannt, Schritt
für Schritt eine wunderliche und nicht in jedem Betracht nachahmenswerte
Verwandlung durch: sie wurden wirklich Schauspieler; als solche bezauberten
sie, überwanden sie alle Welt und zuletzt selbst die »Weltüberwinderin«
(denn der Graeculus histrio hat Rom besiegt, und nicht, wie die
Unschuldigen zu sagen pflegen, die griechische Kultur ...). Aber was ich fürchte,
was man heute schon mit Händen greift, falls man Lust hätte, danach
zu greifen, wir modernen Menschen sind ganz schon auf dem gleichen Wege; und jedesmal,
wenn der Mensch anfängt zu entdecken, inwiefern er eine Rolle spielt und
inwieweit er Schauspieler sein kann, wird er Schauspieler .... Damit kommt
dann eine neue Flora und Fauna von Menschen herauf, die in festeren, beschränkteren
Zeitaltern nicht wachsen können oder »unten« gelassen
werden, unter dem Banne und Verdachte der Ehrlosigkeit , es kommen damit
jedesmal die interessantesten und tollsten Zeitalter der Geschichte herauf, in
denen die »Schauspieler«, alle Arten Schauspieler, die eigentlichen
Herren sind. Eben dadurch wird eine andre Gattung Mensch immer tiefer benachteiligt,
endlich unmöglich gemacht, vor allem die großen »Baumeister«;
jetzt erlahmt die bauende Kraft; der Mut, auf lange Fernen hin Pläne zu machen,
wird entmutigt; die organisatorischen Genies fangen an zu fehlen wer wagt
es nunmehr noch, Werke zu unternehmen, zu deren Vollendung man auf Jahrtausende
rechnen müßte? Es stirbt eben jener Grundglaube aus, auf welchen
hin einer dergestalt rechnen, versprechen, die Zukunft im Plane vorwegnehmen,
seinem Plane zum Opfer bringen kann, daß nämlich der Mensch nur insofern
Wert hat, Sinn hat, als er ein Stein in einem großen Baue ist: wozu
er zuallererst fest sein muß, »Stein« sein muß
.... Vor allem nicht Schauspieler! Kurz gesagt ach, es wird lang
genug noch verschwiegen werden! was von nun an nicht mehr gebaut wird,
nicht mehr gebaut werden kann, das ist eine Gesellschaft im alten Versrande
des Wortes; um diesen Bau zu bauen, fehlt alles, voran das Material. Wir alle
sind kein Material mehr für eine Gesellschaft: das ist eine Wahrheit,
die an der Zeit ist! Es dünkt mich gleichgültig, daß einstweilen
noch die kurzsichtigste, vielleicht ehrlichste, jedenfalls lärmendste Art
Mensch, die es heute gibt, unsre Herrn Sozialisten, ungefähr das Gegenteil
glaubt, hofft, träumt, vor allem schreit und schreibt; man liest ja ihr Zukunftswort
»freie Gesellschaft« bereits auf allen Tischen und Wänden. Freie
Gesellschaft? Ja! Ja! Aber ihr wißt doch, ihr Herren, woraus man die baut?
Aus hölzernem Eisen! Aus dem berühmten hölzernen Eisen! Und noch
nicht einmal aus hölzernem. (Ebd., 1882, S. 261-263).Ich
erinnere an drei Fälle. Zuerst an Leibniz' unvergleichliche Einsicht,
mit der er nicht nur gegen Descartes, sondern gegen alles, was bis zu ihm philosophiert
hatte, Recht bekam daß die Bewußtheit nur ein accidens
der Vorstellung ist, nicht deren notwendiges und wesentliches Attribut,
daß also das, was wir Bewußtsein nennen, nur einen Zustand unsrer
geistigen und seelischen Welt ausmacht (vielleicht einen krankhaften Zustand)
und bei weitem nicht sie selbst .... Erinnern wir uns zweitens an Kants
ungeheures Fragezeichen, welches er an den Begriff »Kausalität«
schrieb nicht daß er wie Hume dessen Recht überhaupt bezweifelt
hätte: er begann vielmehr vorsichtig das Reich abzugrenzen, innerhalb dessen
dieser Begriff überhaupt Sinn hat (man ist auch jetzt noch nicht mit dieser
Grenzabsteckung fertig geworden). Nehmen wir drittens den erstaunlichen Griff
Hegels, der damit durch alle logischen Gewohnheiten und Verwöhnungen
durchgriff, als er zu lehren wagte, daß die Artbegriffe sich auseinander
entwickeln: mit welchem Satze die Geister in Europa zur letzten großen wissenschaftlichen
Bewegung präformiert wurden, zum Darwinismus denn ohne Hegel kein
Darwin. (Ebd., 1882, S. 264).In allen drei Fällen fühlen
wir etwas von uns selbst »aufgedeckt« und erraten und sind dankbar
dafür und überrascht zugleich, jeder dieser drei Sätze ist ein
nachdenkliches Stück deutscher Selbsterkenntnis, Selbsterfahrung, Selbsterfassung.
»Unsre innre Welt ist viel reicher, umfänglicher, verborgener«,
so empfinden wir mit Leibniz; als Deutsche zweifeln wir mit Kant an der Letztgültigkeit
naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und überhaupt an allem, was sich causaliter
erkennen läßt: das Erkennbare scheint uns als solches schon
geringeren Wertes. Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel
gegeben hätte, insofern wir (im Gegensatz zu allen Lateinern) dem Werden,
der Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Wert zumessen als
dem, was »ist« wir glauben kaum an die Berechtigung des Begriffs
»Sein« ; ebenfalls insofern wir unsrer menschlichen Logik nicht
geneigt sind einzuräumen, daß sie die Logik an sich, die einzige Art
Logik sei (wir möchten vielmehr uns überreden, daß sie nur ein
Spezialfall sei, und vielleicht einer der wunderlichsten und dümmsten ).
(Ebd., 1882, S. 264-265).Das Ereignis, nach welchem dies
Problem mit Sicherheit zu erwarten stand, so daß ein Astronom der Seele
Tag und Stunde dafür hätte ausrechnen können, der Niedergang des
Glaubens an den christlichen Gott, der Sieg des wissenschaftlichen Atheismus,
ist ein gesamteuropäisches Ereignis, an dem alle Rassen ihren Anteil von
Verdienst und Ehre haben sollen. Umgekehrt wäre gerade den Deutschen zuzurechnen
jenen Deutschen, mit welchen Schopenhauer gleichzeitig lebte , diesen
Sieg des Atheismus am längsten und gefährlichsten verzögert
zu haben; Hegel namentlich war sein Verzögerer par excellence, gemäß
dem grandiosen Versuche, den er machte, uns zur Göttlichkeit des Daseins
zu allerletzt noch mit Hilfe unsres sechsten Sinnes, des »historischen Sinnes«,
zu überreden. Schopenhauer war als Philosoph der erste eingeständliche
und unbeugsame Atheist, den wir Deutschen gehabt haben: seine Feindschaft gegen
Hegel hatte hier ihren Hintergrund. Die Ungöttlichkeit des Daseins galt ihm
als etwas Gegebenes, Greifliches, Undiskutierbares; er verlor jedesmal seine Philosophen-Besonnenheit
und geriet in Entrüstung, wenn er jemanden hier zögern und Umschweife
machen sah. An dieser Stelle liegt seine ganze Rechtschaffenheit: der unbedingte
redliche Atheismus ist eben die Voraussetzung seiner Problemstellung, als
ein endlich und schwer errungener Sieg des europäischen Gewissens, als der
folgenreichste Akt einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am
Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet .... (Ebd.,
1882, S. 265-266).Man sieht, was eigentlich über den
christlichen Gott gesiegt hat: die christliche Moralität selbst, der immer
strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des
christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen,
zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein
Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretieren
zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugnis einer sittlichen
Weltordnung und sittlicher Schlußabsichten; die eignen Erlebnisse auslegen,
wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob alles Fügung,
alles Wink, alles dem Heil der Seele zuliebe ausgedacht und geschickt sei: das
ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen gegen sich, das gilt allen
feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Feminismus,
Schwachheit, Feigheit mit dieser Strenge, wenn irgendwomit, sind wir eben
gute Europäer und Erben von Europas längster und tapferster Selbstüberwindung.
(Ebd., 1882, S. 266).Indem wir die christliche Interpretation dergestalt
von uns stoßen und ihren »Sinn« wie eine Falschmünzerei
verurteilen, kommt nun auf eine furchtbare Weise die Schopenhauerische
Frage zu uns: hat denn das Dasein überhaupt einen Sinn? jene
Frage, die ein paar Jahrhunderte brauchen wird, um auch nur vollständig und
in alle ihre Tiefe hinein gehört zu werden. Was Schopenhauer selbst auf diese
Frage geantwortet hat, war man vergebe es mir etwas Voreiliges,
Jugendliches, nur eine Abfindung, ein Stehen- und Steckenbleiben in eben den christlich-asketischen
Moral-Perspektiven, welchen, mit dem Glauben an Gott, der Glaube gekündigt
war
. Aber er hat die Frage gestellt .... (Ebd., 1882, S. 266-267).Die
Deutschen von heute sind keine Pessimisten! (Ebd., 1882, S. 268).Der
Bauernaufstand des Geistes. Wir Europäer befinden uns im Anblick
einer ungeheuren Trümmerwelt, wo einiges noch hoch ragt, wo vieles morsch
und unheimlich dasteht, das meiste aber schon am Boden liegt, malerisch genug
wo gab es je schönere Ruinen? und überwachsen mit großem
und kleinem Unkraute. Die Kirche ist diese Stadt des Untergangs: wir sehen die
religiöse Gesellschaft des Christentums bis in die untersten Fundamente erschüttert
der Glaube an Gott ist umgestürzt, der Glaube an das christlich-asketische
Ideal kämpft eben noch seinen letzten Kampf. Ein solches lang und gründlich
gebautes Werk wie das Christentum es war der letzte Römerbau!
konnte freilich nicht mit einem Male zerstört werden; alle Art Erdbeben hat
da rütteln, alle Art Geist, die anbohrt, gräbt, nagt, feuchtet, hat
da helfen müssen. Aber was das Wunderlichste ist: die, welche sich am meisten
darum bemüht haben, das Christentum zu halten, zu erhalten, sind gerade seine
besten Zerstörer geworden die Deutschen. Es scheint, die Deutschen
verstehen das Wesen einer Kirche nicht. Sind sie dazu nicht geistig genug? nicht
mißtrauisch genug? Der Bau der Kirche ruht jedenfalls auf einer südländischen
Freiheit und Freisinnigkeit des Geistes und ebenso auf einem südländischen
Verdachte gegen Natur, Mensch und Geist er ruht auf einer ganz andren Kenntnis
des Menschen, Erfahrung vom Menschen, als der Norden gehabt hat. Die Luthersche
Reformation war in ihrer ganzen Breite die Entrüstung der Einfalt gegen etwas
»Vielfältiges«, um vorsichtig zu reden, ein grobes, biederes
Mißverständnis, an dem viel zu verzeihen ist man begriff den
Ausdruck einer siegreichen Kirche nicht und sah nur Korruption, man mißverstand
die vornehme Skepsis, jenen Luxus von Skepsis und Toleranz, welchen sich
jede siegreiche, selbstgewisse Macht gestattet .... Man übersieht heute gut
genug, wie Luther in allen kardinalen Fragen der Macht verhängnisvoll kurz,
oberflächlich, unvorsichtig angelegt war, vor allem als Mann aus dem Volke,
dem alle Erbschaft einer herrschenden Kaste, aller Instinkt für Macht abging:
so daß sein Werk, sein Wille zur Wiederherstellung jenes Römer-Werks,
ohne daß er es wollte und wußte, nur der Anfang eines Zerstörungswerkes
wurde. Er dröselte auf, er riß zusammen, mit ehrlichem Ingrimme, wo
die alte Spinne am sorgsamsten und längsten gewoben hatte. Er lieferte die
heiligen Bücher an jedermann aus damit gerieten sie endlich in die
Hände der Philologen, das heißt der Vernichter jeden Glaubens, der
auf Büchern ruht. Er zerstörte den Begriff »Kirche«, indem
er den Glauben an die Inspiration der Konzilien wegwarf: denn nur unter der Voraussetzung,
daß der inspirierende Geist, der die Kirche gegründet hat, in ihr noch
lebe, noch baue, noch fortfahre, sein Haus zu bauen, behält der Begriff »Kirche«
Kraft. Er gab dem Priester den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe zurück: aber
drei Viertel der Ehrfurcht, deren das Volk, vor allem das Weib aus dem Volke fähig
ist, ruht auf dem Glauben, daß ein Ausnahme-Mensch in diesem Punkte auch
in andren Punkten eine Ausnahme sein wird hier gerade hat der Volksglaube
an etwas Übermenschliches im Menschen, an das Wunder, an den erlösenden
Gott im Menschen, seinen feinsten und verfänglichsten Anwalt. Luther mußte
dem Priester, nachdem er ihm das Weib gegeben hatte, die Ohrenbeichte nehmen,
das war psychologisch richtig; aber damit war im Grunde der christliche Priester
selbst abgeschafft, dessen tiefste Nützlichkeit immer die gewesen ist, ein
heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein Grab für Geheimnisse zu sein.
»Jedermann sein eigner Priester« hinter solchen Formeln und
ihrer bäuerischen Verschlagenheit versteckte sich bei Luther der abgründliche
Haß auf den »höheren Menschen« und die Herrschaft des »höheren
Menschen«, wie ihn die Kirche konzipiert hatte er zerschlug ein Ideal,
das er nicht zu erreichen wußte, während er die Entartung dieses Ideals
zu bekämpfen und zu verabscheuen schien. Tatsächlich stieß er,
der unmögliche Mönch, die Herrschaft der homines religiosi
von sich; er machte also gerade das selber innerhalb der kirchlichen Gesellschafts-Ordnung,
was er in Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam bekämpfte
einen »Bauernaufstand«. Was hinterdrein alles aus seiner
Reformation gewachsen ist, Gutes und Schlimmes, und heute ungefähr überrechnet
werden kann wer wäre wohl naiv genug, Luther um dieser Folgen willen
einfach zu loben oder zu tadeln? Er ist an allem unschuldig, er wußte nicht
was er tat. Die Verflachung des europäischen Geistes, namentlich im Norden,
seine Vergutmütigung, wenn mans lieber mit einem moralischen Worte
bezeichnet hört, tat mit der Lutherschen Reformation einen tüchtigen
Schritt vorwärts, es ist kein Zweifel; und ebenso wuchs durch sie die Beweglichkeit
und Unruhe des Geistes, sein Durst nach Unabhängigkeit, sein Glaube an ein
Recht auf Freiheit, seine »Natürlichkeit«. Will man ihr in letzterer
Hinsicht den Wert zugestehn, das vorbereitet und begünstigt zu haben, was
wir heute als »moderne Wissenschaft« verehren, so muß man freilich
hinzufügen, daß sie auch an der Entartung des modernen Gelehrten mitschuldig
ist, an seinem Mangel an Ehrfurcht, Scham und Tiefe, an der ganzen naiven Treuherzigkeit
und Biedermännerei in Dingen der Erkenntnis, kurz an jenem Plebejismus
des Geistes, der den letzten beiden Jahrhunderten eigentümlich ist und von
dem uns auch der bisherige Pessimismus noch keineswegs erlöst hat,
auch die »modernen Ideen« gehören noch zu diesem Bauernaufstand
des Nordens gegen den kälteren, zweideutigeren, mißtrauischeren Geist
des Südens, der sich in der christlichen Kirche sein größtes Denkmal
gebaut hat. Vergessen wir es zuletzt nicht, was eine Kirche ist, und zwar im Gegensatz
zu jedem »Staate«: eine Kirche ist vor allem ein Herrschafts-Gebilde,
das den geistigeren Menschen den obersten Rang sichert und an die Macht der Geistigkeit
soweit glaubt, um sich alle gröberen Gewaltmittel zu verbieten
damit allein ist die Kirche unter allen Umständen eine vornehmere
Institution als der Staat. (Ebd., 1882, S. 268-271).Die
Rache am Geist und andre Hintergründe der Moral. Die Moral
wo glaubt ihr wohl, daß sie ihre gefährlichsten und tückischsten
Anwälte hat? .... Da ist ein mißratener Mensch, der nicht genug Geist
besitzt, um sich dessen freuen zu können, und gerade Bildung genug, um das
zu wissen; gelangweilt, überdrüssig, ein Selbstverächter; durch
etwas ererbtes Vermögen leider noch um den letzten Trost betrogen, den »Segen
der Arbeit«, die Selbstvergessenheit im »Tagewerk«; ein solcher,
der sich seines Daseins im Grunde schämt vielleicht herbergt er dazu
ein paar kleine Laster und andrerseits nicht umhin kann, durch Bücher,
auf die er kein Recht hat, oder geistigere Gesellschaft, als er verdauen kann,
sich immer schlimmer zu verwöhnen und eitel-reizbar zu machen: ein solcher
durch und durch vergifteter Mensch denn Geist wird Gift, Bildung wird Gift,
Besitz wird Gift, Einsamkeit wird Gift bei dergestalt Mißratenen ,
gerät schließlich in einen habituellen Zustand der Rache, des Willens
zur Rache ..., was glaubt ihr wohl, daß er nötig, unbedingt
nötig hat, um sich bei sich selbst den Anschein von Überlegenheit über
geistigere Menschen, um sich die Lust der vollzogenen Rache, wenigstens
für seine Einbildung, zu schaffen? Immer die Moralität, darauf
darf man wetten, immer die großen Moral-Worte, immer das Bumbum von Gerechtigkeit,
Weisheit, Heiligkeit, Tugend, immer den Stoizismus der Gebärde ( wie
gut versteckt der Stoizismus, was einer nicht hat! ...), immer den Mantel
des klugen Schweigens, der Leutseligkeit, der Milde, und wie alle die Idealisten-Mäntel
heißen, unter denen die unheilbaren Selbstverächter, auch die unheilbar
Eitlen, herumgehn. Man verstehe mich nicht falsch: aus solchen geborenen Feinden
des Geistes entsteht mitunter jenes seltene Stück Menschtum, das vom
Volke unter dem Namen des Heiligen, des Weisen verehrt wird; aus solchen Menschen
kommen jene Untiere der Moral her, welche Lärm machen, Geschichte machen
der heilige Augustin gehört zu ihnen. Die Furcht vor dem Geist, die
Rache am Geist oh wie oft wurden diese triebkräftigen Laster schon
zur Wurzel von Tugenden! Ja zur Tugend! Und, unter uns gefragt, selbst
jener Philosophen-Anspruch auf Weisheit, der hier und da einmal auf Erden
gemacht worden ist, der tollste und unbescheidenste aller Ansprüche
war er nicht immer bisher, in Indien wie in Griechenland, vor allem ein Versteck?
Mitunter vielleicht im Gesichtspunkte der Erziehung, der so viele Lügen heiligt,
als zarte Rücksicht auf Werdende, Wachsende, auf Jünger, welche oft
durch den Glauben an die Person (durch einen Irrtum) gegen sich selbst verteidigt
werden müssen .... In den häufigeren Fällen aber ein Versteck des
Philosophen, hinter welches er sich aus Ermüdung, Alter, Erkaltung, Verhärtung
rettet, als Gefühl vom nahen Ende, als Klugheit jenes Instinkts, den die
Tiere vor dem Tode haben sie gehen beiseite, werden still, wählen
die Einsamkeit, verkriechen sich in Höhlen, werden weise ...., Wie?
Weisheit ein Versteck des Philosophen vor dem Geiste? (Ebd., 1882,
S. 271-273).Was ist Romantik? Man erinnert sich vielleicht,
zum mindesten unter meinen Freunden, daß ich anfangs mit einigen dicken
Irrtümern und Überschätzungen und jedenfalls als Hoffender
auf diese moderne Welt losgegangen bin. Ich verstand wer weiß, auf
welche persönlichen Erfahrungen hin? den philosophischen Pessimismus
des neunzehnten Jahrhunderts, wie als ob er das Symptom von höherer Kraft
des Gedankens, von verwegenerer Tapferkeit, von siegreicherer Fülle
des Lebens sei, als diese dem achtzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter Humes, Kants,
Condillacs und der Sensualisten, zu eigen gewesen sind: so daß mir die tragische
Erkenntnis wie der eigentliche Luxus unsrer Kultur erschien, als deren kostbarste,
vornehmste, gefährlichste Art Verschwendung, aber immerhin, auf Grund ihres
Überreichtums, als ihr erlaubter Luxus. Desgleichen deutete ich mir die deutsche
Musik zurecht zum Ausdruck einer dionysischen Mächtigkeit der deutschen Seele:
in ihr glaubte ich das Erdbeben zu hören, mit dem eine von alters her aufgestaute
Urkraft sich endlich Luft macht gleichgültig dagegen, ob alles, was
sonst Kultur heißt, dabei ins Zittern gerät. Man sieht, ich verkannte
damals, sowohl am philosophischen Pessimismus wie an der deutschen Musik, das
was ihren eigentlichen Charakter ausmacht ihre Romantik. Was ist
Romantik? Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil-und Hilfsmittel im Dienste
des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehen werden: sie setzen immer Leiden
und Leidende voraus. Aber es gibt zweierlei Leidende, einmal die an der Überfülle
des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine
tragische Ansicht und Einsicht in das Leben und sodann die an der Verarmung
des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich
durch die Kunst und Erkenntnis suchen, oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung,
den Wahnsinn. Dem Doppel-Bedürfnisse der letzteren entspricht alle
Romantik in Künsten und Erkenntnissen, ihnen entsprach (und entspricht) ebenso
Schopenhauer als Richard Wagner, um jene berühmtesten und ausdrücklichsten
Romantiker zu nennen, welche damals von mir mißverstanden wurden
übrigens nicht zu ihrem Nachteile, wie man mir in aller Billigkeit
zugestehen darf. Der Reichste an Lebensfülle, der dionysische Gott und Mensch,
kann sich nicht nur den Anblick des Fürchterlichen und Fragwürdigen
gönnen, sondern selbst die fürchterliche Tat und jeden Luxus von Zerstörung,
Zersetzung, Verneinung; bei ihm erscheint das Böse, Unsinnige und Häßliche
gleichsam erlaubt, infolge eines Überschusses von zeugenden, befruchtenden
Kräften, welcher aus jeder Wüste noch ein üppiges Fruchtland zu
schaffen imstande ist. Umgekehrt würde der Leidendste, Lebensärmste
am meisten die Milde, Friedlichkeit, Güte nötig haben, im Denken und
im Handeln, womöglich einen Gott, der ganz eigentlich ein Gott für Kranke,
ein »Heiland« wäre; ebenso auch die Logik, die begriffliche Verständlichkeit
des Daseins denn die Logik beruhigt, gibt Vertrauen , kurz eine gewisse
warme, furchtabwehrende Enge und Einschließung in optimistische Horizonte.
Dergestalt lernte ich allmählich Epikur begreifen, den Gegensatz eines dionysischen
Pessimisten, ebenfalls den »Christen«, der in der Tat nur eine Art
Epikureer und, gleich jenem, wesentlich Romantiker ist, und mein Blick
schärfte sich immer mehr für jene schwierigste und verfänglichste
Form des Rückschlusses, in der die meisten Fehler gemacht werden
des Rückschlusses vom Werk auf den Urheber, von der Tat auf den Täter,
vom Ideal auf den, der es nötig hat, von jeder Denk-und Wertungsweise
auf das dahinter kommandierende Bedürfnis. In Hinsicht auf
alle ästhetischen Werte bediene ich mich jetzt dieser Hauptunterscheidung:
ich frage in jedem einzelnen Falle »ist hier der Hunger oder der Überfluß
schöpferisch geworden?« Von vornherein möchte sich eine andre
Unterscheidung mehr zu empfehlen scheinen sie ist bei weitem augenscheinlicher
nämlich das Augenmerk darauf, ob das Verlangen nach Starrmachen, Verewigen,
nach Sein die Ursache des Schaffens ist oder aber das Verlangen nach Zerstörung,
nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach Werden. Aber beide Arten des
Verlangens erweisen sich, tiefer angesehen, noch als zweideutig, und zwar deutbar
eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen
Schema. Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck
der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein terminus ist dafür,
wie man weiß, das Wort »dionysisch«), aber es kann auch der
Haß des Mißratenen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der
zerstört, zerstören muß, weil ihn das Bestehende, ja alles
Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt man sehe sich, um diesen
Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an. Der Wille zum Verewigen
bedarf gleichfalls einer zwiefachen Interpretation. Er kann einmal aus Dankbarkeit
und Liebe kommen eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosenkunst
sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig-spöttisch mit Hafis, hell
und gütig mit Goethe, und einen Homerischen Licht- und Glorienschein über
alle Dinge breitend. Er kann aber auch jener tyrannische Wille eines Schwerleidenden,
Kämpfenden, Torturierten sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste,
Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz
und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt,
dadurch, daß er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur, aufdrückt,
einzwängt, einbrennt. Letzteres ist der romantische Pessimismus in
seiner ausdrucksvollsten Form, sei es als Schopenhauersche Willens-Philosophie,
sei es als Wagnersche Musik der romantische Pessimismus, das letzte große
Ereignis im Schicksal unsrer Kultur. (Daß es noch einen ganz anderen Pessimismus
geben könne, einen klassischen diese Ahnung und Vision gehört
zu mir, als unablöslich von mir, als mein proprium und ipsissimum:
nur daß meinen Ohren das Wort »klassisch« widersteht, es ist
bei weitem zu abgebraucht, zu rund und unkenntlich geworden. Ich nenne jenen Pessimismus
der Zukunft denn er kommt! ich sehe ihn kommen! den dionysischen
Pessimismus.) (Ebd., 1882, S. 285-288).Warum wir keine
Idealisten sind. Ehemals hatten die Philosophen Furcht vor den Sinnen:
haben wir diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt? Wir sind heute allesamt
Sensualisten, wir Gegenwärtigen und Zukünftigen in der Philosophie,
nicht der Theorie nach, aber der Praxis, der Praktik .... Jene hingegen
meinten, durch die Sinne aus ihrer Welt, dem kalten Reiche der »Ideen«,
auf ein gefährliches südlicheres Eiland weggelockt zu werden: woselbst,
wie sie fürchteten, ihre Philosophen-Tugenden wie Schnee in der Sonne wegschmelzen
würden. »Wachs in den Ohren« war damals beinahe Bedingung des
Philosophierens; ein echter Philosoph hörte das Leben nicht mehr, insofern
Leben Musik ist, er leugnete die Musik des Lebens es ist ein alter
Philosophen-Aberglaube, daß alle Musik Sirenen-Musik ist. Nun möchten
wir heute geneigt sein, gerade umgekehrt zu urteilen (was an sich noch ebenso
falsch sein könnte): nämlich daß die Ideen schlimmere Verführerinnen
seien als die Sinne, mit allem ihrem kalten anämischen Anscheine und nicht
einmal trotz diesem Anscheine sie lebten immer vom »Blute«
des Philosophen, sie zehrten immer seine Sinne aus, ja, wenn man uns glauben will,
auch sein »Herz«. Diese alten Philosophen waren herzlos: Philosophieren
war immer eine Art Vampyrismus. Fühlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie
noch der Spinozas, etwas tief Änigmatisches und Unheimliches? Seht ihr das
Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das beständige Blässer-werden
, die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung? Ahnt ihr nicht im Hintergrunde
irgendeine lange verborgene Blutaussaugerin, welche mit den Sinnen ihren Anfang
macht und zuletzt Knochen und Geklapper übrig behält, übrig läßt?
ich meine Kategorien, Formeln, Worte (denn, man vergebe mir, das
was von Spinoza übrig blieb, amor intellectualis dei, ist ein Geklapper,
nichts mehr! was ist amor, was deus, wenn ihnen jeder Tropfen Blut
fehlt? ...). In summa: aller philosophische Idealismus war bisher etwas
wie Krankheit, wo er nicht, wie im Falle Platos, die Vorsicht einer überreichen
und gefährlichen Gesundheit, die Furcht vor übermächtigen
Sinnen, die Klugheit eines klugen Sokratikers war. Vielleicht sind wir
Modernen nur nicht gesund genug, um Platos Idealismus nötig zu haben?
Und wir fürchten die Sinne nicht, weil .... (Ebd., 1882, S. 289-290).»Wissenschaft«
als Vorurteil. Es folgt aus den Gesetzen der Rangordnung, daß
Gelehrte, insofern sie dem geistigen Mittelstande zugehören, die eigentlichen
großen Probleme und Fragezeichen gar nicht in Sicht bekommen dürfen;
zudem reicht ihr Mut und ebenso ihr Blick nicht bis dahin vor allem, ihr
Bedürfnis, das sie zu Forschern macht, ihr inneres Vorausnehmen und Wünschen,
es möchte so und so beschaffen sein, ihr Fürchten und Hoffen
kommt zu bald schon zur Ruhe, zur Befriedigung. Was zum Beispiel den pedantischen
Engländer Herbert Spencer auf seine Weise schwärmen macht und einen
Hoffnungs-Strich, eine Horizont-Linie der Wünschbarkeit ziehen heißt,
jene endliche Versöhnung von »Egoismus und Altruismus«, von der
er fabelt, das macht unsereinem beinahe Ekel eine Menschheit mit solchen
Spencerschen Perspektiven als letzten Perspektiven schiene uns der Verachtung,
der Vernichtung wert! Aber schon daß etwas als höchste Hoffnung
von ihm empfunden werden muß, was anderen bloß als widerliche Möglichkeit
gilt und gelten darf, ist ein Fragezeichen, welches Spencer nicht vorauszusehn
vermocht hätte .... Ebenso steht es mit jenem Glauben, mit dem sich jetzt
so viele materialistische Naturforscher zufrieden geben, dem Glauben an eine Welt,
welche im menschlichen Denken, in menschlichen Wertbegriffen ihr Äquivalent
und Maß haben soll, an eine »Welt der Wahrheit«, der man mit
Hilfe unsrer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen
vermöchte wie? wollen wir uns wirklich dergestalt das Dasein zu einer
Rechenknechts-Übung und Stubenhockerei für Mathematiker herabwürdigen
lassen? Man soll es vor allem nicht seines vieldeutigen Charakters entkleiden
wollen: das fordert der gute Geschmack, meine Herren, der Geschmack der Ehrfurcht
vor allem, was über euren Horizont geht! Daß allein eine Welt-Interpretation
im Rechte sei, bei der ihr zu Rechte besteht, bei der wissenschaftlich
in eurem Sinne ( ihr meint eigentlich mechanistisch?) geforscht und fortgearbeitet
werden kann, eine solche, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehen und Greifen
und nichts weiter zuläßt, das ist eine Plumpheit und Naivität,
gesetzt daß es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist. Wäre es
umgekehrt nicht recht wahrscheinlich, daß sich gerade das Oberflächlichste
und Äußerlichste vom Dasein sein Scheinbarstes, seine Haut und
Versinnlichung am ersten fassen ließe? vielleicht sogar allein fassen
ließe? Eine »wissenschaftliche« Welt-Interpretation, wie ihr
sie versteht, könnte folglich immer noch eine der dümmsten, das
heißt sinnärmsten aller möglichen Welt-Interpretationen sein:
dies den Herrn Mechanikern ins Ohr und Gewissen gesagt, die heute gern unter die
Philosophen laufen und durchaus vermeinen, Mechanik sei die Lehre von den ersten
und letzten Gesetzen, auf denen wie auf einem Grundstocke alles Dasein aufgebaut
sein müsse. Aber eine essentiell mechanische Welt wäre eine essentiell
sinnlose Welt! Gesetzt, man schätzte den Wert einer Musik danach ab,
wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne
wie absurd wäre eine solche »wissenschaftliche« Abschätzung
der Musik! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts,
geradezu nichts von dem, was eigentlich an ihr »Musik« ist!
(Ebd., 1882, S. 290-292).Unser neues »Unendliches«.
Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar
ob es irgendeinen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung,
ohne »Sinn« eben zum »Unsinn« wird, ob, andrerseits, nicht
alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist das kann, wie
billig, auch durch die fleißigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis
und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche
Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen
Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. Wir können nicht um unsre
Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch
für andre Arten Intellekt und Perspektive geben könnte: zum Beispiel
ob irgendwelche Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts und
rückwärts empfinden können (womit eine andre Richtung des Lebens
und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wäre). Aber ich denke,
wir sind heute zum mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit,
von unsrer Ecke aus zu dekretieren, daß man nur von dieser Ecke aus Perspektiven
haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal »unendlich«
geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß
sie unendliche Interpretationen in sich schließt. Noch einmal faßt
uns der große Schauder aber wer hätte wohl Lust, dieses
Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen?
Und etwa das Unbekannte fürderhin als »den Unbekannten«
anzubeten? Ach es sind zu viele ungöttliche Möglichkeiten der
Interpretation mit in dieses Unbekannte eingerechnet, zu viel Teufelei, Dummheit,
Narrheit der Interpretation unsre eigne menschliche, allzumenschliche selbst,
die wir kennen. (Ebd., 1882, S. 292-293).Warum wir Epikureer
scheinen. Wir sind vorsichtig, wir modernen Menschen, gegen letzte Überzeugungen;
unser Mißtrauen liegt auf der Lauer gegen die Bezauberungen und Gewissens-Überlistungen,
welche in jedem starken Glauben, jedem unbedingten Ja und Nein liegen: wie erklärt
sich das? Vielleicht, daß man darin zu einem guten Teil die Behutsamkeit
des »gebrannten Kindes«, des enttäuschten Idealisten sehn darf,
zu einem andern und bessern Teile aber auch die frohlockende Neugierde eines ehemaligen
Eckenstehers, der durch seine Ecke in Verzweiflung gebracht worden ist und nunmehr
im Gegensatz der Ecke schwelgt und schwärmt, im Unbegrenzten, im »Freien
an sich«. Damit bildet sich ein nahezu epikurischer Erkenntnis-Hang aus,
welcher den Fragezeichen-Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs fahren lassen
will; insgleichen ein Widerwille gegen die großen Moral-Worte und -Gebärden,
ein Geschmack, der alle plumpen vierschrötigen Gegensätze ablehnt und
sich seiner Übung in Vorbehalten mit Stolz bewußt ist. Denn das
macht unsern Stolz aus, dieses leichte Zügel-Straffziehn bei unsrem vorwärtsstürmenden
Drange nach Gewißheit, diese Selbstbeherrschung des Reiters auf seinen wildesten
Ritten: nach wie vornämlich haben wir tolle feurige Tiere unter uns, und
wenn wir zögern, so ist es am wenigsten wohl die Gefahr, die uns zögern
macht. (Ebd., 1882, S. 293-294).Wir Heimatlosen.
Es fehlt unter den Europäern von heute nicht an solchen, die ein Recht haben,
sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu nennen ihnen
gerade sei meine geheime Weisheit und gaya scienza ausdrücklich ans Herz
gelegt! Denn ihr Los ist hart, ihre Hoffnung ungewiß, es ist ein Kunststück,
ihnen einen Trost zu erfinden aber was hilft es! Wir Kinder der Zukunft,
wie vermöchten wir in diesem Heute zu Hause zu sein! Wir sind allen Idealen
abgünstig, auf welche hin einer sich sogar in dieser zerbrechlichen, zerbrochenen
Übergangszeit noch heimisch fühlen könnte; was aber deren »Realitäten«
betrifft, so glauben wir nicht daran, daß sie Dauer haben. Das Eis,
das heute noch trägt, ist schon sehr dünn geworden: der Tauwind weht,
wir selbst, wir Heimatlosen, sind etwas, das Eis und andre allzudünne »Realitäten«
aufbricht .... Wir »konservieren« nichts, wir wollen auch in keine
Vergangenheit zurück, wir sind durchaus nicht »liberal«, wir
arbeiten nicht für den »Fortschritt«, wir brauchen unser Ohr
nicht erst gegen die Zukunfts-Sirenen des Marktes zu verstopfen das, was
sie singen, »gleiche Rechte«, »freie Gesellschaft«, »keine
Herren mehr und keine Knechte«, das lockt uns nicht! wir halten es
schlechterdings nicht für wünschenswert, daß das Reich der Gerechtigkeit
und Eintracht auf Erden gegründet werde (weil es unter allen Umständen
das Reich der tiefsten Vermittelmäßigung und Chineserei sein würde),
wir freuen uns an allen, die gleich uns die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer lieben,
die sich nicht abfinden, einfangen, versöhnen und verschneiden lassen, wir
rechnen uns selbst unter die Eroberer, wir denken über die Notwendigkeit
neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei denn zu jeder Verstärkung
und Erhöhung des Typus »Mensch« gehört auch eine neue Art
Versklavung hinzu nicht wahr? mit alledem müssen wir schlecht in einem
Zeitalter zu Hause sein, welches die Ehre in Anspruch zu nehmen liebt, das menschlichste,
mildeste, rechtlichste Zeitalter zu heißen, das die Sonne bisher gesehen
hat? Schlimm genug, daß wir gerade bei diesen schönen Worten um so
häßlichere Hintergedanken haben! Daß wir darin nur den Ausdruck
auch die Maskerade der tiefen Schwächung, der Ermüdung,
des Alters, der absinkenden Kraft sehen! Was kann uns daran gelegen sein, mit
was für Flittern ein Kranker seine Schwäche aufputzt! Mag er sie als
seine Tugend zur Schau tragen es unterliegt ja keinem Zweifel, daß
die Schwäche mild, ach so mild, so rechtlich, so unoffensiv, so »menschlich«
macht! Die »Religion des Mitleidens«, zu der man uns überreden
möchte oh wir kennen die hysterischen Männlein und Weiblein genug,
welche heute gerade diese Religion zum Schleier und Aufputz nötig haben!
Wir sind keine Humanitarier; wir würden uns nie zu erlauben wagen, von unsrer
»Liebe zur Menschheit« zu reden dazu ist unsereins nicht Schauspieler
genug! Oder nicht Saint-Simonist genug, nicht Franzose genug. Man muß schon
mit einem gallischen Übermaß erotischer Reizbarkeit und verliebter
Ungeduld behaftet sein, um sich in ehrlicher Weise sogar noch der Menschheit mit
seiner Brunst zu nähern .... Der Menschheit! Gab es je noch ein scheußlicheres
altes Weib unter allen alten Weibern? ( es müßte denn etwa »die
Wahrheit« sein: eine Frage für Philosophen). Nein, wir lieben die Menschheit
nicht; andererseits sind wir aber auch lange nicht »deutsch« genug,
wie heute das Wort »deutsch« gang und gäbe ist, um dem Nationalismus
und dem Rassenhaß das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze
und Blutvergiftung Freude haben zu können, derenthalben sich jetzt in Europa
Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt. Dazu sind wir zu
unbefangen, zu boshaft, zu verwöhnt, auch zu gut unterrichtet, zu »gereist«:
wir ziehen es bei weitem vor, auf Bergen zu leben, abseits, »unzeitgemäß«,
in vergangnen oder kommenden Jahrhunderten, nur damit wir uns die stille Wut ersparen,
zu der wir uns verurteilt wüßten als Augenzeugen einer Politik, die
den deutschen Geist öde macht, indem sie ihn eitel macht, und kleine
Politik außerdem ist hat sie nicht nötig, damit ihre eigene
Schöpfung nicht sofort wieder auseinanderfällt, sie zwischen zwei Todhasse
zu pflanzen? muß sie nicht die Verewigung der Kleinstaaterei Europas
wollen? .... Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach
und gemischt, als »moderne Menschen«, und folglich wenig versucht,
an jener verlognen Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht teilzunehmen, welche sich
heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt und
die bei dem Volke des »historischen Sinns« zwiefach falsch und unanständig
anmutet. Wir sind, mit einem Worte und es soll unser Ehrenwort sein!
gute Europäer, die Erben Europas, die reichen, überhäuften,
aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen
Geistes: als solche auch dem Christentum entwachsen und abhold, und gerade, weil
wir aus ihm gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von rücksichtsloser
Rechtschaffenheit des Christentums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut,
Stand und Vaterland zum Opfer gebracht haben. Wir tun desgleichen. Wofür
doch? Für unsern Unglauben? Für jede Art Unglauben? Nein, das wißt
ihr besser, meine Freunde! Das verborgne Ja in euch ist stärker als
alle Neins und Vielleichts, an denen ihr mit eurer Zeit krank seid; und wenn ihr
aufs Meer müßt, ihr Auswanderer, zwingt dazu auch euch ein Glaube!
(Ebd., 1882, S. 294-297).»Und werden wieder hell.«
Wir Freigebigen und Reichen des Geistes, die wir gleich offnen Brunnen
an der Straße stehn und es niemandem wehren mögen, daß er aus
uns schöpft: wir wissen uns leider nicht zu wehren, wo wir es möchten,
wir können durch nichts verhindern, daß man uns trübt, finster
macht daß die Zeit, in der wir leben, ihr »Zeitlichstes«,
daß deren schmutzige Vögel ihren Unrat, die Knaben ihren Krimskrams
und erschöpfte, an uns ausruhende Wandrer ihr kleines und großes Elend
in uns werfen. Aber wir werden es machen, wie wir es immer gemacht haben: wir
nehmen, was man auch in uns wirft, hinab in unsre Tiefe denn wir sind tief,
wir vergessen nicht und werden wieder hell. (Ebd., 1882, S.
297).Zwischenrede des Narren. Das ist kein Misanthrop,
der dies Buch geschrieben hat: der Menschenhaß bezahlt sich heute zu teuer.
Um zu hassen, wie man ehemals den Menschen gehaßt hat, timonisch,
im ganzen, ohne Abzug, aus vollem Herzen, aus der ganzen Liebe des Hasses
dazu müßte man aufs Verachten Verzicht leisten und wieviel
feine Freude, wieviel Geduld, wieviel Gütigkeit selbst verdanken wir gerade
unsrem Verachten! Zudem sind wir damit die »Auserwählten Gottes«:
das feine Verachten ist unser Geschmack und Vorrecht, unsre Kunst, unsre Tugend
vielleicht, wir Modernsten unter den Modernen! .... Der Haß dagegen stellt
gleich, stellt gegenüber, im Haß ist Ehre, endlich: im Haß ist
Furcht, ein großer, guter Teil Furcht. Wir Furchtlosen aber, wir
geistigeren Menschen dieses Zeitalters, wir kennen unsern Vorteil gut genug, um
gerade als die Geistigeren in Hinsicht auf diese Zeit ohne Furcht zu leben. Man
wird uns schwerlich köpfen, einsperren, verbannen; man wird nicht einmal
unsre Bücher verbieten und verbrennen. Das Zeitalter liebt den Geist, es
liebt uns und hat uns nötig, selbst wenn wir es ihm zu verstehn geben müßten,
daß wir in der Verachtung Künstler sind; daß uns jeder Umgang
mit Menschen einen leichten Schauder macht; daß wir mit aller unsrer Milde,
Geduld, Menschenfreundlichkeit, Höflichkeit unsre Nase nicht überreden
können, von ihrem Vorurteile abzustehn, welches sie gegen die Nähe eines
Menschen hat; daß wir die Natur lieben, je weniger menschlich es in ihr
zugeht, und die Kunst, wenn sie die Flucht des Künstlers vor dem Menschen
oder der Spott des Künstlers über den Menschen oder der Spott des Künstlers
über sich selber ist. (Ebd., 1882, S. 297-298).»Der
Wanderer« redet. Um unsrer europäischen Moralität einmal
aus der Ferne ansichtig zu werden, um sie an anderen, früheren oder kommenden,
Moralitäten zu messen, dazu muß man es machen, wie es ein Wanderer
macht, der wissen will, wie hoch die Türme einer Stadt sind: dazu verläßt
er die Stadt. »Gedanken über moralische Vorurteile«, falls sie
nicht Vorurteile über Vorurteile sein sollen, setzen eine Stellung außerhalb
der Moral voraus, irgendein Jenseits von Gut und Böse, zu dem man steigen,
klettern, fliegen muß und, im gegebnen Falle, jedenfalls ein Jenseits
von unsrem Gut und Böse, eine Freiheit von allem »Europa«,
letzteres als eine Summe von kommandierenden Werturteilen verstanden, welche uns
in Fleisch und Blut übergegangen sind. Daß man gerade dorthinaus, dorthinauf
will, ist vielleicht eine kleine Tollheit, ein absonderliches, unvernünftiges
»du mußt« denn auch wir Erkennenden haben unsre Idiosynkrasien
des »unfreien Willens« : die Frage ist, ob man wirklich dorthinauf
kann. Dies mag an vielfachen Bedingungen hängen; in der Hauptsache
ist es die Frage danach, wie leicht oder wie schwer wir sind, das Problem unsrer
»spezifischen Schwere«. Man muß sehr leicht sein, um
seinen Willen zur Erkenntnis bis in eine solche Ferne und gleichsam über
seine Zeit hinaus zu treiben, um sich zum Überblick über Jahrtausende
Augen zu schaffen und noch dazu reinen Himmel in diesen Augen! Man muß sich
von vielem losgebunden haben, was gerade uns Europäer von heute drückt,
hemmt, niederhält, schwer macht. Der Mensch eines solchen Jenseits, der die
obersten Wertmaße seiner Zeit selbst in Sicht bekommen will, hat dazu vorerst
nötig, diese Zeit in sich selbst zu »überwinden«
es ist die Probe seiner Kraft und folglich nicht nur seine Zeit, sondern
auch seinen bisherigen Widerwillen und Widerspruch gegen diese Zeit, sein Leiden
an dieser Zeit, seine Zeit-Ungemäßheit, seine Romantik.
(Ebd., 1882, S. 298-299).Zur Frage der Verständlichkeit.
Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso
gewiß auch nicht verstanden werden. Es ist noch ganz und gar kein
Einwand gegen ein Buch, wenn irgend jemand es unverständlich findet: vielleicht
gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers er wollte nicht
von »irgend jemand« verstanden werden. Jeder vornehmere Geist und
Geschmack wählt sich, wenn er sich mitteilen will, auch seine Zuhörer;
indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen »die anderen« seine
Schranken. Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren Ursprung: sie halten
zugleich ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten »den Eingang«,
das Verständnis, wie gesagt während sie denen die Ohren aufmachen,
die uns mit den Ohren verwandt sind. Und daß ich es unter uns sage und in
meinem Falle ich will mich weder durch meine Unwissenheit, noch durch die
Munterkeit meines Temperaments verhindern lassen, euch verständlich
zu sein, meine Freunde: durch die Munterkeit nicht, wie sehr sie auch mich zwingt,
einer Sache geschwind beizukommen, um ihr überhaupt beizukommen. Denn ich
halte es mit tiefen Problemen wie mit einem kalten Bade schnell hinein,
schnell hinaus. Daß man damit nicht in die Tiefe, nicht tief genug hinunter
komme, ist der Aberglaube der Wasserscheuen, der Feinde des kalten Wassers; sie
reden ohne Erfahrung. Oh! Die große Kälte macht geschwind! Und
nebenbei gefragt: bleibt wirklich eine Sache dadurch allein schon unverstanden
und unerkannt, daß sie nur im Fluge berührt, angeblickt, angeblitzt
wird? Muß man durchaus erst auf ihr festsitzen? auf ihr wie auf einem Ei
gebrütet haben? Diu noctuque incubando, wie Newton von sich selbst
sagte? Zum mindesten gibt es Wahrheiten von einer besonderen Scheu und Kitzlichkeit,
deren man nicht anders habhaft wird als plötzlich die man überraschen
oder lassen muß .... Endlich hat meine Kürze noch einen andren Wert:
innerhalb solcher Fragen, wie sie mich beschäftigen, muß ich vieles
kurz sagen, damit es noch kürzer gehört wird. Man hat nämlich als
Immoralist zu verhüten, daß man die Unschuld verdirbt, ich meine die
Esel und die alten Jungfern beiderlei Geschlechts, die nichts vom Leben haben
als ihre Unschuld; mehr noch, meine Schriften sollen sie begeistern, erheben,
zur Tugend ermutigen. Ich wüßte nichts auf Erden, was lustiger wäre
als begeisterte alte Esel zu sehn und Jungfern, welche durch die süßen
Gefühle der Tugend erregt werden: und »das habe ich gesehn«
also sprach Zarathustra. So viel in Absicht der Kürze; schlimmer steht es
mit meiner Unwissenheit, deren ich selbst vor mir selber kein Hehl habe. Es gibt
Stunden, wo ich mich ihrer schäme; freilich ebenfalls Stunden, wo ich mich
dieser Scham schäme. Vielleicht sind wir Philosophen allesamt heute zum Wissen
schlimm gestellt: die Wissenschaft wächst, die Gelehrtesten von uns sind
nahe daran zu entdecken, daß sie zu wenig wissen. Aber schlimmer wäre
es immer noch, wenn es anders stünde wenn wir zu viel wüßten;
unsre Aufgabe ist und bleibt zuerst, uns nicht selber zu verwechseln. Wir sind
etwas anderes als Gelehrte: obwohl es nicht zu umgehn ist, daß wir auch,
unter anderem, gelehrt sind. Wir haben andre Bedürfnisse, ein anderes Wachstum,
eine andre Verdauung: wir brauchen mehr, wir brauchen auch weniger. Wieviel ein
Geist zu seiner Ernährung nötig hat, dafür gibt es keine Formel;
ist aber sein Geschmack auf Unabhängigkeit gerichtet, auf schnelles Kommen
und Gehn, auf Wanderung, auf Abenteuer vielleicht, denen nur die Geschwindesten
gewachsen sind, so lebt er lieber frei mit schmaler Kost als unfrei und gestopft.
Nicht Fett, sondern die größte Geschmeidigkeit und Kraft ist das, was
ein guter Tänzer von seiner Nahrung will und ich wüßte
nicht, was der Geist eines Philosophen mehr zu sein wünschte, als ein guter
Tänzer. Der Tanz nämlich ist sein Ideal, auch seine Kunst, zuletzt auch
seine einzige Frömmigkeit, sein »Gottesdienst«. (Ebd.,
1882, S. 299-301).Die große Gesundheit. Wir
Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch
unbewiesenen Zukunft wir bedürfen zu einem neuen Zwecke auch eines
neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesundheit, einer stärkeren, gewitzteren,
zäheren, verwegneren, lustigeren, als alle Gesundheiten bisher waren. Wessen
Seele danach dürstet, den ganzen Umfang der bisherigen Werte und Wünschbarkeiten
erlebt und alle Küsten dieses idealischen »Mittelmeers« umschifft
zu haben, wer aus den Abenteuern der eigensten Erfahrung wissen will, wie es einem
Eroberer und Entdecker des Ideals zumute ist, insgleichen einem Künstler,
einem Heiligen, einem Gesetzgeber, einem Weisen, einem Gelehrten, einem Frommen,
einem Wahrsager, einem Göttlich-Abseitigen alten Stils: der hat dazu zuallererst
eins nötig, die große Gesundheit eine solche, welche
man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muß,
weil man sie immer wieder preisgibt, preisgeben muß! .... Und nun, nachdem
wir lange dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals, mutiger vielleicht
als klug ist, und oft genug schiffbrüchig und zu Schaden gekommen, aber wie
gesagt gesünder, als man es uns erlauben möchte, gefährlich-gesund,
immer wieder gesund will es uns scheinen, als ob wir, zum Lohn dafür,
ein noch unentdecktes Land vor uns haben, dessen Grenzen noch niemand abgesehn
hat, ein Jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine Welt
so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem und
Göttlichem, daß unsre Neugierde ebensowohl wie unser Besitzdurst außer
sich geraten sind ach, daß wir nunmehr durch nichts mehr zu ersättigen
sind! Wie könnten wir uns, nach solchen Ausblicken und mit einem solchen
Heißhunger in Gewissen und Wissen, noch am gegenwärtigen Menschen
genügen lassen? Schlimm genug: aber es ist unvermeidlich, daß wir seinen
würdigsten Zielen und Hoffnungen nur mit einem übel aufrecht erhaltenen
Ernste zusehn und vielleicht nicht einmal mehr zusehn. Ein andres Ideal läuft
vor uns her, ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem
wir niemanden überreden möchten, weil wir niemandem so leicht das Recht
darauf zugestehn: das Ideal eines Geistes, der naiv, das heißt ungewollt
und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit allem spielt,
was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hieß; für den
das Höchste, woran das Volk billigerweise sein Wertmaß hat, bereits
so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie Erholung, Blindheit,
zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten würde; das Ideal eines menschlich-über
menschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen
wird, zum Beispiel wenn es sich neben den ganzen bisherigen Erden-Ernst, neben
alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe
wie deren leibhafteste, unfreiwillige Parodie hinstellt und mit dem, trotzalledem,
vielleicht der große Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen
erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt,
die Tragödie beginnt. (Ebd., 1882, S. 301-303).Epilog.
Aber indem ich zum Schluß dieses düstere Fragezeichen langsam,
langsam hinmale und eben noch willens bin, meinen Lesern die Tugenden des rechten
Lesers oh was für vergessene und unbekannte Tugenden! ins Gedächtnis
zu rufen, begegnet mir's, daß um mich das boshafteste, munterste, koboldigste
Lachen laut wird: die Geister meines Buches selber fallen über mich her,
ziehn mich an den Ohren und rufen mich zur Ordnung. »Wir halten es nicht
mehr aus« rufen sie mir zu ; »fort, fort mit dieser rabenschwarzen
Musik. Ist es nicht rings heller Vormittag um uns? Und grüner weicher Grund
und Rasen, das Königreich des Tanzes? Gab es je eine bessere Stunde, um fröhlich
zu sein? Wer singt uns ein Lied, ein Vormittagslied, so sonnig, so leicht, so
flügge, daß es die Grillen nicht verscheucht daß es die
Grillen vielmehr einlädt, mit zu singen, mit zu tanzen? Und lieber noch einen
einfältigen bäurischen Dudelsack als solche geheimnisvolle Laute, solche
Unkenrufe, Grabesstimmen und Murmeltierpfiffe, mit denen sie uns in ihrer Wildnis
bisher regaliert haben, mein Herr Einsiedler und Zukunftsmusikant! Nein! Nicht
solche Töne! Sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!«
Gefällt es euch so, meine ungeduldigen Freunde? Wohlan! Wer wäre
euch nicht gern zu Willen? Mein Dudelsack wartet schon, meine Kehle auch
sie mag ein wenig rauh klingen, nehmt fürlieb! dafür sind wir im Gebirge.
Aber was ihr zu hören bekommt, ist wenigstens neu; und wenn ihrs nicht versteht,
wenn ihr den Sänger mißversteht, was liegt daran! Das ist nun einmal
»des Sängers Fluch«. Um so deutlicher könnt ihr seine Musik
und Weise hören, um so besser auch nach seiner Pfeife tanzen. Wollt
ihr das? (Ebd., 1882, S. 303-304).
Anhang: Lieder des Prinzen Vogelfrei
An
GoetheDas Unvergängliche
// Ist nur dein Gleichnis! // Gott, der Verfängliche, // Ist Dichter-Erschleichnis
... // Welt-Rad, das rollende, // Streift Ziel auf Ziel: // Not nennts
der Grollende, // Der Narr nennts Spiel ... // Welt-Spiel, das herrische
// Mischt Sein und Schein: // Das Ewig-Närrische // Mischt uns
hinein! (Ebd., 1882, S. 305).Dichters Berufung Als
ich jüngst, mich zu erquicken, // Unter dunklen Bäumen saß, //
Hört ich ticken, leise ticken, // Zierlich, wie nach Takt und Maß.
// Böse wurd ich, zog Gesichter, // Endlich aber gab ich nach, //
Bis ich gar, gleich einem Dichter, // Selber mit im Ticktack sprach.Wie
mir so im Verse-Machen // Silb um Silb ihr Hopsa sprang, // Mußt ich plötzlich
lachen, lachen // Eine Viertelstunde lang. // Du ein Dichter? Du ein Dichter?
// Stehts mit deinem Kopf so schlecht? // »Ja, mein Herr, Sie sind
ein Dichter« // Achselzuckt der Vogel Specht.Wessen
harr ich hier im Busche? // Wem doch laur ich Räuber auf? // Ists ein Spruch?
Ein Bild? Im Husche // Sitzt mein Reim ihm hintendrauf. // Was nur schlüpft
und hüpft, gleich sticht der // Dichter sichs zum Vers zurecht. //
»Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter« // Achselzuckt der Vogel Specht.Reime,
mein ich, sind wie Pfeile? // Wie das zappelt, zittert, springt, // Wenn der Pfeil
in edle Teile // Des Lazerten-Leibchens dringt! // Ach, ihr sterbt dran, arme
Wichter, // Oder taumelt wie bezecht! // »Ja, mein Herr, Sie sind
ein Dichter« // Achselzuckt der Vogel Specht.Schiefe
Sprüchlein voller Eile, // Trunkne Wörtlein, wie sichs drängt!
// Bis ihr alle, Zeil an Zeile, // An der Ticktack-Kette hängt. // Und es
gibt grausam Gelichter, // Das dies freut? Sind Dichter schlecht?
// »Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter« // Achselzuckt der
Vogel Specht.Höhnst du, Vogel?
Willst du scherzen? // Stehts mit meinem Kopf schon schlimm, // Schlimmer stünds
mit meinem Herzen? // Fürchte, fürchte meinen Grimm! // ] Doch
der Dichter Reime flicht er // Selbst im Grimm noch schlecht und recht.
// »Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter« // Achselzuckt der
Vogel Specht. (Ebd., 1882, S. 305-307).Sils MariaHier
saß ich, wartend, wartend, doch auf nichts, // Jenseits von Gut und
Böse, bald des Lichts // Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
// Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. // Da, plötzlich, Freundin!
wurde eins zu zwei // Und Zarathustra ging an mir vorbei.
(Ebd., 1882, S. 315-316). |