Zur Genealogie der Moral (Eine
Streitschrift), 1887 
Vorrede
Gerade
hier ... sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende
Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wehrend, die letzte Krankheit
sich zärtlich und schwermütig sich ankündigend: ich verstand die
immer mehr um sich greifend Mildeids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff
und krank machte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäischen
Kultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Eiropäer-Buddhismus?
zum - Nihilismus? .... (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 213 bzw. 767).
Man
hat bisher auch nicht im entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, »den
Guten« für höherwertig als »den Bösen« anzusetzen,
höherwertig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit
in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet).
Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im »Guten«
auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung,
ein Gift, ein Narkotikum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft
lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile,
niedriger? .... So daß gerade die Moral daran schuld wäre, wenn eine
an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch
niemals erreicht würde? So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren
wäre? (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 214 bzw. 768).
1. Abhandlung: Gut und Böse, Gut und Schlecht
Der
Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das Ressentiment selbst
schöpferisch wird und Werte gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen
die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre
Rache schadlos halten. (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 228 bzw. 782).Während
alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst,
sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem »Außerhalb«,
zu einem »Anders«, zu einem »Nicht-selbst«: und dies
Nein ist ihre schöpferische Tat. Diese Umkehrung des werte-setzenden Blicks
- diese notwendige Richtung nach außen statt zurück auf sich
selber - gehört eben zum Resentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn,
immer zuerst einer Gegen- und Außenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen,
äußerer Reize, um überhaupt zu agieren - ihre Aktion ist von Grund
auf Reaktion. Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Wertungsweise der Fall: sie
agiert und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich
selber noch dankbarer, noch frohlockender ja zu sagen - ihr negativer Begriff
»niedrig«, »gemein«, »schlecht« ist nur ein
nachgeborenes blasses Kontrastbild im Verhältnis zu ihrem positiven, durch
und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff »wir
Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!« (Ebd.,
1887, in: Werke III, S. 228-220 bzw. 782-783).Während der
vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt (gennaios
»edelbürtig« unterstreicht die Nuance »aufrichtig«
und auch wohl »naiv«), so ist der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig,
noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele schielt;
sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte
mutet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf
das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern,
Sich-demütigen. (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 230 bzw. 784).Das
Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht
und erschöpft sich ... in einer sofortigen Reaktion, es vergiftet
darum nicht: andrerseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf
wo es bei allen Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist. (Ebd.,
1887, in: Werke III, S. 230 bzw. 784).Wieviel Ehrfurcht vor seinen
Feinden hat schon ein vornehmer Mensch! - und eine solche Ehrfurcht ist schon
eine Brücke zur Liebe .... Er verlangt ja seinen Feind für sich, als
seine Auszeichnung, er hält ja keinen andren Feind aus, als einen solchen,
an dem nichts zu verachten und sehr viel zu ehren ist! Dagegen stelle man
sich »den Feind« vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment konzipiert
- und hier gerade ist seine Tat, seine Schöpfung: er hat »den bösen
Feind« konzipiert, »den Bösen«, und zwar als Gegenbegriff,
von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen »Guten«
ausdenkt - sich selbst ! .... (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 231 bzw. 785).
2. Abhandlung: Schuld, Schlechtes Gewissen
und Verwandtes
Der
Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit »bösem
Blick« betrachtet, so daß sie sich in ihm schließlich mit dem
»schlechten Gewissen« verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch
wäre an sich möglich aber wer ist stark genug dazu? , nämlich
die unnatürlichen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen,
Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Tierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die
allesamt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten
Gewissen zu verschwistern. An wen sich heute mit solchen Hoffnungen und Ansprüchen
wenden? .... Gerade die guten Menschen hätte man damit gegen sich; dazu,
wie billig, die bequemen, die versöhnten, die eitlen, die schwärmerischen,
die müden. .... Was beleidigt tiefer, was trennt so gründlich ab, als
etwas von der Strenge und Höhe merken zu lassen, mit der man sich selbst
behandelt? Und wiederum wie entgegenkommend, wie liebreich zeigt sich alle
Welt gegen uns, sobald wir es machen wie alle Welt und uns »gehen lassen«
wie alle Welt! (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 282 bzw. 836).Aber
irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische
Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erlösende Mensch der großen
Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft
aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke
mißverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei
während sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit
ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder ans Licht kommt, die Erlösung
dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluche, den das bisherige
Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen
Ideal erlösen wird als von dem, was aus ihm wachsen mußte, vom großen
Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags
und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde
ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und
Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts er muß einst
kommen .... (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 282-283 bzw. 836-837).An
dieser Stelle geziemt mir nur eins, zu schweigen: ich vergriffe mich sonst an
dem, was einem Jüngeren allein freisteht, einem »Zukünftigeren«,
einem Stärkeren, als ich bin was allein Zarathustra freisteht, Zarathustra
dem Gottlosen .... (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 283 bzw. 837).
3. Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?
Ein
verheirateter Philosoph gehört in die Komödie, das ist mein Satz:
und jene Ausnahme Sokrates der boshafte Sokrates hat sich, scheint es,
ironice verheiratet, eigens um gerade diesen Satz zu demonstrieren.
(Ebd., 1887, in: Werke III, S. 295 bzw. 849).Das asketische
Ideal entspringt dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerierenden Lebens,
welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft;
es deutet auf eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung hin, gegen
welche die tiefsten, intakt gebliebenen Instinkte des Lebens unausgesetzt mit
neuen Mitteln und Erfindungen ankämpfen. Das asketische Ideal ist ein solches
Mittel: es steht also gerade umgekehrt, als es die Verehrer dieses Ideals meinen
das Leben ringt in ihm und durch dasselbe mit dem Tode und gegen den Tod,
das asketische Ideal ist ein Kunstgriff in der Erhaltung des Lebens. Daß
dasselbe in dem Maße, wie die Geschichte es lehrt, über den Menschen
walten und mächtig werden konnte, insonderheit überall dort, wo die
Zivilisation und Zähmung des Menschen durchgesetzt wurde, darin drückt
sich eine große Tatsache aus: die Krankhaftigkeit im bisherigen Typus
des Menschen, zum mindesten des zahm gemachten Menschen, das physiologische Ringen
des Menschen mit dem Tode (genauer: mit dem Überdrusse am Leben, mit der
Ermüdung, mit dem Wunsche nach dem »Ende«). (Ebd., 1887,
in: Werke III, S. 307-308 bzw. 861-862).Der asketische Priester
ist der fleischgewordne Wunsch nach einem Anders-sein, Anders wo-sein, und zwar
der höchste Grad dieses Wunsches, dessen eigentliche Inbrunst und Leidenschaft:
aber eben die Macht seines Wünschens ist die Fessel, die ihn hier anbindet;
eben damit wird er zum Werkzeug, das daran arbeiten muß, günstigere
Bedingungen für das Hier-sein und Mensch-sein zu schaffen eben mit
dieser Macht hält er die ganze Herde der Mißratnen, Verstimmten,
Schlechtweggekommnen, Verunglückten, An-sich-Leidenden jeder Art am Dasein
fest, indem er ihnen instinktiv als Hirt vorangeht. Man versteht mich bereits:
dieser asketische Priester, dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Verneinende
er gerade gehört zu den ganz großen konservierenden und
Ja-schaffenden Gewalten des Lebens .... Woran sie hängt, jene Krankhaftigkeit?
(Ebd., 1887, in: Werke III, S. 308 bzw. 862).Denn der Mensch ist
kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgendein Tier sonst,
daran ist kein Zweifel er ist das kranke Tier: woher kommt das? Sicherlich
hat er auch mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal herausgefordert als
alle übrigen Tiere zusammengenommen: er, der große Experimentator mit
sich, der Unbefriedigte, Ungesättigte, der um die letzte Herrschaft mit Tier,
Natur und Göttern ringt er, der immer noch Unbezwungne, der ewig-Zukünftige,
der vor seiner eignen drängenden Kraft keine Ruhe mehr findet, so daß
ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische jeder Gegenwart wühlt
wie sollte ein solches mutiges und reiches Tier nicht auch das am meisten
gefährdete, das am längsten und tiefsten kranke unter allen kranken
Tieren sein? .... Der Mensch hat es satt, oft genug, es gibt ganze Epidemien dieses
Satthabens ( so um 1348 herum, zur Zeit des Totentanzes): aber selbst noch
dieser Ekel, diese Müdigkeit, dieser Verdruß an sich selbst
alles tritt an ihm so mächtig heraus, daß es sofort wieder zu einer
neuen Fessel wird. Sein Nein, das er zum Leben spricht, bringt wie durch einen
Zauber eine Fülle zarterer Jas ans Licht; ja, wenn er sich verwundet, dieser
Meister der Zerstörung, Selbstzerstörung hinterdrein ist es die
Wunde selbst, die ihn zwingt, zu leben .... (Ebd., 1887, in: Werke
III, S. 308 bzw. 862).Je normaler die Krankhaftigkeit am Menschen
ist und wir können diese Normalität nicht in Abrede stellen ,
um so höher sollte man die seltnen Fälle der seelisch-leiblichen Mächtigkeit,
die Glücksfälle des Menschen in Ehren halten, um so strenger
die Wohlgeratenen vor der schlechtesten Luft, der Kranken-Luft behüten. Tut
man das? .... Die Kranken sind die größte Gefahr für die Gesunden;
nicht von den Stärksten kommt das Unheil für die Starken, sondern
von den Schwächsten. Weiß man das? (Ebd., 1887, in: Werke III,
S. 309 bzw. 863).Ins große gerechnet, ist es durchaus nicht
die Furcht vor dem Menschen, deren Verminderung man wünschen dürfte:
denn diese Furcht zwingt die Starken dazu, stark, unter Umständen furchtbar
zu sein sie hält den wohlgeratenen Typus Mensch aufrecht. Was
zu fürchten ist, was verhängnisvoll wirkt wie kein andres Verhängnis,
das wäre nicht die große Furcht, sondern der große Ekel vor dem
Menschen; insgleichen das große Mitleid mit dem Menschen. Gesetzt,
daß diese beiden eines Tags sich begatteten, so würde unvermeidlich
sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der »letzte Wille« des Menschen,
sein Wille zum Nichts, der Nihilismus. Und in der Tat: hierzu ist viel vorbereitet.
Wer nicht nur seine Nase zum Riechen hat, sondern auch seine Augen und Ohren,
der spürt fast überall, wohin er heute auch nur tritt, etwas wie Irrenhaus-,
wie Krankenhaus-Luft ich rede, wie billig, von den Kulturgebieten des Menschen,
von jeder Art »Europa«, das es nachgerade auf Erden gibt. (Ebd., 1887, in:
Werke III, S. 309 bzw. 863).Die Krankhaften sind des Menschen
große Gefahr: nicht die Bösen, nicht die »Raubtiere«.
Die von vornherein Verunglückten, Niedergeworfnen, Zerbrochenen - sie sind
es, die Schwächsten sind es, welche am meisten das Leben unter Menschen
unterminieren, welche unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen, zu uns am gefährlichsten
vergiften und in Frage stellen. (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 309 bzw.
863).Wo entginge man ihm, jenem verhängten Blick, von dem
man eine tiefe Traurigkeit mit fortträgt, jenem zurückgewendeten Blick
des Mißgebornen von Anbeginn, der es verrät, wie ein solcher Mensch
zu sich selber spricht jenem Blick, der ein Seufzer ist! »Möchte ich
irgend jemand anderes sein!« so seufzt dieser Blick: »aber da ist keine Hoffnung.
Ich bin, der ich bin: wie käme ich von mir selber los? Und doch
habe ich mich satt!« (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863).Auf
solchem Boden der Selbstverachtung, einem eigentlichen Sumpfboden, wächst
jedes Unkraut, jedes Giftgewächs, und alles so klein, so versteckt, so unehrlich,
so süßlich. Hier wimmeln die Würmer der Rach- und Nachgefühle;
hier stinkt die Luft nach Heimlichkeiten und Uneingeständlichkeiten; hier
spinnt sich beständig das Netz der bösartigsten Verschwörung -
der Verschwörung der Leidenden gegen die Wohlgeratenen und Siegreichen, hier
wird der Aspekt des Siegreichen gehaßt. (Ebd., 1887, in: Werke
III, S. 309-310 bzw. 863-864).Sie wandeln unter uns herum als leibhafte
Vorwürfe, als Warnungen an uns wie als ob Gesundheit, Wohlgeratenheit,
Stärke, Stolz, Machtgefühl an sich schon lasterhafte Dinge seien, für
die man einst büßen, bitter büßen müsse: o wie sie
im Grunde dazu selbst bereit sind, büßen zu machen, wie sie darnach
dürsten, Henker zu sein. Unter ihnen gibt es in Fülle die zu Richtern
verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort »Gerechtigkeit«
wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer gespitzen Mundes, immer bereit,
alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muts seine Straße
zieht. (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 310 bzw. 864).Der Wille
der Kranken, irgendeine Form der Überlegenheit darzustellen, ihr Instinkt
für Schleichwege, die zu einer Tyrannei über die Gesunden führen
wo fände er sich nicht, dieser Wille gerade der Schwächsten zur
Macht! Das kranke Weib insonderheit: niemand übertrifft es in Raffinements,
zu herrschen, zu drücken, zu tyrannisieren. Das kranke Weib schont dazu nichts
Lebendiges, nichts Totes, es gräbt die begrabensten Dinge wieder auf (die
Bogos sagen: »das Weib ist eine Hyäne«). Man blicke in die Hintergründe
jeder Familie, jeder Körperschaft, jedes Gemeinwesens: überall der Kampf
der Kranken gegen die Gesunden ein stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern,
mit Nadelstichen, mit tückischem Dulder-Mienenspiele, mitunter aber auch
mit jenem Kranken-Pharisäismus der lauten Gebärde, der am liebsten »die
edle Entrüstung« spielt. Bis in die geweihten Räume der Wissenschaft
hinein möchte es sich hörbar machen, das heisere Entrüstungs-Gebell
der krankhaften Hunde, die bissige Verlogenheit und Wut solcher »edlen«
Pharisäer .... (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 310-311 bzw. 864-865).Das
sind alles Menschen des Ressentiment, diese physiologisch Verunglückten und
Wurmstichigen, ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer Rache, unerschöpflich,
unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen und ebenso in
Maskeraden der Rache, in Vorwänden zur Rache: wann würden sie eigentlich
zu ihrem letzten, feinsten, sublimsten Triumph der Rache kommen? Dann unzweifelhaft,
wenn es ihnen gelänge, ihr eignes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen
ins Gewissen zu schieben: so daß diese sich eines Tags ihres Glücks
zu schämen begännen und vielleicht untereinander sich sagten »es
ist eine Schande, glücklich zu sein! es gibt zu viel Elend!«
.... Aber es könnte gar kein größeres und verhängnisvolleres
Mißverständnis geben, als wenn dergestalt die Glücklichen, die
Wohlgeratenen, die Mächtigen an Leib und Seele anfingen, an ihrem Recht
auf Glück zu zweifeln. Fort mit dieser »verkehrten Welt«!
(Ebd., 1887, in: Werke III, S. 311 bzw. 865).Hat man in aller Tiefe
begriffen und ich verlange, daß man hier gerade tief greift, tief
begreift , inwiefern es schlechterdings nicht die Aufgabe der Gesunden sein
kann, Kranke zu warten, Kranke gesund zu machen, so ist damit auch eine Notwendigkeit
mehr begriffen die Notwendigkeit von Ärzten und Krankenwärtern,
die selber krank sind: und nunmehr haben und halten wir den Sinn des asketischen
Priesters mit beiden Händen. Der asketische Priester muß uns als der
vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Herde gelten: damit erst
verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die Herrschaft über
Leidende ist sein Reich .... (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 312 bzw.
866).Der Priester ... bringt Salben und Balsam mit, es ist kein
Zweifel; aber erst hat er nötig, zu verwunden, um Arzt zu sein; indem er
dann den Schmerz stillt, den die Wunde macht, vergiftet er zugleich die Wunde
darauf vor allem nämlich versteht er sich, dieser Zauberer und Raubtier-Bändiger,
in dessen Umkreis alles Gesunde notwendig krank und alles Kranke notwendig zahm
wird. Er verteidigt in der Tat gut genug seine kranke Herde, dieser seltsame Hirt
er verteidigt sie auch gegen sich, gegen die in der Herde selbst glimmende
Schlechtigkeit, Tücke, Böswilligkeit und was sonst allen Süchtigen
und Kranken untereinander zu eigen ist, er kämpft klug, hart und heimlich
mit der Anarchie und der jederzeit beginnenden Selbstauflösung innerhalb
der Herde, in welcher jener gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das
Ressentiment, sich beständig häuft und häuft. Diesen Sprengstoff
so zu entladen, daß er nicht die Herde und nicht den Hirten zersprengt,
das ist sein eigentliches Kunststück, auch seine oberste Nützlichkeit;
wollte man den Wert der priesterlichen Existenz in die kürzeste Formel fassen,
so wäre geradewegs zu sagen: der Priester ist der Richtungs-Veränderer
des Ressentiment. (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 313-314 bzw. 867-868).
Es gibt, streng geurteilt, gar keine »voraussetzungslose«
Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, paralogisch:
eine Philosophie, ein »Glaube« muß immer erst da sein,
damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze,
eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt. (Wer es umgekehrt versteht,
wer zum Beispiel sich anschickt, die Philosophie »auf streng wissenschaftliche
Grundlage« zu stellen, der hat dazu erst nötig, nicht nur die
Philosophie, sondern auch die Wahrheit selber auf den Kopf zu stellen:
die ärgste Anstands-Verletzung, die es in Hinsicht auf zwei so ehrwürdige
Frauenzimmer geben kann!) (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 336 bzw.
890).
Ja, es ist kein Zweifel und hiermit
lasse ich meine »fröhliche Wissenschaft« zu Worte kommen,
vgl. deren fünftes Buch: (II 208) »der Wahrhaftige,
in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft
voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der
Natur und der Geschichte; und insofern er diese andre Welt
bejaht, wie? muß er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese
Welt, unsre Welt verneinen? .... Es ist immer noch ein metaphysischer
Glaube, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht auch
wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir
nehmen unser Feuer noch von jenem Brande, den ein jahrtausendealter
Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube
Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich
ist .... Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird,
wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum,
die Blindheit, die Lüge wenn Gott selbst sich als unsre längste
Lüge erweist?« (**)
(Ebd., 1887, in: Werke III, S. 336-337 bzw. 890-891).
Die
Wissenschaft selber bedarf nunmehr einer Rechtfertigung (womit noch nicht einmal
gesagt sein soll, daß es eine solche für sie gibt). Man sehe sich auf
diese Frage die ältesten und die jüngsten Philosophien an: in ihnen
allen fehlt ein Bewußtsein darüber, inwiefern der Wille zur Wahrheit
selbst erst einer Rechtfertigung bedarf, hier ist eine Lücke in jeder Philosophie
woher kommt das? Weil das asketische Ideal über alle Philosophie bisher
Herr war, weil Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst
gesetzt wurde, weil Wahrheit gar nicht Problem sein durfte. Versteht man dies
»durfte«? (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 337 bzw. 891).
Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen
Ideals verneint ist, gibt es auch ein neues Problem: das vom Werte
der Wahrheit. Der Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik
bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe , der Wert der Wahrheit
ist versuchsweise einmal in Frage zu stellen .... (Wem dies zu
kurz gesagt scheint, dem sei empfohlen, jenen Abschnitt der »fröhlichen
Wissenschaft« nachzulesen, welcher den Titel trägt: »Inwiefern
auch wir noch fromm sind«: (II 206 ff. [**]),
am besten das ganze fünfte Buch des genannten Werks, insgleichen
die Vorrede zur »Morgenröte« [**]).
(Ebd., 1887, in: Werke III, S. 337 bzw. 891).
Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch,
das Tier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein
Ziel; »wozu Mensch überhaupt?« war eine Frage ohne Antwort;
der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem großen Menschen-Schicksale
klang als Refrain ein noch größeres »Umsonst;!« Das
eben bedeutet das asketische Ideal: daß etwas fehlte, daß eine
ungeheure Lücke den Menschen umstand - er wußte sich selbst
nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Problem seines
Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Tier:
aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern daß die Antwort
fehlte für den Schrei der Frage »wozu leiden?« Der Mensch,
das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint an sich nicht das Leiden;
er will es; er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, daß man ihm einen
Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit
des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der
Menschheit ausgebreitet lag - und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn!
(Ebd., 1887, in: Werke III, S. 345 bzw. 899).Nein! Man komme mir
nicht mit der Wissenschaft, wenn ich nach dem natürlichen Antagonisten des
asketischen Ideals suche, wenn ich frage: »wo ist der gegnerische Wille,
in dem sich sein gegnerisches Ideal ausdrückt?« Dazu steht die
Wissenschaft lange nicht genug auf sich selber, sie bedarf in jedem Betrachte
erst eines Wert-Ideals, einer werteschaffenden Macht, in deren Dienste
sie an sich selber glauben darf sie selbst ist niemals werteschaffend.
Ihr Verhältnis zum asketischen Ideal ist an sich durchaus noch nicht antagonistisch;
sie stellt in der Hauptsache sogar eher noch die vorwärtstreibende Kraft
in dessen innerer Ausgestaltung dar. Ihr Widerspruch und Kampf bezieht sich, feiner
geprüft, gar nicht auf das Ideal selbst, sondern nur auf dessen Außenwerke,
Einkleidung, Maskenspiel, auf dessen zeitweilige Verhärtung, Verholzung,
Verdogmatisierung sie macht das Leben in ihm wieder frei, indem sie das
Exoterische an ihm verneint. (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 337-338 bzw.
891-892).Diese beiden, Wissenschaft und asketisches Ideal, sie
stehen ja auf einem Boden ich gab dies schon zu verstehen : nämlich
auf der gleichen Überschätzung der Wahrheit (richtiger: auf dem gleichen
Glauben an die Unabschätzbarkeit, Unkritisierbarkeit der Wahrheit),
eben damit sind sie sich notwendig Bundesgenossen so daß sie, gesetzt,
daß sie bekämpft werden, auch immer nur gemeinsam bekämpft und
in Frage gestellt werden können. Eine Wertabschätzung des asketischen
Ideals zieht unvermeidlich auch eine Wertabschätzung der Wissenschaft nach
sich: dafür mache man sich bei Zeiten die Augen hell, die Ohren spitz!
(Ebd., 1887, in: Werke III, S. 338 bzw. 892).(Die Kunst,
vorweg gesagt, denn ich komme irgendwann des längeren darauf zurück
die Kunst, in der gerade die Lüge sich heiligt, der Wille
zur Täuschung das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale
viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft: so empfand es
der Instinkt Platos, dieses größten Kunstfeindes, den Europa bisher
hervorgebracht hat. Plato gegen Homer: das ist der ganze, der echte Antagonismus
dort der »Jenseitige« besten Willens, der große Verleumder
des Lebens, hier dessen unfreiwilliger Vergöttlicher, die goldene Natur.
Eine Künstler-Dienstbarkeit im Dienste des asketischen Ideals ist deshalb
die eigentlichste Künstler-Korruption, die es geben kann, leider eine der
allergewöhnlichsten: denn nichts ist korruptibler als ein Künstler.)
(Ebd., 1887, in: Werke III, S. 338 bzw. 892).Auch physiologisch
nachgerechnet, ruht die Wissenschaft auf dem gleichen Boden wie das asketische
Ideal: eine gewisse Verarmung des Lebens ist hier wie dort die Voraussetzung,
die Affekte kühl geworden, das Tempo verlangsamt, die Dialektik an
Stelle des Instinktes, der Ernst den Gesichtern und Gebärden aufgedrückt
(der Ernst, dieses unmißverständlichste Abzeichen des mühsameren
Stoffwechsels, des ringenden, schwerer arbeitenden Lebens). Man sehe sich die
Zeiten eines Volkes an, in denen der Gelehrte in den Vordergrund tritt: es sind
Zeiten der Ermüdung, oft des Abends, des Niederganges die überströmende
Kraft, die Lebens-Gewißheit, die Zukunfts-Gewißheit sind dahin.
(Ebd., 1887, in: Werke III, S. 338 bzw. 892).Das Übergewicht
des Mandarinen bedeutet niemals etwas Gutes: so wenig als die Heraufkunft der
Demokratie, der Friedens-Schiedsgerichte an Stelle der Kriege, der Frauen-Gleichberechtigung,
der Religion des Mitleids und was es sonst alles für Symptome des absinkenden
Lebens gibt. (Wissenschaft als Problem gefaßt; was bedeutet Wissenschaft?
vgl. darüber die Vorrede zur »Geburt der Tragödie«.) (Ebd.,
1887, in: Werke III, S. 338-339 bzw. 892-893).Nein! diese »moderne
Wissenschaft« macht euch nur dafür die Augen auf! ist
einstweilen die beste Bundesgenossin des asketischen Ideals, und gerade
deshalb, weil sie die unbewußteste, die unfreiwilligste, die heimlichste
und unterirdischste ist! Sie haben bis jetzt ein Spiel gespielt, die »Armen
des Geistes« und die wissenschaftlichen Widersacher jenes Ideals (man hüte
sich, anbei gesagt, zu denken, daß sie deren Gegensatz seien, etwa als die
Reichen des Geistes das sind sie nicht, ich nannte sie Hektiker
des Geistes). Diese berühmten Siege der letzteren: unzweifelhaft,
es sind Siege aber worüber? Das asketische Ideal wurde ganz und gar
nicht in ihnen besiegt, es wurde eher damit stärker, nämlich unfaßlicher,
geistiger, verfänglicher gemacht, daß immer wieder eine Mauer, ein
Außenwerk, das sich an dasselbe angebaut hatte und seinen Aspekt vergröberte,
seitens der Wissenschaft schonungslos abgelöst, abgebrochen worden ist. Meint
man in der Tat, daß etwa die Niederlage der theologischen Astronomie eine
Niederlage jenes Ideals bedeute? .... Ist damit vielleicht der Mensch weniger
bedürftig nach einer Jenseitigkeits-Lösung seines Rätsels von
Dasein geworden, daß dieses Dasein sich seitdem noch beliebiger, eckensteherischer,
entbehrlicher in der sichtbaren Ordnung der Dinge ausnimmt? (Ebd.,
1887, in: Werke III, S. 339 bzw. 893).Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung
des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem
unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit,
Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin er ist Tier
geworden, Tier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren
Glauben beinahe Gott ((»Kind Gottes«, »Gottmensch«) war
.... Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten
er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg wohin? ins Nichts?
ins »durchbohrende Gefühl seines Nichts«? .... Wohlan! dies eben wäre
der gerade Weg ins alte Ideal? (Ebd., 1887, in: Werke III,
S. 339 bzw. 893).Alle Wissenschaft (und keineswegs nur die
Astronomie, über deren demütigende und herunterbringende Wirkung Kant
ein bemerkenswertes Geständnis gemacht hat, »sie vernichtet meine Wichtigkeit«
...), alle Wissenschaft, die natürliche sowohl, wie die unnatürliche
so heiße ich die Erkenntnis-Selbstkritik , ist heute darauf
aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe
nichts als ein bizarrer Eigendünkel gewesen sei; man könnte sogar sagen,
sie habe ihren eigenen Stolz, ihre eigene herbe Form von stoischer Ataraxie darin,
diese mühsam errungene Selbstverachtung des Menschen als dessen letzten,
ernstesten Anspruch auf Achtung bei sich selbst aufrechtzuerhalten (mit Recht,
in der Tat: denn der Verachtende ist immer noch einer, der »das Achten nicht
verlernt hat« ...). (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 339-340 bzw. 893-894).Wird
damit dem asketischen Ideale eigentlich entgegengearbeitet? Meint man wirklich
allen Ernstes noch (wie es die Theologen eine Zeitlang sich einbildeten), daß
etwa Kants Sieg über die theologische Begriffs-Dogmatik ((raquo;Gott«,
»Seele«, »Freiheit«, »Unsterblichkeit«) jenem
Ideale Abbruch getan habe? wobei es uns einstweilen nichts angehn soll,
ob Kant selber etwas Derartiges überhaupt auch nur in Absicht gehabt hat.
Gewiß ist, daß alle Art Transzendentalisten seit Kant wieder gewonnenes
Spiel haben sie sind von den Theologen emanzipiert: welches Glück!
er hat ihnen jenen Schleichweg verraten, auf dem sie nunmehr auf eigne
Faust und mit dem besten wissenschaftlichen Anstande den »Wünschen ihres
Herzens« nachgehn dürfen. Insgleichen: wer dürfte es nunmehr den Agnostikern
verargen, wenn sie, als die Verehrer des Unbekannten und Geheimnisvollen an sich,
das Fragezeichen selbst jetzt als Gott anbeten? .... Gesetzt, daß
alles, was der Mensch »erkennt«, seinen Wünschen nicht genugtut, ihnen vielmehr
widerspricht und Schauder macht, welche göttliche Ausflucht, die Schuld davon
nicht im »Wünschen«, sondern im »Erkennen« suchen zu dürfen! . .... »Es
gibt kein Erkennen: folglich gibt es einen Gott«: welche neue
elegantia syllogismi! welcher Triumph des asketischen Ideals!
(Ebd., 1887, in: Werke III, S. 340 bzw. 894).Oder zeigte vielleicht
die gesamte moderne Geschichtsschreibung eine lebensgewissere, idealgewissere
Haltung? Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt dahin, Spiegel zu sein; sie
lehnt alle Teleologie ab; sie will nichts mehr »beweisen«; sie verschmäht
es, den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack sie bejaht
so wenig, als sie verneint, sie stellt fest, sie »beschreibt« ....
Dies alles ist in einem hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem noch
höheren Grade nihilistisch .... (Ebd., 1887, in: Werke III, S.
340-341 bzw. 894-895).Hundertmal schlimmer sind die »Beschaulichen«
: ich wüßte nichts, was so sehr Ekel machte, als solch ein »objektiver«
Lehnstuhl, solch ein duftender Genüßling vor der Historie, halb Pfaff,
halb Satyr, Parfum Renan, der schon mit dem hohen Falsett seines Beifalls verrät,
was ihm abgeht, wo es ihm abgeht, wo in diesem Falle die Parze ihre grausame Schere
ach! allzu chirurgisch gehandhabt hat! Das geht mir wider den Geschmack, auch
wider die Geduld: behalte bei solchen Aspekten seine Geduld, wer nichts an ihr
zu verlieren hat mich ergrimmt solch ein Aspekt, solche »Zuschauer«
erbittern mich gegen das »Schauspiel«, mehr noch als das Schauspiel
(die Historie selbst, man versteht mich), unversehens kommen mir dabei anakreontische
Launen. Diese Natur, die dem Stier das Horn, dem Löwen das chasm
odonion gab, wozu gab mir die Natur den Fuß? .... Zum Treten,
beim heiligen Anakreon! und nicht nur zum Davonlaufen; zum Zusammentreten der
morschen Lehnstühle, der feigen Beschaulichkeit, des lüsternen Eunuchentums
vor der Historie, der Liebäugelei mit asketischen Idealen, der Gerechtigkeits-Tartüfferie
der Impotenz! (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 341-342 bzw. 895-896).Alle
meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, sofern es ehrlich ist! solange
es an sich selber glaubt und uns keine Possen vormacht! Aber ich mag alle diese
koketten Wanzen nicht, deren Ehrgeiz unersättlich darin ist, nach dem Unendlichen
zu riechen, bis zuletzt das Unendliche nach Wanzen riecht; ich mag die übertünchten
Gräber nicht, die das Leben schauspielern; ich mag die Müden und Vernutzten
nicht, welche sich in Weisheit einwickeln und »objektiv« blicken;
ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal
um ihren Strohwisch von Kopf tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht,
die den Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur tragische
Hanswürste sind; ich mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus,
die Antisemiten, welche heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch
verdrehn und durch einen jede Geduld erschöpfenden Mißbrauch des wohlfeilsten
Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes
aufzuregen suchen .... (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 342 bzw. 896).Europa
ist heute reich und erfinderisch vor allem in Erregungsmitteln, es scheint nichts
nötiger zu haben als Stimulantia und gebrannte Wasser: daher auch die ungeheure
Fälscherei in Idealen, diesen gebranntesten Wassern des Geistes, daher auch
die widrige, übelriechende, verlogne, pseudo-alkoholische Luft überall.
Ich möchte wissen, wieviel Schiffsladungen von nachgemachtem Idealismus,
von Helden-Kostümen und Klapperblech großer Worte, wieviel Tonnen verzuckerten
spirituosen Mitgefühls, wieviel Stelzbeine »edler Entrüstung«
zur Nachhilfe geistig Plattfüßiger, wieviel Komödianten des christlich-moralischen
Ideals heute aus Europa exportiert werden müßten, damit seine Luft
wieder reinlicher röche .... Ersichtlich steht in Hinsicht auf diese Überproduktion
eine neue HandelsMöglichkeit offen, ersichtlich ist mit kleinen Ideal-Götzen
und zugehörigen »Idealisten« ein neues »Geschäft«
zu machen man überhöre diesen Zaunpfahl nicht! Wer hat Mut genug
dazu? wir haben es in der Hand, die ganze Erde zu »idealisieren«!..
Aber was rede ich von Mut: hier tut eins nur not, eben die Hand, eine unbefangne,
eine sehr unbefangne Hand .... (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 342-343 bzw.
896-897).Genug! Genug! Lassen wir diese Kuriositäten und Komplexitäten
des modernsten Geistes, an denen ebensoviel zum Lachen als zum Verdrießen
ist: gerade unser Problem kann deren entraten, das Problem von der Bedeutung des
asketischen Ideals was hat dasselbe mit gestern und heute zu tun! Jene
Dinge sollen von mir in einem andren Zusammenhange gründlicher und härter
angefaßt werden (unter dem Titel »Zur Geschichte des europäischen
Nihilismus«; ich verweise dafür auf ein Werk, das ich vorbereite: Der
Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte). (Ebd., 1887,
in: Werke III, S. 343 bzw. 897).Worauf es mir allein ankommt, hier
hingewiesen zu haben, ist dies: das asketische Ideal hat auch in der geistigsten
Sphäre einstweilen immer nur noch eine Art von wirklichen Feinden und Schädigern:
das sind die Komödianten dieses Ideals denn sie wecken Mißtrauen.
Überall sonst, wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei
am Werke ist, entbehrt er jetzt überhaupt des Ideals der populäre
Ausdruck für diese Abstinenz ist »Atheismus« : abgerechnet
seines Willens zur Wahrheit. Dieser Wille aber, dieser Rest von Ideal,
ist, wenn man mir glauben will, jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten
Formulierung, esoterisch ganz und gar, alles Außenwerks entkleidet, somit
nicht sowohl sein Rest, als sein Kern. Der unbedingte redliche Atheismus
( und seine Luft allein atmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!)
steht demgemäß nicht im Gegensatz zu jenem Ideale, wie es den Anschein
hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlußformen
und inneren Folgerichtigkeiten er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe
einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die
Lüge im Glauben an Gott verbietet. (Derselbe Entwicklungsgang in Indien,
in vollkommner Unabhängigkeit und deshalb etwas beweisend; dasselbe Ideal
zum gleichen Schlusse zwingend; der entscheidende Punkt fünf Jahrhunderte
vor der europäischen Zeitrechnung erreicht, mit Buddha, genauer: schon mit
der Sankhyam-Philosophie, diese dann durch Buddha popularisiert und zur Religion
gemacht.) (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 343-344 bzw. 897-898).
Was, in aller Strenge gefragt, hat eigentlich über
den christlichen Gott gesiegt? Die Antwort steht in meiner »fröhlichen
Wissenschaft« (II, 227 f.): »Die christliche Moralität
selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit
des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen
Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur ansehn,
als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei;
die Geschichte interpretieren zu Ehren einer göttlichen Vernunft,
als beständiges Zeugnis einer sittlichen Weltordnung und sittlicher
Schlußabsichten; die eignen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme
Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob alles Fügung, alles
Wink, alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei:
das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen gegen sich,
das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als
Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit mit dieser Strenge,
wenn irgendwomit, sind wir eben gute Europäer und Erben von
Europas längster und tapferster Selbstüberwindung.« (**)
(Ebd., 1887, in: Werke III, S. 344 bzw. 898).
Alle großen
Dinge gehen durch sich selbst zugrunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so
will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der notwendigen »Selbstüberwindung«
im Wesen des Lebens immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der
Ruf: »patere legem, quam ipse tulisti.« Dergestalt ging das
Christentum als Dogma zugrunde, an seiner eignen Moral; dergestalt muß
nun auch das Christentum als Moral noch zugrunde gehn wir stehen
an der Schwelle dieses Ereignisses. Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen
Schluß nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten
Schluß, ihren Schluß gegen sich selbst; dies aber geschieht,
wenn sie die Frage stellt »was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?«
.... Und hier rühre ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine
unbekannten Freunde ( denn noch weiß ich von keinem
Freunde): welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, daß
in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewußtsein gekommen
wäre? .... An diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit geht
von nun an daran ist kein Zweifel die Moral zugrunde: jenes große
Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europas
aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste
aller Schauspiele .... (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 344-345 bzw. 898-899).Sieht
man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Tier Mensch bisher keinen
Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; »wozu Mensch überhaupt?«
war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde
fehlte; hinter jedem großen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch
größeres »Umsonst!« Das eben bedeutet das asketische Ideal:
daß etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen
umstand er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären,
zu bejahen, er litt am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war
in der Hauptsache ein krankhaftes Tier: aber nicht das Leiden selbst
war sein Problem, sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der
Frage »wozu leiden?« Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste
Tier, verneint an sich nicht das Leiden; er will es, er sucht es
selbst auf, vorausgesetzt, daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt,
ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden,
war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag und
das asketische Ideal bot ihr einen Sinn! (Ebd., 1887, in: Werke III,
S. 345 bzw. 899).Es war bisher der einzige Sinn; irgend ein Sinn
ist besser als gar kein Sinn; das asketische Ideal war in jedem Betracht das »faute
de mieux« par excellence, das es bisher gab. In ihm war das Leben ausgelegt;
die ungeheure Leere schien ausgefüllt; die Tür schloß sich vor
allem selbstmörderischen Nihilismus zu. Die Auslegung - es ist kein Zweifel
- brachte neues Leiden mit sich; tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben
nagenderes: sie brachte alles Leiden unter die Perspektive der Schuld ....
Aber trotz alledem - der Mensch war damit gerettet, er hatte einen Sinn, er war
fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des
»Ohne-Sinns«; er konnte nunmehr etwas wollen - gleichgültig
zunächst, wohin, wozu, womit er wollte: der Wille selbst war gerettet.
Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, was eigentlich jenes ganze
Wollen ausdrückt, das vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen
hat: dieser Haß gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Tierische, mehr
noch gegen das Stoffliche; dieser Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst;
die Furcht vor dem Glück und der Schönheit, dieses Verlangen hinweg
aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst - das alles bedeutet,
wagen wir es, dies zu begreifen, einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen
gegen das Leben, eine Aufglehnung gegen die grundsätzlichen Voraussetzungen
des Lebens, aber es ist und bleibt ein Wille! .... Und, um es noch
zum Schluß zu sagen, was ich anfangs sagte: lieber will noch der Mensch
das Nichts wollen als nicht wollen .... (Ebd., 1887, in: Werke III, S. 345-346 bzw. 899-900). |