Versuch einer Selbstkritik, 1886

Ist
Pessimismus notwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Mißratenseins,
der ermüdeten und geschwächten Instinkte? wie er es bei den Indern
war, wie er es, allem Anschein nach, bei uns, den »modernen« Menschen
und Europäern ist? Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine
intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische
des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle
des Daseins? Gibt es vielleicht ein Leiden an der Überfülle selbst?
Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem Furchtbaren
verlangt, als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an dem sie ihre
Kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was »das Fürchten«
ist? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten, stärksten, tapfersten
Zeit, der tragische Mythus? Und das ungeheure Phänomen des Dionysischen?
Was, aus ihm geboren, die Tragödie? Und wiederum: das, woran die Tragödie
starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit
des theoretischen Menschen wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus
ein Zeichen des Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich
lösenden Instinkte sein? Und die »griechische Heiterkeit« des
späteren Griechentums nur eine Abendröte? Der epikurische Wille gegen
den Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden? Und die Wissenschaft selbst,
unsere Wissenschaft ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens
angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher alle Wissenschaft?
Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem
Pessimismus? Eine feine Notwehr gegen die Wahrheit? Und, moralisch
geredet, etwas wie Feig- und Falschheit? Unmoralisch geredet, eine Schlauheit?
O Sokrates, Sokrates, war das vielleicht dein Geheimnis? O geheimnisvoller Ironiker,
war dies vielleicht deine Ironie? (Ebd., 1886, S. 3-4).
Christentum
war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Überdruß
des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein »anderes«
oder »besseres« Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte.
Der Haß auf die »Welt«, der Fluch auf die Affekte, die Furcht
vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits
besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen ins Nichts, ans Ende, ins Ausruhen,
hin zum »Sabbat der Sabbate« dies alles dünkte mich, ebenso
wie der unbedingte Wille des Christentums, nur moralische Werte gelten
zu lassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste Form aller möglichen
Formen eines »Willens zum Untergang«, zum mindesten ein Zeichen tiefster
Erkrankung, Müdigkeit, Mißmutigkeit, Erschöpfung, Verarmung an
Leben, denn vor der Moral (insonderheit christlichen, das heißt unbedingten
Moral) muß das Leben beständig und unvermeidlich Unrecht bekommen,
weil Leben etwas essentiell Unmoralisches ist, muß endlich
das Leben, erdrückt unter dem Gewichte der Verachtung und des ewigen Neins,
als begehrens-unwürdig, als unwert an sich empfunden werden. (Ebd.,
1886, S. 10).Und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der
nicht vor langem noch den Willen zur Herrschaft über Europa, die Kraft zur
Führung Europas gehabt hatte, eben letztwillig und endgültig abdankte
und, unter dem pomphaften Vorwande einer Reichs-Begründung, seinen Übergang
zur Vermittelmäßigung, zur Demokratie und den »modernen Ideen«
machte! (Ebd., 1886, S. 12).Abseits freilich von allen übereilten
Hoffnungen und fehlerhaften Nutzanwendungen auf Gegenwärtigstes, mit denen
ich mir damals mein erstes Buch verdarb, bleibt das große dionysische Fragezeichen,
wie es darin gesetzt ist, auch in betreff der Musik, fort und fortbestehn: wie
müßte eine Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs
wäre, gleich der deutschen, sondern dionysischen?). |