Der Wille zur Macht (Versuch
einer Umwertung aller Werte)
ENTWORFEN
DEN 17. März 1887 ... (hrsg. postum; HB [ ]).

Vorrede
Was
ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. ....
Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden, denn die Notwendigkeit
selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses
Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft
sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Kultur bewegt sich
seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt:
einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der
Furcht davor hat, sich zu besinnen. (Ebd., S. 3).Der hier
das Wort nimmt, hat umgekehrt nichts bisher getan als sich zu besinnen:
als ein Philosoph und Einsiedler aus Instinkt, der seinen Vorteil im Abseits,
im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit
fand; als ein Wage- und Versucher-Geist, der sich schon in jedes Labyrinth der
Zukunft einmal verirrt hat; als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt,
wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europas,
der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, der ihn
hinter sich, unter sich, außer sich hat. (Ebd., S. 3-4).Denn
man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunfts-Evangelium
benannt sein will. »Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung
aller Werte« mit dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum
Ausdruck gebracht, in Absicht auf Prinzip und Aufgabe; eine Bewegung, welche in
irgendeiner Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn
aber voraussetzt, logisch und psychologisch; welche schlechterdings nur
auf ihn und aus ihm kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus
nunmehr notwendig? Weil unsre bisherigen Werte selbst es sind, die in ihm
ihre letzte Folgerung ziehn; weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik unsrer
großen Werte und Ideale ist, weil wir den Nihilismus erst erleben
müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Wert dieser »Werte«
war .... Wir haben, irgendwann, neue Werte nötig. (Ebd., S.
4).
1. Buch: Der europäische Nihilismus
Zum Plan
Es
ist ein Irrtum, auf »soziale Notstände« oder »physiologische
Entartungen« oder gar auf Korruption hinzuweisen als Ursache des
Nihilismus. Es ist die honnetteste, mitfühlendste Zeit. Not, seelische, leibliche,
intellektuelle Not ist an sich durchaus nicht vermögend, Nihilismus (d.h.
die radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Wünschbarkeit) hervorzubringen.
(Ebd., S. 7).Skepsis an der Moral ist das Entscheidende. Der Untergang
der moralischen Weltauslegung, die kein Sanktion mehr hat, nachdem sie versucht
hat, sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten, endet in Nihilismus. »Alles
hat keinen Sinn« .... (Ebd., S. 7).Die Undurchführbarkeit
einer Welauslegung, der ungeheure Kraft gewidmet worden ist, erweckt das Mißtrauen,
ob nicht alle Werteauslegungen falsch sind. Buddhistischer Zug, Sehensucht in's
Nichts. (Der indische Buddhismus hat nicht eine grundmoralische Entwickelung hinter
sich, deshalb ist bei ihm im Nihilismus nur unüberwundene Moral: Dasein als
Strafe, Dasein als Irrtum kombiniert, der Irrtum also die Strafe- eine moralische
Wertschätzung). Die philosophischen Versuche, den »moralischen Gott«
zu überwinden (Hegel, Pantheismus). Überwindung der volkstümlichen
Ideale: der Weise; der Heilige; der Dichter. Antagonismus von »wahr«
und »schön« und »gut«. (Ebd., S. 8).Die
nihilistischen Konsequenzen der jetzigen Naturwissenschaft (neben ihren Versuchen
ins Jenseitige zu entschlüpfen). Aus ihrem Betrieb folgt endlich eine
Selbstzersetzung, eine Wendung gegen sich, eine Anti-Wissenschaftlichkeit.
(Ebd., S. 8).Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins
x. (Ebd., S. 8).Die nihilistischen Konsequenzen der politischen
und volkswirtschaftlichen Denkweise, wo alle »Prinzipien« nachgerade
zur Schauspielerei gehören: der Hauch von Mittelmäßigkeit, Erbärmlichkeit
und Unaufrichtigkeit u.s.w.. Der Nationalismus. Der Anarchismus u.s.w.. Strafe.
Es fehlt der erlösende Stand und Mensch, die Rechtfertiger.
(Ebd., S. 8).Die nihilistischen Konsequenzen der Historie und der
»praktischen Historiker«, d.h. der Romantiker. Die Stellung
der Kunst: absulute Unorginalität ihrer Stellung in der modernen Welt. Ihre
Verdüsterung. Goethes angebliches Olympiertum. (Ebd., S. 9).Die
Kunst und die Vorbereitung des Nihilismus: Romantik (Wagners Nibelungen-Schluß).
(Ebd., S. 9).
1.1.1) Nihilismus als Konsequenz der bisherigen Wert-Interpretation des Daseins
Was
bedeutet Nihilismus? Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt
das Ziel, es fehl die Antwort auf das »Warum«. (Ebd., S. 10).Der
radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit
des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werte, die man anerkennt, handelt,
hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das geringste Recht haben,
ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen. Diese Einsicht ist
ein Folge der großgezogenen »Wahrhaftigkeit«, somit selbst eine
Folge des Glaubens an die Moral. (Ebd., S. 10).Unter den
Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit : diese
wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessierte
Betrachtung - und jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte
Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzutun, gerade als Stimulans.
(Ebd., S. 11).Die obersten Werte, in deren Dienst der Mensch leben
sollte, namentlich wenn sie sehr schwer und kostspielig über ihn verfügten,
diese sozialen Werte hat man zum Zweck ihrer Ton-Verstärkung,
wie als ob sie Kommandos Gottes wären, als »Realität«, als
»wahre« Welt, als Hoffnung und zukünftige Welt über
dem Menschen aufgebaut. Jetzt, wo die mesquine Herkunft dieser Werte klar wird,
scheint uns das All damit entwertet, »sinnlos« geworden, aber
das ist nur ein Zwischenzustand. (Ebd., S. 11-12).Die
nihilistische Konsequenz (der Glaube an die Wertlosigkeit) als Folge der
moralischen Wertschätzung: das Egoistische ist uns verleitet (selbst
nach Einsicht in die Unmöglichkeit des Unegoistischen). Das Notwendige
ist uns verleitet (selbst nach Einsicht in die Unmöglichkeit eines
liberum arbitrium einer »intelligiblen Freiheit«). Wir sehen,
daß wir die Sphäre, wohin wir unsere Werte gelegt haben nicht erreichen
- damit hat die andre Sphäre, in der wir leben noch keineswegs an
Wert gewonnen: im Gegenteil, wir sind müde, weil wir den Hauptantrieb verloren
haben. »Umsonst bisher« . (Ebd., S. 12).Hinfall
der kosmologischen WerteA.Der
Nihilismus als psychologischer Zustand wird eintreten müssen, erstens,
wenn wir einen »Sinn« in allem Geschehen gesucht haben, der nicht
darin ist: so daß der Sucher endlich den Mut verliert. Nihilismus ist dann
das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des »Umsonst«,
die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber
noch zu beruhigen die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange
betrogen .... Jener Sinn könnte gewesen sein: die »Erfüllung«
eines sittlichen höchsten Kanons in allem Geschehen, die sittliche Weltordnung;
oder die Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen; oder die Annäherung
an einen allgemeinen Glücks-Zustand; oder selbst das Losgehen auf einen allgemeinen
Nichts-Zustand ein Ziel ist immer noch ein Sinn. Das Gemeinsame aller dieser
Vorstellungsarten ist, daß ein Etwas durch den Prozeß selbst erreicht
werden soll: und nun begreift man, daß mit dem Werden nichts erzielt,
nichts erreicht wird. .... Also die Enttäuschung über einen angeblichen
Zweck des Werdens als Ursache des Nihilismus: sei es in Hinsicht auf einen
ganz bestimmten Zweck, sei es, verallgemeinert, die Einsicht in das Unzureichende
aller bisherigen Zweck-Hypothesen, die die ganze »Entwicklung« betreffen
( der Mensch nicht mehr Mitarbeiter, geschweige der Mittelpunkt des Werdens).Der
Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine
Ganzheit, eine Systematisierung, selbst eine Organisierung
in allem Geschehen und unter allem Geschehen angesetzt hat: so daß in der
Gesamtvorstellung einer höchsten Herrschafts-und Verwaltungsform die nach
Bewunderung und Verehrung durstige Seele schwelgt ( ist es die Seele eines
Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit und Realdialektik,
um mit allem zu versöhnen ...). Eine Art Einheit, irgendeine Form des »Monismus«:
und infolge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeitsgefühl
von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit. . .... »Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des einzelnen« ...,
aber siehe da, es gibt kein solches Allgemeines! Im Grunde hat der Mensch den
Glauben an seinen Wert verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich wertvolles
Ganzes wirkt: d. h. er hat ein solches Ganzes konzipiert, um an seinen Wert
glauben zu können.Der Nihilismus als
psychologischer Zustand hat noch eine dritte und letzte Form. Diese
zwei Einsichten gegeben, daß mit dem Werden nichts erzielt werden soll und
daß unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der einzelne
völlig untertauchen darf wie in einem Element höchsten Wertes: so bleibt
als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung
zu verurteilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als
wahre Welt. Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen
Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht
hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine
metaphysische Welt in sich schließt, welche sich den Glauben
an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt gibt man die Realität
des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichweg
zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten aber erträgt diese
Welt nicht, die man schon nicht leugnen will ....
Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Wertlosigkeit wurde erzielt,
als man begriff, daß weder mit dem Begriff »Zweck«, noch
mit dem Begriff »Einheit«, noch mit dem Begriff »Wahrheit«
der Gesamtcharakter des Daseins interpretiert werden darf. Es wird nichts damit
erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit
des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht »wahr«, ist falsch
..., man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden
.... Kurz: die Kategorien »Zweck«, »Einheit«, »Sein«,
mit denen wir der Welt einen Wert eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen
und nun sieht die Welt wertlos aus ....B.Gesetzt,
wir haben erkannt, inwiefern mit diesen drei Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt
werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns wertlos zu
werden anfängt: so müssen wir fragen, woher unser Glaube an diese drei
Kategorien stammt, versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen
den Glauben zu kündigen! Haben wir diese drei Kategorien entwertet,
so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All
zu entwerten. Resultat: Der Glaube
an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, wir haben
den Wert der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte
Welt beziehen. Schluß-Resultat:
Alle Werte, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen
gesucht haben und endlich ebendamit entwertet haben, als sie sich als unanlegbar
erwiesen alle diese Werte sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate
bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung
menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projiziert in
das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivität
des Menschen: sich selbst als Sinn und Wertmaß der Dinge anzusetzen.
(Ebd., S. 12-16).Was ist ein Glaube? Wie entsteht
er? Jeder Glaube ist ein Für-wahr-halten. Die extremste Form des Nihilismus wäre die Einsicht: daß jeder Glaube, jedes Für-wahr-halten notwenig falsch ist: weil
es eine wahre Welt gar nicht gibt. Also: ein perspektivischer Schein, dessen
Herkunft in uns liegt (insofern wir eine engere, verkürzte, vereinfachte
Welt nötig haben). Daß es das Maß der Kraft ist,
wie sehr wir uns die Scheinbarkeit, die Notwendigkeit der Lüge eingestehen
können, ohne zugrunde zu gehen. Insofern könnte Nihilismus, als Leugnung
einer wahrhaften Welt, eines Seins, eine göttliche Denkweise sein.
(Ebd., S. 17).Wenn wir »Enttäuschte« sind,
so sind wir es nicht in Hinsicht auf das Leben: sondern, daß uns über
die »Wünschbarkeiten« aller Art die Augen aufgegangen sind. Wir
sehen mit einem spöttischen Ingrimm dem zu, was »Ideal« heißt:
wir verachten uns nur darum, nicht zu jeder Stunde jene absurde Regung niederhalten
zu können, welche »Idealismus« heißt. Die Verwöhnung
ist stärker als der Ingrimm des Enttäuschten. (Ebd., S.
17).Inwiefern der Schopenhauersche Nihilismus immer noch die
Folge des gleichen Ideals ist, welches den christlichen Theismus geschaffen hat.
Der Grad von Sicherheit in betreff der höchsten Wünschbarkeit,
der höchsten Werte, der höchsten Vollkommenheit war so groß, daß
die Philosophen davon wie von einer absoluten Gewißheit a priori
ausgingen: »Gott« an der Spitze als gegebene Wahrheit. »Gott
gleich zu werden«, »in Gott aufzugehn« das waren jahrtausendelang
die naivsten und überzeugendsten Wünschbarkeiten ( aber eine Sache,
die überzeugt, ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß überzeugend.
Anmerkung für Esel). Man hat verlernt, jener Ansetzung von Idealen
auch die Personen-Realität zuzugestehen; man ward atheistisch. Aber
hat man eigentlich auf das Ideal verzichtet? Die letzten Metaphysiker suchen
im Grunde immer noch in ihm die wirkliche »Realität«, das »Ding
an sich«, im Verhältnis zu dem alles andere nur scheinbar ist. Ihr
Dogma ist, daß, weil unsre Erscheinungswelt so ersichtlich nicht der Ausdruck
jenes Ideals ist, sie eben nicht »wahr« ist und im Grunde nicht
einmal auf jene metaphysische Welt als Ursache zurückführt. Das Unbedingte,
sofern es jene höchste Vollkommenheit ist, kann unmöglich den Grund
für alles Bedingte abgeben. Schopenhauer, der es anders wollte, hatte nötig,
jenen metaphysischen Grund sich als Gegensatz zum Ideale zu denken, als »bösen,
blinden Willen«: dergestalt konnte er dann »das Erscheinende«
sein, das in der Welt der Erscheinung sich offenbart. Aber selbst damit gab er
nicht jenes Absolutum von Ideal auf er schlich sich durch .... (Kant schien
die Hypothese der »intelligiblen Freiheit« nötig, um das ens
perfectum von der Verantwortlichkeit für das So-und-So-sein dieser
Welt zu entlasten, kurz um das Böse und das Übel zu erklären: eine
skandalöse Logik bei einem Philosophen ...). (Ebd., S. 17-18).Jede
rein moralische Wertsetzung (wie z.B. die buddhistische) endet mit Nihilismus:
dies für Europa zu erwarten! Man glaubt mit einem Moralismus ohne religiösen
Hintergrund auszukommen: aber damit ist der Weg zum Nihilismus notwendig.
In der Religion fehlt der Zwang, uns als wertsetzend zu betrachten.
(Ebd., S. 19).Die Frage des Nihlismus »wozu?« geht
von der bisherigen Gewöhnung aus, vermöge deren das Ziel von außen
her gestellt, gegeben, gefordert schien nämlich durch irgend eine
übermenschliche Autorität. Nachdem man verlernt hat, an diese
zu glauben, sucht man doch nach alter Gewöhnung nach einer andern Autorität,
welche unbedingt zu reden wüßte und Ziele und Aufgaben befehlen
könnte. Die Autorität des Gewissens tritt jetzt in erste Linie (je mehr
emanzipiert von der Theologie, um so imperativischer wird die Moral) als Schadenersatz
für persönliche Autorität. Oder die Autorität der Vernunft.
Oder der soziale Instinkt (die Herde). Oder die Historie mit einem
immanenten Geist, welche ihr Ziel in sich hat und der man sich überlassen
kann. Man möchte herumkommen um den Willen, um das Wollen eines Ziels, um
das Risiko, sich selbst ein Ziel zu geben, man möchte die Verantwortung abwälzen
( man würde den Fatalismus akzeptieren). Endlich: Glück,
und, mit einiger Tartüfferie, das Glück der meisten.Man
sagt sich:1. ein bestimmtes Ziel ist gar nicht
nötig, 2. ist gar nicht möglich vorherzusehen.Gerade
jetzt, wo der Wille in der höchsten Kraft nötig wäre, ist
er am schwächsten und kleinmütigsten. Absolutes Mißtrauen
gegen die organisatorische Kraft des Willens fürs Ganze.
(Ebd., S. 19-20).Der vollkommene Nihilist. Das Auge
des Nihilisten idealisiert ins Häßliche, übt Untreue gegen
seine Erinnerungen : es läßt sie fallen, sich entblättern;
es schützt sie nicht gegen leichenblasse Verfärbungen, wie sie die Schwäche
über Fernes und Vergangenes gießt. Und was er gegen sich nicht übt,
das übt er auch gegen die ganze Vergangenheit der Menschheit nicht.
er läßt sie fallen. (Ebd., S. 20).Der Nihilismus
ist zweideutig:A. Nihilismus als Zeichen
der gesteigerten Macht des Geistes: der aktive Nihilismus.B.
Nihilismus als Niedergang, als Rückgang der Macht des Geistes: der
passive Nihilismus. (Ebd., S. 20).Der Nihilismus ist
nicht nur eine Betrachtsamkeit über das »Umsonst!«, und nicht
nur der Glaube, daß alles wert ist zugrunde zu gehen: man legt Hand an,
man richtet zugrunde .... Das ist, wenn man will, unlogisch: aber
der Nihilist glaubt nicht an die Nötigung, logisch zu sein .... Es ist der
Zustand starker Geister und Willen: und solchen ist es nicht möglich, bei
dem Nein »des Urteils« stehen zu bleiben: das Nein der Tat
kommt aus ihrer Natur. Der Ver-Nichtsung durch das Urteil sekundiert die Ver-Nichtsung
durch die Hand. (Ebd., S. 21-22).
1.1.2) Fernere Ursachen des Nihilismus
Ursachen
des Nihilismus: 1. Es fehlt die höhere
Spezies, d. h. die, deren unerschöpfliche Fruchtbarkeit und Macht den
Glauben an den Menschen aufrechterhält. (Man denke, was man Napoleon verdankt:
fast alle höheren Hoffnungen dieses Jahrhunderts.)2.
die niedere Spezies (»Herde«, »Masse«, »Gesellschaft«)
verlernt die Bescheidenheit und bauscht ihre Bedürfnisse zu kosmischen und
metaphysischen Werten auf. Dadurch wird das ganze Dasein vulgarisiert: insofern
nämlich die Masse herrscht, tyrannisiert sie die Ausnahmen, so daß
diese den Glauben an sich verlieren und Nihilisten werden.Alle
Versuche, höhere Typen auszudenken, manquiert (»Romantik«; der
Künstler, der Philosoph; gegen Carlyles Versuch, ihnen die höchsten
Moralwerte zuzulegen). Widerstand gegen höhere Typen als Resultat. Niedergang
und Unsicherheit aller höheren Typen. Der Kampf gegen das Genie (»Volkspoesie«
usw.). Mitleid mit den Niederen und Leidenden als Maßstab für die Höhe
der Seele.Es fehlt der Philosoph, der
Ausdeuter der Tat, nicht nur der Umdichter. (Ebd., S. 22-23).Der
unvollständige Nihilismus, seine Formen: wir leben mitten drin. Die
Versuche, dem Nihilismus zu entgehn, ohne die bisherigen Werte umzuwerten: bringen
das Gegenteil hervor, verschärfen das Problem. (Ebd., S. 23).Die
Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen müssen, zwei Jahrtausende lang
Christen gewesen zu sein: wir verlieren das Schwergewicht, das uns
leben ließ wir wissen eine Zeitlang nicht, wo aus, noch ein. Wir
stürzen jählings in die entgegengesetzten Wertungen, mit dem
Maße von Energie, das eben eine solche extreme Überwertung des
Menschen im Menschen erzeugt hat.Jetzt ist alles
durch und durch falsch, »Wort«, durcheinander, schwach oder überspannt:a)
man versucht eine Art von irdischer Lösung, aber im gleichen Sinne, in dem
des schließlichen Triumphs von Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit (der Sozialismus:
»Gleichheit der Person«);b) man versucht
ebenfalls das Moral-Ideal festzuhalten (mit dem Vorrang des Unegoistischen, der
Selbst-Verleugnung, der Willens- Verneinung);c)
man versucht selbst das »Jenseits« festzuhalten: sei es auch nur als
antilogisches x: aber man deutet es sofort so aus, daß eine Art metaphysischer
Trost alten Stils aus ihm gezogen werden kann;d)
man versucht die göttliche Leitung alten Stils, die belohnende, bestrafende,
erziehende, zum Besseren führende Ordnung der Dinge aus dem Geschehen herauszulesen;e)
man glaubt nach wie vor an Gut und Böse: so daß man den Sieg des Guten
und die Vernichtung des Bösen als Aufgabe empfindet ( das ist englisch:
typischer Fall der Flachkopf John Stuart Mill);f)
die Verachtung der »Natürlichkeit«, der Begierde, des ego:
Versuch, selbst die höchste Geistigkeit und Kunst als Folge einer Entpersönlichung
und als désintéressement zu verstehn;g)
man erlaubt der Kirche, sich immer noch in alle wesentlichen Erlebnisse und Hauptpunkte
des Einzellebens einzudrängen, um ihnen Weihe, höheren Sinn zu geben:
wir haben noch immer den »christlichen Staat«, die »christliche
Ehe« (Ebd., S. 24-25).Der moderne Pessimismus
ist ein Ausdruck von der Nutzlosigkeit der modernen Welt, nicht der Welt
und des Daseins. (Ebd., S. 27).Das Ȇbergewicht
von Leid über Lust« oder das Umgekehrte (der Hedonismus): diese
beiden Lehren sind selbst schon Wegweiser zum Nihilismus .... Denn hier wird in
beiden Fällen kein anderer letzter Sinn gesetzt als die Lust- oder Unlust-Erscheinung.
Aber so redet eine Art Mensch, die es nicht mehr wagt, einen Willen, eine Absicht,
einen Sinn zu setzen: für jede gesunde Art Mensch mißt sich
der Wert des Lebens schlechterdings nicht am Maße dieser Nebensachen. Und
ein Übergewicht von Leid wäre möglich und trotzdem ein mächtiger
Wille, ein Ja-sagen zum Leben; ein Nöthig-haben dieses Übergewichts.
»Das Leben lohnt sich nicht«; »Resignation«, »warum
sind die Tränen? ...« eine schwächliche und sentimentale
Denkweise. (Ebd., S. 27-28).Der philosophische Nihilist ist
der Überzeugung, daß alles Geschehen sinnlos und umsonstig ist; und
es sollte kein sinnloses und umsonstiges Sein geben. Aber woher dieses: Es sollte
nicht? Aber woher nimmt man diesen »Sinn«, dieses Maß?
Der Nihilist meint im Grunde, der Hinblick auf ein solches ödes, nutzloses
Sein wirke auf einen Philosophen unbefriedigend, öde, verzweifelt.
Eine solche Einsicht widerspricht unserer feineren Sensibilität als Philosophen.
Es läuft auf die absurde Wertung hinaus: der Charakter des Daseins müßte
dem Philosophen Vergnügen machen, wenn anders es zurecht bestehen soll
.... Nun ist leicht zu begreifen, daß Vergnügen und Unlust innerhalb
des Geschehens nur den Sinn von Mitteln haben können: es bliebe übrig
zu fragen, ob wir den »Sinn«, »Zweck« überhaupt sehen
könnten, ob nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegenteils für
uns unlösbar ist. (Ebd., S. 28).Entwicklung des Pessimismus
zum Nihilismus. Entnatürlichung der Werte. Scholastik der Werte.
Die Werte, losgelöst, idealistisch, statt das Tun zu beherrschen und zu führen,
wenden sich verurteilend gegen das Tun. Gegensätze eingelegt an Stelle der
natürlichen Grade und Ränge. Haß auf die Rangordnung. Die Gegensätze
sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäß, weil leichter faßlich.
Die verworfene Welt, angesichts einer künstlich erbauten »wahren, wertvollen«.
Endlich: man entdeckt, aus welchem Material man die »wahre Welt«
gebaut hat: und nun hat man nur die verworfene übrig und rechnet jene höchste
Enttäuschung mit ein auf das Konto ihrer Verwerflichkeit. Damit ist der Nihilismus
da: man hat die richtenden Werte übrigbehalten und nichts weiter!
Hier entsteht das Problem der Stärke und der Schwäche:1.
die Schwachen zerbrechen daran; 2. die Stärkeren
zerstören, was nicht zerbricht; 3. die Stärksten
überwinden die richtenden Werte.Das zusammen
macht das tragische Zeitalter aus. (Ebd., S. 28-29).
1.1.3) Die nihilistische Bewegung als Ausdruck der décadence
Begriff »décadence«.
- Der Abfall, Verfall, Ausschuß ist nichts, was an
sich zu verurteilen wäre: er ist eine notwendige Konsequenz des Lebens,
des Wachstums an Leben. Die Erscheinung der décadence ist so notwendig,
wie irgend ein Anfang und und Vorwärts des Lebens: man hat es nicht
in der Hand, sie abzuschaffen. Die Venunft will umgekehrt, daß
ihr ihr Recht wird. Es ist eine Schmach für alle sozialistischen
Systematiker, daß sie meinen, es könnte Umstände geben,
gesellschaftliche Kombinationen, unter denen das Laster, die Krankheit,
das Verbrechen, die Prostitution, die Not nicht mehr wüchse ....
Aber das heißt das Leben verurteilen .... Es steht einer Gesellschaft
nicht frei, jung zu bleiben. Und noch in ihrer besten Kraft muß
sie Unrat und Abfallstoffe bilden. Je energischer und kühner sie
vorgeht, um so reicher wird sie an Mißglückten, an Mißgebildeten
sein, um so näher dem Niedergang sein. .... Alter schafft man nicht
durch Institutionen ab. Die Krankheit auch nicht. Das Laster auch nicht.
(Ebd., S. 30-31).
Grundeinsicht über das Wesen der décadence: was
man bisher als deren Ursachen angesehen hat, sind deren Folgen. Damit
verändert sich die ganze Persprektive der moralischen Probleme. Der
ganze Moral-Kampf gegen Laster, Luxus, Verbrechen, selbst Krankheit erscheint
als Naivität, als überflüssig: es gibt keine »Besserung«
(gegen die Reue). Die décadence selbst ist nichts, was zu
bekämpfen wäre: sie ist absolut notwendig und jeder Zeit
und jedem Volk eigen. Was mit aller Kraft zu bekämpfen ist, das ist
die Einschleppung des Kontagiums in die gesunden Teile des Organismus.
Tut man das? Man tut das Gegenteil. Genau darum bemüht
man sich seitens der Humanität. Wir verhalten sich
zu dieser biologischen Grundfrage die bisherigen obersten Werte? Die Philosophie,
die Religion, die Moral, die Kunst u.s.w.. (Die Kur: z.B. Militarismus,
von Napoleon an, der in der Zivilisation seine natürliche Feindin
sah.) (Ebd., S. 31).
Was man bisher als Ursachen der Degeneration
ansah, sind deren Folgen. (Ebd., S. 31).
Was
sich vererbt, das ist nicht die Krankheit, sondern die Krankhaftigkeit:
die Unkraft im Widerstande gegen die Gefahr schädlicher Einwanderungen u.s.w.,
die gebrochene Widerstandskraft, moralisch ausgedrückt: die Resignation und
Demut vor dem Feinde. (Ebd., S. 35).Gesundheit und
Krankheit sind nicht wesentlich Verschiedenes, wie es die ... Mediziner
und ... einige Praktiker glauben. Man muß nicht distinkte Prinzipien oder
Entitäten daraus machen, die sich um den lebenden Organismus streiten und
aus ihm ihren Kampfplatz machen. Das ist albernes Zeug und Geschwätz, das
zu nichts ... taugt. Tatsächlich gibt es zwischen diesen beiden Arten des
Daseins nur Gradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonbie
der normalen Phänomene konstituieren den krankhaften Zustand. So gut »das
Böse« betrachtet werden kann als Übertreibung, Disharmonie,
Disproportion, so gut kann »das Gute« eine Schutzdiät
gegen die Gefahr der Übertreibung, Disharmonie und Disproportion sein.
(Ebd., S. 35).Man will Schwäche: warum? ..., meistens, weil
man notwendig schwach ist. Die Schwächung als Aufgabe. ....
(Ebd., S. 36).Theorie der Erschöpfung. Das Laster,
die Geisteskranken (resp. die Artisten...), die Verbrecher, die Anarchisten
das sind nicht die unterdrückten Klassen, sondern der Auswurf der bisherigen
Gesellschaft aller Klassen .... Mit der Einsicht, daß alle unsre Stände
durchdrungen sind von diesen Elementen, haben wir begriffen, daß die moderne
Gesellschaft keine »Gesellschaft«, kein »Körper«
ist, sondern ein krankes Konglomerat von Tschandalas eine Gesellschaft,
die die Kraft nicht mehr hat, zu exkretieren. Inwiefern durch das Zusammenleben
seit Jahrhunderten die Krankhaftigkeit viel tiefer geht:die
moderne Tugend | | } | als
Krankheits-Formen, | die moderne Geistigkeit | unsre
Wissenschaft. | (Ebd., S. 39).Der
Zustand der Korruption. Die Zusammengehörigkeit aller Korruptions-Formen
zu begreifen; und dabei nicht die christliche Korruption zu vergessen (Pascal
als Typus); ebenso die sozialistisch-kommunistische Korruption (eine Folge der
christlichen; -naturwissenschaftlich ist die höchste Sozietäts-Konzeption
der Sozialisten die niedrigste in der Rangordnung der Sozietäten); die »Jenseits«-Korruption:
wie als ob es außer der wirklichen Welt, der des Werdens, eine Welt des
Seienden gäbe. Hier darf es keinen Vertrag geben: hier muß man ausmerzen,
vernichten, Krieg führen, -man muß das christlich-nihilistische Wertmaß
überall noch herausziehn und es unter jeder Maske bekämpfen .., z.B.
aus der jetzigen Soziologie, aus der jetzigen Musik, aus dem jetzigen Pessimismus
(- alles Formen des christlichen Wertideals -). Entweder eins oder das andere
ist wahr: wahr, das heißt hier den Typus Mensch emporhebend. .... Der Priester,
der Seelsorger, als verwerfliche Daseinsformen. Die gesamte Erziehung bisher hilflos,
haltlos, ohne Schwergewicht, mit dem Widerspruch der Werte behaftet. (Ebd.,
S. 39-40).Nicht die Natur ist unmoralisch, wenn sie ohne Mitleid
für die Degenerierten ist: das Wachstum der physiologischen und moralischen
Übel im menschlichen Geschlecht ist umgekehrt die Folge einer krankhaften
und unnatürlichen Moral. Die Sensibilität der Mehrzahl der Menschen
ist krankhaft und unnatürlich. Woran hängt es, daß die Menschheit
korrupt ist in moralischer und physiologischer Beziehung? Der Leib geht
zugrunde, wenn ein Organ alteriert ist. Man kann nicht das Recht des Altruismus
auf die Physiologie zurückführen, ebensowenig das Recht auf Hilfe, auf
Gleichheit der Lose: das sind alles Prämien für die Degenerierten und
Schlechtweggekommenen. Es gibt keine Solidarität in einer Gesellschaft,
wo es unfruchtbare, unproduktive und zerstörerische Elemente gibt: die übrigens
noch entartetere Nachkommen haben werden, als sie selbst sind. (Ebd., S.
40).Es gibt eine tiefe und vollkommen unbewußte wirkung der
décadence selbst auf die Ideale der Wissenschaft: unsre ganze Soziologie
ist der Beweis für diesen Satz. Ihr bleibt vorzuwerfen, daß sie nur
das Verfalls-Gebilde der Sozietät aus Erfahrung kennt und unvermeidlich
die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des soziologischen Urteils nimmt. Das
niedersinkende Leben im jetzigen Europa formuliert in ihnen seine Gesellschafts-Ideale
: sie sehen alle zum Verwechseln dem Ideal alter überlebter Rassen ähnlich.
.... Der Herdeninstinkt sodann - eine jetzt souverän gewordene Macht
- ist etwas Grundverschiedenes vom Instinkt einer aristokratischen Sozietät:
und es kommt auf den Wert der Einheiten an, was die Summe zu bedeuten hat
.... Unsre ganze Soziologie kennt gar keinen andern Instinkt als den der Herde,
d.h. der summierten Nullen, - wo jede Null »gleiche Rechte« hat, wo
es tugendhaft ist, Null zu sein .... Die Wertung, mit der heute die verschiedenen
Formen der Sozietät beurteilt werden, ist ganz und gar eins mit jener, welche
dem Frieden einen höheren Wert zuerteilt als dem Krieg: aber dies
Urteil ist antibiologisch, ist selbst eine Ausgeburt der décadence
des Lebens. .... Das Leben ist eine Folge des Kriegs, die Gesellschaft selbst
ein Mittel zum Krieg. .... Herr Herbert Spencer ist als Biologe ein décadent,
- er ist es auch als Moralist (er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswertes!!!).
(Ebd., S. 41).Ich habe das Glück, nach ganzen Jahrtausenden
der Verirrung und Verwirrung den Weg wiedergefunden zu haben, der zu einem Ja
und einem Nein führt. Ich lehre das Nein zu allem, was schwach macht, was
erschöpft. Ich lehre das Ja zu allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert,
was das Gefühl der Kraft rechtfertigt. Man hat weder das eine noch das andre
bisher gelehrt: man hat Tugend, Entselbstung, Mitleiden, man hat selbst Verneinung
des Lebens gelehrt .... Dies sind alles Werthe der Erschöpften. Ein langes
Nachdenken über die Physiologie der Erschöpfung zwang mich zu der Frage,
wie weit die Urteile Erschöpfter in die Welt der Werte eingedrungen seien.
Mein Ergebnis war so überraschend wie möglich, selbst für mich,
der in mancher fremden Welt schon zu Hause war: ich fand alle obersten Werturteile,
alle, die Herr geworden sind über die Menschheit, mindestens zahm gewordene
Menschheit, zurückführbar auf die Urteile Erschöpfter. Unter den
heiligsten Namen zog ich die zerstörerischen Tendenzen heraus; man hat Gott
genannt, was schwächt, Schwäche lehrt, Schwäche infiziert ...,
ich fand, daß der »gute Mensch« eine Selbstbejahungsform der
décadence ist. Jene Tugend, von der noch Schopenhauer gelehrt hat,
daß sie die oberste, die einzige und das Fundament aller Tugenden sei: eben
jenes Mitleiden erkannte ich als gefährlicher als irgendein Laster. Die Auswahl
in der Gattung, ihre Reinigung vom Abfall grundsätzlich kreuzen das
hieß bisher Tugend par excellence .... Man soll das Verhängnis
in Ehren halten, das Verhöängnis, das zum Schwachen sagt »geh
zugrunde!« Man hat es Gott genannt, daß man dem Verhängnis widerstrebte,
daß man die Menschheit verdarb und verfaulen machte .... Man soll
den Namen Gottes nicht unnützlich führen .... Die Rasse ist verdorben
nicht durch ihre Laster, sondern ihre Ignoranz: sie ist verdorben, weil
sie die Erschöpfung nicht als Erschöpfung verstand: die physiologischen
Verwechslungen sind die Ursache alles Übels .... Die Tugend ist unser großes
Mißverständnis. Problem: wie kamen die Erschöpften dazu, die Gesetze
der Werte zu machen? Anders gefragt: wie kamen die zur Macht, die die Letzten
sind? ... Erkenne die Geschichte! Wie kommt der Instinkt des Tieres Mensch auf
den Kopf zu stehn? ... (Ebd., S. 41-43).
1.1.4) Die Krisis: Nihilismus und Wiederkunftsgedanke
Extreme
Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum
durch extreme, aber umgekehrte. Und so ist der Glaube an die absolute Immoralität
der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit der psychologisch-notwendige Affekt,
wenn der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten
ist. Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer
wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen »Sinn«
im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation
ging zugrunde: weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob
es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei. (Ebd., S. 43).Daß
dies »Umsonst!« der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus
ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Wertschätzungen
steigert sich bis zur Frage: »sind nicht alle Werte Lockmittel,
mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer
Lösung näherkommt?« Die Dauer, mit einem »Umsonst«,
ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch,
wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht ist, sich nicht
foppen zu lassen. (Ebd., S. 43-44).Denken wir diesen Gedanken
in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber
unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: »die ewige Wiederkehr«.
Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das »Sinnlose«)
ewig! Europäische Form des Buddhismus: Energie des Wissens und der Kraft
zwingt zu einem solchen Glauben. Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen
Hypothesen. Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte
es erreicht sein. (Ebd., S. 44).Da begreift man, daß
hier ein Gegensatz zum Pantheismus angestrebt wird: denn »alles vollkommen,
göttlich, ewig« zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die »ewige
Wiederkunft«. Frage: ist mit der Moral auch diese pantheistische Ja-Stellung
zu allen Dingen unmöglich gemacht? Im Grunde ist ja nur der moralische Gott
überwunden. Hat es einen Sinn, sich einen Gott »jenseits von Gut und
Böse« zu denken? Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich?
Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem
den Prozeß? Das wäre der Fall, wenn etwas innerhalb jenes Prozesses
in jedem Momente desselben erreicht würde und immer das Gleiche. Spinoza
gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Notwendigkeit
hat: und er triumphierte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche
Weltbeschaffenheit. (Ebd., S. 44-45).Aber sein Fall ist nur
ein Einzel-Fall. Jeder Grundcharakterzug, der jedem Geschehen zugrunde
liegt, der sich in jedem Geschehen ausdrückt, müßte, wenn er von
einem Individuum als sein Grundcharakterzug empfunden würde, dieses Individuum
dazu treiben, triumphierend jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gutzuheißen.
Es käme eben darauf an, daß man diesen Grundcharakterzug bei sich als
gut, wertvoll, mit Lust empfindet. (Ebd., S. 45).Nun hat
die Moral das Leben vor der Verzweiflung und dem Sprung ins Nichts bei solchen
Menschen und Ständen geschützt, welche von Menschen vergewalttätigt
und niedergedrückt wurden: denn die Ohnmacht gegen Menschen, nicht die Ohnmacht
gegen die Natur, erzeugt die desperateste Verbitterung gegen das Dasein. Die Moral
hat die Gewalthaber, die Gewalttätigen, die »Herren« überhaupt
als die Feinde behandelt, gegen welche der gemeine Mann geschützt, das heißt
zunächst ermutigt, gestärkt werden muß. Die Moral hat folglich
am tiefsten hassen und verachten gelehrt, was der Grundcharakterzug der Herrschenden
ist: ihren Willen zur Macht. Diese Moral abschaffen, leugnen, zersetzen: das wäre
den bestgehaßten Trieb mit einer umgekehrten Empfindung und Wertung ansehen.
Wenn der Leidende, Unterdrückte den Glauben verlöre, ein Recht zu seiner
Verachtung des Willens zur Macht zu haben, so träte er in das Stadium der
hoffnungslosen Desperation. Dies wäre der Fall, wenn dieser Zug dem Leben
essentiell wäre, wenn sich ergäbe, daß selbst in jenem Willen
zur Moral nur dieser »Wille zur Macht« verkappt sei, daß auch
jenes Hassen und Verachten noch ein Machtwille ist. Der Unterdrückte sähe
ein, daß er mit dem Unterdrücker auf gleichem Boden steht und daß
er kein Vorrecht, keinen höheren Rang vor jenem habe. (Ebd.,
S. 45-46).Vielmehr umkehrt! Es gibt nichts am Leben, was Wert hat,
außer dem Grade der Macht gesetzt eben, daß Leben selbst der
Wille zur Macht ist. Die Moral behütete die Schlechtweggekommenen vor Nihilismus,
indem sie jedem einen unendlichen Wert, einen metaphysischen Wert beimaß
und in eine Ordnung einreihte, die mit der der weltlichen Macht und Rangordnung
nicht stimmt: sie lehrte Ergebung, Demut usw.. Gesetzt, daß der Glaube
an diese Moral zugrunde geht, so würden die Schlechtweggekommenen ihren
Trost nicht mehr haben und zugrunde gehn. (Ebd., S. 46).Das
Zugrunde-gehen präsentiert sich als ein Sich-zugrunde-richten, als
ein instinktives Auslesen dessen, was zerstören muß. Symptome
dieser Selbstzerstörung der Schlechtweggekommenen: die Selbstvivisektion,
die Vergiftung, Berauschung, Romantik, vor allem die instinktive Nötigung
zu Handlungen, mit denen man die Mächtigen zu Todfeinden macht (
gleichsam sich seine Henker selbst züchtend), der Wille zur Zerstörung
als Wille eines noch tieferen Instinkts, des Instinkts der Selbstzerstörung,
des Willens ins Nichts. (Ebd., S. 46).Nihilismus,
als Symptom davon, daß die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben:
daß sie zerstören, um zerstört zu werden, daß sie, von der
Moral abgelöst, keinen Grund mehr haben, »sich zu ergeben«
daß sie sich auf den Boden des entgegengesetzten Prinzips stellen und auch
ihrerseits Macht wollen, indem sie die Mächtigen zwingen, ihre Henker
zu sein. Dies ist die europäische Form des Buddhismus, das Nein-tun, nachdem
alles Dasein seinen »Sinn« verloren hat. (Ebd., S. 47).Die
»Not« ist nicht etwa größer geworden: im Gegenteil! »Gott,
Moral, Ergebung« waren Heilmittel, auf furchtbar tiefen Stufen des Elends:
der aktive Nihilismus tritt bei relativ viel günstiger gestalteten
Verhältnissen auf. Schon daß die Moral als überwunden empfunden
wird, setzt einen ziemlichen Grad geistiger Kultur voraus; diese wieder ein relatives
Wohlleben. Eine gewisse geistige Ermüdung, durch den langen Kampf philosophischer
Meinungen bis zur hoffnungslosesten Skepsis gegen Philosophie gebracht, kennzeichnet
ebenfalls den keineswegs niederen Stand jener Nihilisten. Man denke an
die Lage, in der Buddha auftrat. Die Lehre der ewigen Wiederkunft würde gelehrte
Voraussetzungen haben (wie die Lehre Buddhas solche hatte, zum Beispiel Begriff
der Kausalität usw.). (Ebd., S. 47).Was heißt
jetzt »schlechtweggekommen«? Vor allem physiologisch: nicht
mehr politisch. Die ungesundeste Art Mensch in Europa (in allen Ständen)
ist der Boden dieses Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft
als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut:
nicht passiv auslöschen, sondern alles auslöschen machen, was in diesem
Grade sinn- und ziellos ist: obwohl es nur ein Krampf, ein blindes Wüten
ist bei der Einsicht, daß alles seit Ewigkeiten da war auch dieser
Moment von Nihilismus und Zerstörungslust. Der Wert einer solchen
Krisis ist, daß sie reinigt, daß sie die verwandten
Elemente zusammendrängt und sich aneinander verderben macht, daß sie
den Menschen entgegengesetzter Denkweisen gemeinsame Aufgaben zuweist auch
unter ihnen die schwächeren, unsichreren ans Licht bringend und so zu einer
Rangordnung der Kräfte, vom Gesichtspunkt der Gesundheit, den Anstoß
gibt: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende. Natürlich
abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen. (Ebd., S. 47-48).Welche
werden sich als die Stärksten dabei erweisen? Die Mäßigsten, die,
welche keine extremen Glaubenssätze nötig haben, die, welche einen guten
Teil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehn, sondern lieben, die, welche vom Menschen
mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Wertes denken können,
ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den
meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten
Menschen, die ihrer Macht sicher sind und die die erreichte Kraft des Menschen
mit bewußtem Stolze repräsentieren. Wie dächte ein solcher
Mensch an die ewige Wiederkunft? (Ebd., S. 48).Perioden
des europäischen Nihilismus.Die Periode
der Unklarheit, der Tentativen aller Art, das Alte zu konservieren und das
Neue nicht fahren zu lassen.Die Periode der
Klarheit: man begreift, daß Altes und Neues Grundgegensätze sind:
die alten Werte aus dem niedergehenden, die neuen aus dem aufsteigenden Leben
geboren , daß alle alten Ideale lebensfeindliche Ideale sind
(aus der décadence geboren und die décadence bestimmend, wie sehr
auch im prachtvollen Sonntags-Aufputz der Moral). Wir verstehen das Alte und sind
lange nicht stark genug zu einem Neuen.Die Periode
der drei großen Affekte: der Verachtung, des Mitleids, der Zerstörung.Die
Periode der Katastrophe: die Heraufkunft einer Lehre, welche die Menschen
aussiebt ... welche die Schwachen zu Entschlüssen treibt und ebenso die Starken.
(Ebd., S. 49). 1.2)
Zur Geschichte des europäischen Nihilismus |
1.2.1) Die moderne Verdüsterung
Zur
Geschichte der modernen Verdüsterung.Die
Staats-Nomaden (Beamte usw.): ohne »Heimat« .Der
Niedergang der Familie.Der »gute Mensch«
als Symptom der Erschöpfung.Gerechtigkeit
als Wille zur Macht (Züchtung).Geilheit
und Neurose.Schwarze Musik: die erquickliche
Musik wohin?Der Anarchist.Menschenverachtung,
Ekel.Tiefste Unterscheidung: ob der Hunger oder
der Überfluß schöpferisch wird? Ersterer erzeugt die Ideale der
Romantik. Nordische Unnatürlichkeit.Das
Bedürfnis nach Alcoholica: die Arbeiter »Not«.Der
philosophische Nihilismus. (Ebd., S. 51).Das langsame Hervortreten
und Emporkommen der mittleren und niederen Stände (eingerechnet der niederen
Art Geist und Leib), welches schon vor der Französischen Revolution reichlich
präludiert und ohne Revolution ebenfalls seinen Weg vorwärts gemacht
hätte, im ganzen also das Übergewicht der Herde über alle
Hirten und Leithämmel bringt mit sich:1.
Verdüsterung des Geistes ( das Beieinander eines stoischen und frivolen
Anscheins von Glück, wie es vornehmen Kulturen eigen ist, nimmt ab; man läßt
viele Leiden sehn und hören, welche man früher ertrug und verbarg);2.
die moralische Hypokrisie (eine Art, sich durch Moral auszeichnen zu wollen, aber
durch die Herden-Tugenden: Mitleid, Fürsorge, Mäßigung und nicht
durch solche, die außer dem Herden-Vermögen erkannt und gewürdigt
werden);3. eine wirkliche große Menge von
Mitleiden und Mitfreude (das Wohlgefallen im großen Beieinander, wie es
alle Herdentiere haben »Gemeinsinn«, »Vaterland«,
alles, wo das Individuum nicht in Betracht kommt). (Ebd., S. 51-52).Im
großen gerechnet, ist in unsrer jetzigen Menschheit ein ungeheures Quantum
von Humanität erreicht. Daß ies im allgemeinen nicvht empfunden
wird, ist selber ein Beweis dafür: wir sind für die kleinen Notstände
so empfindlich geworden, daß wir das, was erreicht ist, unbillig übersehen.
(Ebd., S. 53).Der zweite Buddhismus. Die nihilistische Katastrophe,
die mit der indischen Kultur ein Ende machte - Vorzeichen dafür: Das Überhandnehmen
des Mitleids. Die geistige Übermüdung. Die Reduktion der Probleme auf
Lust- und Unlust-Fragen. (Ebd., S. 54).Was heute am tiefsten
angegriffen ist, das ist der Instinkt und der Wille der Tradition: alle Institutionen,
die diesem Instinkt ihre Herkunft verdanken, gehen dem modernen Geiste wider den
Geschmack... Im Grunde denkt und tut man nichts, was nicht den Zweck verfolgte,
diesen Sinn für Überlieferung mit den Wurzeln herauszureißen.
Man nimmt die Tradition als Fatalität: man studiert sie, man erkennt sie
an (als »Erblichkeit« ), aber man will sie nicht. Die Anspannung
eines Willens über lange Zeitfernen hin, die Auswahl der Zustände und
Wertungen, welche es machen, daß man über Jahrhunderte der Zukunft
verfügen kann das gerade ist im höchsten Maße antimodern.
Woraus sich ergibt, daß die desorganisierenden Prinzipien unserem
Zeitalter den Charakter geben. (Ebd., S. 54).Nihilistischer
Zug.a) In den Naturwissenschaften (»Sinnlosigkeit«
); Kausalismus, Mechanismus. Die »Gesetzmäßigkeit«
ein Zwischenakt, ein Überbleibsel.b) Insgleichen
in der Politik: es fehlt einem der Glaube an sein Recht, die Unschuld; es herrscht
die Lügnerei, die Augenblicks-Dienerei.c)
Insgleichen in der Volkswirtschaft: die Aufhebung der Sklaverei: Mangel eines
erlösenden Standes, eines Rechtfertigers, Heraufkommen des Anarchismus.
»Erziehung«? d) Insgleichen in der
Geschichte: der Fatalismus, der Darwinismus; die letzten Versuche, Vernunft und
Göttlichkeit hineinzudeuten, mißraten. Sentimentalität vor der
Vergangenheit; man ertrüge keine Biographie! (Der Phänomenalismus
auch hier: Charakter als Maske; es gibt keine Tatsachen.)e)
Insgleichen in der Kunst: Romantik und ihr Gegenschlag (Widerwille gegen die romantischen
Ideale und Lügen).Letzterer, moralisch, als Sinn größerer Wahrhaftigkeit,
aber pessimistisch. Die reinen »Artisten« (gleichgültig gegen
den Inhalt). (Beichtvater-Psychologie und Puritaner-Psychologie, zwei Formen der
psychologischen Romantik: aber auch noch ihr Gegenschlag, der Versuch, sich rein
artistisch zum »Menschen« zu stellen, auch da wird noch nicht
die umgekehrte Wertschätzung gewagt!) (Ebd., S. 56-57).Henrik
Ibsen ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem »Willen zur Wahrheit«
hat er sich nicht von dem Moral-Illusionismus frei zu machen gewagt, welcher »Freiheit
sagt und nicht sich eingestehen will, was Freiheit ist: die zweite Stufe in der
Metamorphose des »Willens zur Macht« seitens derer, denen sie fehlt.
In der ersten verlangt man Gerechtigkeit. Auch von Seiten derer, welche die Macht
haben. Auf der zweiten sagt man »Freiheit«, d.h. man will loskommen
von denen, welche die Macht haben. Auf der dritten sagt man »gleiche Rechte«,
d.h. man will, so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber
hindern, in der Macht zu wachsen. (Ebd., S. 63-64).Fortschritt.
Daß wir uns nicht täuschen! Die Zeit läuft vorwärts
wir möchten glauben, daß auch alles, was in ihr ist, vorwärts
läuft, daß die Entwicklung eine Vorwärts-Entwicklung ist
.... Das ist der Augenschein, von dem die Besonnensten verführt werden. Aber
das neunzehnte Jahrhundert ist kein Fortschritt gegen das sechzehnte: und der
deutsche Geist von 1888 ist ein Rückschritt gegen den deutschen Geist von
1788 .... Die »Menschheit« avanciert nicht, sie existiert nicht einmal.
Der Gesamt-Aspekt ist der einer ungeheuren Experimentier-Werkstätte, wo einiges
gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißrät,
wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt. Wie dürften
wir verkennen, daß die Heraufkunft des Christentums eine décadence-Bewegung
ist? .... Daß die deutsche Reformation eine Rekrudeszenz der christlichen
Barbarei ist?... Daß die Revolution den Instinkt zur großen Organisation
der Gesellschaft zerstört hat? .... Der Mensch ist kein Fortschritt gegen
das Tier: der Kultur-Zärtling ist eine Mißgeburt im Vergleich zum Araber
und Korsen; der Chinese ist ein wohlgeratener Typus, nämlich dauerfähiger,
als der Europäer .... (Ebd., S. 65).
1.2.2) Die letzten Jahrhunderte
Die
Denkweise Hegels ist von der Goetheschen nicht sehr entfernt: man höre Goethe
über Spinoza. Wille zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens, um in
seinem Anschauen und Ergründen Ruhe und Glück zu finden;
Hegel sucht Vernunft überall,-vor der Vernunft darf man sich ergeben
und bescheiden. Bei Goethe eine Art von fast freudigem und vertrauendem
Fatalismus, der nicht revoltiert, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität
zu bilden sucht, im Glauben, daß erst in der Totalität Alles sich erlöst,
als gut und gerechtfertigt erscheint. (Ebd., S. 72).Gegen
Rousseau. Der Mensch ist leider nicht mehr böse genug; die Gegner
Rousseaus, welche sagen, »der Mensch ist ein Raubtier«, haben leider
nicht recht. Nicht die Verderbnis des Menschen, sondern seine Verzärtlichung
und Vermoralisierung ist der Fluch. In der Sphäre, welche von Rousseau am
heftigsten bekämpft wurde, war gerade die relativ noch starke und
wohlgeratene Art Mensch ( die, welche noch die großen Affekte ungebrochen
hatte: Wille zur Macht, Wille zum Genuß, Wille und Vermögen zu kommandieren).
Man muß den Menschen des 18. Jahrhunderts mit dem Menschen der Renaissance
vergleichen (auch dem des 17. Jahrhunderts in Frankreich), um zu spüren,
worum es sich handelt: Rousseau ist ein Symptom der Selbstverachtung und der erhitzten
Eitelkeit beides Anzeichen, daß es am dominierenden Willen fehlt:
er moralisiert und sucht die Ursache seiner Miserabilität als Rankune-Mensch
in den herrschenden Ständen. (Ebd., S. 73).Rousseau:
die Regel gründend auf das Gefühl; die Natur als Quelle der Gerechtigkeit;
der Mensch vervollkommnet sich in dem Maße, in dem er sich der Natur
nähert ( nach Voltaire in dem Maße, in dem er sich von der
Natur entfernt). Dieselben Epochen für den einen die des Fortschritts
der Humanität, für den andern Zeiten der Verschlimmerung von
Ungerechtigkeit und Ungleichheit. .... Bei Rousseau unzweifelhaft die Geistesstörung,
bei Voltaire eine ungewöhnliche Gesundheit und Leichtigkeit. .... Romantik
á la Rousseau: die Leidenschaft (» das souveräne Recht der
Passion«), die »Natürlichkeit«; die Faszination der Verrücktheit
(die Narrheit zur Größe gerechnet); die unsinnige Eitelkeit des Schwachen;
die Pöbel-Rankune als Richterin (»in der Politik hat man seit
hundert Jahren einen Kranken als Führer genommen«). (Ebd., S.
74-76).Die beiden großen Tentativen, die gemacht worden
sin, das 18. Jahrhundert zu überwinden:Napoleon,
indem er den Mann, den Soldaten und den großen Kampf umd Macht wieder aufweckte
Europa als politische Einheit konzipierend;Goethe,
indem er eine europäische Kultur imaginierte, die die volle Erbschaft der
schon erreichten Humanität macht.Die
deutsche Kultur dieses Jahrhunderts erweckt Mißtrauen in der Musik
fehlt jenes volle, erlösende und bindende Element Goethe (Ebd.,
S. 78).Wagner resümiert die Romantik,
die deutsche und die französische (Ebd., S. 79).
1.2.3) Anzeichen der Erstarkung
Grundsatz:
es gibt etwas von Verfall in allem, was den modernen Menschen anzeigt: aber dicht
neben der Krankheit stehen Anzeichen einer unerprobten Kraft und Mächtigkeit
der Seele. Dieselben Gründe, welche die Verkleinerung der Menschen hervorbringen,
treiben die Stärkeren und Seltneren bis hinauf zur Größe.
(Ebd., S. 81).Gesamt-Einsicht: der zweideutige Charakter unserer
modernen Welt - eben dieselben Symptome können auf Niedergang
und auf Stärke deuten. Und die Abzeichen der Stärke, der errungenen
Mündigkeit könnten auf Grund überlieferter (zurückgebliebener)
Gefühls-Abwerthung als Schwäche mißverstanden
werden. Kurz, das Gefühl, als Wert-Gefühl,
ist nicht auf der Höhe der Zeit. Verallgemeinert:
Das Wertgefühl ist immer rückständig, es drückt
Erhaltungs-, Wachstums-Beziehungen einer viel frühren Zeit aus: es kämpft
gegen neue Daseins-Bedingungen an, aus denen es nicht gewachsen ist und die es
nothwendig mißversteht, mißtrauisch ansehen lehrt usw.: es hemmt,
es weckt Argwohn gegen das Neue .... (Ebd., S. 81).Das
Problem des neunzehnten Jahrhunderts. Ob seine starke und schwache Seite zueinander
gehören? Ob es aus einem Holze geschnitzt ist? Ob die Verschiedenheit seiner
Ideale und deren Widerspruch in einem höheren Zwecke bedingt ist: als etwas
Höheres Denn es könnte die Vorbestimmung zur Größe
sein, in diesem Maße in heftiger Spannung zu wachsen. Die Unzufriedenheit,
der Nihilismus könnte ein gutes Zeichen sein. (Ebd., S. 82).Gesamt-Einsicht.
Tatsächlich bringt jedes große Wachstum auchein ungeheures
Abbröckeln und Vergehen mit sich: das Leiden, die Symptome des Niedergangs
gehören in die Zeiten ungeheuren Vorwärtsgehens; jede fruchtbare und
mächtige Bewegung der Menschheit hat zugleich eine nihilistische Bewegung
mitgeschaffen. Es wäre unter Umständen das Anzeichen für
ein einschneidendes und allerwesentliches Wachstum, für den Übergang
in neue Daseinsbedingungen, daß die extremste Form des Pessimismus.
der eigentliche Nihilismus, zur Welt käme. Dies habe ich begriffen.
(Ebd., S. 82).A. Von einer vollen herzhaften Würdigung
unsrer jetzigen Menschheit auszugehen: sich nicht durch den Augenschein
täuschen lassen: diese Menschheit ist weniger »effektvoll«, aber
sie gibt ganz andere Garantien der Dauer, ihr Tempo ist langsamer, aber
der Takt selbst ist viel reicher. Die Gesundheit nimmt zu, die wirklichen
Bedingungen des starken Leibes werden erkannt und allmählich geschaffen,
der »Asketismus« ironice . Die Scheu vor Extremen, ein
gewisses Zutrauen zum »rechten Weg«, keine Schwärmerei; ein zeitweiliges
Sich-Einleben in engere Werte (wie »Vaterland«, wie »Wissenschaft«
usw.). Dies ganze Bild wäre aber immer noch zweideutig: es
könnte eine aufsteigende oder aber eine absteigende Bewegung des Lebens
sein.B. Der Glaube an den »Fortschritt«
in der niederen Sphäre der Intelligenz erscheint er als aufsteigendes
Leben: aber das ist Selbsttäuschung; in der höheren Sphäre der
Intelligenz als absteigendes. Schilderung der Symptome. Einheit des Gesichtspunktes:
Unsicherheit in betreff der Wertmaße. Furcht vor einem allgemeinen »Umsonst«.
Nihilismus. (Ebd., S. 82-83).Tatsächlich haben wir ein
Gegenmittel gegen den ersten Nihilismus nicht mehr so nötig: das Leben ist
nicht mehr dermaßen ungewiß, zufällig, unsinnig in unserem Europa.
Eine solch ungeheure Potenzierung vom Wert des Menschen, vom Wert des Übels
usw. ist jetzt nicht so nötig, wir ertragen eine bedeutende Ermäßigung
dieses Wertes, wir dürfen viel Unsinn und Zufall einräumen: die erreichte
Macht des Menschen erlaubt jetzt eine Herabsetzung der Zuchtmittel, von denen
die moralische Interpretation das stärkste war. »Gott« ist eine
viel zu extreme Hypothese. (Ebd., S. 83).Wenn irgend etwas
unsere Vermenschlichung, einen wahren tatsächlichen Fortschritt bedeutet,
so ist es,daß wir keine exzessiven Gegensätze, überhaupt keine
Gegensätze mehr brauchen .... Wir dürfen die Sinne lieben, wir haben
sie in jedem Grade vergeistigt und artistisch gemacht; wir haben ein Recht auf
alle die Dinge, die am schlimmsten bisher verrufen waren. (Ebd.,
S. 83-84).Die Umkehrung der Rangordnung. Die frommen
Falschmünzer, die Priester, werden unter uns zu Tschandalas: sie nehmen
die Stellung der Scharlatane, der Quacksalber, der Falschmünzer, der Zauberer
ein: wir halten sie für Willens-Verderber, für die großen Verleumder
und Rachsüchtigen des Lebens, für die Empörer unter den Schlechtweggekommenen.
Wir haben aus der Dienstboten-Kaste, den Sudras, unsern Mittelstand gemacht, unser
»Volk«, das, was die politische Entscheidung in den Händen hat.
Dagegen ist der Tschandala von ehemals obenauf: voran die Gotteslästerer,
die Immoralisten, die Freizügigen jeder Art, die Artisten, die Juden, die
Spielleute im Grunde alle verrufenen Menschenklassen . Wir haben
uns zu ehrenhaften Gedanken emporgehoben, mehr noch, wir bestimmen die
Ehre auf Erden, die »Vornehmheit«... Wir alle sind heute die Fürsprecher
des Lebens . Wir Immoralisten sind heute die stärkste Macht: die
großen andern Mächte brauchen uns... wir konstruieren die Welt nach
unserm Bilde . Wir haben den Begriff »Tschandala« auf die Priester,
Jenseits-Lehrer und die mit ihnen verwachsene christliche Gesellschaft
übertragen, hinzugenommen was gleichen Ursprungs ist, die Pessimisten,
Nihilisten, Mitleids-Romantiker, Verbrecher, Lasterhaften die gesamte Sphäre,
wo der Begriff »Gott« als Heiland imaginiert wird .... Wir sind stolz
darauf, keine Lügner mehr sein zu müssen, keine Verleumder, keine Verdächtiger
des Lebens .... (Ebd., S. 84-85).Fortschritt des neunzehnten
Jahrhunderts gegen das achtzehnte ( im Grunde führen wir guten Europäer
einen Krieg gegen das achtzehnte Jahrhundert ):1.
»Rückkehr zur Natur« immer entschiedener im umgekehrten Sinne
verstanden, als es Rousseau verstand; weg vom Idyll und der Oper!2.
immer entschiedener antiidealistisch, gegenständlicher, furchtloser, arbeitsamer,
maßvoller, mißtrauischer gegen plötzliche Veränderungen,
antirevolutionär;3. immer entschiedener
die Frage der Gesundheit des Leibes der »der Seele« voranstellend:
letztere als einen Zustand infolge der ersteren begreifend, diese mindestens als
die Vorbedingung der Gesundheit der Seele. (Ebd., S. 85).Wenn
irgend etwas erreicht ist, so ist es ein harmloseres Verhalten zu den Sinnen,
eine freudigere, wohlwollendere, Goetheschere Stellung zur Sinnlichkeit; insgleichen
eine stolzere Empfindung in betreff des Erkennens: so daß der »reine
Tor« wenig glauben findet. (Ebd., S. 85).Die Vernatürlichung
des Menschen im 19. Jahrhundert (das 18. Jahrhundert ist das der Eleganz,
der Feinheit und der généreux sentiments). >Nicht Rückkehr
zur Natur: denn es gab noch niemals eine natürliche Menschheit. Die
Scholastik un- und widernatürlicher Werte ist die Regel, ist der Anfang;
zur Natur kommt der Mensch nach langem Kampfe er kehrt nie »zurück«
.... Die Natur: d.h. es wagen, unmoralisch zu sein wie die Natur. Wir sind gröber,
direkter, voller Ironie gegen genereuse Gefühle, selbst wenn wir ihnen unterliegen.Natürlicher
ist unsere erste Gesellschaft, die der Reichen, der Müßgen:
man macht Jagd auseinander, die Geschlechtsliebe ist eine Art Sport, bei dem die
Ehe ein Hindernis und einen Reiz abgiebt; man unterhält sich und lebt um
des Vergnügens willen; man schätzt die körperlichen Vorzüge
in erster Linie, man ist neugierig und gewagt.Natürlicher
ist unsere Stellung zur Erkenntnis: wir haben die Libertinage des Geistes
in aller Unschuld, wir hassen die pathetischen und hieratischen Manieren, wir
ergötzen uns am Verbotensten, wir wüßten kaum noch ein Interesse
der Erkenntnis, wenn wir uns auf dem Wege zu ihr zu langweilen hätten.Natürlicher
ist unsere Stellung zur Moral. Prinzipien sind lächerlich geworden;
niemand erlaubt sich ohne Ironie mehr von seiner Pflicht zu reden.
Aber man schätzt eine hilfreiche wohlwollende Gesinnung ( man sieht
im Instinkt die Moral und dedaignirt den Rest. Außerdem ein paar Ehrenpunkts-Begriffe
).Natürlicher ist unsere Stellung
in politicis: wir sehen Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen ein
anderes Quantum. Wir glauben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht ruht,
sich durchzusetzen: wir empfinden alle Rechte als Eroberungen.Natürlicher
ist unsere Schätzung großer Menschen und Dinge: wir rechnen
die Leidenschaft als ein Vorrecht, wir finden nichts groß, wo nicht ein
großes Verbrechen einbegriffen ist; wir konzipieren alles Groß-sein
als ein Sich-außerhalb-stellen in Bezug auf Moral.Natürlicher
ist unsere Stellung zur Natur: wir lieben sie nicht mehr um ihrer »Unschuld«
»Vernunft« »Schönheit« willen, wir haben sie hübsch
»verteufelt« und »verdummt«. Aber statt sie darum zu verachten,
fühlen wir uns seitdem verwandter und heimischer in ihr. Sie aspirirt nicht
zur Tugend: wir achten sie deshalb.Natürlicher
ist unsere Stellung zur Kunst: wir verlangen nicht von ihr die schönen
Scheinlügen usw.; es herrscht der brutale Positivismus, welcher konstatiert,
ohne sich zu erregen.In summa: es gibt
Anzeichen dafür, daß der Europäer des 19. Jahrhunderts sich weniger
seiner Instinkte schämt; er hat einen guten Schritt dazu gemacht, sich einmal
seine unbedingte Natürlichkeit d.h. seine Unmoralität einzugestehn,
ohne Erbitterung: im Gegenteil, stark genug dazu, diesen Anblick allein
noch auszuhalten. Dies klingt in gewissen Ohren, wie als ob die Korruption
fortgeschritten wäre: und gewiß ist, daß der Mensch sich nicht
der »Natur« angenähert hat, von der Rousseau redet,
sondern einen Schritt weiter in der Zivilisation, welche er perhorreszierte.
Wir haben uns verstärkt: wir sind dem 17. Jahrhundert wieder näher gekommen,
dem Geschmack seines Endes namentlich .... (Ebd., S. 87-88).Kultur
contra Zivilisation. Die Höhepunkte der Kultur und der Zivilisation
liegen auseinander: man soll sich über den abgründlichen Antagonismus
von Kultur und Zivilisation nicht irreführen lassen. Die großen Momente
der Kultur waren immer, moralisch geredet, Zeiten der Korruption; und wiederum
waren die Epochen der gewollten und erzwungenen Tierzähmung des Menschen
(»Zivilisation« ) Zeiten der Unduldsamkeit für die geistigsten
und kühnsten Naturen. Zivilisation will etwas anderes, als Kultur will: vielleicht
etwas Umgekehrtes .... (Ebd., S. 88-89).Wovor ich warne:
die décadence-Instinkte nicht mit Humanität zu verwechseln:
die auflösenden und notwendig zu décadence treibenden Mittel der
Zivilisation nicht mit der Kultur zu verwechseln; die Libertinage,
das Prinzip der »laisser aller«, nicht mit dem Willen zur
Macht zu verwechseln ( er ist dessen Gegenprinzip). (Ebd., S.
89).Die unerledigten Probleme, die ich neu stelle: das Problem
der Zivilisation, der Kampf zwischen Rousseau und Voltaire um 1760. Der Mensch
wird tiefer, mißtrauischer, »unmoralischer«, stärker, sich-selbst-vertrauender
und insofern »natürlicher«: das ist »Fortschritt«.
Dabei legen sich, durch eine Art von Arbeitsteilung, die verböserten
Schichten und die gemilderten, gezähmten auseinander: so daß die Gesamttatsache
nicht ohne weiteres in die Augen springt .... Es gehört zur Stärke,
zur Selbstbeherrschung und Faszination der Stärke, daß diese stärkeren
Schichten die Kunst besitzen, ihre Verböserung als etwas Höheres empfinden
zu machen. Zu jedem »Fortschritt« gehört eine Umdeutung der verstärkten
Elemente ins »Gute«. (Ebd., S. 89).Daß
man den Menschen den Mut zu ihren Naturtrieben wiedergibt . (Ebd.,
S. 90).Fortschritt zur »Natürlichkeit«:
in allen politischen, auch im Verhältnis von Parteien, selbst von merkantilen
oder Arbeiter- oder Unternehmer-Parteien. handelt es sich um Machtfragen
, »was man kann«, und erst daraufhin, was man soll. (Ebd.,
S. 90).Der Sozialismus als die zu Ende gedachte Tyrannei
der Geringsten und Dümmsten, der Oberflächlichen, der Neidischen und
der Dreiviertels-Schauspieler ist in der Tat die Schlußfolgerung
der »modernen Ideen« und ihres latenten Anarchismus: aber in der lauen
Luft eines demokratischen Wohlbefindens erschlafft das Vermögen, zu Schlüssen
oder gar zum Schluß zu kommen. Man folgt, aber man folgert
nicht mehr. Deshalb ist der Sozialismus im Ganzen eine hoffnungslose, säuerliche
Sache; und nichts ist lustiger anzusehen als der Widerspruch zwischen den giftigen
und verzweifelten Gesichtern, welche heute die Sozialisten machen und von
was für erbärmlichen gequetschten Gefühlen legt gar ihr Stil Zeugnis
ab! und dem harmlosen Lämmer-Glück ihrer Hoffnungen und Wünschbarkeiten.
Dabei kann es doch an vielen Orten Europas ihrerseits zu gelegentlichen Handstreichen
und Überfällen kommen: dem nächsten Jahrhundert wird es hie und
da gründlich im Leibe »rumoren,« und die Pariser Kommune, welche
auch in Deutschland ihre Schutzredner und Fürsprecher hat (z.B. in dem philosophischen
Grimassen-Schneider und Sumpfmolch E[ugen] D[ühring] in Berlin), war vielleicht
nur eine leichtere Unverdaulichkeit gemessen an dem, was kommt. Trotzdem wird
es immer zuviel Besitzende geben, als daß der Sozialismus mehr bedeuten
könnte als einen Krankheits-Anfall: und diese Besitzenden sind wie Ein Mann
Eines Glaubens »man muß etwas besitzen, um etwas zu sein.« Dies
aber ist der älteste und gesündeste aller Instinkte: ich würde
hinzufügen »man muß mehr haben wollen als man hat, um mehr zu
werden.« So nämlich klingt die Lehre, welche allem, was lebt,
durch das Leben selber gepredigt wird: die Moral der Entwicklung. Haben und mehr
haben wollen, Wachstum mit einem Wort das ist das Leben selber.
In der Lehre des Sozialismus versteckt sich schlecht ein »Wille zur Verneinung
des Lebens«; es müssen mißratene Menschen oder Rassen sein, welche
eine solche Lehre ausdenken. In der Tat, ich wünschte, es würde durch
einige große Versuche bewiesen, daß in einer sozialistischen Gesellschaft
das Leben sich selber verneint, sich selber die Wurzeln abschneidet. Die Erde
ist groß genug, und der Mensch immer noch unausgeschöpft genug, als
daß mir eine derart praktische Belehrung und demonstratio ad absurdum,
selbst wenn sie mit einem ungeheuren Aufwand von Menschenleben gewonnen und bezahlt
würde, nicht wünschenswert erscheinen müßte. Immerhin, schon
als unruhiger Maulwurf unter dem Boden einer in die Dummheit rollenden Gesellschaft
wird der Sozialismus etwas Nützliches und Heilsames sein können: er
verzögert den »Frieden auf Erden« und die gänzliche Vergutmütigung
des demokratischen Herdentieres, er zwingt die Europäer, Geist, nämlich
List und Vorsicht übrig zu behalten, den männlichen und kriegerischen
Tugenden nicht gänzlich abzuschwören und einen Rest von Geist, von Klarheit,
Trockenheit und Kälte des Geistes übrig zu behalten, er schützt
Europa einstweilen vor dem ihm drohenden marasmus femininus. (Ebd.,
S. 90-92).Die günstigsten Hemmungen und Remeduren der Modernität:1.
die allgemeine Wehrpflicht mit wirklichen Kriegen, bei denen der Spaß
aufhört;2. die nationale Borniertheit
(vereinfachend, konzentrierend);3. die verbesserte
Ernährung (Fleisch); 4. die zunehmende
Reinlichkeit und Gesundheit der Wohnstätten;5.
die Vorherrschaft der Physiologie über Theologie, Moralistik, Ökonomie
und Politik;6. die militärische Strende
in der Forderung und Handhabung seiner »Schuldigkeit« (man lobt
nicht mehr ...). (Ebd., S. 92).Die Verkleinerung und Regierbarkeit
der Menschen wird als »Fortschritt« erstrebt! (Ebd., S. 93).
2. Buch: Kritik der bisherigen höchsten Werte
All die Schönheit
und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben,
will ich zurückfordern als Eigenthum und Erzeugnis des Menschen: als seine
schönste Apologie. Der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott, als Liebe,
als Macht: o über seine königliche Freigebigkeit, womit er die Dinge
beschenkt hat, um sich zu verarmen und sich elend zu fühlen! Das ist
seine größte Selbstlosigkeit, daß er bewunderte und anbetete
und sich zu verbergen wußte, daß er es war, der das geschaffen hat,
was er bewunderte. (Ebd., S. 99).
2.1.1) Zur Entstehung der Religionen
Der
unfreie Wille bedarf eines fremden Willens. (Ebd., S. 101).Der
Mensch hat alle seine starken und erstaunlichen Momente nicht gewagt, sich zuzurechnen,
er hat sie als »passiv«, als »erlitten«, als Überwältigungen
konzipiert: die Religion ist eine Ausgeburt eines Zweifels an der Einheit
der Person, eine altération der Persönlichkeit: insofern alles Große
und Starke vom Menschen als übermenschlich, als fremd konzipiert
wurde, verkleinerte sich der Mensch, er legte die zwei Seiten, eine sehr
erbärmliche und schwache und eine sehr starke und erstaunliche in zwei Sphären
auseinander, hieß die erste »Mensch«, die zweite »Gott«.
(Ebd., S. 101).Er hat das immer fortgesetzt. Er hat, in der Periode
der moralischen Idiosynkrasie seine hohen und sublimen Moral-Zustände
nicht als »gewollt«, als »Werk« der Person ausgelegt.
Auch der Christ legt seine Person in eine mesquine und schwache Fiktion, die er
Mensch nennt, und eine andere, die er Gott (Erlöser, Heiland) nennt, auseinander.
(Ebd., S. 101-102).Die Religion hat den Begriff
»Mensch« erniedrigt; ihre extreme Konsequenz ist, daß alles
Gute, Große, Wahre übermenschlich ist und nur durch eine Gnade geschenkt
.... (Ebd., S. 102).Ein Weg, den Menschen
aus seiner Erniedrigung zu ziehen, welche der Abgang der hohen und starken Zustände,
wie als fremder Zustände, mit sich brachte, war die Verwandtschafts-Theorie.
Diese hohen und starken Zustände konnten wenigstens als Einwirkungen unserer
Vorfahren ausgelegt werden, wir gehörten zueinander, solidarisch,
wir wachsen in unseren eigenen Augen, indem wir nach uns bekannter Norm handeln.
(Ebd., S. 102).Versuch, vornehmer Familien, die Religion mit ihrem
Selbstgefühl auszugleichen. Dasselbe tun die Dichter und Seher, sie
fühlen sich stolz, gewürdigt und auserwählt zu sein zu solchem
Verkehre, sie legen Wert darauf, als Individuen gar nicht in Betracht zu
kommen, bloße Mundstücke zu sein (Homer). (Ebd., S. 102).Schrittweises
Besitz-ergreifen von seinen hohen und stolzen Zuständen, Besitz-ergreifen
von seinen Handlungen und Werken. Ehedem glaubte man sich zu ehren, wenn man für
die höchsten Dinge, die man tat, sich nicht verantwortlich wußte, sondern
Gott die Unfreiheit des Willens galt als das, was einer Handlung
einen höheren Wert verlieh: damals war ein Gott zu ihrem Urheber gemacht.
(Ebd., S. 102).Die Priester sind die Schauspieler
von irgend etwas Übermenschlichem, dem sie Sinnfälligkeit zu geben haben,
sei es von Idealen, sei es von Göttern oder von Heilanden; darin finden sie
ihren Beruf, dafür haben sie ihre Instinkte; um es so glaubwürdig wie
möglich zu machen, müssen sie in der Anähnlichung so weit wie möglich
gehen; ihre Schauspieler-Klugheit muß vor allem das gute Gewissen
bei ihnen erzielen, mit Hilfe dessen erst wahrhaft überredet werden kann.
(Ebd., S. 103).Der Priester will durchsetzen,
daß er als höchster Typus des Menschen gilt, daß er herrscht,
auch noch über die, welche die Macht in den Händen haben, daß
er unverletztlich ist, unangreifbar , daß er die stärkste Macht
in der Gemeinde ist, absolut nicht zu ersetzen und zu unterschätzen. Mittel:
er allein ist der Wissende; er allein ist der Tugendhafte; er
allein hat die höchste Herrschaft über sich; er allein ist in
einem gewissen Sinne Gott und geht zurück in die Gottheit; er allein ist
die Zwischenperson zwischen Gott und den andern; die Gottheit straft jeden
Nachteil, jeden Gedanken wider einen Priester gerichtet. Mittel: die Wahrheit
existiert. Es gibt nur eine Form, sie zu erlangen: Priester werden. Alles, was
gut ist, in der Ordnung, in der Natur, in dem Herkommen, geht auf die Weisheit
der Priester zurück. Das Heilige Buch ist ihr Werk. Die ganze Natur ist nur
eine Ausführung der Satzungen darin. Es gibt keine andere Quelle des Guten
als den Priester. Alle andere Art von Vortrefflichkeit ist rangverschieden von
der des Priesters, z.B. die des Kriegers. Konsequenz: wenn der Priester
der höchste Typus sein soll, so muß die Gradation zu seinen Tugenden
die Wertgradation der Menschen ausmachen. Das Studium, die Entsinnlichung,
das Nicht-Aktive, das Impassible, Affektlose, das Feierliche;
Gegensatz: die tiefste Gattung Mensch. Der Priester hat eine Art Moral
gelehrt: um selbst als höchster Typus empfunden zu werden. Er konzipiert
einen Gegensatz-Typus: den Tschandala. Diesen mit allen Mitteln verächtlich
zu machen, gibt die Folie ab für die Kasten-Ordnung. Die extreme Angst
des Priesters vor der Sinnlichkeit ist zugleich bedingt durch die Einsicht, daß
hier die Kasten-Ordnung (das heißt die Ordnung überhaupt) am schlimmsten
bedroht ist .... Jede »freiere Tendenz« in puncto puncti (d.h.:
hisnischtlich der Keuschheit; HB)
wirft die Ehegesetzgebung über den Haufen. (Ebd., S. 103-104).Der
Philosoph als Weiter-Entwicklung des priesterlichen Typus:
hat dessen Erbschaft im Leibe; ist, selbst noch als Rivale, genötigt,
um dasselbe mit denselben Mitteln zu ringen wie der Priester seiner Zeit;
er aspiriert zur höchsten Autorität. Was gibt Autorität,
wenn man nicht die physische Macht in den Händen hat (keine Heere, keine
Waffen überhaupt ...)? Wie gewinnt man namentlich die Autorität über
die, welche die physische Gewalt und die Autorität besitzen? (Sie konkurrieren
mit der Ehrfurcht vor dem Fürsten, vor dem siegreichen Eroberer, dem weisen
Staatsmann.) Nur indem sie den Glauben erwecken, eine höhere stärkere
Gewalt in den Händen zu haben Gott . Es ist nichts stark
genug: man hat die Vermittlung und die Dienste der Priester nötig. Sie stellen
sich als unentbehrlich dazwischen: sie haben als Existenzbedingung nötig:
1. daß an die absolute Überlegenheit
ihres Gottes, daß an ihren Gott geglaubt wird,2.
daß es keine andern, keine direkten Zugänge zu Gott gibt.Die
zweite Forderung allein schafft den Begriff der »Heterodoxie«;
die erste den des »Ungläubigen« (d.h. der an einen andern
Gott [oder gar keinen; HB]
glaubt ). (Ebd., S. 104-105).Kritik
der heiligen Lüge. Daß zu frommen Zwecken die Lüge
erlaubt ist, das gehört zur Theorie aller Priesterschaften wie weit
es zu ihrer Praxis gehört, soll der Gegenstand dieser Untersuchung sein.Aber
auch die Philosophen, sobald sie mit priesterlichen Hinterabsichten die Leitung
der Menschen in die Hand zu nehmen beabsichtigen, haben sofort auch sich ein Recht
zur Lüge zurechtgemacht: Plato voran. Am großartigsten ist die doppelte
durch die typischarischen Philosophen des Vedânta entwickelte: zwei Systeme,
in allen Hauptpunkten widersprüchlich, aber aus Erziehungszwecken sich ablösend,
ausfüllend, ergänzend. Die Lüge des einen soll einen Zustand schaffen,
in dem die Wahrheit des andern erst hörbar wird ....Wie
weit geht die fromme Lüge der Priester und der Philosophen? Man muß
hier fragen, welche Voraussetzungen zur Erziehung sie haben, welche Dogmen sie
erfinden müssen, um diesen Voraussetzungen genugzutun?Erstens:
sie müssen die Macht, die Autorität, die unbedingte Glaubwürdigkeit
auf ihrer Seite haben.Zweitens: sie müssen
den ganzen Naturverlauf in Händen haben, so daß alles, was den einzelnen
trifft, als bedingt durch ihr Gesetz erscheint.Drittens:
sie müssen auch einen weiter reichenden Machtbereich haben, dessen Kontrolle
sich den Blicken ihrer Unterworfenen entzieht: das Strafmaß für das
Jenseits, das »Nach-dem-Tode« wie billig auch die Mittel, zur
Seligkeit den Weg zu wissen. Sie haben
den Begriff des natürlichen Verlaufs zu entfernen: da sie aber kluge und
nachdenkliche Leute sind, so können sie eine Menge Wirkungen versprechen,
natürlich als bedingt durch Gebete oder durch strikte Befolgung ihres Gesetzes.
Sie können insgleichen eine Menge Dinge verordnen, die absolut
vernünftig sind, nur daß sie nicht die Erfahrung, die Empirie
als Quelle dieser Weisheit nennen dürfen, sondern eine Offenbarung oder die
Folge »härtester Bußübungen«.Die
heilige Lüge bezieht sich also prinzipiell: (a)
auf den Zweck der Handlung ( der Naturzweck, die Vernunft wird unsichtbar
gemacht: ein Moral-Zweck, eine Gesetzeserfüllung, eine Gottesdienstlichkeit
erscheint als Zweck ): (b) auf die Folge
der Handlung ( die natürliche Folge wird als übernatürliche
ausgelegt, und, um sichrer zu wirken, es werden unkontrollierbare andre, übernatürliche
Folgen in Aussicht gestellt).Auf diese Weise
wird ein Begriff von Gut und Böse geschaffen, der ganz und gar losgelöst
von dem Naturbegriff »nützlich«, »schädlich«,
»lebenfördernd«, »lebenvermindernd« erscheint
er kann, insofern ein anderes Leben erdacht ist, sogar direkt feindselig
dem Naturbegriff von Gut und Böse werden.Auf
diese Weise wird endlich das berühmte »Gewissen« geschaffen:
eine innere Stimme, welche bei jeder Handlung nicht den Wert der Handlung an ihren
Folgen mißt, sondern in Hinsicht auf die Absicht und Konformität dieser
Absicht mit dem »Gesetz«.Die heilige
Lüge hat also 1. einen strafenden und belohnenden Gott erfunden,
der exakt das Gesetzbuch der Priester anerkennt und exakt sie als seine Mundstücke
und Bevollmächtigten in die Welt schickt; 2. ein Jenseits des Lebens,
in dem die große Straf-Maschine erst wirksam gedacht wird zu diesem
Zwecke die Unsterblichkeit der Seele; 3. das Gewissen im
Menschen, als das Bewußtsein davon, daß Gut und Böse feststeht
daß Gott selbst hier redet, wenn es die Konformität mit der
priesterlichen Vorschrift anrät; 4. die Moral als Leugnung
alles natürlichen Verlaufs, als Reduktion alles Geschehens auf ein moralisch-bedingtes
Geschehen, die Moralwirkung (d. h. die Straf- und Lohn-Idee) als die Welt durchdringend,
als einzige Gewalt, als creator von allem Wechsel; 5. die Wahrheit
als gegeben, als geoffenbart, als zusammenfallend mit der Lehre der Priester:
als Bedingung alles Heils und Glücks in diesem und jenem Leben.In
summa: womit ist die moralische Besserung bezahlt? Aushängung
der Vernunft, Reduktion aller Motive auf Furcht und Hoffnung (Strafe und
Lohn); Abhängigkeit von einer priesterlichen Vormundschaft, von einer
Formalien-Genauigkeit, welche den Anspruch macht, einen göttlichen Willen
auszudrücken; die Einpflanzung eines »Gewissens«, welches ein
falsches Wissen an Stelle der Prüfung und des Versuchs setzt: wie als ob
es bereits feststünde, was zu tun und was zu lassen wäre eine
Art Kastration des suchenden und vorwärtsstrebenden Geistes; in
summa: die ärgste Verstümmelung des Menschen, die man sich
vorstellen kann, angeblich als der »gute Mensch«.In
praxi ist die ganze Vernunft, die ganze Erbschaft von Klugheit, Feinheit,
Vorsicht, welche die Voraussetzung des priesterlichen Kanons ist, willkürlich
hinterdrein auf eine bloße Mechanik reduziert: die Konformität
mit dem Gesetz gilt bereits als Ziel, als oberstes Ziel, das Leben hat keine
Probleme mehr; die ganze Welt-Konzeption ist beschmutzt mit der Strafidee;
das Leben selbst ist, mit Hinsicht darauf, das priesterliche Leben
als das non plus ultra der Vollkommenheit darzustellen, in eine Verleumdung
und Beschmutzung des Lebens umgedacht; der Begriff »Gott« stellt
eine Abkehr vom Leben, eine Kritik, eine Verachtung selbst des Lebens dar;
die Wahrheit ist umgedacht als die priesterliche Lüge, das Streben
nach Wahrheit als Studium der Schrift, als Mittel, Theolog zu werden
.... (Ebd., S. 105-108).Zur Kritik
des Manu-Gesetzbuches. Das ganze Buch ruht auf der heiligen Lüge.
Ist es das Wohl der Menschheit, welches dieses ganze System inspiriert hat? Diese
Art Mensch, welche an die Interessiertheit jeder Handlung glaubt, war sie interessiert
oder nicht, dieses System durchzusetzen? Die Menschheit zu verbessern woher
ist diese Absicht inspiriert? Woher ist der Begriff des Bessern genommen? Wir
finden eine Art Mensch, die priesterliche, die sich als Norm, als Spitze,
als höchsten Ausdruck des Typus Mensch fühlt: von sich aus nimmt sie
den Begriff des »Bessern«. Sie glaubt an ihre Überlegenheit,
sie will sie auch in der Tat: die Ursache der heiligen Lüge ist der Wille
zur Macht .... Aufrichtung der Herrschaft: zu diesem Zwecke die Herrschaft
von Begriffen, welche in der Priesterschaft ein non plus ultra von Macht
ansetzen. Die Macht durch die Lüge in Einsicht darüber, daß
man sie nicht physisch, militärisch besitzt .... Die Lüge als Supplement
der Macht ein neuer Begriff der »Wahrheit«. Man irrt sich,
wenn man hier unbewußte und naive Entwicklung voraussetzt, eine Art
Selbstbetrug... Die Fanatiker sind nicht die Erfinder solcher durchdachten Systeme
der Unterdrückung .... Hier hat die kaltblütigste Besonnenheit gearbeitet;
dieselbe Art Besonnenheit, wie sie ein Plato hatte, als er sich seinen »Staat«
ausdachte. »Man muß die Mittel wollen, wenn man das Ziel will«
über diese Politiker-Einsicht waren alle Gesetzgeber bei sich klar.
Wir haben das klassische Muster als spezifisch arisch: wir dürfen also die
bestausgestattete und besonnenste Art Mensch verantwortlich machen für die
grundsätzlichste Lüge, die je gemacht worden ist .... Man hat das nachgemacht,
überall beinahe: der arische Einfluß hat alle Welt verdorben
.... (Ebd., S. 108-109).Im arischen
Gesetzbuch reinster Rasse, im Manu, ist ... Priester-Geist
schlimmer als irgendwo. (Ebd., S. 109).Die
Entwicklung des jüdischen Priesterstaates ist nicht original: sie haben das
Schema in Babylon kennengelernt: das Schema ist arisch. Wenn dasselbe später
wieder, unter dem Übergewicht des germanischen Blutes, in Europa dominierte,
so war dies dem Geiste der herrschenden Rasse gemäß: ein großer
Atavismus. Das germanische Mittelalter war auf Wiederherstellung der arischen
Kasten-Ordnung aus. (Ebd., S. 109).Der
Mohammedanismus hat wiederum vom Christentum gelernt: die Benutzung des »Jenseits«
als Straf-Organ. (Ebd., S. 109).Das Schema eines unveränderlichen
Gemeinwesens, mit Priestern an der Spitze dieses älteste große
Kultur-Produkt Asiens im Gebiete der Organisation muß natürlich
in jeder Beziehung zum Nachdenken und Nachmachen aufgefordert haben. Noch
Plato: aber vor allen die Ägypter. (Ebd., S. 109-110).Die
Moralen und Religionen sind die Hauptmittel, mit denen man aus den
Menschen gestalten kann, was einem beliebt: vorausgesetzt, daß man einen
Überschuß von schaffenden Kräften hat und seinen Willen über
lange Zeiträume durchsetzen kann. (Ebd., S. 110).Wie
eine ja-sagende arische Religion, die Ausgeburt der herrschenden
Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Manus. (Die Vergöttlichung des Machtgefühls
im Brahmanen: interessant, daß es in der Krieger-Kaste entstanden und erst
übergegangen ist auf die Priester.) (Ebd., S. 110).Wie
eine ja-sagende semitische Religion, die Ausgeburt der herrschenden
Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Mohammeds, das alte Testament in den älteren
Teilen. (Der Mohammedanismus, als eine Religion für Männer,
hat eine tiefe Verachtung für die Sentimentalität und Verlogenheit des
Christentums ..., einer Weibs-Religion, als welche er sie fühlt .)
(Ebd., S. 110).Wie eine nein-sagende semitische Religion,
die Ausgeburt der unterdrückten Klasse, aussieht: das neue Testament
( nach indisch-arischen Begriffen: eine Tschandala-Religion).
(Ebd., S. 110).Wie eine nein-sagende
arische Religion, gewachsen unter den herrschenden Ständen: der Buddhismus.
(Ebd., S. 110).Es ist vollkommen in Ordnung,
daß wir keine Religion unterdrückter arischer Rassen haben:
denn das ist ein Widerspruch: eine Herrenrasse ist obenauf oder geht zugrunde.
(Ebd., S. 110-111).An sich hat eine Religion nichts mit der Moral
zu tun: aber die beiden Abkömmlinge der jüdischen Religion sind beide
wesentlich moralische Religionen solche, die Vorschriften darüber
geben, wie gelebt werden soll und mit Lohn und Strafe ihren Forderungen Gehör
schaffen. (Ebd., S. 111).Heidnisch
christlich. Heidnisch ist das Jasagen zum Natürlichen,
das Unschuldsgefühl im Natürlichen, »die Natürlichkeit«.
Christlich ist das Neinsagen zum Natürlichen, das Unwürdigkeits-Gefühl
im Natürlichen, die Widernatürlichkeit. (Ebd., S. 111).»Unschuldig«
ist z.B. Petronius: ein Christ hat im Vergleich mit diesem Glücklichen ein
für allemal die Unschuld verloren. Da aber zuletzt auch der christliche
Status bloß ein Naturzustand sein muß, sich aber nicht als solchen
begreifen darf, so bedeutet »christlich« eine zum Prinzip erhobene
Falschmünzerei der psychologischen Interpretation .... (Ebd.,
S. 111).Der christliche Priester ist von Anfang an der Todfeind
der Sinnlichkeit: man kann sich keinen größeren Gegensatz denken, als
die unschuldig ahnungsvolle und feierliche Haltung, mit der z.B. in den ehrwürdigsten
Frauenkulten Athens die Gegenwart der geschlechtlichen Symbole empfunden wurde.
Der Akt der Zeugung ist das Geheimniß an sich in allen nicht-asketischen
Religionen: eine Art Symbol der Vollendung und der geheimnißvollen Absicht,
der Zukunft: der Wiedergeburt, Unsterblichkeit. (Ebd., S. 111-112).Die
große Lüge in der Historie: als ob es die Verderbnis
des Heidentums gewesen wäre, die dem Christentum die Bahn gemacht habe! Aber
es war die Schwächung und Vermoralisierung des antiken Menschen! Die
Umdeutung der Naturtriebe in Laster war schon vorhergegangen! (Ebd.,
S. 112).Buddha gegen den Gekreuzigten.
Innerhalb der nihilistischen Bewegung darf man immer noch die christliche
und die buddhistische scharf auseinander halten: die buddhistische
drückt einen schönen Abend aus, eine vollendete Süßigkeit
und Milde, es ist Dankbarkeit gegen alles, was hinten liegt, mit eingerechnet,
es fehlt die Bitterkeit, die Enttäuschung, die Rancune: zuletzt, die hohe
geistige Liebe, das Raffinement des physiologischen Widerspruchs ist hinter ihm,
auch davon ruht es aus: aber von diesem hat es noch seine geistige Glorie und
Sonnenuntergangs-Gluth. ( Herkunft aus den obersten Kasten .)
Die christliche Bewegung ist eine Degenerescenz-Bewegung aus Abfalls- und
Ausschuß-Elementen aller Art: sie drückt nicht den Niedergang einer
Rasse aus, sie ist von Anfang an eine Aggregat-Bildung aus sich zusammendrängenden
und sich suchenden Krankheits-Gebilden .… Sie ist deshalb nicht national, nicht
rassebedingt: sie wendet sich an die Enterbten von überall; sie hat die Ranküne
auf dem Grunde gegen alle Wohlgeratene und Herrschende, sie braucht ein Symbol,
welches den Fluch auf die Wohlgeratenen und Herrschenden darstellt .... Sie steht
im Gegensatz auch zu aller geistigen Bewegung, zu aller Philosophie: sie
nimmt die Partei der Idioten und spricht einen Fluch gegen den Geist aus. Ranküne
gegen die Begabten, Gelehrten, Geistig-Unabhängigen: sie erräth in ihnen
das Wohlgeratene, das Herrschaftliche. (Ebd., S. 113-114).Im
Buddhismus überwiegt dieser Gedanke: »Alle Begierden, alles, was Affekt,
was Blut macht, zieht zu Handlungen fort« nur insofern wird gewarnt
vor dem Bösen. Denn Handeln das hat keinen Sinn, Handeln hält
im Dasein fest: alles Dasein aber hat keinen Sinn. Sie sehen im Bösen den
Antrieb zu etwas Unlogischem: zur Bejahung von Mitteln, deren Zweck man verneint.
Sie suchen nach einem Wege zum Nichtsein, und deshalb perhorreszieren sie
alle Antriebe seitens der Affekte. Z.B. ja nicht sich rächen! ja nicht feind
sein! Der Hedonismus der Müden gibt hier die höchsten Wertmaße
ab. Nichts ist dem Buddhisten ferner als der jüdische Fanatismus eines Paulus:
nichts würde mehr seinem Instinkt widerstreben als diese Spannung, Flamme,
Unruhe des religiösen Menschen, vor allem jene Form der Sinnlichkeit, welche
das Christentum mit dem Namen der »Liebe« geheiligt hat. Zu alledem
sind es die gebildeten und sogar übergeistigten Stände, die im Buddhismus
ihre Rechnung finden: eine Rasse, durch einen jahrhundertelangen Philosophen-Kampf
abgesotten und müde ge macht, nicht aber unterhalb aller Kultur wie
die Schichten, aus denen das Christentum entsteht... Im Ideal des Buddhismus erscheint
das Loskommen auch von Gut und Böse wesentlich: es wird da eine raffinierte
Jenseitigkeit der Moral ausgedacht, die mit dem Wesen der Vollkommenheit zusammenfällt,
unter der Voraussetzung, daß man auch die guten Handlungen bloß zeitweilig
nötig hat, bloß als Mittel, -nämlich um von allem
Handeln loszukommen. (Ebd., S. 114-115).
2.1.2) Zur Geschichte des Christentums
Das
Christentum ist ein naiver Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung,
mitten aus dem eigentlichen Herde des Ressentiments heraus... aber durch Paulus
zu einer heidnischen Mysterienlehre umgedreht, welche endlich sich mit der ganzen
staatlichen Organisation vertragen lernt... und Kriege führt, verurteilt,
foltert, schwört, haßt. Paulus geht von dem Mysterien-Bedürfnis
der großen, religiös-erregten Menge aus: er sucht ein Opfer, eine blutige
Phantasmagorie, die den Kampf aushält mit den Bildern der Geheimkulte: Gott
am Kreuze, das Bluttrinken, die unio mystica mit dem »Opfer«.
Er sucht die Fortexistenz (die selige, entsühnte Fortexistenz der
Einzelseele) als Auferstehung in Kausalverbindung mit jenem Opfer zu bringen
(nach dem Typus des Dionysos, Mithras, Osiris). Er hat nötig, den Begriff
Schuld und Sünde in den Vordergrund zu bringen, nicht eine
neue Praxis (wie sie Jesus selbst zeigte und lehrte), sondern einen neuen Kultus,
einen neuen Glauben, einen Glauben an eine wundergleiche Verwandlung (»Erlösung«
durch den Glauben). Er hat das große Bedürfnis der heidnischen Welt
verstanden und aus den Tatsachen vom Leben und Tode Christi eine vollkommen willkürliche
Auswahl gemacht, alles neu akzentuiert, überall das Schwergewicht verlegt...
er hat prinzipiell das ursprüngliche Christentum annulliert .... Das
Attentat auf Priester und Theologen mündete, dank dem Paulus, in eine neue
Priesterschaft und Theologie einen herrschenden Stand, auch
eine Kirche. Das Attentat auf die übermäßige Wichtigtuerei
der »Person« mündete in den Glauben an die »ewige
Person« (in die Sorge ums »ewige Heil« ...), in die paradoxeste
Übertreibung des Personal-Egoismus. Das ist der Humor der Sache, ein
tragischer Humor: Paulus hat gerade das im großen Stile wieder aufgerichtet,
was Christus durch sein Leben annulliert hatte. Endlich, als die Kirche fertig
ist, nimmt sie sogar das Staats-Dasein unter ihre Sanktion. (Ebd.,
S. 119-120).Die Kirche ist exakt das, wogegen Jesus gepredigt
hat und wogegen er seine Jünger kämpfen lehrte. (Ebd.,
S. 120).Ein Gott für unsere Sünden gestorben; eine Erlösung
durch den Glauben; eine Wiederauferstehung nach dem Tode das sind alles
Falschmünzereien des eigentlichen Christentums, für die man jenen unheilvollen
Querkopf (Paulus) verantwortlich machen muß. Das vorbildliche Leben
besteht in der Liebe und Demut; in der Herzens-Fülle, welche auch den Niedrigsten
nicht ausschließt; in der förmlichen Verzichtleistung auf das Recht-behalten-wollen,
auf Verteidigung, auf Sieg im Sinne des persönlichen Triumphes; im Glauben
an die Seligkeit hier, auf Erden, trotz Not, Widerstand und Tod; in der Versöhnlichkeit,
in der Abwesenheit des Zornes, der Verachtung; nicht belohnt werden wollen; niemandem
sich verbunden haben; die geistlich-geistigste Herrenlosigkeit; ein sehr stolzes
Leben unter dem Willen zum armen und dienenden Leben. Nachdem die Kirche die ganze
christliche Praxis sich hatte nehmen lassen und ganz eigentlich das Leben
im Staate, jene Art Leben, welche Jesus bekämpft und verurteilt hatte, sanktioniert
hatte, mußte sie den Sinn des Christentums irgendwo anders hin legen: in
den Glauben an unglaubwürdige Dinge, in das Zeremoniell von Gebeten,
Anbetung, Festen usw. Der Begriff »Sünde«, »Vergebung«,
»Strafe«, »Belohnung« alles ganz unbeträchtlich
und fast ausgeschlossen vom ersten Christentum kommt jetzt in den Vordergrund.
Ein schauderhafter Mischmasch von griechischer Philosophie und Judentum; der Asketismus;
das beständige Richten und Verurteilen; die Rangordnung usw.. (Ebd.,
S. 120-121).Das Christentum hat von vornherein das Symbolische
in Kruditäten umgesetzt:1. der Gegensatz
»wahres Leben« und »falsches« Leben: mißverstanden
als »Leben diesseits« und »Leben jenseits«;2.
der Begriff »ewiges Leben« im Gegensatz zum Personal-Leben der Vergänglichkeit
als »Personal-Unsterblichkeit«;3.
die Verbrüderung durch gemeinsamen Genuß von Speise und Trank nach
hebräisch-arabischer Gewohnheit als »Wunder der Transsubstantiation«;4.
die »Auferstehung « als Eintritt in das »wahre Leben«,
als »wiedergeboren«; daraus: eine historische Eventualität, die
irgendwann nach dem Tode eintritt;5. die Lehre
vom Menschensohn als dem »Sohn Gottes«, das Lebensverhältnis
zwischen Mensch und Gott; daraus: die »zweite Person der Gottheit«
gerade das weggeschafft: das Sohnverhältnis jedes Menschen
zu Gott, auch des niedrigsten;6. die Erlösung
durch den Glauben (nämlich daß es keinen anderen Weg zur Sohnschaft
Gottes gibt als die von Christus gelehrte Praxis des Lebens) umgekehrt
in den Glauben, daß man an irgendeine wunderbare Abzahlung der Sünde
zu glauben habe, welche nicht durch den Menschen, sondern durch die Tat Christi
bewerkstelligt ist: Damit mußte »Christus am Kreuze« neu gedeutet
werden. Dieser Tod war an sich durchaus nicht die Hauptsache ..., er war nur ein
Zeichen mehr, wie man sich gegen die Obrigkeit und Gesetze der Welt zu verhalten
habe nicht sich wehren .... Darin lag das Vorbild. (Ebd.,
S. 121-122).Man muß das Kreuz empfinden wie Goethe.
(Ebd., S. 128).Zum psychologischen Problem des Christentums.
Die treibende Kraft bleibt: das Ressentiment, der Volksaufstand,
der Aufstand der Schlechtweggekommenen. (Mit dem Buddhismus steht es anders: er
ist nicht geboren aus einer Ressentiment-Bewegung. Er bekämpft
dasselbe, weil es zum Handeln antreibt). Diese Friedenspartei begreift,
daß Verzichtleisten auf Feindseligkeit in Gedanken und Tat eine Unterscheidungs-
und Erhaltungsbedingung ist. Hierin liegt die psychologische Schwierigkeit, welche
verhindert hat, daß man das Christentum verstand: der Trieb, der es schuf,
erzwingt eine grundsätzliche Bekämpfung seiner selber. Nur als Friedens-
und Unschuldspartei hat diese Aufstandsbewegung eine Möglichkeit auf
Erfolg: sie muß siegen durch die extreme Milde, Süßigkeit, Sanftmut,
ihr Instinkt begreift das . Kunststück: den Trieb, dessen Ausdruck
man ist, leugnen, verurteilen, das Gegenstück dieses Triebes durch die Tat
und das Wort beständig zur Schau tragen. (Ebd., S. 130).Genauso
so, wie die Priesterschaft die ganze Geschichte Israels verfälscht hatte,
so wurde nochmals der Versuch gemacht, überhaupt die Geschichte der Menschheit
hier umzufälschen, damit das Christentum als sein kardinalstes Ereignis
erscheinen könne. Diese Bewegung konnte nur auf dem Boden des Judentums entstehen:
dessen Haupttat war, Schuld und Unglück zu verflechten und alle Schuld
auf Schuld an Gott zu reduzieren: davon ist das Christentum die zweite
Potenz. (Ebd., S. 133).Das Christentum zog die letzte
Konsequenz dieser Bewegung: auch im jüdischen Priestertum empfand es noch
die Kaste, den Privilegierten, den Vornehmen es strich den Priester
aus. Der Christ ist der Tschandala, der den Priester ablehnt .... der
Tschandala, der sich selbst erlöst .... Deshalb ist die französische
Revolution die Tochter und Fortsetzerin des Christentums ..., sie hat den
Instinkt gegen die Kaste, gegen die Vornehmen, gegen die letzten Privilegien.
(Ebd., S. 134).Die tiefe Verachtung, mit der der Christ
in der vornehm gebliebenen antiken Welt behandelt wurde, gehört ebendahin,
wohin heute noch die Instinkt-Abneigung gegen den Juden gehört: es ist der
Haß der freien und selbstbewußten Stände gegen die, welche
sich durchdrücken und schüchterne, linkische Gebärden mit einem
unsinnigen Selbstgefühl verbinden. Das Neue Testament ist das Evangelium
einer gänzlich unvornehmen Art Mensch; ihr Anspruch, mehr Wert zu
haben, ja allen Wert zu haben, hat in der Tat etwas Empörendes
auch heute noch. (Ebd., S. 134-135).Der Buddhist handelt
anders als der Nichtbuddhist; der Christ handelt wie alle Welt und hat
ein Christentum der Zeremonien und Stimungen. (Ebd., S. 137).Das
Christentum nimmt den Kampf nur auf, der schon gegen das klassische Ideal, gegen
die vornehme Religion bestand. Tatsächlich ist diese ganze Umbildung
eine Übersetzung in die Bedürfnisse und das Verständnis-Niveau
der damaligen religiösen Masse: jener Masse, welche an Isis, Mithras, Dionysos,
die »große Mutter« glaubte und welche von einer Religion verlangte:
1. die Jenseits-Hoffnung, 2. die blutige Phantasmagorie des Opfertiers (das Mysterium),
3. die erlösende Tat, die heilige Legende, 4. den Asketismus, die Weltverneinung,
die abergläubische »Reinigung«, 5. die Hierarchie, eine Form
der Gemeindebildung. Kurz: das Christentum paßt sich an das schon bestehende,
überall eingewachsene Anti-Heidentum an, an die Kulte, welche von Epikur
bekämpft worden sind ..., genauer, an die Religionen der niederen Masse,
der Frauen, der Sklaven, der nicht-vornehmen Stände.Wir
haben also als Mißverständnis:1.
die Unsterblichkeit der Person;2. die angebliche
andere Welt;3. die Absurdität des Strafbegriffs
und Sühnebegriffs im Zentrum der Daseins-Interpretation;4.
die Entgöttlichung des Menschen statt seiner Vergöttlichung, die Aufreißung
der tiefsten Kluft, über die nur das Wunder, nur die Prostration der tiefsten
Selbstverachtung hinweghilft;5. die ganze Welt
der verdorbenen Imagination und des krankhaften Affekts, statt der liebevollen,
einfältigen Praxis, statt eines auf Erden erreichbaren buddhistischen Glückes;6.
eine kirchliche Ordnung mit Priesterschaft, Theologie, Kultus, Sakrament; kurz,
alles das, was Jesus von Nazareth bekämpft hatte;7.
das Wunder in allem und jedem, der Aberglaube: während gerade das Auszeichnende
des Judentums und des ältesten Christentums sein Widerwille gegen das Wunder
ist, seine relative Rationalität. (Ebd., S. 139-140).Dies
war die verhängnisvollste Art Größenwahn, die bisher auf Erden
dagewesen ist: wenn diese verlogenen kleinen Mißgeburten von Muckern
anfangen, die Worte »Gott«, »Jüngstes Gericht«, »Wahrheit«,
»Liebe«, »Weisheit«, »Heiliger Geist« für
sich in Anspruch zu nehmen und sich damit gegen »die Welt« abzugrenzen,
wenn diese Art Mensch anfängt, die Werte nach sich umzudrehen, wie
als ob sie der Sinn, das Salz, das Maß und Gewicht vom ganzen Rest wären:
so sollte man ihnen Irrenhäuser bauen und nichts weiter tun. Daß man
sie verfolgte, das war eine antike Dummheit großen Stils: damit nahm
man sie zu ernst, damit machte man aus ihnen einen Ernst. Das ganze Verhängnis
war dadurch ermöglicht, daß schon eine verwandte Art von Größenwahn
in der Welt war, der jüdische ( nachdem einmal die Kluft
zwischen den Juden und den Christen-Juden auf gerissen, mußten die
Christen-Juden die Prozedur der Selbsterhaltung, welche der jüdische Instinkt
erfunden hatte, nochmals und in einer letzten Steigerung zu ihrer Selbsterhaltung
anwenden ); andererseits dadurch, daß die griechische Philosophie
der Moral alles getan hatte, um einen Moral-Fanatismus selbst unter Griechen
und Römern vorzubereiten und schmackhaft zu machen... Plato, die große
Zwischenbrücke der Verderbnis, der zuerst die Natur in der Moral nicht verstehen
wollte, der bereits die griechischen Götter mit seinem Begriff »gut«
entwertet hatte, der bereits jüdisch angemuckert war (
in Ägypten?). (Ebd., S. 143).Diese kleinen Herdentier-Tugenden
führen ganz und gar nicht zum »ewigen Leben«: sie dergestalt
in Szene setzen, und sich mit ihnen, mag sehr klug sein, aber für den, der
hier noch seine Augen auf hat, bleibt es trotz alledem das lächerlichste
aller Schauspiele. Man verdient ganz und gar nicht ein Vorrecht auf Erden und
im Himmel, wenn man es zur Vollkommenheit einer kleinen, lieben Schafsmäßigkeit
gebracht hat; man bleibt damit, günstigenfalls, immer bloß ein kleines,
liebes, absurdes Schaf mit Hörnern vorausgesetzt, daß man nicht
vor Eitelkeit platzt und durch richterliche Attitüden skandalisiert. Die
ungeheure Farben-Verklärung, mit der hier die kleinen Tugenden illuminiert
werden wie als Widerglanz göttlicher Qualitäten! Die natürliche
Absicht und Nützlichkeit jeder Tugend grundsätzlich verschwiegen;
sie ist nur in Hinsicht auf ein göttliches Gebot, ein göttliches Vorbild
wertvoll, nur in Hinsicht auf jenseitige und geistliche Güter. (Prachtvoll:
als ob sichs ums »Heil der Seele« handelte: aber es war ein
Mittel, um es hier mit möglichst viel schönen Gefühlen »auszuhalten«.)
(Ebd., S. 144).Der Krieg gegen die Vornehmen und Mächtigen,
wie er im Neuen Testament geführt wird, ist ein Krieg wie der des Reineke
und mit gleichen Mitteln: nur immer in priesterlicher Salbung und in entschiedener
Ablehnung, um seine eigne Schlauheit zu wissen. (Ebd., S. 150).Das
Evangelium: die Nachricht, daß den Niedrigen und Armen ein Zugang zum Glück
offensteht, daß man nichts zu tun hat als sich von der Institution,
der Tradition, der Bevormundung der oberen Stände loszumachen: insofern ist
die Heraufkunft des Christentums nichts weiter als die typische Sozialisten-Lehre.
Eigentum, Erwerb, Vaterland, Stand und Rang, Tribunale, Polizei, Staat, Kirche,
Unterricht, Kunst, Militärwesen: alles ebenso viele Verhinderungen des Glücks,
Irrtümer, Verstrickungen, Teufelswerke, denen das Evangelium das Gericht
ankündigt alles typisch für die Sozialisten-Lehre. Im Hintergründe
der Aufruhr, die Explosion eines aufgestauten Widerwillens gegen die »Herren«,
der Instinkt dafür, wie viel Glück nach so langem Drucke schon im Frei-sich-fühlen
liegen könnte... (Meistens ein Symptom davon, daß die unteren Schichten
zu menschenfreundlich behandelt worden sind, daß sie ein ihnen verbotenes
Glück bereits auf der Zunge schmecken .... Nicht der Hunger erzeugt Revolutionen,
sondern daß das Volk en mangeant Appetit bekommen hat ....) (Ebd.,
S. 150-151).Das Christentum ist jeden Augenblick noch möglich.
Es ist an keines der unverschämten Dogmen gebunden, welche sich mit seinem
Namen geschmückt haben: es braucht weder die Lehre vom persönlichen
Gott, noch von der Sünde, noch von der Unsterblichkeit, noch
von der Erlösung, noch vom Glauben; es hat schlechterdings
keine Metaphysik nötig, noch weniger den Asketismus, noch weniger eine christliche
»Naturwissenschaft«. Das Christentum ist eine Praxis, keine
Glaubenslehre. Es sagt uns wie wir handeln, nicht was wir glauben sollen. Wer
jetzt sagte »ich will nicht Soldat sein«, »ich kümmere
mich nicht um die Gerichte«, »die Dienste der Polizei werden von mir
nicht in Anspruch genommen«, »ich will nichts tun, was den Frieden
in mir selbst stört: und wenn ich daran leiden muß, nichts wird mehr
mir den Frieden erhalten als Leiden« der wäre Christ.
(Ebd., S. 152).Zur Geschichte des Christentums. Fortwährende
Veränderung des Milieus: die christliche Lehre verändert damit fortwährend
ihr Schwergewicht .... Die Begünstigung der Niederen und kleinen
Leute .... Die Entwicklung der Caritas .... Der Typus »Christ«
nimmt schrittweise alles wieder an, was er ursprünglich negierte (in dessen
Negation er bestand ). Der Christ wird Bürger, Soldat, Gerichtsperson,
Arbeiter, Handelsmann, Gelehrter, Theolog, Priester, Philosoph, Landwirt, Künstler,
Patriot, Politiker, »Fürst« ..., er nimmt alle Tätigkeiten
wieder auf, die er abgeschworen hat ( die Selbstverteidigung, das Gerichthalten,
das Strafen, das Schwören, das Unterscheiden zwischen Volk und Volk, das
Geringschätzen, das Zürnen ...). Das ganze Leben des Christen ist endlich
genau das Leben, von dem Christus die Loslösung predigte .... Die
Kirche gehört so gut zum Triumph des Antichristlichen, wie der moderne Staat,
der moderne Nationalismus .... Die Kirche ist die Barbarisierung des Christentums.
(Ebd., S. 153).Über das Christentum Herr geworden: der Judaismus
(Paulus); der Platonismus (Augustin); die Mysterienkulte (Erlösungslehre,
Sinnbild des »Kreuzes«); der Asketismus ( Feindschaft gegen
die »Natur«, »Vernunft«, »Sinne«, Orient...).
(Ebd., S. 153).Das Christentum als eine Entnatürlichung der
Herdentier-Moral: unter absolutem Mißverständnis und Selbstverblendung.
Die Demokratisierung ist eine natürlichere Gestalt derselben, eine
weniger verlogene. Tatsache: die Unterdrückten, die Niedrigen, die ganze
große Menge von Sklaven und Halbsklaven wollen zur Macht.Erste
Stufe: sie machen sich frei sie lösen sich aus, imaginär zunächst,
sie erkennen sich untereinander an, sie setzen sich durch.Zweite
Stufe: sie treten in Kampf, sie wollen Anerkennung, gleiche Rechte, »Gerechtigkeit«.Dritte
Stufe: sie wollen die Vorrechte ( sie ziehen die Vertreter der Macht zu
sich hinüber).Vierte Stufe: sie wollen die
Macht allein, und sie haben sie ....Im Christentum
sind drei Elemente zu unterscheiden:a)
die Unterdrückten aller Art,b) die Mittelmäßigen
aller Art,c) die Unbefriedigten und Kranken aller
Art.Mit dem ersten Element kämpft es gegen
die politisch Vornehmen und deren Ideal; mit dem zweiten Element gegen die Ausnahmen
und Privilegierten (geistig, sinnlich ) jeder Art; mit dem dritten Element
gegen den Natur-Instinkt der Gesunden und Glücklichen. Wenn es zum
Siege kommt, so tritt das zweite Element in den Vordergrund; denn dann hat das
Christentum die Gesunden und Glücklichen zu sich überredet (als Krieger
für seine Sache), insgleichen die Mächtigen (als interessiert wegen
der Überwältigung der Menge), und jetzt ist es der Herden-Instinkt,
die in jedem Betracht wertvolle Mittelmaß-Natur, die ihre höchste Sanktion
durch das Christentum bekommt. Diese Mittelmaß-Natur kommt endlich so weit
sich zum Bewußtsein ( gewinnt den Mut zu sich ), daß sie
auch politisch sich die Macht zugesteht .... Die Demokratie ist das vernatürlichte
Christentum: eine Art »Rückkehr zur Natur«, nachdem es durch
eine extreme Antinatürlichkeit von der entgegengesetzten Wertung überwunden
werden konnte. Folge: das aristokratische Ideal entnatürlicht sich
nunmehr (»der höhere Mensch«, »vornehm«, »Künstler«,
»Leidenschaft«, »Erkenntnis«; Romantik als Kultus der
Ausnahme, Genie usw.). (Ebd., S. 154-155).
2.1.3) Christliche Ideale
Krieg
gegen das christliche Ideal, gegen die Lehre von der »Seligkeit«
und dem »Heil« als Ziel des Lebens, gegen die Suprematie der Einfältigen,
der reinen Herzen, der Leidenden und Mißglückten. Wann und wo hat je
ein Mensch, der in Betracht kommt, jenem christlichen Ideal ähnlich
gesehen? Wenigstens für solche Augen, wie sie ein Psycholog und Nierenprüfer
haben muß! man blättere alle Helde Plutarchs durch. (Ebd.,
S. 156).Wir haben das christliche Ideal wieder hergestellt:
es bleibt übrig, seinen Wert zu bestimmen:1.
Welche Werte werden durch dasselbe negiert? Was enthält das Gegensatz-Ideal?
Stolz, Pathos der Distanz, die große Verantwortung, den Übermut,
die prachtvolle Animalität, die kriegerischen und eroberungslustigen Instinkte,
die Vergöttlichung der Leidenschaft, der Rache, der List, des Zorns, der
Wollust, des Abenteuers, der Erkenntnis ; das vornehme Ideal wird negiert:
Schönheit, Weisheit, Macht, Pracht und Gefährlichkeit des Typus Mensch:
der Ziele setzende, der »zukünftige« Mensch ( hier ergibt
sich die Christlichkeit als Schlußolgerung des Judentums ).2.
Ist es realisierbar? Ja, doch klimatisch bedingt, ähnlich wie
das indische. Beiden fehlt die Arbeit. Es löst heraus aus Volk, Staat,
Kultur-Gemeinschaft, Gerichtsbarkeit, es lehnt den Unterricht, das Wissen, die
Erziehung zu guten Manieren, den Erwerb, den Handel ab... es löst alles ab,
was den Nutzen und Wert des Menschen ausmacht es schließt ihn durch
eine Gefühls-Idiosynkrasie ab. Unpolitisch, antinational, weder aggressiv
noch defensiv, nur möglich innerhalb des festgeordnetsten Staats-
und Gesellschaftslebens, welches diese heiligen Parasiten auf allgemeine
Unkosten wuchern läßt ....3. Es bleibt
eine Konsequenz des Willens zur Lust und zu nichts weiter! Die »Seligkeit«
gilt als etwas, das sich selbst beweist, das keine Rechtfertigung mehr braucht,
alles übrige (die Art leben und leben lassen) ist nur Mittel zum Zweck
....Aber das ist niedrig gedacht: die
Furcht vor dem Schmerz, vor der Verunreinigung, vor der Verderbnis selbst als
ausreichendes Motiv, alles fahren zu lassen .... Dies ist eine arme Denkweise,
Zeichen einer erschöpften Rasse; man soll sich nicht täuschen
lassen. (»Werdet wie die Kinder« . Die verwandte Natur:
Franz von Assisi, neurotisch, epileptisch, Visionär, wie Jesus.) (Ebd.,
S. 157-158).Der höhere Mensch unterscheidet sich von
dem niederen in Hinsicht auf die Furchtlosigkeit und die Herausforderung
des Unglücks: es ist ein Zeichen von Rückgang, wenn eudämonistische
Wertmaße als oberste zu gelten anfangen ( physiologische Ermüdung,
Willens- Verarmung). Das Christentum mit seiner Perspektive auf »Seligkeit«
ist eine typische Denkweise für eine leidende und verarmte Gattung Mensch.
Eine volle Kraft will schaffen, leiden, untergehn: ihr ist das christliche Mucker-Heil
eine schlechte Musik und hieratische Gebärden ein Verdruß. (Ebd.,
S. 158).Gott schuf den Menschen glücklich, müßig,
unschuldig und unsterblich: unser wirkliches Leben ist ein falsches, abgefallenes,
sündhaftes Dasein, eine Straf-Existenz .... Das Leiden, der Kampf, die Arbeit,
der Tod werden als Einwände und Fragezeichen gegen das Leben abgeschätzt,
als etwas Unnatürliches, etwas, das nicht dauern soll; gegen das man Heilmittel
braucht und hat! .... Die Menschheit hat von Adam an bis jetzt sich
in einem unnormalen Zustande befunden: Gott selbst hat seinen Sohn für die
Schuld Adams hergegeben, um diesem unnormalen Zustande ein Ende zu machen: der
natürliche Charakter des Lebens ist ein Fluch; Christus gibt dem, der an
ihn glaubt, den Normal-Zustand zurück: er macht ihn glücklich, müßig
und unschuldig. Aber die Erde hat nicht angefangen, fruchtbar zu sein ohne
Arbeit; die Weiber gebären nicht ohne Schmerzen Kinder; die Krankheit hat
nicht aufgehört; die Gläubigsten befinden sich hier so schlecht wie
die Ungläubigsten. Nur daß der Mensch vom Tode und von der Sünde
befreit ist Behauptungen, die keine Kontrolle zulassen , das hat
die Kirche um so bestimmter behauptet. »Er ist frei von Sünde«
nicht durch sein Tun, nicht durch einen rigorosen Kampf seinerseits, sondern
durch die Tat der Erlösung freigekauft folglich vollkommen,
unschuldig, paradiesisch .... Das wahre Leben nur ein Glaube (d. h. ein Selbstbetrug,
ein Irrsinn). Das ganze ringende, kämpfende, wirkliche Dasein voll Glanz
und Finsternis nur ein schlechtes, falsches Dasein: von ihm erlöst werden
ist die Aufgabe. »Der Mensch unschuldig, müßig, unsterblich,
glücklich« diese Konzeption der »höchsten Wünschbarkeit«
ist vor allem zu kritisieren. Warum ist die Schuld, die Arbeit, der Tod, das
Leiden (und, christlich geredet, die Erkenntnis ...) wider die
höchste Wünschbarkeit? Die faulen christlichen Begriffe »Seligkeit«,
»Unschuld«, »Unsterblichkeit« .
(Ebd., S. 159-160).Es fehlt der exzentrische Begriff der »Heiligkeit«,
»Gott« und »Mensch« sind nicht auseinandergerissen.
Das »Wunder« fehlt es gibt gar nicht jene Sphäre: die
einzige, die in Betracht kommt, ist die »geistliche« (d.h. symbolisch-psychologische).
Als décadence: Seitenstück zum »Epikureismus«... Das Paradies,
nach griechischem Begriff, auch nur der »Garten Epikurs«. Es fehlt
die Aufgabe in einem solchen Leben: es will nichts; eine
Form der »epikurischen Götter«; es fehlt aller Grund,
noch Ziele zu setzen, Kinder zu haben: Alles ist erreicht.
(Ebd., S. 160).Der Kampf gegen die brutalen Instinkte ist
ein anderer, als der Kampf gegen die krankhaften Instinkte; es lann selbst
ein MIttel sein, um über die Brutalität Herr zu werden, krank
zu machen. Die psychologische Behandlung im Christentum läuft oft darauf
hinaus, aus einem Vieh ein krankes und folglich zahmes Tier zu machen. Der Kampf
gegen rohe und wüste Naturen muß ein Kampf mit Mitteln sein, die auf
sie wirken: die abergläubischen Mittel sind unersetzlich und unerläßlich
.... (Ebd., S. 180).Unser Zeitalter ist in einem gewissen
Sinne reif (nämlich dekadent), wie es die Zeit Buddhas war .... Deshalb
ist eine Christlichkeit ohne die absurden Dogmen möglich (die widerlichen
Ausgeburten des antiken Hybridismus). (Ebd., S. 180).Gesetzt
selbst, daß ein Gegenbeweis des christlichen Glaubens nicht geführt
werden könnte, hielt Pascal doch in Hinsicht auf eine furchtbare Möglichkeit,
daß er dennoch wahr sei, es für klug im höchsten Sinne, Christ
zu sein. Heute findet man, zum Zeichen, wie sehr das Christentum an Furchtbarkeit
eingebüßt hat, jenen andern Versuch seiner Rechtfertigung, daß
selbst, wenn er ein Irrtum wäre, man zeitlebens doch den großen Vorteil
und Genuß dieses Irrtums habe: es scheint also, daß gerade
um seiner beruhigenden Wirkungen willen dieser Glaube aufrechterhalten werden
solle also nicht aus Furcht vor einer drohenden Möglichkeit, vielmehr
aus Furcht vor einem Leben, dem ein Reiz abgeht. Diese hedonische Wendung, der
Beweis aus der Lust, ist ein Symptom des Niedergangs: er ersetzt den Beweis aus
der Kraft, aus dem, was an der christlichen Idee Erschütterung ist, aus der
Furcht. Tatsächlich nähert sich in dieser Umdeutung das Christentum
der Erschöpfung: man begnügt sich mit einem opiatischen Christentum,
weil man weder zum Suchen, Kämpfen, Wagen, Alleinstehen-wollen die Kraft
hat noch zum Pascalismus, zu dieser grüblerischen Selbstverachtung, zum Glauben
an die menschliche Unwürdigkeit, zur Angst des »Vielleicht-Verurteilten«.
Aber ein Christentum, das vor allem kranke Nerven beruhigen soll, hat jene furchtbare
Lösung eines »Gottes am Kreuze« überhaupt nicht nötig:
weshalb im stillen überall der Buddhismus in Europa Fortschritte macht.
(Ebd., S. 180-171).Damit, daß das Christentum die Lehre von
der Uneigennützigkeit und Liebe in den Vordergrund gerückt hat, hat
es durchaus noch nicht das Gattungs-Interesse für höherwertig angesetzt
als das Individual-Interesse. Seine eigentlich historische Wirkung, das Verhängnis
von Wirkung bleibt umgekehrt gerade die Steigerung des Egoismus, des Individual-Egoismus
bis ins Extrem ( bis zum Extrem der Individual-Unsterblichkeit). Der einzelne
wurde durch das Christentum so wichtig genommen, so absolut gesetzt, daß
man ihn nicht mehr opfern konnte: aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer
.... Vor Gott wurden alle »Seelen« gleich: aber das ist gerade die
gefährlichste aller möglichen Wertschätzungen! Setzt man die einzelnen
gleich, so stellt man die Gattung in Frage, so begünstigt man eine Praxis,
welche auf den Ruin der Gattung hinausläuft: das Christentum ist das Gegenprinzip
gegen die Selektion. Wenn der Entartende und Kranke (»der Christ«)
so viel Wert haben soll wie der Gesunde (»der Heide«), oder gar noch
mehr, nach Pascals Urteil über Krankheit und Gesundheit, so ist der natürliche
Gang der Entwicklung gekreuzt und die Unnatur zum Gesetz gemacht .... Diese
allgemeine Menschenliebe ist in praxi die Bevorzugung alles Leidenden,
Schlechtweggekommenen, Degenerierten: sie hat tatsächlich die Kraft, die
Verantwortlichkeit, die hohe Pflicht, Menschen zu opfern, heruntergebracht und
abgeschwächt. Es blieb nach dem Schema des christlichen Wertmaßes nur
noch übrig, sich selbst zu opfern: aber dieser Rest von Menschenopfer, den
das Christentum konzedierte und selbst anriet, hat, vom Standpunkte der Gesamt-Züchtung
aus, gar keinen Sinn. Es ist für das Gedeihen der Gattung gleichgültig,
ob irgendwelche einzelne sich selbst opfern ( sei es in mönchischer
und asketischer Manier oder, mit Hilfe von Kreuzen, Scheiterhaufen und Schafotten,
als »Märtyrer« des Irrtums). Die Gattung braucht den Untergang
der Mißratenen, Schwachen, Degenerierten: aber gerade an sie wendete sich
das Christentum, als konservierende Gewalt; sie steigerte noch jenen an
sich schon so mächtigen Instinkt der Schwachen, sich zu schonen, sich zu
erhalten, sich gegenseitig zu halten. Was ist die »Tugend« und »Menschenliebe«
im Christentum, wenn nicht eben diese Gegenseitigkeit der Erhaltung, diese Solidarität
der Schwachen, diese Verhinderung der Selektion? Was ist der christliche Altruismus,
wenn nicht der Massen-Egoismus der Schwachen, welcher errät, daß, wenn
alle füreinander sorgen, jeder einzelne am längsten erhalten bleibt?
.... Wenn man eine solche Gesinnung nicht als eine extreme Unmoralität,
als ein Verbrechen am Leben empfindet, so gehört man zur kranken Bande und
hat selber deren Instinkte... Die echte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten
der Gattung sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie
das Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christentum heißt,
will gerade durchsetzen, daß niemand geopfert wird .... (Ebd.,
S. 174-176).Nichts wäre nützlicher und mehr zu fördern
als ein konsequenter Nihilismus der Tat. So wie ich alle Phänomene
des Christenthums, des Pessimismus verstehe, so drücken sie aus: »wir
sind reif, nicht zu sein; für uns ist es vernünftig, nicht zu sein«.
Diese Sprache der »Vernunft« wäre in diesem Falle auch die Sprache
der selektiven Natur. Was über alle Begriffe dagegen zu verurteilen
ist, das ist die zweideutige und feige Halbheit einer Religion, wie die des Christenthums:
deutlicher, der Kirche: welche, statt zum Tode und zur Selbstvernichtung zu ermutigen,
alles Mißrathene und Kranke schützt und sich selbst fortpflanzen macht.
Problem: mit was für Mitteln würde eine strenge Form des großen
kontagiösen Nihilism erzielt werden: eine solche, welche, mit wissenschaftlicher
Gewissenhaftigkeit, den freiwilligen Tod lehrt und übt ... (und nicht das
schwächliche Fortvegetieren mit Hinsicht auf eine falsche Postexistenz ).
Man kann das Christentum nicht genug verurteilen, weil es den Wert einer
solchen reinigenden großen Nihilismus-Bewegung, wie sie vielleicht im Gange
war, durch den Gedanken der unsterblichen Privat-Person entwertet hat: insgleichen
durch die Hoffnung auf Auferstehung: kurz, immer durch ein Abhalten von der Tat
des Nihilismus, dem Selbstmord .... Es substituirte den langsamen Selbstmord;
allmählich ein kleines armes aber dauerhaftes Leben; allmählich ein
ganz gewöhnliches bürgerliches mittelmäßiges Leben usw..
(Ebd., S. 176-177).Die christlichen Moral-Quacksalber.
Mitleid und Verachtung folgen sich in schnellem Wechsel, und mitunter bin ich
empört, wie beim Anblick eines schnöden Verbrechens. Hier ist der Irrtum
zur Pflicht gemacht zur Tugend , der Fehlgriff ist Handgriff geworden,
der Zerstörer-Instinkt systematisiert als »Erlösung«; hier
wird aus jeder Operation eine Verletzung, eine Ausschneidung selbst von Organen,
deren Energie die Voraussetzung jeder Wiederkehr der Gesundheit ist. Und bestenfalls
wird nicht geheilt, sondern nur eine Symptomen-Reihe des Übels in eine andere
eingetauscht... Und dieser gefährliche Unsinn, das System der Schändung
und Verschneidung des Lebens gilt als heilig, als unantastbar; in seinem Dienste
leben, Werkzeug dieser Heilkunst sein, Priester sein hebt heraus, macht
ehrwürdig, macht heilig und unantastbar selbst. Nur die Gottheit kann die
Urheberin dieser höchsten Heilkunst sein: nur als Offenbarung ist die Erlösung
begreiflich, als Akt der Gnade, als unverdientestes Geschenk, das der Kreatur
gemacht ist.Erster Satz: die Gesundheit der Seele
wird als Krankheit angesehen, mißtrauisch ....Zweiter
Satz: die Voraussetzungen für ein starkes und blühendes Leben, die starken
Begehrungen und Leidenschaften, gelten als Einwände gegen ein starkes und
blühendes Leben.Dritter Satz: Alles, woher
dem Menschen Gefahr droht, alles, was über ihn Herr werden und ihn zugrunde
richten kann, ist böse, ist verwerflich ist mit der Wurzel aus seiner
Seele auszureißen.Vierter Satz: der Mensch,
ungefährlich gemacht, gegen sich und andre, schwach, niedergeworfen in Demut
und Bescheidenheit, seiner Schwäche bewußt, der »Sünder«,
das ist der wünschbarste Typus, der, welchen man mit einiger Chirurgie
der Seele auch herstellen kann .... (Ebd., S. 177-178).Wogegen
ich protestiere? Daß man nicht diese kleine Mittelmäßigkeit,
dieses Gleichgewicht einer Seele, welche nicht die großen Antriebe der großen
Krafthäufungen kennt, als etwas Hohes nimmt, womöglich gar als Maß
des Menschen. Bacon von Verulam sagt: Infimarum virtutum apud vulgus laus
est, mediarum admiratio, suprematum sensus nullus. Das Christentum aber gehört,
als Religion, zum vulgus: es hat für die höchste Gattung virtus
keinen Sinn. (Ebd., S. 178).Sehen wir, was »der echte
Christ« mit alledem anfängt, was seinem Instinkte sich widerrät:
die Beschmutzung und Verdächtigung des Schönen, des Glänzenden,
des Reichen, des Stolzen, des Selbstgewissen, des Erkennenden, des Mächtigen
in summa der ganzen Kultur: seine Absicht geht dahin, ihr das gute Gewissen
zu nehmen .... (Ebd., S. 178).Man hat bisher das Christentum
immer auf eine falsche, und nicht bloß schüchterne Weise angegriffen.
Solange man nicht die Moral des Christentums als Kapitalverbrechen am Leben
empfindet, haben dessen Verteidiger gutes Spiel. Die Frage der bloßen »Wahrheit«
des Christentums sei es in Hinsicht auf die Existenz seines Gottes oder
die Geschichtlichkeit seiner Entstehungslegende, gar nicht zu reden von der christlichen
Astronomie und Naturwissenschaft ist eine ganz nebensächliche Angelegenheit,
solange die Wertfrage der christlichen Moral nicht berührt ist. Taugt
die Moral des Christentums etwas oder ist sie eine Schändung und Schmach
trotz aller Heiligkeit der Verführungskünste? Es gibt Schlupfwinkel
jeder Art für das Problem von der Wahrheit; und die Gläubigsten können
zuletzt sich der Logik der Ungläubigsten bedienen, um sich ein Recht zu schaffen,
gewisse Dinge als unwiderlegbar zu affirmieren nämlich als jenseits
der Mittel aller Widerlegung ( dieser Kunstgriff heißt sich heute
»Kantischer Kritizismus«). (Ebd., S. 179).Man
soll es dem Christentum nie vergeben, daß es solche Menschen wie Pascal
zugrunde gerichtet hat. Man soll nie aufhören, eben dies am Christentum zu
bekämpfen, daß es den Willen dazu hat, gerade die stärksten und
vornehmsten Seelen zu zerbrechen. Man soll sich nie Frieden geben, solange dies
eine noch nicht in Grund und Boden zerstört ist: das Ideal vom Menschen,
welches vom Christentum erfunden worden ist, seine Forderungen an den Menschen,
sein Nein und sein Ja in Hinsicht auf den Menschen. Der ganze absurde Rest von
christlicher Fabel, Begriffs-Spinneweberei und Theologie geht uns nichts an; er
könnte noch tausendmal absurder sein, und wir würden nicht einen Finger
gegen ihn aufheben. Aber jenes Ideal bekämpfen wir, das mit seiner krankhaften
Schönheit und Weibs- Verführung, mit seiner heimlichen Verleumder-Beredsamkeit
allen Feigheiten und Eitelkeiten müdgewordner Seelen zuredet und die
Stärksten haben müde Stunden , wie als ob alles das, was in solchen
Zuständen am nützlichsten und wünschbarsten scheinen mag, Vertrauen,
Arglosigkeit, Anspruchslosigkeit, Geduld, Liebe zu seinesgleichen, Ergebung, Hingebung
an Gott, eine Art Abschirrung und Abdankung seines ganzen Ichs, auch an sich das
Nützlichste und Wünschbarste sei; wie als ob die kleine bescheidene
Mißgeburt von Seele, das tugendhafte Durchschnittstier und Herdenschaf Mensch
nicht nur den Vorrang vor der stärkeren, böseren, begehrlicheren, trotzigeren,
verschwenderischeren und darum hundertfachgefährdeteren Art Mensch habe,
sondern geradezu für den Menschen überhaupt das Ideal, das Ziel, das
Maß, die höchste Wünschbarkeit abgebe. Diese Aufrichtung
eines Ideals war bis her die unheimlichste Versuchung, welcher der Mensch ausgesetzt
war: denn mit ihm drohte den stärker geratenen Ausnahmen und Glücksfällen
von Mensch, in denen der Wille zur Macht und zum Wachstum des ganzen Typus Mensch
einen Schritt vorwärts tut, der Untergang; mit seinen Werten sollte das Wachstum
jener Mehr-Menschen an der Wurzel angegraben werden, welche um ihrer höheren
Ansprüche und Aufgaben willen freiwillig auch ein gefährlicheres Leben
(ökonomisch ausgedrückt: Steigerung der Unternehmer-Kosten ebenso sehr
wie der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens) in den Kauf nehmen. Was wir am Christentum
bekämpfen? Daß es die Starken zerbrechen will, daß es ihren Mut
entmutigen, ihre schlechten Stunden und Müdigkeiten ausnützen, ihre
stolze Sicherheit in Unruhe und Gewissensnot verkehren will, daß es die
vornehmen Instinkte giftig und krankzumachen versteht, bis sich ihre Kraft, ihr
Wille zur Macht rückwärts kehrt, gegen sich selber kehrt bis
die Starken an den Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmißhandlung
zugrunde gehen: jene schauerliche Art des Zugrundegehens, deren berühmtestes
Beispiel Pascal abgibt. (Ebd., S. 179-181).
2.2.1) Herkunft der moralischen Wertschätzungen
Versuch,
über Moral zu denken, ohne unter ihrem Zauber zu stehen, mißtrauisch
gegen die Überlistung ihrer schönen Gebärden und Blicke. Eine Welt,
die wir verehren können, die unserem anbetenden Triebe gemäß ist
die sich fortwährend beweist durch Leitung des einzelnen
und allgemeinen : dies ist die christliche Anschauung, aus der wir alle
stammen. Durch ein Wachstum an Schärfe, Mißtrauen, Wissenschaftlichkeit
(auch durch einen höher gerichteten Instinkt der Wahrhaftigkeit, also unter
wieder christlichen Einwirkungen) ist diese Interpretation uns immer mehr unerlaubt
geworden. Feinster Ausweg: der Kantische Kritizismus. Der Intellekt stritt sich
selbst das Recht ab sowohl zur Interpretation in jenem Sinne als auch zur Ablehnung
der Interpretation in jenem Sinne. Man begnügt sich mit einem Mehr von
Vertrauen und Glauben, mit einem Verzichtleisten auf alle Beweisbarkeit seines
Glaubens, mit einem unbegreiflichen und überlegenen »Ideal« (Gott)
die Lücke auszufüllen. Der Hegelsche Ausweg, im Anschluß an Plato,
ein Stück Romantik und Reaktion, zugleich das Symptom des historischen Sinns,
einer neuen Kraft: der »Geist« selbst ist das »sich enthüllende
und verwirklichende Ideal«: im »Prozeß«, im »Werden«
offenbart sich ein immer Mehr von diesem Ideal, an das wir glauben , also
das Ideal verwirklicht sich, der Glaube richtet sich auf die Zukunft, in
der er seinem edlen Bedürfnisse nach anbeten kann. Kurz,1.
Gott ist uns unerkennbar und unnachweisbar (Hintersinn der erkenntnis-theoretischen
Bewegung);2. Gott ist nachweisbar, aber als etwas
Werdendes, und wir gehören dazu, eben mit unsrem Drang zum Idealen (Hintersinn
der historisierenden Bewegung).Man sieht: es
ist niemals die Kritik an das Ideal selbst gerückt, sondern nur an
das Problem, woher der Widerspruch gegen dasselbe kommt, warum es noch nicht erreicht
oder warum es nicht nachweisbar im kleinen und großen ist. Es macht den
größten Unterschied: ob man aus der Leidenschaft heraus, aus einem
Verlangen heraus, diesen Notstand als Notstand fühlt oder ob man ihn mit
der Spitze des Gedankens und einer gewissen Kraft der historischen Imagination
gerade noch als Problem erreicht. Abseits von der religiös-philosophischen
Betrachtung finden wir dasselbe Phänomen: der Utilitarismus (der Sozialismus,
der Demokratismus) kritisiert die Herkunft der moralischen Wertschätzungen,
aber er glaubt an sie, ebenso wie der Christ. (Naivität, als ob Moral
übrigbliebe, wenn der sanktionierende Gott fehlt! Das Jenseits« absolut
notwendig, wenn der Glaube an Moral aufrechterhalten werden soll.) Grundproblem:
woher diese Allgewalt des Glaubens? des Glaubens an die Moral? (
der sich auch darin verrät, daß selbst die Grundbedingungen des Lebens
zugunsten der Moral falsch interpretiert werden: trotz Kenntnis der Tierwelt und
Pflanzenwelt. Die »Selbsterhaltung«; darwinistische Perspektive auf
Versöhnung altruistischer und egoistischer Prinzipien.) (Ebd., S. 182-184).Die
Frage nach der Herkunft unsrer Wertschätzungen und Gütertafeln
fällt ganz und gar nicht mit deren Kritik zusammen, wie so oft geglaubt
wird: so gewiß auch die Einsicht in irgendeine pudenda origo für das
Gefühl eine Wertverminderung der so entstandnen Sache mit sich bringt und
gegen dieselbe eine kritische Stimmung und Haltung vorbereitet. (Ebd., S.
184).Was sind unsre Wertschätzungen und moralischen Gütertafeln
selber wert? Was kommt bei ihrer Herrschaft heraus? Für wen? in bezug
worauf? Antwort: für das Leben. Aber was
ist Leben? Hier tut also eine neue, bestimmtere Fassung des Begriffs »Leben«
not. Meine Formel dafür lautet: Leben ist Wille zur Macht. (Ebd., S.
184).Was bedeutet das Wertschätzen selbst? weist es
auf eine andere, metaphysische Welt zurück oder hinab? (wie noch Kant glaubte,
der vor der großen historischen Bewegung steht.) Kurz: wo ist
es entstanden? Oder ist es nicht »entstanden«? Antwort:
das moralische Wertschätzen ist eine Auslegung, eine Art zu interpretieren.
Die Auslegung selbst ist ein Symptom bestimmter physiologischer Zustände,
ebenso eines bestimmten geistigen Niveaus von herrschenden Urteilen: Wer legt
aus? Unsre Affekte. (Ebd., S. 184).Alle Tugenden
physiologische Zustände: .... Alle Tugenden sind eigentlich verfeinerte Leidenschaften
und erhöhte Zustände. (Ebd., S. 184-185).Ich verstehe
unter »Moral« ein System von Wertschätzungen, welches mit den
Lebensbedingungen eines Wesens sich berührt. (Ebd., S. 185).Ehemals
sagte man von jeder Moral: »an ihren Früchten solt ihr sie erkennen«.
Ich sage von jeder Moral: »Sie ist eine Frucht, an der ich den Boden
erkenne, aus dem sie wuchs.« (Ebd., S. 185).Mein Versuch,
die moralischen Urteile als Symptome und Zeichensprachen zu verstehen, in denen
sich Vorgänge des physiologischen Gedeihens oder Mißratens, ebenso
das Bewußtsein von Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen verraten,
eine Interpretations-Weise vom Werte der Astrologie, Vorurteile, denen Instinkte
soufflieren (von Rassen, Gemeinden, von verschiedenen Stufen, wie Jugend oder
Verwelken usw.). (Ebd., S. 185).Angewendet auf die speziell
christlich-europäische Moral: unsere moralischen Urteile sind Zeichen von
Verfall, von Unglauben an das Leben, eine Vorbereitung des Pessimismus.
(Ebd., S. 185).Mein Hauptsatz: es gibt keine
moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Interpretation dieser
Phänomene. Diese Interpretation selbst ist außermoralischen Ursprungs.
(Ebd., S. 185-186).Was bedeutet es, daß wir einen Widerspruch
in das Dasein hineininterpretiert haben? Entscheidende Wichtigkeit: hinter
allen andern Wertschätzungen stehen kommandierend jene moralischen Wertschätzungen.
Gesetzt, sie fallen fort, wonach messen wir dann? Und welchen Wert haben dann
Erkenntnis usw., usw.??? (Ebd., S. 186).Einsicht: bei aller
Wertschätzung handelt es sich um eine bestimmte Perspektive: Erhaltung
des Individuums, einer Gemeinde, einer Rasse, eines Staates, einer Kirche, eines
Glaubens, einer Kultur. Vermöge des Vergessens, daß es
nur ein perspektivisches Schätzen gibt, wimmelt alles von widersprechenden
Schätzungen und folglich von widersprechenden Antrieben in einem Menschen.
Das ist der Ausdruck der Erkrankung am Menschen im Gegensatz zum Tiere,
wo alle vorhandenen Instinkte ganz bestimmten Aufgaben genügen. Dies widerspruchsvolle
Geschöpf hat aber an seinem Wesen eine große Methode der Erkenntnis:
er fühlt viele Für und Wider, er erhebt sich zur Gerechtigkeit
zum Begreifen jenseits des Gut- und Böse-Schätzens. Der
weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen, der gleichsam Tastorgane
für alle Arten Mensch hat: und zwischeninnen seine großen Augenblicke
grandiosen Zusammenklangs der hohe Zufall auch in uns! Eine Art
planetarischer Bewegung. (Ebd., S. 186).»Wollen«
ist gleich Zweck-Wollen. »Zweck« enthält eine Wertschätzung.
(Ebd., S. 187).Umfang der moralischen Wertschätzungen: sie
sind fast in jedem Sinneseindruck mitspielend. Die Welt ist uns gefärbt
dadurch. (Ebd., S. 187).Wir haben die Zwecke und die Werte
hineingelegt: wir haben eine ungeheure latente Kraftmasse dadurch in uns:
aber in der Vergleichung der Werte ergibt sich, daß Entgegengesetztes
als wertvoll galt, daß viele Gütertafeln existierten (also nichts »an
sich« wertvoll). (Ebd., S. 187).Bei der Analyse der
einzelnen Gütertafeln ergab sich ihre Aufstellung als die Aufstellung von
Existenzbedingungen beschränkter Gruppen (und oft irrtümlicher):
zur Erhaltung. (Ebd., S. 187).Bei der Betrachtung der jetzigen
Menschen ergab sich, daß wir sehr verschiedene Werturteile handhaben,
und daß keine schöpferische Kraft mehr darin ist die Grundlage:
»die Bedingung der Existenz« fehlt dem moralischen Urteile jetzt.
Es ist viel überflüssiger, es ist lange nicht so schmerzhaft.
Es wird willkürlich. Chaos. (Ebd., S. 187).Wer
schafft das Ziel, das über der Menschheit stehen bleibt und auch über
dem einzelnen? Ehemals wollte man mit der Moral erhalten: aber niemand will jetzt
mehr erhalten, es ist nichts daran zu erhalten. Also eine versuchende Moral:
sich ein Ziel geben. (Ebd., S. 187).Was ist das Kriterium
der moralischen Handlung? 1. ihre Uneigennützigkeit, 2. ihre Allgemeingültigkeit
usw. Aber das ist Stuben-Moralistik. Man muß die Völker studieren und
zusehn, was jedesmal das Kriterium ist, und was sich darin ausdrückt: ein
Glaube »ein solches Verhalten gehört zu unseren ersten Existenz-Bedingungen«.
Unmoralisch heißt »untergang-bringend«. Nun sind alle diese
Gemeinschaften, in denen diese Sätze gefunden wurden, zugrunde gegangen:
einzelne dieser Sätze sind immer von neuem unterstrichen worden, weil jede
neu sich bildende Gemeinschaft sie wieder nötig hatte, z.B. »Du
sollst nicht stehlen«. Zu Zeiten, wo das Gemeingefühl für die
Gesellschaft (z.B. im imperium Romanum) nicht verlangt werden konnte, warf sich
der Trieb aufs »Heil der Seele«, religiös gesprochen: oder »das
größte Glück«, philosophisch geredet. Denn auch die griechischen
Moral-Philosophen empfanden nicht mehr mit ihrer poliV.
(Ebd., S. 188).Das Problem der Moral sehen und zeigen
das scheint mir die neue Aufgabe und Hauptsache. Ich bestreite. daß
das in der bisherigen Morlaphilosophie geschehen ist. (Ebd., S. 188).Wie
falsch, wie verlogen war die Menschheit immer über die Grundtatsachen ihrer
inneren Welt! Hier kein Auge zu haben, hier den Mund halten und den Mund auftun
.... (Ebd., S. 188).Es fehlt das Wissen und Bewußtsein
davon, welche Umdrehungen bereits das moralische Urteil durchgemacht hat
und wie wirklich mehrere Male schon im gründlichsten Sinne »Böse«
auf »Gut« umgetauft worden ist. Auf eine dieser Verschiebungen habe
ich mit dem Worte »Sittlichkeit der Sitte« hingewiesen. Auch das Gewissen
hat seine Sphäre vertauscht: es gab einen Herden-Gewissensbiß.
(Ebd., S. 189).A. Moral als Werk der Unmoralität.1.
Damit moralische Werte zur Herrschaft kommen, müssen lauter unmoralische
Kräfte und Affekte helfen. 2. Die Entstehung
moralischer Werte ist das Werk unmoralischer Affekte und Rücksichten.
B. Moral als Werk des Irrtums.
C. Moral mit sich selbst allgemach im Widerspruch.Vergeltung.
Wahrhaftigkeit, Zweifel, epoch, Richten. »Unmoralität«
des Glaubens an die Moral.Die Schritte:1.
absolute Herrschaft der Moral; alle biologischen Erscheinungen nach ihr gemessen
und gerichtet. 2. Versuch einer Identifikation
von Leben und Moral (Symptom einer erwachten Skepsis: Moral soll nicht mehr als
Gegensatz gefühlt werden); mehrere Mittel, selbst ein transzendenter Weg.
3. Entgegensetzung von Leben und Moral:
Moral vom Leben aus gerichtet und verurteilt.
D. Inwiefern die Moral dem Leben schädlich war:a)
dem Genuß des Lebens, der Dankbarkeit gegen das Leben usw., b)
der Verschönerung, Veredelung des Lebens, c)
der Erkenntnis des Lebens, d) der Entfaltung
des Lebens, insofern es die höchsten Erscheinungen desselben mit sich
selbst zu entzweien suchte. E. Gegenrechnung:
ihre Nützlichkeit für das Leben.1.
die Moral als Erhaltungsprinzip von größeren Ganzen, als Einschränkung
der Glieder: nützlich für das »Werkzeug«. 2.
die Moral als Erhaltungsprinzip im Verhältnis zur inneren Gefährdung
des Menschen durch Leidenschaften; nützlich für den »Mittelmäßigen«.
3. die Moral als Erhaltungsprinzip gegen die
lebenvernichtenden Einwirkungen tiefer Not und Verkümmerung: nützlich
für den »Leidenden«. 4.
die Moral als Gegenprinzip gegen die furchtbare Explosion der Mächtigen:
nützlich für den »Niedrigen«. (Ebd., S. 189-190).Denken
wir nicht gering von dem, was ein paar Jahrtausende Moral unserm Geiste angezüchtet
haben! (Ebd., S. 190).Zwei Typen der Moral sind nicht zu
verwechseln: eine Moral, mit der sich der gesund gebliebene Instinkt gegen die
beginnende décadence wehrt und eine andere Moral, mit der
eben diese décadence sich formuliert, rechtfertigt und selber abwärts
führt. Die erstere pflegt stoisch, hart, tyrannisch zu sein ( der Stoizismus
selbst war eine solche Hemmschuh-Moral); die andere ist schwärmerisch, sentimental,
voller Geheimnisse, sie hat die Weiber und »schönen Gefühle«
für sich ( das erste Christentum war eine solche Moral).
(Ebd., S. 190-191).Meine Absicht, die absolute Homogenität
in allem Geschehen zu zeigen und die Anwendung der moralischen Unterscheidung
nur als perspektivisch bedingt; zu zeigen, wie alles das, was moralisch
gelobt wird, wesensgleich mit allem Unmoralischen ist und nur, wie jede Entwicklung
der Moral, mit unmoralischen Mitteln und zu unmoralischen Zwecken ermöglicht
worden ist ; wie umgekehrt alles, was als unmoralisch in Verruf ist, ökonomisch
betrachtet, das Höhere und Prinzipiellere ist, und wie eine Entwicklung nach
größerer Fülle des Lebens notwendig auch den Fortschritt der
Unmoralität bedingt. »Wahrheit« der Grad, in dem wir uns
die Einsicht in diese Tatsache gestatten. (Ebd., S. 193-194).Zuletzt
sei man ohne Sorge: man braucht nämlich sehr viel Moralität, um in dieser
feinen Weise unmoralisch zu sein; ich will ein Gleichnis gebrauchen: Ein Physiologe,
der sich für eine Krankheit interessiert, und ein Kranker, der von
ihr geheilt werden soll, haben nicht das gleiche Interesse. Nehmen wir einmal
an, daß jene Krankheit die Moral ist denn sie ist eine Krankheit
und daß wir Europäer deren Kranke sind: was für eine feine
Qual und Schwierigkeit wird entstehen, wenn wir Europäer nun zugleich auch
deren neugierige Beobachter und Physiologen sind! Werden wir auch nur ernsthaft
wünschen, von der Moral loszukommen? Werden wir es wollen? Abgesehen von
der Frage, ob wir es können? Ob wir »geheilt« werden können?
(Ebd., S. 194).
2.2.2) Die Herde
Wessen
Wille zur Macht ist die Moral? Das Gemeinsame in der Geschichte
Europas seit Sokrates ist der Versuch, die moralischen Werte zur
Herrschaft über alle anderen Werte zu bringen; so daß sie nicht nur
Führer und Richter des Lebens sein sollen, sondern auch1.
der Erkenntnis,2. der Künste,3.
der staatlichen und gesellschaftlichen Bestrebungen.»Besserwerden«
als einzige Aufgabe, alles übrige dazu Mittel (oder Störung,
Hemmung, Gefahr; folglich bis zur Vernichtung zu bekämpfen ...). Eine
ähnliche Bewegung in China. Eine ähnliche Bewegung in Indien.
(Ebd., S. 194).Was bedeutet dieser Wille zur Macht seitens der
moralischen Werte, der in den ungeheuren Entwicklungen sich bisher auf der
Erde abgespielt hat? Antwort: drei Mächte sind hinter ihm versteckt:1.
der Instinkt der Herde gegen die Starken und Unabhängigen;2.
der Instinkt der Leidenden und Schlechtweggekommenen gegen die Glücklichen;3.
der Instinkt der Mittelmäßigen gegen die Ausnahmen. Ungeheurer
Vorteil dieser Bewegung, wieviel Grausamkeit, Falschheit und Borniertheit
auch in ihr mitgeholfen hat ( : denn die Geschichte vom Kampf der Moral mit
den Grundinstinkten des Lebens ist selbst die größte Immoralität,
die bisher auf Erden dagewesen ist ...). (Ebd., S. 195).Die
großen Dekadenz-Religionen rechnen immer auf die Unterstützung durch
die Herde. (Ebd., S. 200).Meine Philosophie ist auf Rangordnung
gerichtet, nicht auf eine individualistische Moral. Der Sinn der Herde soll
in der Herde herrschen, aber nicht über sie hinausgreifen: die Führer
der Herde bedürfen einer grundverschiedenen Wertung ihrer eignen Handlungen,
insgleichen die Unabhängigen, oder die »Raubtiere« usw..
(Ebd., S. 203).
2.2.3) Allgemein-Moralistisches
Es
ist eine Entnatürlichung der Moral, daß man die Handlung abtrennt
vom Menschen; daß man den Haß oder die Verachtung gegen die »Sünde«
wendet; daß man glaubt, es gäbe Handlungen, welche an sich gut oder schlecht sind.
Wiederherstellung der »Natur«: eine Handlung an sich ist vollkommen
leer an Wert: es kommt alles darauf an, wer sie tut. Ein und dasselbe »Verbrechen«
kann in einem Fall das höchste Vorrecht, im andern das Brandmal sein. Tatsächlich
ist es die Selbstsucht der Urteilenden, welche eine Handlung, resp. ihren Täter,
auslegt im Verhältnis zum eigenen Nutzen oder Schaden ( oder im Verhältniß
zur Ähnlichkeit oder Nicht-verwandtschaft mit sich.) (Ebd., S. 206-207).Wir
sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbstkreuzigung von zwei Jahrtausenden:
darin ist unsre längste Übung, unsre Meisterschaft vielleicht, unser
Raffinement in jedem Fall; wir haben die natürlichen Hänge mit dem bösen
Gewissen verschwistert. Ein umgekehrter Versuch wäre möglich: die unnatürlichen
Hänge, ich meine die Neigungen zum Jenseitigen, Sinnwidrigen, Denkwidrigen,
Naturwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesamt Welt-Verleumdungs-Ideale
waren, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern. (Ebd., S. 208). Moralistischer
Naturalismus: Rückführung des scheinbar emanzipierten, übernatürlichen
Moralwertes auf seine »Natur«: d.h. auf die natürliche Immoralität,
auf die natürliche »Nützlichkeit« usw.. Ich darf die Tendenz
dieser Betrachtungen als moralistischen Naturalismus bezeichnen: meine
Aufgabe ist, die scheinbar emanzipierten und naturlos gewordnen Moralwerte in
ihre Natur zurückzuübersetzen d.h. in ihre natürliche »Immoralität«.
NB. Vergleich mit der jüdischen »Heiligkeit«
und ihrer Naturbasis: ebenso steht es mit dem souverän gemachten Sittengesetz,
losgelöst von seiner Natur ( bis zum Gegensatz zur Natur ). Schritte
der Entnatürlichung der Moral (sogenannten »Idealisierung«:als
Weg zum Individual-Glück,als Folge der Erkenntnis,als
kategorischer Imperativ,als Weg zur Heiligung,als
Verneinung des Willens zum Leben.(Die schrittweise
Lebensfeindlichkeit der Moral.) (Ebd., S. 210-211).
2.2.4) Wie man die Tugend zur Herrschaft bringt
Nun
wird kein Philosoph darüber in Zweifel sein, was der Typus der Vollkommenheit
in der Politik ist; nämlich der Macchiavellismus. Aber der Macchiavellismus
pur ... ist übermenschlich, göttlich, transzendent, er wird von Menschen
nie erreicht, höchstens gestreift. Auch in dieser engeren Art von Politik,
in der Politik der Tugend, scheint das Ideal nie erreicht worden zu sein. Auch
Plato hat es nur gestreift. Man entdeckt, gesetzt daß man Augen für
versteckte Dinge hat, selbst noch an den unbefangensten und bewußtesten
Moralisten ( und das ist ja der Name für solche Politiker der
Moral, für jede Art Begründer neuer Moral-Gewalten), Spuren davon, daß
auch sie der menschlichen Schwäche ihren Tribut gezollt haben. Sie alle aspirierten,
zum mindesten in ihrer Ermüdung, auch für sich selbst zur Tugend: erster
und kapitaler Fehler eines Moralisten,als welcher Immoralist der Tat
zu sein hat. Daß er gerade das nicht scheinen darf, ist eine
andere Sache. Oder vielmehr ist es nicht eine andere Sache: es gehört eine
solche grundsätzliche Selbstverleugnung (moralisch ausgedrückt, Verstellung)
mit hinein in den Kanon des Moralisten und seiner eigensten Pflichtenlehre: ohne
sie wird er niemals zu seiner Art Vollkommenheit gelangen. Freiheit von
der Moral, auch von der Wahrheit, um jenes Zieles willen, das jedes Opfer
aufwiegt: Herrschaft der Moral so lautet jener Kanon. Die Moralisten
haben die Attitüde der Tugend nötig, auch die Attitüde der
Wahrheit; ihr Fehler beginnt erst, wo sie der Tugend nachgeben, wo sie die Herrschaft
über die Tugend verlieren, wo sie selbst moralisch werden, wahr
werden. Ein großer Moralist ist, unter anderem, notwendig auch ein großer
Schauspieler; seine Gefahr ist, daß seine Verstellung unversehens Natur
wird, wie es sein Ideal ist, sein esse und sein operari auf eine
göttliche Weise auseinander zu halten; Alles, was er tut, muß er sub
specie boni tun,sein hohes, fernes, anspruchsvolles Ideal! Ein göttliches
Ideal! Und in der Tat geht die Rede, daß der Moralist damit kein geringeres
Vorbild nachahmt als Gott selbst: Gott, diesen größten Immoralisten
der That den es giebt, der aber nichtsdestoweniger zu bleiben versteht, was er
ist, der gute Gott. (Ebd., S. 213-215).Mit der Tugend
selbst gründet man nicht die Herrschaft der Tugend; mit der Tugend selbst
verzichtet man auf Macht, verliert den Willen zur Macht. (Ebd., S. 215).Der
Sieg eines moralischen Ideals wird durch dieselben »unmoralischen«
Mittel errungen wie jeder Sieg: gewalt, Lüge, verleumdung, Ungerechtigkeit.
(Ebd., S. 215).Die Moral ist gerade so »unmoralisch«
wie jedwedes andre Ding auf Erden; die Moralität selbst ist eine Form der
Unmoralität. (Ebd., S. 215).Die
Moral in der Wertung von Rassen und Ständen. In Anbetracht, daß
Affekte und Grundtriebe bei jeder Rasse und bei jedem Stande etwas von ihren
Existenzbedingungen ausdrücken ( zum mindesten von den Bedingungen,
unter denen sie die längste Zeit sich durchgesetzt haben), heißt verlangen,
daß sie »tugendhaft« sind: daß
sie ihren Charakter wechseln, aus der Haut fahren und ihre Vergangenheit auswischen:heißt,
daß sie aufhören sollen, sich zu unterscheiden:heißt,
daß sie in Bedürfnissen und Ansprüchen sich anähnlichen sollen
deutlicher: daß sie zugrunde gehn.Der
Wille zu einer Moral erweist sich somit als die Tyrannei jener Art,
der diese eine Moral auf den Leib geschnitten ist, über andere Arten:
es ist die Vernichtung oder die Uniformierung zugunsten der herrschenden (sei
es, um ihr nicht mehr furchtbar zu sein, sei es, um von ihr ausgenutzt zu werden).
»Aufhebung der Sklaverei« angeblich ein Tribut an die »Menschenwürde«,
in Wahrheit eine Vernichtung einer grundverschiedenen Spezies ( Untergrabung
ihrer Werte und ihres Glücks ). Worin eine gegnerische Rasse
oder ein gegnerischer Stand seine Stärke hat, das wird ihm als sein Bösestes,
Schlimmstes ausgelegt: denn damit schadet er uns ( seine »Tugenden«
werden verleumdet und umgetauft). Es gilt als Einwand gegen Mensch und
Volk, wenn er uns schadet: aber von seinem Gesichtspunkt aus sind wir ihm
erwünscht, weil wir solche sind, von denen man Nutzen haben kann.Die
Forderung der »Vermenschlichung« (welche ganz naiv sich im Besitz
der Formel »was ist menschlich?« glaubt) ist eine Tartüfferie,
unter der sich eine ganz bestimmte Art Mensch zur Herrschaft zu bringen sucht:
genauer, ein ganz bestimmter Instinkt, der Herden-Instinkt. »Gleichheit
der Menschen«: was sich verbirgt unter der Tendenz, immer mehr Menschen
als Menschen gleichzusetzen. Die »Interessiertheit« in Hinsicht
auf die gemeine Moral. (Kunstgriff: die großen Begierden Herrschsucht
und Habsucht zu Protektoren der Tugend zu machen.) Inwiefern alle Art Geschäftsmänner
und Habsüchtige, alles, was Kredit geben und in Anspruch nehmen muß,
es nötig hat, auf gleichen Charakter und gleichen Wertbegriff zu dringen:
der Welt-Handel und -Austausch jeder Art erzwingt und kauft sich
gleichsam die Tugend. Insgleichen der Staat und jede An Herrschaft in Hinsicht
auf Beamte und Soldaten; insgleichen die Wissenschaft, um mit Vertrauen und Sparsamkeit
der Kräfte zu arbeiten. Insgleichen die Priesterschaft.
Hier wird also die gemeine Moral erzwungen, weil mit ihr ein Vorteil errungen
wird; und um sie zum Sieg zu bringen, wird Krieg und Gewalt geübt gegen die
Unmoralität nach welchem »Rechte«? Nach gar keinem Rechte:
sondern gemäß dem Selbsterhaltungsinstinkt. Dieselben Klassen bedienen
sich der Immoralität, wo sie ihnen nützt. (Ebd., S. 217-219).Moralinfreie
Tugend .... (Ebd., S. 221).
2.2.5) Das moralische Ideal
2.2.5.1) Zur Kritik der Ideale
Die
Begierde vergrößert das, was man haben will; sie wächst
selbst durch Nichterfüllung, die größten Ideen sind
die, welche die heftigste und längste Begierde geschaffen hat. Wir legen
den Dingen immer mehr Wert bei, je mehr unsre Begierde nach ihnen wächst:
wenn die »moralischen Werte« die höchsten Werte geworden sind,
so verrät dies, daß das moralische Ideal das unerfüllteste
gewesen ist ( insofern es galt als Jenseits alles Leids, als Mittel
der Seligkeit). Die Menschheit hat mit immer wachsender Brunst nur Wolken umarmt:
sie hat endlich ihre Verzweiflung, ihr Unvermögen »Gott« genannt
.... (Ebd., S. 231).Die Naivität in Hinsicht auf die
letzten »Wünschbarkeiten«, während amn das
»Warum« des Menschen nicht kennt. (Ebd., S. 231).Was
ist die Falschmünzerei an der Moral? Sie gibt vor, etwas zu wissen,
nämlich was »gut und böse« sei. Das heißt wissen wollen,
wozu der Mensch da ist, sein Ziel, seine Bestimmung zu kennen. Das heißt
wissen wollen, daß der Mensch ein Ziel, eine Bestimmung habe.
(Ebd., S. 231).Daß die Menschheit eine Gesamtaufgabe zu lösen
habe, daß sie als Ganzes irgendeinem Ziel entgegenlaufe, diese sehr unklare
und willkürliche Vorstellung ist noch sehr jung. Vielleicht wird man sie
wieder los, bevor sie eine »fixe Idee« wird... Sie ist kein Ganzes,
diese Menschheit: sie ist eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden
Lebensprozessen, sie hat nicht eine Jugend und darauf eine Reife
und endlich ein Alter. Sondern die Schichten liegen durcheinander und übereinander
und in einigen Jahrtausenden kann es immer noch jüngere Typen Mensch
geben, als wir sie heute nachweisen können. Die décadence andererseits
gehört zu allen Epochen der Menschheit: überall gibt es Auswurf- und
Verfalls-Stoffe, es ist ein Lebensprozeß selbst, das Ausscheiden der Niedergangs-
und Abfalls- Gebilde. (Ebd., S. 232).Unter der Gewalt des
christlichen Vorurteils gab es diese Frage gar nicht: der Sinn lag in der
Errettung der einzelnen Seele; das Mehr oder Weniger in der Dauer der Menschheit
kam nicht in Betracht. Die besten Christen wünschten, daß es möglichst
bald ein Ende habe; über das, was dem einzelnen not tue, gab es
keinen Zweifel .... Die Aufgabe stellte sich jetzt für jeden einzelnen,
wie in irgendwelcher Zukunft für einen Zukünftigen: der Wert, Sinn,
Umkreis der Werte war fest, unbedingt, ewig, eins mit Gott .... Das, was von diesem
ewigen Typus abwich, war sündlich, teuflisch, verurteilt .... Das Schwergewicht
des Wertes lag für jede Seele in sich selber: Heil oder Verdammnis! Das Heil
der ewigen Seele! Extremste Form der Verselbstung .... Für jede Seele
gab es nur eine Vervollkommnung; nur ein Ideal; nur einen Weg zur Erlösung...
Extremste Form der Gleichberechtigung, angeknüpft an eine optische
Vergrößerung der eigenen Wichtigkeit bis ins Unsinnige .... Lauter
unsinnig wichtige Seelen, mit entsetzlicher Angst um sich selbst gedreht ....
(Ebd., S. 232-233).Nun glaubt kein Mensch mehr an diese absurde
Wichtigtuerei: und wir haben unsere Weisheit durch ein Sieb der Verachtung geseiht.
Trotzdem bleibt unerschüttert die optische Gewöhnung, einen Wert
des Menschen in der Annäherung an einen idealen Menschen zu suchen:
man hält im Grunde sowohl die Verselbstungs-Perspektive als die Gleichberechtigung
vor dem Ideal aufrecht. In summa: man glaubt zu wissen, was, in Hinsicht auf
den idealen Menschen, die letzte Wünschbarkeit sei .... Dieser Glaube
ist aber nur die Folge einer ungeheuren Verwöhnung durch das christliche
Ideal: als welches man, bei jeder vorsichtigen Prüfung des »idealen
Typus«, sofort wieder herauszieht. Man glaubt,erstens,
zu wissen, daß die Annäherung an einen Typus wünschbar ist;zweitens,
zu wissen, welcher Art dieser Typus ist;drittens,
daß jede Abweichung von diesem Typus ein Rückgang, eine Hemmung, ein
Kraft- und Machtverlust des Menschen ist ...Zustände
träumen, wo dieser vollkommene Mensch die ungeheure Zahlen-Majorität
für sich hat: höher haben es auch unsre Sozialisten, selbst die Herren
Utilitarier nicht gebracht. Damit scheint ein Ziel in die Entwicklung
der Menschheit zu kommen: jedenfalls ist der Glaube an einen Fortschritt zum
Ideal die einzige Form, in der eine Art Ziel in der Menschheits-Geschichte
heute gedacht wird. In summa: man hat die Ankunft des »Reiches Gottes«
in die Zukunft verlegt, auf die Erde, ins Menschliche, aber man hat im
Grunde den Glauben an das alte Ideal festgehalten .... (Ebd., S. 233-234).Verstecktere
Formen des Kultus des christlichen Moral-Ideals. Der weichliche
und feige Begriff »Natur«, der von den Naturschwärmern
auf-gebracht ist ( abseits von allen Instinkten für das Furchtbare,
Unerbittliche und Zynische auch der »schönsten« Aspekte), eine
Art Versuch, jene moralisch-christliche »Menschlichkeit« aus der Natur
herauszulesen, der Rousseausche Naturbegriff, wie als ob »Natur«
Freiheit, Güte, Unschuld, Billigkeit, Gerechtigkeit, Idyll sei,
immer Kultus der christlichen Moral im Grunde. Stellen zu sammeln,
was eigentlich die Dichter verehrt haben, z.B. am Hochgebirge usw.. Was
Goethe an ihr haben wollte, warum er Spinoza verehrte . Vollkommene
Unwissenheit der Voraussetzung dieses Kultus .... Der weichliche
und feige Begriff »Mensch« á la Comte und Stuart Mill,
womöglich gar Kultus-Gegenstand .... Es ist immer wieder der Kultus der christlichen
Moral unter einem neuen Namen .... Die Freidenker, z.B. Guyau. Der weichliche
und feige Begriff »Kunst«, als Mitgefühl für
alles Leidende, Schlechweggekommene (selbst die Historie, z.B. Thierrys):
es ist immer wieder der Kultus des christlichen Moral-Ideals. Und nun gar das
ganze sozialistische Ideal: nichts als ein tölpelhaftes Mißverständnis
jenes christlichen Moral-Ideals. (Ebd., S. 234).Die Herkunft
des Ideals. Untersuchung des Bodens, auf dem es wächst.A.
Von den »ästhetischen« Zuständen ausgehen, wo die Welt
voller, runder, vollkommener gesehen wird : das heidnische Ideal: darin
die Selbstbejahung vorherrschend (man gibt ab ). Der höchste Typus:
das klassische Ideal als Ausdruck eines Wohlgeratenseins aller Hauptinstinkte.
Darin wieder der höchste Stil: der große Stil. Ausdruck des »Willens
zur Macht« selbst. Der am meisten gefürchtete Instinkt wagt sich
zu bekennen.B. Von Zuständen
ausgehen, wo die Welt leerer, blässer, verdünnter gesehen wird, wo die
»Vergeistigung« und Unsinnlichkeit den Rang des Vollkommnen einnimmt,
wo am meisten das Brutale, Tierisch-Direkte, Nächste vermieden wird (
man rechnet ab, man wählt ): der »Weise«, »der
Engel«, priesterlich = jungfräulich = unwissend, physiologische Charakteristik
solcher Idealisten : das anämische Ideal. Unter Umständen kann
es das Ideal solcher Naturen sein, welche das erste, das heidnische darstellen
(: so sieht Goethe in Spinoza seinen »Heiligen«).C.
Von Zuständen ausgehen, wo wir die Welt absurder, schlechter, ärmer,
täuschender empfinden, als daß wir in ihr noch das Ideal vermuten oder
wünschen ( man negiert, man vernichtet ): die Projektion
des Ideals in das Wider-Natürliche, Wider-Tatsächliche, Wider-Logische;
der Zustand dessen, der so urteilt ( die »Verarmung« der Welt
als Folge des Leidens: man nimmt, man gibt nicht mehr ): das widernatürliche
Ideal.(Das christliche Ideal ist ein Zwischengebilde
zwischen dem zweiten und dritten, bald mit dieser, bald mit jener Gestalt überwiegend.)Die
drei Ideale:A. Entweder eine Verstärkung
des Lebens ( heidnisch), oderB.
eine Verdünnung des Lebens ( anämisch), oderC.
eine Verleugnung des Lebens ( widernatürlich). Die »Vergöttlichung«
gefühlt: in der höchsten Fülle in der zartesten Auswahl
in der Verachtung und Zerstörung des Lebens. (Ebd., S. 234-236).A.
Der konsequente Typus. Hier wird begriffen, daß man auch das Böse
nicht hassen dürfe, daß man ihm nicht widerstehen dürfe, daß
man auch nicht gegen sich selbst Krieg führen dürfe; daß man das
Leiden, welches eine solche Praxis mit sich bringt, nicht nur hinnimmt; daß
man ganz und gar in den positiven Gefühlen lebt; daß man die Partei
der Gegner nimmt in Wort und Tat; daß man durch eine Superfötation
der friedlichen, gütigen, versöhnlichen, hilf- und liebreichen Zustände
den Boden der anderen Zustände verarmt ..., daß man eine fortwährende
Praxis nötig hat. Was ist hier erreicht? Der buddhistische
Typus oder die vollkommene Kuh. Dieser Standpunkt ist nur möglich,
wenn kein moralischer Fanatismus herrscht, d. h. wenn das Böse nicht um seiner
selbst willen gehaßt wird, sondern nur, weil es den Weg abgibt zu Zuständen,
welche uns wehtun (Unruhe, Arbeit, Sorge, Verwicklung, Abhängigkeit).Dies
der buddhistische Standpunkt: hier wird nicht die Sünde gehaßt, hier
fehlt der Begriff »Sünde«.B.
Der inkonsequente Typus. Man führt Krieg gegen das Böse,
man glaubt, daß der Krieg um des Guten willen nicht die moralische
und Charakter-Konsequenz habe, die sonst der Krieg mit sich bringt (und derentwegen
man ihn als böse verabscheut). Tatsächlich verdirbt ein solcher Krieg
gegen das Böse viel gründlicher als irgendeine Feindseligkeit von Person
zu Person; und gewöhnlich schiebt sich sogar »die Person« als
Gegner, wenigstens imaginär, wieder ein (der Teufel, die bösen Geister
usw.). Das feindselige Verhalten, Beobachten, Spionieren gegen alles, was in uns
schlimm ist und schlimmen Ursprungs sein könnte, endet mit der gequältesten
und unruhigsten Verfassung: so daß jetzt »Wunder«, Lohn, Ekstase,
Jenseitigkeits-Lösung wünschbar werden .... Der christliche Typus:
oder der vollkommene Mucker.C.
Der stoische Typus. Die Festigkeit, die Selbstbeherrschung, das Unerschütterliche,
der Friede als Unbeugsamkeit eines langen Willens die tiefe Ruhe, der Verteidigungszustand,
die Burg, das kriegerische Mißtrauen die Festigkeit der Grundsätze;
die Einheit von Wille und Wissen; die Hochachtung vor sich. Einsiedler-Typus.
Der vollkommene »Hornochs«. (Ebd., S. 236-237).Ein
Ideal, das sich durchsetzen oder noch behaupten will, sucht sich zu stützen
a) durch eine untergeschobene Herkunft,b)
durch eine angebliche Verwandtschaft mit schon bestehenden mächtigen Idealen,c)
durch die Schauder des Geheimnisses, wie als ob hier eine undiskutierbare Macht
rede,d) durch Verleumdung seiner gegnerischen
Ideale,e) durch eine lügnerische Lehre
des Vorteils, den es mit sich bringt, z.B. Glück, Seelenruhe, Frieden
oder auch die Beihilfe eines mächtigen Gottes usw. Zur Psychologie
des Idealisten: Carlyle, Schiller, Michelet.Hat
man alle Defensiv- und Schutz-Maßregeln aufgedeckt, mit denen ein Ideal
sich erhält: ist es damit widerlegt? Es hat die Mittel angewendet,
durch die alles Lebendige lebt und wächst sie sind allesamt »unmoralisch«.
Meine Einsicht: alle die Kräfte und Triebe, vermöge deren es Leben und
Wachstum gibt, sind mit dem Banne der Moral belegt: Moral als Instinkt
der Verneinung des Lebens. Man muß die Moral vernichten, um das Leben zu
befreien. (Ebd., S. 237-238).Tendenz der Moral-Entwicklung.
Jeder wünscht, daß keine andere Lehre und Schätzung der
Dinge zur Geltung komme außer einer solchen, bei der er selbst gut wegkommt.
Grundtendenz folglich der Schwachen und Mittelmäßigen
aller Zeiten, die Stärkeren schwächer zu machen, herunterzuziehen:
Hauptmittel das moralische Urteil. Das Verhalten des Stärkeren gegen
den Schwächeren wird gebrandmarkt; die höheren Zustände des Stärkeren
bekommen schlechte Beinamen. Der Kampf der vielen gegen die wenigen, der Gewöhnlichen
gegen die Seltenen, der Schwachen gegen die Starken : eine seiner feinsten
Unterbrechungen ist die, daß die Ausgesuchten, Feinen, Anspruchsvolleren
sich als die Schwachen präsentieren und die gröberen Mittel der Macht
von sich weisen. (Ebd., S. 238-239).1. Der angeblich reine
Erkenntnistrieb aller Philosophen ist kommandiert durch ihre Moral »Wahrheiten«,
ist nur scheinbar unabhängig ....2.
Die »Moralwahrheiten« »so soll gehandelt werden« sind
bloße Bewußtseins-Formen eines müdewerdenden Instinkts »so
und so wird bei uns gehandelt«. Das »Ideal« soll einen Instinkt
wiederherstellen, stärken; es schmeichelt dem Menschen, gehorsam zu sein,
wo er nur Automat ist. (Ebd., S. 239).Moral als Verführungsmittel.
»Die Natur ist gut, denn ein weiser und guter Gott ist ihre Ursache.
Wem fällt also die Verantwortung für die »Verderbnis der Menschen«
zu? Ihren Tyrannen und Verführern, den herrschenden Ständen man
muß sie vernichten« ; die Logik Rousseaus (vgl. die Logik
Pascals, welcher den Schluß auf die Erbsünde macht). Man vergleiche
die verwandte Logik Luthers. In beiden Fällen wird ein Vorwand gesucht,
ein unersättliches Rachebedürfnis als moralisch religiöse
Pflicht einzuführen. Der Haß gegen den regierenden Stand sucht sich
zu heiligen ... (die »Sündhaftigkeit Israels«: Grundlage für
die Machtstellung der Priester). Man vergleiche die verwandte Logik des Paulus.
Immer ist es die Sache Gottes, unter der diese Reaktionen auftreten, die Sache
des Rechts, der Menschlichkeit usw.. (Ebd., S. 239).
2.2.5.2) Kritik des guten Menschen, des Heiligen usw.
Der
»gute Mensch«. Oder: die Hemiplegie der Tugend. Für jede
starke und Natur gebliebene Art Mensch gehört Liebe und Haß, Dankbarkeit
und Rache, Güte und Zorn, Ja-tun und Nein-tun zueinander. Man ist gut, um
den Preis, daß man auch böse zu sein weiß; man ist böse,
weil man sonst nicht gut zu sein verstünde. Woher nun jene Erkrankung und
ideologische Unnatur, welche diese Doppelheit ablehnt welche als das Höhere
lehrt, nur halbseitig tüchtig zu sein? Woher die Hemiplegie der Tugend, die
Erfindung des guten Menschen? ... Die Forderung geht dahin, daß der Mensch
sich an jenen Instinkten verschneide, mit denen er feind sein kann, schaden kann,
zürnen kann, Rache heischen kann... Diese Unnatur entspricht dann jener dualistischen
Konzeption eines bloß guten und eines bloß bösen Wesens (Gott,
Geist, Mensch), in ersterem alle positiven, in letzterem alle negativen Kräfte,
Absichten, Zustände summierend. Eine solche Wertungsweise glaubt sich
damit »idealistisch«; sie zweifelt nicht daran, eine höchste
Wünschbarkeit in der Konzeption »des Guten« angesetzt zu haben.
Geht sie auf ihren Gipfel, so denkt sie sich einen Zustand aus, wo alles Böse
annulliert ist und wo in Wahrheit nur die guten Wesen übriggeblieben sind.
Sie hält es also nicht einmal für ausgemacht, daß jener Gegensatz
von Gut und Böse sich gegenseitig bedinge; umgekehrt, letzteres soll verschwinden
und ersteres soll übrigbleiben, das eine hat ein Recht zu sein, das andere
sollte gar nicht da sein .... Was wünscht da eigentlich?Man
hat sich zu allen Zeiten und sonderlich zu den christlichen Zeiten viel Mühe
gegeben, den Menschen auf diese halbseitige Tüchtigkeit, auf den »Guten«
zu reduzieren: noch heute fehlt es nicht an kirchlich Verbildeten und Geschwächten,
denen diese Absicht mit der »Vermenschlichung« überhaupt oder
mit dem »Willen Gottes« oder mit dem »Heil der Seele«
zusammenfällt. Hier wird als wesentliche Forderung gestellt, daß der
Mensch nichts Böses tue, daß er unter keinen Umständen schade,
schaden wolle. Als Weg dazu gilt: die Verschneidung aller Möglichkeit zur
Feindschaft, die Aushängung aller Instinkte des Ressentiments, der »Frieden
der Seele« als chronisches Übel.Diese
Denkweise, mit der ein bestimmter Typus Mensch gezüchtet wird, geht von einer
absurden Voraussetzung aus: sie nimmt das Gute und das Böse als Realitäten,
die mit sich im Widerspruch sind (nicht als komplementäre Wertbegriffe,
was die Wahrheit wäre), sie rät die Partei des Guten zu nehmen, sie
verlangt, daß der Gute dem Bösen bis in die letzte Wurzel entsagt und
widerstrebt sie verneint tatsächlich damit das Leben, welches
in allen seinen Instinkten sowohl das Ja wie das Nein hat. Nicht daß sie
dies begriffe: sie träumt umgekehrt davon, zur Ganzheit, zur Einheit, zur
Stärke des Lebens zurückzukehren: sie denkt es sich als Zustand der
Erlösung, wenn endlich der eignen innern Anarchie, der Unruhe zwischen jenen
entgegengesetzten Wert-Antrieben ein Ende gemacht wird. Vielleicht gab
es bisher keine gefährlichere Ideologie, keinen größeren Unfug
in psychologicis als diesen Willen zum Guten: man zog den widerlichsten
Typus, den unfreien Menschen groß, den Mucker; man lehrte, eben nur
als Mucker sei man auf dem rechten Wege zur Gottheit, nur ein Mucker-Wandel sei
ein göttlicher Wandel.Und selbst hier noch
behält das Leben recht das Leben, welches das Ja nicht vom Nein zu
trennen weiß : was hilft es, mit allen Kräften den Krieg für
böse zu halten, nicht schaden, nicht Neintun zu wollen! man führt doch
Krieg! man kann gar nicht anders! Der gute Mensch, der dem Bösen entsagt
hat, behaftet, wie es ihm wünschbar scheint mit jener Hemiplegie der Tugend,
hört durchaus nicht auf, Krieg zu führen, Feinde zu haben, nein zu sagen,
nein zu tun. Der Christ zum Beispiel haßt die »Sünde«!
und was ist ihm nicht alles »Sünde«! Gerade durch jenen
Glauben an einen Moral-Gegensatz von Gut und Böse ist ihm die Welt vom Hassenswerten,
vom Ewigzu-Bekämpfenden übervoll geworden. »Der Gute« sieht
sich wie umringt vom Bösen und unter dem beständigen Ansturm des Bösen,
er verfeinert sein Auge, er entdeckt unter all seinem Dichten und Trachten noch
das Böse: und so endet er, wie es folgerichtig ist, damit, die Natur für
böse, den Menschen für verderbt, das Gutsein als Gnade (das heißt
als menschenunmöglich) zu verstehen. In summa: er verneint das Leben,
er begreift, wie das Gute als oberster Wert das Leben verurteilt .... Damit
sollte seine Ideologie von Gut und Böse ihm als widerlegt gelten. Aber eine
Krankheit widerlegt man nicht. Und so konzipiert er ein anderes Leben!
(Ebd., S. 241-244).Zur Kritik des guten Menschen.
Rechtschaffenheit, Würde, Pflichtgefühl, Gerechtigkeit, Menschlichkeit,
Ehrlichkeit, Geradheit, gutes Gewissen, sind wirklich mit diesen wohlklingenden
Worten Eigenschaften um ihrer selbst willen bejaht und gutgeheißen? oder
sind hier an sich wertindifferente Eigenschaften und Zustände nur unter irgendwelchen
Gesichtspunkt gerückt, wo sie Wert bekommen? Liegt der Wert dieser Eigenschaften
in ihnen oder in dem Nutzen, Vorteil, der aus ihnen folgt (zu folgen scheint,
zu folgen erwartet wird)? Ich meine hier natürlich nicht einen Gegensatz
von ego und alter in der Beurteilung: die Frage ist, ob die Folgen
es sind, sei es für den Träger dieser Eigenschaften, sei es für
die Umgebung, Gesellschaft, »Menschheit«, derentwegen diese Eigenschaften
Wert haben sollen: oder ob sie an sich selbst Wert haben .... Anders gefragt:
ist es die Nützlichkeit, welche die entgegengesetzten Eigenschaften
verurteilen, bekämpfen, verneinen heißt ( Unzuverlässigkeit,
Falschheit, Verschrobenheit, Selbst-Ungewißheit, Unmenschlichkeit )?
Ist das Wesen solcher Eigenschaften oder nur die Konsequenz solcher Eigenschaften
verurteilt? Anders gefragt: wäre es wünschbar, daß Menschen
die ser zweiten Eigenschaften nicht existieren? Das wird jedenfalls
geglaubt .... Aber hier steckt der Irrtum, die Kurzsichtigkeit, die Borniertheit
des Winkel-Egoismus. Anders ausgedrückt: wäre es wünschbar, Zustände
zu schaffen, in denen der ganze Vorteil auf Seiten der Rechtschaffenen ist
so daß die entgegengesetzten Naturen und Instinkte entmutigt würden
und langsam ausstürben? Dies ist im Grunde eine Frage des Geschmacks und
der Ästhetik: wäre es wünschbar, daß die »achtbarste«,
d.h. langweiligste Spezies Mensch übrigbliebe? die Rechtwinkligen, die Tugendhaften,
die Biedermänner, die Braven, die Geraden, die »Hornochsen«?
Denkt man sich die ungeheure Überfülle der »Anderen« weg:
so hat sogar der Rechtschaffene nicht einmal mehr ein Recht auf Existenz: er ist
nicht mehr nötig, und hier begreift man, daß nur die grobe Nützlichkeit
eine solche unausstehliche Tugend zu Ehren gebracht hat. Die Wünschbarkeit
liegt vielleicht gerade auf der umgekehrten Seite: Zustände schaffen, bei
denen der »rechtschaffene Mensch« in die bescheidne Stellung eines
»nützlichen Werkzeugs« herabgedrückt wird als das
»ideale Herdentier«, bestenfalls Herden-Hirt: kurz, bei denen er nicht
mehr in die obere Ordnung zu stehen kommt: welche andere Eigenschaften
verlangt. (Ebd., S. 244-246).Der »gute Mensch«
als Tyrann. Die Menschheit hat immer denselben Fehler wiederholt: daß
sie aus einem Mittel zum Leben einen Maßstab des Lebens gemacht hat;
daß sie statt in der höchsten Steigerung des Lebens selbst,
im Problem des Wachstums und der Erschöpfung, das Maß zu finden
die Mittel zu einem ganz bestimmten Leben zum Ausschluß aller anderen Formen
des Lebens, kurz zur Kritik und Selektion des Lebens benutzt hat. D.h. der Mensch
liebt endlich die Mittel um ihrer selbst willen und vergißt sie als
Mittel: so daß sie jetzt als Ziele ihm ins Bewußtsein treten, als
Maßstäbe von Zielen... d.h. eine bestimmte Spezies Mensch behandelt
ihre Existenzbedingungen als gesetzlich aufzuerlegende Bedingungen, als »Wahrheit«,
»Gut«, »Vollkommen«: sie tyrannisiert .... Es ist
eine Form des Glaubens, des Instinkts, daß eine Art Mensch nicht
die Bedingtheit ihrer eignen Art, ihre Relativität im Vergleich zu anderen
einsieht Wenigstens scheint es zu Ende zu sein mit einer Art Mensch (Volk, Rasse),
wenn sie tolerant wird, gleiche Rechte zugesteht und nicht mehr daran denkt, Herr
sein zu wollen. (Ebd., S. 246).Bescheiden, fleißig,
wohlwollend, mäßig: so wollt ihr den Menschen? den guten Menschen?
Aber mich dünkt das nur der ideale Sklave, der Sklave der Zukunft.
(Ebd., S. 247).Die Metamorphosen der Sklaverei; ihre Verkleidung
unter religiöse Mäntel; ihre Verklärung durch die Moral.
(Ebd., S. 247).Der ideale Sklave (der »gute« Mensch).
Wer sich nicht als »Zweck« ansetzen kann, noch überhaupt
von sich aus Zwecke ansetzen kann, der gibt der Moral der Entselbstung
die Ehre instinktiv. Zu ihr überredet ihn alles: seine Klugheit, seine
Erfahrung, seine Eitelkeit. Und auch der Glaube ist eine Entselbstung. (Ebd.,
S. 247).Ich habe dem bleichsüchtigen Christen-Ideale den Krieg
erklärt (samt dem, was ihm nahe verwandt ist), nicht in der Absicht, es zu
vernichten, sondern nur um seiner Tyrannei ein Ende zu setzen und Platz
frei zu bekommen für neue Ideale, für robustere Ideale .... Die
Fortdauer des christlichen Ideals gehört zu den wünschenswertesten Dingen,
die es gibt: und schon um der Ideale willen, die neben ihm und vielleicht über
ihm sich geltend machen wollen, sie müssen Gegner, starke Gegner haben,
um stark zu werden. So brauchen wir Immoralisten die Macht der Moral:
unser Selbsterhaltungstrieb will, daß unsre Gegner bei Kräften bleiben,
er will nur Herr über sie werden. (Ebd., S. 248-249).
2.2.5.3) Von der Verleumdung der sogenannten bösen Eigenschaften
Egoismus
und sein Problem! Die christliche Verdüsterung in Larochefoucauld, welcher
ihn überall herauszog und damit den Wert der Dinge und Tugenden vermindert
glaubte! Dem entgegen suchte ich zunächst zu beweisen, daß es gar nichts
anderes geben könne als Egoismus, daß den Menschen, bei denen
das ego schwach und dünn wird, auch die Kraft der großen Liebe schwach
wird, daß die Liebendsten vor allem es aus Stärke ihres ego
sind, daß Liebe ein Ausdruck von Egoismus ist usw. Die falsche Wertschätzung
zielt in Wahrheit auf das Interesse1. derer,
denen genützt, geholfen wird, der Herde;2.
enthält sie einen pessimistischen Argwohn gegen den Grund des Lebens;3.
möchte sie die prachtvollsten und wohlgeratensten Menschen verneinen; Furcht;4.
will sie den Unterliegenden zum Rechte verhelfen gegen die Sieger;5.
bringt sie eine universale Unehrlichkeit mit sich, und gerade bei den wertvollsten
Menschen. (Ebd., S. 249).Ursprung
der Moralwerte. Der Egoismus ist so viel wert, als der physiologisch
wert ist, der ihn hat. Jeder Einzelne ist die ganze Linie der Entwicklung noch
(und nicht nur, wie ihn die Moral auffaßt, etwas das mit der Geburt beginnt):Stellt
er das Aufsteigen der Linie Mensch dar, so ist sein Wert in der Tat außerordentlich;
und die Sorge um Erhaltung und Begünstigung seines Wachstums darf extrem
sein. (Es ist die Sorge um die in ihm verheißene Zukunft, welche dem wohlgeratenen
Einzelnen ein so außerordentliches Recht auf Egoismus gibt).Stellt
er die absteigende Linie dar, den Verfall, die chronische Erkrankung: so kommt
ihm wenig Wert zu: und die erste Billigkeit ist, daß er so wenig als möglich
Platz, Kraft und Sonnenschein den Wohlgeratenen wegnimmt. In diesem Falle hat
die Gesellschaft die Niederhaltung des Egoismus ( der mitunter absurd,
krankhaft, aufrührerisch sich äußert ) zur Aufgabe: handle
es sich nun um Einzelne oder um ganze verkommende verkümmerte Volks-Schichten.
Eine Lehre und Religion der »Liebe«, der Niederhaltung der
Selbstbejahung, des Duldens, Tragens, Helfens, der Gegenseitigkeit in Tat und
Wort kann innerhalb solcher Schichten vom höchsten Werte sein, selbst mit
den Augen der Herrschenden gesehn: denn sie hält die Gefühle der Rivalität,
des Ressentiment, des Neides nieder, die allzu natürlichen Gefühle der
Schlechtweggekommenen, sie vergöttlicht ihnen selbst unter dem Ideal
der Demut und des Gehorsams das Sklave-sein, das Beherrschtwerden, das Armsein,
das Kranksein, das Unten-stehn. Hieraus ergibt sich, warum die herrschenden Klassen
oder Rassen und Einzelnen jeder Zeit den Kultus der Selbstlosigkeit, das Evangelium
der Niedrigen, den »Gott am Kreuze« aufrecht erhalten haben.Das
Übergewicht einer altruistischen Wertungsweise ist die Folge eines Instinktes
für Mißraten-sein. Das Werturteil auf unterstem Grunde sagt hier: »ich
bin nicht viel wert«: ein bloß physiologisches Werturteil, noch deutlicher:
das Gefühl der Ohnmacht, der Mangel der großen bejahenden Gefühle
der Macht (in Muskeln, Nerven, Bewegungszentren). Dies Werturteil übersetzt
sich, je nach der Kultur dieser Schichten, in ein moralisches oder religiöses
Urteil ( die Vorherrschaft religiöser und moralischer Urteile ist
immer ein Zeichen niedriger Kultur ): es sucht sich zu begründen,
aus Sphären, woher ihnen der Begriff »Wert« überhaupt bekannt
ist. Die Auslegung, mit der der christliche Sünder sich zu verstehen glaubt,
ist ein Versuch, den Mangel an Macht und Selbstgewißheit berechtigt zu finden:
er will lieber sich schuldig finden, als umsonst sich schlecht fühlen: an
sich ist es ein Symptom von Verfall, Interpretationen dieser Art überhaupt
zu brauchen. In andern Fällen sucht der Schlechtweggekommene den Grund dafür
nicht in seiner »Schuld« (wie der Christ), sondern in der Gesellschaft:
der Sozialist, der Anarchist, der Nihilist, indem sie ihr Dasein als etwas empfinden,
an dem jemand schuld sein soll, ist damit immer noch der Nächstverwandte
des Christen, der auch das Sich-schlecht-Befinden und Mißraten besser zu
ertragen glaubt, wenn er jemanden gefunden hat, den er dafür verantwortlich
machen kann. Der Instinkt der Rache und des Ressentiment erscheint hier
in beiden Fällen als Mittel, es auszuhalten, als Instinkt der Selbsterhaltung:
ebenso wie die Bevorzugung der altruistischen Theorie und Praxis. Der Haß
gegen den Egoismus, sei es gegen den eigenen, wie beim Christen, sei es gegen
den fremden, wie beim Sozialisten, ergibt sich dergestalt als ein Werturteil unter
der Vorherrschaft der Rache; andrerseits als eine Klugheit der Selbsterhaltung
Leidender durch Steigerung ihrer Gegenseitigkeits- und Solidaritätsgefühle
.... Zuletzt ist, wie schon angedeutet, auch jene Entladung des Ressentiment im
Richten, Verwerfen, Bestrafen des Egoismus (des eigenen oder eines fremden) noch
ein Instinkt der Selbsterhaltung bei Schlechtweggekommenen. In summa: der
Kultus des Altruismus ist eine spezifische Form des Egoismus, die unter bestimmten
physiologischen Voraussetzungen regelmäßig auftritt.Wenn
der Sozialist mit einer schönen Entrüstung »Gerechtigkeit«,
»Recht«, »gleiche Rechte« verlangt, so steht er nur unter
dem Druck seiner ungenügenden Kultur, welche nicht zu begreifen weiß,
warum er leidet: andrerseits macht er sich ein Vergnügen damit; befände
er sich besser, so würde er sich hüten, so zu schreien: er fände
dann anderswo sein Vergnügen. Dasselbe gilt vom Christen: »die Welt«
wird von ihm verurteilt, verleumdet, verflucht er nimmt sich selbst nicht
aus. Aber das ist kein Grund, sein Geschrei ernst zu nehmen. In beiden Fällen
sind wir immer noch unter Kranken, denen es wohltut, zu schreien, denen die Verleumdung
eine Erleichterung ist. (Ebd., S. 252-255).Die Verinnerlichung
des Menschen. Die Verinnerlichung entsteht, indem mächtige Triebe,
denen mit Einrichtung des Friedens und der Gesellschaft die Entladung nach außen
versagt wird, sich nach innen zu schadlos zu halten suchen, im Bunde mit der Imagination.
Das Bedürfnis nach Feindschaft, Grausamkeit, Rache, Gewaltsamkeit wendet
sich zurück, »tritt zurück«; im Erkennenwollen ist Habsucht
und Erobern: im Künstler tritt die zurückgetretene Verstellungs- und
Lügenkraft auf; die Triebe werden zu Dämonen umgeschaffen, mit denen
es Kampf gibt usw., (Ebd., S. 255-256).Der Mächtige
lügt immer. (Ebd., S. 257).Schopenhauer hat die hohe
Intellektualität als Loslösung vom Willen ausgelegt; er hat das Frei-werden
von den Moral-Vorurteilen, welches in der Entfesselung des großen Geistes
liegt, die typische Unmoralität des Genies, nicht sehen wollen, er
hat künstlich das, was er allein ehrte, den moralischen Wert der »Entselbstung«,
auch als Bedingung der geistigsten Tätigkeit, des »Objektiv«-Blickens,
angesetzt. »Wahrheit«, auch in der Kunst, tritt hervor nach Abzug
des Willens .... Quer durch alle moralische Idiosynkrasie hindurch sehe
ich eine grundverschiedene Wertung: solche absurde Auseinandertrennung
von »Genie« und Willens-Welt der Moral und Immoral kenne ich nicht.
Der moralische Mensch ist eine niedrigere Spezies als der unmoralische, eine schwächere;
ja er ist der Moral nach ein Typus, nur nicht sein eigener Typus;
eine Kopie, eine gute Kopie bestenfalls, das Maß seines Wertes liegt
außer ihm. Ich schätze den Menschen nach dem Quantum Macht und Fülle
seines Willens: nicht nach dessen Schwächung und Auslöschung; ich
betrachte eine Philosophie, welche die Verneinung des Willens lehrt, als eine
Lehre der Herunterbringung und der Verleumdung .... Ich schätze die Macht
eines Willens danach, wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält
und sich zum Vorteil umzuwandeln weiß; ich rechne dem Dasein nicht seinen
bösen und schmerzhaften Charakter zum Vorwurf an, sondern bin der Hoffnung,
daß es einst böser und schmerzhafter sein wird als bisher .... Die
Spitze des Geistes, die Schopenhauer imaginierte, war, zur Erkenntnis zu
kommen, daß alles keinen Sinn hat, kurz, zu erkennen, was instinktiv
der gute Mensch schon tut .... Er leugnet, daß es höhere Arten Intellekt
geben könne, er nahm seine Einsicht als ein non plus ultra. Hier ist
die Geistigkeit tief unter die Güte geordnet; ihr höchster Wert (als
Kunst z.B.) wäre es, die moralische Umkehr anzuraten, vorzubereiten:
absolute Herrschaft der Moralwerte. Neben Schopenhauer will ich
Kant charakterisieren: nichts Griechisches, absolut widerhistorisch (Stelle
über die französische Revolution) und Moral-Fanatiker (Goethes Stelle
über das Radikal-Böse). Auch bei ihm im Hintergrund die Heiligkeit
.... Ich brauche eine Kritik des Heiligen .... Hegels Wert. »Leidenschaft«.
Krämer-Philosophie des Herrn Spencer: vollkommene Abwesenheit eines Ideals,
außer dem des mittleren Menschen. Instinkt-Grundsatz aller Philosophen
und Historiker und Psychologen: es muß alles, was wertvoll ist in Mensch,
Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Religion, Technik, bewiesen werden als moralisch-wertvoll,
moralisch-bedingt, in Ziel, Mittel und Resultat. Alles verstehen in Hinsicht
auf den obersten Wert: z.B. Rousseaus Frage in betreff der Zivilisation »wird
durch sie der Mensch besser?« eine komische Frage, da das
Gegenteil auf der Hand liegt und eben das ist, was zugunsten der Zivilisation
redet. (Ebd., S. 259-260).Mein Schlußsatz ist: daß
der wirkliche Mensch einen viel höheren Wert darstellt als der wünschbare
Mensch irgendeines bisherigen Ideals: daß alle »Wünschbarkeiten«
in Hinsicht auf den Menschen gefährliche Ausschweifungen waren, mit denen
eine einzelne Art von Mensch ihre Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen über
der Menschheit als Gesetz aufhängen möchte; daß jede zur Herrschaft
gebrachte »Wünschbarkeit solchen Ursprungs bis jetzt den Wert
des Menschen, seine Kraft, seine Zukunftsgwißheit herabgedrückt
hat; daß die Armseligkeit und Winkel-Intellektualität des Menschen
sich am meisten bloßstellt, auch heute noch, wenn er wünscht;daß
die Fähigkeit des Menschen, Werte anzusetzen, bisher zu niedrig entwickelt
war, um dem tatsächlichen, nicht bloß »wünschbaren«
Werte des Menschen gerecht zu werden; daß das Ideal bis jetzt die
eigentlich welt- und mensch-verleumdende Kraft, der Gifthauch über der Realität,
die große Verführung zum Nichts war .... (Ebd., S. 265).
2.2.5.4) Kritik der Worte Besserung, Vervollkommnung, Erhöung
Maßstab,
wonach der Wert der moralischen Wertschätzungen zu bestimmen ist. Die übersehene
Grundtatsache: Widerspruch zwischen dem »Moralischer-werden« und der
Erhöhung und Verstärkung des Typus Mensch. Homo natura. Der »Wille
zur Macht«. (Ebd., S. 265).Die Moralwerte als Scheinwerte,
verglichen mit den physiologischen. (Ebd., S. 265).»Die
Krankheit macht den Menschen besser«: diese berühmte Behauptung, der
man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als
im Mund und Maule des Volks, gibt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit
hin, einmal erlauben zu fragen: gibt es vielleicht ein ursächliches Band
zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die »Verbesserung des Menschen«,
im großen betrachtet, z.B. die unleugbare Milderung, Vermenschlichung, Vergutmütigung
des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends ist sie vielleicht
die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißratens, Entbehrens,
Verkümmerns? Hat »die Krankheit« den Europäer »besser
gemacht«? Oder anders gefragt: ist unsre Moralität unsre moderne
zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen
vergleichen möge, der Ausdruck eines physiologischen Rückgangs?
.... Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede
Stelle der Geschichte, wo »der Mensch« sich in besonderer Pracht und
Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen,
eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und
vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben
nur an Mut oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und
den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: »je gesünder, je stärker,
je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so unmoralischer
wird er auch«. Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen
soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen
vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich
dann auf Erden teurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften
fordern die Vermenschlichung, die »Verbesserung«, die wachsende
»Zivilisierung« des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend:
denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und »jeder jedermanns
Krankenpfleger« wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man
hätte dann auch jenen vielbegehrten »Frieden auf Erden«! Aber
auch so wenig »Wohlgefallen aneinander«! So wenig Schönheit,
Übermut, Wagnis, Gefahr! So wenig »Werke«, um derentwillen es
sich lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine »Taten«
mehr! Alle großen Werke und Taten, welche stehngeblieben sind und von den
Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden, waren sie nicht alle im
tiefsten Verstande große Unmoralitäten? (Ebd., S. 268-269).Man
muß sehr unmoralisch sein, um durch die Tat Moral zu machen ....
Die Mittel der Moralisten sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden
sind; wer den Mut nicht zur Unmoralität der Tat hat, taugt zu allem übrigen,
er taugt nicht zum Moralisten (Ebd., S. 270).Man muß
sehr unmoralisch sein, um durch die Tat Moral zu machen... Die Mittel der Moralisten
sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden sind; wer den Mut nicht
zur Unmoralität der Tat hat, taugt zu allem übrigen, er taugt nicht
zum Moralisten (Ebd., S. 270).Der Mensch, eingesperrt in
einen eisernen Käfig von Irrtümern, eine Karikatur des Menschen geworden,
krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig, voller Haß auf
die Antriebe zum Leben, voller Mißtrauen gegen alles, was schön und
glücklich ist am Leben, ein wandelndes Elend: diese künstliche, willkürliche,
nachträgliche Mißgeburt, welche die Priester aus ihrem Boden
gezogen haben, den »Sünder«: wie werden wir es erlangen, dieses
Phänomen trotz alledem zu rechtfertigen? (Ebd., S. 271).Um
billig von der Moral zu denken, müssen wir zwei zoologische Begriffe an ihre
Stelle setzen: Zähmung der Bestie und Züchtung einer bestimmten
Art. Die Priester gaben zu allen Zeiten vor, daß sie »bessern»
wollen .... Aber wir andern lachen, wenn ein Tierbändiger von seinen »gebesserten«
Tieren reden wollte. Die Zähmung der Bestie wird in den meisten Fällen
durch eine Schädigung der Bestie erreicht: auch der moralische Mensch ist
kein besserer Mensch, sondern nur ein geschwächter. Aber er ist weniger schädlich.
(Ebd., S. 271).Was ich mit aller Kraft deutlich zu machen wünsche:a)
daß es keine schlimmere Verwechslung gibt, als wenn man Züchtung
mit Zähmung verwechselt: was man getan hat .... Die Züchtung
ist, wie ich sie verstehe, ein Mittel der ungeheuren Kraft-Aufspeicherung der
Menschheit, so daß die Geschlechter auf der Arbeit ihrer Vorfahren fortbauen
können nicht nur äußerlich, sondern innerlich, organisch
aus ihnen herauswachsend, ins Stärkere ....b)
daß es eine außerordentliche Gefahr gibt, wenn man glaubt, daß
die Menschheit als Ganzes fortwüchse und stärker würde,
wenn die Individuen schlaff, gleich, durchschnittlich werden .... Menschheit ist
ein Abstraktum: das Ziel der Züchtung kann auch im einzelnsten Falle
immer nur der stärkere Mensch sein ( der ungezüchtete ist
schwach, vergeuderisch, unbeständig ). (Ebd., S. 271-272).
2.2.6) Schlußbetrachtung zur Kritik der Moral
Das
sind meine Forderungen an euch sie mögen euch schlecht genug zu Ohren
gehen : daß ihr die moralischen Wertschätzungen selbst einer
Kritik unterziehen sollt. Daß ihr dem moralischen Gefühls-Impuls, welcher
hier Unterwerfung und nicht Kritik verlangt, mit der Frage: »warum Unterwerfung?«
Halt gebieten sollt. Daß ihr dies Verlangen nach einem »Warum?«,
nach einer Kritik der Moral, eben als eure jetzige Form der Moralität
selbst ansehen sollt, als die sublimste Art von Moralität, die euch und eurer
Zeit Ehre macht. Daß eure Redlichkeit, euer Wille, euch nicht zu betrügen,
sich selbst ausweisen muß: »warum nicht? Vor welchem Forum?«
(Ebd., S. 272).Die drei Behauptungen:Das
Unvornehme ist das Höhere (Protest des »gemeinen Mannes«);das
Widernatürliche ist das Höhere (Protest der Schlechtweggekommenen);das
Durchschnittliche ist das Höhere (Protest der Herde, der »Mittleren«).In
der Geschichte der Moral drückt sich also ein Wille zur Macht aus,
durch den bald die Sklaven und Unterdrückten, bald die Mißratenen und
An-sich-Leidenden, bald die Mittelmäßigen den Versuch machen, die ihnen
günstigsten Werturteile durchzusetzen. Insofern ist das Phänomen der
Moral vom Standpunkt der Biologie aus höchst bedenklich. Die Moral hat sich
bisher entwickelt auf Unkosten: der Herrschenden und ihrer spezifischen
Instinkte, der Wohlgeratenen und schönen Naturen, der Unabhängigen
und Privilegierten in irgendeinem Sinne. Die Moral ist also eine Gegenbewegung
gegen die Bemühungen der Natur, es zu einem höheren Typus zu
bringen. Ihre Wirkung ist; Mißtrauen gegen das Leben überhaupt (insofern
dessen Tendenzen als »unmoralisch« empfunden werden) Sinnlosigkeit,
Widersinn (insofern die obersten Werte als im Gegensatz zu den obersten Instinkten
empfunden werden) Entartung und Selbstzerstörung der »höheren
Naturen«, weil gerade in ihnen der Konflikt bewußt wird.
(Ebd., S. 272-273).Welche Werte bisher obenauf waren.Moral
als oberster Wert, in allen Phasen der Philosophie (selbst bei den Skeptikern).
Resultat: diese Welt taugt nichts, es muß eine »wahre Welt«
geben. Was bestimmt hier eigentlich den obersten Wert? Was ist eigentlich Moral?
Der Instinkt der décadence, es sind die Erschöpften und Enterbten,
die auf diese Weise Rache nehmen und die Herren machen .... Historischer
Nachweis: die Philosophen immer décadents, immer im Dienst der nihilistischen
Religionen. Der Instinkt der décadence, der als Wille zur Macht auftritt.
Vorführung seines Systems der Mittel: absolute Unmoralität der Mittel.
Gesamteinsicht: die bisherigen obersten Werte sind ein Spezialfall des Willens
zur Macht; die Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoralität.
(Ebd., S. 273-274).Warum die gegnerischen Werte immer unterlagen1.
Wie war das eigentlich möglich? Frage: warum unterlag das Leben, die physiologische
Wohlgeratenheit überall? Warum gab es keine Philosophie des Ja, keine Religion
des Ja? .... Die historischen Anzeichen solcher Bewegungen: Die heidnische Religion.
Dionysos gegen den »Gekreuzigten«. Die Renaissance. Die Kunst.
2. Die Starken und die Schwachen: die Gesunden
und die Kranken; die Ausnahme und die Regel. Es ist kein Zweifel, wer der Stärkere
ist .... Gesamtaspekt der Geschichte: Ist der Mensch damit eine Ausnahme
in der Geschichte des Lebens? Einsprache gegen den Darwinismus. Die Mittel
der Schwachen, um sich oben zu erhalten, sind Instinkte, sind »Menschlichkeit«
geworden, sind »Institutionen« ....3.
Nachweis dieser Herrschaft in unsern politischen Instinkten, in unsern sozialen
Werturteilen, in unsern Künsten, in unsrer Wissenschaft. (Ebd.,
S. 274).Die Niedergangs-Instinkte sind Herr über die
Aufgangs-Instinkte geworden .... Der Wille zum Nichts ist Herr geworden
über den Willen zum Leben! Ist das wahr? ist nicht vielleicht
eine größere Garantie des Lebens, der Gattung in diesem Sieg der Schwachen
und Mittleren? ist es vielleicht nur ein Mittel in der Gesamtbewegung des
Lebens, eine Tempo-Verzögerung? eine Notwehr gegen etwas noch Schlimmeres?
Gesetzt, die Starken wären Herr, in allem, und auch in den Wertschätzungen
geworden: ziehen wir die Konsequenz, wie sie über Krankheit, Leiden, Opfer
denken würden! Eine Selbstverachtung der Schwachen wäre die Folge:
sie würden suchen, zu verschwinden und sich auszulöschen. Und wäre
dies vielleicht wünschenswert? und möchten wir eigentlich
eine Welt, in der die Nachwirkung der Schwachen, ihre Feinheit, Rücksicht,
Geistigkeit, Biegsamkeit fehlte? (Ebd., S. 274-275).Wir haben
zwei »Willen zur Macht« im Kampfe gesehn (im Spezialfall: wir
hatten ein Prinzip, dem einen recht zu geben, der bisher unterlag, und dem, der
bisher siegte, unrecht zu geben): wir haben die »wahre Welt« als eine
»erlogene Welt« und die Moral als eine Form der Unmoralität
erkannt. Wir sagen nicht: »der Stärkere hat unrecht«.
Wir haben begriffen, was bisher den obersten Wert bestimmt hat und warum
es Herr geworden ist über die gegnerische Wertung : es war numerisch
stärker. Reinigen wir jetzt die gegnerische Wertung von der
Infektion und Halbheit, von der Entartung, in der sie uns allen bekannt
ist. Wiederherstellung der Natur: moralinfrei. (Ebd., S. 275).Moral
ein nützlicher Irrtum, deutlicher, in Hinsicht auf die größten
und vorurteilsfreiesten ihrer Förderer, eine notwendig erachtete Lüge.
(Ebd., S. 275).Man darf sich die Wahrheit bis so weit zugestehn,
als man bereits erhöht genug ist, um nicht mehr die Zwangsschule des moralischen
Irrtums nötig zu haben. Falls man das Dasein moralisch beurteilt,
degoutiert es. Man soll nicht falsche Personen erfinden, z.B. nicht sagen »die
Natur ist grausam«. Gerade einzusehen, daß es kein solches Zentralwesen
der Verantwortlichkeit gibt, erleichtert!Entwicklung
der Menschheit.A. Macht über die Natur
zu gewinnen und dazu eine gewisse Macht über sich. (Die Moral war
nötig, um den Menschen durchzusetzen im Kampf mit Natur und »wildem
Tier«.) B. Ist die Macht über
die Natur errungen, so kann man diese Macht benutzen, um sich selbst frei
weiterzubilden: Wille zur Macht als Selbsterhöhung und Verstärkung.
(Ebd., S. 276).Moral als Illusion der Gattung, um den einzelnen
anzutreiben, sich der Zukunft zu opfern: scheinbar ihm selbst einen unendlichen
Wert zugestehend, so daß er mit diesem Selbstbewußtsein andere
Seiten seiner Natur tyrannisiert und niederhält und schwer mit sich zufrieden
ist. Tiefste Dankbarkeit für das, was die Moral bisher geleistet hat: aber
jetzt nur noch ein Druck, der zum Verhängnis werden würde! Sie
selbst zwingt als Redlichkeit zur Moralverneinung. (Ebd., S. 276).Inwiefern
die Selbstvernichtung der Moral noch ein Stück ihrer eigenen Kraft
ist. Wir Europäer haben das Blut solcher in uns, die für ihren Glauben
gestorben sind; wir haben die Moral furchtbar und ernst genommen, und es ist nichts,
was wir ihr nicht irgendwie geopfert haben. Andrerseits: unsre geistige Feinheit
ist wesentlich durch Gewissens-Vivisektion erreicht worden. Wir wissen das »Wohin?«
noch nicht, zu dem wir getrieben werden, nachdem wir uns dergestalt von unsrem
alten Boden abgelöst haben. Aber dieser Boden selbst hat uns die Kraft angezüchtet,
die uns jetzt hinaustreibt in die Ferne, ins Abenteuer, durch die wir ins Uferlose,
Unerprobte, Unentdeckte hinausgestoßen werden es bleibt uns keine
Wahl, wir müssen Eroberer sein, nachdem wir kein Land mehr haben, wo wir
heimisch sind, wo wir »erhalten« möchten. Ein verborgenes Ja
treibt uns dazu, das stärker ist als alle unsre Neins. Unsre Stärke
selbst duldet uns nicht mehr im alten morschen Boden: wir wagen uns in die Weite,
wir wagen uns daran: die Welt ist noch reich und unentdeckt, und selbst Zugrundegehn
ist besser als halb und giftig werden. Unsre Stärke selbst zwingt uns aufs
Meer, dorthin, wo alle Sonnen bisher untergegangen sind: wir wissen um
eine neue Welt. (Ebd., S. 276-277).Zunächst tut die
absolute Skepsis gegen alle überlieferten Begriffe not (wie sie vielleicht
schon einmal ein Philosoph besessen hat Plato natürlich ,
denn er hat das Gegenteil gelehrt). (Ebd., S. 279).Gegen
die erkenntnistheoretischen Dogmen tief mißtrauisch, liebte ich es, bald
aus diesem, bald aus jenem Fenster zu blicken, hütete mich, mich darin festzusetzen,
hielt sie für schädlich, und zuletzt: ist es wahrscheinlich,
daß ein Werkzeug seine eigene Tauglichkeit kritisieren kann??
Worauf ich achtgab, war vielmehr, daß niemals eine erkenntnistheoretische
Skepsis oder Dogmatik ohne Hintergedanken entstanden ist, daß sie
einen Wert zweiten Ranges hat, sobald man erwägt, was im Grunde zu dieser
Stellung zwang. Grundeinsicht: sowohl Kant als Hegel, als Schopenhauer
sowohl die skeptisch-epochistische Haltung als die historisierende, als
die pessimistische sind moralischen Ursprungs. Ich sah niemanden,
der eine Kritik der moralischen Wertgefühle gewagt hätte: und
den spärlichen Versuchen, zu einer Entstehungsgeschichte dieser Gefühle
zu kommen (wie bei den englischen und deutschen Darwinisten) wandte ich bald den
Rücken. Wie erklärt sich Spinozas Stellung, seine Verneinung und Ablehnung
der moralischen Werturteile? (Es war eine Konsequenz seiner Theodizee!)
(Ebd., S. 280-281).Durch moralische Hinterabsichten ist der Gang
der Philosophie bisher am meisten aufgehalten worden. (Ebd., S. 281).Man
hat zu allen Zeiten die »schönen Gefühle« für Argumente
genommen, den »gehobenen Busen« für den Blasebalg der Gottheit,
die Überzeugung als »Kriterium der Wahrheit«, das Bedürfnis
des Gegners als Fragezeichen zur Weisheit: diese Falschheit, Falschmünzerei
geht durch die ganze Geschichte der Philosophie. Die achtbaren, aber nur spärlichen
Skeptiker abgerechnet, zeigt sich nirgends ein Instinkt von intellektueller Rechtschaffenheit.
Zuletzt hat noch Kant in aller Unschuld diese Denker-Korruption mit dem
Begriff »praktische Vernunft« zu verwissenschaftlichen gesucht:
er erfand eigens eine Vernunft dafür, in welchen Fällen man sich nicht
um die Vernunft zu kümmern brauche: nämlich wenn das Bedürfnis
des Herzens, wenn die Moral, wenn die »Pflicht« redet. (Ebd.,
S. 281-282).Hegel: seine populäre Seite die Lehre vom
Krieg und den großen Männern. Das Recht ist bei dem Siegreichen: er
stellt den Fortschritt der Menschheit dar. Versuch, die Herrschaft der Moral aus
der Geschichte zu beweisen.Kant: ein Reich
der moralischen Werte, uns entzogen, unsichtbar, wirklich.Hegel:
eine nachweisbare Entwicklung, Sichtbarwerdung des moralischen Reiches.Wir
wollen uns weder auf die Kantische noch Hegelsche Manier betrügen lassen
wir glauben nicht mehr, wie sie, an die Moral und haben folglich
auch keine Philosophien zu gründen, damit die Moral recht behalte. Sowohl
der Kritizismus als der Historizismus hat für uns nicht darin seinen
Reiz nun, welchen hat er denn? (Ebd., S. 282).Die
Bedeutung der deutschen Philosophie (Hegel): einen Pantheismus auszudenken,
bei dem das Böse, der Irrtum und das Leid nicht als Argumente gegen
Göttlichkeit empfunden werden. Diese grandiose Initiative ist mißbraucht
worden von den vorhandenen Mächten (Staat usw.), als sei damit die Vernünftigkeit
des gerade Herrschenden sanktioniert.Schopenhauer
erscheint dagegen als hartnäckiger Moral-Mensch, welcher endlich, um mit
seiner moralischen Schätzung recht zu behalten, zum Welt-Verneiner
wird. Endlich zum »Mystiker«.Ich
selbst habe eine ästhetische Rechtfertigung versucht: wie ist die Häßlichkeit
der Welt möglich? Ich nahm den Willen zur Schönheit, zum Verharren
in gleichen Formen, als ein zeitweiliges Erhaltungs- und Heilmittel: fundamental
aber schien mir das ewig-Schaffende als das ewig-Zerstören-Müssende
gebunden an den Schmerz. Das Häßliche ist die Betrachtungsform der
Dinge unter dem Willen, einen Sinn, einen neuen Sinn in das Sinnlos-gewordene
zu legen: die angehäufte Kraft, welche den Schaffenden zwingt, das Bisherige
als unhaltbar, mißraten, verneinungswürdig, als häßlich
zu fühlen! (Ebd., S. 282-283).Meine erste Lösung:
die dionysische Weisheit. Lust an der Vernichtung des Edelsten und am Anblick,
wie er schrittweise ins Verderben gerät: als Lust am Kommenden, Zukünftigen,
welches triumphiert über das vorhandene noch so Gute. Dionysisch: zeitweilige
Identifikation mit dem Prinzip des Lebens (Wollust des Märtyrers einbegriffen).Meine
Neuerungen. Weiter-Entwicklung des Pessimismus: der Pessimismus des
Intellekts; die moralische Kritik, Auflösung des letzten Trostes.
Erkenntnis der Zeichen des Verfalls: umschleiert durch Wahn jedes starke
Handeln; die Kultur isoliert, ist ungerecht und dadurch stark.1.
Mein Anstreben gegen den Verfall und die zunehmende Schwäche der Persönlichkeit.
Ich suchte ein neues Zentrum.2. Unmöglichkeit
dieses Strebens erkannt.3. Darauf ging ich
weiter in der Bahn der Auflösung darin fand ich für einzelne
neue Kraftquellen. Wir müssen Zerstörer sein! Ich
erkannte, daß der Zustand der Auflösung, in der einzelne
Wesen sich vollenden können wie nie ein Abbild und Einzelfall
des allgemeinen Daseins ist. Gegen die lähmende Empfindung der allgemeinen
Auflösung und Unvollendung hielt ich die ewige Wiederkunft.
(Ebd., S. 283-284).
Die deutsche Philosophie als Ganzes Leibniz, Kant, Hegel,
Schopenhauer, um die Großen zu nennen ist die gründlichste
Art Romantik und Heimweh, die es bisher gab: das Verlangen nach
dem Besten, was jemals war. Man ist nirgends mehr heimisch, man verlangt
zuletzt nach dem zurück, wo man irgendwie heimisch sein kann, weil
man dort allein heimisch sein möchte: und das ist die griechische
Welt! Aber gerade dorthin sind alle Brücken abgebrochen ausgenommen
die Regenbogen der Begriffe! Und die führen überallhin, in alle
Heimaten und »Vaterländer«, die es für Griechen-Seelen
gegeben hat! Freilich: man muß sehr leicht, sehr dünn sein,
um über diese Brücken zu schreiten! Aber welches Glück
liegt schon in diesem Willen zur Geistigkeit, fast zur Geisterhaftigkeit!
Wie ferne ist man damit von »Druck und Stoß«, von der
mechanischen Tölpelei der Naturwissenschaften, von dem Jahrmarkts-Lärme
der »modernen Ideen«! Man will zurück, durch die Kirchenväter
zu den Griechen, aus dem Norden nach dem Süden, aus den Formeln zu
den Formen; man genießt noch den Ausgang des Altertums, das Christentum,
wie einen Zugang zu ihm, wie ein gutes Stück alter Welt selber, wie
ein glitzerndes Mosaik antiker Begriffe und antiker Werturteile. Arabesken,
Schnörkel, Rokoko scholastischer Abstraktionen immer noch
besser, nämlich feiner und dünner, als die Bauern- und Pöbel-Wirklichkeit
des europäischen Nordens, immer noch ein Protest höherer Geistigkeit
gegen den Bauernkrieg und Pöbel-Aufstand, der über den geistigen
Geschmack im Norden Europas Herr geworden ist und welcher an dem großen
»ungeistigen Menschen«, an Luther, seinen Anführer hatte:
in diesem Betracht ist deutsche Philosophie ein Stück Gegenreformation,
sogar noch Renaissance, mindestens Wille zur Renaissance, Wille fortzufahren
in der Entdeckung des Altertums, in der Aufgrabung der antiken Philosophie,
vor allem der Vorsokratiker der bestverschütteten aller griechischen
Tempel! Vielleicht, daß man einige Jahrhunderte später urteilen
wird, daß alles deutsche Philosophieren darin seine eigentliche
Würde habe, ein schrittweises Wiedergewinnen des antiken Bodens zu
sein, und daß jeder Anspruch auf »Originalität«
kleinlich und lächerlich klinge im Verhältnis zu jenem höheren
Anspruche der Deutschen, das Band, das zerrissen schien, neu gebunden
zu haben, das Band mit den Griechen, dem bisher höchst gearteten
Typus »Mensch«. Wir nähern uns heute allen jenen grundsätzlichen
Formen der Weltauslegung wieder, welche der griechische Geist in Anaximander,
Heraklit, Parmenides, Empedokles, Demokrit und Anaxagoras erfunden hat,
wir werden von Tag zu Tag griechischer, zuerst, wie billig,
in Begriffen und Wertschätzungen, gleichsam als gräzisierende
Gespenster: aber dereinst hoffentlich auch mit unserem Leibe! Hierin
liegt (und lag von jeher) meine Hoffnung für das deutsche Wesen!
(Ebd., S. 284-286).
Theorie und Praxis. Verhängnisvolle
Unterscheidung, wie als ob es einen eignen Erkenntnistrieb gebe, der, ohne Rücksicht
auf Fragen des Nutzens und Schadens, blindlings auf die Wahrheit losgehe: und
dann, davon abgetrennt, die ganze Welt der praktischen Interessen ....
Dagegen suche ich zu zeigen, welche Instinkte hinter all diesen reinen
Theoretikern tätig gewesen sind wie sie allesamt fatalistisch im Bann
ihrer Instinkte auf etwas losgingen, das für sie »Wahrheit«
war, für sie und nur für sie. Der Kampf der Systeme, samt dem
der erkenntnistheoretischen Skrupel, ist ein Kampf ganz bestimmter Instinkte (Formen
der Vitalität, des Niedergangs, der Stände, der Rassen usw.). Der sogenannte
Erkenntnistrieb ist zurückzuführen auf einen Aneignungs
und Überwältigungstrieb: diesem Triebe folgend haben sich die
Sinne, das Gedächtnis, die Instinkte usw. entwickelt. Die möglichst
schnelle Reduktion der Phänomene, die Ökonomie, die Akkumulation des
erworbenen Schatzes an Erkenntnis (d.h. angeeigneter und handlich gemachter Welt)
.... Die Moral ist deshalb eine so kuriose Wissenschaft, weil sie im höchsten
Grade praktisch ist: so daß die reine Erkenntnisposition, die wissenschaftliche
Rechtschaffenheit sofort preisgegeben wird, sobald die Moral ihre Antworten fordert.
Die Moral sagt: ich brauche manche Antworten Gründe, Argumente;
Skrupel mögen hinterdrein kommen, oder auch nicht . »Wie soll
gehandelt werden?« Denkt man nun nach, daß man mit einem souverän
entwickelten Typus zu tun hat, von dem seit unzähligen Jahrtausenden »gehandelt«
worden ist, und alles Instinkt, Zweckmäßigkeit, Automatismus, Fatalität
geworden ist, so kommt einem die Dringlichkeit dieser Moral Frage
sogar ganz komisch vor. »Wie soll gehandelt werden?« Moral
war immer ein Mißverständnis: tatsächlich wollte eine Art, die
ein Fatum so und so zu handeln im Leibe hatte, sich rechtfertigen, indem sie ihre
Norm als Universalnorm aufdekretieren wollte . .... »Wie soll gehandelt
werden?« ist keine Ursache, sondern eine Wirkung. Die Moral folgt, das Ideal
kommt am Ende. Andrerseits verrät das Auftreten der moralischen Skrupel
(anders ausgedrückt: das Bewußtwerden der Werte, nach denen
man handelt) eine gewisse Krankhaftigkeit; starke Zeiten und Völker
reflektieren nicht über ihr Recht, über Prinzipien zu handeln, über
Instinkt und Vernunft. Das Bewußtwerden ist ein Zeichen davon, daß
die eigentliche Moralität, d. h. Instinkt Gewißheit des Handelns,
zum Teufel geht .... Die Moralisten sind, wie jedesmal, daß eine neue
Bewußtseins Welt geschaffen wird, Zeichen einer Schädigung,
Verarmung, Desorganisation. Die Tief Instinktiven haben eine
Scheu vor dem Logisieren der Pflichten: unter ihnen findet man pyrrhonistische
Gegner der Dialektik und der Erkennbarkeit überhaupt .... Eine Tugend wird
mit »um« widerlegt ....Thesis:
das Auftreten der Moralisten gehört in die Zeiten, wo es zu Ende geht
mit der Moralität.Thesis: der Moralist
ist ein Auflöser der moralischen Instinkte, so sehr er deren Wiederhersteller
zu sein glaubt.Thesis: das, was den Moralisten
tatsächlich treibt, sind nicht moralische Instinkte, sondern die Instinkte
der décadence, übersetzt in die Formeln der Moral ( er empfindet
das Unsicherwerden der Instinkte als Korruption).Thesis:
die Instinkte der décadence, die durch die Moralisten über die Instinkt
Moral starker Rassen und Zeiten Herr werden wollen, sind1.
die Instinkte der Schwachen und Schlechtweggekommenen;2.
die Instinkte der Ausnahmen, der Solitären, der Ausgelösten, des abortus
im Hohen und Geringen;3. die Instinkte der Habituell
Leidenden, welche eine noble Auslegung ihres Zustandes brauchen und deshalb
so wenig als möglich Physiologen sein dürfen. (Ebd., S. 287-290).Das
Erscheinen der griechischen Philosophen von Sokrates an ist ein Symptom der decadence;
die antihellenischen Instinkte kommen oben auf. .. Noch ganz hellenisch ist der
»Sophist« eingerechnet Anaxagoras, Demokrit, die großen
Ionier ; aber als Übergangsform. Die Polis verliert ihren Glauben
an die Einzigkeit ihrer Kultur, an ihr Herren Recht über jede andere
Polis. .... Man tauscht die Kultur, d.h. »die Götter« aus,
man verliert dabei den Glauben an das Allein Vorrecht des deus autochthonus.
Das Gut und Böse verschiedener Abkunft mischt sich: die Grenze zwischen Gut
und Böse verwischt sich. .... Das ist der »Sophist« ...
Der »Philosoph« dagegen ist die Reaktion: er will die alte Tugend.
Er sieht die Gründe des Verfalls im Verfall der Institutionen, er will alte
Institutionen; er sieht den Verfall im Verfall der Autorität: er sucht nach
neuen Autoritäten (Reise ins Ausland, in fremde Literaturen, in exotische
Religionen. ...); er will die ideale Polis, nachdem der Begriff
»Polis« sich überlebt hatte ( ungefähr wie die Juden sich
als »Volk« festhielten, nachdem sie in Knechtschaft gefallen waren).
Sie interessieren sich für alle Tyrannen: sie wollen die Tugend mit force
majeure wiederherstellen. Allmählich wird alles Echthellenische
verantwortlich gemacht für den Verfall (und Plato ist genau so undankbar
gegen Perikles, Homer, Tragödie, Rhetorik, wie die Propheten gegen David
und Saul). Der Niedergang von Griechenland wird als Einwand gegen die Grundlagen
der hellenischen Kultur verstanden: Grundirrtum der Philosophen . Schluß:
die griechische Welt geht zugrunde. Ursache: Homer, der Mythos, die antike
Sittlichkeit usw.. Die antihellenische Entwicklung des philosophen-Werturteils:
das Ägyptische (»Leben nach dem Tode« als Gericht ...);
das Semitische (die »Würde des Weisen«, der »Scheich«)
; die Pythagoreer, die unterirdischen Kulte, das Schweigen, die Jenseits-Furchtmittel,
die Mathematik: religiöse Schätzung, eine Art Verkehr mit dem
kosmischen All; das Priesterliche, Asketische, Transzendente; die
Dialektik, ich denke, es ist eine abscheuliche und pedantische Begriffsklauberei
schon in Plato ? Niedergang des guten geistigen Geschmacks: man empfindet
das Häßliche und Klappemde aller direkten Dialektik bereits nicht mehr.
Nebeneinander gehen die beiden décadence-Bewegungen und Extreme: a) die
üppige, liebenswürdig boshafte, prunk und kunstliebende
décadence und b) die Verdüsterung des religiös moralischen
Pathos, die stoische Selbst-Verhärtung, die platonische Sinnen-Verleumdung,
die Vorbereitung des Bodens für das Christentum. (Ebd., S. 293-294).Wie
weit die Verderbnis der Psychologen durch die Moral Idiosynkrasie geht:
niemand der alten Philosophen hat den Mut zur Theorie des »unfreien
Willens« gehabt (d.h. zu einer die Moral negierenden Theorie); niemand
hat den Mut gehabt, das Typische der Lust, jeder Art Lust (»Glück«)
zu definieren als Gefühl der Macht: denn die Lust an der Macht galt als unmoralisch;
niemand hat den Mut gehabt, die Tugend als eine Folge der Unmoralität
(eines Machtwillens) im Dienste der Gattung (oder der Rasse oder der Polis) zu
begreifen (denn der Machtwille galt als Unmoralität). Es kommt in der ganzen
Entwicklung der Moral keine Wahrheit vor: alle Begriffs Elemente, mit denen
gearbeitet wird, sind Fiktionen; alle Psychologica, an die man sich hält,
sind Fälschungen; alle Formen der Logik, welche man in dies Reich der Lüge
einschleppt, sind Sophismen. Was die Moral Philosophen selbst auszeichnet,
das ist die vollkommene Absenz jeder Sauberkeit, jeder Selbstzucht des Intellekts:
sie halten »schöne Gefühle« für Argumente: ihr »geschwellter
Busen« dünkt ihnen der Blasebalg der Gottheit .... Die Moral
Philosophie ist die skabröse Periode in der Geschichte des Geistes. Das erste
große Beispiel: unter dem Namen der Moral, als Patronat der Moral ein unerhörter
Unfug ausgeübt, tatsächlich eine décadence in jeder Hinsicht.
Man kann nicht streng genug darauf insistieren, daß die großen griechischen
Philosophen die décadence jedweder griechischen Tüchtigkeit
repräsentieren und kontagiös machen .... Diese gänzlich
abstrakt gemachte »Tugend« war die größte Verführung,
sich selbst abstrakt zu machen: d.h. sich herauszulösen. Der Augenblick
ist sehr merkwürdig: die Sophisten streifen an die erste Kritik der Moral,
die erste Einsicht über die Moral: sie stellen die Mehrheit (die lokale
Bedingtheit) der moralischen Werturteile nebeneinander; sie geben zu verstehen,
daß jede Moral sich dialektisch rechtfertigen lasse: d. h. sie erraten,
wie alle Begründung einer Moral notwendig sophistisch sein muß
ein Satz, der hinterdrein im allergrößten Stil durch die antiken Philosophen
von Plato an (bis Kant) bewiesen worden ist; sie stellen die erste Wahrheit
hin, daß eine »Moral an sich«, ein »Gutes an sich«
nicht existiert, daß es Schwindel ist, von »Wahrheit« auf diesem
Gebiete zu reden.Wo war nur die intellektuelle
Rechtschaffenheit damals?Die griechische
Kultur der Sophisten war aus allen griechischen Instinkten herausgewachsen; sie
gehört zur Kultur der Perikleischen Zeit, so notwendig wie Plato nicht zu
ihr gehört: sie hat ihre Vorgänger in Heraklit, in Demokrit, in den
wissenschaftlichen Typen der alten Philosophie; sie hat in der hohen Kultur des
Thukydides z.B. ihren Ausdruck. Und sie hat schließlich recht bekommen:
jeder Fortschritt der erkenntnistheoretischen und moralistischen Erkenntnis hat
die Sophisten restituiert .... Unsre heutige Denkweise ist in einem hohen
Grade heraklitisch, demokritisch und protagoreisch ..., es genügte zu sagen,
daß sie protagoreisch sei: weil Protagoras die beiden Stücke Heraklit
und Demokrit in sich zusammennahm. (Plato: ein großer Cagliostro
man denke, wie ihn Epikur beurteilte; wie ihn Timon, der Freund Pyrrhos,
beurteilte. Steht vielleicht die Rechtschaffenheit Platos außer
Zweifel? ... Aber wir wissen zum mindesten, daß er als absolute Wahrheit
gelehrt wissen wollte, was nicht einmal bedingt ihm als Wahrheit galt:
nämlich die Sonder Existenz und Sonder Unsterblichkeit der
»Seelen«.). (Ebd., S. 294-296).Die Sophisten
sind nichts weiter als Realisten: sie formulieren die allen gang und gäben
Werte und Praktiken zum Rang der Werte, sie haben den Mut, den alle starken
Geister haben, um ihre Unmoralität zu wissen .... Glaubt man vielleicht,
daß diese kleinen griechischen Freistädte, welche sich vor Wut und
Eifersucht gern aufgefressen hätten, von menschenfreundlichen und rechtschaffenen
Prinzipien geleitet wurden? Macht man vielleicht dem Thukydides einen Vorwurf
aus seiner Rede, die er den athenischen Gesandten in den Mund legt, als sie mit
den Meliern über Untergang oder Unterwerfung verhandeln? Inmitten dieser
entsetzlichen Spannung von Tugend zu reden war nur vollendeten Tartüffs möglich
oder Abseits Gestellten, Einsiedlern, Flüchtlingen und
Auswanderern aus der Realität .... Alles Leute, die negierten, um selber
leben zu können. Die Sophisten waren Griechen: als Sokrates und Plato
die Partei der Tugend und Gerechtigkeit nahmen, waren sie Juden oder ich
weiß nicht was . Die Taktik Grotes zur Verteidigung der Sophisten
ist falsch: er will sie zu Ehrenmännern und Moral Standarten erheben
aber ihre Ehre war, keinen Schwindel mit großen Worten und Tugenden
zu treiben. (Ebd., S. 296-297).Die große Vernunft in
aller Erziehung zur Moral war immer, daß man hier die Sicherheit eines
Instinkts zu erreichen suchte: so daß weder die gute Absicht, noch die
guten Mittel als solche erst ins Bewußtsein traten. So wie der Soldat exerziert,
so sollte der Mensch handeln lernen. In der Tat gehört dieses Unbewußtsein
zu jeder Art Vollkommenheit: selbst noch der Mathematiker handhabt seine Kombinationen
unbewußt .... Was bedeutet nun die Reaktion des Sokrates, welcher
die Dialektik als Weg zur Tugend anempfahl und sich darüber lustig machte,
wenn die Moral sich nicht logisch zu rechtfertigen wußte? .... Aber eben
das Letztere gehört zu ihrer Güte, ohne Unbewußtheit
taugt sie nichts! .... Scham erregen war ein notwendiges Attribut des Vollkommenen!
.... Es bedeutet exakt die Auflösung der griechischen Instinkte, als
man die Beweisbarkeit als Voraussetzung der persönlichen Tüchtigkeit
in der Tugend voranstellte. Es sind selbst Typen der Auflösung, alle diese
großen Tugendhaften und Wortemacher .... In praxi bedeutet es,
daß die moralischen Urteile aus ihrer Bedingtheit, aus der sie gewachsen
sind und in der allein sie Sinn haben, aus ihrem griechischen und griechisch
politischen Grund und Boden ausgerissen werden und, unter dem Anschein von
Sublimierung, entnatürlicht werden. Die großen Begriffe »gut«,
»gerecht« werden losgemacht von den Voraussetzungen, zu denen sie
gehören: und als freigewordne »Ideen« Gegenstände
der Dialektik. Man sucht hinter ihnen eine Wahrheit, man nimmt sie als Entitäten
oder als Zeichen von Entitäten: man erdichtet eine Welt, wo sie zu
Hause sind, wo sie herkommen .... In summa: der Unfug ist auf seiner Spitze bereits
bei Plato .... Und nun hatte man nötig, auch den abstrakt vollkommenen
Menschen hinzu zu erfinden: gut, gerecht, weise, Dialektikerkurz
die Vogelscheuche des antiken Philosophen, eine Pflanze, aus jedem Boden
losgelöst; eine Menschlichkeit ohne alle bestimmten regulierenden Instinkte;
eine Tugend, die sich mit Gründen »beweist«. Das vollkommen absurde
»Individuum« an sich! die Unnatur höchsten Rangs ....
Kurz, die Entnatürlichung der Moralwerte hatte zur Konsequenz, einen entartenden
Typus des Menschen zu schaffen »den Guten«, »den
Glücklichen«, »den Weisen«. Sokrates ist ein Moment der
tiefsten Perversität in der Geschichte der Werte. (Ebd., S.
297-298).Sokrates. Dieser Ummschlag des Geschmacks
zugunsten der Dialektik ist ein großes Fragezeichen. Was geschah eigentlich?
Sokrates ... kam mit ihm über einen vornehmeren Geschmack, den Geschmack
der Vornehmen, zum Sieg: der Pöbel kam mit der Dialektik zum
Sieg. Vor Sokrates lehnte man seitens aller guten Gesellschaft die dialektische
Manier ab; man glaubte, daß sie bloßstellte; man warnte die Jugend
vor ihr. Wozu diese Etalage von Gründen? Wozu eigentlich beweisen? Gegen
andere hatte man die Autorität. Man befahl: das genügte. Unter sich,
inter pares, hat man das Herkommen, auch eine Autorität: und, zu guter
Letzt, man »verstand sich«! Man fand gar keinen Platz für Dialektik.
Auch mißtraute man solchem offnen Präsentieren seiner Argumente. Alle
honnetten Dinge halten ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist etwas Unanständiges
darin, alle fünf Finger zu zeigen. Was sich »beweisen« läßt,
ist wenig wert. Daß Dialektik Mißtrauen erregt, daß sie
wenig überredet, das weiß übrigens der Instinkt der Redner aller
Parteien. Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt. Dialektik
kann nur eine Notwehr sein. Man muß in der Not sein, man muß sein
Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden
waren deshalb Dialektiker, Reineke Fuchs war es, Sokrates war es. Man hat ein
schonungsloses Werkzeug in der Hand. Man kann mit ihr tyrannisieren. Man stellt
bloß, indem man siegt. Man überläßt seinem Opfer den Nachweis,
kein Idiot zu sein. Man macht wütend und hilflos, während man selber
kalte, triumphierende Vernünftigkeit bleibt, man depotenziert die
Intelligenz seines Gegners. Die Ironie des Dialektikers ist eine Form der Pöbel-Rache:
die Unterdrückten haben ihre Ferozität in den kalten Messerstichen des
Syllogismus. .... Bei Plato, als bei einem Menschen der überreizbaren Sinnlichkeit
und Schwärmerei, ist der Zauber des Bgriffs so groß geworden,d aß
er unwillkürlich den Begriff als eine Idealform verehrte und vergötterte.
Dialektik-Trunkenheit: als das Bewußtsein, mit ihr eine Herrschaft
über sich auszuüben als Werkzeug des Machtwillens.
(Ebd., S. 298-300).Ich suche zu begreifen, aus welchen partiellen
und idiosynkratischen Zuständen das sokratische Prtoblem ableitbar ist: seine
Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück. Mit diesem Absurdum von Identitätslehre
hat er bezaubert: die antike Philosophie kam nicht wieder davon los ....
Absoluter Mangel an objektivem Interesse: Haß gegen die Wissenschaft: Idiosynkrasie,
sich selbst als Problem zu fühlen. Akustische Halluzinationen bei Sokrates:
morbides Element. Mit Moral sich abgeben widersteht am meisten, wo der Geist reich
und unabhängig ist. Wie kommt es, daß Sokrates Moral-Monoman
ist? Alle »praktische« Philosophie tritt in Notlagen sofort
in den Vordergrund. Moral und Religion als Hauptinteressen sind Notstands-Zeichen.
(Ebd., S. 300-301).Die décadence verrät sich in dieser
Präokkupation des »Glücks« (d.h. des »Heils der Seele«,
d.h. seinen Zustand als Gefahr empfinden). Ihr Fanatismus des Interesses
für »Glück« zeigt die Pathologie des Untergrundes: es war
ein Lebensinteresse. Vernünftig sein oder zugrunde gehn war die Alternative,
vor der sie alle standen. Der Moralismus der griechischen Philosophen zeigt, daß
sie sich in Gefahr fühlten .... (Ebd., S. 302).Die antiken
Philosophen bekämpfen alles, was berauscht, was die absolute Kälte
und Neutralität des Bewußtseins beeinträchtigt .... Sie waren
konsequent, auf Grund ihrer falschen Voraussetzung: daß Bewußtsein
der hohe, der oberste Zustand sei, die Voraussetzung der Vollkommenheit,
wäheend das Gegenteil wahr ist. (Ebd.,
S. 303).Die antiken Philosophen waren die größten
Stümper der Praxis, weil sie sich theoretisch verurteilten, zur Stümperei
.... In praxi lief alles auf Schauspielrei hinaus: und wer dahinter
kam, Pyrrho z.B., urteilte wie jedermann, nämlich: daß in der Güte
und Rechtschaffenheit die »kleinen Leute« den Philosohen weit über
sind. Alle tieferen Naturen des Altertums haben Ekel an den Philosophen der
Tugend gehabt; man sah Streithämmel und Schauspieler in ihnen. (Urteil
über Plato: seitens Epikurs, seitens Pyrrhos).
(Ebd., S. 303).Die eigentlichen Philosophen der Griechen
sind die vor Sokrates ( mit Sokrates verändert sich etwas). (Ebd.,
S. 305).Ich sehe nur noch Eine originale Figur in dem Kommenden:
eine Spätling, aber notwendig den letzten, den NIhilisten Pyrrho:
er hat den Instinkt gegen alles Das, was inzwischen obenauf gekommen war,
die Sokratiker, Platon den Artisten-Optimismus Heraklits. (Pyyrho greift über
Protagoras zu Demokrit zurück ...). (Ebd., S. 305).Die
weise Müdigkeit: Pyrrho. Unter den Niedrigen leben, niedrig. Kein Stolz.
Auf die gemeine Art leben; ehren und glauben, was alle glauben. Auf der Hut gegen
Wissenschaft und Geist, auch alles, was bläht .... Einfach: unbeschreiblich
geduldig, unbekümmert, mild; apaqeia, mehr
noch prauths. Ein Buddhist für Griechenland,
zwischen dem Tumult der Schulen aufgewachsen; spät gekommen; ermüdet;
der Protest des Müden gegen den Eifer der Dialektiker; der Unglaube des Müden
an die Wichtigkeit aller Dinge. Er hat Alexander gesehn, er hat die indischen
Büßer gesehn. Auf solche Späte und Raffinierte wirkt alles
Niedrige, alles Arme, alles Idiotische selbst verführerisch. Das narkotisiert:
das macht ausstrecken (Pascal). Sie empfinden andrerseits, mitten im Gewimmel
und verwechselt mit jedermann, ein wenig Wärme: sie haben Wärme
nötig, diese Müden .... Den Widerspruch überwinden; kein Wettkampf;
kein Wille zur Auszeichnung: die griechischen Instinkte verneinen. (Pyrrho
lebte mit seiner Schwester zusammen, die Hebamme war.) Die Weisheit verkleiden,
daß sie nicht mehr auszeichnet; ihr einen Mantel von Armut und Lumpen geben;
die niedrigsten Verrichtungen tun: auf den Markt gehn und Milchschweine verkaufen
.... Süßigkeit; Helle; Gleichgültigkeit; keine Tugenden, die Gebärden
brauchen: sich auch in der Tugend gleichsetzen: letzte Selbstüberwindung,
letzte Gleichgültigkeit. Pyrrho, gleich Epikur, zwei Formen der griechischen
décadence: verwandt im Haß gegen die Dialektik und gegen alle schauspielerischen
Tugenden beides zusammen hieß damals Philosophie ; absichtlich
das, was sie lieben, niedrig achtend; die gewöhnlichen, selbst verachteten
Namen dafür wählend; einen Zustand darstellend, wo man weder krank,
noch gesund, noch lebendig, noch tot ist .... Epikur naiver, idyllischer, dankbarer;
Pyrrho gereister, verlebter, nihilistischer .... Sein Leben war ein Protest gegen
die große Identitätslehre (Glück = Tugend = Erkenntnis).
Das rechte Leben fördert man nicht durch Wissenschaft: Weisheit macht nicht
»weise« .... Das rechte Leben will nicht Glück, sieht ab von
Glück. (Ebd., S. 305-307).Der Kampf gegen Sokrates,
Plato, die sämtlichen sokratischen Schulen geht von dem tiefen Instinkt aus,
daß man den Menschen nicht besser macht, wenn man ihm die Tugend als beweisbar,
als gründefordernd darstellt... Zuletzt ist es die mesquine Tatsache, daß
der agonale Instinkt alle diese gebornen Dialektiker dazu zwang, ihre Personal-Fähigkeit
als oberste Eigenschaft zu verherrlichen und alles übrige Gute
als bedingt durch sie darzustellen. Der antiwissenschaftliche Geist dieser
ganzen »Philosophie«: sie will recht behalten. (Ebd.,
S. 309).Das ist außerordentlich. Wir finden von Anfang der
griechischen Philosophie an einen Kampf gegen die Wissenschaft, mit den Mitteln
einer Erkenntnistheorie, resp. Skepsis: und wozu? Immer zugunsten der Moral.
(Der Haß gegen die Physiker und Ärzte). Sokrates, Aristipp, die Megariker,
die Cyniker, Epikur, Pyrrho General-Ansturm gegen die Erkenntnis zugunsten
der Moral .... (Haß auch gegen die Dialektik). Es bleibt ein Problem:
sie nähern sich der Sophistik, um die Wissenschaft loszuwerden Andererseits
sind die Physiker alle so weit unterjocht, um das Schema der Wahrheit, des wahren
Seins in ihre Fundamente aufzunehmen: z.B. das Atom, die 4 Elemente (Juxtaposition
eines Seienden, um die Vielheit und Veränderung zu erklären ).
Verachtung gelehrt gegen die Objektivität des Interesses: Rückkehr zu
dem praktischen Interesse, zur Personal-Nützlichkeit aller Erkenntnis ....
Der Kampf gegen die Wissenschaft richtet sich gegen 1)
deren Pathos (Objektivität), 2) deren Mittel
(d.h. gegen deren Nützlichkeit),3) deren
Resultate (als kindisch).Es ist derselbe Kampf,
der später wieder von Seiten der Kirche, im Namen der Frömmigkeit
geführt wird: : sie erbt das ganze antike Rüstzeug zum Kampfe. Die Erkenntnistheorie
spielt dabei dieselbe Rolle, wie bei Kant, wie bei den Indern .... Man will sich
nicht drum zu bekümmern haben: man will die Hand behalten für seinen
»Weg«. Wogegen wehren sie sich eigentlich? Gegen die Verbindlichkeit,
gegen die Gesetzlichkeit, gegen die Nötigung, Hand in Hand zu gehen :
ich glaube, man nennt das Freiheit .... Darin drückt sich décadence
aus: der Instinkt der Solidarität ist so entartet, daß die Solidarität
als Tyrannei empfunden wird: sie wollen keine Autorität, keine Solidarität,
keine Einordnung in Reih und Glied zu unedler Langsamkeit der Bewegung. Sie hassen
das Schrittweise, das Tempo der Wissenschaft, sie hassen das Nicht-anlangen-Wollen,
den langen Atem, die Personal-Indifferenz des wissenschaftlichen Menschen.
(Ebd., S. 309-310).Im Grunde ist die Moral gegen die Wissenschaft
feindlich gesinnt: schon Sokrates war dies und zwar deshalb, weil
die Wissenschaft Dinge als wichtig nimmt, welche mit »gut« und »böse«
nichts zu schaffen haben, folglich dem Gefühl für »gut«
und »böse« Gewicht nehmen. Die Moral nämlich will,
daß ihr der ganze Mensch und seine gesamte Kraft zu Diensten sei: sie hält
es für die Verschwendung eines solchen, der zum Verschwenden nicht reich
genug ist, wenn der Mensch sich ernstlich um Pflanzen und Sterne kümmert.
Deshalb ging in Griechenland, als Sokrates die Krankheit des Moralisierens in
die Wissenschaft eingeschleppt hatte, es geschwinde mit der Wissenschaftlichkeit
abwärts; eine Höhe, wie die in der Gesinnung eines Demokrit, Hippokrates
und Thukydides, ist nicht zum zweiten Male erreicht worden. (Ebd., S. 310-311).Der
Wahn, der glücklich macht, ist verderblicher als der, welcher direkt schlimme
Folgen hat: letzterer schärft, macht mißtrauisch, reinigt die Vernunft,
ersterer schläfert sie ein .... (Ebd., S. 315).Die
psychologischen Verwechslungen: das Verlangen nach Glauben
verwechselt mit dem »Willen zur Wahrheit« (z.B. bei Carlyle). Aber
ebenso ist das Verlangen nach Unglauben verwechselt worden mit dem »Willen
zur Wahrheit« ( ein Bedürfnis, loszukommen von einem Glauben,
aus hundert Gründen: Recht zu bekommen gegen irgendwelche »Gläubigen«).
Was inspiriert die Skeptiker? Der Haß gegen die Dogmatiker
oder ein Ruhe-Bedürfnis, eine Müdigkeit, wie bei Pyrrho. Die Vorteile,
welche man von der Wahrheit erwartete, waren die Vorteile des Glaubens an sie:
an sich nämlich könnte ja die Wahrheit durchaus peinlich, schädlich,
verhängnisvoll sein . Man hat die »Wahrheit« auch nur wieder
bekämpft, als man Vorteile sich vom Siege versprach z.B. Freiheit
von den herrschenden Gewalten. Die Methodik der Wahrheit ist nicht aus Motiven
der Wahrheit gefunden worden, sondern aus Motiven der Macht, des Überlegen-sein-wollens.
Womit beweist sich die Wahrheit? Mit dem Gefühl der erhöhten Macht
mit der Nützlichkeit mit der Unentbehrlichkeit kurz mit
Vorteilen (nämlich Voraussetzungen, welcher Art die Wahrheit beschaffen
sein sollte, um von uns anerkannt zu werden). Aber das ist ein Vorurteil:
ein Zeichen, daß es sich gar nicht um Wahrheit handelt .... Was bedeutet
z.B. der »Wille zur Wahrheit« bei den Goncourts? bei den Naturalisten?
Kritik der »Objektivität«. Warum erkennen: warum nicht
lieber sich täuschen? .... Was man wollte, war immer der Glaube und
nicht die Wahrheit .... Der Glaube wird durch entgegengesetzte Mittel geschaffen
als die Methodik der Forschung : er schließt letztere selbst aus .
(Ebd., S. 316-317).Nicht Theorie und Praxis trennen! (Ebd.,
S. 319).Daß nichts von dem wahr ist, was ehemals als wahr
galt . Was als unheilig, verboten, verächtlich, verhängnisvoll
ehemals verachtet wurde : alle diese Blumen wachsen heute am lieblichen
Pfade der Wahrheit. (Ebd., S. 320).Diese ganze Moral geht
uns nichts mehr an: es ist kein Begriff darin, der noch Achtung verdiente. Wir
haben sie überlebt .... Unser Kriterium der Wahrheit ist durchaus
nicht die Moralität: wir widerlegen eine Behauptung damit, daß
wir sie als abhängig von der Moral, als inspiriert durch edle Gefühle
beweisen. (Ebd., S. 320).Der Mensch sucht nach einem Prinzip,
von wo aus er den Menschen verachten kann, er erfindet eine Welt, um diese
Welt verleumden und beschmutzen zu können: tatsächlich greift er jedesmal
nach dem Nichts und konstruiert das Nichts zum »Gott«, zur »Wahrheit«
und jedenfalls zum Richter und Verurteiler dieses Seins .... (Ebd.,
S. 321).Was blieb ihnen übrig, als, je mehr sie das Dasein
begriffen, um so mehr zu ihm nein zu sagen? ..... Dieses Dasein ist unmoralisch
.... Und dieses Leben ruht auf unmoralischen Voraussetzungen: und alle Moral verneint
das Leben. (Ebd., S. 322).Schaffen wir die wahrte Welt ab:
und um dies zu könne, haben wir die bisherigen obersten Werte anzuschaffen,
die Moral .... Es genügt nachzuweisen, daß auch die Moral unmoralisch
ist, in dem Sinne, in welchem das Unmoralische bis jetzt verurteilt worden sit.
Ist auf diese Weise die Tyrannei der bisherigen Werte gebrochen, haben wir die
»wahre Welt« abgeschafft, so wird eine neue Ordnung der Werte
von selbst folgen müssen.. (Ebd., S. 322).Die scheinbare
Welt und die erlogene Welt ist der Gegensatz. Letztere hieß bisher
die »wahre Welt«, die »Wahrheit«, »Gott«.
Diese haben wir abzuschaffen.Logik meiner
Konzeption:1. Moral als oberster Wert
(Herrin über alle Phasen der Philosophie, selbst der Skeptiker). Resultat:
diese Welt taugt nichts, sie ist nicht die »wahre Welt«. 2.
Was bestimmt hier den obersten Wert? Was ist eigentlich Moral? Der
Instinkt der décadence; es sind die Erschöpften und Enterbten, die
auf diese Weise Rache nehmen. Historischer Nachweis: die Philosophen
sind immer décadents ... im Dienste der nihilistischen Religionen.3.
Der Instinkt der décadence, der als Wille zur Macht auftritt. Beweis:
die absolute Unmoralität der Mittel in der ganzen Geschichte der Moral.Gesamteinsicht:
die bisherigen höchsten Werte sind ein Spezialfall des Willens zur Macht;
die Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoralität. (Ebd., S. 322-323).Prinzipielle
Neuerungen:An Stelle der »moralischen Werte«
lauter naturalistische Werte. Vernatürlichung der Moral.An
Stelle der »Soziologie« eine Lehre von den Herrschaftsgebilden.An
Stelle der »Gesellschaft« den Kultur-Komplex, als mein Vorzugs-Interesse
(gleichsam als Ganzes, bezüglich in seinen Teilen).An
Stelle der »Erkenntnistheorie« eine Perspektiven-Lehre der Affekte
(wozu eine Hierarchie der Affekte gehört: die transfigurierten Affekte,
deren höhere Ordnung, deren »Geistigkeit«).An
Stelle von »Metaphysik« und Religion die Ewige Wiederkunftslehre
(diese als Mittel der Züchtung und Auswahl). (Ebd., S. 323-324).Meine
Vorbereiter:Schopenhauer: Inwiefern ich den Pessimismus
vertiefte und durch Erfindung seines höchsten Gegensatzes erst ganz mir zum
Gefühl brachte.Sodann: die höheren
Europäer, Vorläufer der großen Politik.Sodann:
die Griechen und ihre Entstehung. (Ebd., S. 324).Ich nannte
meine unbewußten Arbeiter und Vorbereiter. Wo aber dürfte ich mit einiger
Hoffnung nach meiner Art von Philosophen selber, zum mindesten nach meinem
Bedürfnis neuer Philosophen suchen? Dort allein, wo eine vornehme
Denkweise herrscht, eine solche, welche an Sklaverei und an viele Grade der
Hörigkeit als an die Voraussetzung jeder höheren Kultur glaubt; wo eine
schöpferische Denkweise herrscht, welche nicht der Welt das Glück
der Ruhe, den »Sabbat aller Sabbate« als Ziel setzt und selber im
Frieden das Mittel zu neuen Kriegen ehrt; eine der Zukunft Gesetze vorschreibende
Denkweise, welche um der Zukunft willen sich selber und alles Gegenwärtige
hart und tyrannisch behandelt; eine unbedenkliche, »unmoralische«
Denkweise, welche die guten und die schlimmen Eigenschaften des Menschen gleichermaßen
ins Große züchten will, weil sie sich die Kraft zutraut, beide an die
rechte Stelle zu setzen, an die Stelle, wo sie beide einander not tun.
Aber wer also heute nach Philosophen sucht, welche Aussicht hat er, zu finden,
was er sucht? Ist es nicht wahrscheinlich, daß er, mit der besten Diogenes-Laterne
suchend, umsonst tags- und nachtsüber herumläuft? Das Zeitalter hat
die umgekehrten Instinkte: es will vor allem und zuerst Bequemlichkeit;
es will zu zweit Öffentlichkeit und jenen großen Schauspieler-Lärm,
jenes große Bumbum, welches seinem Jahrmarkts-Geschmacke entspricht; es
will zu dritt, daß jeder mit tiefster Untertänigkeit vor der größten
aller Lügen diese Lüge heißt »Gleichheit der Menschen«
auf dem Bauche liegt, und ehrt ausschließlich die gleichmachenden,
gleichstellenden Tugenden. Damit aber ist es der Entstehung des Philosophen,
wie ich ihn verstehe, von Grund aus entgegengerichtet, ob es schon in aller Unschuld
sich ihm förderlich glaubt. In der Tat, alle Welt jammert heute darüber,
wie schlimm es früher die Philosophen gehabt hätten, eingeklemmt zwischen
Scheiterhaufen, schlechtes Gewissen und anmaßliche Kirchenväter-Weisheit:
die Wahrheit ist aber, daß eben darin immer noch günstigere
Bedingungen zur Erziehung einer mächtigen, umfänglichen, verschlagenen
und verwegen-wagenden Geistigkeit gegeben waren als in den Bedingungen des heutigen
Lebens. Heute hat eine andere Art von Geist, nämlich der Demagogen-Geist,
der Schauspieler-Geist, vielleicht auch der Biber- und Ameisen-Geist des Gelehrten
für seine Entstehung günstige Bedingungen. Aber um so schlimmer sieht
es schon mit den höheren Künstlern: gehen sie denn nicht fast alle an
innerer Zuchtlosigkeit zugrunde? Sie werden nicht mehr von außen her, durch
die absoluten Werttafeln einer Kirche oder eines Hofes, tyrannisiert: so lernen
sie auch nicht mehr ihren »inneren Tyrannen« großziehen, ihren
Willen. Und was von den Künstlern gilt, gilt in einem höheren
und verhängnisvolleren Sinne von den Philosophen. Wo sind denn heute freie
Geister? Man zeige mir doch heute einen freien Geist! (Ebd., S. 324-326).Ich
verstehe unter »Freiheit des Geistes« etwas sehr Bestimmtes: hundertmal
den Philosophen und andern Jüngern der »Wahrheit« durch Strenge
gegen sich überlegen sein, durch Lauterkeit und Mut, durch den unbedingten
Willen, nein zu sagen, wo das Nein gefährlich ist ich behandle die
bisherigen Philosophen als verächtliche libertins unter der Kapuze des Weibes
»Wahrheit«. (Ebd., S. 326).
3. Buch: Prinzip einer neuen Wertschätzung
3.1)
Der Wille zur Macht als Erkenntnis |
3.1.1) Methode und Forschung
Nicht
der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19. Jahrhundert auszeichnet,
sonder der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft.
(Ebd., S. 329).
3.1.2) Der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt
Ich
halte die Phänomenalität auch der inneren Welt fest: Alles, was
uns bewußt wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert,
ausgelegt, der wirkliche Vorgang der inneren »Wahrnehmung«,
die Kausalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, zwischen
Subjekt und Objekt ist uns absolut verborgen .... (Ebd., S. 332).Es
gibt weder »Geist«, noch Vernunft, noch Denken, noch Bewußtsein,
noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: Alles Fiktionen, die unbrauchbar sind.
Es handelt sich nicht um »Subjekt und Objekt«, sondern um eine bestimmte
Tierart, welche nur unter einer gewissen relativen Richtigkeit,
vor allem Regelmäßigkeit ihrer Wahrnehmungen (so daß sie
Erfahrung kapitalisieren kann) gedeiht. (Ebd., S. 336).
3.1.3) Der Glaube ans Ich, Subjekt
Durch
das Denken wird das Ich gesetzt; aber bisher glaubte man wie das Volk, im »Ich
denke« liege etwas von Unmittelbar-Gewissem, und dieses »Ich«
sei die gegebene Ursache des Denkens, nach deren Analogie wir alle sonstigen
ursächlichen Verhältnisse verstünden. Wie sehr gewohnt und unentbehrlich
jetzt jene Fiktion auch sein mag das allein beweist noch nichts gegen ihre
Erdichtetheit: es kann ein Glaube Lebensbedingung und trotzdem falsch sein.
(Ebd., S. 337-338).Daß aber
ein Glaube, so notwendig er ist zur Erhaltung von Wesen, nichts mit der Wahrheit
zu tun hat, erkennt man z.B. selbst daran, daß wir an Zeit, Raum und Bewegung
glauben müssen, ohne uns gezwungen zu fühlen, hier absolute Realität
zuzugestehen. (Ebd., S. 340).Alles, was als »Einheit«
ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer kompliziert: wir haben immer
nur einen Anschein von Einheit. Das Phänomen des Leibes ist
das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen,
ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung. (Ebd., S. 341).Die
Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist
es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel
und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrunde
liegt. Eine Art Aristokratie von »Zellen«, in denen die Herrschaft
ruht? Gewiß von pares, welche miteinander ans Regieren gewöhnt sind
und zu befehlen verstehen?Meine Hypothesen:Das
Subjekt als Vielheit.Der Schmerz intellektuell
und abhängig vom Urteil »schädlich«: projiziert.Die
Wirkung immer »unbewußt«: die erschlossene und vorgestellte
Ursache wird projiziert, folgt der Zeit nach.Die
Lust ist eine Art des Schmerzes.Die einzige Kraft,
die es gibt, ist gleicher Art wie die des Willens: ein Kommandieren an andere
Subjekte, welche sich daraufhin verändern.Die
beständige Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des Subjekts. »Sterbliche
Seele«.Die Zahl als perspektivische
Form. (Ebd., S. 341-342).Der Glaube an den Leib ist fundamentaler
als der Glaube an die Seele: letzterer ist entstanden aus der unwissenschaftlichen
Betrachtung der Agonien des Leibes (etwas, das ihn verläßt. Glaube
an die Wahrheit des Traumes ). (Ebd., S. 342).
3.1.4) Biologie des Erkenntnistriebes, Perspektivismus
Wahrheit
ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen
nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.
(Ebd., S. 343).Es ist unwahrscheinlich, daß unser »Erkennen«
weiter reichen sollte, als es knapp zur Erhaltung des Lebens ausreicht. Die Morphologie
zeigt uns, wie die Sinne und die Nerven sowie das Gehirn sich entwickeln im Verhältnis
zur Schwierigkeit der Ernährung. (Ebd., S. 343).»Der
Sinn für Wahrheit« muß, wenn die Moralität des »Du
sollst nicht lügen« abgewiesen ist, sich vor einem andern Forum legitimieren
als Mittel der Erhaltung von Mensch, als Macht-Wille. Ebenso unsre
Liebe zum Schönen: ist ebenfalls der gestaltende Wille. Beide Sinne
stehen beieinander; der Sinn für das Wirkliche ist das Mittel, die Macht
in die Hand zu bekommen, um die Dinge nach unserem Belieben zu gestalten. Die
Lust am Gestalten und Umgestalten eine Urlust! Wir können nur eine
Welt begreifen, die wir selber gemacht haben. (Ebd., S. 344).Die
bestgeglaubten apriorischen »Wahrheiten« sind für mich
Annahmen bis auf weiteres, z.B. das Gesetz der Kausalität, sehr gut
eingeübte Gewöhnungen des Glaubens, so einverleibt, daß nicht
daran glauben das Geschlecht zugrunde richten würde. Aber sind es deswegen
Wahrheiten? Welcher Schluß! Als ob die Wahrheit damit bewiesen würde,
daß der Mensch bestehen bleibt! (Ebd., S. 344).Die
Sinneswahrnehmungen nach »außen« projiziert: »innen«
und »außen« da kommandiert der Leib ? Dieselbe
gleichmachende und ordnende Kraft, welche im Idioplasma waltet, waltet auch beim
Einverleiben der Außenwelt: unsere Sinneswahrnehmungen sind bereits das
Resultat dieser Anähnlichung und Gleichsetzung in bezug auf alle Vergangenheit
in uns; sie folgen nicht sofort auf den »Eindruck«. (Ebd., S.
345).Unsere Wahrnehmungen, wie wir sie verstehen: d. i. die Summe
aller der Wahrnehmungen, deren Bewußtwerden uns und dem ganzen organischen
Prozesse vor uns nützlich und wesentlich war: also nicht alle Wahrnehmungen
überhaupt (z. B. nicht die elektrischen); das heißt: wir haben Sinne
nur für eine Auswahl von Wahrnehmungen solcher, an denen uns gelegen
sein muß, um uns zu erhalten. Bewußtsein ist so weit da, als Bewußtsein
nützlich ist. Es ist kein Zweifel, daß alle Sinneswahrnehmungen
gänzlich durchsetzt sind mit Werturteilen (nützlich und schädlich
folglich angenehm oder unangenehm). Die einzelne Farbe drückt zugleich
einen Wert für uns aus (obwohl wir es uns selten oder erst nach langem, ausschließlichem
Einwirken derselben Farbe eingestehen, z.B. Gefangene im Gefängnis oder Irre).
So auch reagieren Insekten auf verschiedene Farben anders: einige lieben diese,
andere jene, z.B. Ameisen. (Ebd., S. 346-347).Erst
Bilder zu erklären, wie Bilder im Geiste entstehen. Dann Worte,
angewendet auf Bilder. Endlich Begriffe, erst möglich, wenn es Worte gibt
ein Zusammenfassen vieler Bilder unter etwas Nicht-Anschauliches, sondern
Hörbares (Wort). Das kleine bißchen Emotion, welches beim »Wort«
entsteht, also beim Anschauen ähnlicher Bilder, für die ein Wort da
ist diese schwache Emotion ist das Gemeinsame, die Grundlage des Begriffes.
Daß schwache Empfindungen als gleich angesetzt werden, als dieselben
empfunden werden, ist die Grundtatsache. Also die Verwechslung zweier ganz benachbarter
Empfindungen in der Konstatierung dieser Empfindungen; wer aber
konstatiert? Das Glauben ist das Uranfängliche schon in jedem Sinnes-Eindruck:
eine Art Ja-sagen erste intellektuelle Tätigkeit! Ein »Für-wahr-halten«
im Anfange! Also zu erklären: wie ein »Für-wahr-halten«
entstanden ist! Was liegt für eine Sensation hinter »wahr«?
(Ebd., S. 347).Die Wertschätzung
»ich glaube, daß das und das so ist«, als Wesen der »Wahrheit«.
In den Wertschätzungen drücken sich Erhaltungs und Wachstums-Bedingungen
aus. Alle unsre Erkenntnisorgane und Sinne sind nur entwickelt in Hinsicht
auf Erhaltungs-und Wachstums-Bedingungen. Das Vertrauen zur Vernunft und
ihren Kategorien, zur Dialektik, also die Wertschätzung der Logik,
beweist nur die durch Erfahrung bewiesene Nützlichkeit derselben für
das Leben: nicht deren »Wahrheit«. Daß eine Menge Glauben
da sein muß; daß geurteilt werden darf; daß der Zweifel
in Hinsicht auf alle wesentlichen Werte fehlt: das ist Voraussetzung
alles Lebendigen und seines Lebens. Also daß etwas für wahr gehalten
werden muß, ist notwendig, nicht, daß etwas wahr ist. »Die
wahre und die scheinbare Welt« dieser Gegensatz wird von mir
zurückgeführt auf Wertverhältnisse. Wir haben unsere Erhaltungs-Bedingungen
projiziert als Prädikate des Seins überhaupt. Daß wir in
unserm Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen, daraus haben wir gemacht,
daß die »wahre« Welt keine wandelbare und werdende, sondern
eine seiende ist. (Ebd., S. 348).
3.1.5) Entstehung von Vernunft und Logik
Ursprünglich
Chaos der Vorstellungen. Die Vorstellungen, die sich miteinander vertrugen, blieben
übrig, die größte Zahl ging zugrunde und geht zugrunde.
(Ebd., S. 348).Zur Entstehung der Logik. Der fundamentale
Hang, gleichzusetzen, gleichzusehen wird modifiziert, im Zaum gehalten
durch Nutzen und Schaden, durch den Erfolg: es bildet sich eine Anpassung
aus, ein milderer Grad, in dem er sich befriedigen kann, ohne zu gleich das Leben
zu verneinen und in Gefahr zu bringen. Dieser ganze Prozeß ist ganz entsprechend
jenem äußeren, mechanischen (der sein Symbol ist), daß das Plasma
fortwährend, was es sich aneignet, sich gleichmacht und in seine Formen
und Reihen einordnet. (Ebd., S. 349).Gleichheit
und Ähnlichkeit.1. Das gröbere Organ
sieht viele scheinbare Gleichheit;2. der Geist
will Gleichheit, d.h. einen Sinneneindruck subsumieren unter eine vorhandene Reihe:
ebenso wie der Körper Unorganisches sich assimiliert. Zum
Verständnis der Logik:der Wille zur Gleichheit
ist der Wille zur Macht der Glaube, daß etwas so und so sei (das
Wesen des Urteils), ist die Folge eines Willens, es soll so viel als möglich
gleich sein. (Ebd., S. 349).Die Logik ist geknüpft an
die Bedingung: gesetzt, es gibt identische Fälle. Tatsächlich,
damit logisch gedacht und geschlossen werde, muß diese Bedingung
erst als erfüllt fingiert werden. Das heißt: der Wille zur logischen
Wahrheit kann erst sich vollziehen, nachdem eine grundsätzliche Fälschung
alles Geschehens angenommen ist. Woraus sich ergibt, daß hier ein Trieb
waltet, der beider Mittel fähig ist, zuerst der Fälschung und dann der
Durchführung seines Gesichtspunktes: die Logik stammt nicht aus dem Willen
zur Wahrheit. (Ebd., S. 349-350).Die erfinderische Kraft,
welche Kategorien erdichtet hat, arbeitete im Dienst des Bedürfnisses, nämlich
von Sicherheit, von schneller Verständlichkeit auf Grund von Zeichen und
Klängen, von Abkürzungsmitteln: es handelt sich nicht um metaphysische
Wahrheiten bei »Substanz«, »Subjekt«, »Objekt«,
»Sein«, »Werden«. Die Mächtigen sind es, welche
die Namen der Dinge zum Gesetz gemacht haben, und unter den Mächtigen sind
es die größten Abstraktions-Künstler, die die Kategorien geschaffen
haben. (Ebd., S. 350).Eine Moral, eine durch lange Erfahrung
und Prüfung erprobte, bewiesene Lebensweise kommt zuletzt als Gesetz
zum Bewußtsein, als dominierend .... Und damit tritt die ganze Gruppe
verwandter Werte und Zustände in sie hinein: sie wird ehrwürdig, unangreifbar,
heilig, wahrhaft; es gehört zu ihrer Entwicklung, daß ihre Herkunft
vergessen wird .... Es ist ein Zeichen, daß sie Herr geworden ist
.... Ganz dasselbe könnte geschehen sein mit den Kategorien der Vernunft:
dieselben könnten, unter vielem Tasten und Herumgreifen, sich bewährt
haben durch relative Nützlichkeit .... Es kam ein Punkt, wo man sie zusammenfaßte,
sich als Ganzes zum Bewußtsein brachte und wo man sie befahl, d.h.
wo sie wirkten als befehlend .... Von jetzt ab galten sie als a priori,
als jenseits der Erfahrung, als unabweisbar. Und doch drücken sie vielleicht
nichts aus, als eine bestimmte Rassen- und Gattungs-Zweckmäßigkeit,
bloß ihre Nützlichkeit ist ihre »Wahrheit«
(Ebd., S. 350-351).Nicht »erkennen«, sondern schematisieren,
dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserm
praktischen Bedürfnis genugtut. In der Bildung der Vernunft, der Logik, der
Kategorien ist das Bedürfnis maßgebend gewesen: das Bedürfnis,
nicht zu »erkennen«, sondern zu subsumieren, zu schematisieren, zum
Zweck der Verständigung, der Berechnung .... (Das Zurechtmachen, das Ausdichten
zum Ähnlichen, Gleichen, derselbe Prozeß, den jeder Sinneseindruck
durchmacht, ist die Entwicklung der Vernunft!) Hier hat nicht eine präexistente
»Idee« gearbeitet: sondern die Nützlichkeit, daß nur, wenn
wir grob und gleichgemacht die Dinge sehen, sie für uns berechenbar und handlich
werden .... Die Finalität in der Vernunft ist eine Wirkung, keine
Ursache: bei jeder anderen Art Vernunft, zu der es fortwährend Ansätze
gibt, mißrät das Leben, es wird Unübersichtlich ,
zu ungleich . Die Kategorien sind »Wahrheiten« nur in dem Sinne,
als sie lebenbedingend für uns sind: wie der Euklidische Raum eine solche
bedingende »Wahrheit« ist. (An sich geredet: da niemand die Notwendigkeit,
daß es gerade Menschen gibt, aufrechterhalten wird, ist die Vernunft, so
wie der Euklidische Raum, eine bloße Idiosynkrasie bestimmter Tierarten,
und eine neben vielen anderen ...). Die subjektive Nötigung, hier nicht widersprechen
zu können, ist eine biologische Nötigung: der Instinkt der Nützlichkeit,
so zu schließen wie wir schließen, steckt uns im Leibe, wir sind beinahe
dieser Instinkt .... Welche Naivität aber, daraus einen Beweis zu ziehen,
daß wir damit eine »Wahrheit an sich« besäßen!...
Das Nicht-widersprechen-können beweist ein Unvermögen, nicht eine »Wahrheit«.
(Ebd., S. 351-352).
Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns:
das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine »Notwendigkeit«
aus, sondern nur ein Nichtvermögen. Wenn, nach Aristoteles,
der Satz vom Widerspruch der gewisseste aller Grundsätze ist,
wenn er der letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführungen
zurückgehn, wenn in ihm das Prinzip aller anderen Axiome liegt: um
so strenger sollte man erwägen, was er im Grunde schon an Behauptungen
voraussetzt. Entweder wird mit ihm etwas in betreff des Wirklichen,
Seienden behauptet, wie als ob man es anderswoher bereits kennte; nämlich
daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zugesprochen werden
können. Oder der Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte
Prädikate nicht zugesprochen werden sollen. Dann wäre
Logik ein Imperativ, nicht zur Erkenntnis des Wahren, sondern zur Setzung
und Zurechtmachung einer Welt, die uns wahr heißen soll.
Kurz, die Frage steht offen: sind die logischen Axiome dem Wirklichen
adäquat, oder sind sie Maßstäbe und Mittel, um Wirkliches,
den Begriff »Wirklichkeit«, für uns erst zu schaffen?
.... Um das erste bejahen zu können, müßte man aber, wie
gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht der Fall
ist. Der Satz enthält also kein Kriterium der Wahrheit, sondern
einen Imperativ über das, was als wahr gelten soll. Gesetzt,
es gäbe ein solches sich-selbst-identisches A gar nicht, wie es jeder
Satz der Logik (auch der Mathematik) voraussetzt, das A wäre bereits
eine Scheinbarkeit, so hätte die Logik eine bloß scheinbare
Welt zur Voraussetzung. In der Tat glauben wir an jenen Satz unter dem
Eindruck der unendlichen Empirie, welche ihn fortwährend zu bestätigen
scheint. Das »Ding« das ist das eigentliche Substrat
zu A; unser Glaube an Dinge ist die Voraussetzung für den
Glauben an die Logik. Das A der Logik ist wie das Atom eine Nachkonstruktion
des »Dinges« .... Indem wir das nicht begreifen und aus der
Logik ein Kriterium des wahren Seins machen, sind wir bereits auf dem
Wege, alle jene Hypostasen: Substanz, Prädikat, Objekt, Subjekt,
Aktion usw. als Realitäten zu setzen: das heißt eine metaphysische
Welt zu konzipieren, das heißt eine »wahre Welt« (
diese ist aber die scheinbare Welt noch einmal ...). Die ursprünglichsten
Denkakte, das Bejahen und Verneinen, das Für-wahr-halten und Nicht-für-wahr-halten,
sind, insofern sie nicht nur eine Gewohnheit, sondern ein Recht voraussetzen,
überhaupt für wahr zu halten oder für unwahr zu halten,
bereits von einem Glauben beherrscht, daß es für uns Erkenntnis
gibt, daß Urteilen wirklich die Wahrheit treffen könne:
kurz, die Logik zweifelt nicht, etwas vom An-sich-Wahren aussagen
zu können (nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate
zukommen können). Hier regiert das sensualistische
grobe Vorurteil, daß die Empfindungen uns Wahrheiten über
die Dinge lehren daß ich nicht zu gleicher Zeit von ein und
demselben Dinge sagen kann, es ist hart und es ist weich. (Der instinktive
Beweis »ich kann nicht zwei entgegengesetzte Empfindungen zugleich
haben« ganz grob und falsch). Das begriffliche Widerspruchs-Verbot
geht von dem Glauben aus, daß wir Begriffe bilden können, daß
ein Begriff das Wesen eines Dinges nicht nur bezeichnet, sondern faßt...
Tatsächlich gilt die Logik (wie die Geometrie und Arithmetik)
nur von fingierten Wesenheiten, die wir geschaffen haben. Logik
ist der Versuch, nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche
Welt zu begreifen, richtiger: uns formulierbar, berechenbar zu machen
.... (Ebd., S. 352-354).
Die Annahme des Seienden
ist nötig, um denken und schließen zu können: die Logik handhabt
nur Formeln für Gleichbleibendes. Deshalb wäre diese Annahme noch ohne
Beweiskraft für die Realität: »das Seiende« gehört
zu unsrer Optik. Das »Ich« als seiend ( durch Werden und Entwicklung
nicht berührt). Die fingierte Welt von Subjekt, Substanz, »Vernunft«
usw. ist nötig : eine ordnende, vereinfachende, fälschende, künstlich-trennende
Macht ist in uns. »Wahrheit« ist Wille, Herr zu werden über das
Vielerlei der Sensationen: die Phänomene aufreihen auf bestimmte
Kategorien. Hierbei gehen wir vom Glauben an das »An-sich« der Dinge
aus (wir nehmen die Phänomene als wirklich). Der Charakter der werdenden
Welt als unformulierbar, als »falsch«, als »sich-widersprechend«.
Erkenntnis und Werden schließen sich aus. Folglich
muß »Erkenntnis« etwas anderes sein: es muß ein Wille
zum Erkennbar-machen vorangehen, eine Art Werden selbst muß die Täuschung
des Seienden schaffen. (Ebd., S. 354-355).Wenn unser
»Ich« uns das einzige Sein ist, nach dem wir alles Sein machen oder
verstehen: sehr gut! Dann ist der Zweifel sehr am Platze, ob hier nicht eine perspektivische
Illusion vorliegt die scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie
alles sich zusammenschließt. Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure
Vielfachheit; es ist methodisch erlaubt, das besser studierbare reichere
Phänomen zum Leitfaden für das Verständnis des ärmeren zu
benutzen. Endlich: gesetzt, alles ist Werden, so ist Erkenntnis nur möglich
auf Grund des Glaubens an Sein. (Ebd., S. 355).Wenn es
»nur ein Sein gibt, das Ich« und nach seinem Bilde alle andern »Seienden«
gemacht sind wenn schließlich der Glaube an das »Ich«
mit dem Glauben an die Logik, d. h. metaphysische Wahrheit der Vernunft-Kategorien
steht und fällt: wenn andrerseits das Ich sich als etwas Werdendes
erweist: so .... (Ebd., S. 355).Die fortwährenden
Übergänge erlauben nicht, von »Individuum« usw. zu reden;
die »Zahl« der Wesen ist selber im Fluß. Wir würden nichts
von Zeit und nichts von Bewegung wissen, wenn wir nicht, in grober Weise, »Ruhendes«
neben Bewegtem zu sehen glaubten. Ebensowenig von Ursache und Wirkung, und ohne
die irrtümliche Konzeption des »leeren Raumes« wären wir
gar nicht zur Konzeption des Raums gekommen. Der Satz von der Identität hat
als Hintergrund den »Augenschein«, daß es gleiche Dinge gibt.
Eine werdende Welt könnte im strengen Sinne nicht »begriffen«,
nicht »erkannt« werden; nur insofern der »begreifende«
und »erkennende« Intellekt eine schon geschaffene grobe Welt vorfindet,
gezimmert aus lauter Scheinbarkeiten, aber fest geworden, insofern diese Art Schein
das Leben erhalten hat nur insofern gibt es etwas wie »Erkenntnis«:
d. h. ein Messen der früheren und der jüngeren Irrtümer aneinander.
(Ebd., S. 355-356).Zur »logischen Scheinbarkeit«.
Der Begriff »Individuum« und »Gattung« gleichermaßen
falsch und bloß augenscheinlich. »Gattung« drückt nur die
Tatsache aus, daß eine Fülle ähnlicher Wesen zu gleicher Zeit
hervortreten und daß das Tempo im Weiterwachsen und Sich-Verändern
eine lange Zeit verlangsamt ist: so daß die tatsächlichen kleinen Fortsetzungen
und Zuwachse nicht sehr in Betracht kommen ( eine Entwicklungsphase, bei
der das Sich-entwickeln nicht in die Sichtbarkeit tritt, so daß ein Gleichgewicht
erreicht scheint und die falsche Vorstellung ermöglicht wird, hier sei
ein Ziel erreicht und es habe ein Ziel in der Entwicklung gegeben ...).
Die Form gilt als etwas Dauerndes und deshalb Wertvolleres; aber die Form ist
bloß von uns erfunden; und wenn noch so oft »dieselbe Form erreicht
wird«, so bedeutet das nicht, daß es dieselbe Form ist, -sondern
es erscheint immer etwas Neues und nur wir, die wir vergleichen,
rechnen das Neue, insofern es Altem gleicht, zusammen in die Einheit der »Form«.
Als ob ein Typus erreicht werden sollte und gleichsam der Bildung vorschwebe und
innewohne. Die Form, die Gattung, das Gesetz, die Idee,
der Zweck hier wird überall der gleiche Fehler gemacht, daß
einer Fiktion eine falsche Realität untergeschoben wird: wie als ob das Geschehen
irgendwelchen Gehorsam in sich trage, eine künstliche Scheidung im
Geschehen wird da gemacht zwischen dem, was tut, und dem, wonach das Tun sich
richtet (aber das was und das wonach sind nur angesetzt aus einem Gehorsam
gegen unsre metaphysisch-logische Dogmatik: kein »Tatbestand«). Man
soll diese Nötigung, Begriffe, Gattungen, Formen, Zwecke, Gesetze
zu bilden (»eine Welt der identischen Fälle«) nicht so
verstehen, als ob wir damit die wahre Welt zu fixieren imstande wären; sondern
als Nötigung, uns eine Welt zurechtzumachen, bei der unsre Existenz
ermöglicht wird: wir schaffen damit eine Welt, die berechenbar, vereinfacht,
verständlich usw. für uns ist. Diese selbe Nötigung besteht in
der Sinnen-Aktivität, welche der Verstand unterstützt
durch Vereinfachen, Vergröbern, Unterstreichen und Ausdichten, auf dem alles
»Wiedererkennen«, alles Sich-verständlich-machen-können
beruht. Unsre Bedürfnisse haben unsre Sinne so präzisiert, daß
die »gleiche Erscheinungswelt« immer wiederkehrt und dadurch den Anschein
der Wirklichkeit bekommen hat. Unsre subjektive Nötigung, an die Logik
zu glauben, drückt nur aus, daß wir, längst bevor uns die Logik
selber zum Bewußtsein kam, nichts getan haben als ihre Postulate in das
Geschehen hineinlegen: jetzt finden wir sie in dem Geschehen vor , wir
können nicht mehr anders und vermeinen nun, diese Nötigung verbürge
etwas über die »Wahrheit«. Wir sind es, die das »Ding«,
das »gleiche Ding«, das Subjekt, das Prädikat, das Tun, das Objekt,
die Substanz, die Form geschaffen haben, nachdem wir das Gleichmachen, das Grob-
und Einfach-machen am längsten getrieben haben. Die Welt erscheint
uns logisch, weil wir sie erst logisiert haben. (Ebd., S. 356-358).
Grundlösung. Wir
glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe.
Die Sprache ist auf die allernaivsten Vorurteile hin gebaut. Nun lesen
wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir nur in der
sprachlichen Form denken somit die »ewige Wahrheit«
der »Vernunft« glauben (z. B. Subjekt, Prädikat usw.).
Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen
Zwange tun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier
eine Grenze als Grenze zu sehn. Das vernünftige Denken ist ein
Interpretieren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können.
(Ebd., S. 358).
3.1.6) Bewußtsein
Das,
was bewußt wird, steht unter kausalen Beziehungen, die uns ganz und gar
vorenthalten sind die Aufeinanderfolge von Gedanken, Gefühlen, Ideen
im Bewußtsein drückt nichts darüber aus, daß diese Folge
eine kausale Folge ist: es ist aber scheinbar so, im höchsten Grade. Auf
diese Scheinbarkeit hin haben wir unsere ganze Vorstellung von Geist,
Vernunft, Logik usw. gegründet ( das gibt es alles nicht: es sind
fingierte Synthesen und Einheiten) und diese wieder in die Dinge, hinter
die Dinge projiziert! Gewöhnlich nimmt man das Bewußtsein selbst als
Gesamt-Sensorium und oberste Instanz; indessen, es ist nur ein Mittel der Mitteilbarkeit:
es ist im Verkehr entwickelt, und in Hinsicht auf Verkehrs- Interessen . .... »Verkehr«
hier verstanden auch von den Einwirkungen der Außenwelt und den unsererseits
dabei nötigen Reaktionen; ebenso wie von unseren Wirkungen nach außen.
Es ist nicht die Leitung, sondern ein Organ der Leitung. (Ebd., S.
359-360).
3.1.7) Urteil: wahr falsch
Das
theologische Vorurteil bei Kant, sein unbewußter Dogmatismus, seine moralistische
Perspektive als herrschend, lenkend, befehlend. Das proton
pseudos: wie ist die Tatsache der Erkenntnis möglich? ist die Erkenntnis
überhaupt eine Tatsache? was ist Erkenntnis? Wenn wir nicht wissen, was Erkenntnis
ist, können wir unmöglich die Frage beantworten, ob es Erkenntnis gibt.
Sehr schön! Aber wenn ich nicht schon »weiß«, ob
es Erkenntnis gibt, geben kann, kann ich die Frage »was ist Erkenntnis«
vernünftigerweise gar nicht stellen. Kant glaubt an die Tatsache der Erkenntnis:
es ist eine Naivität, was er will: die Erkenntnis der Erkenntnis! »Erkenntnis
ist Urteil!« Aber Urteil ist ein Glaube, daß etwas so und so ist!
Und nicht Erkenntnis! »Alle Erkenntnis besteht in synthetischen Urteilen«
mit dem Charakter der Allgemeingültigkeit (die Sache verhält
sich in allen Fällen so und nicht anders), mit dem Charakter der Notwendigkeit
(das Gegenteil der Behauptung kann nie stattfinden). Die Rechtmäßigkeit
im Glauben an die Erkenntnis wird immer vorausgesetzt: so wie die Rechtmäßigkeit
im Gefühl des Gewissensurteils vorausgesetzt wird. Hier ist die moralische
Ontologie das herrschende Vorurteil.Also
der Schluß ist:1. es gibt Behauptungen,
die wir für allgemeingültig und notwendig halten;2.
der Charakter der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit kann nicht aus der
Erfahrung stammen;3. folglich muß er ohne
Erfahrung, anderswoher sich begründen und eine andere Erkenntnisquelle
haben!(Kant schließt:1.
es gibt Behauptungen, die nur unter gewisser Bedingung gültig sind;2.
diese Bedingung ist, daß sie nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen
Vernunft stammen.)Also: die Frage ist, woher
unser Glaube an die Wahrheit solcher Behauptungen seine Gründe nimmt?
Nein, woher er seine Ursache hat! Aber die Entstehung eines Glaubens, einer starken
Überzeugung ist ein psychologisches Problem: und eine sehr begrenzte und
enge Erfahrung bringt oft einen solchen Glauben zuwege! Er setzt bereits voraus,
daß es nicht nur »data a posteriori« gibt, sondern auch data
a priori, »vor der Erfahrung«. Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit
könne nie durch Erfahrung gegeben werden: womit ist denn nun klar, daß
sie ohne Erfahrung überhaupt da sind?Es
gibt keine einzelnen Urteile!Ein einzelnes Urteil
ist niemals »wahr«, niemals Erkenntnis; erst im Zusammenhang,
in der Beziehung von vielen Urteilen ergibt sich eine Bürgschaft. Was unterscheidet
den wahren und den falschen Glauben? Was ist Erkenntnis? Er »weiß«
es, das ist himmlisch!Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit
können nie durch Erfahrung gegeben werden! Also unabhängig von der Erfahrung,
vor aller Erfahrung! Diejenige Einsicht, die a priori stattfindet, also unabhängig
von aller Erfahrung aus der bloßen Vernunft, »eine reine Erkenntnis«!
»Die Grundsätze der Logik, der Satz der Identität und des Widerspruchs,
sind reine Erkenntnisse, weil sie aller Erfahrung vorausgehen.« Aber
das sind gar keine Erkenntnisse! sondern regulative Glaubensartikel.Um
die Apriorität (die reine Vernunftmäßigkeit) der mathematischen
Urteile zu begründen, muß der Raum begriffen werden als eine Form
der reinen Vernunft. Hume hatte erklärt: »es gibt gar keine synthetischen
Urteile a priori.« Kant sagt: doch! die mathematischen! Und wenn es also
solche Urteile gibt, gibt es vielleicht auch Metaphysik, eine Erkenntnis der Dinge
durch die reine Vernunft! Mathematik wird möglich unter Bedingungen, unter
denen Metaphysik nie möglich ist. Alle menschliche Erkenntnis ist entweder
Erfahrung oder Mathematik.Ein Urteil ist synthetisch:
d. h. es verknüpft verschiedene Vorstellungen. Es ist a priori: d.h. jene
Verknüpfung ist eine allgemeingültige und notwendige, die nie durch
sinnliche Wahrnehmung, sondern nur durch reine Vernunft gegeben sein kann. Soll
es synthetische Urteile a priori geben, so wird die Vernunft imstande sein müssen,
zu verknüpfen: das Verknüpfen ist eine Form. Die Vernunft muß
formgebende Vermögen besitzen. (Ebd., S. 362-365).Das
Urteilen ist unser ältester Glaube, unser gewohntestes Für-Wahr-
oder Für-Unwahr-halten, ein Behaupten oder Leugnen, eine Gewißheit,
daß etwas so und nicht anders ist, ein Glaube, hier wirklich »erkannt«
zu haben was wird in allen Urteilen als wahr geglaubt? (Ebd., S.
365).Was sind Prädikate? Wir haben Veränderungen
an uns nicht als solche genommen, sondern als ein »An-sich«, das uns
fremd ist, das wir nur »wahrnehmen«: und wir haben sie nicht als ein
Geschehen, sondern als ein Sein gesetzt, als »Eigenschaft«
und ein Wesen hinzuerfunden, an dem sie haften, d. h. wir haben die Wirkung
als Wirkendes angesetzt und das Wirkende als Seiendes. Aber auch noch
in dieser Formulierung ist der Begriff »Wirkung« willkürlich:
denn von jenen Veränderungen, die an uns vorgehen und von denen wir bestimmt
glauben, nicht selbst die Ursache zu sein, schließen wir nur, daß
sie Wirkungen sein müssen: nach dem Schluß: »zu jeder Veränderung
gehört ein Urheber«; aber dieser Schluß ist schon Mythologie:
er trennt das Wirkende und das Wirken. Wenn ich sage »der Blitz leuchtet«,
so habe ich das Leuchten einmal als Tätgkeit und das andere Mal als Subjekt
gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponiert, welches mit dem Geschehen nicht
eins ist, vielmehr bleibt, ist und nicht »wird«.
Das Geschehen als Wirken anzusetzen: und die Wirkung als Sein: das
ist der doppelte Irrtum, oder Interpretation, deren wir uns schuldig
machen. (Ebd., S. 365).Das Urteil das ist der
Glaube: »Dies und dies ist so.« Also steckt im Urteil das Geständnis,
einem »identischen Fall« begegnet zu sein: es setzt also Vergleichung
voraus, mit Hilfe des Gedächtnisses. Das Urteil schafft es nicht, daß
ein identischer Fall da zu sein scheint. Vielmehr es glaubt einen solchen wahrzunehmen;
es arbeitet unter der Voraussetzung, daß es überhaupt identische Fälle
gibt. Wie heißt nun jene Funktion, die viel älter, früher
arbeitend sein muß, welche an sich ungleiche Fälle ausgleicht und verähnlicht?
Wie heißt jene zweite, welche auf Grund dieser ersten usw.. »Was gleiche
Empfindungen erregt, ist gleich«: wie aber heißt das, was Empfindungen
gleich macht, als gleich »nimmt«? Es könnte gar keine
Urteile geben, wenn nicht erst innerhalb der Empfindungen eine Art Ausgleichung
geübt wäre: Gedächtnis ist nur möglich mit einem beständigen
Unterstreichen des schon Gewohnten, Erlebten. Bevor geurteilt wird, muß
der Prozeß der Assimilation schon getan sein: also liegt auch hier
eine intellektuelle Tätigkeit vor, die nicht ins Bewußtsein fällt,
wie beim Schmerz infolge einer Verwundung. Wahrscheinlich entspricht allen organischen
Funktionen ein inneres Geschehen, also ein Assimilieren, Ausscheiden, Wachsen
usw.. Wesentlich: vom Leib ausgehen und ihn als Leitfaden zu benutzen. Er ist
das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt.
Der Glaube an den Leib ist besser festgestellt als der Glaube an den Geist. »Eine
Sache mag noch so stark geglaubt werden: darin liegt kein Kriterium der Wahrheit.«
Aber was ist Wahrheit? Vielleicht eine Art Glaube, welche zur Lebensbedingung
geworden ist? Dann freilich wäre die Stärke ein Kriterium, z.
B. in betreff der Kausalität. (Ebd., S. 366).Die logische
Bestimmtheit, Durchsichtigkeit als Kriterium der Wahrheit (»omne illud verum
est, quod clare et distincte percipitur«, Descartes); damit ist die mechanische
Welt-Hypothese erwünscht und glaublich. Aber das ist eine grobe Verwechslung:
wie simplex sigillum veri. Woher weiß man das, daß die wahre Beschaffenheit
der Dinge in diesem Verhältnis zu unserm Intellekt steht? Wäre
es nicht anders? Daß die ihm am meisten das Gefühl von Macht und Sicherheit
gebende Hypothese am meisten von ihm bevorzugt, geschätzt und folglich
als wahr bezeichnet wird? Der Intellekt setzt sein freiestes
und stärkstes Vermögen und Können als Kriterium des
Wertvollsten, folglich Wahren ....»Wahr«:
von seiten des Gefühls aus : was das
Gefühl am stärksten erregt (»Ich«);von
seiten des Denkens aus : was dem Denken das größte Gefühl
von Kraft gibt;von seiten des Tastens, Sehens,
Hörens aus : wobei am stärksten Widerstand zu leisten ist.Also
die höchsten Grade in der Leistung erwecken für das Objekt den Glauben
an dessen »Wahrheit«, das heißt Wirklichkeit. Das Gefühl
der Kraft, des Kampfes, des Widerstandes überredet dazu, daß es etwas
gibt, dem hier widerstanden wird. (Ebd., S. 367).Das Kriterium
der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls. (Ebd., S. 367).»Wahrheit«:
das bezeichnet innerhalb meiner Denkweise nicht notwendig einen Gegensatz zum
Irrtum, sondern in den grundsätzlichsten Fällen nur eine Stellung verschiedner
Irrtümer zueinander: etwa daß der eine älter, tiefer als der andere
ist, vielleicht sogar unausrottbar, insofern ein organisches Wesen unserer Art
nicht ohne ihn leben könnte; während andere Irrtümer uns nicht
dergestalt als Lebensbedingungen tyrannisieren, vielmehr, gemessen an solchen
»Tyrannen«, beseitigt und »widerlegt« werden können.
Eine Annahme, die unwiderlegbar ist, warum sollte sie deshalb schon »wahr«
sein? Dieser Satz empört vielleicht die Logiker, welche ihre Grenzen
als Grenzen der Dinge ansetzen: aber diesem Logiker- Optimismus habe ich schon
lange den Krieg erklärt. (Ebd., S. 367-368).Alles, was
einfach ist, ist bloß imaginär, ist nicht »wahr«. Was aber
wirklich, was wahr ist, ist weder Eins noch auch nur reduzierbar auf Eins.
(Ebd., S. 368).Was ist Wahrheit? Inertia; die Hypothese,
bei welcher Befriedigung entsteht: geringster Verbrauch von geistiger Kraft usw.
(Ebd., S. 368).Erster Satz.Die
leichtere Denkweise siegt über die schwierigere als Dogma:
simplex sigillum veri. Dico: daß die Deutlichkeit etwas für
Wahrheit ausweisen soll, ist eine vollkommne Kinderei ....Zweiter
Satz.Die Lehre vom Sein, vom Ding, von lauter
festen Einheiten ist hundertmal leichter als die Lehre vom Werden,
von der Entwicklung ....Dritter Satz.Die
Logik war als Erleichterung gemeint: als Ausdrucksmittel nicht als
Wahrheit .... Später wirkte sie als Wahrheit .... (Ebd., S.
368-369).Parmenides hat gesagt: »man denkt das nicht, was
nicht ist«; wir sind am andern Ende und sagen: »was gedacht
werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein«. (Ebd., S. 369).Es
gibt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen : und folglich gibt es vielerlei
»Wahrheiten«, und folglich gibt es keine Wahrheit. (Ebd., S.
369).Wenn der Charakter des Daseins falsch sein sollte das
wäre nämlich möglich , was wäre dann die Wahrheit, alle
unsere Wahrheit? .... Eine gewissenlose Umfälschung des Falschen? Eine höhere
Potenz des Falschen? (Ebd., S. 369).In einer Welt, die wesentlich
falsch ist, wäre Wahrhaftigkeit eine widernatürliche Tendenz:
eine solche könnte nur Sinn haben als Mittel zu einer besonderen höheren
Potenz von Falschheit. Damit eine Welt des Wahren, Seienden fingiert werden
konnte, mußte zuerst der Wahrhaftige geschaffen sein (eingerechnet, daß
ein solcher sich »wahrhaftig« glaubt). Einfach, durchsichtig, mit
sich nicht im Widerspruch, dauerhaft, sich gleichbleibend, ohne Falte, Volte,
Vorhang, Form: ein Mensch derart konzipiert eine Welt des Seins als »Gott«
nach seinem Bilde. Damit Wahrhaftigkeit möglich ist, muß die ganze
Sphäre des Menschen sehr sauber, klein und achtbar sein: es muß der
Vorteil in jedem Sinne auf seiten des Wahrhaftigen sein. Lüge, Tücke,
Verstellung müssen Erstaunen erregen. (Ebd., S. 369-370).Die
Zunahme der »Verstellung« gemäß der aufwärtssteigenden
Rangordnung der Wesen. In der anorganischen Welt scheint sie zu fehlen
Macht gegen Macht, ganz roh , in der organischen beginnt die List;
die Pflanzen sind bereits Meister in ihr. Die höchsten Menschen wie Cäsar,
Napoleon (Stendhals Wort über ihn), insgleichen die höheren Rassen (Italiener
[? HB]),
die Griechen (Odysseus); die tausendfältigste Verschlagenheit gehört
ins Wesen der Erhöhung des Menschen .... Problem des Schauspielers. Mein
Dionysos-Ideal .... Die Optik aller organischen Funktionen, aller stärksten
Lebensinstinkte: die irrtumwollende Kraft in allem Leben; der Irrtum als
Voraussetzung selbst des Denkens. Bevor »gedacht« wird, muß
schon »gedichtet« worden sein; das Zurechtbilden zu identischen Fällen,
zur Scheinbarkeit des Gleichen ist ursprünglicher als das Erkennen
des Gleichen.
3.1.8) Gegen den Kausalismus
Ich
glaube an den absoluten Raum als Substrat der Kraft: diese begrenzt und gestaltet.
Die Zeit ewig. Aber an sich gibt es nicht Raum noch Zeit. »Veränderungen«
sind nur Erscheinungen (oder Sinnes-Vorgänge für uns); wenn wir zwischen
diesen noch so regelmäßige Wiederkehr ansetzen, so ist damit nichts
begründet als eben diese Tatsache, daß es immer so geschehen
ist. Das Gefühl, daß das post hoc ein propter hoc ist, ist leicht als
Mißverständnis abzuleiten; es ist begreiflich. Aber Erscheinungen können
nicht »Ursachen« sein! (Ebd., S. 370-371).»Subjekt«,
»Objekt«, »Prädikat« diese Trennungen sind
gemacht und werden jetzt wie Schemata übergestülpt über alle anscheinenden
Tatsachen. Die falsche Grundbeobachtung ist, daß ich glaube, ich bin's,
der etwas tut, etwas leidet, der etwas »hat«, der eine Eigenschaft
»hat«. (Ebd., S. 371-372).In jedem Urteile steckt
der ganze, volle, tiefe Glaube an Subjekt und Prädikat oder an Ursache und
Wirkung (nämlich als die Behauptung, daß jede Wirkung Tätigkeit
sei und daß jede Tätigkeit einen Täter voraussetzt); und dieser
letztere Glaube sit sogar nur ein Einzelfall des ersteren, so daß als Grundglaube
der Glaube ürbigbleibt: es gibt Subjekte, alles, was geschieht, verhält
sich prädikativ zur irgendwelchem Subjekte. (Ebd., S. 372).Ehemals
sah man in allem Geschehen Absichten, dies ist unsere älteste Gewohnheit.
(Ebd., S. 372).»Ursache« kommt gar nicht vor: von einigen
Fällen, wo sie uns gegeben schien und wo wir aus uns sie projiziert haben
zum Verständnis des Geschehens, ist die Selbsttäuschung nachgewiesen.
Unser »Verständnis eines Geschehens« bestand darin, daß
wir ein Subjekt erfanden, welches verantwortlich wurde dafür, daß etwas
geschah und wie es geschah. Wir haben unser Willens-Gefühl, unser »Freiheits«-Gefühl,
unser Verantwortlichkeits-Gefühl und unsre Absicht zu einem Tun in den Begriff
»Ursache« zusammengefaßt: causa efficiens und causa
finalis ist in der Grundkonzeption eins. (Ebd., S. 373).Wir
meinten, eine Wirkung sei erklärt, wenn ein Zustand aufgezeigt würde,
dem sie bereits inhäriert. Tatsächlich erfinden wir alle Ursachen nach
dem Schema der Wirkung: letztere ist uns bekannt... Umgekehrt sind wir außerstande,
von irgendeinem Dinge vorauszusagen, was es »wirkt«. Das Ding, das
Subjekt, der Wille, die Absicht alles inhäriert der Konzeption »Ursache«.
Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas verändert
hat. Selbst noch das Atom ist ein solches hinzugedachtes »Ding« und
»Ursubjekt«. (Ebd., S. 373-374).Aus einer notwendigen
Reihenfolge von Zuständen folgt nicht deren Kausal-Verhältnis (
das hieße deren wirkende Vermögen von 1 auf 2, auf 3, auf 4,
auf 5 springen machen). Es gibt weder Ursachen, noch Wirkungen. Sprachlich
wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts. Wenn ich den Muskel
von seinen »Wirkungen« getrennt denke, so habe ich ihn negiert.
(Ebd., S. 374).In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch
bewirkend. Causa ist ein Vermögen zu wirken, hinzuerfunden zum
Geschehen. (Ebd., S. 374).Die Kausalitäts-Interpretation
eine Täuschung .... Ein »Ding« ist die Summe seiner Wirkungen,
synthetisch gebunden durch einen Begriff, Bild. Tatsächlich hat die Wissenschaft
den Begriff Kausalität seines Inhalts entleert und ihn übrigbehalten
zu einer Gleichnisformel, bei der es im Grunde gleichgültig geworden ist,
auf welcher Seite Ursache oder Wirkung. Es wird behauptet, daß in zwei Komplex-Zuständen
(Kraftkonstellationen) die Quanten Kraft gleich blieben. (Ebd., S. 374).Die
Berechenbarkeit eines Geschehens liegt nicht darin, daß eine Regel
befolgt wurde, oder einer Notwendigkeit gehorcht wurde, oder ein Gesetz von Kausalität
von uns in jedes Geschehen projiziert wurde : sie liegt in der Wiederkehr
»identischer Fälle«. (Ebd., S. 374-375).Es
gibt nicht, wie Kant meint, einen Kausalitäts-Sinn. Man wundert sich,
man ist beunruhigt, man will etwas Bekanntes, woran man sich halten kann ....
Sobald im Neuen uns etwas Altes aufgezeigt wird, sind wir beruhigt. Der angebliche
Kausalitäts-Instinkt ist nur die Furcht vor dem Ungewohnten und der Versuch,
in ihm etwas Bekanntes zu entdecken, ein Suchen nicht nach Ursachen, sondern
nach Bekanntem. (Ebd., S. 375).Zur Bekämpfung des
Determinismus und der Teleologie. Daraus, daß etwas regelmäßig
erfolgt und berechenbar erfolgt, ergibt sich nicht, daß es notwendig
erfolgt. .... Die »mechanische Notwendgkeit« ist kein Tatbestand:
wir erst haben sie in das Geschehen hineininterpretiert. .... Der Zwang ist in
den Dingen gar nicht nachweisbar: die Regel beweist nur, daß daß ein
und dasselbe Geschehen nicht auch ein anderes Geschehen ist. (Ebd., S. 375).Erst
dadurch, daß wir Subjekte, »Täter« in die Dinge hineingedeutet
haben, entsteht der Anschein, daß alles Geschehen die Folge von einem auf
Subjekte ausgeübten Zwange ist, ausgeübt von wem? wiederum
von einem »Täter«. Ursache und Wirkung ein gefährlicher
Begriff, solange man ein Etwas denkt, das verursacht, und ein Etwas, auf
das gewirkt wird. (Ebd., S. 375).Die Notwendigkeit
ist kein Tatbestand, sondern eine Interpretation. (Ebd., S. 376).Hat
man begriffen, daß das »Subjekt« nichts ist, das wirkt, sondern
nur eine Fiktion, so folgt vielerlei. (Ebd., S. 376). Wir
haben nur nach dem Vorbilde des Subjekts die Dinglichkeit erfunden und
in den Sensations-Wirrwarr hineininterpretiert. Glauben wir nicht mehr an das
wirkende Subjekt, so fällt auch der Glaube an wirkende Dinge,
an Wechselwirkung, Ursache und Wirkung zwischen jenen Phänomenen, die wir
Dinge nennen. (Ebd., S. 376).Geben wir das wirkende Subjekt
auf, so auch das Objekt, auf das gewirkt wird. (Ebd., S. 376).Geben
wir den Begriff »Subjekt« und »Objekt« auf, dann auch
den Begriff »Substanz« und folglich auch dessen verschiedene
Modifikationen, z.B. »Materie«, »Geist« und andere hypothetische
Wesen, »Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Stoffs« usw.. Wir
sind die Stofflichkeit los. (Ebd., S. 377).Moralisch
ausgedrückt, ist die Welt falsch. Aber insofern die Moral selbst ein
Stück dieser Welt ist, so ist die Moral falsch. (Ebd., S. 377).Der
Wille zur Wahrheit ist ein Fest-machen, ein Wahr-, Dauerhaft-machen,
ein Aus-dem-Auge-schaffen jenes falschen Charakters, eine Umdeutung desselben
ins Seiende. »Wahrheit« ist somit nicht etwas, das da wäre
und das aufzufinden, zu entdecken wäre, sondern etwas, das zu schaffen
ist und das den namen für einen Prozeß abgibt, mehr noch
für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat:
Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen,
nicht ein Bewußtwerden von etwas, das an sich fest und bestimmt
wäre. Es ist ein Wort für den »Willen zur Macht«.
(Ebd., S. 377).Das Leben ist auf die Voraussetzung eines Glaubens
an Dauerndes und Regulär-Wiederkehrendes gegründet; je mächtiger
das Leben, um so breiter muß die erratbare, gleichsam seiend gemachte
Welt sein. Logisierund, Rationalisierung, Systematisierung als Hilfsmittel des
Lebens. (Ebd., S. 377).Der mensch projiziert seinen Trieb
zur Wahrheit, sein »Ziel« in einem gewissen Sinne außer sich
als seiende Welt, als metaphysische Welt, als »Ding an sich«,
als bereits vorhandene Welt. Sein Bedürfnis als Schaffender erdichtet
bereits die Welt, an der er arbeitet, nimmt sie vorweg; diese Vorwegnahme (dieser
»Glaube« an die Wahrheit) ist seine Stütze. (Ebd., S. 378).Sobald
wir uns jemanden imaginieren, der verantwortlich ist dafür, daß
wir so und so sind usw. (Gott, Natur), ihm also unsere Existenz, unser Glück
und Elend als Absicht zulgen, verderben wir uns die Unschuld des Werdens.
Wir haben dann jemandenm der durch uns und mit uns etwas erreichen will.
(Ebd., S. 378).Das »Wohl des Individuumns« ist ebenso
imaginär als das »Wohl der Gattung«: das erstere wird nicht
dem letzteren geopfert, Gattung ist aus der ferne betrachtet etwas ebenso Flüssigens
wie Individuum. »Erhaltung der Gattung« ist nur eine Folge des Wachstums
der Gattung, d.h. der Überwindung der Gattung auf dem Wege zu
einer stärkeren Art. (Ebd., S. 378).Thesen.
Daß die anscheinende »Zweckmäßigkeit« (»die
aller menschlichen Kunst unendlich überlegene Zweckmäßigkeit«)
bloß die Folge jenes in allem Geschehen sich abspielenden Willens zur
Macht ist : daß das Stärker-werden Ordnungen mit sich
bringt, die einem Zweckmäßigkeits-Entwurf ähnlich sehen :
daß die anscheinenden Zwecke nicht beabsichtigt sind, aber, sobald
die Übermacht über eine geringe Macht erreicht ist und letztere als
Funktion der größeren arbeitet, eine Ordnung des Ranges, der
Organisation den Anschein einer Ordnung von Mittel und Zweck erwecken muß.
(Ebd., S. 378).Gegen die anscheinende »Notwendigkeit«:
diese nur ein Ausdruck dafür, daß eine Kraft nicht auch
etwas anderes ist.Gegen die anscheinende »Zweckmäßigkeit«:
letztere nur ein Ausdruck für eine Ordnung von Machtsphären
und deren Zusammenspiel. (Ebd., S. 378-379).
3.1.9) Ding an sich und Erscheinung
Ein
»Ding an sich« ebnso verkehrt wie ein »Sein an sich«.
eine »Bedeutung an sich«. Es gibt keinen »Tatbestand an sich«.
sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es einen Tatbestand
geben kann. (Ebd., S. 381).Wenn alle Einheit nur als
Organisation Einheit ist? Aber das »Ding«, an das wir glauben, ist
nur als Unterlage zu verschiednen Prädikaten hinzuerfunden. Wenn das Ding
»wirkt«, so heißt das: wir fassen alle übrigen Eigenschaften,
die sonst noch hier vorhanden sind und momentan latent sind, als Ursache, daß
jetzt eine einzelne Eigenschaft hervortritt: d. h. wir nehmen die Summe seiner
Eigenschaften x als Ursache der Eigenschaft x: was doch ganz
dumm und verrückt ist! Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel
Einheit: nicht anders, als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist:
also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde,
das eins bedeutet, aber nicht eins ist. (Ebd., S. 383).»Es
mußte in der Ausbildung des Denkens der Punkt eintreten, wo es zum Bewußtsein
kam, daß das, was man als Eigenschaften der Dinge bezeichnete, Empfindungen
des empfindenden Subjekts seien: damit hörten die Eigenschaften auf, dem
Dinge anzugehören.« Es blieb »das Ding an sich« übrig.
Die Unterscheidung zwischen Ding an sich und des Dinges für uns basiert auf
der älteren, naiven Wahrnehmung, die dem Dinge Energie beilegte: aber die
Analyse ergab, daß auch die Kraft hineingedichtet worden ist, und ebenso
die Substanz. »Das Ding affiziert ein Subjekt.«? Wurzel der
Substanzvorstellung in der Sprache, nicht im Außer-uns-Seienden! Das Ding
an sich ist gar kein Problem! Das Seiende wird als Empfindung zu denken sein,
welcher nichts Empfindungsloses mehr zugrunde liegt. In der Bewegung ist kein
neuer Inhalt der Empfindung gegeben. Das Seiende kann nicht inhaltlich
Bewegung sein: also Form des Seins.NB.
Die Erklärung des Geschehens kann versucht werden einmal: durch Vorstellung
von Bildern des Geschehens, die ihm voranlaufen (Zwecke); zweitens: durch
Vorstellung von Bildern, die ihm nachlaufen (die mathematisch-physikalische
Erklärung). | Beide soll man nicht durcheinanderwerfen.
Also: die physische Erklärung, welche die Verbildlichung der Welt ist aus
Empfindung und Denken, kann nicht selber wieder das Empfinden und Denken ableiten
und entstehen machen: vielmehr muß die Physik auch die empfindende Welt
konsequent als ohne Empfindung und Zweck konstruieren bis hinauf
zum höchsten Menschen. Und die teleologische ist nur eine Geschichte der
Zwecke und nie physikalisch! (Ebd., S. 383-384).Unser
»Erkennen« beschränkt sich darauf, Quantitäten festzustellen;
aber wir können durch nichts hindern, diese Quantitäts-Differenzen als
Qualitäten zu empfinden. Die Qualität ist eine perspektivische
Wahrheit für uns; kein »An sich«. Unsere Sinne haben ein bestimmtes
Quantum als Mitte, innerhalb deren sie funktionieren, d. h. wir empfinden groß
und klein im Verhältnis zu den Bedingungen unsrer Existenz. Wenn wir unsre
Sinne um das Zehnfache verschärften oder verstumpften, würden wir zugrunde
gehn: d. h. wir empfinden auch Größenverhältnisse
in bezug auf unsre Existenz-Ermöglichung als Qualitäten.
(Ebd., S. 384-385).Sollten nicht alle Quantitäten Anzeichen
von Qualitäten sein? Der größeren Macht entspricht ein
anderes Bewußtsein, Begehren, ein anderer perspektivischer Blick; Wachstum
selbst ist ein Verlangen, mehr zu sein; aus einem quale heraus erwächst das
Verlangen nach einem Mehr von quantum; in einer rein quantitativen Welt wäre
alles tot, starr, unbewegt. Die Reduktion aller Qualitäten auf Quantitäten
ist Unsinn: was sich ergibt, ist, daß eins und das andre beisammensteht,
eine Analogie (Ebd., S. 385).Die Qualitäten sind unsere
unübersteiglichen Schranken; wir können durch nichts verhindern, bloße
Quantitäts-Differenzen als etwas von Quantität Grundverschiedenes
zu empfinden, nämlich als Qualitäten, die nicht mehr aufeinander reduzierbar
sind. Aber alles, wofür nur das Wort »Erkenntnis« Sinn hat, bezieht
sich auf das Reich, wo gezählt, gewogen, gemessen werden kann, auf die Quantität:
während umgekehrt alle unsre Wertempfindungen (d. h. eben unsre Empfindungen)
gerade an den Qualitäten haften, d. h. an unsren, nur uns allein zugehörigen
perspektivischen »Wahrheiten«, die schlechterdings nicht »erkannt«
werden können. Es liegt auf der Hand, daß jedes von uns verschiedene
Wesen andere Qualitäten empfindet und folglich in einer andern Welt, als
wir leben, lebt. Die Qualitäten sind unsre eigentliche menschliche Idiosynkrasie:
zu verlangen, daß diese unsre menschlichen Auslegungen und Werte allgemeine
und vielleicht konstitutive Werte sind, gehört zu den erblichen Verrücktheiten
des menschlichen Stolzes. (Ebd., S. 385-386).Die »wahre
Welt«, wie immer auch man sie bisher konzipiert hat sie war immer
die scheinbare Welt noch einmal. (Ebd., S. 386).Die
scheinbare Welt, d.h. eine Welt, nach Werten angesehn; geordnet, ausgewählt
nach Werten, d. h. in diesem Falle nach dem Nützlichkeits-Gesichtspunkt in
Hinsicht auf die Erhaltung und Macht- Steigerung einer bestimmten Gattung von
Animal. Das Perspektivische also gibt den Charakter der »Scheinbarkeit«
ab! Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnet!
Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet! Jedes Kraftzentrum
hat für den ganzen Rest seine Perspektive, d.h. seine ganz bestimmte
Wertung, seine Aktions-Art, seine Widerstands-Art. Die »scheinbare
Welt« reduziert sich also auf eine spezifische Art von Aktion auf die Welt,
ausgehend von einem Zentrum. Nun gibt es gar keine andre Art Aktion: und die »Welt«
ist nur ein Wort für das Gesamtspiel dieser Aktionen. Die Realität besteht
exakt in dieser Partikular-Aktion und -Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze
.... Es bleibt kein Schatten von Recht mehr übrig, hier von Schein
zu reden .... Die spezifische Art zu reagieren ist die einzige Art des
Reagierens: wir wissen nicht, wie viele und was für Arten es alles gibt.
Aber es gibt kein »anderes«, kein »wahres«, kein
wesentliches Sein damit würde eine Welt ohne Aktion und Reaktion ausgedrückt
sein .... Der Gegensatz der scheinbaren Welt und der wahren Welt reduziert sich
auf den Gegensatz »Welt« und »Nichts«. (Ebd., S.
386-387). Kritik des Begriffes »wahre und scheinbare Welt«.
Von diesen ist die erste eine bloße Fiktion, aus lauter fingierten
Dingen gebildet. Die »Scheinbarkeit« gehört selbst zur Realität:
sie ist eine Form ihres Seins; d. h. in einer Welt, wo es kein Sein gibt, muß
durch den Schein erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle
geschaffen werden: ein Tempo, in dem Beobachtung und Vergleichung möglich
ist, usw.. »Scheinbarkeit« ist eine zurechtgemachte und vereinfachte
Welt, an der unsre praktischen Instinkte gearbeitet haben: sie ist für uns
vollkommen wahr: nämlich wir leben, wir können in ihr leben:
Beweis ihrer Wahrheit für uns ..., die Welt, abgesehen von unsrer
Bedingung, in ihr zu leben, die Welt, die wir nicht auf unser Sein, unsre
Logik und psychologischen Vorurteile reduziert haben, existiert nicht als Welt
»an sich«; sie ist essentiell Relations-Welt: sie hat, unter Umständen,
von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr Sein ist essentiell
an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder
Punkt und diese Summierungen sind in jedem Falle gänzlich inkongruent.
Das Maß von Macht bestimmt, welches Wesen das andre Maß von
Macht hat: unter welcher Form, Gewalt, Nötigung es wirkt oder widersteht.Unser
Einzelfall ist interessant genug: wir haben eine Konzeption gemacht, um in einer
Welt leben zu können, um gerade genug zu perzipieren, daß wir noch
es aushalten. (Ebd., S. 387-388).Unsre psychologische
Optik ist dadurch bestimmt:1. daß Mitteilung
nötig ist und daß zur Mitteilung etwas fest, ver-einfacht, präzisierbar
sein muß (vor allem im sogenannten identischen Fall). Damit es aber
mitteilbar sein kann, muß es zurechtgemacht empfunden werden, als »wiedererkennbar«.
Das Material der Sinne vom Verstande zurechtgemacht, reduziert auf grobe Hauptstriche,
ähnlich gemacht, subsumiert unter Verwandtes. Also: die Undeutlichkeit und
das Chaos des Sinneseindrucks wird gleichsam logisiert;2.
die Welt der »Phänomene« ist die zurechtgemachte Welt, die wir
als real empfinden. Die »Realität« liegt in dem beständigen
Wieder-kommen gleicher, bekannter, verwandter Dinge, in ihrem logisierten Charakter,
im Glauben, daß wir hier rechnen, berechnen können;3.
der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt ist nicht »die wahre Welt«,
sondern die formlos-unformulier bare Welt des Sensationen-Chaos also
eine andere Art Phänomenal-Welt, eine für uns »unerkennbare«;4.
Fragen, wie die Dinge »an sich« sein mögen, ganz abgesehen von
unsrer Sinnen-Rezeptivität und Verstandes-Aktivität, muß man mit
der Frage zurückweisen: woher könnten wir wissen, daß es Dinge
gibt? Die »Dingheit« ist erst von uns geschaffen. Die Frage ist,
ob es nicht noch viele Arten geben könnte, eine solche scheinbare Welt zu
schaffen und ob nicht dieses Schaffen, Logisieren, Zurechtmachen, Fälschen
die bestgarantierte Realität selbst ist: kurz, ob nicht das, was »Dinge
setzt«, allein real ist; und ob nicht die »Wirkung der äußeren
Welt auf uns« auch nur die Folge solcher wollenden Subjekte ist .... Die
anderen »Wesen« agieren auf uns; unsre zurechtgemachte Scheinwelt
ist eine Zurechtmachung und Überwältigung von deren Aktionen:
eine Art Defensiv-Maßregel. Das Subjekt allein ist beweisbar:
Hypothese, daß es nur Subjekte gibt daß »Objekt«
nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist ... ein Modus des Subjekts.
(Ebd., S. 388-389).
3.1.10) Das metaphysische Bedürfnis
Ist
man Philosoph, wie man immer Philosoph war, so hat man kein Auge für das,
was war, und das, was wird man sieht nur das Seiende. Da es aber nichts
Seiendes gibt, so blieb dem Philosophen nur das Imaginäre aufgespart, als
seine »Welt«. (Ebd., S. 389).Ein Künstler
hält keine Wirklichkeit aus, er blickt weg, zurück: seine ernsthafte
Meinung ist, daß was ein Ding wert ist, jener schattengleiche Rest ist,
den man aus Farben, Gestalt, Klang, Gedanken gewinnt; er glaubt daran, daß,
je mehr subtilisiert, verdünnt, verflüchtigt ein Ding, ein Mensch wird,
um so mehr sein Wert zunimmt: je weniger real, um so mehr Wert. Dies ist
Platonismus: der aber noch eine Kühnheit mehr besaß, im Umdrehen:
er maß den Grad Realität nach dem Wertgrade ab und sagte: je mehr »Idee«,
desto mehr Sein. Er drehte den Begriff »Wirklichkeit« herum und sagte:
»Was ihr für wirklich haltet, ist ein Irrtum, und wir kommen, je näher
wir der Idee kommen, um so näher der Wahrheit«.
Versteht man es? Das war die größte Umtaufung: und weil
sie vom Christentum aufgenommen ist, so sehen wir die erstaunliche Sache nicht.
Plato hat im Grunde den Schein, als Artist, der er war, dem Sein vorgezogen! also
die Lüge und Erdichtung der Wahrheit! das Unwirkliche dem Vorhandenen!
er war aber so sehr vom Werte des Scheins überzeugt, daß er ihm die
Attribute »Sein«, »Ursächlichkeit« und »Gutheit«,
»Wahrheit«, kurz alles übrige beilegte, dem man Wert beilegt.
Der Wertbegriff selbst, als Ursache gedacht: erste Einsicht. Das Ideal mit allen
Attributen bedacht, die Ehre verleihen: zweite Einsicht. (Ebd., S. 389-390).Die
Idee der »wahren Welt« oder »Gottes« als absolut unsinnlich,
geistig, gütig ist eine Notmaßregel im Verhältnis dazu,
als die Gegen-Instinkte noch allmächtig sind .... Die Mäßigkeit
und erreichte Humanität zeigt sich exakt in der Vermenschlichung der Götter:
die Griechen der stärksten Zeit, die vor sich selber keine Furcht hatten,
sondern Glück an sich hatten, näherten ihre Götter an alle ihre
Affekte . Die Vergeistigung der Gottes-Idee ist deshalb fern davon, einen
Fortschritt zu bedeuten: man fühlt dies recht herzlich bei der Berührung
mit Goethe wie da die Verdunstung Gottes zu Tugend und Geist sich als eine
rohere Stufe fühlbar macht. (Ebd., S. 390-391).
Erst vermöge des Denkens gibt es Unwahrheit.
(Ebd., S. 391).
Gegen den Wert des Ewig-Gleichbleibenden (v. Spinozas Naivität,
Descartes ebenfalls) den Wert des Kürzesten und Vergäglichsten,
das verführerische Goldaufblitzen am Bauch der Schlange vita -
(Ebd., S. 392).
Zur
Psychologie der Metaphysik. Diese Welt ist scheinbar: folglich gibt
es eine wahre Welt; diese Welt ist bedingt: folglich gibt es eine
unbedingte Welt; diese Welt ist widerspruchsvoll: folglich gibt es eine
widerspruchslose Welt; diese Welt ist werdend: folglich gibt es eine seiende
Welt: lauter falsche Schlüsse (blindes Vertrauen in die Vernunft:
wenn A ist, so muß auch sein Gegensatz-Begriff B sein). Zu diesen Schlüssen
inspiriert das Leiden: im Grunde sind es Wünsche, es möchte eine
solche Welt geben; ebenfalls drückt sich der Haß gegen eine Welt, die
leiden macht, darin aus, daß eine andere imaginiert wird, eine wertvollere:
das Ressentiment der Metaphysiker gegen das Wirkliche ist hier schöpferisch.
Zweite Reihe von Fragen: wozu Leiden? Und hier ergibt sich ein Schluß
auf das Verhältnis der wahren Welt zu unsrer scheinbaren, wandelbaren, leidenden,
widerspruchsvollen: 1. Leiden als Folge des Irrtums:
wie ist Irrtum möglich?2. Leiden als Folge
von Schuld: wie ist Schuld möglich?(Lauter
Erfahrungen aus der Natursphäre oder der Gesellschaft universalisiert und
ins »An-sich« projiziert).Wenn aber
die bedingte Welt ursächlich von der unbedingten bedingt ist, so muß
die Freiheit zum Irrtum und zur Schuld mit von ihr bedingt sein: und wieder
fragt man wozu? .... Die Welt des Scheins, des Werdens, des Widerspruchs, des
Leidens ist also gewollt: wozu? Der Fehler dieser Schlüsse: zwei gegensätzliche
Begriffe sind gebildet weil dem einen von ihnen eine Realität entspricht,
»muß« auch dem andern eine Realität entsprechen. »Woher
sollte man sonst dessen Gegenbegriff haben?« Vernunft somit als eine
Offenbarungs-Quelle über An-sich-Seiendes. Aber die Herkunft jener Gegensätze
braucht nicht notwendig auf eine übernatürliche Quelle der Vernunft
zurückzugehn: es genügt, die wahre Genesis der Begriffe dagegenzustellen:
diese stammt aus der praktischen Sphäre, aus der Nützlichkeitssphäre,
und hat eben daher ihren starken Glauben (man geht daran zugrunde, wenn
man nicht gemäß dieser Vernunft schließt: aber damit ist das
nicht »bewiesen«, was sie behauptet). Die Präokkupation durch
das Leiden bei den Metaphysikern: ist ganz naiv. »Ewige Seligkeit«:
psychologischer Unsinn. Tapfere und schöpferische Men schen fassen Lust und
Leid nie als letzte Wertfragen, es sind Begleit-Zustände: man muß
beides wollen, wenn man etwas erreichen will . Darin drückt
sich etwas Müdes und Krankes an den Metaphysikern und Religiösen aus,
daß sie Lust- und Leidprobleme im Vordergrunde sehn. Auch die Moral hat
nur deshalb für sie solche Wichtigkeit, weil sie als wesentliche Bedingung
in Hinsicht auf Abschaffung des Leidens gilt. Insgleichen die Präokkuptaion
durch Schein und Irrtum. Ursache von Leiden, Aberglaube, daß das Glück
mit der Wahrheit verbunden sei (Verwechslung: das Glück in der »Gewißheit«,
im »Glauben«). (Ebd., S. 393-395).Inwiefern die
einzelnen erkenntnistheoretischen Grundstellungen (Materialismus, Sensualismus,
Idealismus) Konsequenzen der Wertschätzungen sind: die Quelle der obersten
Lustgefühle (»Wertgefühle«) auch als entscheidend über
das Problem der Realität! Das Maß positiven Wissens
ist ganz gleichgültig oder nebensächlich: man sehe doch die indische
Entwicklung. Die buddhistische Negation der Realität überhaupt (Scheinbarkeit
= Leiden) ist eine vollkommene Konsequenz: Unbeweisbarkeit, Unzugänglichkeit,
Mangel an Kategorien nicht nur für eine »Welt an sich«, sondern
Einsicht in die fehlerhaften Prozeduren, vermöge deren dieser ganze
Begriff gewonnen ist. »Absolute Realität«, »Sein an sich«
ein Widerspruch. In einer werdenden Welt ist »Realität« immer
nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken oder eine Täuschung
auf Grund grober Organe oder eine Verschiedenheit im Tempo desWerdens.
Die logische Weltverneinung und Nihilisierung folgt daraus, daß wir Sein
dem Nichtsein entgegensetzen müssen und daß der Begriff »Werden«
geleugnet wird. (»Etwas« wird.) (Ebd., S. 395).Wir
haben keine Kategorien, nach denen wir eine wahre und eine scheinbare Welt scheiden
dürften. (Es könnte eben bloß eine scheinbare Welt geben, aber
nicht nur unsere scheinbare Welt.) (Ebd., S. 397).Es
ist von kardinaler Wichtigkeit, daß man die wahre Welt abschafft. Sie ist
die große Anzweiflerin und Wertverminderung der Welt, die wir sind: sie
war bisher unser gefährlichstes Attentat auf das Leben. Krieg
gegen alle Voraussetzungen, auf welche hin man eine wahre Welt fingiert hat. Zu
diesen Voraussetzungen gehört, daß die moralischen Werte die obersten
seien. Die moralische Wertung als oberste wäre widerlegt, wenn sie bewiesen
werden könnte als die Folge einer unmoralischen Wertung: als ein Spezialfall
der realen Unmoralität: sie reduzierte sich damit selbst auf einen Anschein,
und als Anschein hätte sie, von sich aus, kein Recht mehr, den Schein
zu verurteilen. (Ebd., S. 398).Der »Wille zur Wahrheit«
wäre sodann psychologisch zu untersuchen: er ist keine moralische Gewalt,
sondern eine Form des Willens zur Macht. Dies wäre damit zu beweisen, daß
er sich aller unmoralischen Mittel bedient: die Metaphysiker voran .
Wir sind heute vor die Prüfung der Behauptung gestellt, daß die moralischen
Werte die obersten Werte seien. Die Methodik der Forschung ist erst erreicht,
wenn alle moralischen Vorurteile überwunden sind: sie stellt
einen Sieg über die Moral dar. (Ebd., S. 398).Der Satz
vom Widerspruch gab das Schema: die wahre Welt, zu der man den Weg sucht, kann
nicht mit sich in Widerspruch sein, kann nicht wechseln, kann nicht werden, hat
keinen Ursprung und kein Ende. Das ist der größte Irrtum, der begangen
worden ist, das eigentliche Verhängnis des Irrtums auf Erden: man glaubte
ein Kriterium der Realität in den Vernunftformen zu haben, während
man sie hatte, um Herr zu werden über die Realität, um auf eine kluge
Weise die Realität mißzuverstehn .... Und siehe da: jetzt wurde
die Welt falsch, und exakt der Eigenschaften wegen, die ihre Realität ausmachen,
Wechsel, Werden, Vielheit, Gegensatz, Widerspruch, Krieg. Und nun war das ganze
Verhängnis da:1. Wie kommt man los von der
falschen, der bloß scheinbaren Welt? ( es war die wirkliche, die einzige);2.
wie wird man selbst möglichst der Gegensatz zu dem Charakter der scheinbaren
Welt? (Begriff des vollkommnen Wesens als eines Gegensatzes zu jedem realen Wesen,
deutlicher, als Widerspruch zum Leben ...).Die
ganze Richtung der Werte war auf Verleumdung des Lebens aus; man schuf
eine Verwechslung des Ideal-Dogmatismus mit der Erkenntnis überhaupt: so
daß die Gegenpartei immer nun auch die Wissenschaft perhorreszierte.
Der Weg zur Wissenschaft war dergestalt doppelt versperrt: einmal durch den Glauben
an die »wahre« Welt, und dann durch die Gegner dieses Glaubens. Die
Naturwissenschaft ... war1. in ihren Objekten
verurteilt,2. um ihre Unschuld gebracht ....In
der wirklichen Welt, wo schlechterdings alles verkettet und bedingt ist, heißt
irgend etwas verurteilen und wegdenken, alles wegdenken und verurteilen.
Das Wort »das sollte nicht sein«, »das hätte nicht sein
sollen« ist eine Farce .... Denkt man die Konsequenzen aus, so ruinierte
man den Quell des Lebens, wenn man das abschaffen wollte, was in irgendeinem Sinne
schädllich, zerstörerisch ist. Die Physiologie demonstriert es ja
besser! Wir sehen, wie die Morala)
die ganze Weltauffassung vergiftet,b)
den Weg zur Erkenntnis, zur Wissenschaft abschneidet,c)
alle wirklichen Instinkte auflöst und untergräbt (indem sie deren Wurzeln
als unmoralisch empfinden lehrt).Wir sehen
ein furchtbares Werkzeug der décadence vor uns arbeiten, das sich mit den
heiligsten Namen und Gebärden aufrecht hält. (Ebd., S. 400-401).A.Der
Mensch sucht »die Wahrheit«: eine Welt, die nicht sich wider-spricht,
nicht täuscht, nicht wechselt, eine wahre Welt eine Welt, in
der man nicht leidet: Widerspruch, Täuschung, Wechsel Ursachen des
Leidens! Er zweifelt nicht, daß es eine Welt, wie sie sein soll, gibt; er
möchte zu ihr sich den Weg suchen. (Indische Kritik: selbst das »Ich«
als scheinbar, als nicht-real.) Woher nimmt hier der Mensch den Begriff
der Realität? Warum leitet er gerade das Leiden von
Wechsel, Täuschung, Widerspruch ab? und warum nicht vielmehr sein Glück?
Die Verachtung, der Haß gegen alles, was vergeht, wechselt, wandelt:
woher diese Wertung des Bleibenden; Ersichtlich ist hier der Wille zur
Wahrheit bloß das Verlangen in eine Welt des Bleibenden. Die Sinne
täuschen, die Vernunft korrigiert die Irrtümer: folglich, schloß
man, ist die Vernunft der Weg zu dem Bleibenden; die unsinnlichsten Ideen
müssen der »wahren Welt« am nächsten sein. Von den
Sinnen her kommen die meisten Unglücksschläge, sie sind Betrüger,
Betörer, Vernichter. Das Glück kann nur im Seienden verbürgt
sein: Wechsel und Glück schließen sich aus. Der höchste Wunsch
hat demnach die Einswerdung mit dem Seienden im Auge. Das ist die Formel
für: Weg zum höchsten Glück.In
summa: Die Welt, wie sie sein sollte, existiert; diese Welt, in der wir
leben, ist ein Irrtum, diese unsre Welt sollte nicht existieren.Der
Glaube an das Seiende erweist sich nur als eine Folge: das eigentliche
primum mobile ist der Unglaube an das Werdende, das Mißtrauen
gegen das Werdende, die Geringschätzung alles Werdens .... Was für eine
Art Mensch reflektiert so? Eine unproduktive, leidende Art, eine lebensmüde
Art. Dächten wir uns die entgegengesetzte Art Mensch, so hätte sie den
Glauben an das Seiende nicht nötig; mehr noch, sie würde es verachten,
als tot, langweilig, indifferent ....Der Glaube,
daß die Welt, die sein sollte, ist, wirklich existiert, ist ein Glaube der
Unproduktiven, die nicht eine Welt schaffen wollen, wie sie sein soll.
Sie setzen sie als vorhanden, sie suchen nach Mitteln und Wegen, um zu ihr zu
gelangen. »Wille zur Wahrheit« als Ohnmacht des Willens
zum Schaffen.Erkennen, daß
etwas so und so ist: | { | Antagonismus
in den Kraft-Graden der Naturen. | Tun,
daß etwas so und so wird: | Fiktion einer
Welt, welche unseren Wünschen entspricht; psychologische Kunstgriffe und
Interpretationen, um alles, was wir ehren und als angenehm empfinden, mit dieser
wahren Welt zu verknüpfen. »Wille zur Wahrheit« auf dieser
Stufe ist wesentlich Kunst der Interpretation: wozu immer noch Kraft der
Interpretation gehört.Dieselbe Spezies Mensch,
noch eine Stufe ärmer geworden, nicht mehr im Besitz der Kraft zu interpretieren,
des Schaffens von Fiktionen, macht den Nihilisten. Ein Nihilist ist der
Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urteilt, sie sollte nicht sein, und
von der Welt, wie sie sein sollte, urteilt, sie existiert nicht. Demnach hat dasein
(handeln, leiden, wollen, fühlen) keinen Sinn: das Pathos des »Umsonst«
ist das Nihilisten-Pathos zugleich noch als Pathos eine Inkonsequenz
des Nihilisten.Wer seinen Willen nicht in die
Dinge zu legen vermag, der Willens- und Kraftlose, der legt wenigstens noch einen
Sinn hinein, d.h. den Glauben, daß schon ein Wille darin sei.Es
ist ein Gradmesser von Willenskraft, wie weit man des Sinnes in
den Dingen entbehren kann, wie weit man in einer sinnlosen Welt zu leben aushält:
weil man ein kleines Stück von ihr selbst organisiert.Das
philosophische Objektiv-Blicken kann somit ein Zeichen von Willens- und
Kraft-Armut sein. Denn die Kraft organisiert das Nähere und Nächste;
die »Erkennenden«, welche nur feststellen wollen, was ist, sind solche,
die nichts festsetzen können, wie es sein soll.Die
Künstler, eine Zwischenart: sie setzen wenigstens ein Gleichnis von
dem fest, was sein soll, sie sind produktiv, insofern sie wirklich verändern
und umformen; nicht wie die Erkennenden, welche alles lassen, wie es ist.Zusammenhang
der Philosophen mit den pessimistischen Religionen: dieselbe Spezies Mensch
( sie legen den höchsten Grad von Realität den höchstgewerteten
Dingen bei ).Zusammenhang der Philosophen
mit den moralischen Menschen und deren Wertmaßen ( die moralische
Weltauslegung als Sinn nach dem Niedergang des religiösen Sinnes ).Überwindung
der Philosophen durch Vernichtung der Welt des Seienden: Zwischenperiode des
Nihilismus: bevor die Kraft da ist, die Werte umzuwenden und das Werdende, die
scheinbare Welt, als die einzige, zu vergöttlichen und gutzuheißen.B.Der
Nihilismus als normales Phänomen kann ein Symptom wachsender Stärke
sein oder wachsender Schwäche:teils,
daß die Kraft, zu schaffen, zu wollen, so gewachsen ist, daß
sie diese Gesamt-Ausdeutungen und Sinn-Einlegungen nicht mehr braucht (»nähere
Aufgaben«, Staat usw.);teils, daß
selbst die schöpferische Kraft, Sinn zu schaffen, nachläßt und
die Enttäuschung der herrschende Zustand wird. Die Unfähigkeit zum Glauben
an einen »Sinn«, der »Unglaube«.Was
die Wissenschaft in Hinsicht auf beide Möglichkeiten bedeutet?1.
Als Zeichen von Stärke und Selbstbeherrschung, als Entbehren-können
heilender, tröstlicher Illusions-Welten;2.
als untergrabend, sezierend, enttäuschend, schwächend.C.Der
Glaube an die Wahrheit, das Bedürfnis einen Halt zu haben an etwas
Wahrgeglaubtem: psychologische Reduktion abseits von allen bisherigen Wertgefühlen.
Die Furcht, die Faulheit.Insgleichen der Unglaube:
Reduktion. Inwiefern er einen neuen Wert bekommt, wenn es eine wahre Welt gar
nicht gibt ( dadurch werden die Wertgefühle wieder frei, die bisher
auf die seiende Welt verschwendet worden sind). (Ebd., S. 401-405).Die
»wahre« und die »scheinbare Welt«A.Die
Verführungen, die von diesem Begriff ausgehen, sind dreierlei
Art:a) eine unbekannte Welt: wir
sind Abenteurer, neugierig das Bekannte scheint uns müde zu machen
( die Gefahr des Begriffs liegt darin, uns »diese« Welt als
bekannt zu insinuieren ...); b) eine andre
Welt, wo es anders ist: es rechnet etwas in uns nach, unsre stille Ergebung,
unser Schweigen verlieren dabei ihren Wert, vielleicht wird alles gut,
wir haben nicht umsonst gehofft .... Die Welt, wo es anders, wo wir selbst
wer weiß? anders sind .... c) eine wahre
Welt: das ist der wunderlichste Streich und Angriff, der auf uns gemacht
wird; es ist so vieles an das Wort »wahr« ankrustiert, unwillkürlich
machen wir's auch der »wahren Welt« zum Geschenk: die wahre Welt muß
auch eine wahrhaftige sein, eine solche, die uns nicht betrügt, nicht
zu Narren hat: an sie glauben ist beinahe glauben müssen ( aus Anstand,
wie es unter zutrauenswürdigen Wesen geschieht ). Der
Begriff »die unbekannte Welt« insinuiert uns diese Welt als
»bekannt« (als langweilig ); der Begriff »die andre
Welt« insinuiert, als ob die Welt anders sein könnte,
hebt die Notwendigkeit und das Fatum auf ( unnütz, sich zu ergeben,
sich anzupassen ); der Begriff »die wahre Welt«
insinuiert diese Welt als eine unwahrhaftige, betrügerische, unredliche,
unechte, unwesentliche und folglich auch nicht unserm Nutzen zugetane Welt
( unratsam, sich ihr anzupassen; besser: ihr widerstreben).Wir
entziehen uns also in dreierlei Weise »dieser« Welt:a)
mit unsrer Neugierde wie als ob der interessantere Teil woanders
wäre;b) mit unsrer Ergebung
wie als ob es nicht nötig sei, sich zu ergeben, wie als ob diese Welt
keine Notwendigkeit letzten Ranges sei;c) mit
unsrer Sympathie und Achtung wie als ob diese Welt sie nicht verdiente,
als unlauter, als gegen uns nicht redlich ....In
summa: wir sind auf eine dreifache Weise revoltiert: wir haben ein x zur
Kritik der »bekannten Welt« gemacht.B.Erster
Schritt der Besonnenheit: zu begreifen, inwiefern wir verführt
sind nämlich es könnte an sich exakt umgekehrt sein;a)
die unbekannte Welt könnte derartig beschaffen sein, um uns Lust zu
machen zu »dieser« Welt, als eine vielleicht stupide und geringere
Form des Daseins;b) die andere Welt, geschweige,
daß sie unsern Wünschen, die hier keinen Austrag fänden, Rechnung
trüge, könnte mit unter der Masse dessen sein, was uns diese
Welt möglich macht: sie kennen lernen wäre ein Mittel, uns zufrieden
zu machen;c) die wahre Welt: aber wer
sagt uns eigentlich, daß die scheinbare Welt weniger wert sein muß
als die wahre? Widerspricht nicht unser Instinkt diesem Urteile? Schafft sich
nicht ewig der Mensch eine fingierte Welt, weil er eine bessere Welt haben will
als die Realität? Vor allem: wie kommen wir darauf, daß nicht
unsre Welt die wahre ist? ... zunächst könnte doch die andre Welt
die »scheinbare« sein (in der Tat haben sich die Griechen z. B. ein
Schattenreich, eine Scheinexistenz neben der wahren Existenz,
gedacht ). Und endlich: was gibt uns ein Recht, gleichsam Grade der Realität
anzusetzen? Das ist etwas andres als eine unbekannte Welt das ist
bereits Etwas-wissen-wollen von der unbekannten. Die »andere«,
die »unbekannte« Welt gut! aber sagen »wahre Welt«
das heißt »etwas wissen von ihr«, das ist der Gegensatz
zur Annahme einer x-Welt ....In summa: die Welt
x könnte in jedem Sinne langweiliger, unmenschlicher und unwürdiger
sein als diese Welt.Es stünde anders, wenn
behauptet würde, es gebe x Welten, d. h. jede mögliche Welt noch außer
dieser. Aber das ist nie behauptet worden ....C.Problem:
warum die Vorstellung von der andern Welt immer zum Nachteil, resp. zur
Kritik »dieser« Welt ausgefallen ist worauf das weist?
Nämlich: ein Volk, das auf sich stolz ist, das im Aufgange des Lebens ist,
denkt das Anders-sein immer als Niedriger-, Wertloser-sein; es betrachtet
die fremde, die unbekannte Welt als seinen Feind, als seinen Gegensatz, es fühlt
sich ohne Neugierde, in voller Ablehnung gegen das Fremde... Ein Volk würde
nicht zugeben, daß ein anderes Volk das »wahre Volk« wäre
....Schon daß ein solches Unterscheiden möglich ist daß
man diese Welt für die »scheinbare« und jene für die »wahre«
nimmt, ist symptomatisch. Die Entstehungsherde der Vorstellung »andre Welt«:
der Philosoph, der eine Vernunft-Welt erfindet, wo die Vernunft und die
logischen Funktionen adäquat sind daher stammt die »wahre«
Welt; der religiöse Mensch, der eine »göttliche Welt« erfindet
daher stammt die »entnatürlichte, widernatürliche«
Welt; der moralische Mensch, der eine »freie Welt« fingiert
daher stammt die »gute, vollkommene, gerechte, heilige« Welt. Das
Gemeinsame der drei Entstehungsherde: der psychologische Fehlgriff,
die physiologischen Verwechslungen. Die »andre Welt«, wie sie tatsächlich
in der Geschichte erscheint, mit welchen Prädikaten abgezeichnet? Mit den
Stigmaten des philosophischen, des religiösen, des moralischen Vorurteils.
Die »andre Welt«, wie sie aus diesen Tatsachen erhellt, als ein Synonym
des Nicht-seins, des Nicht-lebens, des Nicht-leben-wollens ....Gesamteinsicht:
der Instinkt der Lebensmüdigkeit, und nicht der des Lebens, hat die
»andre Welt« geschaffen.Konsequenz:
Philosophie, Religion und Moral sind Symptome der décadence.
(Ebd., S. 405-409).
3.1.11) Biologischer Wert der Erkenntnis
Die Frage der Werte ist fundamentaler als die Frage der
Gewißheit: letztere erlangt ihren Ernst erst unter der Voraussetzung,
daß die Wertfrage beantwortet ist. Sein und Schein, psychologisch
nachgerechnet, ergibt kein »Sein an sich«, keine Kriterien
für »Realität«, sondern nur für Grade der Scheinbarkeit,
gemessen an der Stärke des Anteils, den wir einem Schein geben.
Nicht ein Kampf um Existenz wird zwischen den Vorstellungen und Wahrnehmungen
gekämpft, sondern um Herrschaft; vernichtet wird die
überwundene Vorstellung nicht, nur zurückgedrängt oder
subordiniert. Es gibt im Geistigen keine Vernichtung. (Ebd.,
S. 409-410).
Der Glaube »so und so ist es« zu verwandeln
in den Willen »so und so soll es werden«. (Ebd.,
S. 411).
3.1.12) Wissenschaft
Die
Wissenschaft das war bisher die Beseitigung der vollkommenen Verworrenheit
der Dinge durch Hypothesen, welche alles »erklären« also
aus dem Widerwillen des Intellekts an dem Chaos. Dieser selbe Widerwille
ergreift mich bei der Betrachtung meiner selber: die innere Welt möchte
ich auch durch ein Schema mir bildlich vorstellen und über die intellektuelle
Verworrenheit hinauskommen. Die Moral war eine solche Vereinfachung: sie
lehrte den Menschen als erkannt, als bekannt. Nun haben wir
die Moral vernichtet wir selber sind uns wieder völlig dunkel
geworden! Ich weiß, daß ich von mir nichts weiß. Die Physik
ergibt sich als eine Wohltat für das Gemüt: die Wissenschaft
(als der Weg zur Kenntnis) bekommt einen neuen Zauber nach der Beseitigung
der Moral und weil wir hier allein Konsequenz finden, so müssen
wir unser Leben darauf einrichten, sie uns zu erhalten. Dies ergibt eine
Art praktischen Nachdenkens über unsre Existenzbedingungen als
Erkennende. (Ebd., S. 411). 3.2)
Der Wille zur Macht in der Natur |
3.2.1) Die mechanistische Weltauslegung
Keine
»moralische Erziehung« des Menschengeschlechts: sondern die
Zwangsschule der wissenschaftlichen Irrtümer ist nötig, weil
die »Wahrheit« degoutiert und das Leben verleidet vorausgesetzt,
daß der Mensch nicht schon unentrinnbar in seine Bahn gestoßen ist
und seine redliche Einsicht mit einem tragischen Stolze auf sich nimmt.
(Ebd., S. 412).Wir wissen, daß die Zerstörung einer
Illusion noch keine Wahrheit ergibt, sondern nur ein Stück Unwissenheit
mehr, eine Erweiterung unseres »leeren Raumes«, einen Zuwachs
unserer »Öde« (Ebd., S. 414).Was kann allein
Erkenntnis sein? »Auslegung«, Sinn-hineinlegen
nicht »Erklärung« (in den meisten Fällen eine neue
Auslegung über eine alte unverständlich gewordne Auslegung, die jetzt
selbst nur Zeichen ist). Es gibt keinen Tatbestand, alles ist flüssig, unfaßbar,
zurückweichend; das Dauerhafteste sind noch unsre Meinungen. (Ebd.,
S. 414).Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder,
als was er selbst in sie hineingesteckt hat: das Wiederfinden heißt
sich Wissenschaft, das Hineinstecken Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In
beidem, wenn es selbst Kinderspiel sein sollte, sollte man fortfahren und guten
Mut zu beidem haben, die einen zum Wiederfinden, die andern wir
andern! zum Hineinstecken! (Ebd., S. 415).Die Entwicklung
der Wissenschaft löst das »Bekannte« immer mehr in ein Unbekanntes
auf: sie will aber gerade das Umgekehrte und geht von dem Instinkt
aus, das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen. In summa bereitet
die Wissenschaft eine souveräne Unwissenheit vor, ein Gefühl,
daß »Erkennen« gar nicht vorkommt, daß es eine Art Hochmut
war, davon zu träumen, mehr noch, daß wir nicht den geringsten Begriff
übrig behalten, um auch nur »Erkennen« als eine Möglichkeit
gelten zu lassen daß »Erkennen« eine widerspruchsvolle
Vorstellung ist. Wir übersetzen eine uralte Mythologie und Eitelkeit des
Menschen in die harte Tatsache: so wenig »Ding an sich«, so wenig
ist »Erkenntnis an sich« noch erlaubt als Begriff. Die Verführung
durch »Zahl und Logik«, die Verführung durch die »Gesetze«.
»Weisheit« als Versuch, über die perspektivischen Schätzungen
(d.h. über den »Willen zur Macht«) hinwegzukommen: ein
lebensfeindliches und auflösendes Prinzip, Symptom wie bei den Indern usw.,
Schwächung der Aneignungskraft. (Ebd., S. 415-416).Es
ist nicht genug, daß du einsiehst, in welcher Unwissenheit Mensch und Tier
lebt: du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen.
Es ist dir nötig, zu begreifen, daß ohne diese Art Unwissenheit das
Leben selber unmöglich wäre, daß sie eine Bedingung ist, unter
welcher das Lebendige allein sich erhält und gedeiht: eine große, feste
Glocke von Unwissenheit muß um dich stehn. (Ebd., S. 416).
Wissenschaft Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck
der Beherrschung der Natur das gehört in die Rubrik »Mittel«.
Aber der Zweck und Wille des Menschen muß ebenso wachsen,
die Absicht in Hinsicht auf das Ganze. (Ebd., S. 416).
Wettstreit der Affekte und Überherrschaft Eines Affektes
über den Intellekt. (Ebd., S. 417).
Die Welt »vermenschlichen«, d.h. immer mehr uns in
ihr als Herren fühlen - (Ebd., S. 417).
Die Erkenntnis wird, bei höherer Art von Wesen,
auch neue Formen haben, welche jetzt noch nicht nötig sind. (Ebd.,
S. 417).Daß der Wert der Welt in unserer Interpretation
liegt ( daß vielleicht irgendwo noch andre Interpretationen möglich
sind als bloß menschliche ), daß die bisherigen Interpretationen
perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, d.
h. im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht, erhalten, daß jede Erhöhung
des Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt,
daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven
auftut und an neue Horizonte glauben heißt das geht durch meine Schriften.
Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d.h. ist kein Tatbestand, sondern
eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen;
sie ist »im Flusse«, als etwas Werdendes, als eine sich immer neu
verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn
es gibt keine »Wahrheit«. (Ebd., S. 418).Rekapitulation:Dem
Werden den Charakter des Seins aufzuprägen das ist der höchste
Wille zur Macht.Zwiefache Fälschung,
von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten,
des Verharrenden, Gleichwertigen usw.Daß
alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des
Werdens an die des Seins Gipfel der Betrachtung.Von
den Werten aus, die dem Seienden beigelegt werden, stammt die Verurteilung und
Unzufriedenheit im Werdenden: nachdem eine solche Welt des Seins erst erfunden
war.Die Metamorphosen des Seienden (Körper,
Gott, Ideen, Naturgesetze, Formeln usw.).»Das
Seiende« als Schein; Umkehrung der Werte: der Schein war das Wertverleihende
.Erkenntnis an sich im Werden unmöglich;
wie ist also Erkenntnis möglich? Als Irrtum über sich selbst, als Wille
zur Macht, als Wille zur Täuschung.Werden
als Erfinden, Wollen, Selbstverneinen, Sich-selbst-überwinden: kein Subjekt,
sondern ein Tun, Setzen, schöpferisch, keine »Ursachen und Wirkungen«.Kunst
als Wille zur Überwindung des Werdens, als »Verewigen«, aber
kurzsichtig, je nach der Perspektive: gleichsam im kleinen die Tendenz des Ganzen
wiederholend.Was alles Leben zeigt, als
verkleinerte Formel für die gesamte Tendenz zu betrachten: deshalb eine neue
Fixierung des Begriffs »Leben«, als Wille zur Macht.Anstatt »Ursache
und Wirkung« der Kampf des Werdenden miteinander, oft mit Einschlürfung
des Gegners; keine konstante Zahl des Werdenden.Unbrauchbarkeit
der alten Ideale zur Interpretation des ganzen Geschehens, nachdem man deren tierische
Herkunft und Nützlichkeit erkannt hat; alle überdies dem Leben widersprechend.Unbrauchbarkeit
der mechanistischen Theorie gibt den Eindruck der Sinnlosigkeit.Der
ganze Idealismus der bisherigen Menschheit ist im Begriff, in Nihilismus
umzuschlagen in den Glauben an die absolute Wertlosigkeit, d.h.
Sinnlosigkeit.Die Vernichtung der Ideale,
die neue Öde; die neuen Künste, um es auszuhalten, wir Amphibien.Voraussetzung:
Tapferkeit, Geduld, keine »Rückkehr«, keine Hitze nach vorwärts.
(NB. Zarathustra, sich beständig parodisch zu allen früheren Werten
verhaltend, aus der Fülle heraus.) (Ebd., S. 418-419).Der
siegreiche Begriff »Kraft«, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt
geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm ein innerer
Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als »Willen zur Macht«,
d.h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung,
Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. Die Physiker werden
die »Wirkung in die Ferne« aus ihren Prinzipien nicht los; ebensowenig
eine abstoßende Kraft (oder anziehende). Es hilft nichts: man muß
alle Bewegungen, alle »Erscheinungen«, alle »Gesetze«
nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie
des Menschen zu diesem Ende bedienen. Am Tier ist es möglich, aus dem Willen
zur Macht alle seine Triebe abzuleiten; ebenso alle Funktionen des organischen
Lebens aus dieser einen Quelle. (Ebd., S. 421).Druck
und Stoß etwas unsäglich Spätes, Abgeleitetes, Unursprüngliches.
Es setzt ja schon etwas voraus, das zusammenhält und drücken
und stoßen kann! Aber woher hielte es zusammen? (Ebd., S. 422).ES
gibt nicht Unveränderliches in der Chemie. (Ebd., S. 422).Illusion,
daß etwas erkannt sei, wo wir eine mathematische Formel für
das Geschehene haben: es ist nur bezeichnet, beschrieben: nichts mehr!
(Ebd., S. 424).Wenn ich ein regelmäßiges Geschehen in
eine Formel bringe, so habe ich mir die Bezeichnung des ganzen Phänomens
erleichtert, abgekürzt usw. Aber ich habe kein »Gesetz« konstatiert,
sondern die Frage aufgestellt, woher es kommt, daß hier etwas sich wiederholt:
es ist eine Vermutung, daß der Formel ein Komplex von zunächst unbekannten
Kräften und Kraft-Auslösungen entspricht: es ist Mythologie zu denken,
daß hier Kräfte einem Gesetz gehorchen, so daß infolge ihres
Gehorsams wir jedesmal das gleiche Phänomen haben. (Ebd., S. 425).Ich
hüte mich, von chemischen »Gesetzen« zu sprechen: das
hat einen moralischen Beigeschmack. Es handelt sich vielmehr um eine absolute
Feststellung von Machtverhältnissen: das Stärkere wird über das
Schwächere Herr, soweit dies eben seinen Grad von Selbständigkeit nicht
durchsetzen kann, hier gibt es kein Erbarmen, keine Schonung, noch weniger
eine Achtung vor »Gesetzen«! (Ebd., S. 425).Die
unabänderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen beweist kein »Gesetz«,
sondern ein Machtverhältnis zwischen zwei oder mehreren Kräften. Zu
sagen »aber gerade dies Verhältnis bleibt sich gleich!« heißt
nichts anderes als: »ein und dieselbe Kraft kann nicht auch eine andere
Kraft sein«. Es handelt sich nicht um ein Nacheinander,
sondern um ein Ineinander, einen Prozeß, in dem die einzelnen sich
folgenden Momente nicht als Ursache und Wirkung sich bedingen .... Die Trennung
des »Tuns« vom »Tuenden«, des Geschehens von einem, der
geschehen macht, des Prozesses von einem Etwas, das nicht Prozeß,
sondern dauernd, Substanz, Ding, Körper, Seele usw. ist, der
Versuch, das Geschehen zu begreifen als eine Art Verschiebung und Stellungs-Wechsel
von »Seiendem«, von Bleibendem: diese alte Mythologie hat den Glauben
an »Ursache und Wirkung« festgestellt, nachdem er in den sprachlich-grammatischen
Funktionen eine feste Form gefunden hatte. (Ebd., S. 425-426).Die
»Regelmäßigkeit« der Aufeinanderfolge ist nur ein bildlicher
Ausdruck, wie als ob hier eine Regel befolgt werde: kein Tatbestand. Ebenso
»Gesetzmäßigkeit«. Wir finden eine Formel, um eine immer
wiederkehrende Art der Folge auszudrücken: damit haben wir kein »Gesetz«
entdeckt, noch weniger eine Kraft, welche die Ursache zur Wiederkehr von Folgen
ist. Daß etwas immer so und so geschieht, wird hier interpretiert, als ob
ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer
so und so handelte: während es, abgesehen vom »Gesetz«, Freiheit
hätte, anders zu handeln. Aber gerade jenes So-und-nicht-anders könnte
aus dem Wesen selbst stammen, das nicht in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so
und so verhielte, sondern als so und so beschaffen. Es heißt nur: etwas
kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes tun, ist
weder frei noch unfrei, sondern eben so und so. Der Fehler steckt in der Hineindichtung
eines Subjekts. (Ebd., S. 426).Zwei aufeinanderfolgende
Zustände, der eine »Ursache«, der andere »Wirkung«
: ist falsch. Der erste Zustand hat nichts zu bewirken, den zweiten hat
nichts bewirkt. Es handelt sich um einen Kampf zweier an Macht ungleichen Elemente:
es wird ein Neu-Arrangement der Kräfte erreicht, je nach dem Maß von
Macht eines jeden. Der zweite Zustand ist etwas Grundverschiedenes vom ersten
(nicht dessen Wirkung): das Wesentliche ist, daß die im Kampf befindlichen
Faktoren mit anderen Machtquanten herauskommen. (Ebd., S. 426-427).Kritik
des Mechanismus. Entfernen wir hier die zwei populären Begriffe
»Notwendigkeit« und »Gesetz«: das erste legt einen falschen
Zwang, das zweite eine falsche Freiheit in die Welt. »Die Dinge« betragen
sich nicht regelmäßig, nicht nach einer Regel: es gibt keine Dinge
( das ist unsre Fiktion); sie betragen sich ebensowenig unter einem Zwang
von Notwendigkeit. Hier wird nicht gehorcht: denn daß etwas so ist, wie
es ist, so stark, so schwach, das ist nicht die Folge eines Gehorchens oder
einer Regel oder eines Zwanges .... Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht
darum handelt es sich bei allem Geschehen: wenn wir, zu unserm Handgebrauch
der Berechnung, das in Formeln und »Gesetzen« auszudrücken wissen,
um so besser für uns! Aber wir haben damit keine »Moralität«
in die Welt gelegt, daß wir sie als gehorsam fingieren . Es gibt kein
Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz. Gerade, daß
es kein Anderskönnen gibt, darauf beruht die Berechenbarkeit. Ein Machtquantum
ist durch die Wirkung, die es übt, und die, der es widersteht, bezeichnet.
Es fehlt die Adiaphorie: die an sich denkbar wäre. Es ist essentiell ein
Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigung zu wehren. Nicht Selbsterhaltung:
jedes Atom wirkt in das ganze Sein hinaus es ist weggedacht, wenn man diese
Strahlung von Machtwillen wegdenkt. Deshalb nenne ich es ein Quantum »Wille
zur Macht«: damit ist der Charakter ausgedrückt, der aus der mechanischen
Ordnung nicht weggedacht werden kann, ohne sie selbst wegzudenken. Eine Übersetzung
dieser Welt von Wirkung in eine sichtbare Welt eine Welt fürs
Auge ist der Begriff »Bewegung«. Hier ist immer subintelligiert,
daß etwas bewegt wird hierbei wird, sei es nun in der Fiktion
eines Klümpchen-Atoms oder selbst von dessen Abstraktion, dem dynamischen
Atom, immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt d.h. wir sind aus der
Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten. Subjekt,
Objekt, ein Täter zum Tun, das Tun und das, was es tut, gesondert: vergessen
wir nicht, daß dies eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet.
Die Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung in
die Sinnensprache des Menschen. (Ebd., S. 427-428).Wir haben
»Einheiten« nötig, um rechnen zu können: deshalb
ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten gibt. Wir haben den Begriff
der Einheit entlehnt von unserm »Ich«-Begriff unserm ältesten
Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir
nie den Begriff »Ding« gebildet. Jetzt, ziemlich spät, sind wir
reichlich davon überzeugt, daß unsre Konzeption des Ich-Begriffs nichts
für eine reale Einheit verbürgt. Wir haben also, um die mechanistische
Welt theoretisch aufrechtzuerhalten, immer die Klausel zu machen, inwiefern wir
sie mit zwei Fiktionen durchführen: dem Begriff der Bewegung (aus
unsrer Sinnensprache genommen) und dem Begriff des Atoms (= Einheit, aus
unsrer psychischen »Erfahrung« herstammend): sie hat ein Sinnen-Vorurteil
und ein psychologisches Vorurteil zu ihrer Voraussetzung. Die Mechanik
formuliert Folgeerscheinungen, noch dazu semiotisch, in sinnlichen und psychologischen
Ausdrucksmitteln (daß alle Wirkung Bewegung ist; daß wo Bewegung
ist, etwas bewegt wird): sie berührt die ursächliche Kraft nicht.
Die mechanistische Welt ist so imaginiert, wie das Auge und das Getast
sich allein eine Welt vorstellen (als »bewegt«), so, daß
sie berechnet werden kann, daß ursächliche Einheiten fingiert
sind, »Dinge« (Atome), deren Wirkung konstant bleibt ( Übertragung
des falschen Subjektbegriffs auf den Atombegriff).Phänomenal ist also:
die Einmischung des Zahlbegriffs, des Dingbegriffs (Subjektbegriffs), des Tätigkeitsbegriffs
(Trennung von Ursache-sein und Wirken), des Bewegungsbegriffs: wir haben unser
Auge, unsre Psychologie immer noch darin. Eliminieren wir diese
Zutaten, so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem
Spannungsverhältnis zu allen andern dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem
Verhältnis zu allen andern Quanten besteht, in ihrem »Wirken«
auf dieselben. Der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein
Pathos ist die elementarste Tatsache, aus der sich erst ein Werden, ein
Wirken ergibt. (Ebd., S. 428-429).Die Physiker glauben an
eine »wahre Welt« auf ihre Art: eine feste, für alle Wesen gleiche
Atom-Systematisation in notwendigen Bewegungen so daß für
sie die »scheinbare Welt« sich reduziert auf die jedem Wesen nach
seiner Art zugängliche Seite des allgemeinen und allgemein notwendigen Seins
(zugänglich und auch noch zurechtgemacht »subjektiv« ge
macht). Aber damit verirren sie sich. Das Atom, das sie ansetzen, ist erschlossen
nach der Logik jenes Bewußtseins-Perspektivismus ist somit auch selbst
eine subjektive Fiktion. Dieses Weltbild, das sie entwerfen, ist durchaus nicht
wesensverschieden von dem Subjektiv-Weltbild: es ist nur mit weitergedachten
Sinnen konstruiert, aber durchaus mit unsern Sinnen .... Und zuletzt haben
sie in der Konstellation etwas ausgelassen, ohne es zu wissen: eben den notwendigen
Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftzentrum und nicht
nur der Mensch von sich aus die ganze übrige Welt konstruiert,
d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet .... Sie haben vergessen,
diese Perspektiven-setzende Kraft in das »wahre Sein« einzurechnen
in der Schulsprache geredet: das Subjekt-sein. Sie meinen, dies sei »entwickelt«,
hinzugekommen; aber noch der Chemiker braucht es: es ist ja das Spezifisch-Sein,
das bestimmt So-und-so-Agieren und -Reagieren, je nachdem. Der Perspektivismus
ist nur eine komplexe Form der Spezifität. Meine Vorstellung ist, daß
jeder spezifische Körper danach strebt, über den ganzen Raum Herr zu
werden und seine Kraft auszudehnen ( sein Wille zur Macht:) und alles das
zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt. Aber er stößt
fortwährend auf gleiche Bestrebungen andrer Körper und endet, sich mit
denen zu arrangieren (»vereinigen«), welche ihm verwandt genug sind:
so konspirieren sie dann zusammen zur Macht. Und der Prozeß
geht weiter .... (Ebd., S. 427-428).Auch im Reiche des Unorganischen
kommt für ein Kraft-Atom nur seine Nachbarschaft in Betracht: die Kräfte
in der Ferne gleichen sich aus. Hier steckt der Kern des Perspektivischen
und warum ein lebendiges Wesen durch und durch »egoistisch« ist.
(Ebd., S. 428-429).Gesetzt, die Welt verfügte über ein
Quantum von Kraft, so liegt auf der Hand, daß jede Macht-Verschiebung an
irgendeiner Stelle das ganze System bedingt also neben der Kausalität
hintereinander wäre eine Abhängigkeit neben und miteinander gegeben
(Ebd., S. 429-430).Die einzige Möglichkeit, einen Sinn für
den Begriff »Gott« aufrechtzuerhalten, wäre: Gott nicht als treibende
Kraft, sondern Gott als Maximal-Zustand, als eine Epoche : ein Punkt
in der Entwicklung des Willens zur Macht: aus dem sich ebensosehr die Weiterentwicklung
als das Vorher, das Bis-zu-ihm erklärte. Mechanistisch betrachtet, bleibt
die Energie des Gesamt-Werdens konstant; ökonomisch betrachtet, steigt sie
bis zu einem Höhepunkt und sinkt von ihm wieder herab in einem ewigen Kreislauf.
Dieser »Wille zur Macht« drückt sich in der Ausdeutung,
in der Art des Kraftverbrauchs aus: Verwandlung der Energie in Leben
und »Leben in höchster Potenz« erscheint demnach als Ziel. Dasselbe
Quantum Energie bedeutet auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung verschiedenes.
Das, was das Wachstum im Leben ausmacht, ist die immer sparsamer und weiter rechnende
Ökonomie, welche mit immer weniger Kraft immer mehr erreicht .... Als Ideal
das Prinzip des kleinsten Aufwandes .... Daß die Welt nicht auf einen Dauerzustand
hinauswill, ist das einzige, was bewiesen ist. Folglich muß man ihren
Höhezustand so ausdenken, daß er kein Gleichgewichtszustand ist ....
Die absolute Nezessität des gleichen Geschehens in einem Weltlauf, wie in
allen übrigen, ist in Ewigkeit nicht ein Determinismus über dem
Geschehen, sondern bloß der Ausdruck dessen, daß das Unmögliche
nicht möglich ist; daß eine bestimmte Kraft nichts anderes sein kann
als eben diese bestimmte Kraft; daß sie sich an einem Quantum Kraft- Widerstand
nicht anders ausläßt, als ihrer Stärke gemäß ist;
Geschehen und Notwendig-Geschehen ist eine Tautologie. (Ebd., S.
431-432).
3.2.2) Der Wille zur Macht als Leben
3.2.2.1) Der organische Prozeß
»Leben«
wäre zu definieren als eine dauernde Form von Prozessen der Kraftfeststellung,
wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits zugleich wachsen. (Ebd.,
S. 433).Der Wille zur Macht interpretiert ( bei der
Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation): er grenzt ab, bestimmt
Grade, Machtverschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten
sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsenwollendes
Etwas da sein, das jedes andre wachsen-wollende Etwas auf seinen Wert hin interpretiert.
Darin gleich In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um
Herr über etwas zu werden. (Der organische Prozeß setzt fortwährend
Interpretieren voraus.) (Ebd., S. 433).Die größte
Kompliziertheit, die scharfe Abscheidung, das Nebeneinander der ausgebildeten
Organe und Funktionen, mit Verschwinden der Mittelglieder wenn das Vollkommenheit
ist, so ergibt sich ein Wille zur Macht im organischen Prozeß, vermöge
deren herrschaftliche, gestaltende, befehlende Kräfte immer das Gebiet
ihrer Macht mehren und innerhalb desselben immer wieder vereinfachen: der Imperativ
wachsend. Der »Geist« ist nur ein Mittel und Werkzeug im Dienst des
höheren Lebens, der Erhöhung des Lebens. (Ebd., S. 434).Gegen
den Darwinismus. Der Nutzen eines Organs erklärt nicht seine Entstehung,
im Gegenteil! Die längste Zeit, während deren eine Eigenschaft sich
bildet, erhält sie das Individuum nicht und nützt ihm nicht, am wenigsten
im Kampf mit äußeren Umständen und Feinden. Was ist zuletzt »nützlich«?
Man muß fragen »in bezug worauf nützlich?« Z.B.
was der Dauer des Individuums nützt, könnte seiner Stärke und Pracht
ungünstig sein; was das Individuum erhält, könnte es zugleich festhalten
und stillstellen in der Entwicklung. Andererseits kann ein Mangel, eine
Entartung vom höchsten Nutzen sein, insofern sie als Stimulans anderer
Organe wirkt. Ebenso kann eine Notlage Existenzbedingung sein, insofern sie ein
Individuum auf das Maß herunterschraubt, bei dem es zusammenhält
und sich nicht vergeudet. Das Individuum selbst als Kampf der Teile (um
Nahrung, Raum usw.): seine Entwicklung geknüpft an ein Siegen, Vorherrschen
einzelner Teile, an ein Verkümmern, »Organwerden« anderer
Teile. Der Einfluß der »äußeren Umstände« ist
bei Darwin ins Unsinnige überschätzt: das Wesentliche am Lebensprozeß
ist gerade die ungeheure gestaltende, von innen her formenschaffende Gewalt, welche
die »äußeren Umstände« ausnützt, ausbeutet
. Die von innen her gebildeten neuen Formen sind nicht auf einen Zweck hin
geformt; aber im Kampf der Teile wird eine neue Form nicht lange ohne Beziehung
zu einem partiellen Nutzen stehen und dann, dem Gebrauche nach, sich immer vollkommener
ausgestalten. (Ebd., S. 435-436).»Nützlich«
in bezug auf die Beschleunigung des Tempos der Entwicklung ist ein anderes »Nützlich«
als das in bezug auf möglichste Feststellung und Dauerhaftigkeit des Entwickelten.
(Ebd., S. 436).»Nützlich« im Sinne der darwinistischen
Biologie das heißt: im Kampf mit anderen sich als begünstigend
erweisend. Aber mir scheint schon das Mehrgefühl, das Gefühl des
Stärker-werdens, ganz abgesehen vom Nutzen im Kampf, der eigentliche
Fortschritt: aus diesem Gefühle entspringt erst der Wille zum Kampf
(Ebd., S. 436).Die Physiologen sollten sich besinnen, den »Erhaltungstrieb«
als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas
Lebendiges seine Kraft auslassen: die »Erhaltung« ist nur eine
der Konsequenzen davon. Vorsicht vor überflüssigen teleologischen
Prinzipien! Und dahin gehört der ganze Begriff »Erhaltungstrieb«.
(Ebd., S. 436).Man kann die unterste und ursprünglichste Tätigkeit
im Protoplasma nicht aus einem Willen zur Selbsterhaltung ableiten, denn es nimmt
auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein, als die Erhaltung bedingen würde:
und vor allem, es »erhält sich« damit nicht, sondern zerfällt
.... Der Trieb, der hier waltet, hat gerade dieses Sich-nicht-erhalten-wollen
zu erklären: »Hunger« ist schon eine Ausdeutung, nach ungleich
komplizierteren Organismen ( Hunger ist eine spezialisierte und spätere
Form des Triebes, ein Ausdruck der Arbeitsteilung, im Dienst eines darüber
waltenden höheren Triebes). (Ebd., S. 436-437).Es ist
nicht möglich, den Hunger als primum mobile zu nehmen, ebenso
wenig als die Selbsterhaltung. Der Hunger als Folge der Unterernährung aufgefaßt,
heißt: der Hunger als Folge eines nicht mehr Herr werdenden Willens
zur Macht. Es handelt sich durchaus nicht um eine Wiederherstellung eines Verlustes
erst spät, infolge Arbeitsteilung, nachdem der Wille zur Macht ganz
andre Wege zu seiner Befriedigung einschlagen lernte, wird das Aneignungsbedürfnis
des Organismus reduziert auf den Hunger, auf das Wiederersatzbedürfnis
des Verlorenen. (Ebd., S. 437).Der Trieb, sich anzunähern,
und der Trieb, etwas zurückzustoßen, sind in der unorganischen
wie organischen Welt das Band. Die ganze Scheidung ist ein Vorurteil. Der Wuille
zur Macht in jeder Jraft-Kombination, sich wehrend gegen das Stärkere,
losstürzend auf das Schwächere, ist richtiger. NB. Die Prozesse
als »Wesen«. (Ebd., S. 438).Der Wille
zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht
also nach dem, was ihm widersteht, dies die ursprüngliche Tendenz
des Protoplasmas, wenn es Pseudopodien ausstreckt und um sich tastet. Die Aneignung
und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen,
An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in den Machtbereich
des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat. Gelingt
diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweiheit
erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert
ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander (unter Umständen
ohne seine Verbindung untereinander völlig aufzugeben). »Hunger«
ist nur eine engere Anpassung, nachdem der Grundtrieb nach Macht geistigere Gestalt
gewonnen hat. (Ebd., S. 438).Der Leib als Herrschaftsgebilde.
Die Aristokratie im Leibe, die Mehrheit der Herrschenden (Kampf der Zellen
und Gewebe). Die Sklaverei und die Arbeitsteilung: der höhere Typus nur möglich
durch Herunterdrückung eines niederen auf eine Funktion. Lust und
Schmerz kein Gegensatz. Das Gefühl der Macht. »Ernährung«
nur eine Konsequenz der unersättlichen Aneignung, des Willens zur Macht.
Die »Zeugung«, der Zerfall eintretend bei der Ohnmacht der herrschenden
Zellen, das Angeeignete zu organisieren. Die gestaltende Kraft ist es,
die immer neuen »Stoff« (noch mehr »Kraft«) vorrätig
haben will. Das Meisterstück des Aufbaus eines Organismus aus dem Ei. »Mechanistische
Auffassung«: will nichts als Quantitäten: aber die Kraft steckt in
der Qualität. Die Mechanistik kann also nur Vorgänge beschreiben, nicht
erklären. Der »Zweck«. Auszugehen von der »Sagazität«
der Pflanzen. Begriff der »Vervollkommnung«: nicht nur größere
Kompliziertheit, sondern größere Macht ( braucht nicht
nur größere Masse zu sein ). Schluß auf die Entwicklung
der Menschheit: die Vervollkommnung besteht in der Hervorbringung der mächtigsten
Individuen, zu deren Werkzeug die größte Menge gemacht wird (und zwar
als intelligentestes und beweglichstes Werkzeug). (Ebd., S. 438-439).
3.2.2.2) Der Mensch
Am
Leitfaden des Leibes. Gesetzt, daß die »Seele«
ein anziehender und geheimnisvoller Gedanke war, von dem sich die Philosophen
mit Recht nur widerstrebend getrennt haben vielleicht ist das, was sie
nunmehr dagegen einzutauschen lernen, noch anziehender, noch geheimnisvoller.
Der menschliche Leib, an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit
alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch,
über den hinweg und hinaus ein ungeheurer, unhörbarer Strom zu fließen
scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte »Seele«.
Es ist zu allen Zeiten besser an den Leib als an unseren eigentlichsten Besitz,
unser gewissestes Sein, kurz unser ego geglaubt worden als an den Geist (oder
die »Seele« oder das Subjekt, wie die Schulsprache jetzt statt Seele
sagt). Niemand kam je auf den Einfall, seinen Magen als einen fremden, etwa einen
göttlichen Magen zu verstehen: aber seine Gedanken als »eingegeben«,
seine Wertschätzungen als »von einem Gott eingeblasen«, seine
Instinkte als Tätigkeit im Dämmern zu fassen für diesen
Hang und Geschmack des Menschen gibt es aus allen Altern der Menschheit Zeugnisse.
Noch jetzt ist, namentlich unter Künstlern, eine Art Verwunderung und ehrerbietiges
Aushängen der Entscheidung reichlich vorzufinden, wenn sich ihnen die Frage
vorlegt, wodurch ihnen der beste Wurf gelungen und aus welcher Welt ihnen der
schöpferische Gedanke gekommen ist: sie haben, wenn sie dergestalt fragen,
etwas wie Unschuld und kindliche Scham dabei, sie wagen es kaum zu sagen: »Das
kam von mir, das war meine Hand, die die Würfel warf.« Umgekehrt
haben selbst jene Philosophen und Religiösen, welche den zwingendsten Grund
in ihrer Logik und Frömmigkeit hatten, ihr Leibliches als Täuschung
(und zwar als überwundene und abgetane Täuschung) zu nehmen, nicht umhin
gekonnt, die dumme Tatsächlichkeit anzuerkennen, daß der Leib nicht
davongegangen ist: worüber die seltsamsten Zeugnisse teils bei Paulus, teils
in der Vedânta- Philosophie zu finden sind. Aber was bedeutet zuletzt Stärke
des Glaubens? Deshalb könnte es immer noch ein sehr dummer Glaube sein!
Hier ist nachzudenken: Und zuletzt, wenn der Glaube an den Leib
nur die Folge eines Schlusses ist: gesetzt, es wäre ein falscher Schluß,
wie die Idealisten behaupten, ist es nicht ein Fragezeichen an der Glaubwürdigkeit
des Geistes selber, daß er dergestalt die Ursache falscher Schlüsse
ist? Gesetzt, die Vielheit, und Raum und Zeit und Bewegung (und was alles die
Voraussetzungen eines Glaubens an Leiblichkeit sein mögen) wären Irrtümer
welches Mißtrauen würde dies gegen den Geist erregen, der uns
zu solchen Voraussetzungen veranlaßt hat? Genug, der Glaube an den Leib
ist einstweilen immer noch ein stärkerer Glaube als der Glaube an den Geist;
und wer ihn untergraben will, untergräbt eben damit am gründlichsten
auch den Glauben an die Autorität des Geistes! (Ebd., S. 440-441).Warum
alle Tätigkeit, auch die eines Sinnes, mit Lust verknüpft ist? Weil
vorher eine Hemmung, ein Druck bestand? Oder vielmehr weil alles Tun ein Überwinden,
ein Herrwerden ist und Vermehrung des Machtgefühls gibt? Die
Lust im Denken. Zuletzt ist es nicht nur das Gefühl der Macht, sondern
die Lust an dem Schaffen und am Geschaffenen: denn alle Tätigkeit kommt uns
ins Bewußtsein als Bewußtsein eines »Werks«. (Ebd.,
S. 441-442).Schaffen als Auswählen und Fertig-machen
des Gewählten. (Bei jedem Willensakte ist dies das Wesentliche.)
(Ebd., S. 442).Alles Geschehen aus Absichten ist reduzierbar auf
die Absicht der Mehrung von Macht. (Ebd., S. 443).Die
Wissenschaft fragt nicht, was uns zum Wollen trieb: sie leugnet
vielmehr, daß gewollt worden ist, und meint, daß etwas ganz anderes
geschehen sei kurz, daß der Glaube an »Wille« und »Zweck«
eine Illusion sei. (Ebd., S. 446).Lust und Unlust sind immer
Schlußphänomene, keine »Ursachen«. (Ebd., S. 448).Ich
erkannte die aktive Kraft, das Schaffende inmitten des Zufälligen:
Zufall ist selber nur das Aufeinanderstoßen der schaffenden Impulse.
(Ebd., S. 450).In der ungeheuren Vielheit des Geschehens innerhalb
eines Organismus ist der uns bewußt werdende Teil ein bloßes
Mittel: und das bißchen »Tugend«, »Selbstlosigkeit«
und ähnliche Fiktionen werden auf eine vollkommen radikale Weise vom übrigen
Gesamtgeschehen aus Lügen gestraft. Wir tun gut, unseren Organismus in seiner
vollkommenen Unmoralität zu studieren .... Die animalischen Funktionen sind
ja prinzipiell millionenfach wichtiger als alle schönen Zustände und
Bewußtseins-Höhen: letztere sind ein Überschuß, soweit sie
nicht Werkzeuge sein müssen für jene animalischen Funktionen. Das ganze
bewußte Leben, der Geist samt der Seele, samt dem Herzen, samt der
Güte, samt der Tugend: in wessen Dienst arbeitet es denn? In dem möglichster
Vervollkommnung der Mittel (Ernährungs-, Steigerungsmittel) der animalischen
Grundfunktionen: vor allem der Lebenssteigerung. Es liegt so unsäglich
viel mehr an dem, was man »Leib« und »Fleisch« nannte:
der Rest ist ein kleines Zubehör. Die Aufgabe, die ganze Kette des Lebens
fortzuspinnen, und so, daß der Faden immer mächtiger wird
das ist die Aufgabe. Aber nun sehe man, wie Herz, Seele, Tugend, Geist förmlich
sich verschwören, diese prinzipielle Aufgabe zu verkehren: wie als
ob sie die Ziele wären! Die Entartung des Lebens ist wesentlich bedingt
durch die außerordentliche Irrtumsfähigkeit des Bewußtseins:
es wird am wenigsten durch Instinkte in Zaum gehalten und vergreift sich deshalb
am längsten und gründlichsten. Nach den angenehmen oder unangenehmen
Gefühlen dieses Bewußtseins abmessen, ob das Dasein Wert
hat: kann man sich eine tollere Ausschweifung der Eitelkeit denken? Es ist ja
nur ein Mittel: und angenehme oder unangenehme Gefühle sind ja auch
nur Mittel! Woran mißt sich objektiv der Wert? Allein an dem Quantum gesteigerter
und organisierter Macht. (Ebd., S. 450-451).Wert alles
Abwertens. Meine Forderung ist, daß man den Täter
wieder in das Tun hineinnimmt, nachdem man ihn begrifflich aus ihm herausgezogen
und damit das Tun entleert hat; daß man das Etwas-tun, das »Ziel«,
die »Absicht«, daß man den »Zweck« wieder in das
Tun zurücknimmt, nachdem man ihn künstlich aus ihm herausgezogen und
damit das Tun entleert hat. Alle »Zwecke«, »Ziele«, »Sinne«
sind nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des einen Willens, der allem Geschehen
inhäriert: des Willens zur Macht. Zwecke-, Ziele-, Absichten-haben, Wollen
überhaupt, ist so viel wie Stärker-werden-wollen, Wachsen-wollen
und dazu auch die Mittel wollen. Der allgemeinste und unterste Instinkt
in allem Tun und Wollen ist eben deshalb der unerkannteste und verborgenste geblieben,
weil in praxi wir immer seinem Gebote folgen, weil wir dies Gebot sind .... Alle
Wertschätzungen sind nur Folgen und engere Perspektiven im Dienste
dieses einen Willens: das Wertschätzen selbst ist nur dieser Wille zur
Macht. Eine Kritik des Seins aus irgendeinem dieser Werte heraus ist etwas
Widersinniges und Mißverständliches. Gesetzt selbst, daß sich
darin ein Untergangsprozeß einleitet, so steht dieser Prozeß noch
im Dienste dieses Willens. Das Sein selbst abschätzen! Aber das Abschätzen
selbst ist dieses Sein noch! und indem wir nein sagen, tun wir immer noch,
was wir sind. Man muß die Absurdität dieser daseinsrichtenden Gebärde
einsehn; und sodann noch zu erraten suchen, was sich eigentlich damit begibt.
Es ist symptomatisch. (Ebd., S. 451-452).Es ist zu zeigen,
wie sehr alles Bewußte auf der Oberfläche bleibt: wie Handlung
und Bild der Handlung verschieden ist, wie wenig man von dem weiß,
was einer Handlung vorhergeht: wie phantastisch unsere Gefühle »Freiheit
des Willens«, »Ursache und Wirkung« sind: wie Gedanken und Bilder,
wie Worte nur Zeichen von Gedanken sind: die Unergründlichkeit jeder Handlung:
die Oberflächlichkeit alles Lobens und Tadelns: wie wesentlich Erfindung
und Einbildung ist, worin wir bewußt leben: wie wir in allen unsern
Worten von Erfindungen reden (Affekte auch), und wie die Verbindung der
Menschheit auf einem Überleiten und Fortdichten dieser Erfindungen beruht:
während im Grunde die wirkliche Verbindung (durch Zeugung) ihren unbekannten
Weg geht (Ebd., S. 453-454).Die Individuation, vom
Standpunkt der Abstammungstheorie beurteilt, zeigt das beständige Zerfallen
von eins in zwei und das ebenso beständige Vergehen der Individuen auf
den Gewinn von wenig Individuen, die die Entwicklung fortsetzen: die übergroße
Masse stirbt jedesmal ab (»der Leib«). Das Grundphänomen: unzählige
Individuen geopfert um weniger willen: als deren Ermöglichung.
Man muß sich nicht täuschen lassen: ganz so steht es mit den Völkern
und Rassen: sie bilden den »Leib« zur Erzeugung von einzelnen
wertvollen Individuen, die den großen Prozeß fortsetzen.
(Ebd., S. 457).Gegen die Theorie, daß das einzelne Individuum
den Vorteil der Gattung, seiner Nachkommenschaft im Auge hat, auf Unkosten
des eigenen Vorteils: das ist nur Schein. Die ungeheure Wichtigkeit, mit der das
Individuum den geschlechtlichen Instinkt nimmt, ist nicht eine Folge
von dessen Wichtigkeit für die Gattung, sondern das Zeugen ist die eigentliche
Leistung des Individuums und sein höchstes Interesse folglich, seine höchste
Machtäußerung (natürlich nicht vom Bewußtsein aus
beurteilt, sondern von dem Zentrum der ganzen Individuation). (Ebd., S.
457-458).Grundirrtümer der bisherigen
Biologen: es handelt sich nicht um die Gattung, sondern um stärker auszuwirkende
Individuen. (Die Vielen sind nur Mittel.) Das Leben ist nicht Anpassung innerer
Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der von innen her immer
mehr »Äußeres« sich unterwirft und einverleibt. Diese Biologen
setzen die moralischen Wertschätzungen fort ( der »an
sich höhere Wert des Altruismus«, die Feindschaft gegen die Herrschsucht,
gegen den Krieg, gegen die Unnützlichkeit, gegen die Rang-und Ständeordnung).
(Ebd., S. 458).Mit der moralischen Herabwürdigung des ego
geht auch noch, in der Naturwissenschaft, eine Überschätzung der Gattung
Hand in Hand. Aber die Gattung ist etwas ebenso Illusorisches wie das ego: man
hat eine falsche Distinktion gemacht. Das ego ist hundertmal mehr als bloß
eine Einheit in der Kette von Gliedern; es ist die Kette selbst, ganz und
gar; und die Gattung ist eine bloße Abstraktion aus der Vielheit dieser
Ketten und deren partieller Ähnlichkeit. Daß, wie so oft behauptet
worden ist, das Individuum der Gattung geopfert wird, ist durchaus kein
Tatbestand: vielmehr nur das Muster einer fehlerhaften Interpretation. (Ebd.,
S. 458).Man rechnet auf den Kampf um die Existenz, den Tod der
schwächlichen Wesen und das Überleben der Robustesten und Bestbegabten;
folglich imaginiert man ein beständiges Wachstum der Vollkommenheit für
die Wesen. Wir haben uns umgekehrt versichert, daß, in dem Kampf um das
Leben, der Zufall den Schwachen so gut dient, wie den Starken; daß die List
die Kraft oft mit Vorteil suppliert; daß die Fruchtbarkeit der Gattungen
in einem merkwürdigen Rapport zu den Chancen der Zerstörung steht.
(Ebd., S. 459).Anti-Darwin.
Die Domestikation des Menschen: welchen definitiven Wert kann sie
haben? oder hat überhaupt eine Domestikation einen definitiven Wert?
Man hat Gründe, dies letztere zu leugnen. Die Schule Darwins macht zwar große
Anstrengung, uns zum Gegenteil zu überreden: sie will, daß die Wirkung
der Domestikation tief, ja fundamental werden kann. Einstweilen halten wir
am Alten fest: es hat sich nichts bisher bewiesen, als eine ganz oberflächliche
Wirkung durch Domestikation oder aber die Degenereszenz. Und alles, was
der menschlichen Hand und Züchtung entschlüpft, kehrt fast sofort wieder
in seinen Natur-Zustand zurück. Der Typus bleibt konstant: man kann nicht
»dénaturer la nature«. Man rechnet auf den Kampf um
die Existenz, den Tod der schwächlichen Wesen und das Überleben der
Robustesten und Bestbegabten; folglich imaginiert man ein beständiges Wachstum
der Vollkommenheit für die Wesen. Wir haben uns umgekehrt versichert, daß,
in dem Kampf um das Leben, der Zufall den Schwachen so gut dient, wie den Starken;
daß die List die Kraft oft mit Vorteil suppliert; daß die Fruchtbarkeit
der Gattungen in einem merkwürdigen Rapport zu den Chancen der Zerstörung
steht. Man teilt der natürlichen Selektion
zugleich langsame und unendliche Metamorphosen zu: man will glauben, daß
jeder Vorteil sich vererbt und sich in abfolgenden Geschlechtern immer stärker
ausdrückt (während die Erblichkeit so kapriziös ist ...); man betrachtet
die glücklichen Anpassungen gewisser Wesen an sehr besondere Lebensbedingungen
und man erklärt, daß sie durch den Einfluß des Milieus
erlangt seien. Man findet aber Beispiele der unbewußten Selektion
nirgendswo (ganz und gar nicht). Die disparatesten Individuen einigen sich, die
extremen mischen sich in die Masse. Alles konkurriert, seinen Typus aufrechtzuerhalten;
Wesen, die äußere Zeichen haben, die sie gegen gewisse Gefahren schützen,
verlieren dieselben nicht, wenn sie unter Umstände kommen, wo sie ohne Gefahr
leben. Wenn sie Orte bewohnen, wo das Kleid aufhört, sie zu verbergen, nähern
sie sich keineswegs dem Milieu an. Man
hat die Auslese der Schönsten in einer Weise übertrieben, wie
sie weit über den Schönheitstrieb unsrer eignen Rasse hinausgeht! Tatsächlich
paart sich das Schönste mit sehr enterbten Kreaturen, das Größte
mit dem Kleinsten. Fast immer sehen wir Männchen und Weibchen von jeder zufälligen
Begegnung profitieren und sich ganz und gar nicht wählerisch zeigen.
Modifikation durch Klima und Nahrung: aber in Wahrheit gleichgültig.
Man behauptet die wachsende Entwicklung
der Wesen. Es fehlt jedes Fundament. Jeder Typus hat seine Grenze: über diese
hinaus gibt es keine Entwicklung. Bis dahin absolute Regelmäßigkeit.
(Ebd., S. 459-460).Meine Gesamtansicht.
Erster Satz: der Mensch als Gattung
ist nicht im Fortschritt. Höhere Typen werden wohl erreicht, aber
sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht gehoben.Zweiter
Satz: der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgendeinem
andern Tier dar. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom
Niederen zum Höheren .... Sondern alles zugleich, und übereinander und
durcheinander und gegeneinander. Die reichsten und komplexesten Formen
denn mehr besagt das Wort »höherer Typus« nicht gehen
leichter zugrunde: nur die niedrigsten halten eine scheinbare Unvergänglichkeit
fest. Erstere werden selten erreicht und halten sich mit Not oben: letztere haben
eine kompromittierende Fruchtbarkeit für sich. Auch in der Menschheit
gehen unter wechselnder Gunst und Ungunst die höheren Typen, die Glücksfälle
der Entwicklung, am leichtesten zugrunde. Sie sind jeder Art von décadence
ausgesetzt: sie sind extrem, und damit selbst beinahe schon décadents ....
Die kurze Dauer der Schönheit, des Genies, des Cäsar ist sui generis:
dergleichen vererbt sich nicht. Der Typus vererbt sich; ein Typus ist nichts
Extremes, kein »Glücksfall« .... Das liegt an keinem besonderen
Verhängnis und »bösen Willen« der Natur, sondern einfach
am Begriff »höherer Typus«: der höhere Typus stellt eine
unvergleichlich größere Komplexität eine größere
Summe koordinierter Elemente dar: damit wird auch die Disgregation unvergleichlich
wahrscheinlicher. Das »Genie« ist die sublimste Maschine, die es gibt
folglich die zerbrechlichste.Dritter
Satz: die Domestikation (die »Kultur«) des Menschen geht nicht
tief .... Wo sie tief geht, ist sie sofort die Degenereszenz (Typus: der Christ).
Der »wilde« Mensch (oder, moralisch ausgedrückt: der böse
Mensch) ist eine Rückkehr zur Natur und, in gewissem Sinne, seine
Wiederherstellung, seine Heilung von der »Kultur« .... (Ebd.,
S. 460-461).Anti-Darwin.
Was mich beim Überblick über die großen Schicksale des
Menschen am meisten überrascht, ist, immer das Gegenteil vor Augen zu sehn
von dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will: die Selektion
zugunsten der Stärkeren, Besser-Weg-gekommenen, den Fortschritt der Gattung.
Gerade das Gegenteil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der Glücksfälle,
die Unnützlichkeit der höher geratenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden
der mittleren, selbst der unter-mittleren Typen. Gesetzt, daß man
uns nicht den Grund aufzeigt, warum der Mensch die Ausnahme unter den Kreaturen
ist, neige ich zum Vorurteil, daß die Schule Darwins sich überall getäuscht
hat. Jener Wille zur Macht, in dem ich den letzten Grund und Charakter aller Veränderung
wiedererkenne, gibt uns das Mittel an die Hand, warum gerade die Selektion zugunsten
der Ausnahmen und Glücksfälle nicht statthat: die Stärksten und
Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisierte Herdeninstinkte, wenn sie
die Furchtsamkeit der Schwachen, die Überzahl gegen sich haben. Mein Gesamtaspekt
der Welt der Werte zeigt, daß in den obersten Werten, die über der
Menschheit heute aufgehängt sind, nicht die Glücksfälle, die Selektions-Typen,
die Oberhand haben: vielmehr die Typen der décadence, vielleicht
gibt es nichts Interessanteres in der Welt, als dieses unerwünschte
Schauspiel .... So seltsam es klingt: man hat die Starken immer zu beweisen gegen
die Schwachen; die Glücklichen gegen die Mißglückten; die Gesunden
gegen die Verkommenden und Erblich-Belasteten. Will man die Realität zur
Moral formulieren, so lautet diese Moral: die Mittleren sind mehr wert als die
Ausnahmen; die décadence-Gebilde mehr als die Mittleren; der Wille
zum Nichts hat die Oberhand über den Willen zum Leben und das Gesamtziel
ist, nun, christlich, buddhistisch, schopenhauerisch ausgedrückt: »besser
nicht sein, als sein.« Gegen die Formulierung der Realität zur
Moral empöre ich mich: deshalb perhorresziere ich das Christentum
mit einem tödlichen Haß, weil es die sublimen Worte und Gebärden
schuf, um einer schauderhaften Wirklichkeit den Mantel des Rechts, der Tugend,
der Göttlichkeit zu geben .... Ich sehe alle Philosophen, ich sehe die Wissenschaft
auf den Knien vor der Realität vom umgekehrten Kampf ums Dasein, als
ihn die Schule Darwins lehrt, nämlich ich sehe überall die obenauf,
die übrigbleibend, die das Leben, den Wert des Lebens kompromittieren.
Der Irrtum der Schule Darwins wurde mir zum Problem: wie kann man blind sein,
um gerade hier falsch zu sehen? Daß die Gattungen einen Fortschritt
darstellen, ist die unvernünftigste Behauptung von der Welt: einstweilen
stellen sie ein Niveau dar. Daß die höheren Organismen aus den
niederen sich entwickelt hätten, ist durch keinen Fall bisher bezeugt.Ich
sehe, daß die niederen durch die Menge, durch die Klugheit, durch die List
im Übergewicht sind, ich sehe nicht, wie eine zufällige Veränderung
einen Vorteil abgibt, zum mindesten nicht für eine so lange Zeit: diese wäre
wieder ein neues Motiv, zu erklären, warum eine zufällige Veränderung
derartig stark geworden ist.Ich finde die »Grausamkeit
der Natur«, von der man so viel redet, an einer andern Stelle: sie ist grausam
gegen ihre Glückskinder, sie schont und schützt und liebt les humbles.In
summa: das Wachstum der Macht einer Gattung ist durch die Präponderanz
ihrer Glückskinder, ihrer Starken vielleicht weniger garantiert, als durch
die Präponderanz der mittleren und niederen Typen .... In letzteren ist die
große Fruchtbarkeit, die Dauer; mit ersteren wächst die Gefahr, die
rasche Verwüstung, die schnelle Zahl-Verminderung. (Ebd., S. 462-464).Der
bisherige Mensch gleichsam ein Embryo des Menschen der Zukunft;
alle gestaltenden Kräfte, die auf diesen hinzielen, sind in
ihm: und weil sie ungeheuer sind, so entsteht für das jetzige Individuum,
je mehr es zukunftbestimmend ist, Leiden. Dies ist die tiefste Auffassung
des Leidens: die gestaltenden Kräfte stoßen sich. Die Vereinzelung
des Individuums darf nicht täuschen in Wahrheit fließt etwas
fort unter den Individuen. Daß es sich einzeln fühlt, ist der mächtigste
Stachel im Prozesse selber nach fernsten Zielen hin: sein Suchen für
sein Glück ist das Mittel, welches die gestaltenden Kräfte andrerseits
zusammenhält und mäßigt, daß sie sich nicht selber zerstören.
(Ebd., S. 464).Wir sind mehr als das Individuum: wir sind die ganze
Kette noch, mit den Aufgaben aller Zukünfte der Kette. (Ebd., S. 464).
3.2.3) Theorie des Willens zur Macht und der Werte
Meine
Theorie wäre: daß der Wille zur Macht die primitive Affekt-Form
ist, daß alle andern Affekte nur seine Ausgestaltungen sind; daß es
eine bedeutende Aufklärung gibt, an Stelle des individuellen »Glücks«
(nach dem jedes Lebende streben soll) zu setzen Macht: »es strebt
nach Macht, nach mehr in der Macht«; Lust ist nur ein Symptom
vom Gefühl der erreichten Macht, eine Differenz-Bewußtheit (
es strebt nicht nach Lust: sondern Lust tritt ein, wenn es erreicht, wonach es
strebt: Lust begleitet, Lust bewegt nicht ); daß alle treibende Kraft
Wille zur Macht ist, daß es keine physische, dynamische oder psychische
Kraft außerdem gibt. In unsrer Wissenschaft, wo der Begriff Ursache und
Wirkung reduziert ist auf das Gleichungs-Verhältnis, mit dem Ehrgeiz, zu
beweisen, daß auf jeder Seite dasselbe Quantum von Kraft ist, fehlt die
treibende Kraft: wir betrachten nur Resultate, wir setzen sie als gleich in
Hinsicht auf Inhalt an Kraft .... (Ebd., S. 465).Es ist eine
bloße Erfahrungssache, daß die Veränderung nicht aufhört:
an sich haben wir nicht den geringsten Grund, zu verstehen, daß auf eine
Veränderung eine andre folgen müsse. Im Gegenteil: ein erreichter Zustand
schiene sich selbst erhalten zu müssen, wenn es nicht ein Vermögen in
ihm gäbe, eben nicht sich erhalten zu wollen .... Der Satz des Spinoza von
der »Selbsterhaltung« müßte eigentlich der Veränderung
einen Halt setzen: aber der Satz ist falsch, das Gegenteil ist wahr. Gerade an
allem Lebendigen ist am deutlichsten zu zeigen, daß es alles tut, um nicht
sich zu erhalten, sondern um mehr zu werden. (Ebd., S. 465).Der
Wille zur Akkumulation von Kraft ist spezifisch für das Phänomen
des Lebens, für Ernährung, Zeugung, Vererbung, für Gesellschaft,
Staat, Sitte, Autorität. Sollten wir diesen Willen nicht als bewegende Ursache
auch in der Chemie annehmen dürfen? und in der kosmischen Ordnung?
(Ebd., S. 466).Nicht bloß Konstanz der Energhie: sondern
Maximal-Ökonomie des Verbrauchs: so daß das Stärker-werden-wollen
von jedem Kraftzentrum aus die einzige Realität ist, nicht Selbstbewahrung,
sondern Aneignen, Herr-werden, Mehr-werden, Stärker-werden-wollen.
(Ebd., S. 466).Daß Wissenschaft möglich ist, das soll
uns ein Kausalitäts-Prinzip beweisen? »Aus gleichen Ursachen
gleiche Wirkungen« »Ein permanentes Gesetz der Dinge«
»Eine invariable Ordnung«? Weil etwas berechenbar ist,
ist es deshalb schon notwendig? (Ebd., S. 467).Wenn etwas
so und nicht anders geschieht, so ist darin kein »Prinzip«, kein »Gesetz«,
keine »Ordnung«, sondern es wirken Kraft-Quanta, deren Wesen darin
besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuüben. (Ebd., S. 467).Können
wir ein Streben nach Macht annehmen, ohne eine Lust- und Unlust-Empfindung,
d.h. ohne ein Gefühl von der Steigerung und Verminderung der Macht? Der Mechanismus
ist nur eine Zeichensprache für die interne Tatsachen-Welt kämpfender
und überwindender Willens-Quanta? Alle Voraussetzungen des Mechanismus, Stoff,
Atom, Schwere, Druck und Stoß sind nicht »Tatsachen an sich«,
sondern Interpretationen mit Hilfe psychischer Fiktionen. Das Leben als
die uns bekannteste Form des Seins ist spezifisch ein Wille zur Akkumulation der
Kraft ; alle Prozesse des Lebens haben hier ihren Hebel: nichts will sich
erhalten, alles soll summiert und akkumuliert werden. Das Leben, als ein Einzelfall
(Hypothese von da aus auf den Gesamtcharakter des Daseins ) strebt nach
einem Maximal-Gefühl von Macht; ist essentiell ein Streben nach Mehr
von Macht; Streben ist nichts anderes als Streben nach Macht; das Unterste und
Innerste bleibt dieser Wille. (Mechanik ist eine bloße Semiotik der Folgen.)
(Ebd., S. 467).Man kann das, was die Ursache dafür ist, daß
es überhaupt Entwicklung gibt, nicht selbst wieder auf dem Wege der Forschung
über Entwicklung finden; man soll es nicht als »werdend« verstehn
wollen, noch weniger als geworden. .... Der »Wille zur Macht« kann
nicht geworden sein. (Ebd., S. 467-468).Ist »Wille
zur Macht« eine Art »Wille« oder identisch mit dem Begriff »Wille«?
Heißt es so viel als begehren? oder kommandieren? Ist es der »Wille«,
von dem Schopenhauer meint, er sei das »An sich der Dinge«? Mein Satz
ist: daß Wille der bisherigen Psychologie eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung
ist, daß es diesen Willen gar nicht gibt, daß, statt die Ausgestaltung
eines bestimmten Willens in viele Formen zu fassen, man den Charakter des Willens
weggestrichen hat, indem man den Inhalt, das Wohin? heraussubtrahiert hat :
das ist im höchsten Grade bei Schopenhauer der Fall: das ist ein bloßes
leeres Wort, was er »Wille« nennt. Es handelt sich noch weniger um
einen »Willen zum Leben«: denn das Leben ist bloß ein
Einzelfall des Willens zur Macht; es ist ganz willkürlich, zu behaupten,
daß alles danach strebe, in diese Form des Willens zur Macht überzutreten.
(Ebd., S. 468).Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht
ist, wenn Lust alles Wachstum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen,
nicht Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust
als Kardinal-Tatsachen ansetzen? Ist Wille möglich ohne diese beiden Oszillationen
des Ja und des Nein? Aber wer fühlt Lust? .... Aber wer
will Macht? .... Absurde Frage! wenn das Wesen selbst Machtwille und folglich
Lust- und Unlust-fühlen ist! Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der
Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Einheiten.
(Ebd., S. 468-469).Je nach den Widerständen, die eine Kraft
aufsucht, um über sie Herr zu werden, muß das Maß des hiermit
herausgeforderten Mißlingens und Verhängnisses wachsen: und insofern
jede Kraft sich nur an Widerstehendem auslassen kann, ist notwendig in jeder Aktion
ein Ingrediens von Unlust. Nur wirkt diese Unlust als Reiz des Lebens und
stärkt den Willen zur Macht! (Ebd., S. 469).Wenn
Lust und Unlust sich auf das Gefühl der Macht beziehen, so müßte
Leben ein Wachstum von Macht darstellen, so daß die Differenz des »Mehr«
ins Bewußtsein träte .... Ein Niveau von Macht festgehalten, würde
sich die Lust nur an Verminderungen des Niveaus zu messen haben, an Unlustzuständen,
nicht an Lustzuständen .... Der Wille zum Mehr liegt im Wesen
der Lust: daß die Macht wächst, daß die Differenz ins Bewußtsein
tritt. Von einem gewissen Punkte an, bei der décadence, tritt die umgekehrte
Differenz ins Bewußtsein, die Abnahme: das Gedächtnis der starken Augenblicke
von ehedem drückt die gegenwärtigen Lustgefühle herab, der
Vergleich schwächt jetzt die Lust. (Ebd., S. 469).Nicht
die Befriedigung des Willens ist Ursache der Lust (: gegen diese oberflächlichste
Theorie will ich besonders kämpfen, die absurde psychologische Falschmünzerei
der nächsten Dinge ), sondern daß der Wille vorwärts will
und immer wieder Herr über das wird, was ihm im Wege steht. Das Lustgefühl
liegt gerade in der Unbefriedigung des Willens, darin, daß er ohne den Gegner
und Widerstand noch nicht satt genug ist. »Der Glückliche«:
Herdenideal. (Ebd., S. 469-470).Die normale Unbefriedigung
unsrer Triebe, z. B. des Hungers, des Geschlechtstriebs, des Bewegungstriebs,
enthält in sich durchaus noch nichts Herabstimmendes; sie wirkt vielmehr
agazierend auf das Lebensgefühl, wie jeder Rhythmus von kleinen, schmerzhaften
Reizen es stärkt, was auch die Pessimisten uns vorreden mögen.
Diese Unbefriedigung, statt das Leben zu verleiden, ist das große Stimulans
des Lebens. (Man könnte vielleicht die Lust überhaupt bezeichnen als
einen Rhythmus kleiner Unlustreize.) (Ebd., S. 470).Der Schmerz
ist etwas anderes als die Lust, ich will sagen, er ist nicht deren Gegenteil.
Wenn das Wesen der »Lust« zutreffend bezeichnet worden ist als ein
Plus-Gefühl von Macht (somit als ein Differenz-Gefühl, das die
Vergleichung voraussetzt), so ist damit das Wesen der »Unlust« noch
nicht definiert. Die falschen Gegensätze, an die das Volk und folglich die
Sprache glaubt, sind immer gefährliche Fußfesseln für den Gang
der Wahrheit gewesen. Es gibt sogar Fälle, wo eine Art Lust bedingt ist durch
eine gewisse rhythmische Abfolge kleiner Unlust-Reize: damit wird ein sehr
schnelles Anwachsen des Machtgefühls, des Lustgefühls erreicht. Dies
ist der Fall z. B. beim Kitzel, auch beim geschlechtlichen Kitzel im Akt des Koitus:
wir sehen dergestalt die Unlust als Ingrediens der Lust tätig. Es scheint,
eine kleine Hemmung, die überwunden wird und der sofort wieder eine kleine
Hemmung folgt, die wieder überwunden wird dieses Spiel von Widerstand
und Sieg regt jenes Gesamtgefühl von überschüssiger, überflüssiger
Macht am stärksten an, das das Wesen der Lust ausmacht. Die Umkehrung, eine
Vermehrung der Schmerzempfindung durch kleine eingeschobene Lustreize, fehlt:
Lust und Schmerz sind eben nichts Umgekehrtes. Der Schmerz ist ein intellektueller
Vorgang, in dem entschieden ein Urteil laut wird, das Urteil »schädlich«,
in dem sich lange Erfahrung aufsummiert hat. An sich gibt es keinen Schmerz. Es
ist nicht die Verwundung, die wehtut; es ist die Erfahrung, von welchen schlimmen
Folgen eine Verwundung für den Gesamt-Organismus sein kann, welche in Gestalt
jener tiefen Erschütterung redet, die Unlust heißt (bei schädigenden
Einflüssen, welche der älteren Menschheit unbekannt geblieben sind,
z. B. von seiten neu kombinierter giftiger Chemikalien, fehlt auch die Aussage
des Schmerzes, und wir sind verloren). Im Schmerz ist das eigentlich Spezifische
immer die lange Erschütterung, das Nachzittern eines schreckenerregenden
Schocks im zerebralen Herde des Nervensystems man leidet eigentlich
nicht an der Ursache des Schmerzes (irgendeiner Verletzung z.B.), sondern an der
langen Gleichgewichtsstörung, welche infolge jenes Schocks eintritt. Der
Schmerz ist eine Krankheit der zerebralen Nervenherde, die Lust ist durchaus
keine Krankheit. Daß der Schmerz die Ursache ist zu Gegenbewegungen, hat
zwar den Augenschein und sogar das Philosophen-Vorurteil für sich; aber in
plötzlichen Fällen kommt, wenn man genau beobachtet, die Gegenbewegung
ersichtlich früher als die Schmerzempfindung. Es stünde schlimm um mich,
wenn ich bei einem Fehltritt zu warten hätte, bis das Faktum an die Glocke
des Bewußtseins schlüge und ein Wink, was zu tun ist, zurücktelegraphiert
würde. Vielmehr unterscheide ich so deutlich als möglich, daß
erst die Gegenbewegung des Fußes, um den Fall zu verhüten, folgt und
dann, in einer meßbaren Zeitdistanz, eine Art schmerzhafter Welle plötzlich
im vordern Kopfe fühlbar wird. Man reagiert also nicht auf den Schmerz. Der
Schmerz wird nachher projiziert in die verwundete Stelle aber das Wesen
dieses Lokal-Schmerzes ist trotzdem nicht der Ausdruck der Art der Lokal-Verwundung;
er ist ein bloßes Ortszeichen, dessen Stärke und Tonart der Verwundung
gemäß ist, welche die Nerven-Zentren davon empfangen haben. Daß
infolge jenes Schocks die Muskelkraft des Organismus meßbar heruntergeht,
gibt durchaus noch keinen Anhalt dafür, das Wesen des Schmerzes in
einer Verminderung des Machtgefühls zu suchen. Man reagiert, nochmals gesagt,
nicht auf den Schmerz: die Unlust ist keine »Ursache« von Handlungen.
Der Schmerz selbst ist eine Reaktion, die Gegenbewegung ist eine andre und frühere
Reaktion beide nehmen von verschiedenen Stellen ihren Ausgangspunkt.
(Ebd., S. 470-472).Intellektualität des Schmerzes:
er bezeichnet nicht an sich, was augenblicklich geschädigt ist, sondern welchen
Wert die Schädigung hat in Hinsicht auf das allgemeine Individuum. Ob es
Schmerzen gibt, in denen »die Gattung« und nicht das Individuum leidet
? (Ebd., S. 473).»Die Summe der Unlust überwiegt
die Summe der Lust: folglich wäre das Nichtsein der Welt besser, als deren
Sein« »Die Welt ist etwas, das vernünftigerweise nicht
wäre, weil sie dem empfindenden Subjekt mehr Unlust als Lust verursacht«
dergleichen Geschwätz heißt sich heute Pessimismus! Lust und
Unlust sind Nebensachen, keine Ursachen; es sind Werturteile zweiten Ranges,
die sich erst ableiten von einem regierenden Wert ein in Form des Gefühls
redendes »nützlich«, »schädlich« und folglich
absolut flüchtig und abhängig. Denn bei jedem »nützlich«,
»schädlich« sind immer noch hundert verschiedene Wozu? zu fragen.
Ich verachte diesen Pessimismus der Sensibilität: er ist selbst ein
Zeichen tiefer Verarmung an Leben. (Ebd., S. 473).
Der Mensch sucht nicht die Lust und vermeidet nicht die Unlust:
man versteht, welchem berühmten Vorurteile ich hiermit widerspreche.
Lust und Unlust sind bloße Folge, bloße Begleiterscheinung
was der Mensch will, was jeder kleinste Teil eines lebenden Organismus
will, das ist ein Plus von Macht. Im Streben danach folgt sowohl
Lust als Unlust; aus jenem Willen heraussucht er nach Widerstand, braucht
er etwas, das sich entgegenstellt .... Die Unlust, als Hemmung seines
Willens zur Macht, ist also ein normales Faktum, das normale Ingrediens
jedes organischen Geschehens; der Mensch weicht ihr nicht aus, er hat
sie vielmehr fortwährend nötig: jeder Sieg, jedes Lustgefühl,
jedes Geschehen setzt einen überwundenen Widerstand voraus. Nehmen
wir den einfachsten Fall, den der primitiven Ernährung: das Protoplasma
streckt seine Pseudopodien aus, um nach etwas zu suchen, das ihm widersteht
nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht. Darauf macht es
den Versuch, dasselbe zu überwinden, sich anzueignen, sich einzuverleiben:
das, was man »Ernährung« nennt, ist bloß
eine Folge-Erscheinung, eine Nutzanwendung jenes ursprünglichen Willens,
stärker zu werden. Die Unlust hat also so wenig notwendig eine Verminderung
unsres Machtgefühls zur Folge, daß, in durchschnittlichen
Fällen, sie gerade als Reiz auf dieses Machtgefühl wirkt
das Hemmnis ist der stimulus dieses Willens zur Macht. (Ebd.,
S. 473-474).
Man hat die Unlust verwechselt
mit einer Art der Unlust, mit der der Erschöpfung: letztere stellt in der
Tat eine tiefe Verminderung und Herabstimmung des Willens zur Macht, eine meßbare
Einbuße an Kraft dar. Das will sagen: es gibt a)
Unlust als Reizmittel zur Verstärkung der Macht und b)
Unlust nach einer Vergeudung von Macht; im erstern Fall ein stimulus, im letztern
die Folge einer übermäßigen Reizung.Die
Unfähigkeit zum Widerstand ist der letzteren Unlust zu eigen: die Herausforderung
des Widerstehenden gehört zur ersteren .... Die Lust, welche im Zustand der
Erschöpfung allein noch empfunden wird, ist das Einschlafen; die Lust im
andern Falle ist der Sieg. Die große Verwechslung der Psychologen bestand
darin, daß sie diese beiden Lustarten die des Einschlafens
und die des Sieges nicht auseinanderhielten. Die Erschöpften
wollen Ruhe, Gliederausstrecken, Frieden, Stille es ist das Glück
der nihilistischen Religionen und Philosophien; die Reichen und Lebendigen wollen
Sieg, überwundene Gegner, Überströmen des Machtgefühls über
weitere Bereiche als bisher. Alle gesunden Funktionen des Organismus haben dies
Bedürfnis und der ganze Organismus ist ein solcher nach Wachstum von
Machtgefühlen ringender Komplex von Systemen. (Ebd., S. 474-475).Wie
kommt es, daß die Grundglaubensartikel in der Psychologie allesamt die ärgsten
Verdrehungen und Falschmünzereien sind? »Der Mensch strebt nach
Glück« z.B. was ist daran wahr? Um zu verstehn, was »Leben«
ist, welche Art Streben und Spannung Leben ist, muß die Formel so gut von
Baum und Pflanze, als vom Tier gelten. »Wonach strebt die Pflanze?«
aber hier haben wir bereits eine falsche Einheit erdichtet, die es nicht
gibt: die Tatsache eines millionenfachen Wachstums mit eigenen und halbeigenen
Initiativen ist versteckt und verleugnet, wenn wir eine plumpe Einheit »Pflanze«
voranstellen. Daß die letzten kleinsten »Individuen« nicht
in dem Sinn eines »metaphysischen Individuums« und Atoms verständlich
sind, daß ihre Machtsphäre fortwährend sich verschiebt
das ist zuallererst sichtbar: aber strebt ein jedes von ihnen, wenn es sich dergestalt
verändert, nach Glück? Aber alles Sich-ausbreiten, Einverleiben,
Wachsen ist ein Anstreben gegen Widerstehendes; Bewegung ist essentiell etwas
mit Unlustzuständen Verbundenes: es muß das, was hier treibt, jedenfalls
etwas anderes wollen, wenn es dergestalt die Unlust will und fortwährend
aufsucht. Worum kämpfen die Bäume eines Urwaldes miteinander?
Um »Glück«? Um Macht! .... Der Mensch, Herr über
die Naturgewalten geworden, Herr über seine eigne Wildheit und Zügellosigkeit
(die Begierden haben folgen, haben nützlich sein gelernt) der Mensch,
im Vergleich zu einem Vor-Menschen, stellt ein ungeheures Quantum Macht dar,
nicht ein Plus von »Glück«! Wie kann man behaupten, daß
er nach Glück gestrebt habe? (Ebd., S. 475-476).Indem
ich dieses sage, sehe ich über mir den ungeheuren Rattenschwanz von Irrtümern
unter den Sternen glänzen, der bisher als die höchste Inspiration der
Menschheit galt: »alles Glück folgt aus der Tugend, alle Tugend aus
dem freien Willen«! Kehren wir die Werte um: alle Tüchtigkeit
Folge einer glücklichen Organisation, alle Freiheit Folge der Tüchtigkeit
( Freiheit hier als Leichtigkeit in der Selbstdirektive verstanden. Jeder
Künstler versteht mich). (Ebd., S. 476).»Der Wert
des Lebens.« Das Leben ist ein Einzelfall; man muß alles Dasein
rechtfertigen und nicht nur das Leben, das rechtfertigende Prinzip ist
ein solches, aus dem sich das Leben erklärt. Das Leben ist nur Mittel
zu etwas: es ist der Ausdruck von Wachstumsformen der Macht.
(Ebd., S. 476).Die »bewußte Welt« kann
nicht als Wert-Ausgangspunkt gelten: Notwendigkeit einer »objektiven«
Wertsetzung. In Hinsicht auf das Ungeheure und Vielfache des Für- und
Gegeneinanderarbeitens, wie es das Gesamtleben jedes Organismus darstellt, ist
dessen bewußte Welt von Gefühlen, Absichten, Wertschätzungen ein
kleiner Ausschnitt. Dies Stück Bewußtsein als Zweck, als Warum? für
jenes Gesamt-Phänomen von Leben anzusetzen, fehlt uns alles Recht: ersichtlich
ist das Bewußtwerden nur ein Mittel mehr in der Entfaltung und Machterweiterung
des Lebens. Deshalb ist es eine Naivität, Lust oder Geistigkeit oder Sittlichkeit
oder irgendeine Einzelheit der Sphäre des Bewußtseins als höchsten
Wert anzusetzen: und vielleicht gar »die Welt« aus ihnen zu rechtfertigen.
Das ist mein Grundeinwand gegen alle philosophisch-moralischen Kosmo- und
Theodizeen, gegen alle Warums und höchsten Werte in der bisherigen Philosophie
und Religionsphilosophie. Eine Art der Mittel ist als Zweck mißverstanden
worden: das Leben und seine Machtsteigerung wurde umgekehrt zum Mittel
erniedrigt. Wenn wir einen Zweck des Lebens weit genug ansetzen wollten, so
dürfte er mit keiner Kategorie des bewußten Lebens zusammenfallen;
er müßte vielmehr jede noch erklären als Mittel zu sich
.... Die »Verneinung des Lebens« als Ziel des Lebens, Ziel der Entwicklung!
Das Dasein als große Dummheit! Eine solche Wahnwitz-Interpretation
ist nur die Ausgeburt einer Messung des Lebens mit Faktoren des Bewußtseins
(Lust und Unlust, Gut und Böse). Hier werden die Mittel geltend gemacht gegen
den Zweck die »unheiligen«, absurden, vor allem unangenehmen
Mittel : wie kann der Zweck etwas taugen, der solche Mittel gebraucht!
Aber der Fehler steckt darin, daß wir statt nach dem Zweck zu suchen,
der die Notwendigkeit solcher Mittel erklärt von vornherein
einen Zweck voraussetzen, welcher solche Mittel gerade ausschließt:
d.h. daß wir eine Wünschbarkeit in bezug auf gewisse Mittel (nämlich
angenehme, rationelle, tugendhafte) zur Norm nehmen, nach der wir erst ansetzen,
welcher Gesamtzweck wünschbar ist .... Der Grundfehler steckt
nur darin, daß wir die Bewußtheit statt sie als Werkzeug und
Einzelheit im Gesamt-Leben zu verstehen als Maßstab, als höchsten
Wertzustand des Lebens ansetzen: es ist die fehlerhafte Perspektive des a parte
ad totum, weshalb instinktiv alle Philosophen darauf aus sind, ein Gesamtbewußtsein,
ein bewußtes Mitleben und Mitwollen alles dessen, was geschieht, einen »Geist«,
»Gott« zu imaginieren. Man muß ihnen aber sagen, daß eben
damit das Dasein zum Monstrum wird; daß ein »Gott« und
Gesamtsensorium schlechterdings etwas wäre, dessentwegen das Dasein verurteilt
werden müßte .... Gerade daß wir das zweck- und mittelsetzende
Gesamtbewußtsein eliminiert haben: das ist unsre große Erleichterung,
damit hören wir auf, Pessimisten sein zu müssen .... Unser
größter Vorwurf gegen das Dasein war die Existenz Gottes.
(Ebd., S. 477-478).Vom Wert des »Werdens«.
Wenn die Weltbewegung einen Zielzustand hätte, so müßte er erreicht
sein. Das einzige Grundfaktum ist aber, daß sie keinen Zielzustand hat:
und jede Philosophie und wissenschaftliche Hypothese (z. B. der Mechanismus),
in der ein solcher notwendig wird, ist durch jenes Grundfaktum widerlegt. Ich
suche ein Weltkonzeption, welche dieser Tatsache gerecht wird. Das Werden
soll erklärt werden, ohne zu solchen finalen Absichten Zuflucht zu nehmen:
das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick (oder unabwertbar:
was auf eins hinausläuft); es darf absolut nicht das Gegenwärtige
um eines Zukünftigen wegen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen
willen gerechtfertigt werden. Die »Notwendigkeit« nicht in Gestalt
einer übergreifenden, beherrschenden Gesamtgewalt, oder eines ersten Motors;
noch weniger als notwendig, um etwas Wertvolles zu bedingen. Dazu ist nötig,
ein Gesamtbewußtsein des Werdens, einen »Gott«, zu leugnen,
um das Geschehen nicht unter den Gesichtspunkt eines mitfühlenden, mitwissenden
und doch nichts wollenden Wesens zu bringen: »Gott« ist nutzlos, wenn
er nicht etwas will, und andrerseits ist damit eine Summierung von Unlust und
Unlogik gesetzt, welche den Gesamtwert des »Werdens« erniedrigen
würde: glücklicherweise fehlt gerade eine solche summierende Macht (
ein leidender und überschauender Gott, ein »Gesamtsensorium«
und »Allgeist« wäre der größte Einwand gegen das
Sein). Strenger: man darf nichts Seiendes überhaupt zulassen
weil dann das Werden seinen Wert verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig
erscheint. Folglich ist zu fragen: wie die Illusion des Seienden hat entstehen
können (müssen); insgleichen: wie alle Werturteile, welche auf der Hypothese
ruhen, daß es Seiendes gebe, entwertet sind. Damit aber erkennt man, daß
diese Hypothese des Seienden die Quelle aller Welt-Verleumdung ist
( die »bessere Welt«, die »wahre Welt«, die »jenseitige
Welt«, das »Ding an sich«).1.
Das Werden hat keinen Zielzustand, mündet nicht in ein »Sein«.2.
Das Werden ist kein Scheinzustand; vielleicht ist die seiende Welt
ein Schein.3. Das Werden ist wertgleich in jedem
Augenblick: die Summe seines Wertes bleibt sich gleich; anders ausgedrückt:
es hat gar keinen Wert, denn es fehlt etwas, woran es zu messen wäre
und in bezug worauf das Wort »Wert« Sinn hätte. Der Gesamtwert
der Welt ist unabwertbar, folglich gehört der philosophische Pessimismus
unter die komischen Dinge. (Ebd., S. 478-480).Daß wir
nicht unsere »Wünschbarkeiten« zu Richtern über das Sein
machen! Daß wir nicht auch Endformen der Entwicklung (z. B. Geist) wieder
als ein »An-sich« hinter die Entwicklung placieren! (Ebd., S.
480).Unsre Erkenntnis ist in dem Maße wissenschaftlich geworden,
als sie Zahl und Maß anwenden kann. Der Versuch wäre zu machen, ob
nicht eine wissenschaftliche Ordnung der Werte einfach auf einer Zahl
und Maß-Skala der Kraft aufzubauen wäre .... Alle sonstigen »Werte«
sind Vorurteile, Naivitäten, Mißverständnisse. Sie sind
überall reduzierbar auf jene Zahl- und Maß-Skala der Kraft.
Das Aufwärts in dieser Skala bedeutet jedes Wachsen an Wert:
das Abwärts in dieser Skala bedeutet Verminderung des Wertes.
Hier hat man den Schein und das Vorurteil wider sich. (Die Moralwerte sind ja
nur Scheinwerte, verglichen mit den physiologischen.) (Ebd., S. 480).Wo
der Gesichtspunkt »Wert« unzulässig: Daß im »Prozeß
des Ganzen« die Arbeit der Menschheit nicht in Betracht kommt, weil
es einen Gesamtprozeß (diesen als System gedacht ) gar nicht gibt;
daß es kein »Ganzes« gibt; daß alle Abwertung des menschlichen
Daseins, der menschlichen Ziele nicht in Hinsicht auf etwas gemacht werden
kann, das gar nicht existiert; daß die »Notwendigkeit«, die
»Ursächlichkeit«, »Zweckmäßigkeit« nützliche
Scheinbarkeiten sind; daß nicht »Vermehrung des Bewußtseins«
das Ziel ist, sondern Steigerung der Macht: in welche Steigerung die Nützlichkeit
des Bewußtseins eingerechnet ist; ebenso verhält es sich mit Lust und
Unlust; daß man nicht die Mittel zum obersten Wertmaß nimmt (also
nicht Zustände des Bewußtseins, wie Lust und Schmerz, wenn das Bewußtwerden
selbst nur ein Mittel ist ); daß die Welt durchaus kein Organismus
ist, sondern das Chaos: daß die Entwicklung der »Geistigkeit«
nur Mittel zur relativen Dauer der Organisation ist; daß alle »Wünschbarkeit«
keinen Sinn hat in bezug auf den Gesamtcharakter des Seins. (Ebd., S. 481).»Gott«
als Kulminations-Moment: das Dasein eine ewige Vergottung und Entgottung. Aber
darin kein Wert-Höhepunkt, sondern ein Macht-Höhepunkt. Absoluter
Ausschluß des Mechanismus und des Stoffs: beides nur Ausdrucksformen
niedriger Stufen, die entgeistigtste Form des Affekts (des »Willens zur
Macht«). Der Rückgang vom Höhepunkt im Werden (der höchsten
Vergeistigung der Macht auf dem sklavenhaftesten Grunde) als Folge dieser höchsten
Kraft darzustellen, welche, gegen sich sich wendend, nachdem sie nichts mehr zu
organisieren hat, ihre Kraft verwendet zu desorganisieren ....a)
Die immer größere Besiegung der Sozietäten und Unterjochung derselben
unter eine kleinere, aber stärkere Zahl;b)
die immer größere Besiegung der Bevorrechteten und Stärkeren und
folglich Heraufkunft der Demokratie, endlich Anarchie der Elemente
(Ebd., S. 482).Wert ist das höchste
Quantum Macht, das der Mensch sich einzuverleiben vermag der Mensch: nicht
die Menschheit! Die Menschheit ist viel eher noch ein Mittel, als ein Ziel. Es
handelt sich um den Typus: die Menschheit ist bloß das Versuchsmaterial,
der ungeheure Überschuß des Mißratenen: ein Trümmerfeld.
(Ebd., S. 470).Der Gesichtspunkt des »Werts« ist der
Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf
komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens. Es gibt
keine dauerhaften letzten Einheiten, keine Atome, keine Monaden: auch hier ist
»das Seiende« erst von uns hineingelegt (aus praktischen, nützlichen,
perspektivischen Gründen). »Herrschaftsgebilde«; die Sphäre
des Beherrschenden fortwährend wachsend oder unter der Gunst und Ungunst
der Umstände (der Ernährung ) periodisch abnehmend, zunehmend.
»Wert« ist wesentlich der Gesichtspunkt für das Zunehmen oder
Abnehmen dieser herrschaftlichen Zentren (»Vielheiten« jedenfalls;
aber die »Einheit« ist in der Natur des Werdens gar nicht vorhanden).
Die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das »Werden«
auszudrücken: es gehört zu unserm unablöslichen Bedürfnis
der Erhaltung, beständig eine gröbere Welt von Bleibendem, von »Dingen«
usw. zu setzen. Relativ dürfen wir von Atomen und Monaden reden: und gewiß
ist, daß die kleinste Welt an Dauer die dauerhafteste ist .... Es
gibt keinen Willen: es gibt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht
mehren oder verlieren. (Ebd., S. 482-483). 3.3)
Der Wille zur Macht als Gesellschaft und Individuum |
3.3.1) Gesellschaft und Staat
Grundsatz:
nur Einzelne fühlen sich verantwortlich. Die Vielheiten sind erfunden, um
Dinge zu tun, zu denen der Einzelne nicht den Mut hat. Eben deshalb sind alle
Gemeinwesen, Gesellschaften hundertmal aufrichtiger und belehrender über
das Wesen des Menschen als das Individuum, welches zu schwach ist, um den Mut
zu seinen Begierden zu haben .... Der ganze »Altruismus« ergibt sich
als Privatmann-Klugheit: die Gesellschaften sind nicht »altruistisch«
gegeneinander... Das Gebot der Nächstenliebe ist noch niemals zu einem Gebot
der Nachbar- Liebe erweitert worden. Vielmehr gilt da noch, was bei Manu steht:
»Alle uns angrenzenden Reiche, ebenso deren Verbündete, müssen
wir als uns feindlich denken. Aus demselben Grunde hinwiederum müssen uns
deren Nachbarn als uns freundlich gesinnt gelten.« Das Studium der
Gesellschaft ist deshalb so unschätzbar, weil der Mensch als Gesellschaft
viel naiver ist als der Mensch als »Einheit«. Die »Gesellschaft«
hat die Tugend nie anders angesehen als als Mittel der Stärke, der
Macht, der Ordnung. Wie einfältig und würdig sagt es Manu: »Aus
eigner Kraft würde die Tugend sich schwerlich behaupten können. Im Grunde
ist es nur die Furcht vor Strafe, was die Menschen in Schranken hält und
jeden im ruhigen Besitz des Seinen läßt.« (Ebd., S. 484-485).Der
Staat oder die organisierte Unmoralität inwendig:
als Polizei, Strafrecht, Stände, Handel, Familie; auswendig: als Wille
zur Macht, zum Kriege, zur Eroberung, zur Rache. Wie wird es erreicht, daß
eine große Menge Dinge tut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen
würde? Durch Zerteilung der Verantwortlichkeit, des Befehlens und
der Ausführung. Durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams, der
Pflicht, der Vaterlands-und Fürstenliebe. Durch Aufrechterhaltung des Stolzes,
der Strenge, der Stärke, des Hasses, der Rache kurz aller typischen
Züge, welche dem Herdentypus widersprechen. (Ebd., S. 485).Ihr
habt alle nicht den Mut, einen Menschen zu töten, oder auch nur zu peitschen,
oder auch nur zu , aber die ungeheure Maschine von Staat überwältigt
den einzelnen, so daß er die Verantwortlichkeit für das, was er tut,
ablehnt (Gehorsam, Eid usw.). Alles, was ein Mensch im Dienste des
Staates tut, geht wider seine Natur; insgleichen alles, was er in
Hinsicht auf den zukünftigen Dienst im Staate lernt, geht wider seine
Natur. Das wird erreicht durch die Arbeitsteilung (so daß niemand
die ganze Verantwortlichkeit mehr hat): der Gesetzgeber und der, der das
Gesetz ausführt; der Disziplin-Lehrer und die, welche in der Disziplin
hart und streng geworden sind. (Ebd., S. 485-486).Eine Arbeitsteilung
der Affekte innerhalb der Gesellschaft: so daß die Einzelnen und die
Stände die unvollständige, aber eben damit nützlichere Art
von Seele heranzüchten. Inwiefern bei jedem Typus innerhalb der Gesellschaft
einige Affekte fast rudimentär geworden sind (auf die stärkere Ausbildung
eines andern Affekts hin). Zur Rechtfertigung der Moral: die ökonomische
(die Absicht auf möglichste Ausnutzung von Individual-Kraft gegen die Verschwendung
alles Ausnahmsweisen); die ästhetische (die Ausgestaltung fester Typen
samt der Lust am eignen Typus); die politische (als Kunst, die schweren
Spannungsverhältnisse von verschiedenen Machtgraden auszuhalten); die psychologische
(als imaginäres Übergewicht der Schätzung zugunsten derer, die
schlecht oder mittelmäßig weggekommen sind zur Erhaltung der
Schwachen). (Ebd., S. 486).Das furchtbarste und gründlichste
Verlangen des Menschen, sein Trieb nach Macht man nennt diesen Trieb »Freiheit«
muß am längsten in Schranken gehalten werden. Deshalb ist die
Ethik bisher, mit ihren unbewußten Erziehungs- und Züchtungs-Instinkten,
darauf aus gewesen, das Macht-Gelüst in Schranken zu halten: sie verunglimpft
das tyrannische Individuum und unterstreicht, mit ihrer Verherrlichung der Gemeindefürsorge
und der Vaterlandsliebe, den Herden-Machtinstinkt. (Ebd., S. 486).Das
Unvermögen zur Macht: seine Hypokrisie und Klugheit:
als Gehorsam (Einordnung, Pflicht-Stolz, Sittlichkeit...); als Ergebung, Hingebung,
Liebe (Idealisierung, Vergötterung des Befehlenden als Schadenersatz und
indirekte Selbstverklärung); als Fatalismus, Resignation; als »Objektivität«;
als Selbsttyrannisierung (Stoizismus, Askese, »Enselbstung«, »Heiligung«),
als Kritik, Pessimismus, Entrüstung, Quälgeisterei; als »schöne
Seele«, »Tugend«, »Selbstvergötterung«, »Abseits«,
»Reinheit von der Welt« usw. ( die Einsicht in das Unvermögen
zur Macht sich als dédain verkleidend). Überall drückt sich das
Bedürfnis aus, irgendeine Macht doch noch auszuüben, oder sich selbst
den Anschein von Macht zeitweilig zu schaffen als Rausch. Die Menschen,
welche die Macht wollen um der Glücks-Vorteile willen, die die Macht
gewährt: politische Parteien. Andre Menschen, welche die Macht wollen, selbst
mit sichtbaren Nachteilen und Opfern an Glück und Wohlbefinden: die Ambitiösen.
Andre Menschen, welche die Macht wollen, bloß weil sie sonst in andre Hände
fiele, von denen sie nicht abhängig sein wollen. (Ebd., S. 487).Kritik
der »Gerechtigkeit« und »Gleichheit vor dem Gesetz«: was
eigentlich damit wegschafft werden soll? Die Spannung, die Feindschaft,
der Haß. Aber ein Irrtum ist es, daß dergestalt »das
Glück« gemehrt wird: die Korsen z. B. genießen mehr Glück
als die Kontinentalen. (Ebd., S. 487).Die Gegenseitigkeit,
die Hinterabsicht auf Bezahlt-werden-wollen: eine der verfänglichsten Formen
der Wert-Erniedrigung des Menschen. Sie bringt jene »Gleichheit« mit
sich, welche die Kluft der Distanz als unmoralisch abwertet. (Ebd., S. 487-488).Was
»nützlich« heißt, ist ganz und gar abhängig von
der Absicht, dem Wozu?; dieAbsicht, das »Ziel« wieder ist ganz
und gar abhängig vom Grad der Macht. Deshalb ist Utilitarismus keine Grundlage,
sondern nur eine Folgen-Lehre und absolut zu keiner Verbindlichkeit
für alle zu bringen. (Ebd., S. 488).Erstmals
hatte man die Theorie vom Staat als einer berechnenden Nützlichkeit:
jetzt hat man die Praxis dazu! Die Zeit der Könige ist vorbei,
weil die Völker ihrer nicht mehr würdig sind: sie wollen nicht
das Urbild ihres Ideals im König sehn, sondern ein Mittel ihres Nutzens.
Das ist die ganze Wahrheit! (Ebd., S. 488).Moral wesentlich
als Wehr, als Verteidigungsmittel; insofern ein Zeichen des unausgewachsenen Menschen
(verpanzert; stoisch). Der ausgewachsene Mensch hat vor allem Waffen: er ist angreifend.
Kriegswerkzeuge zu Friedenswerkzeugen umgewandelt (aus Schuppen und Platten Federn
und Haare). (Ebd., S. 489).Es gehört zum Begriff des
Lebendigen, daß es wachsen muß daß es seine Macht erweitern
und folglich fremde Kräfte in sich hineinnehmen muß. Man redet, unter
der Benebelung durch die Moral-Narkose, von einem Recht des Individuums, sich
zu verteidigen; im gleichen Sinne dürfte man auch von seinem Rechte anzugreifen
reden: denn beides und das zweite noch mehr als das erste sind Nezessitäten
für jedes Lebendige der aggressive und der defensive Egoismus sind
nicht Sache der Wahl oder gar des »freien Willens«, sondern die Fatalität
des Lebens selbst. Hierbei gilt es gleich, ob man ein Individuum oder einen lebendigen
Körper, eine aufwärtsstrebende »Gesellschaft« ins Auge faßt.
Das Recht zur Strafe (oder die gesellschaftliche Selbstverteidigung) ist im Grunde
nur durch einen Mißbrauch zum Worte »Recht« gelangt: ein Recht
wird durch Verträge erworben aber das Sich-wehren und Sich-verteidigen
ruht nicht auf der Basis eines Vertrags. Wenigstens dürfte ein Volk mit ebensoviel
gutem Sinn sein Eroberungsbedürfnis, sein Machtgelüst, sei es mit Waffen,
sei es durch Handel, Verkehr und Kolonisation, als Recht bezeichnen Wachstums-Recht
etwa. Eine Gesellschaft, die, endgültig und ihrem Instinkt nach, den
Krieg und die Eroberung abweist, ist im Niedergang: sie ist reif für Demokratie
und Krämerregiment... In den meisten Fällen freilich sind die Friedensversicherungen
bloße Betäubungsmittel. (Ebd., S. 489-490).Die
Aufrechterhaltung des Militär-Staates ist das allerletzte Mittel, die
große Tradition sei es aufzunehmen, sei es festzuhalten hinsichtlich des
obersten Typus Mensch, des starken Typus. Und alle Begriffe, die
die Feindschaft und Rangdistanz der Staaten verewigen, dürfen daraufhin sanktioniert
erscheinen (z. B. Nationalismus, Schutzzoll). (Ebd., S. 490).Damit
etwas bestehn soll, das länger ist als ein einzelner, damit also ein Werk
bestehn bleibt, das vielleicht ein einzelner geschaffen hat: dazu muß dem
einzelnen alle mögliche Art von Beschränkung, von Einseitigkeit usw.
auferlegt werden. Mit welchem Mittel? Die Liebe, Verehrung, Dankbarkeit gegen
die Person, die das Werk schuf, ist eine Erleichterung: oder daß unsere
Vorfahren es erkämpft haben: oder daß meine Nachkommen nur so garantiert
sind, wenn ich jenes Werk (z.B. die poliV) garantiere.
Moral ist wesentlich das Mittel, über die einzelnen hinweg oder vielmehr
durch eine Versklavung der einzelnen etwas zur Dauer zu bringen. Es versteht
sich, daß die Perspektive von unten nach oben ganz andere Ausdrücke
geben wird als die von oben nach unten. Ein Macht-Komplex: wie wird er erhalten?
Dadurch, daß viele Geschlechter ihm sich opfern. (Ebd., S. 490-491).Das
Kontinuum: »Ehe, Eigentum, Sprache, Tradition, Stamm, Familie, Volk,
Staat« sind Kontinuen niederer und höherer Ordnung. Die Ökonomik
derselben besteht in dem Überschusse der Vorteile der ununterbrochenen
Arbeit, sowie der Vervielfachung über die Nachteile: die größeren
Kosten der Auswechslung der Teile oder der Dauerbarmachung derselben. (Vervielfältigung
der wirkenden Teile, welche doch vielfach unbeschäftigt bleiben, also größere
Anschaffungskosten und nicht unbedeutende Kosten der Erhaltung.) Der Vorteil besteht
darin, daß die Unterbrechungen vermieden und die aus ihnen entspringenden
Verluste gespart werden. Nichts ist kostspieliger als ein Anfang. »Je
größer die Daseinsvorteile, desto größer auch die Erhaltungs-
und Schaffungskosten (Nahrung und Fortpflanzung); desto größer auch
die Gefahren und die Wahrscheinlichkeit, vor der erreichten Höhe zugrunde
zu gehen.« (Ebd., S. 491).Bei den Ehen im bürgerlichen
Sinne des Wortes, wohlverstanden im achtbartsen Sinne des Wortes »Ehe«,
handelt es sich ganz und gar nicht um Liebe, ebensowenig, als es sich dabei um
Geld handelt aus der Liebe läßt sich keine Institution machen
: sondern um die gesellschaftliche Erlaubnis, die zwei Personen zur Geschlechtsbefriedigung
aneinander erteilt wird, unter Bedingungen, wie sich von selbst versteht, aber
solchen, welche das Interesse der Gesellschaft im Auge haben. Daß
einiges Wohlgefallen der Beteiligten und sehr viel guter Wille Wille zur
Geduld, Verträglichkeit, Fürsorge füreinander zu
den Voraussetzungen eines solchen Vertrags gehören wird, liegt auf der Hand;
aber das Wort Liebe sollte man dafür nicht mißbrauchen! Für zwei
Liebende im ganzen und starken Sinn des Wortes ist eben die Geschlechtsbefriedigung
nichts Wesentliches und eigentlich nur ein Symbol: für den einen Teil, wie
gesagt, Symbol der unbedingten Unterwerfung, für den andern Symbol der Zustimmung
zu ihr, Zeichen der Besitzergreifung. Bei der Ehe im adeligen, altadeligen
Sinne des Wortes handelte es sich um Züchtung einer Rasse (gibt es
heute noch Adel? Quaeritur) also um Aufrechterhaltung eines festen, bestimmten
Typus herrschender Menschen: diesem Gesichtspunkt wurde Mann und Weib geopfert.
Es versteht sich, daß hier bei nicht Liebe das erste Erfordernis war, im
Gegenteil! und noch nicht einmal jenes Maß von gutem Willen füreinander,
welches die gute bürgerliche Ehe bedingt. Das Interesse eines Geschlechts
zunächst entschied, und über ihm der Stand. Wir würden vor
der Kälte, Strenge und rechnenden Klarheit eines solchen vornehmen Ehe-Begriffs,
wie er bei jeder gesunden Aristokratie geherrscht hat, im alten Athen wie noch
im Europa des 18. Jahrhunderts, ein wenig frösteln, wir warmblütigen
Tiere mit kitzlichem Herzen, wir »Modernen«! Eben deshalb ist die
Liebe als Passion nach dem großen Verstande des Wortes für
die aristokratische Welt erfunden worden und in ihr: da, wo der Zwang,
die Entbehrung eben am größten waren. (Ebd., S. 491-492).Zur
Zukunft der Ehe: eine Steuer-Mehrbelastung (bei Erbschaften),
auch Kriegsdienst-Mehrbelastung der Junggesellen von einem bestimmten Alter an
und anwachsend (innerhalb der Gemeinde); Vorteile aller Art für Väter,
welche reichlich Knaben in die Welt setzen: unter Umständen eine Mehrheit
von Stimmen; ein ärztliches Protokoll, jeder Ehe vorangehend und von
den Gemeinde-Vorständen unterzeichnet: worin mehrere bestimmte Fragen seitens
der Verlobten und der Ärzte beantwortet sein müssen (»Familien-Geschichte«
); als Gegenmittel gegen die Prostitution (oder als deren Veredelung):
Ehen auf Frist, legalisiert (auf Jahre, auf Monate), mit Garantie für die
Kinder; jede Ehe verantwortet und befürwortet durch eine bestimmte Anzahl
Vertrauensmänner einer Gemeinde: als Gemeinde-Angelegenheit. (Ebd.,
S. 492-493).
Auch ein Gebot der Menschenliebe. Es gibt Fälle,
wo ein Kind ein Verbrechen sein würde: bei chronisch Kranken und
Neurasthenikern dritten Grades. Was hat man da zu tun? Solche zur
Keuschheit ermutigen, etwa mit Hilfe von Parsifal-Musik, mag immerhin
versucht werden: Parsifal selbst, dieser typische Idiot, hatte nur zu
viel Gründe, sich nicht fortzupflanzen. Der Übelstand ist, daß
eine gewisse Unfähigkeit, sich zu »beherrschen« (
auf Reize, auf noch so kleine Geschlechtsreize nicht zu reagieren), gerade
zu den regelmäßigsten Folgen der Gesamt-Erschöpfung gehört.
.... Der Priester, der Moralist spielen da ein verlorenes Spiel; besser
tut man noch, in die Apotheke zu schicken. Zuletzt hat hier die Gesellschaft
eine Pflicht zu erfüllen: es gibt wenige dergestalt dringliche und
grundsätzliche Forderungen an sie. Die Gesellschaft, als Großmandatar
des Lebens, hat jedes verfehlte Leben vor dem Leben selber zu verantworten
sie hat es auch zu büßen: folglich soll sie es verhindern.
Die Gesellschaft soll in zahlreichen Fällen der Zeugung vorbeugen:
sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf Herkunft, Rang und Geist, die
härtesten Zwangs-Maßregeln, Freiheits-Entziehungen, unter Umständen
Kastrationen in Bereitschaft halten. Das Bibel-Verbot »du
sollst nicht töten!« ist eine Naivität im Vergleich zum
Ernst des Lebens-Verbots an die décadents: »ihr sollt nicht
zeugen!«... Das Leben selbst erkennt keine Solidarität, kein
»gleiches Recht« zwischen gesunden und entartenden Teilen
eines Organismus an: letztere muß man ausschneiden oder das
Ganze geht zugrunde. Mitleiden mit den décadents, gleiche
Rechte auch für die Mißratenen das wäre die tiefste
Unmoralität, das wäre die Widernatur selbst als Moral!
(Ebd., S. 493-494).
Wir lernen in unsrer zivilisierten
Welt fast nur den ... Verbrecher kennen .... (Ebd., S. 494).Inmitten
unsrer späten Kultur ist die Fatalität und die Degenereszenz etwas,
das vollkommen den Sinn von Lohn und Strafe aufhebt .... Es setzt junge,
starke, kräftige Rassen voraus, dieses wirkliche Bestimmen der Handlung durch
Lohn- und Straf-Aussicht. (Ebd., S. 495).Man vermag nur solche
Menschen in die Höhe zu bringen, die man nicht mi Verachtung behandelt; die
moralische Verachtung ist eine größere Entwürdigung und Schädigung
als irgendein Verbrechen. (Ebd., S. 498).Ja, die Philosophie
des rechts. Das ist eine Wissenschaft, welche wie alle moralische Wissenschaft
noch nicht einmal in der Windel liegt! (Ebd., S. 500).Ein
alter Chinese sagte, er habe gehört, wenn Reiche zugrunde gehn sollen, so
hätten sie viele Gesetze. (Ebd., S. 500).Schopenhauer
wünscht, daß man die Schurken kastriert und die Gänse ins
Kloster sperrt: von welchem Gesichtspunkte aus könnte das wünschbar
sein? Der Schurke hat das vor vielen Menschen voraus, daß er nicht mittelmäßig
ist; und der Dumme das vor uns, daß er nicht am Anblick der Mittelmäßigkeit
leidet. Wünschbarer wäre es, daß die Kluft größer würde,
also die Schurkerei und die Dummheit wüchse. Dergestalt erweiterte
sich die menschliche Natur .... Aber zuletzt ist eben das auch das Notwendige;
es geschieht und wartet nicht darauf, ob wir es wünschen oder nicht. Die
Dummheit, die Schurkerei wachsen: das gehört zum »Fortschritt«.
(Ebd., S. 500-501).Ein wenig reine Luft! Dieser absurde Zustand
Europas soll nicht mehr lange dauern! Gibt es irgendeinen Gedanken hinter diesem
Hornvieh-Nationalismus? Welchen Wert könnte es haben, jetzt, wo alles auf
größere und gemeinsame Interessen hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle
aufzustacheln? Und das in einem Zustande, wo die geistige Unselbständigkeit
und Entnationalisierung in die Augen springt und in einem gegenseitigen Sich-Verschmelzen
und -Befruchtender eigentliche Wert und Sinn der jetzigen Kultur liegt! .... Und
das »neue Reich«, wieder auf den verbrauchtesten und bestverachteten
Gedanken gegründet: die Gleichheit der Rechte und der Stimmen. Das Ringen
um einen Vorrang innerhalb eines Zustandes, der nichts taugt; diese Kultur der
Großstädte, der Zeitungen, des Fiebers und der »Zwecklosigkeit«
! Die wirtschaftliche Einigung Europas kommt mit Notwendigkeit und
ebenso, als Reaktion, die Friedenspartei .... Eine Partei des Friedens,
ohne Sentimentalität, welche sich und ihren Kindern verbietet, Krieg zu führen;
verbietet, sich der Gerichte zu bedienen; welche den Kampf, den Widerspruch, die
Verfolgung gegen sich heraufbeschwört: eine Partei der Unterdrückten,
wenigstens für eine Zeit; alsbald die große Partei. Gegnerisch gegen
die Rach und Nachgefühle. Eine Kriegspartei, mit der
gleichen Grundsätzlichkeit und Strenge gegen sich, in umgekehrter Richtung
vorgehend . (Ebd., S. 502-503).Die verfaulten herrschenden
Stände haben das Bild des Herrschenden verdorben. Der »Staat«,
als Hericht übend, ist eine Feigheit, weil der große Mensch
fehlt, an dem gemessen werden kann. Zuletzt wird die Unsicherheit so groß,
daß die Menschen vor jeder Willenskraft, die befiehlt, in den Staub
fallen. (Ebd., S. 503).»Der Wille zur Macht«
wird in demokratischen Zeitaltern dermaßen gehaßt, daß deren
ganze Psychologie auf seine Verkleinerung und Verleumdung gerichtet scheint. Der
Typus des großen Ehrgeizigen: das soll Napoleon sein! Und Cäsar! und
Alexander! Als ob das nicht gerade die größten Verächter
der Ehre wären! Und Helvétius entwickelt uns, daß man nach Macht
strebt, um die Genüsse zu haben, welche dem Mächtigen zu Gebote stehn
er versteht dieses Streben nach Macht als Willen zum Genuß! als Hedonismus!
(Ebd., S. 503-504).Ich bin abgeneigt1.
dem Sozialismus, weil er ganz naiv vom »Guten, Wahren, Schönen«
und von »gleichen Rechten« träumt (auch der Anarchismus wll,
nur auf brutalere Weise, das gleiche Ideal!);2.
dem Parlamentarismus und Zeitungswesen, weil das die Mittel sind, wodurch das
Herdentier sich zum Hernn macht. (Ebd., S. 504).Die Bewaffnung
des Volkes ist schließlich die Bewaffnung des Pöbels.
(Ebd., S. 504).Wie mir die Sozialisten lächerlich sind mit
ihrem albernen Optimismus vom »guten Menschen«, der hinter dem Busche
wartet, wenn man nur erst die bisherige »Ordnung« abgeschafft hat
und alle »natürlichen Triebe« losläßt. Und die Gegenpartei
ist ebenso lächerlich, weil sie die Gewalttat in dem Gesetz, die Härte
und den Egoismus in jeder Art Autorität nicht zugesteht. »,Ich und
meine Art' will herrschen und übrigbleiben: wer entartet, wird ausgestoßen
oder vernichtet« ist Grundgefühl jeder alten Gesetzgebung. Man
haßt die Vorstellung einer höheren Art Menschen mehr als die Monarchen.
Anti-aristokratisch: das nimmt den Monarchenhaß nur als Maske. (Ebd.,
S. 505).Wie verräterisch sind alle Parteien! sie bringen
etwas von ihren Führern ans Licht, das von ihnen vielleicht mit großer
Kunst unter den Scheffel gestellt ist. (Ebd., S. 505).Der
moderne Sozialismus will die weltliche Nebenform des Jesuitismus schaffen: jeder
absolutes Werkzeug. Aber der Zweck, das Wozu? ist nicht aufgefunden bisher.
(Ebd., S. 505).Die Sklaverei in der Gegenwart: eine Barbarei!
Wo sind die, für welche sie arbeiten? Man muß nicht immer Gleichzeitigkeit
der beiden sich komplementierenden Kasten erwarten. Der Nutzen und das Vergnügen
sind Sklaven-Theorien vom Leben: der »Segen der Arbeit« ist eine Verherrlichung
ihrer selber. Unfähigkeit zum otium. (Ebd., S. 505).Man
hat kein Recht weder auf Dasein, noch auf Arbeit, noch gar auf »Glück«:
es steht mit dem einzelnen Menschen nicht anders, als mit dem niedrigsten Wurm.
(Ebd., S. 506).Die europäische Demokratie ist zum kleinsten
Teil eine Entfesselung von Kräften. Vor allem ist sie eine Entfesselung von
Faulheiten, von Müdigkeiten, von Schwächen. (Ebd., S. 506).Überall,
wo Verantwortlichkeiten gesucht worden sind, ist es der Instinkt der Rache
gewesen, der da suchte. Dieser Instinkt der Rache wurde in Jahrtausenden dermaßen
über die Menschheit Herr, daß die ganze Metaphysik, Psychologie, Geschichtsvorstellung,
vor allem aber die Moral mit ihm abgezeichnet ist. Soweit auch nur der Mensch
gedacht hat, so weit hat er den Bazillus der Rache in die Dinge geschleppt. Er
hat Gott selbst damit krank gemacht, er hat das Dasein überhaupt um
seine Unschuld gebracht: nämlich dadurch, daß er jedes So-und-so-sein
auf Willen, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückführte.
Die ganze Lehre vom Willen, diese verhängnisvollste Fälschung in der
bisherigen Psychologie, wurde wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe. Es war
die gesellschaftliche Nützlichkeit der Strafe, die diesem Begriff
seine Würde, seine Macht, seine Wahrheit verbürgte. Die Urheber jener
Psychologie der Willens-Psychologie hat man in den Ständen
zu suchen, welche das Strafrecht in den Händen hatten, voran in dem der Priester
an der Spitze der ältesten Gemeinwesen: diese wollten sich ein Recht schaffen,
Rache zu nehmen sie wollten Gott ein Recht zur Rache schaffen. Zu diesem
Zwecke wurde der Mensch »frei« gedacht; zu diesem Zwecke mußte
jede Handlung als gewollt, mußte der Ursprung jeder Handlung als im Bewußtsein
liegend gedacht werden. Aber mit diesen Sätzen ist die alte Psychologie widerlegt.
Heute, wo Europa in die umgekehrte Bewegung eingetreten scheint, wo wir Halkyonier
zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und Strafbegriff aus der
Welt wieder zurückzuziehen, herauszunehmen, auszulöschen suchen, wo
unser größter Ernst darauf aus ist, die Psychologie, die Moral, die
Geschichte, die Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen, Gott
selbst von diesem Schmutze zu reinigen, in wem müssen wir unsre natürlichsten
Antagonisten sehen? Eben in jenen Aposteln der Rache und des Ressentiments, in
jenen Entrüstungs-Pessimisten par excelence, welche eine Mission daraus machen,
ihren Schmutz unter dem Namen »Entrüstung« zu heiligen... Wir
anderen, die wir dem Werden seine Unschuld zurückzugewinnen wünschen,
möchten die Missionare eines reinlicheren Gedankens sein: daß niemand
dem Menschen seine Eigenschaften gegeben hat, weder Gott, noch die Gesellschaft,
noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst, daß niemand schuld
an ihm ist .... Es fehlt ein Wesen, das dafür verantwortlich gemacht werden
könnte, daß jemand überhaupt da ist, daß jemand so und so
ist, daß jemand unter diesen Umständen, in dieser Umgebung geboren
ist. Es ist ein großes Labsal, daß solch ein Wesen fehlt
.... Wir sind nicht das Resultat einer ewigen Absicht, eines Willens, eines Wunsches:
mit uns wird nicht der Versuch gemacht, ein »Ideal von Vollkommenheit«
oder ein »Ideal von Glück« oder ein »Ideal von Tugend«
zu erreichen wir sind ebensowenig der Fehlgriff Gottes, vor dem ihm selber
angst werden müßte (mit welchem Gedanken bekanntlich das Alte Testament
beginnt). Es fehlt jeder Ort, jeder Zweck, jeder Sinn, wohin wir unser Sein, unser
So-und-so-sein abwälzen könnten. Vor allem: niemand könnte es:
man kann das Ganze nicht richten, messen, vergleichen oder gar verneinen! Warum
nicht? Aus fünf Gründen, allesamt selbst bescheidenen Intelligenzen
zugänglich: zum Beispiel, weil es nichts gibt außer dem Ganzen
.... Und nochmals gesagt, das ist ein großes Labsal, darin liegt die Unschuld
alles Daseins. (Ebd., S. 509-511).
3.3.2) Das Individuum
Welcher
Grad von Widerstand beständig überwunden werden muß, um obenauf
zu bleiben, das ist das Maß der Freiheit, sei es für einzelne,
sei es für Gesellschaften: Freiheit nämlich als positive Macht, als
Wille zur Macht angesetzt. Die höchste Form der Individual-Freiheit, der
Souveränität wüchse demnach, mit großer Wahrscheinlichkeit,
nicht fünf Schritt weit von ihrem Gegensatze auf, dort wo die Gefahr der
Sklaverei gleich hundert Damoklesschwertern über dem Dasein hängt. Man
gehe daraufhin durch die Geschichte: die Zeiten, wo das »Individuum«
bis zu jener Vollkommenheit reif, das heißt frei wird, wo der klassische
Typus des souveränen Menschen erreicht ist: o nein! das waren niemals
humane Zeiten! Man muß keine Wahl haben: entweder obenauf oder
unten, wie ein Wurm, verhöhnt, vernichtet, zertreten. Man muß Tyrannen
gegen sich haben, um Tyrann, d. h. frei zu werden. Es ist kein kleiner Vorteil,
hundert Damoklesschwerter über sich zu haben: damit lernt man tanzen, damit
kommt man zur »Freiheit der Bewegung«. (Ebd., S. 512-513).Scheinbar
entgegengesetzt die zwei Züge, welche die modernen Europäer kennzeichnen:
das Individualisti sche und die Forderung gleicher Rechte: das verstehe
ich endlich. Nämlich, das Individuum ist eine äußerst verwundbare
Eitelkeit diese fordert, bei ihrem Bewußtsein wie schnell sie leidet,
daß jeder andere ihm gleichgestellt gelte, daß er nur inter pares
sei. Damit ist eine gesellschaftliche Rasse charakterisiert, in welcher tatsächlich
die Begabungen und Kräfte nicht erheblich auseinandergehn. Der Stolz, welcher
Einsamkeit und wenige Schätzer will, ist ganz außer Verständnis;
die ganz »großen« Erfolge gibt es nur durch Massen, ja man begreift
es kaum noch, daß ein Massen-Erfolg immer eigentlich ein kleiner Erfolg
ist: weil pulchrum est paucorum hominum. Alle Moralen wissen nichts von
»Rangordnung« der Menschen; die Rechtslehrer nichts vom Gemeinde-Gewissen.
Das Individual-Prinzip lehnt die ganz großen Menschen ab und verlangt, unter
ungefähr gleichen, das feinste Auge und die schnellste Herauserkennung eines
Talentes; und weil jeder etwas von Talenten hat, in solchen späten und zivilisierten
Kulturen also erwarten kann, sein Teil Ehre zurückzubekommen ,
deshalb findet heute ein Herausstreichen der kleinen Verdienste statt wie niemals
noch: es gibt dem Zeitalter einen Anstrich von grenzenloser Billigkeit.
Seine Unbilligkeit besteht in einer Wut ohne Grenzen nicht gegen die Tyrannen
und Volksschmeichler, auch in den Künsten, sondern gegen die vornehmen Menschen,
welche das Lob der vielen verachten. Die Forderung gleicher Rechte (z. B. über
alles und jeden zu Gericht sitzen zu dürfen) ist anti-aristokratisch.
Ebenso fremd ist ihm das verschwundene Individuum, das Untertauchen in einen großen
Typus, das Nicht-Person-sein-wollen: worin die Auszeichnung und der Eifer vieler
hohen Menschen früher bestand (die größten Dichter darunter);
oder »Stadt-sein« wie in Griechenland; Jesuitismus, preußisches
Offiziers-Korps und Beamtentum; oder Schüler-sein und Fortsetzer großer
Meister: wozu ungesellschaftliche Zustände und der Mangel der kleinen Eitelkeit
nötig ist. (Ebd., S. 521-522).Der Individualismus
ist eine bescheidene und noch unbewußte Art des »Willens zur Macht«;
hier scheint es dem einzelnen schon genug, freizukommen von einer Übermacht
der Gesellschaft (sei es des Staates oder der Kirche). Er setzt sich nicht als
Person in Gegensatz, sondern bloß als einzelner; er vertritt alle einzelnen
gegen die Gesamtheit. Das heißt: er setzt sich instinktiv gleich an mit
jedem einzelnen; was er erkämpft, das erkämpft er nicht sich
als Person, sondern sich als Vertreter einzelner gegen die Gesamtheit. Der
Sozialismus ist bloß ein Agitationsmittel des Individualismus:
er begreift, daß man sich, um etwas zu erreichen, zu einer Gesamtaktion
organisieren muß, zu einer »Macht«. Aber was er will, ist nicht
die Sozietät als Zweck des einzelnen, sondern die Sozietät als Mittel
zur Ermöglichung vieler einzelnen: das ist der Instinkt der Sozialisten,
über den sie sich häufig betrügen ( abgesehen, daß
sie, um sich durchzusetzen, häufig betrügen müssen). Die altruistische
Moral-Predigt im Dienste des Individual-Egoismus: eine der gewöhnlichsten
Falschheiten des neunzehnten Jahrhunderts.Der
Anarchismus ist wiederum bloß ein Agitationsmittel des Sozialismus;
mit ihm erregt er Furcht, mit der Furcht beginnt er zu faszinieren und zu terrorisieren:
vor allem er zieht die Mutigen, die Gewagten auf seine Seite, selbst noch
im Geistigsten.Trotz alledem: der Individualismus
ist die bescheidenste Stufe des Willens zur Macht.Hat
man eine gewisse Unabhängigkeit erreicht, so will man mehr: es tritt die
Sonderung heraus nach dem Grade der Kraft: der Einzelne setzt sich nicht ohne
weiteres mehr gleich, sondern er sucht nach seinesgleichen er hebt andere
von sich ab. Auf den Individualismus folgt die Glieder und Organbildung:
die verwandten Tendenzen sich zusammenstellend und sich als Macht betätigend:
zwischen diesen Machtzentren Reibung, Krieg, Erkenntnis beiderseitiger Kräfte,
Ausgleichung, Annäherung, Festsetzung von Austausch der Leistungen.
Am Schluß: eine Rangordnung.Rekapitulation:1.
Die Individuen machen sich frei;2. sie treten
in Kampf, sie kommen über »Gleichheit der Rechte« überein
( »Gerechtigkeit« als Ziel );3.
ist das erreicht, so treten die tatsächlichen Ungleichheiten der Kraft
in eine vergrößerte Wirkung (weil im großen ganzen der Friede
herrscht und viele kleine Kraft-Quanta schon Differenzen ausmachen, solche, die
früher fast gleich null waren). Jetzt organisieren sich die Einzelnen zu
Gruppen; die Gruppen streben nach Vorrechten und nach Übergewicht.
Der Kampf, in milderer Form, tobt von neuem.Man
will Freiheit, solange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht;
erringt man sie nicht (ist man noch zu schwach zu ihr), will man »Gerechtigkeit«,
d.h. gleiche Macht. (Ebd., S. 522-524).Berichtigung des
Begriffs »Egoismus«. Hat man begriffen, inwiefern »Individuum«
ein Irrtum ist, sondern jedes Einzelwesen eben der ganze Prozeß in
gerader Linie ist (nicht bloß »vererbt«, sondern er selbst ),
so hat das Einzelwesen eine ungeheuer große Bedeutung. Der Instinkt
redet darin ganz richtig. Wo dieser Instinkt nachläßt,
wo das Individuum sich einen Wert erst im Dienst für andere sucht, kann man
sicher auf Ermüdung und Entartung schließen. Der Altruismus
der Gesinnung, gründlich und ohne Tartüfferie, ist ein Instinkt dafür,
sich wenigstens einen zweiten Wert zu schaffen, im Dienste anderer Egoismen.
Meistens aber ist er nur scheinbar: ein Umweg zur Erhaltung des eigenen
Lebensgefühls, Wertgefühls. (Ebd., S. 524).Geschichte
der Vermoralisierung und EntmoralisierungErster
Satz: Es gilt gar keine moralischen Handlungen: sie sind vollkommen
eingebildet. Nicht nur, daß sie nicht nachweisbar sind (was z. B.
Kant zugab und das Christentum insgleichen), sondern sie sind gar nicht
möglich. Man hat einen Gegensatz zu den treibenden Kräften erfunden,
durch ein psychologisches Mißverständnis, und glaubt eine andere Art
von ihnen bezeichnet zu haben; man hat ein primum mobile fingiert, das gar nicht
existiert. Nach der Schätzung, welche überhaupt den Gegensatz »moralisch«
und »unmoralisch« aufgebracht hat, muß man sagen: es gibt
nur unmoralische Absichten und Handlungen.Zweiter
Satz: Diese ganze Unterscheidung »moralisch« und »unmoralisch«
geht davon aus, daß sowohl die moralischen als die unmoralischen Handlungen
Akte der freien Spontaneität seien kurz, daß es eine solche
gebe, oder anders ausgedrückt: daß die moralische Beurteilung überhaupt
sich nur auf eine Gattung von Absichten und Handlungen beziehe, die freien. Aber
diese ganze Gattung von Absichten und Handlungen ist rein imaginär: die Welt,
an welche der moralische Maßstab allein anlegbar ist, existiert gar nicht
es gibt weder moralische noch unmoralische Handlungen.Der
psychologische Irrtum, aus dem der Gegensatz-Begriff »moralisch«
und »unmoralisch« entstanden ist: »selbstlos«, »unegoistisch«,
»selbstverleugnend« alles unreal, fingiert. Fehlerhafter
Dogmatismus in betreff des »ego«: dasselbe als atomistisch genommen,
in einem falschen Gegensatz zum »Nicht-Ich«; insgleichen aus dem Werden
herausgelöst, als etwas Seiendes. Die falsche Versubstanzialisierung des
Ich: diese (in dem Glauben an die individuelle Unsterblichkeit) besonders
unter dem Druck religiös-moralischer Zucht zum Glaubensartikel gemacht. Nach
dieser künstlichen Loslösung und An-und-für-sich-Erklärung
des ego hatte man einen Wert-Gegensatz vor sich, der unwidersprechlich schien:
das Einzel-ego und das ungeheure Nicht-Ich. Es schien handgreiflich, daß
der Wert des Einzel-ego nur darin liegen könne, sich auf das ungeheure »Nicht-Ich«
zu beziehen resp. sich ihm unterzuordnen und um seinet-willen zu existieren.
Hier waren die Herden-Instinkte bestimmend: nichts geht so sehr wider diese Instinkte
als die Souveränität des Einzelnen. Gesetzt aber, das ego ist begriffen
als ein An-und-für-sich, so muß sein Wert in der Selbstverneinung
liegen. Also:1. die falsche Verselbständigung
des »Individuums«, als Atom;2. die
Herden-Würdigung, welche das Atom-bleiben-wollen perhorresziert und als feindlich
empfindet;3. als Folgerung: Überwindung
des Individuums durch Verlegung seines Ziels;4.
nun schien es Handlungen zu geben, welche selbstverneinend waren: man phantasierte
um sie eine ganze Sphäre von Gegensätzen herum;5.
man fragte: in welchen Handlungen bejaht sich der Mensch am stärksten? Um
diese (Geschlechtlichkeit, Habsucht, Herrschsucht, Grausamkeit usw.) wurde der
Bann, der Haß, die Verachtung gehäuft: man glaubte, daß es unselbstische
Triebe gibt, man verwarf alle selbstischen, man verlangte die unselbstischen;6.
Folge davon: was hatte man getan? Man hatte die stärksten, natürlichsten,
mehr noch, die einzig realen Triebe in Bann getan, man mußte, um
eine Handlung fürderhin lobenswert zu finden, in ihr die Anwesenheit solcher
Triebe leugnen ungeheure Fälscherei in psychologicis.
Selbst jede Art »Selbstzufriedenheit« hatte sich erst dadurch wieder
möglich zu machen, daß man sich sub specie boni mißverstand und
zurechtlegte. Umgekehrt: jene Spezies, wel che ihren Vorteil davon hatte, dem
Menschen seine Selbstzufriedenheit zu nehmen (die Repräsentanten des Herden-Instinkts,
z. B. die Priester und Philosophen), wurde fein und psychologisch-scharfsichtig,
zu zeigen, wie überall doch die Selbstsucht herrsche. Christlicher Schluß:
»Alles ist Sünde; auch unsre Tugenden. Absolute Verwerflichkeit des
Menschen. Die selbstlose Handlung ist nicht möglich.« Erbsünde.
Kurz: nachdem der Mensch seinen Instinkt in Gegensatz zu einer rein imaginären
Welt des Guten gebracht hatte, endete er mit Selbstverachtung, als unfähig,
Handlungen zu tun, welche »gut« sind.NB.
Das Christentum bezeichnet damit einen Fortschritt in der psychologischen Verschärfung
des Blicks: Larochefoucauld und Pascal. Es begriff die Wesensgleichheit der menschlichen
Handlungen und ihre Wert-Gleichheit in der Hauptsache ( alle unmoralisch).Nun
machte man Ernst, Menschen zu bilden, in denen die Selbstsucht getötet ist
die Priester, die Heiligen. Und wenn man zweifelte an der Möglichkeit,
»vollkommen« zu werden, man zweifelte nicht, zu wissen, was vollkommen
ist. Die Psychologie des Heiligen, des Priesters, des »guten Menschen«
mußte natürlich rein phantasmagorisch ausfallen. Man hatte die wirklichen
Motive des Handelns für schlecht erklärt: man mußte, um überhaupt
noch handeln zu können, Handlungen vorschreiben zu können, Handlungen,
die gar nicht möglich sind, als möglich beschreiben und gleichsam heiligen.
Mit derselben Falschheit, mit der man verleumdet hatte, hat man nunmehr verehrt
und veridealisiert. Das Wüten gegen die Instinkte des Lebens als »heilig«,
verehrungswürdig. Die absolute Keuschheit, der absolute Gehorsam, die absolute
Armut: priesterliches Ideal. Almosen, Mitleiden, Aufopferung, Verleugnung des
Schönen, der Vernunft, der Sinnlichkeit, moroser Blick für alle starken
Qualitäten, die man hat: Laien-Ideal. Man kommt vorwärts: die verleumdeten
Instinkte suchen sich auch ein Recht zu schaffen (z. B. Luthers Reformation: gröbste
Form der moralischen Verlogenheit unter der »Freiheit des Evangeliums«),
man tauft sie um auf heilige Namen; die verleumdeten Instinkte suchen sich
als notwendig zu beweisen, damit die tugendhaften überhaupt möglich
sind; man muß vivre, pour vivre pour autrui: Egoismus als Mittel zum Zweck;
man geht weiter, man sucht sowohl den egoistischen als auch den altruistischen
Regungen ein Existenz-Recht zu geben: Gleichheit der Rechte für die einen
wie für die andern (vom Gesichtspunkt des Nutzens); man geht weiter, man
sucht die höhere Nützlichkeit in der Bevorzugung des egoistischen Gesichtspunktes
gegenüber dem altruistischen: nützlicher in Hinsicht auf das Glück
der meisten oder die Förderung der Menschheit usw. Also: ein Übergewicht
an Rechten des Egoismus, aber unter einer extrem altruistischen Perspektive (»Gesamt-Nutzen
der Menschheit«); man sucht die altruistische Handlungsweise mit der Natürlichkeit
zu versöhnen, man sucht das Altruistische auf dem Grunde des Lebens; man
sucht das Egoistische wie das Altruistische als gleich begründet im Wesen
des Lebens und der Natur; man träumt von einem Verschwinden des Gegensatzes
in irgendeiner Zukunft, wo, durch fortgesetzte Anpassung, das Egoistische auch
zugleich das Altruistische ist; endlich, man begreift, daß die altruistischen
Handlungen nur eine Spezies der egoistischen sind und daß
der Grad, in dem man liebt, sich verschwendet, ein Beweis ist für den Grad
einer individuellen Macht und Personalität. Kurz, daß man,
indem man den Menschen böser macht, ihn besser macht und daß
man das eine nicht ohne das andere ist... Damit geht der Vorhang auf vor der ungeheuren
Fälschung der Psychologie des bisherigen Menschen.Folgerungen:
es gibt nur unmoralische Absichten und Handlungen; die sogenannten moralischen
sind also als Unmoralitäten nachzuweisen. Die Ableitung aller Affekte aus
dem einen Willen zur Macht: wesensgleich. Der Begriff des Lebens: es drücken
sich in dem anscheinenden Gegensatze (von »gut und böse«) Machtgrade
von Instinkten aus, zeitweilige Rangordnung, unter der gewisse Instinkte im
Zaum gehalten werden oder in Dienst genommen werden. Rechtfertigung
der Moral: ökonomisch usw..Gegen den
zweiten Satz. Der Determinismus: Versuch, die moralische Welt zu retten, dadurch
daß man sie transloziert ins Unbekannte. Der Determinismus ist nur
ein modus, unsre Wertschätzungen eskamotieren zu dürfen, nachdem sie
in der mechanistisch-gedachten Welt keinen Platz haben. Man muß deshalb
den Determinismus angreifen und unterminieren: insgleichen unser Recht
zu einer Scheidung einer An-sich- und Phänomenal-Welt bestreiten. (Ebd.,
S. 524-529).Ist man über das »Warum?« seines Lebens
mit sich im reinen, so gibt man dessen »Wie?« leichten Kaufs dahin.
Es ist selbst schon ein Zeichen von Unglauben an Warum, an Zweck und Sinn, ein
Mangel an Willen, wenn der Wert von Lust und Unlust in den Vordergrund
tritt und hedonistisch-pessimistische Lehren Gehör finden; und Entsagung,
Resignation, Tugend, »Objektivität« können zum mindesten
schon Zeichen davon sein, daß es an der Hauptsache zu mangeln beginnt.
(Ebd., S. 531).Deutschland, welches reich ist an geschickten und
wohlunterrichteten Gelehrten, ermangelt in einem solchen Maße seit langer
Zeit der großen Seelen, der mächtigen Geister, daß es verlernt
zu haben scheint, was eine große Seele, was ein mächtiger Geist ist:
und heutzutage stellen sich, beinahe mit gutem Gewissen und aller Verlegenheit
bar, mittelmäßige und dazu noch übelgeratene Menschen an den Markt
und preisen sich selber als große Männer, Reformatoren an; wie z. B.
Eugen Dühring tut, wahrhaftig ein geschickter und wohlunterrichteter Gelehrter,
der aber doch fast mit jedem Worte verrät, daß er eine kleinliche Seele
herbergt und durch enge neidische Gefühle zerquetscht wird; auch daß
nicht ein mächtiger, überschäumender, wohltätig-verschwenderischer
Geist ihn treibt sondern der Ehrgeiz! In diesem Zeitalter aber nach Ehren
zu geizen, ist eines Philosophen noch viel unwürdiger als in irgendeinem
früheren Zeitalter: jetzt, wo der Pöbel herrscht, wo der Pöbel
die Ehren vergibt! (Ebd., S. 531-532). 3.4)
Der Wille zur Macht als Kunst |
3.4.1) Der Wille zur Macht als Kunst
Das
Kunstwerk, wo es ohne Künstler erscheint, z. B. als Leib, als Organisation
(preußisches Offizierkorps, Jesuitenorden). Inwiefern der Künstler
nur eine Vorstufe ist. Die Welt als ein sich selbstgebärendes Kunstwerk.
(Ebd., S. 533).Apollinisch dionysisch. Es
gibt zwei Zustände, in denen die Kunst selbst wie eine Naturgewalt im Menschen
auftritt, über ihn verfügend, ob er will oder nicht: einmal als Zwang
zur Vision, andrerseits als Zwang zum Orgiasmus. Beide Zustände sind auch
im normalen Leben vorgespielt, nur schwächer: im Traum und im Rausch. Aber
derselbe Gegensatz besteht noch zwischen Traum und Rausch: beide entfesseln in
uns künstlerische Gewalten, jede aber verschieden: der Traum die des Sehens,
Verknüpfens, Dichtens; der Rausch die der Gebärde, der Leidenschaft,
des Gesangs, des Tanzes. (Ebd., S. 534).Im
dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust: sie fehlt nicht
im apollinischen. Es muß noch eine Tempo-Verschiedenheit in beiden Zuständen
geben .... Die extreme Ruhe gewisser Rauschempfindungen (strenger: die
Verlangsamung des Zeit-und Raumgefühls) spiegelt sich gern in der Vision
der ruhigsten Gebärden und Seelen-Arten. Der klassische Stil stellt wesentlich
diese Ruhe, Vereinfachung, Abkürzung, Konzentration dar das höchste
Gefühl der Macht ist konzentriert im klassischen Typus. Schwer reagieren:
ein großes Bewußtsein: kein Gefühl von Kampf. (Ebd., S.
534).Die Häßlichkeit bedeutet décadence eines
Typus, Widerspruch und mangelnde Koordination der inneren Begehrungen
bedeutet einen Niedergang an organisierender Kraft, an »Willen«, psychologisch
geredet. Der Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein hohes Machtgefühl...
Die Raum- und Zeit-Empfindungen sind verändert: ungeheure Fernen werden überschaut
und gleichsam erst wahrnehmbar; die Ausdehnung des Blicks über
größere Mengen und Weiten; die Verfeinerung des Organs für
die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten; die Divination, die Kraft
des Verstehens auf die leiseste Hilfe hin, auf jede Suggestion hin: die »intelligente«
Sinnlichkeit-; die Stärke als Herrschaftsgefühl in den Muskeln,
als Geschmeidigkeit und Lust an der Bewegung, als Tanz, als Leichtigkeit und Presto;
die Stärke als Lust am Beweis der Stärke, als Bravourstück, Abenteuer,
Furchtlosigkeit, Gleichgültigkeit gegen Leben und Tod... Alle diese Höhen-Momente
des Lebens regen sich gegenseitig an; die Bilder- und Vorstellungswelt des einen
genügt, als Suggestion, für den andern: dergestalt sind schließlich
Zustände ineinander verwachsen, die vielleicht Grund hätten, sich fremd
zu bleiben. Zum Beispiel: das religiöse Rauschgefühl und die Geschlechtserregung
( zwei tiefe Gefühle, nachgerade fast verwunderlich koordiniert. Was
gefällt allen frommen Frauen, alten? jungen? Antwort: ein Heiliger mit schönen
Beinen, noch jung, noch Idiot). Die Grausamkeit in der Tragödie und das Mitleid
( ebenfalls normal koordiniert ...). Frühling, Tanz, Musik:
alles Wettbewerb der Geschlechter, und auch noch jene Faustische »Unendlichkeit
im Busen«. (Ebd., S. 535-536).Biologischer Wert
des Schönen und des Häßlichen. Was uns instinktiv widersteht,
ästhetisch, ist aus allerlängster Erfahrung dem Menschen als schädlich,
gefährlich, mißtrauen-verdienend bewiesen: der plötzlich redende
ästhetische Instinkt (im Ekel z. B.) enthält ein Urteil. Insofern steht
das Schöne innerhalb der allgemeinen Kategorie der biologischen Werte des
Nützlichen, Wohltätigen, Leben-steigernden: doch so, daß eine
Menge Reize, die ganz von ferne an nützliche Dinge und Zustände erinnern
und anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen, d. h. der Vermehrung
von Machtgefühl geben ( nicht also bloß Dinge, sondern auch die
Begleitempfindungen solcher Dinge oder ihre Symbole). Hiermit ist das Schöne
und Häßliche als bedingt erkannt; nämlich in Hinsicht auf
unsre untersten Erhaltungswerte. Davon abgesehen ein Schönes und ein
Häßliches ansetzen wollen, ist sinnlos. Das Schöne existiert so
wenig als das Gute, das Wahre. Im einzelnen handelt es sich wieder um die Erhaltungsbedingungen
einer bestimmten Art von Mensch: so wird der Herdenmensch bei anderen Dingen
das Wertgefühl des Schönen haben als der Ausnahme- und Über-Mensch.
Es ist die Vordergrunds-Optik, welche nur die nächsten Folgen
in Betracht zieht, aus der der Wert des Schönen (auch des Guten, auch des
Wahren) stammt. Alle Instinkt-Urteile sind kurzsichtig in Hinsicht auf
die Kette der Folgen: sie raten an, was zunächst zu tun ist. Der Verstand
ist wesentlich ein Hemmungsapparat gegen das Sofort-Reagieren auf das Instinkt-Urteil:
er hält auf, er überlegt weiter, er sieht die Folgenkette ferner und
länger. Die Schönheits und Häßlichkeits-Urteile
sind kurzsichtig ( sie haben immer den Verstand gegen sich ):
aber im höchsten Grade überredend; sie appellieren an unsre Instinkte,
dort, wo sie am schnellsten sich entscheiden und ihr Ja und Nein sagen, bevor
noch der Verstand zu Worte kommt. Die gewohntesten Schönheits-Bejahungen
regen sich gegenseitig auf und an; wenn der ästhetische Trieb einmal
in Arbeit ist, kristallisiert sich um »das einzelne Schöne« noch
eine ganze Fülle anderer und anders woher stammender Vollkommenheiten.
Es ist nicht möglich, objektiv zu bleiben resp. die interpretierende,
hinzugebende, ausfüllende, dichtende Kraft auszuhängen ( letztere
ist jene Verkettung der Schönheits-Bejahungen selber). Der Anblick eines
»schönen Weibes« .... Also1.
das Schönheits-Urteil ist kurzsichtig, es sieht nur die nächsten
Folgen;2. es überhäuft den Gegenstand,
der es erregt, mit einem Zauber, der durch die Assoziation verschiedener Schönheits-Urteile
bedingt ist der aber dem Wesen jenes Gegenstandes ganz fremd ist.
Ein Ding als schön empfinden heißt: es notwendig falsch empfinden
(weshalb, beiläufig gesagt, die Liebesheirat die gesellschaftlich unvernünftigste
Art der Heirat ist). (Ebd., S. 538-539).Der ästhetische Zustand
hat einen Überreichtum von Mitteilungsmitteln, zugleich mit einer
extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt
der Mitteilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen er
ist die Quelle der Sprachen. Die Sprachen haben hier ihren Entstehungsherd: die
Tonsprachen so gut als die Gebärden-und Blicksprachen. Das vollere Phänomen
ist immer der Anfang: unsere Vermögen sind subtilisiert aus volleren Vermögen.
Aber auch heute hört man noch mit den Muskeln, man liest selbst noch mit
den Muskeln. Jede reife Kunst hat eine Fülle Konvention zur Grundlage: insofern
sie Sprache ist. Die Konvention ist die Bedingung der großen Kunst, nicht
deren Verhinderung. (Ebd., S. 544-545).Es sind die Ausnahme-Zustände,
die den Künstler bedingen: alle, die mit krankhaften Erscheinungen tief verwandt
und verwachsen sind: so daß es nicht möglich scheint, Künstler
zu sein und nicht krank zu sein. (Ebd., S. 545).Ein Bild,
innerlich auftauchend, wirkt schon als Bewegung der Glieder , eine gewisse
Willens-Aushängung ... (Schopenhauer!!!!) Eine Art Taubsein, Blindsein nach
außen hin das Reich der zugelassenen Reize ist scharf umgrenzt.
Dies unterscheidet den Künstler vom Laien (dem künstlerisch- Empfänglichen):
letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit; ersterer im
Geben, dergestalt, daß ein Antagonismus dieser beiden Begabungen
nicht nur natürlich, sondern wünschenswert ist. Jeder dieser Zustände
hat eine umgekehrte Optik vom Künstler verlangen daß er sich
die Optik des Zuhörers (Kritikers) einübe, heißt verlangen, daß
er sich und seine schöpferische Kraft verarme... Es ist hier wie bei der
Differenz der Geschlechter: man soll vom Künstler, der gibt, nicht verlangen,
daß er Weib wird daß er »empfängt«.
Unsre Ästhetik war insofern bisher eine Weibs-Ästhetik, als nur die
Empfänglichen für Kunst ihre Erfahrungen »was ist schön«?
formuliert haben. In der ganzen Philosophie bis heute fehlt der Künstler
.... Das ist, wie das Vorhergehende andeutete, ein notwendiger Fehler: denn der
Künstler, der anfinge, sich zu begreifen, würde sich damit vergreifen,
er hat nicht zurückzusehen, er hat überhaupt nicht zu sehen,
er hat zu geben. Es ehrt einen Künstler, der Kritik unfähig zu
sein andernfalls ist er halb und halb, ist er »modern«.
(Ebd., S. 546-547).Ich setze hier eine Reihe psychologischer Zustände
als Zeichen vollen und blühenden Lebens hin, welche man heute gewohnt ist,
als krankhaft zu beurteilen. Nun haben wir inzwischen verlernt, zwischen gesund
und krank von einem Gegensatze zu reden: es handelt sich um Grade meine
Behauptung in diesem Falle ist, daß, was heute »gesund« genannt
wird, ein niedrigeres Niveau von dem darstellt, was unter günstigen Verhältnissen
gesund wäre , daß wir relativ krank sind... Der Künstler
gehört zu einer noch stärkeren Rasse. Was uns schon schädlich,
was bei uns krankhaft wäre, ist bei ihm Natur Aber man wendet
uns ein, daß gerade die Verarmung der Maschine die extravagante Verständniskraft
über jedwede Suggestion ermögliche:Zeugnis
unsre hysterischen Weiblein.Die Überfülle
an Säften und Kräften kann so gut Symptome der partiellen Unfreiheit,
von Sinnes-Halluzinationen, von Suggestions-Raffinements mit sich bringen, wie
eine Verarmung an Leben , der Reiz ist anders bedingt, die Wirkung bleibt
sich gleich .... Vor allem ist die Nachwirkung nicht dieselbe; die extreme
Erschlaffung aller morbiden Naturen nach ihren Nerven-Exzentrizitäten hat
nichts mit den Zuständen des Künstlers gemein: der seine guten Zeiten
nicht abzubüßen hat .... Er ist reich genug dazu: er kann verschwenden,
ohne arm zu werden. Wie man heute »Genie« als eine Form der Neurose
beurteilen dürfte, so vielleicht auch die künstlerische Suggestiv-Kraft
und unsre Artisten sind in der Tat den hysterischen Weiblein nur zu verwandt!!!
Das aber spricht gegen »heute«, und nicht gegen die »Künstler«.
Die unkünstlerischen Zustände: die der Objektivität, der
Spiegelung, des ausgehängten Willens... (das skandalöse Mißverständnis
Schopenhauers, der die Kunst als Brücke zur Verneinung des Lebens
nimmt) .... Die unkünstlerischen Zustände: der Verarmenden, Abziehenden,
Abblassenden, unter deren Blick das Leben leidet der Christ. (Ebd.,
S. 547-548).Der moderne Künstler, in seiner Physiologie
dem Hysterismus nächstverwandt, ist auch als Charakter auf diese Krankhaftigkeit
hin abgezeichnet. Der Hysteriker ist falsch er lügt aus Lust an der
Lüge, er ist bewunderungswürdig in jeder Kunst der Verstellung ,
es sei denn, daß seine krankhafte Eitelkeit ihm einen Streich spielt. Diese
Eitelkeit ist wie ein fortwährendes Fieber, welches Betäubungsmittel
nötig hat und vor keinem Selbstbetrug, vor keiner Farce zurückschreckt,
die eine augenblickliche Linderung verspricht. (Unfähigkeit zum Stolz
und beständig Rache für eine tief eingenistete Selbstverachtung nötig
zu haben das ist beinahe die Definition dieser Art von Eitelkeit.) Die
absurde Erregbarkeit seines Systems, die aus allen Erlebnissen Krisen macht und
das »Dramatische« in die geringsten Zufälle des Lebens einschleppt,
nimmt ihm alles Berechenbare: er ist keine Person mehr, höchstens ein Rendezvous
von Personen, von denen bald diese, bald jene mit unverschämter Sicherheit
herausschießt. Eben darum ist er groß als Schauspieler: alle diese
armen Willenlosen, welche die Ärzte in der Nähe studieren, setzen in
Erstaunen durch ihre Virtuosität der Mimik, der Transfiguration, des Eintretens
in fast jeden verlangten Charakter. (Ebd., S. 548-549).Verglichen
mit dem Künstler, ist das Erscheinen des wissenschaftlichen Menschen
in der Tat ein Zeichen einer gewissen Eindämmung und Niveau-Erniedrigung
des Lebens ( aber auch einer Verstärkung, Strenge, Härte, Willenskraft).
Inwiefern die Falschheit, die Gleichgültigkeit gegen Wahr und Nützlich
beim Künstler Zeichen von Jugend, von »Kinderei« sein
mögen .... Ihre habituelle Art, ihre Unvernünftigkeit, ihre Ignoranz
über sich, ihre Gleichgültigkeit gegen »ewige Werte«, ihr
Ernst im »Spiele« ihr Mangel an Würde; Hanswurst und Gott
benachbart; der Heilige und die Kanaille... Das Nachmachen als Instinkt,
kommandierend. Aufgangs-Künstler Niedergangs-Künstler:
ob sie nicht allen Phasen zugehören? .... Ja! (Ebd., S. 550-551).Würde
irgendein Ring in der ganzen Kette von Kunst und Wissenschaft fehlen, wenn das
Weib, wenn das Werk des Weibes darin fehlte? Geben wir die Ausnahme zu
sie beweist die Regel das Weib bringt es in allem zur Vollkommenheit,
was nicht ein Werk ist, in Brief, in Memoiren, selbst in der delikatesten Handarbeit,
die es gibt, kurz in allem, was nicht ein Metier ist, genau deshalb, weil es darin
sich selbst vollendet, weil es damit seinem einzigen Kunst-Antrieb gehorcht, den
es besitzt es will gefallen .... Aber was hat das Weib mit der leidenschaftlichen
Indifferenz des echten Künstlers zu schaffen, der einem Klang, einem Hauch,
einem Hopsassa mehr Wichtigkeit zugesteht, als sich selbst? der mit allen fünf
Fingern nach seinem Geheimsten und Innersten greift? der keinem Dinge einen Wert
zugesteht, es sei denn, daß es Form zu werden weiß ( daß
es sich preisgibt, daß es sich öffentlich macht ). Die Kunst,
so wie der Künstler sie übt begreift ihr's denn nicht, was sie
ist: ein Attentat auf alle pudeurs?... Erst mit diesem Jahrhundert hat das Weib
jene Schwenkung zur Literatur gewagt ( vers la canaille plumière
écrivassière, mit dem alten Mirabeau zu reden): es schriftstellert,
es künstlert, es verliert an Instinkt. Wozu doch? wenn man fragen darf.
(Ebd., S. 551).
Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle
Nichtkünstler »Form« nennen, als Inhalt, als »die
Sache selbst« empfindet. Damit gehört man freilich in eine
verkehrte Welt: denn nunmehr wird einem der Inhalt zu etwas bloß
Formalem unser Leben eingerechnet. (Ebd., S. 552).
Der Sinn und die Lust an der Nuance ( die eigentliche
Modernität), an Dem, was nicht generell ist, läuft dem
Triebe entgegen, welcher seine Lust und Kraft im Erfassen des Typischen
hat: gleich dem griechischen Geschmack der besten Zeit. Ein Überwältigen
der Fülle des Lebendigen ist darin, das Maß wird Herr,
jene Ruhe der starken Seele liegt zugrunde, welche sich langsam
bewegt und einen Widerwillen vor dem Allzu-Lebendigen hat. Der allgemeine
Fall, das Gesetz wird verehrt und herausgehoben: die Ausnahme
wird umgekehrt, beiseite gestellt, die Nuance weggewischt. Das Feste,
Mächtige, Solide, das Leben, das breit und gewaltig ruht und seine
Kraft birgt - das gefällt: d.h. das korrespondiert
mit Dem, was man von sich hält. (Ebd., S. 552).
In
der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr recht als allen Philosophen bisher:
sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht, sie liebten die
Dinge »dieser Welt« sie liebten ihre Sinne. »Entsinnlichung«
zu erstreben: das scheint mir ein Mißverständnis oder eine Krankheit
oder eine Kur, wo sie nicht eine bloße Heuchelei oder Selbstbetrügerei
ist. Ich wünsche mir selber und allen denen, welche ohne die Ängste
eines Puritaner-Gewissens leben leben dürfen, eine immer größere
Vergeistigung und Vervielfältigung ihrer Sinne; ja wir wollen den Sinnen
dankbar sein für ihre Feinheit, Fülle und Kraft und ihnen das Beste
von Geist, was wir haben, dagegen bieten. Was gehen uns die priesterlichen und
metaphysischen Verketzerungen der Sinne an! Wir haben diese Verketzerung nicht
mehr nötig: es ist ein Merkmal der Wohlgeratenheit, wenn einer, gleich Goethe,
mit immer größerer Lust und Herzlichkeit an »den Dingen der Welt«
hängt dergestalt nämlich hält er die große Auffassung
des Menschen fest, daß der Mensch der Verklärer des Daseins
wird, wenn er sich selbst verklären lernt. (Ebd., S. 552-553).Was
bedeutet eine pessimistische Kunst? Ist das nicht eine contradictio?
Ja. Schopenhauer irrt, wenn er gewisse Werke der Kunst in den Dienst
des Pessimismus stellt. Die Tragödie lehrt nicht »Resignation«
.... Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen ist selbst schon ein
Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht
.... Es gibt keine pessimistische Kunst .... Die Kunst bejaht. (Ebd., S.
553-554).Wenn meine Leser darüber zur
Genüge eingeweiht sind, daß auch »der Gute« im großen
Gesamt-Schauspiel des Lebens eine Form der Erschöpfung darstellt: so werden
sie der Konsequenz des Christentums die Ehre geben, welche den Guten als den Häßlichen
konzipierte. Das Christentum hatte damit recht. An einem Philosophen ist es eine
Nichtswürdigkeit zu sagen »das Gute und das Schöne sind eins«;
fügt er gar noch hinzu »auch das Wahre«, so soll man ihn prügeln.
Die Wahrheit ist häßlich. Wir haben die Kunst, damit wir nicht an
der Wahrheit zugrunde gehn. (Ebd., S. 554).In Hinsicht
auf die Maler: ... Sie sind tausend Meilem weit von den alten Meistern, welche
nicht lasen und nur daran dachten, ihren Augen ein Fest zu geben. (Ebd.,
S. 557).Die Romantik: eine zweideutige Frage, wie alles Moderne.
(Ebd., S. 567).Was ist Romantik? In Hinsicht auf
alle ästhetischen Werte bediene ich mich jetzt dieser Grundunterscheidung:
ich frage in jedem einzelnen Falle: »Ist hier der Hunger oder der Überfluß
schöpferisch geworden?« Von vornherein möchte sich eine andre
Unterscheidung besser zu empfehlen scheinen sie ist bei weitem augenscheinlicher
, nämlich die Unterscheidung, ob das Verlangen nach Starr-werden, Ewig-werden,
nach »Sein« die Ursache des Schaffens ist oder aber das Verlangen
nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Werden. Aber beide Arten des Verlangens
erweisen sich, tiefer angesehn, noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach
jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema.
Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen
zukunftsschwangern Kraft sein (mein Terminus dafür ist, wie man weiß,
das Wort »dionysisch«); es kann aber auch der Haß der Mißratnen,
Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muß,
weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehen, alles Sein selbst, empört und
aufreizt. »Verewigen« andrerseits kann einmal aus Dankbarkeit und
Liebe kommen eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosen-Kunst
sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig mit Hafis, hell und gütig
mit Goethe und einen homerischen Glorienschein über alle Dinge breitend;
es kann aber auch jener tyrannische Wille eines Schwer-Leidenden sein,
welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie
seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und
der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch daß er ihnen sein Bild,
das Bild seiner Tortur aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist
romantischer Pessimismus in der ausdrucksvollsten Form: .... (Ebd., S. 568-569).Ob
nicht hinter dem Gegensatz von klassisch und romantisch der Gegensatz des Aktiven
und Reaktiven verborgen liegt? (Ebd., S. 569).Um Klassiker
zu sein, muß man alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und
Begierden haben: aber so, daß sie miteinander unter einem Joche gehen; zur
rechten Zeit kommen, um ein Genus von Literatur oder Kunst oder Politik auf seine
Höhe und Spitze zu bringen (nicht nachdem dies schon geschehen ist...): einen
Gesamtzustand (sei es eines Volkes, sei es einer Kultur) in seiner tiefsten
und innersten Seele widerspiegeln, zu einer Zeit, wo er noch besteht und noch
nicht überfärbt ist von der Nachahmung des Fremden (oder noch abhängig
ist ...); kein reaktiver, sondern ein schließender und vorwärtsführender
Geist sein, ja sagend in allen Fällen, selbst mit seinem Haß. »Es
gehört dazu nicht der höchste persönliche Wert?« .... Vielleicht
zu erwägen, ob die moralischen Vorurteile hier nicht ihr Spiel spielen und
ob große moralische Höhe nicht vielleicht an sich ein Widerspruch
gegen das Klassische ist? .... Ob nicht die moralischen Monstra notwendig
Romantiker sein müssen, in Wort und Tat? .... Ein solches Übergewicht
einer Tugend über die anderen (wie beim moralischen Monstrum) steht eben
der klassischen Macht im Gleichgewicht feindlich entgegen: gesetzt, man hätte
diese Höhe und wäre trotzdem Klassiker, so dürfte dreist geschlossen
werden, man besitze auch die Immoralität auf gleicher Höhe: ....
(Ebd., S. 569-570).Die Romantiker in Deutschland protestieren nicht
gegen den Klassizismus, sondern gegen Vernunft, Aufklärung, Geschmack, achtzehntes
Jahrhundert. (Ebd., S. 571).
Die Wohltat besteht im Anblick der großartigen Indifferenz
der Natur gegen Gut und Böse. Keine Gerechtigkeit in der Geschichte,
keine Güte in der Natur: deshalb geht der Pessimist, falls er Artist
ist, dorthin, in historicis, wo die Absenz der Gerechtigkeit selber
noch mit großartiger Naivität sich zeigt, wo gerade die Vollkommenheit
zum Ausdruck kommt , und insgleichen in der Natur dorthin, wo der
böse und indifferente Charakter sich nicht verfehlt, wo sie den Charakter
der Vollkommenheit darstellt .... Der nihilistische Künstler
verrät sich im Wollen zum Bevorzugen der zynischen Geschichte,
der zynischen Natur. (Ebd., S. 571-572).
Vorliebe für fragwürdige und furchtbare Dinge
ein Symptom für Stärke ...: während der Geschmack
am Hübschen und Zierlichen den Schwachen, den Delikaten zugehört.
Die Lust an der Tragödie kennzeichnet starke Zeitalter
und Charaktere .... Es sind die heroischen Geister, welche zu sich
selbst in der tragischen Grausamkeit ja sagen: sie sind hart genug, um
das Leiden als Lust zu empfinden. (Ebd., S. 574).
Die Kunst
in der »Geburt der Tragödie«
IDie Konzeption
des Werks, auf welche man in dem Hintergrunde dieses Buches stößt,
ist absonderlich düster und unangenehm: unter den bisher bekannt gewordnen
Typen des Pessimismus scheint keiner diesen Grad von Bösartigkeit erreicht
zu haben. Hier fehlt der Gegensatz einer wahren und einer scheinbaren Welt: es
gibt nur eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch,
ohne Sinn. .... Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt. Wir haben Lüge
nötig, um über diese Realität, diese »Wahrheit« zum
Sieg zu kommen, das heißt, um zu leben. .... Daß die Lüge nötig
ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen
Charakter des Daseins.Die Metaphysik, die Moral,
die Religion, die Wissenschaft sie werden in diesem Buche nur als verschiedne
Formen der Lüge in Betracht gezogen: mit ihrer Hilfe wird ans Leben geglaubt.
»Das Leben soll Vertrauen einflößen«: die Aufgabe, so gestellt,
ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch schon von Natur Lügner
sein, er muß mehr als alles andere Künstler sein. Und er ist es auch:
Metaphysik, Religion, Moral, Wissenschaft alles nur Ausgeburten seines
Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der »Wahrheit«, zur
Verneinung der »Wahrheit«. Das Vermögen selbst, dank dem
er die Realität durch die Lüge vergewaltigt, dieses Künstler-Vermögen
des Menschen par excellence er hat es noch mit allem, was ist, gemein.
Er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, Natur: wie sollte er nicht
auch ein Stück Genie der Lüge sein!Daß
der Charakter des Daseins verkannt werde tiefste und höchste Geheim-Absicht
hinter allem, was Tugend, Wissenschaft, Frömmigkeit, Künstlertum ist.
Vieles niemals sehn, vieles falsch sehn, vieles hinzusehn: o wie klug man noch
ist, in Zuständen, wo man am fernsten davon ist, sich für klug zu halten!
Die Liebe, die Begeisterung, »Gott« lauter Feinheiten des letzten
Selbstbetrugs, lauter Verführungen zum Leben, lauter Glaube an das Leben!
In Augenblicken, wo der Mensch zum Betrognen ward, wo er sich überlistet
hat, wo er ans Leben glaubt: o wie schwillt es da in ihm auf! Welches Entzücken!
Welches Gefühl von Macht! Wieviel Künstler-Triumph im Gefühl der
Macht! .... Der Mensch ward wieder einmal Herr über den »Stoff«
Herr über die Wahrheit! .... Und wann immer der Mensch sich freut,
er ist immer der gleiche in seiner Freude: er freut sich als Künstler, er
genießt sich als Macht, er genießt die Lüge als seine Macht ....IIDie
Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des
Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans
des Lebens.Die Kunst als einzig überlegene
Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche,
Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.Die
Kunst als die Erlösung des Erkennenden dessen, der den furchtbaren
und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehen will, des Tragisch-Erkennenden.Die
Kunst als die Erlösung des Handelnden dessen, der den furchtbaren
und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben
will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden.Die
Kunst als die Erlösung des Leidenden als Weg zu Zuständen,
wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine
Form der großen Entzückung ist.IIIMan
sieht, daß in diesem Buche der Pessimismus, sagen wir deutlicher der Nihilismus,
als die »Wahrheit« gilt. Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes
Wertmaß, noch weniger als oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion,
zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur objektivierten Täuschung)
gilt hier als tiefer, ursprünglicher, »metaphysischer« als der
Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Schein letzterer ist selbst bloß
eine Form des Willens zur Illusion. Ebenso gilt die Lust als ursprünglicher
als der Schmerz: der Schmerz erst als bedingt, als eine Folgeerscheinung des Willens
zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, d.h. zum Schaffen:
im Schaffen ist aber das Zerstören eingerechnet). Es wird ein höchster
Zustand von Bejahung des Daseins konzipiert, aus dem auch der höchste Schmerz
nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische Zustand.IVDies
Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinne, daß
es etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das »göttlicher«
ist als die Wahrheit: die Kunst. Niemand würde, wie es scheint, einer radikalen
Verneinung des Lebens, einem wirklichen Neintun noch mehr als einem Neinsagen
zum Leben ernstlicher das Wort reden, als der Verfasser dieses Buches. Nur weiß
er er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts anderes erlebt! daß
die Kunst mehr wert ist, als die Wahrheit.In
der Vorrede bereits, mit der Richard Wagner wie zu einem Zwiegespräche eingeladen
wird, erscheint dies Glaubensbekenntnis, dies Artisten-Evangelium: »die
Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische
Tätigkeit ....« (Ebd., S. 575-578).
4. Buch: Zucht und Züchtung
4.1.1) Die Lehre von der Rangordung
Ich
bin dazu gedrängt, im Zeitalter ..., wo jeder über jeden und jedes zu
Gericht sitzen darf, die Rangordnung wiederherzustellen. (Ebd., S.
581).Ramg bestimmend, Rang abhebend sind allein Macht-Quantitäten:
und nichts sonst. (Ebd., S. 581).Der Wille zur Macht.
Wie die Menschen beschaffen sein müßten, welche diese Umwertung
an sich vornehmen. Die Rangordnung als Machtordnung: Krieg und Gefahr die Voraussetzung,
daß ein Rang seine Bedingungen festhält. Das grandiose Vorbild: der
Mensch in der Natur das schwächste, klügste Wesen sich zum Herrn
machend, die dümmeren Galten sich unterjochend. (Ebd., S. 581).Ich
unterscheide einen Typus des aufsteigenden Lebens und einen andern des Verfalls,
der Zersetzung, der Schwäche. Sollte man glauben, daß die Rangfrage
zwischen beiden Typen überhaupt noch zu stellen ist? (Ebd., S. 581).Über
den Rang entscheidet das Quantum Macht, das du bist; der Rest ist Feigheit.
(Ebd., S. 582).Vorteil eines Abseits von seiner Zeit.
Abseits gestellt gegen die beiden Bewegungen, die individualistische und die kollektivistische
Moral denn auch die erste kennt die Rangordnung nicht und will dem einen
die gleiche Freiheit geben wie allen. Meine Gedanken drehen sich nicht um den
Grad von Freiheit, der dem einen oder dem anderen oder allen zu gönnen ist,
sondern um den Grad von Macht, den einer oder der andere über andere oder
alle üben soll, resp. inwiefern eine Opferung von Freiheit, eine Versklavung
selbst, zur Hervorbringung eines höheren Typus die Basis gibt. In
gröbster Form gedacht: wie könnte man die Entwicklung der Menschheit
opfern, um einer höheren Art, als der Mensch ist, zum Dasein zu helfen?
(Ebd., S. 582).Vom Range. Die scheckliche Konsequenz
der »Gleichheit« schließlich glaubt jeder das Recht zu
haben zu jedem Problem. Es ist alle Rangordnung verlorengegangenen. (Ebd.,
S. 582).Eine Kriegserklärung der höheren Menschen an
die Massen ist nötig! Überall geht das Mittelmäßige zusammen,
um sich zum Hernn zu machen! Alles, was verweichlicht, sanft macht, das »Volk«
zur Geltung bringt oder das »Weibliche«, wirkt zugunsten ... der Herrschaft
der neideren Menschen. Aber wir wollen Repressalien übern und diese ganze
Wirtschaft (die in Europa mit dem Chrisrtentum anhebt) ans Licht und vors Gericht
brngen. (Ebd., S. 582-583).Es bedarf einer Lehre, starkt
genug, um züchtend zu wirken: stärkend für die Starken. lähmend
und zerbrechend für die Weltmüden. Die Vernichtung der verfallenden
Rassen. Verfall Europas. Die Vernichtung der sklavenhaften Wertschätzungen.
Die Herrschaft über die Erde, als Mittel zur Erzeugung eines höheren
Typus. Die Vernichtung der Tartüfferie, welche »Moral«
heißt (das Christentum als eine hysterische Art von Ehrlichkeit hierin:
Augustin, Bunyan). Die Vernichtung ... des Systems, vermöge dessen
die niedrigsten Naturen sich als Gesetz den höheren vorschreiben.
Die Vernichtung der Mittelmäßigkeit und ihrer Geltung. (Die Einseitigen,
einzelne Völker; Fülle der Natur zu erstreben durch Paarung von
Gegensätzen: Rassen-Mischungen dazu.) Der neue Mut keine apriorischen
Wahrheiten (solche suchten die an Glauben Gewöhnten!), sondern freie Unterordnung
unter einen herrschenden Gedanken, der seine Zeit hat, z.B. Zeit als Eigenschaft
des Raumes usw.. (Ebd., S. 583).
4.1.2) Die Starken und die Schwachen
Der Begriff »starker
und schwacher Mensch« reduziert sich darauf, daß im ersten Falle
viel Kraft vererbt ist er ist eine Summe: im andern noch wenig
( unzureichende Vererbung, Zersplitterung des Ererbten). Die Schwäche
kann ein Anfangs-Phänomen sein: »noch wenig«; oder
ein End-Phänomen: »nicht mehr«. Der Ansatz-Punkt ist der,
wo große Kraft ist, wo Kraft auszugeben ist. Die Masse, als die
Summe der Schwachen, reagiert langsam; wehrt sich gegen vieles, für das
sie zu schwach ist von dem sie keinen Nutzen haben kann; schafft nicht,
geht nicht voran. Dies gegen die Theorie, welche das starke Individuum
leugnet und meint »die Masse tut's«. Es ist die Differenz wie zwischen
getrennten Geschlechtern: es können vier, fünf Generationen zwischen
dem Tätigen und der Masse liegen eine chronologische Differenz.
Die Werte der Schwachen sind obenan, weil die Starken sie übernommen
haben, um damit zu leiten. (Ebd., S. 583-584).Warum
die Schwachen siegen. In summa: die Kranken und Schwachen haben mehr
Mitgefühl, sind »menschlicher« : die Kranken und Schwachen
haben mehr Geist, sind wechselnder, vielfacher, unterhaltender boshafter:
die Kranken allein haben die Bosheit erfunden. (Eine krankhafte Frühreife
häufig bei Rhachitischen, Skrophulosen und Tuberkulosen .)Die
Kranken und Schwachen haben die Faszination für sich gehabt: sie sind interessanter
als die Gesunden: der Narr und der Heilige die zwei interessantesten Arten
Mensch ..., in enger Verwandtschaft das »Genie«. Die großen
»Abenteurer und Verbrecher« und alle Menschen, die gesündesten
voran, sind gewisse Zeiten ihres Lebens krank die großen Gemütsbewegungen,
die Leidenschaft der Macht, die Liebe, die Rache sind von tiefen Störungen
begleitet. Und was die décadence betrifft, so stellt sie jeder Mensch,
der nicht zu früh stirbt, in jedem Sinne beinahe dar, er kennt also
auch die Instinkte, welche zu ihr gehören, aus Erfahrung für
die Hälfte fast jedes Menschenlebens ist der Mensch décadent.Endlich:
das Weib! Die eine Hälfte der Menschheit ist schwach, typisch-krank,
wechselnd, unbeständig das Weib braucht die Stärke, um sich an
sie zu klammern, und eine Religion der Schwäche, welche es als göttlich
verherrlicht, schwach zu sein, zu lieben, demütig zu sein : oder besser,
es macht die Starken schwach es herrscht, wenn es gelingt, die
Starken zu überwältigen. Das Weib hat immer mit den Typen der
décadence, den Priestern, zusammen konspiriert gegen die »Mächtigen«,
die »Starken«, die Männer . Das Weib bringt die
Kinder beiseite für den Kultus der Pietät, des Mitleids, der Liebe
die Mutter repräsentiert den Altruismus überzeugend.Endlich:
die zunehmende Zivilisation, die zugleich notwendig auch die Zunahme der
morbiden Elemente, des Neurotisch-Psychiatrischen und des Kriminalistischen
mit sich bringt. Eine Zwischen-Spezies entsteht, der Artist, von der Kriminalität
der Tat durch Willensschwäche und soziale Furchtsamkeit abgetrennt, insgleichen
noch nicht reif für das Irrenhaus, aber mit seinen Fühlhörnern
in beide Sphären neugierig hineingreifend: diese spezifische Kulturpflanze,
der moderne Artist, Maler, Musiker, vor allem Romancier, der für seine Art,
zu sein, das sehr uneigentliche Wort »Naturalismus« handhabt... Die
Irren, die Verbrecher und die »Naturalisten« nehmen zu: Zeichen einer
wachsenden und jäh vorwärts eilenden Kultur d.h. der Ausschuß,
der Abfall, die Auswurfstoffe gewinnen Importanz, das Abwärts hält
Schritt.Endlich: der soziale Mischmasch,
Folge der Revolution, der Herstellung gleicher Rechte, des Aberglaubens an »gleiche
Menschen«. Dabei mischen sich die Träger der Niedergangs-Instinkte
(des Ressentiments, der Unzufriedenheit, des Zerstörer-Triebes, des Anarchismus
und Nihilismus), eingerechnet der Sklaven-Instinkte, der Feigheits-, Schlauheits-
und Kanaillen-Instinkte der lange unten gehaltenen Schichten in alles Blut aller
Stände hinein: zwei, drei Geschlechter darauf ist die Rasse nicht mehr
zu erkennen (darauf steuern derzeit dle Abendländer
zu, wie man deutlich sehen kann! HB)
alles ist verpöbelt. Hieraus resultiert ein Gesamtinstinkt
gegen die Auswahl, gegen das Privilegium jeder Art, von einer Macht
und Sicherheit, Härte, Grausamkeit der Praxis, daß in der Tat sich
alsbald selbst die Privilegierten unterwerfen was noch Macht festhalten
will, schmeichelt dem Pöbel, arbeitet mit dem Pöbel, muß den Pöbel
auf seiner Seite haben , die »Genies« voran: sie werden Herolde
der Gefühle, mit denen man Massen begeistert die Note des Mitleids,
der Ehrfurcht selbst vor allem, was leidend, niedrig, verachtet, verfolgt gelebt
hat, klingt über alle andern Noten weg (Typen: Victor Hugo und Richard Wagner).
Die Heraufkunft des Pöbels bedeutet noch einmal die Heraufkunft der
alten Werte.Bei einer solchen extremen Bewegung
in Hinsicht auf Tempo und Mittel, wie sie unsre Zivilisation darstellt,
verlegt sich das Schwergewicht der Menschen: der Menschen, auf die es am meisten
ankommt, die es gleichsam auf sich haben, die ganze große Gefahr einer solchen
krankhaften Bewegung zu kompensieren es werden die Verzögerer par
excellence, die Langsam-Aufnehmenden, die Schwer-Loslassenden, die Relativ-Dauerhaften
inmitten dieses ungeheuren Wechselns und Mischens von Elementen sein. Das Schwergewicht
fällt unter solchen Umständen notwendig den Mediokren zu: gegen
die Herrschaft des Pöbels und der Exzentrischen (beide meist verbündet)
konsolidiert sich die Mediokrität, als die Bürgschaft und Trägerin
der Zukunft. Daraus erwächst für die Ausnahme-Menschen ein neuer
Gegner oder aber eine neue Verführung. Gesetzt, daß sie sich
nicht dem Pöbel anpassen und dem Instinkte der »Enterbten« zu
Gefallen Lieder singen, werden sie nötig haben, »mittelmäßig«
und »gediegen« zu sein. Sie wissen: die mediocritas ist auch aurea
sie allein sogar verfügt über Geld und ( über alles,
was glänzt ....) .... Und noch einmal gewinnt die alte Tugend, und
überhaupt die ganze verlebte Welt des Ideals eine begabte Fürsprecherschaft
.... Resultat: die Mediokrität bekommt Geist, Witz, Genie sie wird
unterhaltend, sie verführt.Resultat.
Eine hohe Kultur kann nur stehen auf einem breiten Boden, auf einer stark
und gesund konsolidierten Mittelmäßigkeit. In ihrem Dienste und von
ihr bedient arbeitet die Wissenschaft und selbst die Kunst. Die Wissenschaft
kann es sich nicht besser wünschen: sie gehört als solche zu einer mittleren
Art Mensch sie ist deplaziert unter Ausnahmen , sie hat nichts Aristokratisches
und noch weniger etwas Anarchistisches in ihren Instinkten. Die Macht der
Mitte wird sodann aufrecht gehalten durch den Handel, vor allem den Geldhandel:
der Instinkt der Großfinanziers geht gegen alles Extreme die Juden
sind deshalb einstweilen die konservierendste Macht in unserm so bedrohten
und unsicheren Europa (als ob nur Juden Großfinanziers
wären! Nein, unter ihnen gab und gibt es mehr Revolutionäre und Sozialisten,
als es den Anschein hatte und hat! HB)
. Sie können weder Revolutionen brauchen, noch Sozialismus, noch Militarismus:
wenn sie Macht haben wollen und brauchen, auch über die revolutionäre
Partei, so ist dies nur eine Folge des Vorhergesagten und nicht im Widerspruch
dazu. Sie haben nötig, gegen andere extreme Richtungen gelegentlich Furcht
zu erregen dadurch, daß sie zeigen, was alles in ihrer Hand steht.
Aber ihr Instinkt selbst ist unwandelbar konservativ und »mittelmäßig«
.... Sie wissen überall, wo es Macht gibt, mächtig zu sein: aber die
Ausnützung ihrer Macht geht immer in einer Richtung. Das Ehren-Wort für
mittelmäßig ist bekanntlich das Wort »liberal«Besinnung.
Es ist unsinnig, vorauszusetzen, daß dieser ganze Sieg der Werte
antibiologisch sei: man muß suchen, ihn zu erklären aus einem Interesse
des Lebens, zur Aufrechterhaltung des Typus »Mensch«
selbst durch diese Methodik der Überherrschaft der Schwachen und Schlechtweggekommenen
: im andern Falle existierte der Mensch nicht mehr? Problem
Die Steigerung des Typus verhängnisvoll
für die Erhaltung der Art? Warum? Es
zeigen die Erfahrungen der Geschichte: die starken Rassen dezimieren sich
gegenseitig: durch Krieg, Machtbegierde, Abenteuer; die starken Affekte:
die Vergeudung (es wird Kraft nicht mehr kapitalisiert, es entsteht
die geistige Störung durch die übertriebene Spannung); ihre Existenz
ist kostspielig, kurz sie reiben sich untereinander auf ; es treten
Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit ein: alle großen
Zeiten werden bezahlt .... Die Starken sind hinterdrein schwächer, willenloser,
absurder, als die durchschnittlich-Schwachen.Es
sind verschwenderische Rassen. Die »Dauer« an sich hätte
ja keinen Wert: man möchte wohl eine kürzere, aber wertreichere
Existenz der Gattung vorziehen. Es bliebe übrig, zu beweisen, daß
selbst so ein reicherer Wertertrag erzielt würde als im Fall der kürzeren
Existenz; d.h. der Mensch als Aufsummierung von Kraft gewinnt ein viel höheres
Quantum von Herrschaft über die Dinge, wenn es so geht, wie es geht ....
Wir stehen vor einem Problem der Ökonomie
(Ebd., S. 584-589).Eine Gesinnung, die sich »Idealismus«
nennt und die der Mittelmäßigkeit nicht erlauben will, mittelmäßig
zu sein, und dem Weibe nicht, Weib zu sein! Nicht uniformieren! Uns klarmachen,
wie teuer eine Tugend zu stehen kommt: und daß Tugend nichts Durchschnittlich-Wünschenswertes,
sondern eine noble Tollheit, eine schöne Ausnahme, mit dem Vorrecht,
stark-gestimmt zu werden. (Ebd., S. 589).Die
Notwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren
Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester ineinander verschlungenen
»Maschinerie« der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung
gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxus-Überschusses
der Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höherer Typus ans
Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der
Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein Gleichnis für diesen Typus ist,
wie man weiß, das Wort »Übermensch«.Auf
jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt überschaubar ist, entsteht die Anpassung,
die Abflachung, das höhere Chinesentum, die Instinkt-Bescheidenheit, die
Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen eine Art Stillstands-Niveau
des Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirtschafts-Gesamtverwaltung
der Erde, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren
besten Sinn finden: als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren,
immer feiner »anzupassenden« Rädern; als ein immer wachsendes
Überflüssig-werden aller dominierenden und kommandierenden Elemente;
als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte,
Minimal-Werte darstellen.Im Gegensatz zu
dieser Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine spezialisiertere Nützlichkeit
bedarf es der umgekehrten Bewegung der Erzeugung des synthetischen,
des summierenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene
Machinalisierung der Menschheit eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell,
auf dem er seine höhere Form zu sein sich erfinden kann.Er
braucht die Gegnerschaft der Menge, der »Nivellierten«, das Distanz-Gefühl
im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere
Form des Aristokratismus ist die der Zukunft. Moralisch geredet, stellt
jene Gesamt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein Maximum in
der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt solche voraus, derentwegen diese
Ausbeutung Sinn hat. Im anderen Falle wäre sie tatsächlich bloß
die Gesamt-Verringerung, Wert-Verringerung des Typus Mensch, ein Rückgangs-Phänomen
im größten Stile. Man sieht,
was ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus; wie als ob
mit den wachsenden Unkosten aller auch der Nutzen aller notwendig wachsen müßte.
Das Gegenteil scheint mir der Fall: die Unkosten aller summieren sich zu einem
Gesamt-Verlust: der Mensch wird geringer so daß man nicht mehr weiß,
wozu überhaupt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein Wozu? ein neues
Wozu? das ist es, was die Menschheit nötig hat. (Ebd., S. 589-591).Einsicht
in die Zunahme der Gesamt-Macht: ausrechnen, inwiefern auch der Niedergang
von Einzelnen, von Ständen, von Zeiten, Völkern einbegriffen ist
in diesem Wachstum. Verschiebung des Schwergewichts einer Kultur. Die Unkosten
jedes großen Wachstums: wer sie trägt! Inwiefern sie jetzt ungeheuer
sein müssen. (Ebd., S. 591).Gesamt-Anblick
des zukünftigen Europäers: derselbe als das intelligenteste Sklaventier,
sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Exzeß neugierig, vielfach,
verzärtelt, willensschwach ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos.
Wie möchte sich aus ihm eine stärkere Art herausheben? Eine solche
mit klassischem Geschmack? Der klassische Geschmack: das ist der Wille zur Vereinfachung,
Verstärkung, zur Sichtbarkeit des Glücks, zur Furchtbarkeit, der Mut
zur psychologischen Nacktheit ( die Vereinfachung ist eine Konsequenz des
Willens zur Verstärkung; das Sichtbar-werdenlassen des Glücks, insgleichen
der Nacktheit, eine Konsequenz des Willens zur Furchtbarkeit ...). Um sich aus
jenem Chaos zu dieser Gestaltung emporzukämpfen dazu bedarf
es einer Nötigung: man muß die Wahl haben, entweder zugrunde
zu gehn oder sich durchzusetzen. Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus
furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind die Barbaren
des zwanzigsten Jahrhunderts? Offenbarwerden sie erst nach ungeheuren sozialistischen
Krisen sichtbar werden und sich konsolidieren es werden die Elemente sein,
die der größten Härte gegen sich selber fähig sind,
und den längsten Willen garantieren können. (Ebd., S. 591-592).Die
mächtigsten und gefährlichsten Leidenschaften des Menschen, an denen
er am leichtesten zugrunde geht, sind so gründlich in Acht getan, daß
damit die mächtigsten Menschen selber unmöglich geworden sind oder sich
als böse, als »schädlich und unerlaubt« fühlen
mußten. Diese Einbuße ist groß, aber notwendig bisher gewesen:
jetzt, wo eine Menge Gegenkräfte großgezüchtet sind durch zeitweilige
Unterdrückung jener Leidenschaften (von Herrschsucht, Lust an der Verwandlung
und Täuschung) ist deren Entfesselung wieder möglich: sie werden nicht
mehr die alte Wildheit haben. Wir erlauben uns die zahme Barbarei: man sehe unsre
Künstler und Staatsmänner an. (Ebd., S. 592).Die
Wurzel alles Üblen: daß die sklavische Moral der Demut, Keuschheit,
Selbstlosigkeit, absoluten Gehorsams gesiegt hat die herrschenden Naturen
wurden dadurch1. zur Heuchelei,2.
zur Gewissensqual verurteilt die schaffenden Naturen fühlten sich
als Aufrührer gegen Gott, unsicher und gehemmt durch die ewigen Werte.Die
Barbaren zeigten, daß Maßhalten-können bei ihnen nicht
zu Hause war: sie fürchteten und verlästerten die Leidenschaften und
Triebe der Natur ebenso der Anblick der herrschenden Cäsaren und Stände.
Es entstand andrerseits der Verdacht, daß alle Mäßigung eine
Schwäche sei, oder Alt- und Müdewerden ( so hat Larochefoucauld
den Verdacht, daß »Tugend« ein schönes Wort sei bei solchen,
welchen das Laster keine Lust mehr mache). Das Maßhalten selber war als
Sache der Härte, Selbstbezwingung, Askese geschildert, als Kampf mit dem
Teufel usw.. Das natürliche Wohlgefallen der ästhetischen Natur am Maße,
der Genuß am Schönen des Maßes war übersehen
oder verleugnet, weil man eine anti-eudämonistische Moral wollte.
Der Glaube an die Lust im Maßhalten fehlte bisher diese Lust
des Reiters auf feurigem Rosse! Die Mäßigkeit schwacher Naturen
mit der Mäßigung der starken verwechselt! In summa: die besten
Dinge sind verlästert worden, weil die Schwachen oder die unmäßigen
Schweine ein schlechtes Licht darauf warfen und die besten Menschen sind
verborgen geblieben und haben sich oft selber verkannt.
(ebd., S. 592-593).Die Kirche hat deutsche Kaiser auf Grund ihrer
Laster in Bann getan: als ob ein Mönch oder Priester über das mitreden
dürfte, was ein Friedrich der Zweite von sich fordern darf. Ein Don Juan
wird in die Hölle geschickt: das ist sehr naiv. Hat man bemerkt, daß
im Himmel alle interessanten Menschen fehlen? ... Nur ein Wink für die Weiblein,
wo sie ihr Heil am besten finden. Denkt man ein wenig konsequent und außerdem
mit einer vertieften Einsicht in das, was ein »großer Mensch«
ist, so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Kirche alle »großen
Menschen« in die Hölle schickt , sie kämpft gegen alle
»Größe des Menschen. (Ebd., S. 594).Die
Rechte, die ein Mensch sich nimmt, stehn im Verhältnis zu den Pflichten,
die er sich stellt, zu den Aufgaben, denen er sich gewachsen fühlt.
Die allermeisten Menschen sind ohne Recht zum Dasein, sondern ein Unglück
für die höheren. (Ebd., S. 594-595).Mißverständnis
des Egoismus: von seiten der gemeinen Naturen, welche gar nichts von der Eroberungslust
und Unersättlichkeit der großen Liebe wissen, ebenso von den ausströmenden
Kraft-Gefühlen, welche überwältigen, zu sich zwingen, sich ans
Herz legen wollen der Trieb des Künstlers nach seinem Material. Oft
auch nur sucht der Tätigkeitssinn nach einem Terrain. Im gewöhnlichen
»Egoismus« will gerade das »Nicht-ego«, das tiefe Durchschnittswesen,
der Gattungsmensch seine Erhaltung das empört, falls es von den Seltneren,
Feineren und weniger Durchschnittlichen wahrgenommen wird. Denn diese urteilen:
»Wir sind die Edleren! Es liegt mehr an unserer Erhaltung
als an der jenes Viehs!« (Ebd., S. 595).Die Entartung
der Herrscher und der herrschenden Stände hat den größten
Unfug in der Geschichte gestiftet! Ohne die römischen Cäsaren und die
römische Gesellschaft wäre das Christentum nicht zur Herrschaft gekommen.
Wenn die geringeren Menschen der Zweifel anfällt, ob es höhere Menschen
gibt, da ist die Gefahr groß! Und man endet zu entdecken, daß es auch
bei den geringen, unterworfenen, geistesarmen Menschen Tugenden gibt und daß
vor Gott die Menschen gleich stehn: was das non plus ultra des Blödsinns
bisher auf Erden gewesen ist! Nämlich die höheren Menschen maßen
sich selber schließlich nach dem Tugend-Maßstab der Sklaven
fanden sich »stolz« usw., fanden alle ihre höheren Eigenschaften
als verwerflich. Als Nero und Caracalla oben saßen, entstand die Paradoxie
»der niedrigste Mensch ist mehr wert als der da oben!« Und ein
Bild Gottes brach sich Bahn, welches möglichst entfernt war vom Bilde
der Mächtigsten der Gott am Kreuze! (Ebd., S. 595-596).Der
höhere Mensch und der Herden-Mensch. Wenn die großen Menschen
fehlen, so macht man aus den vergangenen großen Menschen Halbgötter
oder ganze Götter: das Ausbrechen von Religion beweist, daß der Mensch
nicht mehr am Menschen Lust hat ( »und am Weibe auch nicht«
mit Hamlet). Oder: man bringt viele Menschen auf einen Haufen, als Parlamente,
und wünscht, daß sie gleich tyrannisch wirken.Das »Tyrannisierende«
ist die Tatsache großer Menschen: sie machen den Geringeren dumm.
(Ebd., S. 596).Bis zu welchem Grade die Unfähigkeit
eines pöbelhaften Agitators der Menge geht, sich den Begriff »höhere
Natur« klar zu machen, dafür gibt Buckle das beste Beispiel ab. Die
Meinung, welche er so leidenschaftlich bekämpft daß »große
Männer«, Einzelne, Fürsten, Staatsmänner, Genies, Feldherrn
die Hebel und Ursachen aller großen Bewegungen sind wird von ihm
instinktiv dahin mißverstanden, als ob mit ihr behauptet würde, das
Wesentliche und Wertvolle an einem solchen »höheren Menschen«
liege eben in der Fähigkeit, Massen in Bewegung zu setzen: kurz in ihrer
Wirkung .... Aber die »höhere Natur« des großen
Mannes liegt im Anderssein, in der Unmitteilbarkeit, in der Rangdistanz
nicht in irgendwelchen Wirkungen: und ob er auch den Erdball erschütterte.
(Ebd., S. 596-597).Die Revolution ermöglichte Napoleon: das
ist ihre Rechtfertigung. Um einen ähnlichen Preis würde man den anarchistischen
Einsturz unsrer ganzen Zivilisation wünschen müssen. Napoleon ermöglichte
den Nationalismus: das ist dessen Entschuldigung.Der Wert eines Menschen (abgesehen,
wie billig, von Moralität und Unmoralität: denn mit diesen Begriffen
wird der Wert eines Menschen noch nicht einmal berührt) liegt nicht in seiner
Nützlichkeit: denn er bestünde fort, selbst wenn es niemanden gäbe,
dem er zu nützen wüßte. Und warum könnte nicht gerade der
Mensch, von dem die verderblichsten Wirkungen ausgingen, die Spitze der ganzen
Spezies Mensch sein: so hoch, so überlegen, daß an ihm alles vor Neid
zugrunde ginge? (Ebd., S. 597).Den Wert eines Menschen danach
abschätzen, was er den Menschen nützt oder kostet oder schadet: das
bedeutet ebensoviel und ebensowenig, als ein Kunstwerk abschätzen je nach
den Wirkungen, die es tut. Aber damit ist der Wert des Menschen im Vergleich
mit anderen Menschen gar nicht berührt. Die »moralische Wertschätzung«,
soweit sie eine soziale ist, mißt durchaus den Menschen nach seinen
Wirkungen. Ein Mensch mit seinem eigenen Geschmack auf der Zunge, umschlossen
und versteckt durch seine Einsamkeit, unmitteilbar, unmitteilsam ein unausgerechneter
Mensch, also ein Mensch einer höheren, jedenfalls anderen Spezies:
wie wollt ihr den abwerten können, da ihr ihn nicht kennen könnt, nicht
vergleichen könnt? Die moralische Abwertung hat die größte
Urteils-Stumpfheit im Gefolge gehabt: der Wert eines Menschen an sich ist unterschätzt,
fast übersehen, fast geleugnet. Rest der naiven Teleologie: der Wert
des Menschen nur in Hinsicht auf die Menschen. (Ebd., S. 597-598).Die
moralische Präokkupation stellt einen Geist tief in der Rangordnung:
damit fehlt ihm der Instinkt des Sonderrechts, das a parte, das Freiheits-Gefühl
der schöpferischen Naturen, der »Kinder Gottes« (oder des Teufels
). Und gleichgültig, ob er herrschende Moral predigt oder sein Ideal
zur Kritik der herrschenden Moral anlegt: er gehört damit zur Herde
und sei es auch als deren oberster Notbedarf, als »Hirt«.
(Ebd., S. 598).Ersatz der Moral durch den Willen
zu unserem Ziele, und folglich zu dessen Mitteln. (Ebd., S.
598).Zur Rangordnung. Was ist am typischen Menschen
mittelmäßig? Daß er nicht die Kehrseite der Dinge als notwendig
versteht: daß er die Übelstände bekämpft, wie als ob man
ihrer entraten könne; daß er das eine nicht mit dem anderen hinnehmen
will daß er den typischen Charakter eines Dinges, eines Zustandes,
einer Zeit, einer Person verwischen und auslöschen möchte, indem er
nur einen Teil ihrer Eigenschaften gutheißt und die andern abschaffen möchte.
Die »Wünschbarkeit« der Mittelmäßigen ist das, was
von uns anderen bekämpft wird: das Ideal gefaßt als etwas, an
dem nichts Schädliches, Böses, Gefährliches, Fragwürdiges,
Vernichtendes übrigbleiben soll. Unsere Einsicht ist die umgekehrte: daß
mit jedem Wachstum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß, daß
der höchste Mensch, gesetzt daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der
Mensch wäre, welcher den Gegensatz-Charakter des Daseins am stärksten
darstellte als dessen Glorie und einzige Rechtfertigung... Die gewöhnlichen
Menschen dürfen nur ein ganz kleines Eckchen und Winkelchen dieses Naturcharakters
darstellen: sie gehen alsbald zugrunde, wenn die Vielfachheit der Elemente und
die Spannung der Gegensätze wächst, d. h. die Vorbedingung für
die Größe des Menschen. Daß der Mensch besser und böser
werden muß, das ist meine Formel für diese Unvermeidlichkeit. Die meisten
stellen den Menschen als Stücke und Einzelheiten dar: erst wenn man sie zusammenrechnet,
so kommt ein Mensch heraus. Ganze Zeiten, ganze Völker haben in diesem Sinne
etwas Bruchstückhaftes; es gehört vielleicht zur Ökonomie der Menschen-Entwicklung,
daß der Mensch sich stückweise entwickelt. Deshalb soll man durchaus
nicht verkennen, daß es sich trotzdem nur um das Zustande kommen des synthetischen
Menschen handelt: daß die niedrigen Menschen, die ungeheure Mehrzahl bloß
Vorspiele und Einübungen sind, aus deren Zusammenspiel hie und da der ganze
Mensch entsteht, der Meilenstein-Mensch, welcher anzeigt, wie weit bisher
die Menschheit vorwärts gekommen. Sie geht nicht in einem Striche vorwärts;
oft geht der schon erreichte Typus wieder verloren ( wir haben z. B. mit
aller Anspannung von drei Jahrhunderten noch nicht den Menschen der Renaissance
wieder erreicht, und hinwiederum blieb der Mensch der Renaissance hinter dem antiken
Menschen zurück). (Ebd., S. 598-599).Man erkennt
die Überlegenheit des griechischen Menschen, des Renaissance-Menschen
an aber man möchte ihn ohne seine Ursachen und Bedingungen haben.
(Ebd., S. 600).Die »Reinigung des Geschmacks«
kann nur die Folge einer Verstärkung des Typus sein. Unsre Gesellschaft
von heute repräsentiert nur die Bildung; der Gebildete fehlt. Der
große synthetische Mensch fehlt: in dem die verschiedenen Kräfte
zu einem Ziele unbedenklich ins Joch gespannt sind. Was wir haben, ist der vielfache
Mensch, das interessanteste Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat: aber
nicht das Chaos vor der Schöpfung der Welt, sondern hinter ihr Goethe
als schönster Ausdruck des Typus ( ganz und gar kein Olympier!).
(Ebd., S. 600).Händel, Leibniz, Goethe, Bismarck für
die deutsche starke Art charakteristisch. Unbedenklich zwischen Gegensätzen
lebend, voll jener geschmeidigen Stärke, welche sich vor Überzeugungen
und Doktrinen hütet, indem sie eine gegen die andere benutzt und sich selber
die Freiheit vorbehält. (Ebd., S. 600).Soviel habe ich
begriffen: wenn man das Entstehen großer und seltener Menschen abhängig
gemacht hätte von der Zustimmung der vielen (einbegriffen, daß diese
wüßten, welche Eigenschaften zur Größe gehören,
und insgleichen, auf wessen Unkosten alle Größe sich entwickelt)
nun, es hätte nie einen bedeutenden Menschen gegeben! Daß der
Gang der Dinge unabhängig von der Zustimmung der allermeisten seinen
Weg nimmt: daran liegt es, daß einiges Erstaunliche sich auf der Erde eingeschlichen
hat. (Ebd., S. 600-601).Die Rangordnung der Menschen-Werte.
a) Man soll einen Menschen nicht nach einzelnen
Werken abschätzen. Epidermal-Handlungen. Nichts ist seltener als eine
Personal-Handlung. Ein Stand, ein Rang, eine Volks-Rasse, eine Umgebung, ein Zufall
alles drückt sich eher noch in einem Werke oder Tun aus als eine »Person«.b)
Man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele Menschen »Personen«
sind. Und dann sind manche auch mehrere Personen, die meisten sind keine.
Überall, wo die durchschnittlichen Eigenschaften überwiegen, auf die
es ankommt, daß ein Typus fortbesteht, wäre Person-Sein eine
Vergeudung, ein Luxus, hätte es gar keinen Sinn, nach einer »Person«
zu verlangen. Es sind Träger, Transmissions-Werkzeuge.c)
Die »Person« ein relativ isoliertes Faktum; in Hinsicht auf
die weit größere Wichtigkeit des Fortflusses und der Durchschnittlichkeit
somit beinahe etwas Widernatürliches. Zur Entstehung der Person gehört
eine zeitige Isolierung, ein Zwang zu einer Wehr- und Waffen-Existenz, etwas wie
Einmauerung, eine größere Kraft des Abschlusses; und, vor allem, eine
viel geringere Impressionabilität, als sie der mittlere Mensch, dessen
Menschlichkeit kontagiös ist, hat.Erste
Frage in betreff der Rangordnung: wie solitär oder wie
herdenhaft jemand ist. (Im letztern Falle liegt sein Wert in den Eigenschaften,
die den Bestand seiner Herde, seines Typus sichern; im andern Falle in dem, was
ihn abhebt, isoliert, verteidigt und solitär ermöglicht.)Folgerung:
man soll den solitären Typus nicht abschätzen nach dem herdenhaften,
und den herdenhaften nicht nach dem solitären.Aus
der Höhe betrachtet sind beide notwendig; insgleichen ist ihr Antagonismus
notwendig, und nichts ist mehr zu verbannen als jene »Wünschbarkeit«,
es möchte sich etwas Drittes aus beiden entwickeln (»Tugend«
als Hermaphroditismus). Das ist so wenig »wünschbar« als die
Annäherung und Aussöhnung der Geschlechter. Das Typische fortentwickeln,
die Kluft immer tiefer aufreißen .... Begriff der Entartung
in beiden Fällen: wenn die Herde den Eigenschaften der solitären Wesen
sich nähert und diese den Eigenschaften der Herde kurz, wenn sie sich
annähern. Dieser Begriff der Entartung ist abseits von der moralischen
Beurteilung. (Ebd., S. 601-602).Wo man die stärkeren
Naturen zu suchen hat. Das Zugrundegehen und Entarten der solitären
Spezies ist viel größer und furchtbarer: sie haben die Instinkte der
Herde, die Tradition der Werte gegen sich; ihre Werkzeuge zur Verteidigung, ihre
Schutz-Instinkte sind von vornherein nicht stark, nicht sicher genug es
gehört viel Gunst des Zufalls dazu, daß sie gedeihen (
sie gedeihen in den niedrigsten und gesellschaftlich preisgegebensten Elementen
am häufigsten; wenn man nach Person sucht, dort findet man sie, um
wie viel sicherer als in den mittleren Klassen!). Der Stände- und Klassenkampf,
der auf »Gleichheit der Rechte« abzielt ist er ungefähr
erledigt, so geht der Kampf los gegen die Solitär-Person. (In
einem gewissen Sinne kann dieselbe sich am leichtesten in einer demokratischen
Gesellschaft erhalten und entwickeln: dann, wenn die gröberen Verteidigungs-Mittel
nicht mehr nötig sind und eine gewisse Gewöhnung an Ordnung, Redlichkeit,
Gerechtigkeit, Vertrauen zu den Durchschnittsbedingungen gehört.) Die Stärksten
müssen am festesten gebunden, beaufsichtigt, in Ketten gelegt und überwacht
werden: so will es der Instinkt der Herde. Für sie ein Régime der
Selbstüberwältigung, des asketischen Abseits oder der »Pflicht«
in abnützender Arbeit, bei der man nicht mehr zu sich selber kommt.
(Ebd., S. 602-603).Ich versuche eine ökonomische Rechtfertigung
der Tugend. Die Aufgabe ist, den Menschen möglichst nutzbar zu machen
und ihn, soweit es irgendwie angeht, der unfehlbaren Maschine zu nähern:
zu diesem Zwecke muß er mit Maschinen-Tugenden ausgestattet werden
( er muß die Zustände, in welchen er machinal-nutzbar arbeitet,
als die höchstwertigen empfinden lernen: dazu tut not, daß ihm die
anderen möglichst verleidet, möglichst gefährlich und verrufen
gemacht werden). Hier ist der erste Stein des Anstoßes die Langeweile,
die Einförmigkeit, welche alle machinale Tätigkeit mit sich bringt.
Diese ertragen zu lernen und nicht nur zu ertragen , die Langeweile
von einem höheren Reiz umspielt sehen lernen: dies war bisher die Aufgabe
alles höheren Schulwesens. Etwas lernen, das uns nichts angeht; und eben
darin, in diesem »objektiven« Tätigsein, seine »Pflicht«
empfinden; die Lust und die Pflicht voneinander getrennt abschätzen lernen
das ist die unschätzbare Aufgabe und Leistung des höheren Schulwesens.
Der Philologe war deshalb bisher der Erzieher an sich: weil seine Tätigkeit
selber das Muster einer bis zum Großartigen gehenden Monotonie der Tätigkeit
abgibt; unter seiner Fahne lernt der Jüngling »ochsen«: erste
Vorbedingung zur einstmaligen Tüchtigkeit machinaler Pflichterfüllung
(als Staats-Beamter, Ehegatte, Büro-Sklave, Zeitungsleser und Soldat). Eine
solche Existenz bedarf vielleicht einer philosophischen Rechtfertigung und Verklärung
mehr noch als jede andere: die angenehmen Gefühle müssen von
irgendeiner unfehlbaren Instanz aus überhaupt als niedrigeren Ranges abgewer
tet werden; die »Pflicht an sich«, vielleicht sogar das Pathos der
Ehrfurcht in Hinsicht auf alles, was unangenehm ist und diese Forderung
als jenseits aller Nützlichkeit. Ergötzlichkeit, Zweckmäßigkeit
redend, imperativisch... Die machinale Existenzform als höchste, ehrwürdigste
Existenzform, sich selbst anbetend (Typus: Kant als Fanatiker des Formalbegriffs
»du sollst«). (Ebd., S. 603-604).Die ökonomische
Abschätzung der bisherigen Ideale d.h. Auswahl bestimmter Affekte
und Zustände, auf Unkosten anderer ausgewählt und großgezüchtet.
Der Gesetzgeber (oder der Instinkt der Gesellschaft) wählt eine Anzahl Zustände
und Affekte aus, mit deren Tätigkeit eine reguläre Leistung verbürgt
ist (ein Machinalismus von Leistungen nämlich als Folge von den regelmäßigen
Bedürfnissen jener Affekte und Zustände).Gesetzt, daß diese Zustände
und Affekte Ingredienzen des Peinlichen enthalten, so muß ein Mittel gefunden
werden, dieses Peinliche durch eine Wertvorstellung zu überwinden, die Unlust
als wertvoll, also in höherem Sinne lustvoll empfinden zu machen. In Formel
gefaßt: »wie wird etwas Unangenehmes angenehm?« Zum Beispiel
wenn in der Kraft, Macht, Selbstüberwindung unser Gehorsam, unsre Einordnung
in das Gesetz, zu Ehren kommt. Insgleichen unser Gemeinsinn. Nächstensinn,
Vaterlandssinn, unsre »Vermenschlichung«, unser »Altruismus«,
»Heroismus«. Daß man die unangenehmen Dinge gern tut
Absicht der Ideale. (Ebd., S. 604-605).Die Verkleinerung
des Menschen muß lange als einziges Ziel gelten: weil erst ein breites
Fundament zu schaffen ist, damit eine stärkere Art Mensch darauf stehen
kann. (: Inwiefern bisher jede verstärkte Art Mensch auf einem Niveau
der niedrigeren stand ) (Ebd., S. 605).Absurde
und verächtliche Art des Idealismus, welche die Mediokrität nicht medioker
haben will und, statt an einem Ausnahme-Sein einen Triumph zu fühlen, entrüstet
ist über Feigheit, Falschheit, Kleinheit und Miserabilität. Man soll
das nicht anders wollen! und die Kluft größer aufreißen!
Man soll die höhere Art zwingen, sich abzuscheiden durch die
Opfer, die sie ihrem Sein zu bringen hat. Hauptgesichtspunkt: Distanzen aufreißen,
aber keine Gegensätze schaffen. Die Mittelgebilde ablösen
und im Einfluß verringern: Hauptmittel, um Distanzen zu erhalten.
(Ebd., S. 605).Wie dürfte man den Mittelmäßigen
ihre Mittelmäßigkeit verleiden! Ich tue, man sieht es, das Gegenteil:
jeder Schritt weg von ihr führt so lehre ich ins Unmoralische.
(Ebd., S. 600).Der Haß gegen die Mittelmäßigkeit
ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem »Recht
auf Philosophie«. Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel
in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten Mut zu sich selber zu erhalten.
(Ebd., S. 606).Wogegen ich kämpfe: daß eine Ausnahme-Art
der Regel den Krieg macht statt zu begreifen, daß die Fortexistenz
der Regel die Voraussetzung für den Wert der Ausnahme ist. Zum Beispiel die
Frauenzimmer, welche, statt die Auszeichnung ihrer abnormen Bedürfnisse zur
Gelehrsamkeit zu empfinden, die Stellung des Weibes überhaupt verrücken
möchten. (Ebd., S. 606).Die Vermehrung der Kraft,
trotz des zeitweiligen Niedergehens des Individuums:
ein neues Niveau begründen;
eine Methodik der Sammlung von Kräften, zur Erhaltung kleiner Leistungen,
im Gegensatz zu unökonomischer Verschwendung;
die zerstörende Natur einstweilen unterjocht zum Werkzeug dieser Zukunfts-Ökonomik;
die Erhaltung der Schwachen, weil eine ungeheure Masse kleiner Arbeit getan
werden muß; die Erhaltung einer Gesinnung,
bei der Schwachen und Leidenden die Existenz noch möglich ist;
die Solidarität als Instinkt zu pflanzen gegen den Instinkt der Furcht
und der Servilität; der Kampf mit
dem Zufall, auch mit dem Zufall des »großen Menschen«.
(Ebd., S. 606).Der Kampf gegen die großen Menschen,
aus ökonomischen Gründen gerechtfertigt. Dieselben sind gefährlich,
Zufälle, Ausnahmen, Unwetter, stark genug, um Langsam-Gebautes und -Gegründetes
in Frage zu stellen. Das Explosive nicht nur unschädlich entladen, sondern
womöglich seiner Entladung vorbeugen: Grundinstinkt aller zivilisierten
Gesellschaft. (Ebd., S. 607).Wer darüber nachdenkt,
auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten Pracht und Mächtigkeit
gesteigert werden kann, der wird zuallererst begreifen, daß er sich außerhalb
der Moral stellen muß: denn die Moral war im wesentlichen auf das Entgegengesetzte
aus, jene prachtvolle Entwicklung, wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten.
Denn in der Tat konsumiert eine derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität
von Menschen in ihrem Dienst, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu
natürlich ist: die schwächeren, zarteren, mittleren Existenzen haben
nötig, Partei zu machen gegen jene Glorie von Leben und Kraft, und dazu müssen
sie von sich eine neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben
in dieser höchsten Fülle verurteilen und womöglich zerstören.
Eine lebensfeindliche Wendung ist daher der Moral zu eigen, insofern sie die Typen
des Lebens überwältigen will. (Ebd., S. 607).Die
Starken der Zukunft. Was teils die Not, teils der Zufall hier und da
erreicht hat, die Bedingungen zur Hervorbringung einer stärkeren Art:
das können wir jetzt begreifen und wissentlich wollen: wir können die
Bedingungen schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist.
Bis jetzt hatte die »Erziehung« den Nutzen der Gesellschaft im Auge:
nicht den möglichsten Nutzen der Zukunft, sondern den Nutzen der gerade bestehenden
Gesellschaft. »Werkzeuge« für sie wollte man. Gesetzt, der
Reichtum an Kraft wäre großer, so ließe sich ein Abzug
von Kräften denken, dessen Ziel nicht dem Nutzen der Gesellschaft gälte,
sondern einem zukünftigen Nutzen. Eine solche Aufgabe wäre zu stellen,
je mehr man begriffe, inwiefern die gegenwärtige Form der Gesellschaft in
einer starken Verwandlung wäre, um irgendwann einmal nicht mehr um ihrer
selber willen existieren zu können: sondern nur noch als Mittel
in den Händen einer stärkeren Rasse. Die zunehmende Verkleinerung des
Menschen ist gerade die treibende Kraft, um an die Züchtung einer stärkeren
Rasse zu denken: welche gerade ihren Überschuß darin hätte,
worin die verkleinerte Spezies schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit,
Selbstgewißheit, Ziele-sich-setzen-können). Die Mittel wären
die, welche die Geschichte lehrt: die Isolation durch umgekehrte Erhaltungs-Interessen,
als die durchschnittlichen heute sind; die Einübung in umgekehrten Wertschätzungen;
die Distanz als Pathos; das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und
Verbotensten. Die Ausgleichung des europäischen Menschen ist der große
Prozeß, der nicht zu hemmen ist: man sollte ihn noch beschleunigen. Die
Notwendigkeit für eine Kluftaufreißung, Distanz, Rangordnung
ist damit gegeben: nicht die Notwendigkeit, jenen Prozeß zu verlangsamen.
Diese ausgeglichene Spezies bedarf, sobald sie erreicht ist, einer Rechtfertigung:
sie liegt im Dienste einer höheren souveränen Art, welche auf ihr steht
und erst auf ihr sich zu ihrer Aufgabe erheben kann. Nicht nur eine Herren-Rasse,
deren Aufgabe sich damit erschöpfte, zu regieren: sondern eine Rasse mit
eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuß von Kraft für
Schönheit, Tapferkeit, Kultur, Manier bis ins Geistigste; eine bejahende
Rasse, welche sich jeden großen Luxus gönnen darf, stark genug,
um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nötig zu haben, reich genug,
um die Sparsamkeit und Pedanterie nicht nötig zu haben, jenseits von Gut
und Böse; ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte Pflanzen.
(Ebd., S. 607-609).Unsere Psychologen, deren Blick unwillkürlich
nur an den Symptomen der décadence hängen bleibt, lenken immer wieder
unser Mißtrauen wider den Geist. Man sieht immer nur die schwächenden,
verzärtelnden, verkränkelnden Wirkungen des Geistes: aber es kommen
nunneue Barbaren: | { | die
Zyniker, die Verucher, die Eroberer | } | Vereinigung
der geistigen Überlegenheit mit Wohlbefinden und Überschuß
von Kräften. (Ebd., S. 609). |
Ich
zeige auf etwas Neues hin: gewiß, für ein solches demokratisches Wesen
gibt es die Gefahr des Barbaren, aber man sucht sie nur in der Tiefe. Es gibt
auch eine andere Art Barbaren, die kommen aus der Höhe: eine Art von
erobernden und herrschenden Naturen, welche nach einem Stoffe suchen, den sie
gestalten können. Prometheus war ein solcher Barbar. (Ebd., S. 609).Hauptgesichtspunkt:
daß man nicht die Aufgabe der höheren Spezies in der Leitung
der niederen sieht (wie es z. B. Comte macht ), sondern die niedere als
Basis, auf der eine höhere Spezies ihrer eigenen Aufgabe lebt
auf der sie erst stehen kann. Die Bedingungen, unter denen eine starke und vornehme
Spezies sich erhält (in Hinsicht auf geistige Zucht), sind die umgekehrten
von denen, unter welchen die »industriellen Massen«, die Krämer
à la Spencer stehn. Das, was nur den stärksten und fruchtbarsten
Naturen freisteht zur Ermöglichung ihrer Existenz Muße, Abenteuer,
Unglaube, Ausschweifung selbst , das würde, wenn es den mittleren
Naturen freistünde, diese notwendig zugrunde richten und tut es auch.
Hier ist die Arbeitsamkeit, die Regel, die Mäßigkeit, die feste »Überzeugung«
am Platze kurz die »Herdentugenden«: unter ihnen wird diese
mittlere Art Mensch vollkommen. (Ebd., S. 610).Zu den
herrschaftlichen Typen. Der »Hirt« im Gegensatz zum »Herrn«
( ersterer Mtitel zur Erhaltung der Herde; letzterer Zweck,
weshalb die Herde da ist). (Ebd., S. 610).Zeitweiliges
Überwiegen der sozialen Wertgefühle begreiflich und nützlich: es
handelt sich um die Herstellung eines Unterbaus, auf dem endlich eine stärkere
Gattung möglich wird. Maßstab der Stärke: unter den umgekehrten
Wertschätzungen leben können und sie ewig wieder wollen. Staat und Gesellschaft
als Unterbau: weltwirtschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als Züchtung.
(Ebd., S. 610).Einsicht, welche den »freien Geistern«
fehlt: dieselbe Disziplin, welche eine starke Natur noch verstärkt
und zu großen Unternehmungen befähigt, zerbricht und verkümmert
die mittelmäßigen: der Zweifel la largeur de cur
das Experiment die Independenz. (Ebd., S. 611).Der
Hammer. Wie müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt wertschätzen?
Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug
sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln? Ihr Mittel zu ihrer Aufgabe.
(Ebd., S. 611).Der starke Mensch, mächtig in den Instinkten
einer starken Gesundheit, verdaut seine Taten ganz ebenso, wie er die Mahlzeiten
verdaut; er wird mit schwerer Kost selbst fertig: in der Hauptsache aber führt
ihn ein unversehrter und strenger Instinkt, daß er nichts tut, was ihm widersteht,
so wenig als er etwas tut, das ihm nicht schmeckt. (Ebd., S. 611).Könnten
wir die günstigsten Bedingungen voraussehen, unter denen Wesen entstehen
von höchstem Werte! Es ist tausendmal zu kompliziert und die Wahrscheinlichkeit
des Mißratens sehr groß: so begeistert es nicht, danach zu streben!
Skepsis. Dagegen: Mut, Einsicht, Härte, Unabhängigkeit,
Gefühl der Verantwortlichkeit können wir steigern, die Feinheit der
Waage verfeinern und erwarten, daß günstige Zufälle zu Hilfe kommen.
(Ebd., S. 611).Bevor wir ans Handeln denken dürfen, muß
eine unendliche Arbeit getan sein. In der Hauptsache aber ist das kluge Ausnützen
der gegebenen Lage wohl unsere beste, ratsamste Tätigkeit. Das wirkliche
Schaffen solcher Bedingungen, wie sie der Zufall schafft, setzt eiserne Menschen
voraus, die noch nicht gelebt haben. Zunächst das persönliche Ideal
durchsetzen und verwirklichen! Wer die Natur des Menschen, die Entstehung
seines Höchsten begriffen hat, schaudert vor dem Menschen und flieht alles
Handeln: Folge der vererbten Schätzungen!Daß die Natur des Menschen
böse ist, ist mein Trost: es verbürgt die Kraft!< (Ebd.,
S. 612).Die typischen Selbstgestaltungen. Oder: die acht Hauptfragen.1.
Ob man sich vielfacher haben will oder einfacher?2.
Ob man glücklicher werden will oder gleichgültiger gegen Glück
und Unglück?3. Ob man zufriedner mit sich
werden will oder anspruchsvoller und unerbittlicher?4.
Ob man weicher, nachgebender, menschlicher werden will oder »unmenschlicher«?5.
Ob man klüger werden will oder rücksichtsloser?6.
Ob man ein Ziel erreichen will oder allen Zielen ausweichen (wie es z. B. der
Philosoph tut, der in jedem Ziel eine Grenze, einen Winkel, ein Gefängnis,
eine Dummheit riecht)?7. Ob man geachteter werden
will oder gefürchteter? Oder verachteter?
8. Ob man Tyrann oder Verführer oder Hirt oder Herdentier werden
will? (Ebd., S. 612).
Typus meiner Jünger. Solchen
Menschen, welche mich etwas angehn, wünsche ich Leiden, Verlassenheit,
Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung ich wünsche, daß
ihnen die tiefe Selbstverachtung, die Marter des Mißtrauens gegen sich,
das Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid
mit ihnen, weil ich ihnen das einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob
einer Wert hat oder nicht daß er standhält. (Ebd., S.
613).Glück und Selbstzufriedenheit des Lazzaroni oder »Seligkeit«
bei »schönen Seelen« oder schwindsüchtige Liebe bei herrnhuterischen
Pietisten beweisen nichts in bezug auf die Rangordnung der Menschen. Man
müßte, als großer Erzieher, eine Rasse solcher »seligen
Menschen« unerbittlich in das Unglück hineinpeitschen. Die Gefahr der
Verkleinerung, des Ausruhens ist sofort da gegen das spinozistische oder
epikureische Glück und gegen alles Ausruhen in kontemplativen Zuständen.
Wenn aber die Tugend das Mittel zu einem solchen Glück ist, nun, so muß
man auch Herr über die Tugend werden. (Ebd., S. 613).Ich
sehe durchaus nicht ab, wie einer es wiedergutmachen kann, der versäumt hat,
zur rechten Zeit in eine gute Schule zu gehen. Ein solcher kennt sich nicht;
er geht durchs Leben, ohne gehen gelernt zu haben; der schlaffe Muskel verrät
sich bei jedem Schritt noch. Mitunter ist das Leben so barmherzig, diese harte
Schule nachzuholen: jahrelanges Siechtum vielleicht, das die äußerste
Willenskraft und Selbstgenugsamkeit herausfordert; oder eine plötzlich hereinbrechende
Notlage, zugleich noch für Weib und Kind, welche eine Tätigkeit erzwingt,
die den erschlafften Fasern wieder Energie gibt und dem Willen zum Leben die Zähigkeit
zurückgewinnt. Das Wünschenswerteste bleibt unter allen Umständen
eine harte Disziplin zur rechten Zeit, d.h. in jenem Alter noch, wo es
stolz macht, viel von sich verlangt zu sehn. Denn dies unterscheidet die harte
Schule als gute Schule von jeder anderen: daß viel verlangt wird; daß
streng verlangt wird; daß das Gute, das Ausgezeichnete selbst, als normal
verlangt wird; daß das Lob selten ist, daß die Indulgenz fehlt; daß
der Tadel scharf, sachlich, ohne Rücksicht auf Talent und Herkunft laut wird.
Eine solche Schule hat man in jedem Betracht nötig: das gilt vom Leiblichsten
wie vom Geistigsten: es wäre verhängnisvoll, hier trennen zu wollen!
Die gleiche Disziplin macht den Militär und den Gelehrten tüchtig: und
näher besehn, es gibt keinen tüchtigen Gelehrten, der nicht die Instinkte
eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. Befehlen können und wieder
auf eine stolze Weise gehorchen; in Reih und Glied stehen, aber fähig jederzeit,
auch zu führen; die Gefahr dem Behagen vorziehn; das Erlaubte und Unerlaubte
nicht in einer Krämerwaage wiegen; dem Mesquinen, Schlauen, Parasitischen
mehr feind sein als dem Bösen. Was lernt man in einer harten
Schule? Gehorchen und Befehlen. (Ebd., S. 613-614).Das
Verdienst leugnen: aber das tun, was über allem Loben, ja über
allem Verstehn ist. (Ebd., S. 614).Neue Formen der Moralität:
Treue-Gelübde im Vereinen über das, was man lassen und tun will,
ganz bestimmte Entsagung von vielem. Proben, ob reif dazu. (Ebd.,
S. 614).Ich will auch die Asketik wieder vernatürlichen:
an Stelle der Absicht auf Verneinung die Absicht auf Verstärkung;
eine Gymnastik des Willens; eine Entbehrung und eingelegte Fastenzeit jeder Art,
auch im Geistigsten; eine Kasuistik der Tat in bezug auf unsre Meinung, die wir
von unsern Kräften haben; ein Versuch mit Abenteuern und willkürlichen
Gefahren. (Dîners chez Magny: lauter geistige Schlecker mit verdorbenem
Magen.) Man sollte Prüfungen erfinden auch für die Stärke
im Wort-halten-können. (Ebd., S. 615).Was verdorben
ist durch den Mißbrauch, den die Kirche damit getrieben hat:1.
die Askese: man hat kaum noch den Mut dazu, deren natürliche Nützlichkeit,
deren Unentbehrlichkeit im Dienste der Willens-Erziehung ans Licht zu ziehen.
Unsre absurde Erzieher-Welt, der der »brauchbare Staatsdiener« als
regulierendes Schema vorschwebt, glaubt mit »Unterricht«, mit Gehirn-Dressur
auszukommen; ihr fehlt selbst der Begriff davon, daß etwas anderes zuerst
not tut Erziehung der Willenskraft; man legt Prüfungen für
alles ab, nur nicht für die Hauptsache: ob man wollen kann, ob man versprechen
darf: der junge Mann wird fertig, ohne auch nur eine Frage, eine Neugierde für
dieses oberste Wertproblem seiner Natur zu haben;2.
das Fasten: in jedem Sinne auch als Mittel, die feine Genußfähigkeit
aller guten Dinge aufrechtzuerhalten (z. B. zeitweise nicht lesen, keine Musik
mehr hören, nicht mehr liebenswürdig sein; man muß auch Fasttage
für seine Tugend haben);3. das »Kloster«:
die zeitweilige Isolation mit strenger Abweisung z. B. der Briefe; eine Art tiefster
Selbstbesinnung und Selbst-Wiederfindung, welche nicht den »Versuchungen«
aus dem Wege gehen will, sondern den »Pflichten«: ein Heraustreten
aus dem Zirkeltanz des Milieus; ein Abseits von der Tyrannei der Reize und Einströmungen,
welche uns verurteilt, unsre Kraft nur in Reaktionen auszugeben, und es nicht
mehr erlaubt, daß sie sich häuft bis zur spontanen Aktivität
(man sehe sich unsre Gelehrten aus der Nähe an: sie denken nur noch reaktiv,
d.h. sie müssen erst lesen, um zu denken);4.
die Feste: Man muß sehr grob sein, um nicht die Gegenwart von Christen
und christlichen Werten als einen Druck zu empfinden, unter dem jede eigentliche
Feststimmung zum Teufel geht. Im Fest ist einbegriffen: Stolz, Übermut, Ausgelassenheit;
der Hohn über alle Art Ernst und Biedermännerei; ein göttliches
Jasagen zu sich aus animaler Fülle und Vollkommenheit lauter Zustände,
zu denen der Christ nicht ehrlich ja sagen darf. Das Fest ist Heidentum par
excellence;5. der Mut vor der eigenen
Natur: die Kostümierung ins »Moralische«. Daß
man keine Moral-Formel nötig hat, um einen Affekt bei sich gutzuheißen:
Maßstab, wie weit einer zur Natur bei sich ja sagen kann wie viel
oder wie wenig er zur Moral rekurrieren muß;6.
der Tod. Man muß die dumme physiologische Tatsache in eine
moralische Notwendigkeit umdrehn. So leben, daß man auch zur rechten
Zeit seinen Willen zum Tode hat! (Ebd., S. 616-616).Sich
stärker fühlen oder anders ausgedrückt: die Freude
setzt immer ein Vergleichen voraus (aber nicht notwendig mit anderen, sondern
mit sich, inmitten eines Zustands von Wachstum, und ohne daß man erst wüßte,
inwiefern man vergleicht ).Die künstliche
Verstärkung: sei es durch aufregende Chemika, sei es durch aufregende
Irrtümer (»Wahnvorstellungen«):z.B.
das Gefühl der Sicherheit, wie es der Christ hat; er fühlt sich
stark in sei nem Vertrauen-dürfen, in seinem Geduldig- und Gefaßt-sein-dürfen:
er verdankt diese künstliche Verstärkung dem Wahne, von einem Gott beschirmt
zu sein;z.B. das Gefühl der Überlegenheit:
wie wenn der Kalif von Marokko nur Erdkugeln zu sehen bekommt, auf denen seine
drei vereinigten Königreiche vier Fünftel der Oberfläche einnehmen;z.B.
das Gefühl der Einzigkeit: wie wenn der Europäer sich einbildet,
daß der Gang der Kultur sich in Europa abspielt, und wenn er sich selber
eine Art abgekürzter Weltprozeß scheint: oder der Christ alles Dasein
überhaupt um das »Heil des Menschen« sich drehen macht.
Es kommt darauf an, wo man den Druck, die Unfreiheit empfindet: je nachdem erzeugt
sich ein andres Gefühl des Stärker-seins. Einem Philosophen ist
z.B. inmitten der kühlsten, transmontansten Abstraktions-Gymnastik zumute
wie einem Fisch, der in sein Wasser kommt: während Farben und Töne ihn
drücken; gar nicht zu reden von den dumpfen Begehrungen von dem, was
die andern »das Ideal« nennen. (Ebd., S. 616-617).Mit
was für Mitteln man rohe Völker zu behandeln hat und daß die »Barbarei«
der Mittel nichts Willkürliches und Beliebiges ist, das kann man in praxi
mit Händen greifen, wenn man mit aller seiner europäischen Verzärtelung
einmal in die Notwendigkeit versetzt wird, am Kongo oder irgendwo Herr über
Barbaren bleiben zu müssen. (Ebd., S. 620-621).Die
Kriegerischen und die Friedlichen. Bist du ein Mensch, der die Instinkte
des Kriegers im Leibe hat? Und in diesem Falle bliebe noch eine zweite Frage:
bist du ein Angriffskrieger oder ein Widerstandskrieger von Instinkt? Der Rest
von Menschen, alles, was nicht kriegerisch von Instinkt ist, will Frieden, will
Eintracht, will »Freiheit«, will »gleiche Rechte« :
das sind nur Namen und Stufen für ein und dasselbe. Dorthin gehn, wo man
nicht nötig hat, sich zu wehren solche Menschen werden unzufrieden
mit sich, wenn sie genötigt sind, Widerstand zu leisten: sie wollen Zustände
schaffen, wo es überhaupt keinen Krieg mehr gibt. Schlimmstenfalls sich unterwerfen,
gehorchen, einordnen: immer noch besser als Krieg führen so rät
es z.B. dem Christen sein Instinkt. Bei den geborenen Kriegern gibt es etwas wie
Bewaffnung in Charakter, in Wahl der Zustände, in der Ausbildung jeder Eigenschaft:
die »Waffe« ist im ersten Typus, die Wehr im zweiten am besten entwickelt.
Die Unbewaffneten, die Unbewehrten: welche Hilfsmittel und Tugenden sie nötig
haben, um es auszuhalten um selbst obzusiegen. (Ebd., S. 621).Randbemerkung
zu einer niaiserie anglaise. »Was du nicht willst, daß
dir die Leute tun, das tue ihnen auch nicht.« Das gilt als Weisheit; das
gilt als Klugheit; das gilt als Grund der Moral als »güldener
Spruch«. John Stuart Mill (und wer nicht unter Engländern?) glaubt
daran! ... Aber der Spruch hält nicht den leichtesten Angriff aus. Der Kalkül:
»tue nichts, was dir selber nicht angetan werden soll« verbietet Handlungen
um ihrer schädlichen Folgen willen: der Hintergedanke ist, daß eine
Handlung immer vergolten wird. Wie nun, wenn jemand, mit dem »Principe«
in der Hand, sagte: »gerade solche Handlungen muß man tun, damit andere
uns nicht zuvorkommen damit wir andere außerstand setzen, sie uns
anzutun«? Andrerseits: denken wir uns einen Korsen, dem seine Ehre
die vendetta gebietet. Auch er wünscht keine Flintenkugel in den Leib: aber
die Aussicht auf eine solche, die Wahrscheinlichkeit einer Kugel hält ihn
nicht ab, seiner Ehre zu genügen .... Und sind wir nicht in allen anständigen
Handlungen eben absichtlich gleichgültig gegen das, was daraus für uns
kommt? Eine Handlung zu vermeiden, die schädliche Folgen für uns hätte
das wäre ein Verbot für anständige Handlungen überhaupt.
Dagegen ist der Spruch wertvoll, weil er einen Typus Mensch verrät:
es ist der Instinkt der Herde, der sich mit ihm formuliert man ist
gleich, man nimmt sich gleich: wie ich dir, so du mir. Hier wird wirklich
an eine Äquivalenz der Handlungen geglaubt, die, in allen realen Verhältnissen,
einfach nicht vorkommt. Es kann nicht jede Handlung zurückgegeben werden:
zwischen wirklichen »Individuen« gibt es keine gleichen Handlungen,
folglich auch keine »Vergeltung«... Wenn ich etwas tue, so liegt mir
der Gedanke vollkommen fern, daß überhaupt dergleichen irgendeinem
Menschen möglich sei: es gehört mir... Man kann mir nichts zurückzahlen,
man würde immer eine »andere« Handlung gegen mich begehen.
(Ebd., S. 621-622).Gegen John Stuart Mill. Ich perhorresziere
seine Gemeinheit, welche sagt »was dem einen recht ist, ist dem andern billig«;
»was du nicht willst usw., das füg auch keinem andern zu«; welche
den ganzen menschlichen Verkehr auf Gegenseitigkeit der Leistung begründen
will, so daß jede Handlung als eine Art Abzahlung erscheint für etwas,
das uns erwiesen ist. Hier ist die Voraussetzung unvornehm im untersten Sinne:
hier wird die Äquivalenz der Werte von Handlungen vorausgesetzt bei
mir und dir; hier ist der persönlichste Wert einer Handlung einfach annulliert
(das, was durch nichts ausgeglichen und bezahlt werden kann ). Die »Gegenseitigkeit«
ist eine große Gemeinheit; gerade daß etwas, das ich tue, nicht von
einem andern getan werden dürfte und könnte, daß
es keinen Ausgleich geben darf ( außer in der ausgewähltesten
Sphäre der »meines-gleichen«, inter pares ), daß
man in einem tieferen Sinne nie zurückgibt, weil man etwas Einmaliges
ist und nur Einmaliges tut diese Grundüberzeugung enthält die
Ursache der aristokratischen Absonderung von der Menge, weil die Menge
an »Gleichheit« und folglich Ausgleichbarkeit und »Gegenseitigkeit«
glaubt. (Ebd., S. 622-623).Die Krähwinkelei und Schollenkleberei
der moralischen Abwertung und ihres »nützlich« und »schädlich«
hat ihren guten Sinn; es ist die notwendige Perspektive der Gesellschaft, welche
nur das Nähere und Nächste in Hinsicht der Folgen zu übersehen
vermag. Der Staat und der Politiker hat schon eine mehr übermoralische
Denkweise nötig: weil er viel größere Komplexe von Wirkungen zu
berechnen hat. Insgleichen wäre eine Weltwirtschaft möglich,
die so ferne Perspektiven hat, daß alle ihre einzelnen Forderungen für
den Augenblick als ungerecht und willkürlich erscheinen dürften.
(Ebd., S. 623).»Seinem Gefühle folgen?«
Daß man, einem generösen Gefühle nachgebend, sein Leben
in Gefahr bringt, und unter dem Impuls eines Augenblicks: das ist wenig wert und
charakterisiert nicht einmal. In der Fähigkeit dazu sind sich alle gleich
und in der Entschlossenheit dazu übertrifft der Verbrecher, Bandit
und Korse einen honetten Menschen gewiß. Die höhere Stufe ist: auch
diesen Andrang bei sich zu überwinden und die heroische Tat nicht auf Impulse
hin zu tun sondern kalt, raisonnable, ohne das stürmische Überwallen
von Lustgefühlen dabei .... Dasselbe gilt vom Mitleid: es muß erst
habituell durch die raison durchgesiebt sein; im anderen Falle ist es so
gefährlich wie irgendein Affekt. Die blinde Nachgiebigkeit gegen einen
Affekt, sehr gleichgültig, ob es ein generöser und mitleidiger oder
feindseliger ist, ist die Ursache der größten Übel. Die
Größe des Charakters besteht nicht darin, daß man diese Affekte
nicht besitzt im Gegenteil, man hat sie im furchtbarsten Grade: aber daß
man sie am Zügel führt... und auch das noch ohne Lust an dieser Bändigung,
sondern bloß weil .... (Ebd., S. 623-624).»Sein
Leben lassen für eine Sache« großer Effekt. Aber man läßt
für vieles sein Leben: die Affekte samt und sonders wollen ihre Befriedigung.
Ob es das Mitleid ist oder der Zorn oder die Rache daß das Leben
daran gesetzt wird, verändert nichts am Werte. Wie viele haben ihr Leben
für die hübschen Weiblein geopfert und selbst, was schlimmer
ist, ihre Gesundheit! Wenn man das Temperament hat, so wählt man instinktiv
die gefährlichen Dinge: z.B. die Abenteuer der Spekulation, wenn man Philosoph;
oder der Immoralität, wenn man tugendhaft ist. Die eine Art Mensch will nichts
riskieren, die andre will riskieren. Sind wir anderen Verächter des Lebens?
Im Gegenteil, wir suchen instinktiv ein potenziertes Leben, das Leben in
der Gefahr .... Damit, nochmals gesagt, wollen wir nicht tugendhafter sein, als
die anderen. Pascal z. B. wollte nichts riskieren und blieb Christ: das war vielleicht
tugendhaft. Man opfert immer. (Ebd., S. 624).Wie
viel Vorteil opfert der Mensch, wie wenig »eigennützig«
ist er! Alle seine Affekte und Leidenschaften wollen ihr Recht haben und
wie fern vom klugen Nutzen des Eigennutzes ist der Affekt! Man will nicht
sein »Glück«; man muß Engländer sein, um glauben zu
können, daß der Mensch immer seinen Vorteil sucht. Unsre Begierden
wollen sich in langer Leidenschaft an den Dingen vergreifen , ihre aufgestaute
Kraft sucht die Widerstände. (Ebd., S. 625).Nützlich
sind die Affekte allesamt, die einen direkt, die andern indirekt; in Hinsicht
auf den Nutzen ist es schlechterdings unmöglich, irgendeine Wertabfolge festzusetzen,
so gewiß, ökonomisch gemessen, die Kräfte in der Natur
allesamt gut, d. h. nützlich sind, so viel furchtbares und unwiderrufliches
Verhängnis auch von ihnen ausgeht. Höchstens könnte man sagen,
daß die mächtigsten Affekte die wertvollsten sind: insofern es keine
größeren Kraftquellen gibt. (Ebd., S. 625).Summa:
die Herrschaft über die Leidenschaften, nicht deren Schwächung
und Ausrottung! Je größer die Herren-Kraft des Willens ist,
um soviel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden. Der »große
Mensch« ist groß durch den Freiheits-Spielraum seiner Begierden und
durch die noch größere Macht, welche diese prachtvollen Untiere in
Dienst zu nehmen weiß. Der »gute Mensch« ist auf jeder Stufe
der Zivilisation der Ungefährliche und Nützliche zugleich: eine
Art Mitte; der Ausdruck im gemeinen Bewußtsein davon, vor wem
man sich nicht zu fürchten hat und wen man trotzdem nicht verachten darf.
Erziehung: wesentlich das Mittel, die Ausnahme zu ruinieren zugunsten der
Regel. Bildung: wesentlich das Mittel, den Geschmack gegen die Ausnahme zu richten
zugunsten des Mittleren. Erst wenn eine Kultur über einen Überschuß
von Kräften zu gebieten hat, kann sie auch ein Treibhaus für den Luxus-Kultus
der Ausnahme, des Versuchs, der Gefahr, der Nuance sein jede aristokratische
Kultur tendiert dahin. (Ebd., S. 626).Lauter
Fragen der Kraft: wie weit sich durchsetzen gegen die Erhaltungsbedingungen der
Gesellschaft und deren Vorurteile? wie weit seine furchtbaren
Eigenschaften entfesseln, an denen die meisten zugrunde gehen? wie
weit der Wahrheit entgegengehen und sich die fragwürdigsten Seiten
derselben zu Gemüte führen? wie weit dem Leiden, der Selbstverachtung,
dem Mitleiden, der Krankheit, dem Laster entgegengehen, mit dem Fragezeichen,
ob man darüber Herr werden wird? ( was uns nicht umbringt, macht
uns stärker ...) endlich: wie weit der Regel, dem Gemeinen,
dem Kleinlichen, Guten, Rechtschaffenen, der Durchschnitts-Natur recht geben bei
sich, ohne sich damit vulgarisieren zu lassen? .... Stärkste Probe des Charakters:
sich nicht durch die Verführung des Guten ruinieren zu lassen. Das Gute
als Luxus, als Raffinement, als Laster. (Ebd., S. 626-627).
4.1.3) Der vornehme Mensch
Typus:
Die wahre Güte, Vornehmheit, Größe der Seele, die aus dem Reichtum
heraus: welche nicht gibt, um zu nehmen welche sich nicht damit erheben
will, daß sie gütig ist; die Verschwendung als Typus
der wahren Güte, der Reichtum an Person als Voraussetzung. (Ebd., S.
627).Aristokratismus. Die Herdentier-Ideale jetzt
gipfelnd als höchste Wertansetzung der »Sozietät«:
Versuch, ihr einen kosmischen, ja metaphysischen Wert zu geben. Gegen sie
verteidige ich den Aristokratismus. Eine Gesellschaft, welche in sich jene
Rücksicht und Delikatesse in bezug auf Freiheit bewahrt, muß
sich als Ausnahme fühlen und sich gegenüber eine Macht haben, gegen
welche sie sich abhebt, gegen welche sie feindselig ist und herabblickt. Je mehr
ich Recht abgebe und mich gleichstelle, um so mehr gerate ich unter die Herrschaft
der Durchschnittlichsten, endlich der Zahlreichsten. Die Voraussetzung, welche
eine aristokratische Gesellschaft in sich hat, um zwischen ihren Mitgliedern den
hohen Grad von Freiheit zu erhalten, ist die extreme Spannung, welche aus dem
Vorhandensein des entgegengesetzten Triebes bei allen Mitgliedern entspringt:
des Willens zur Herrschaft .... Wenn ihr die starken Gegensätze und Rangverschiedenheiten
wegschaffen wollt, so schafft ihr die starke Liebe, die hohe Gesinnung, das Gefühl
des Für-sich-seins auch ab.Zur wirklichen
Psychologie der Freiheits- und Gleichheits-Sozietät. Was nimmt ab?
Der Wille zur Selbstverantwortlichkeit, Zeichen des Niedergangs der Autonomie;
die Wehr und Waffentüchtigkeit, auch im Geistigsten: die Kraft
zu kommandieren; der Sinn der Ehrfurcht, der Unterordnung, des Schweigen-könnens;
die große Leidenschaft, die große Aufgabe, die Tragödie,
die Heiterkeit. (Ebd., S. 627-628).Wie sich die aristokratische
Welt immer mehr selber schröpft und schwach macht! Vermöge ihrer noblen
Instinkte wirft sie ihre Vorrechte weg, und vermöge ihrer verfeinerten Über-Kultur
interessiert sie sich für das Volk, die Schwachen, die Armen, die Poesie
des Kleinen usw.. (Ebd., S. 628-629).Es gibt eine vornehme
und gefährliche Nachlässigkeit, welche einen tiefen Schluß und
Einblick gewährt: die Nachlässigkeit der selbstgewissen und überreichen
Seele, die sich nie um Freunde bemüht hat, sondern nur die Gastfreundschaft
kennt, immer nur Gastfreundschaft übt und zu üben versteht Herz
und Haus offen für jedermann, der eintreten will, seien es nun Bettler oder
Krüppel oder Könige. Dies ist die echte Leutseligkeit: wer sie hat,
hat hundert »Freunde«, aber wahrscheinlich keinen Freund. (Ebd.,
S. 629).Die Lehre mhden agan wendet
sich an Menschen mit überströmender Kraft nicht an die Mittelmäßigen.
Die egkrateia und aschsis
ist nur eine Stufe der Höhe: höher steht die »goldene Natur«.
»Du sollst« unbedingter Gehorsam bei Stoikern, in den
Orden des Christentums und der Araber, in der Philosophie Kants (es ist gleichgültig,
ob einem Oberen, oder einem Begriff). Höher als »du sollst« steht:
»Ich will« (die Heroen); höher als »ich will«
steht: »Ich bin« (die Götter der Griechen). Die barbarischen
Götter drücken nichts von der Lust am Maß aus sind
weder einfach noch leicht noch maßvoll. (Ebd., S. 629).Was
ist vornehm? Die Sorgfalt im Äußerlichsten,
insofern diese Sorgfalt abgrenzt, fernhält, vor Verwechslung schützt.
Der frivole Anschein in Wort, Kleidung, Haltung, mit dem eine stoische Härte
und Selbstbezwingung sich vor aller unbescheidenen Neugierde schützt.
Die langsame Gebärde, auch der langsame Blick. Es gibt nicht zu viel wertvolle
Dinge: und diese kommen und wollen von selbst zu dem Wertvollen. Wir bewundern
schwer. Das Ertragen der Armut und der
Dürftigkeit, auch der Krankheit. Das
Ausweichen vor kleinen Ehren, und Mißtrauen gegen jeden, welcher leicht
lobt: denn der Lobende glaubt daran, daß er verstehe, was er lobe: verstehen
aber Balzac hat es verraten, dieser typisch Ehrgeizige comprendre
c'est égaler. Unser Zweifel an der
Mitteilbarkeit des Herzens geht in die Tiefe; die Einsamkeit nicht als gewählt,
sondern als gegeben. Die Überzeugung,
daß man nur gegen seinesgleichen Pflichten hat, gegen die andern sich nach
Gutdünken verhält: daß nur inter pares auf Gerechtigkeit
zu hoffen (leider noch lange nicht zu rechnen) ist.
Die Ironie gegen die »Begabten«, der Glaube an den Geburtsadel auch
im Sittlichen. Immer sich als den fühlen,
der Ehren zu vergeben hat: während nicht häufig sich jemand findet,
der ihn ehren dürfte. Immer verkleidet:
je höherer Art, um so mehr bedarf der Mensch des Inkognitos. Gott, wenn es
einen gäbe, dürfte, schon aus Anstandsgründen, sich nur als Mensch
in der Welt bezeigen. Die Fähigkeit
zum otium, der unbedingten Überzeugung, daß ein Handwerk in jedem Sinne
zwar nicht schändet, aber sicherlich entadelt. Nicht »Fleiß«
im bürgerlichen Sinne, wie hoch wir ihn auch zu ehren und zu Geltung zu bringen
wissen, oder wie jene unersättlich gackernden Künstler, die es wie Hühner
machen, gackern und Eier legen und wieder gackern.
Wir beschützen die Künstler und Dichter und wer irgendworin Meister
ist: aber als Wesen, die höherer Art sind als diese, welche nur etwas können,
als die bloß »produktiven Menschen«, verwechseln wir uns nicht
mit ihnen. Die Lust an den Formen;
das In-Schutz-nehmen alles Förmlichen, die Überzeugung, daß Höflichkeit
eine der großen Tugenden ist; das Mißtrauen gegen alle Arten des Sich-gehen-lassens,
eingerechnet alle Preß- und Denkfreiheit, weil unter ihnen der Geist bequem
und tölpelhaft wird und die Glieder streckt.
Das Wohlgefallen an den Frauen als an einer vielleicht kleineren, aber
feineren und leichteren Art von Wesen. Welches Glück, Wesen zu begegnen,
die immer Tanz und Torheit und Putz im Kopfe haben! Sie sind das Entzücken
aller sehr gespannten und tiefen Mannsseelen gewesen, deren Leben mit großer
Verantwortlichkeit beschwert ist. Das Wohlgefallen
an den Fürsten und Priestern, weil sie den Glauben an eine Verschiedenheit
der menschlichen Werte selbst noch in der Abschätzung der Vergangenheit zum
mindesten symbolisch und im ganzen und großen sogar tatsächlich aufrechterhalten.
Das Schweigen-können: aber darüber kein Wort vor Hörern.
Das Ertragen langer Feindschaften: der Mangel an der leichten Versöhnlichkeit.
Der Ekel am Demagogischen, an der »Aufklärung«, an der »Gemütlichkeit«,
an der pöbelhaften Vertraulichkeit.
Das Sammeln kostbarer Dinge, die Bedürfnisse einer hohen und wählerischen
Seele; nichts gemein haben wollen. Seine Bücher, seine Landschaften.
Wir lehnen uns gegen schlimme und gute Erfahrungen auf und verallgemeinern nicht
so schnell. Der einzelne Fall: wie ironisch sind wir gegen den einzelnen Fall,
wenn er den schlechten Geschmack hat, sich als Regel zu gebärden!
Wir lieben das Naive und die Naiven, aber als Zuschauer und höhere Wesen;
wir finden Faust ebenso naiv als sein Gretchen.
Wir schätzen die Guten gering, als Herdentiere: wir wissen, wie unter den
schlimmsten, bösartigsten, härtesten Menschen oft ein unschätzbarer
Goldtropfen von Güte sich verborgen hält, welcher alle bloße Gutartigkeit
der Milchseelen überwiegt. Wir halten
einen Menschen unserer Art nicht widerlegt durch seine Laster noch durch seine
Torheiten. Wir wissen, daß wir schwer erkennbar sind und daß wir alle
Gründe haben, uns Vordergründe zu geben. (Ebd., S. 630-633).Was
ist vornehm? Daß man sich beständig zu repräsentieren
hat. Daß man Lagen sucht, wo man beständig Gebärden nötig
hat. Daß man das Glück der großen Zahl überläßt:
Glück als Frieden der Seele, Tugend, comfort, englisch-engelhaftes Krämertum
à la Spencer. Daß man instinktiv für sich schwere Verantwortungen
sucht. Daß man sich überall Feinde zu schaffen weiß, schlimmstenfalls
noch aus sich selbst. Daß man der großen Zahl nicht durch Worte,
sondern durch Handlungen beständig widerspricht. (Ebd., S. 633).Die
Tugend (z.B. als Wahrhaftigkeit) als unser vornehmer und gefährlicher Luxus;
wir müssen nicht die Nachteile ablehnen, die er mit sich bringt. (Ebd.,
S. 633).Der »Ehr-Begriff«: beruhend auf dem
Glauben an »gute Gesellschaft«, an ritterliche Hauptqualitäten,
an die Verpflichtung, sich fortwährend zu repräsentieren. Wesentlich:
daß man sein Leben nicht wichtig nimmt; daß man unbedingt auf respektvollste
Manieren hält, seitens aller, mit denen man sich berührt (zum mindesten
so weit sie nicht zu »uns« gehören); daß man weder vertraulich,
noch gutmütig, noch lustig, noch bescheiden ist, außer inter pares;
daß man sich immer repräsentiert. (Ebd., S. 634).Daß
man sein Leben, seine Gesundheit, seine Ehre aufs Spiel setzt, das ist die Folge
des Übermutes und eines überströmenden, verschwenderischen Willens:
nicht aus Menschenliebe, sondern weil jede große Gefahr unsre Neugierde
in bezug auf das Maß unsrer Kraft, unsres Mutes herausfordert. (Ebd.,
S. 634).»Geradezu stoßen die Adler.«
Die Vornehmheit der Seele ist nicht am wenigsten an der prachtvollen und stolzen
Dummheit zu erkennen, mit der sie angreift »geradezu«.
(Ebd., S. 634).Krieg gegen die weichliche Auffassung der »Vornehmheit«!
ein Quantum Brutalität mehr ist nicht zu erlassen: so wenig als
eine Nachbarschaft zum Verbrechen. Auch die »Selbstzufriedenheit«
ist nicht darin; man muß abenteuerlich auch zu sich stehen, versucherisch,
verderberisch nichts von Schönseelen-Salbaderei . Ich will einem
robusteren Ideale Luft machen. (Ebd., S. 610).»Das
Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter« auch ein Symbolon
und Kerbholz-Wort, an dem sich Seelen vornehmer und kriegerischer Abkunft verraten
und erraten. (Ebd., S. 635).Die zwei
Wege. Es kommt ein Zeitpunkt, wo der Mensch Kraft im Überfluß
zu Diensten hat: die Wissenschaft ist darauf aus, diese Sklaverei der Natur
herbeizuführen. Dann bekommt der Mensch Muße: sich selbst auszubilden,
zu etwas Neuem, Höherem. Neue Aristokratie. Dann werden eine Menge
Tugenden überlebt, die jetzt Existenzbedingungen waren.
Eigenschaften nicht mehr nötig haben, folglich sie verlieren. Wir haben die
Tugenden nicht mehr nötig: folglich verlieren wir sie ( sowohl die
Moral vom »Eins ist not«, vom Heil der Seele, wie der Unsterblichkeit:
sie waren Mittel, um dem Menschen eine ungeheure Selbstbezwingung zu ermöglichen,
durch den Affekt einer ungeheuren Furcht ...). Die verschiedenen Arten
Not, durch deren Zucht der Mensch geformt ist: Not lehrt arbeiten, denken, sich
zügeln. Die physiologische Reinigung und Verstärkung. Die neue
Aristokratie hat einen Gegensatz nötig, gegen den sie ankämpft: sie
muß eine furchtbare Dringlichkeit haben, sich zu erhalten. Die zwei Zukünfte
der Menschheit:1. die Konsequenz der Vermittelmäßigung;2.
das bewußte Abheben, Sich-Gestalten.Eine
Lehre, die eine Kluft schafft: sie erhält die oberste und die niedrigste
Art (sie zerstört die mittlere).Die
bisherigen Aristokraten, geistliche und weltliche, beweisen nichts gegen die Notwendigkeit
einer neuen Aristokratie. (Ebd., S. 635-636).
4.1.4) Die Herren der Erde
Eine
Frage kommt uns immer wieder, eine versucherische und schlimme Frage vielleicht:
sei sie denen ins Ohr gesagt, welche ein Recht auf solche fragwürdige Fragen
haben, den stärksten Seelen von heute, welche sich selbst auch am besten
in der Gewalt haben: wäre es nicht an der Zeit, je mehr der Typus
»Herdentier« jetzt in Europa entwickelt wird, mit einer grundsätzlichen
künstlichen und bewußten Züchtung des entgegengesetzten
Typus und seiner Tugenden den Versuch zu machen? Und wäre es für
die demokratische Bewegung nicht selber erst eine Art Ziel, Erlösung und
Rechtfertigung, wenn jemand käme, der sich ihrer bediente dadurch,
daß endlich sich zu ihrer neuen und sublimen Ausgestaltung der Sklaverei
( das muß die europäische Demokratie am Ende sein) jene höhere
Art herrschaftlicher und cäsarischer Geister hinzufände, welche sich
auf sie stellte, sich an ihr hielte, sich durch sie emporhübe? Zu neuen,
bisher unmöglichen, zu ihren Fernsichten? Zu ihren Aufgaben?
(Ebd., S. 636-637).Der Anblick des jetzigen Europäers gibt
mir viele Hoffnung: es bildet sich da eine verwegene herrschende Rasse, auf der
Breite einer äußerst intelligenten Herden-Masse. Es steht vor der Tür,
daß die Bewegungen zur Bildung der letzteren nicht mehr allein im Vordergrund
stehen. (Ebd., S. 637).Dieselben Bedingungen, welche die
Entwicklung des Herdentieres vorwärtstreiben, treiben auch die Entwicklung
des Führer-Tiers. (Ebd., S. 637).Es naht sich, unabweislich,
zögernd, furchtbar wie das Schicksal, die große Aufgabe und Frage:
wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden? Und wozu soll »der
Mensch« als Ganzes und nicht mehr ein Volk, eine Rasse gezogen
und gezüchtet werden? Die gesetzgeberischen Moralen sind das Hauptmittel,
mit denen man aus dem Menschengestalten kann, was einem schöpferischen und
tiefen Willen beliebt: vorausgesetzt, daß ein solcher Künstler-Wille
höchsten Ranges die Gewalt in den Händen hat und seinen schaffenden
Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann in Gestalt von Gesetzgebungen,
Religionen und Sitten. Solchen Menschen des großen Schaffens, den eigentlich
großen Menschen, wie ich es verstehe, wird man heute und wahrscheinlich
für lange noch umsonst nachgehen: sie fehlen; bis man endlich, nach
vieler Enttäuschung, zu begreifen anfangen muß, warum sie fehlen und
daß ihrer Entstehung und Entwicklung für jetzt und für lange nichts
feindseliger im Wege steht als das, was man jetzt in Europa geradewegs »die
Moral« nennt: wie als ob es keine andere gäbe und geben dürfte
jene vorhin bezeichnete Herdentier-Moral, die mit allen Kräften das
allgemeine grüne Weide-Glück auf Erden erstrebt, nämlich Sicherheit,
Ungefährlichkeit, Behagen, Leichtigkeit des Lebens und zu guter Letzt, »wenn
alles gut geht«, sich auch noch aller Art Hirten und Leithämmel zu
entschlagen hofft. Ihre beiden am reichlichsten gepredigten Lehren heißen:
»Gleichheit der Rechte« und »Mitgefühl für alles Leidende«
und das Leiden selber wird von ihnen als etwas genommen, das man schlechterdings
abschaffen muß. Daß solche »Ideen« immer noch modern
sein können, gibt einen üblen Begriff von dieser Modernität. Wer
aber gründlich darüber nachgedacht hat, wo und wie die Pflanze Mensch
bisher am kräftigsten emporgewachsen ist, muß vermeinen, daß
dies unter den umgekehrten Bedingungen geschehen ist: daß dazu die Gefährlichkeit
seiner Lage ins Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungs-Kraft unter
langem Druck und Zwang sich emporkämpfen, sein Lebens-Wille bis zu einem
unbedingten Willen zur Macht und zur Übermacht gesteigert werden muß,
und daß Gefahr, Härte, Gewaltsamkeit, Gefahr auf der Gasse wie im Herzen,
Ungleichheit der Rechte, Verborgenheit, Stoizismus, Versucher-Kunst, Teufelei
jeder Art, kurz der Gegensatz aller Herden-Wünschbarkeiten zur Erhöhung
des Typus Mensch notwendig ist. Eine Moral mit solchen umgekehrten Absichten,
welche den Menschen ins Hohe statt ins Bequeme und Mittlere züchten will,
eine Moral mit der Absicht, eine regierende Kaste zu züchten die zukünftigen
Herren der Erde muß, um gelehrt werden zu können, sich
in Anknüpfung an das bestehende Sittengesetz und unter dessen Worten und
Anscheine einführen. Daß dazu aber viele Übergangs- und Täuschungsmittel
zu erfinden sind und daß, weil die Lebensdauer eines Menschen beinahe nichts
bedeutet in Hinsicht auf die Durchführung so langwieriger Aufgaben und Absichten,
vor allem erst eine neue Art angezüchtet werden muß, in der
dem nämlichen Willen, dem nämlichen Instinkte Dauer durch viele Geschlechter
verbürgt wird eine neue Herren-Art und -Kaste, dies begreift
sich ebensogut als das lange und nicht leicht aussprechbare Und-so-weiter dieses
Gedankens. Eine Umkehrung der Werte für eine bestimmte starke Art
von Menschen höchster Geistigkeit und Willenskraft vorzubereiten und zu diesem
Zwecke bei ihnen eine Menge in Zaum gehaltener und verleumdeter Instinkte langsam
und mit Vorsicht zu entfesseln: wer darüber nachdenkt, gehört zu uns,
den freien Geistern freilich wohl zu einer neueren Art von »freien
Geistern« als die bisherigen: denn diese wünschten ungefähr das
Entgegengesetzte. Hierher gehören, wie mir scheint, vor allem die Pessimisten
Europas, die Dichter und Denker eines empörten Idealismus, insofern ihre
Unzufriedenheit mit dem gesamten Dasein sie auch zur Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen
Menschen mindestens logisch nötigt; insgleichen gewisse unersättlich-ehrgeizige
Künstler, welche unbedenklich und unbedingt für die Sonderrechte höherer
Menschen und gegen das »Herdentier« kämpfen und mit den Verführungsmitteln
der Kunst bei ausgesuchteren Geistern alle Herden-Instinkte und Herden-Vorsichten
einschläfern; zu dritt endlich alle jene Kritiker und Historiker, von denen
die glücklich begonnene Entdeckung der alten Welt es ist das Werk
des neuen Kolumbus, des deutschen Geistes mutig fortgesetzt wird
(denn wir stehen immer noch in den Anfängen dieser Eroberung). In
der alten Welt nämlich herrschte in der Tat eine andere, eine herrschaftlichere
Moral als heute; und der antike Mensch, unter dem erziehenden Banne seiner Moral,
war ein stärkerer und tieferer Mensch als der Mensch von heute er
war bisher allein »der wohlgeratene Mensch«. Die Verführung aber,
welche vom Altertum her auf wohlgeratene, d. h. auf starke und unternehmende Seelen
ausgeübt wird, ist auch heute noch die feinste und wirksamste aller antidemokratischen
und antichristlichen: wie sie es schon zur Zeit der Renaissance war. (Ebd.,
S. 637-640).Ich schreibe für eine Gattung Menschen, welche
noch nicht vorhanden ist: für die »Herren der Erde«. Die Religionen
als Tröstungen, Abschirrungen gefährlich: der Mensch glaubt sich
nun ausruhn zu dürfen. Im Theages Platos steht es geschrieben: »Jeder
von uns möchte Herr womöglich aller Menschen sein, am liebsten Gott.«
Diese Gesinnung muß wieder da sein. Engländer, Amerikaner und Russen
(Ebd., S. 640).Die Urwald-Vegetation
»Mensch« erscheint immer, wo der Kampf um die Macht am längsten
geführt worden ist. Die großen Menschen. Urwald-Tiere
die Römer. (Ebd., S. 640).Es wird von nun an
günstige Vorbedingungen für umfänglichere Herrschafts-Gebilde geben,
derengleichen es noch nicht gegeben hat. Und dies ist noch nicht das wichtigste;
es ist die Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden möglich
gemacht, welche sich die Aufgabe setzen, eine Herren-Rasse heraufzuzüchten,
die zukünftigen »Herren der Erde«; eine neue, ungeheure,
auf der härtesten Selbst-Gesetzgebung aufgebaute Aristokratie, in der dem
Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen Dauer über
Jahrtausende gegeben wird eine höhere Art Menschen, die sich, dank
ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichtum und Einfluß, des demokratischen
Europas bedienen als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs, um die
Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen, um am »Menschen« selbst
als Künstler zu gestalten. Genug, die Zeit kommt, wo man über Politik
umlernen wird. (Ebd., S. 640-641).
4.1.5) Der große Mensch
Mein
Augenmerk darauf, an welchen Punkten der Geschichte die großen Menschen
hervorspringen. Die Bedeutung langer despotischer Moralen: sie spannen
den Bogen, wenn sie ihn nicht zerbrechen. (Ebd., S. 641).Ein
großer Mensch ein Mensch, welchen die Natur in großem Stile
aufgebaut und erfunden hat was ist das?Erstens:
er hat in seinem gesamten Tun eine lange Logik, die ihrer Länge wegen schwer
überschaubar, folglich irreführend ist, eine Fähigkeit, über
große Flächen seines Lebens hin seinen Willen auszuspannen und alles
kleine Zeug an sich zu verachten und wegzuwerfen, seien darunter auch die schönsten,
»göttlichsten« Dinge von der Welt.Zweitens:
er ist kälter, härter, unbedenklicher und ohne Furcht vor der »Meinung«;
es fehlen ihm die Tugenden, welche mit der »Achtung« und dem Geachtetwerden
zusammenhängen, überhaupt alles, was zur »Tugend der Herde«
gehört. Kann er nicht führen, so geht er allein; es kommt dann
vor, daß er manches, was ihm auf dem Wege begegnet, angrunzt.Drittens:
er will kein »teilnehmendes« Herz, sondern Diener, Werkzeuge; er ist,
im Verkehre mit Menschen, immer dar auf aus, etwas aus ihnen zu machen. Er weiß
sich unmittelbar: er findet es geschmacklos, wenn er vertraulich wird; und er
ist es gewöhnlich nicht, wenn man ihn dafür hält. Wenn er nicht
zu sich redet, hat er seine Maske. Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit
redet: es kostet mehr Geist und Willen. Es ist eine Einsamkeit in ihm,
als welche etwas Unerreichbares ist für Lob und Tadel, eine eigene Gerichtsbarkeit,
welche keine Instanz über sich hat. (Ebd., S. 641-642).Der
große Mensch ist notwendig Skeptiker (womit nicht gesagt ist, daß
er es scheinen müßte), vorausgesetzt, daß dies die Größe
ausmacht: etwas Großes wollen und die Mittel dazu. Die Freiheit von jeder
Art Überzeugung gehört zur Stärke seines Willens. So ist
es jenem »aufgeklärten Despotismus« gemäß, den jede
große Leidenschaft ausübt. Eine solche nimmt den Intellekt in ihren
Dienst; sie hat den Mut auch zu unheiligen Mitteln; sie macht unbedenklich; sie
gönnt sich Überzeugungen, sie braucht sie selbst, aber sie unterwirft
sich ihnen nicht. Das Bedürfnis nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem
in Ja und Nein ist ein Beweis der Schwäche; alle Schwäche ist Willensschwäche.
Der Mensch des Glaubens, der Gläubige ist notwendig eine kleine Art Mensch.
Hieraus ergibt sich, daß »Freiheit des Geistes«, d.h. Unglaube
als Instinkt, Vorbedingung der Größe ist. (Ebd., S. 642).Der
große Mensch fühlt seine Macht über ein Volk, sein zeitweiliges
Zusammenfallen mit einem Volke oder einem Jahrtausende diese Vergrößerung
im Gefühl von sich als causa und voluntas wird mißverstanden
als »Altruismus« es drängt ihn nach Mitteln der
Mitteilung: alle großen Menschen sind erfinderisch in solchen Mitteln. Sie
wollen sich hineingestalten in große Gemeinden, sie wollen eine Form dem
Vielartigen, Ungeordneten geben, es reizt sie, das Chaos zu sehn. Mißverständnis
der Liebe. Es gibt eine sklavische Liebe, welche sich unterwirft und weggibt:
welche idealisiert und sich täuscht es gibt eine göttliche Liebe,
welche verachtet und liebt und das Geliebte umschafft, hinaufträgt.
Jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um, durch Züchtung
und andrerseits durch Vernichtung von Millionen Mißratener, den zukünftigen
Menschen zu gestalten und nicht zugrunde zu gehn an dem Leid, das man schafft
und dessengleichen noch nie da war! (Ebd., S. 642-643).Die
Revolution, Verwirrung und Not der Völker ist das Geringere in meiner Betrachtung
gegen die Not der großen Einzelnen in ihrer Entwicklung. Man muß
sich nicht täuschen lassen: die vielen Nöte aller dieser Kleinen
bilden zusammen keine Summe, außer im Gefühle von mächtigen
Menschen. An sich denken, in Augenblicken großer Gefahr: seinen Nutzen
ziehn aus dem Nachteile vieler das kann bei einem sehr hohen Grade von
Abweichung ein Zeichen großen Charakters sein, der über seine mitleidigen
und gerechten Empfindungen Herr wird. (Ebd., S. 643).Der
Mensch hat, im Gegensatz zum Tier, eine Fülle gegensätzlicher
Triebe und Impulse in sich großgezüchtet: vermöge dieser Synthesis
ist er der Herr der Erde. Moralen sind der Ausdruck lokal beschränkter
Rangordnungen in dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren
Widersprüchen der Mensch nicht zugrunde geht. Also ein Trieb als Herr,
sein Gegentrieb geschwächt, verfeinert, als Impuls, der den Reiz für
die Tätigkeit des Haupttriebes abgibt. Der höchste Mensch würde
die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten
Stärke, die sich noch ertragen läßt. In der Tat: wo die Pflanze
Mensch sich stark zeigt, findet man die mächtig gegeneinander treibenden
Instinkte (z. B. Shakespeare), aber gebändigt. (Ebd., S. 643-644).Ob
man nicht ein Recht hat, alle großen Menschen unter die bösen
zu rechnen? Im einzelnen ist es nicht rein aufzuzeigen. Oft ist ihnen ein meisterhaftes
Versteckenspielen möglich gewesen, so daß sie die Gebärden und
Äußerlichkeiten großer Tugenden annahmen. Oft verehrten sie die
Tugenden ernsthaft und mit einer leidenschaftlichen Härte gegen sich selber,
aber aus Grausamkeit dergleichen täuscht, aus der Ferne gesehen. Manche
verstanden sich selber falsch; nicht selten fordert eine große Aufgabe große
Qualitäten heraus, z. B. die Gerechtigkeit. Das Wesentliche ist: die Größten
haben vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegensätze.
Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegensätze und aus deren
Gefühle gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung,
entsteht (Ebd., S. 644).Im großen Menschen sind
die spezifischen Eigenschaften des Lebens Unrecht, Lüge, Ausbeutung
am größten. Insofern sie aber überwältigend
gewirkt haben, ist ihr Wesen am besten mißverstanden und ins Gute interpretiert
worden. Typus Carlyle als Interpret. (Ebd., S. 644-645).Im
allgemeinen ist jedes Ding so viel wert, als man dafür bezahlt hat. Dies
gilt freilich nicht, wenn man das Individuum isoliert nimmt; die großen
Fähigkeiten des einzelnen stehen außer allem Verhältnis zu dem,
was er selbst dafür getan, geopfert, gelitten hat. Aber sieht man seine Geschlechts-Vorgeschichte
an, so entdeckt man da die Geschichte einer Ungeheuern Aufsparung und Kapital-Sammlung
von Kraft, durch alle Art Verzichtleisten, Ringen, Arbeiten, Sich-Durchsetzen.
Weil der große Mensch so viel gekostet hat und nicht, weil er wie ein Wunder,
als Gabe des Himmels und »Zufalls« dasteht, wurde er groß
»Vererbung« ein falscher Begriff. Für das, was einer ist, haben
seine Vorfahren die Kosten bezahlt. (Ebd., S. 645).Menschen,
die Schicksale sind, die, indem sie sich tragen, Schicksale tragen, die ganze
Art der heroischen Lastträger: o wie gerne möchten sie einmal
von sich selber ausruhn! wie dürsten sie nach starken Herzen und Nacken,
um für Stunden wenigstens loszuwerden, was sie drückt! Und wie umsonst
dürsten sie! ... Sie warten; sie sehen sich alles an, was vorübergeht:
niemand kommt ihnen auch nur mit dem Tausendstel Leiden und Leidenschaft entgegen,
niemand errät, inwiefern sie warten .... Endlich, endlich lernen sie
ihre erste Lebensklugheit nicht mehr zu warten; und dann alsbald auch ihre
zweite: leutselig zu sein, bescheiden zu sein, von nun an jedermann zu ertragen,
jederlei zu ertragen kurz, noch ein wenig mehr zu ertragen, als
sie bisher schon getragen haben. (Ebd., S. 646).
4.1.6) Der höchste Mensch als Gesetzgeber der Zukunft
Gesetzgeber
der Zukunft. Nachdem ich lange und umsonst mit dem Worte »Philosoph«
einen bestimmten Begriff zu verbinden suchte denn ich fand viele entgegengesetzte
Merkmale , erkannte ich endlich, daß es zwei unterschiedliche Arten
von Philosophen gibt:1. solche, welche irgendeinen
großen Tatbestand von Wertschätzungen (logisch oder moralisch) feststellen
wollen;2. solche, welche Gesetzgeber solcher
Wertschätzungen sind.Die ersten suchen sich
der vorhandenen oder vergangenen Welt zu bemächtigen, indem sie das mannigfach
Geschehende durch Zeichen zusammenfassen und abkürzen: ihnen liegt daran,
das bisherige Geschehen übersichtlich, überdenkbar, faßbar, handlich
zu machen sie dienen der Aufgabe des Menschen, alle vergangenen Dinge zum
Nutzen seiner Zukunft zu verwenden.Die zweiten
aber sind Befehlende; sie sagen: »So soll es sein!« Sie bestimmen
erst das »Wohin« und »Wozu«, den Nutzen, was Nutzen der
Menschen ist; sie verfügen über die Vorarbeit der wissenschaftlichen
Menschen, und alles Wissen ist ihnen nur ein Mittel zum Schaffen. Diese zweite
Art von Philosophen gerät selten; und in der Tat ist ihre Lage und Gefahr
ungeheuer. Wie oft haben sie sich absichtlich die Augen zugebunden, um nur den
schmalen Raum nicht sehen zu müssen, der sie vom Abgrund und Absturz trennt:
z. B. Plato, als er sich überredete, das »Gute«, wie er es wollte,
sei nicht das Gute Platos, sondern das »Gute an sich«, der ewige Schatz,
den nur irgendein Mensch, namens Plato, auf seinem Wege gefunden habe! In viel
gröberen Formen waltet dieser selbe Wille zur Blindheit bei den Religionsstiftern:
ihr »du sollst« darf durchaus ihren Ohren nicht klingen wie »ich
will« nur als dem Befehl eines Gottes wagen sie ihrer Aufgabe nachzukommen,
nur als »Eingebung« ist ihre Gesetzgebung der Werte eine tragbare
Bürde, unter der ihr Gewissen nicht zerbricht.Sobald
nun jene zwei Trostmittel, das Platos und das Mohammeds, dahingefallen sind und
kein Denker mehr an der Hypothese eines »Gottes« oder »ewiger
Werte« sein Gewissen erleichtern kann, erhebt sich der Anspruch des Gesetzgebers
neuer Werte zu einer neuen und noch nicht erreichten Furchtbarkeit. Nunmehr werden
jene Auserkornen, vor denen die Ahnung einer solchen Pflicht aufzudämmern
beginnt, den Versuch machen, ob sie ihr wie als ihrer größten Gefahr
nicht noch »zur rechten Zeit« durch irgendeinen Seitensprung entschlüpfen
möchten: zum Beispiel indem sie sich einreden, die Aufgabe sei schon gelöst,
oder sie sei unlösbar, oder sie hätten keine Schultern für solche
Lasten, oder sie seien schon mit andern, näheren Aufgaben überladen,
oder selbst diese neue ferne Pflicht sei eine Verführung und Versuchung,
eine Abführung von allen Pflichten, eine Krankheit, eine Art Wahnsinn. Manchem
mag es in der Tat gelingen, auszuweichen: es geht durch die ganze Geschichte hindurch
die Spur solcher Ausweichenden und ihres schlechten Gewissens. Zumeist aber kam
solchen Menschen des Verhängnisses jene erlösende Stunde, jene Herbst-Stunde
der Reife, wo sie mußten, was sie nicht einmal »wollten«
und die Tat, vor der sie sich am meisten vorher gefürchtet hatten, fiel ihnen
leicht und ungewollt vom Baume, als eine Tat ohne Willkür, fast als Geschenk.
(Ebd., S. 647-648).Der menschliche Horizont. Man
kann die Philosophen auffassen als solche, welche die äußerste Anstrengung
machen, zu erproben, wie weit sich der Mensch erheben könne
besonders Plato: wie weit seine Kraft reicht. Aber sie tun es als Individuen;
vielleicht war der Instinkt der Cäsaren, der Staatengründer usw.
größer, welche daran denken, wie weit der Mensch getrieben werden könne
in der Entwicklung und unter »günstigen Umständen«.
Aber sie begriffen nicht genug, was günstige Umstände sind. Große
Frage: wo bisher die Pflanze »Mensch« am prachtvollsten gewachsen
ist. Dazu ist das vergleichende Studium der Historie nötig. (Ebd.,
S. 649).Ein Faktum, ein Werk ist für jede Zeit und jede neue
Art von Mensch von neuer Beredsamkeit. Die Geschichte redet immer neue
Wahrheiten. (Ebd., S. 649).Objektiv, hart, fest, streng
bleiben im Durchsetzen eines Gedankens das bringen die Künstler noch
am besten zustande; wenn einer aber Menschen dazu nötig hat (wie Lehrer,
Staatsmänner usw.), da geht die Ruhe und Kälte und Härte schnell
davon. Man kann bei Naturen wie Cäsar und Napoleon etwas ahnen von einem
»interesselosen« Arbeiten an ihrem Marmor, mag dabei von Menschen
geopfert werden, was nur möglich. Auf dieser Bahn liegt die Zukunft der höchsten
Menschen: die größte Verantwortlichkeit tragen und nicht daran
zerbrechen. Bisher waren fast immer Inspirations-Täuschungen nötig,
um selbst den Glauben an sein Recht und seine Hand nicht zu verlieren.
(Ebd., S. 649).Weshalb der Philosoph selten gerät.
Zu seinen Bedingungen gehören Eigenschaften, die gewöhnlich einen Menschen
zugrunde richten:1. eine ungeheure Vielheit von
Eigenschaften, er muß eine Abbreviatur des Menschen sein, aller seiner hohen
und niedern Begierden: Gefahr der Gegensätze, auch des Ekels an sich;2.
er muß neugierig nach den verschiedensten Seiten sein: Gefahr der Zersplitterung;3.
er muß gerecht und billig im höchsten Sinne sein, aber tief auch in
Liebe, Haß (und Ungerechtigkeit);4. er
muß nicht nur Zuschauer, sondern Gesetzgeber sein: Richter und Gerichteter
(insofern er eine Abbreviatur der Welt ist);5.
äußerst vielartig, und doch fest und hart. Geschmeidig. (Ebd.,
S. 650).Der eigentlich königliche Beruf des Philosophen
(nach dem Ausdruck Alkuins des Angelsachsen): prava corrigere, et recta corroborare,
et sancta sublimare. (Ebd., S. 650).Der neue Philosoph
kann nur in Verbindung mit einer herrschenden Kaste entstehen, als deren höchste
Vergeistigung. Die große Politik, Erdregierung in der Nähe; vollständiger
Mangel an Prinzipien dafür. (Ebd., S. 650).Grundgedanke:
die neuen Werte müssen erst geschaffen werden das bleibt uns nicht
erspart! Der Philosoph muß uns ein Gesetzgeber sein. Neue Arten.
(Wie bisher die höchsten Arten [z. B. Griechen] gezüchtet wurden: diese
Art »Zufall« bewußt wollen.) (Ebd., S. 650).Gesetzt,
man denkt sich einen Philosophen als großen Erzieher, mächtig genug,
um von einsamer Höhe herab lange Ketten von Geschlechtern zu sich hinaufzuziehen:
so muß man ihm auch die unheimlichen Vorrechte des großen Erziehers
zugestehen. Ein Erzieher sagt nie, was er selber denkt: sondern immer nur, was
er im Verhältnis zum Nutzen dessen, den er erzieht, über eine Sache
denkt. In dieser Verstellung darf er nicht erraten werden; es gehört zu seiner
Meisterschaft, daß man an seine Ehrlichkeit glaubt. Er muß aller Mittel
der Zucht und Züchtigung fähig sein: manche Naturen bringt er nur durch
Peitschenschläge des Hohnes vorwärts, andere. Träge, Unschlüssige,
Feige, Eitle, vielleicht mit übertreibendem Lobe. Ein solcher Erzieher ist
jenseits von Gut und Böse; aber niemand darf es wissen. (Ebd., S. 651).Nicht
die Menschen »besser« machen, nicht zu ihnen auf irgendeine Art
Moral reden, als ob »Moralität an sich«, oder eine ideale Art
Mensch überhaupt, gegeben sei: sondern Zustände schaffen, unter
denen stärkere Menschen nötig sind, welche ihrerseits eine Moral
(deutlicher: eine leiblich-geistige Disziplin), welche stark macht, brauchen
und folglich haben werden! Sich nicht durch blaue Augen oder geschwellte Busen
verführen lassen: die Größe der Seele hat nichts Romantisches
an sich. Und leider gar nichts Liebenswürdiges! (Ebd., S. 651).Man
muß von den Kriegen her lernen:1. den Tod
in die Nähe der Interessen zu bringen, für die man kämpft
das macht uns ehrwürdig; 2. man muß
lernen, viele zum Opfer bringen und seine Sache wichtig genug nehmen, um die Menschen
nicht zu schonen;3. die starre Disziplin, und
im Krieg Gewalt und List sich zugestehn. (Ebd., S. 651-652).Die
Erziehung zu jenen Herrscher-Tugenden, welche auch über sein
Wohlwollen und Mitleiden Herr werden: die großen Züchter-Tugenden (»seinen
Feinden vergeben« ist dagegen Spielerei), den Affekt des Schaffenden
auf die Höhe bringen nicht mehr Marmor behauen! Die
Ausnahme- und Macht-Stellung jener Wesen (verglichen mit der der bisherigen Fürsten):
der römische Cäsar mit Christi Seele. (Ebd., S. 652).Seelengröße
nicht zu trennen von geistiger Größe. Denn sie involviert Unabhängigkeit;
aber ohne geistige Größe soll diese nicht erlaubt sein, sie richtet
Unfug an, selbst noch durch Wohltun-wollen und »Gerechtigkeit«-üben.
Die geringen Geister haben zu gehorchen können also nicht Größe
haben. (Ebd., S. 652).Der höhere philosophische Mensch,
der um sich Einsamkeit hat, nicht weil er allein sein will, sondern weil er etwas
ist, das nicht seinesgleichen findet: welche Gefahren und neuen Leiden sind ihm
gerade heute aufgespart, wo man den Glauben an die Rangordnung verlernt hat und
folglich diese Einsamkeit nicht zu ehren und nicht zu verstehen weiß! Ehemals
heiligte sich der Weise beinahe durch ein solches Beiseite-gehen für das
Gewissen der Menge heute sieht sich der Einsiedler wie mit einer Wolke
trüber Zweifel und Verdächtigungen umringt. Und nicht etwa nur von seiten
der Neidischen und Erbärmlichen: er muß Verkennung, Vernachlässigung
und Oberflächlichkeit noch an jedem Wohlwollen herausempfinden, das er erfährt,
er kennt jene Heimtücke des beschränkten Mitleidens, welches sich selber
gut und heilig fühlt, wenn es ihn, etwa durch bequemere Lagen, durch geordnetere,
zuverlässigere Gesellschaft, vor sich selber zu »retten« sucht
ja er wird den unbewußten Zerstörungstrieb zu bewundern haben,
mit dem alle Mittelmäßigen des Geistes gegen ihn tätig sind, und
zwar im besten Glauben an ihr Recht dazu! Es ist für Men schen dieser unverständlichen
Vereinsamung nötig, sich tüchtig und herzhaft auch in den Mantel der
äußeren, der räumlichen Einsamkeit zu wickeln: das gehört
zu ihrer Klugheit. Selbst List und Verkleidung werden heute not tun, damit ein
solcher Mensch sich selber erhalte, sich selber oben erhalte, inmitten der niederziehenden
gefährlichen Stromschnellen der Zeit. Jeder Versuch, es in der Gegenwart,
mit der Gegenwart auszuhalten, jede Annäherung an diese Menschen und Ziele
von heute muß er wie seine eigentliche Sünde abbüßen: und
er mag die verborgene Weisheit seiner Natur anstaunen, welche ihn bei allen solchen
Versuchen sofort durch Krankheit und schlimme Unfälle wieder zu sich selber
zurückzieht. (Ebd., S. 652-653).Die schwierigste und
höchste Gestalt des Menschen wird am seltensten gelingen: so zeigt die Geschichte
der Philosophie eine Überfülle von Mißratenen, von Unglücksfällen
und ein äußerst langsames Schreiten; ganze Jahrtausende fallen dazwischen
und erdrücken, was erreicht war; der Zusammenhang hört immer wieder
auf. Das ist eine schauerliche Geschichte die Geschichte des höchsten
Menschen, des Weisen. Am meisten geschädigt ist gerade das Gedächtnis
der Großen, denn die Halb-Geratenen und Mißratenen verkennen sie und
besiegen sie durch »Erfolge«. Jedesmal, wo »die Wirkung«
sich zeigt, tritt eine Masse Pöbel auf den Schauplatz; das Mitreden der Kleinen
und der Armen im Geiste ist eine fürchterliche Ohrenmarter für den,
der mit Schauder weiß, daß das Schicksal der Menschheit am Geraten
ihres höchsten Typus liegt. Ich habe von Kindesbeinen an über
die Existenzbedingungen des Weisen nachgedacht und will meine frohe Überzeugung
nicht verschweigen, daß er jetzt in Europa wieder möglich wird
vielleicht nur für kurze Zeit. (Ebd., S. 653-654).Die
neuen Philosophen aber beginnen mit der Darstellung der tatsächlichen Rangordnung
und Wert-Verschiedenheit der Menschen sie wollen, ach, gerade das Gegenteil
einer Anähnlichung, einer Ausgleichung sie lehren die Entfremdung in jedem
Sinne, sie reißen Klüfte auf, wie es noch keine gegeben hat, sie wollen,
daß der Mensch böser werde, als er je war. Einstweilen leben sie noch
selber einander fremd und verborgen. Es wird ihnen aus vielen Gründen nötig
sein, Einsiedler zu sein und selbst Masken vorzunehmen sie werden folglich
schlecht zum Suchen von ihresgleichen taugen. Sie werden allein leben und wahrscheinlich
die Martern aller sieben Einsamkeiten kennen. Laufen sie sich aber über den
Weg, durch einen Zufall, so ist darauf zu wetten, daß sie sich verkennen
oder wechselseitig betrügen. (Ebd., S. 654).Ich vergaß
zu sagen, daß solche Philosophen heiter sind und daß sie gerne in
dem Abgrund eines vollkommen hellen Himmels sitzen sie haben andere Mittel
nötig, das Leben zu ertragen, als andere Menschen; denn sie leiden anders
(nämlich ebensosehr an der Tiefe ihrer Menschen-Verachtung als an ihrer Menschen-Liebe).
Das leidendste Tier auf Erden erfand sich das Lachen.
(Ebd., S. 655).Über das Mißverständnis der »Heiterkeit«.
Zeitweilige Erlösung von der langen Spannung; der Übermut, die Saturnalien
eines Geistes, der sich zu langen und furchtbaren Entschlüssen weiht und
vorbereitet. Der »Narr« in der Form der »Wissenschaft«.
(Ebd., S. 655).Neue Rangordnung der Geister: nicht mehr die tragischen
Naturen voran. (Ebd., S. 655).Es ist mir ein Trost, zu wissen,
daß über dem Dampf und Schmutz der menschlichen Niederungen es eine
höhere, hellere Menschheit gibt, die der Zahl nach eine sehr kleine
sein wird ( denn alles, was hervorragt, ist seinem Wesen nach selten): man
gehört zu ihr, nicht weil man begabter oder tugendhafter oder heroischer
oder liebevoller wäre als die Menschen da unten, sondern weil man
kälter, heller, weitsichtiger, einsamer ist, weil man die Einsamkeit
erträgt, vorzieht, fordert als Glück, Vorrecht, ja Bedingung des Daseins,
weil man unter Wolken und Blitzen wie unter seinesgleichen lebt, aber ebenso unter
Sonnenstrahlen, Tautropfen, Schneeflocken und allem, was notwendig aus der Höhe
kommt und, wenn es sich bewegt, sich ewig nur in der Richtung von oben nach
unten bewegt. Die Aspirationen nach der Höhe sind nicht die unsrigen.
Die Helden, Märtyrer, Genies und Begeisterten sind uns nicht still,
geduldig, fein, kalt, langsam genug. (Ebd., S. 655-656).Absolute
Überzeugung: daß die Wertgefühle oben und unten verschieden
sind; daß zahllose Erfahrungen den Unteren fehlen, daß
von unten nach oben das Mißverständnis notwendig ist.
(Ebd., S. 656).Wie kommen Menschen zu einer großen Kraft
und zu einer großen Aufgabe? Alle Tugend und Tüchtigkeit am Leib und
an der Seele ist mühsam und im kleinen erworben worden, durch viel Fleiß,
Selbstbezwingung, Beschränkung auf weniges, durch viel zähe, treue Wiederholung
der gleichen Arbeiten, der gleichen Entsagungen: aber es gibt Menschen, welche
die Erben und Herren dieses langsam erworbenen vielfachen Reichtums an Tugenden
und Tüchtigkeiten sind weil auf Grund glücklicher und vernünftiger
Ehen und auch glücklicher Zufälle die erworbenen und gehäuften
Kräfte vieler Geschlechter nicht verschleudert und versplittert, sondern
durch einen festen Ring und Willen zusammengebunden sind. Am Ende nämlich
erscheint ein Mensch, ein Ungeheuer von Kraft, welches nach einem Ungeheuer von
Aufgabe verlangt. Denn unsere Kraft ist es, welche über uns verfügt:
und das erbärmliche geistige Spiel von Zielen und Absichten und Beweggründen
nur ein Vordergrund mögen schwache Augen auch hierin die Sache selber
sehn. (Ebd., S. 656-657).Der sublime Mensch hat den höchsten
Wert, auch wenn er ganz zart und zerbrechlich ist, weil eine Fülle von ganz
schweren und seltenen Dingen durch viele Geschlechter gezüchtet und beisammen
erhalten worden ist. (Ebd., S. 657).Ich lehre: daß
es höhere und niedere Menschen gibt und daß ein einzelner ganzen Jahrtausenden
unter Umständen ihre Existenz rechtfertigen kann das heißt ein
voller, reicher, großer, ganzer Mensch in Hinsicht auf zahllose unvollständige
Bruchstück-Menschen. (Ebd., S. 657).Jenseits der Herrschenden,
losgelöst von allen Banden, leben die höchsten Menschen: und in den
Herrschenden haben sie ihre Werkzeuge. (Ebd., S. 657).Rangordnung:
Der die Werte bestimmt und den Willen von Jahrtausenden lenkt, dadurch, daß
er die höchsten Naturen lenkt, ist der höchste Mensch. (Ebd.,
S. 657).Ich glaube, ich habe einiges aus der Seele des höchsten
Menschen erraten; vielleicht geht jeder zugrunde, der ihn errät:
aber wer ihn gesehn hat, muß helfen, ihn zu ermöglichen. Grundgedanke:
wir müssen die Zukunft als maßgebend nehmen für alle unsere
Wertschätzung und nicht hinter uns die Gesetze unseres Handelns
suchen! (Ebd., S. 657-658).Nicht »Menschheit«,
sondern Übermensch ist das Ziel! (Ebd., S. 658).
4.2.1) Dionysos
Dem
Wohlgeratenen, der meinem Herzen wohltut, aus einem Holz geschnitzt, welches
hart, zart und wohlriechend ist an dem selbst die Nase noch ihre Freude
hat , sei dies Buch geweiht.Ihm schmeckt,
was ihm zuträglich ist;sein Gefallen an
etwas hört auf, wo das Maß des Zuträglichen überschritten
wird;er errät die Heilmittel gegen partielle
Schädigungen; er hat Krankheiten als große Stimulantia seines Lebens;er
versteht seine schlimmen Zufälle auszunützen;er
wird stärker, durch die Unglücksfälle, die ihn zu vernichten drohen;er
sammelt instinktiv aus allem, was er sieht, hört, erlebt, zugunsten seiner
Hauptsache er folgt einem auswählenden Prinzip er läßt
viel durchfallen;er reagiert mit der Langsamkeit,
welche eine lange Vorsicht und ein gewollter Stolz angezüchtet haben
er prüft den Reiz, woher er kommt, wohin er will, er unterwirft sich nicht;er
ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder
Landschaften verkehrt;er ehrt, indem er wählt,
indem er zuläßt, indem er vertraut. (Ebd., S. 659).Eine
Höhe und Vogelschau der Betrachtung gewinnen, wo man begreift, wie alles
so, wie es gehen sollte, auch wirklich geht: wie jede Art »Unvollkommenheit«
und das Leiden an ihr mit hinein in die höchste Wünschbarkeit
gehört (Ebd., S. 659-660).
Gegen 1876 hatte ich den Schrecken,
mein ganzes bisheriges Wollen kompromittiert zu sehen, als ich
begriff, wohin es jetzt mit Wagner hinauswollte: und ich war sehr fest
an ihn gebunden, durch alle Bande der tiefen Einheit der Bedürfnisse,
durch Dankbarkeit, durch die Ersatzlosigkeit und absolute Entbehrung,
die ich vor mir sah. Um dieselbe Zeit schien ich mir wie unauflösbar
eingekerkert in meine Philologie und Lehrtätigkeit
in einen Zufall und Notbehelf meines Lebens : ich wußte nicht
mehr, wie herauskommen, und war müde, verbraucht, vernutzt. Um dieselbe
Zeit begriff ich, daß mein Instinkt auf das Gegenteil hinauswollte
als der Schopenhauers: auf eine Rechtfertigung des Lebens, selbst
in seinem Furchtbarsten, Zweideutigsten und Lügenhaftesten
dafür hatte ich die Formel »dionysisch«, in den
Händen. Daß ein »An-sich der Dinge« notwendig gut,
selig, wahr, eins sein müsse, dagegen war Schopenhauers Interpretation
des »An-sichs« als Wille ein wesentlicher Schritt: nur verstand
er nicht, diesen Willen zu vergöttlichen: er blieb im moralisch-christlichen
Ideal hängen. Schopenhauer stand so weit noch unter der Herrschaft
der christlichen Werte, daß er, nachdem ihm das Ding an sich nicht
mehr »Gott« war, es schlecht, dumm, absolut verwerflich sehen
mußte. Er begriff nicht, daß es unendliche Arten des Anders-sein-könnens,
selbst des Gott-sein-könnens geben kann. (Ebd., S. 660).
Die
moralischen Werte waren bis jetzt die obersten Werte: will das jemand in Zweifel
ziehen?... Entfernen wir diese Werte von jener Stelle, so verändern wir alle
Werte: das Prinzip ihrer bisherigen Rangordnung ist damit umgeworfen.
(Ebd., S. 661).Werte umwerten was wäre das? Es müssen
die spontanen Bewegungen alle da sein, die neuen, zukünftigen, stärkeren:
nur stehen sie noch unter falschen Namen und Schätzungen und sind sich selbst
noch nicht bewußt geworden.Ein mutiges Bewußt-werden und Ja-sagen
zu dem, was erreicht ist ein Losmachen von dem Schlendrian alter Wertschätzungen,
die uns entwürdigen im Besten und Stärksten, was wir erreicht haben.
(Ebd., S. 661).Jede Lehre ist überflüssig, für die
nicht alles schon bereitliegt an aufgehäuften Kräften, an Explosiv-Stoffen.
Eine Umwertung von Werten wird nur erreicht, wenn eine Spannung von neuen Bedürfnissen,
von Neu-Bedürftigen da ist, welche an den alten Werten leiden, ohne zum Bewußtsein
zu kommen. (Ebd., S. 661-662).Gesichtspunkte für meine
Werte: ob aus der Fülle oder aus dem Verlangen? ob man zusieht oder Hand
anlegt oder wegsieht, beiseite geht?... ob aus der aufgestauten Kraft,
»spontan«, oder bloß reaktiv angeregt, angereizt? ob
einfach, aus Wenigkeit der Elemente, oder aus überwältigender
Herrschaft über viele, so daß sie dieselben in Dienst nimmt, wenn sie
sie braucht? ob man Problem oder Lösung ist? ob vollkommen bei
der Kleinheit der Aufgabe oder unvollkommen bei dem Außerordentlichen
eines Ziels? ob man echt oder nur Schauspieler, ob man als Schauspieler
echt oder nur ein nachgemachter Schauspieler, ob man »Vertreter« oder
das Vertretene selbst ist ? ob »Person« oder bloß ein
Rendez-vous von Personen ..., ob krank aus Krankheit oder aus überschüssiger
Gesundheit? ob man vorangeht als Hirt oder als »Ausnahme« (dritte
Spezies: als Entlaufener)? ob man Würde nötig hat oder
den »Hanswurst«? ob man den Widerstand sucht oder ihm aus dem Wege
geht? ob man unvollkommen ist, als »zu früh« oder als »zu
spät«? ob man von Natur ja sagt oder nein sagt oder ein Pfauenwedel
von bunten Dingen ist? ob man stolz genug ist, um sich auch seiner Eitelkeit nicht
zu schämen? ob man eines Gewissensbisses noch fähig ist ( die
Spezies wird selten: früher hatte das Gewissen zu viel zu beißen: es
scheint, jetzt hat es nicht mehr Zähne genug dazu)? ob man einer »Pflicht«
noch fähig ist? ( es gibt solche, die sich den Rest ihrer Lebenslust
rauben würden, wenn sie sich die Pflicht rauben ließen
sonderlich die Weiblichen, die Untertänig-Geborenen.) (Ebd., S. 662).Gesetzt,
unsere übliche Auffassung der Welt wäre ein Mißverständnis:
könnte eine Vollkommenheit konzipiert werden, innerhalb deren selbst
solche Mißverständnisse sanktioniert wären? Konzeption
einer neuen Vollkommenheit: das, was unserer Logik, unserem »Schönen«,
unserem »Guten«, unserem »Wahren« nicht entspricht, könnte
in einem höheren Sinne vollkommen sein, als es unser Ideal selbst
ist. (Ebd., S. 662-663).Unsere große Bescheidung:
das Unbekannte nicht vergöttern; wir fangen eben an, wenig zu wissen. Die
falschen und verschwendeten Bemühungen. Unsere »neue Welt«: wir
müssen erkennen, bis zu welchem Grade wir die Schöpfer unsrer
Wertgefühle sind also »Sinn« in die Geschichte legen können.Dieser
Glaube an die Wahrheit geht in uns zu seiner letzten Konsequenz ihr wißt,
wie sie lautet : daß, wenn es überhaupt etwas anzubeten gibt,
es der Schein ist, der angebetet werden muß, daß die Lüge
und nicht die Wahrheit göttlich ist! (Ebd., S. 663).Wer
die Vernünftigkeit vorwärts stößt, treibt damit die entgegengesetzte
Macht auch wieder zu neuer Kraft, die Mystik und Narrheit aller Art. In jeder
Bewegung zu unterscheiden:1. daß sie
teilweise Ermüdung ist von einer vorhergegangenen Bewegung (Sattheit
davon, Bosheit der Schwäche gegen sie, Krankheit);2.
daß sie teilweise eine neu aufgewachte, lange schlummernde aufgehäufte
Kraft ist, freudig, übermutig, gewalttätig: Gesundheit. (Ebd.,
S. 663).Gesundheit und Krankhaftigkeit: man sei vorsichtig! Der
Maßstab bleibt die Effloreszenz des Leibes, die Sprungkraft, Mut und Lustigkeit
des Geistes aber, natürlich auch, wieviel von Krankhaftem er auf
sich nehmen und überwinden kann gesund machen kann. Das, woran
die zarteren Menschen zugrunde gehen würden, gehört zu den Stimulanz-Mitteln
der großen Gesundheit. (Ebd., S. 663-664).Es ist nur
eine Sache der Kraft: alle krankhaften Züge des Jahrhunderts haben, aber
ausgleichen in einer überreichen plastischen wiederherstellenden Kraft. Der
starke Mensch. (Ebd., S. 664).Zur Stärke des
19. Jahrhunderts. Wir sind mittelalterlicher als das 18. Jahrhundert;
nicht bloß neugieriger oder reizbarer für Fremdes und Seltnes. Wir
haben gegen die Revolution revoltiert .... Wir haben uns von der Furcht
vor der raison, dem Gespenst des 18. Jahrhunderts, emanzipiert: wir wagen
wieder absurd, kindisch, lyrisch zu sein mit einem Wort: »wir sind
Musiker«. Ebensowenig fürchten wir uns vor dem Lächerlichen
wie vor dem Absurden. Der Teufel findet die Toleranz Gottes zu seinen
Gunsten: mehr noch, er hat ein Interesse als der Verkannte, Verleumdete von alters
her wir sind die Ehrenretter des Teufels. Wir trennen das Große nicht
mehr von dem Furchtbaren. Wir rechnen die guten Dinge zusammen in ihrer Komplexität
mit den schlimmsten: wir haben die absurde »Wünschbarkeit«
von ehedem überwunden (die das Wachstum des Guten wollte ohne das
Wachstum des Bösen ). Die Feigheit vor dem Ideal der Renaissance hat
nachgelassen wir wagen es, zu ihren Sitten selbst zu aspirieren. Die Intoleranz
gegen den Priester und die Kirche hat zu gleicher Zeit ein Ende bekommen; »es
ist unmoralisch, an Gott zu glauben« aber gerade das gilt uns als
die beste Form der Rechtfertigung dieses Glaubens. Wir haben alledem ein Recht
bei uns gegeben. Wir fürchten uns nicht vor der Kehrseite der »guten
Dinge« ( wir suchen sie: wir sind tapfer und neugierig genug
dazu), z.B. am Griechentum, an der Moral, an der Vernunft, am guten Geschmack
( wir rechnen die Einbuße nach, die man mit all solchen Kostbarkeiten
macht: man macht sich beinahe arm mit einer solchen Kostbarkeit ).
Ebensowenig verhehlen wir uns die Kehrseite der schlimmen Dinge (Ebd., S.
664-665).Was uns Ehre macht. Wenn irgend etwas uns
Ehre macht, so ist es dies: wir haben den Ernst woandershin gelegt: wir nehmen
die von allen Zeiten verachteten und beiseite gelassenen niedrigen Dinge wichtig
wir geben dagegen die »schönen Gefühle« wohlfeil.
Gibt es eine gefährlichere Verirrung als die Verachtung des Leibes? Als ob
nicht mit ihr die ganze Geistigkeit verurteilt wäre zum Krankhaft-werden,
zu den vapeurs des »Idealismus«! Es hat alles nicht Hand noch
Fuß, was von Christen und Idealisten ausgedacht ist: wir sind radikaler.
Wir haben die »kleinste Welt« als das überall Entscheidende entdeckt.
Straßenpflaster, gute Luft im Zimmer, die Speise auf ihren Wertbegriffen;
wir haben Ernst gemacht mit allen Nezessitäten des Daseins und verachten
alles »Schönseelentum« als eine Art der »Leichtfertigkeit
und Frivolität«. Das bisher Verachtetste ist in die erste Linie
gerückt. (Ebd., S. 665).Statt des »Naturmenschen«
Rousseaus hat das 19. Jahrhundert ein wahreres Bild vom »Menschen«
entdeckt es hat dazu den Mut gehabt... Im ganzen ist damit dem christlichen
Begriff »Mensch« eine Wiederherstellung zuteil geworden. Wozu man
nicht den Mut gehabt hat, das ist, gerade diesen »Mensch an sich«
gutzuheißen und in ihm die Zukunft des Menschen garantiert zu sehen. Insgleichen
hat man nicht gewagt, das Wachstum der Furchtbarkeit des Menschen als Begleiterscheinung
jedes Wachstums der Kultur zu begreifen; man ist darin immer noch dem christlichen
Ideal unterwürfig und nimmt dessen Partei gegen das Heidentum, insgleichen
gegen den RenaissanceBegriff der virtù. So aber hat man den Schlüssel
nicht zur Kultur: und in praxi bleibt es bei der Falschmünzerei der Geschichte
zugunsten des »guten Menschen« (wie als ob er allein der Fortschritt
des Menschen sei) und beim sozialistischen Ideal (d.h. dem Residuum des
Christentums und Rousseaus in der entchristlichten Welt). Der Kampf gegen das
18. Jahrhundert: dessen höchste Überwindung durch Goethe und
Napoleon. Auch Schopenhauer kämpft gegen dasselbe; unfreiwillig
aber tritt er zurück ins 17. Jahrhundert er ist ein moderner Pascal,
mit Pascalschen Werturteilen ohne Christentum. Schopenhauer war nicht stark genug
zu einem neuen Ja. Napoleon: die notwendige Zusammengehörigkeit
des höheren und des furchtbaren Menschen begriffen. Der »Mann«
wiederhergestellt; dem Weibe der schuldige Tribut von Verachtung und Furcht zurückgewonnen.
Die »Totalität« als Gesundheit und höchste Aktivität;
die gerade Linie, der große Stil im Handeln wiederentdeckt; der mächtigste
Instinkt, der des Lebens selbst, die Herrschsucht, bejaht. (Ebd., S. 665-667).Zum
Pessimismus der Stärke. In dem innern Seelen-Haushalt des primitiven
Menschen überwiegt die Furcht vor dem Bösen. Was ist das Böse?
Dreierlei: der Zufall, das Ungewisse, das Plötzliche. Wie bekämpft der
primitive Mensch das Böse? Er konzipiert
es als Vernunft, als Macht, als Person selbst. Dadurch gewinnt er die Möglichkeit,
mit ihnen eine Art Vertrag einzugehn und überhaupt auf sie im voraus einzuwirken
zu prävenieren. Ein anderes
Auskunftsmittel ist, die bloße Scheinbarkeit ihrer Bosheit und Schädlichkeit
zu behaupten: man legt die Folgen des Zufalls, des Ungewissen, des Plötzlichen
als wohlgemeint, als sinnvoll aus. Ein
drittes Mittel: man interpretiert vor allem das Schlimme als »verdient«:
man rechtfertigt das Böse als Strafe.
In summa: man unterwirft sich ihm : die ganze moralisch-religiöse
Interpretation ist nur eine Form der Unterwerfung unter das Böse.
Der Glaube, daß im Bösen ein guter Sinn sei, heißt Verzicht leisten,
es zu bekämpfen.Nun stellt die ganze Geschichte
der Kultur eine Abnahme jener Furcht vor dem Zufalle, vor dem Ungewissen,
vor dem Plötzlichen dar. Kultur, das heißt eben berechnen
lernen, kausal denken lernen, prävenieren lernen, an Notwendigkeit glauben
lernen. Mit dem Wachstum der Kultur wird dem Menschen jene primitive Form der
Unterwerfung unter das Übel (Religion oder Moral genannt), jene »Rechtfertigung
des Übels« entbehrlich. Jetzt macht er Krieg gegen das »Übel«
er schafft es ab. Ja, es ist ein Zustand von Sicherheitsgefühl, von
Glaube an Gesetz und Berechenbarkeit möglich, wo er als Überdruß
ins Bewußtsein tritt wo die Lust am Zufall, am Ungewissen und am
Plötzlichen als Kitzel hervorspringt. Verweilen wir einen Augenblick bei
diesem Symptom höchster Kultur ich nenne ihn den Pessimismus
der Stärke. Der Mensch braucht jetzt nicht mehr eine »Rechtfertigung
des Übels«, er perhorresziert gerade das »Rechtfertigen«:
er genießt das Übel pur, cru, er findet das sinnlose Übel
als das interessanteste. Hat er früher einen Gott nötig gehabt, so entzückt
ihn jetzt eine Welt-Unordnung ohne Gott, eine Welt des Zufalls, in der das Furchtbare,
das Zweideutige, das Verführerische zum Wesen gehört. In einem solchen
Zustande bedarf gerade das Gute einer »Rechtfertigung«, d.h.
es muß einen bösen und gefährlichen Untergrund haben oder eine
große Dummheit in sich schließen: dann gefällt es noch.
Die Animalität erregt jetzt nicht mehr Grausen; ein geistreicher und glücklicher
Übermut zugunsten des Tiers im Menschen ist in solchen Zeiten die triumphierendste
Form der Geistigkeit. Der Mensch ist nunmehr stark genug dazu, um sich eines Glaubens
an Gott schämen zu dürfen er darf jetzt von neuem den advocatus
diaboli spielen. Wenn er in praxi die Aufrechterhaltung der Tugend befürwortet,
so tut er es um der Gründe willen, welche in der Tugend eine Feinheit, Schlauheit,
Gewinnsuchts-, Machtsuchtsform erkennen lassen. Auch dieser Pessimismus der
Stärke endet mit einer Theodizee, d.h. mit einem absoluten Ja-sagen
zu der Welt aber um der Gründe willen, auf die hin man zu ihr ehemals
nein gesagt hat : und dergestalt zur Konzeption dieser Welt als des tatsächlich
erreichten höchstmöglichen Ideals. (Ebd., S. 667-669).Die
Hauptarten des Pessimismus:der Pessimismus
der Sensibilität (: die Überreizbarkeit mit einem Übergewicht der
Unlustgefühle);der Pessimismus des »unfreien
Willens« (anders gesagt: der Mangel an Hemmungskräften gegen die Reize);der
Pessimismus des Zweifels (: die Scheu vor allem Festen, vor allem Fassen und Anrühren).Die
dazu gehörigen psychologischen Zustände kann man allesamt im Irrenhause
beobachten, wenn auch in einer gewissen Übertreibung. Insgleichen den »Nihilismus«
(das durchbohrende Gefühl des »Nichts«). Wohin aber gehört
der Moral-Pessimismus Pascals? der metaphysische Pessimismus der
Vedânta-Philosophie? der soziale Pessimismus des Anarchisten (oder
Shelleys)? der Mitgefühls-Pessimismus (wie der Leo Tolstois, Alfred
de Vignys) ? Sind das nicht alles gleichfalls Verfalls- und Erkrankungs-Phänomene?
.... Das exzessive Wichtig-nehmen von Moralwerten oder von »Jenseits«-Fiktionen
oder von sozialen Notständen oder von Leiden überhaupt. Jede solche
Übertreibung eines engeren Gesichtspunktes ist an sich schon
ein Zeichen von Erkrankung. Ebenfalls das Überwiegen des Neins über
das Ja! Was hier nicht zu verwechseln ist: die Lust am Nein-sagen und Nein-
tun aus einer ungeheuren Kraft und Spannung des Ja-sagens eigentümlich
allen reichen und mächtigen Menschen und Zeiten. Ein Luxus gleichsam; eine
Form der Tapferkeit ebenfalls, welche sich dem Furchtbaren entgegenstellt; eine
Sympathie für das Schreckliche und Fragwürdige, weil man, unter anderem,
schrecklich und fragwürdig ist: das Dionysische in Wille, Geist, Geschmack.
(Ebd., S. 669-670).Meine fünf »Neins«.1.
Mein Kampf gegen das Schuldgefühl und die Einmischung des Strafbegriffs
in die physische und metaphysische Welt, insgleichen in die Psychologie, in die
Geschichts-Ausdeutung. Einsicht in die Vermoralisierung aller bisherigen Philosophie
und Wertschätzung. 2. Mein Wiedererkennen
und Herausziehn des überlieferten Ideals, des christlichen, auch wo
man mit der dogmatischen Form des Christentums abgewirtschaftet hat. Die Gefährlichkeit
des christlichen Ideals steckt in seinen Wertgefühlen, in dem, was des
begrifflichen Ausdrucks entbehren kann: mein Kampf gegen das latente Christentum
(z.B. in der Musik, im Sozialismus).3. Mein Kampf
gegen das 18. Jahrhundert Rousseaus, gegen seine »Natur«, seinen
»guten Menschen«, seinen Glauben an die Herrschaft des Gefühls
— gegen die Verweichlichung, Schwächung, Vermoralisierung des Menschen: ein
Ideal, das aus dem Haß gegen die aristokratische Kultur geboren ist und
in praxi die Herrschaft der zügellosen Ressentiments-Gefühle
ist, erfunden als Standarte für den Kampf ( die Schuldgefühls-Moralität
des Christen, die Ressentiments-Moralität eine Attitüde des Pöbels).4.
Mein Kampf gegen die Romantik, in der christliche Ideale und Ideale Rousseaus
zusammenkommen, zugleich aber mit einer Sehnsucht nach den alten Zeiten der priesterlich-aristokratischen
Kultur, nach virtù, nach dem »starken Menschen« etwas
äußerst Hybrides; eine falsche und nachgemachte Art stärkeren Menschtums,
welches die extremen Zustände überhaupt schätzt und in ihnen das
Symptom der Stärke sieht (»Kultus der Leidenschaft«: ein Nachmachen
der expressivsten Formen, furore espressivo nicht aus der Fülle, sondern
dem Mangel) (Was relativ aus der Fülle geboren ist im 19. Jahrhundert,
mit Behagen: heitere Musik usw.; unter Dichtern ist z.B. Stifter
und Gottfried Keller Zeichen von mehr Stärke, innerem Wohlsein als
. Die große Technik und Erfindsamkeit, die Naturwissenschaften, die
Historie (?): relative Erzeugnisse der Stärke, des Selbstzutrauens des 19.
Jahrhunderts.) 5. Mein Kampf gegen die Überherrschaft
der Herden-Instinkte, nachdem die Wissenschaft mit ihnen gemeinsame Sache
macht; gegen den neuerlichen Haß, mit dem alle Art Rangordnung und Distanz behandelt
wird. (Ebd., S. 670-671).Aus dem Druck der Fülle, aus
der Spannung von Kräften, die beständig in uns wachsen und noch nicht
sich zu entladen wissen, entsteht ein Zustand, wie er einem Gewitter vorhergeht:
die Natur, die wir sind, verdüstert sich. Auch das ist »Pessimismus«
.... Eine Lehre, die einem solchen Zustand ein Ende macht, indem sie irgend etwas
befiehlt: eine Umwertung der Werte, vermöge deren den aufgehäuften
Kräften ein Weg, ein Wohin gezeigt wird, so daß sie in Blitzen und
Taten explodieren braucht durchaus keine Glückslehre zu sein: indem
sie Kraft auslöst, die bis zur Qual zusammengedrängt und gestaut
war, bringt sie Glück. (Ebd., S. 672).Die Lust
tritt auf, wo Gefühl der Macht. Das Glück: in dem herrschend
gewordnen Bewußtsein der Macht und des Siegs. Der Fortschritt: die
Verstärkung des Typus, die Fähigkeit zum großen Wollen: alles
andere ist Mißverständnis, Gefahr. (Ebd., S. 672).Eine
Periode, wo die alte Maskerade und Moral-Aufputzung der Affekte Widerwillen macht:
die nackte Natur; wo die Macht-Quantitäten als entscheidend
einfach zugestanden werden (als rangbestimmend); wo der große
Stil wieder auftritt als Folge der großen Leidenschaft.
(Ebd., S. 672).Alles Furchtbare in Dienst nehmen, einzeln,
schrittweise, versuchsweise: so will es die Aufgabe der Kultur; aber bis sie
stark genug dazu ist, muß sie es bekämpfen, mäßigen,
verschleiern, selbst verfluchen. Überall, wo eine Kultur das Böse ansetzt,
bringt sie damit ein Furchtverhältnis zum Ausdruck, also eine Schwäche.
These: alles Gute ist ein dienstbar gemachtes
Böse von ehedem. Maßstab: je
furchtbarer und größer die Leidenschaften sind, die eine Zeit, ein
Volk, ein einzelner sich gestatten kann, weil er sie als Mittel zu brauchen
vermag, um so höher steht seine Kultur ; je mittelmäßiger,
schwächer, unterwürfiger und feiger ein Mensch ist, um so mehr wird
er als böse ansetzen: bei ihm ist das Reich des Bösen am umfänglichsten.
Der niedrigste Mensch wird das Reich des Bösen (d.h. des ihm Verbotenen und
Feindlichen) überall sehen. (Ebd., S. 672-673).Nicht
»das Glück folgt der Tugend« sondern der Mächtigere
bestimmt seinen glücklichen Zustand erst als Tugend. Die bösen
Handlungen gehören zu den Mächtigen und Tugendhaften: die schlechten,
niedrigen zu den Unterworfenen. Der mächtigste Mensch, der Schaffende, müßte
der böseste sein, insofern er sein Ideal an allen Menschen durchsetzt gegen
alle ihre Ideale und sie zu seinem Bilde umschafft. Böse heißt hier:
hart, schmerzhaft, aufgezwungen. Solche Menschen wie Napoleon müssen immer
wieder kommen und den Glauben an die Selbstherrlichkeit des einzelnen befestigen:
er selber aber war durch die Mittel, die er anwenden mußte, korrumpiert
worden und hatte die noblesse des Charakters verloren. Unter einer
andern Art Menschen sich durchsetzend, hätte er andere Mittel anwenden können;
und so wäre es nicht notwendig, daß ein Cäsar schlecht
werden müßte. (Ebd., S. 673).Der Mensch ist
das Untier und Übertier; der höhere Mensch ist der Unmensch
und Übermensch: so gehört es zusammen. Mit jedem Wachstum des Menschen
in die Größe und Höhe wächst er auch in das Tiefe und Furchtbare:
man soll das eine nicht wollen ohne das andere oder vielmehr: je gründlicher
man das eine will, um so gründlicher erreicht man gerade das andere.
(Ebd., S. 674).Zur Größe gehört die Furchtbarkeit:
man lasse sich nichts vormachen. (Ebd., S. 674).Ich habe
die Erkenntnis vor so furchtbare Bilder gestellt, daß jedes »epikureische
Vergnügen« dabei unmöglich ist. Nur die dionysische Lust reicht
aus : ich habe das Tragische erst entdeckt. Bei den Griechen
wurde es, dank ihrer moralistischen Oberflächlichkeit, mißverstanden.
Auch Resignation ist nicht eine Lehre der Tragödie, sondern ein Mißverständnis
derselben! Sehnsucht ins Nichts ist Verneinung der tragischen Weisheit,
ihr Gegensatz! (Ebd., S. 674).Eine volle und mächtige
Seele wird nicht nur mit schmerzhaften, selbst furchtbaren Verlusten, Entbehrungen,
Beraubungen, Verachtungen fertig: sie kommt aus solchen Höllen mit größerer
Fülle und Mächtigkeit heraus: und, um das Wesentlichste zu sagen, mit
einem neuen Wachstum in der Seligkeit der Liebe. Ich glaube, der, welcher etwas
von den untersten Bedingungen jedes Wachstums in der Liebe erraten hat, wird Dante,
als er über die Pforte seines Inferno schrieb: »auch mich schuf die
ewige Liebe«, verstehen. (Ebd., S. 674).Den ganzen
Umkreis der modernen Seele umlaufen, in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben
mein Ehrgeiz, meine Tortur und mein Glück. Wirklich den Pessimismus überwinden
; ein Goethischer Blick voll Liebe und gutem Willen als Resultat.
(Ebd., S. 675).Es ist ganz und gar nicht die erste Frage, ob wir
mit uns zufrieden sind, sondern ob wir überhaupt irgendwomit zufrieden sind.
Gesetzt, wir sagen ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur
zu uns selbst, sondern zu allem Dasein ja gesagt. Denn es steht nichts für
sich, weder in uns selbst noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsre
Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle
Ewigkeiten nötig, um dies eine Geschehen zu bedingen und alle Ewigkeit
war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst,
gerechtfertigt und bejaht. (Ebd., S. 675).Die ja-sagenden
Affekte: der Stolz, die Freude, die Gesundheit, die Liebe der Geschlechter,
die Feindschaft und der Krieg, die Ehrfurcht, die schönen Gebärden,
Manieren, der starke Wille, die Zucht der hohen Geistigkeit, der Wille zur Macht,
die Dankbarkeit gegen Erde und Leben alles, was reich ist und abgeben will
und das Leben beschenkt und vergoldet und verewigt und vergöttlicht
die ganze Gewalt verklärender Tugenden, alles Gutheißende, Jasagende,
Jatuende . (Ebd., S. 675).Wir wenigen oder vielen, die wir
wieder in einer entmoralisierten Welt zu leben wagen, wir Heiden
dem Glauben nach: wir sind wahrscheinlich auch die ersten, die es begreifen, was
ein heidnischer Glaube ist sich höhere Wesen, als der Mensch
ist, vorstellen müssen, aber diese jenseits von Gut und Böse;
alles Höher-sein auch als Unmoralisch-sein abschätzen müssen.
Wir glauben an den Olymp und nicht an den »Gekreuzigten«.
(Ebd., S. 675-676).Der neuere Mensch hat seine idealisierende Kraft
in Hinsicht auf einen Gott zumeist in einer wachsenden Vermoralisierung
desselben ausgeübt was bedeutet das? Nichts Gutes, ein Abnehmen
der Kraft des Menschen. An sich wäre nämlich das Gegenteil möglich:
und es gibt Anzeichen davon. Gott, gedacht als das Freigewordensein von der Moral,
die ganze Fülle der Lebensgegensätze in sich drängend und sie in
göttlicher Qual erlösend, rechtfertigend Gott als das
Jenseits, das Oberhalb der erbärmlichen Eckensteher-Moral von »Gut
und Böse«. (Ebd., S. 676).Aus der uns bekannten
Welt ist der humanitäre Gott nicht nachzuweisen: so weit kann man
euch heute zwingen und treiben. Aber welchen Schluß zieht ihr daraus? »Er
ist uns nicht nachweisbar«: Skepsis der Erkenntnis. Ihr alle fürchtet
den Schluß »aus der uns bekannten Welt würde ein ganz anderer
Gott nachweisbar sein, ein solcher, der zum mindesten nicht humanitär
ist« und, kurz und gut, ihr haltet euren Gott fest und erfindet
für ihn eine Welt, die uns nicht bekannt ist. (Ebd., S. 676).Entfernen
wir die höchste Güte aus dem Begriff Gottes sie ist eines Gottes
unwürdig. Entfernen wir insgleichen die höchste Weisheit es ist
die Eitelkeit der Philosophen, die diesen Aberwitz eines Weisheits-Monstrums von
Gott verschuldet hat: er sollte ihnen möglichst gleichsehen. Nein! Gott die
höchste Macht das genügt! Aus ihr folgt alles, aus ihr folgt
»die Welt«! (Ebd., S. 677).Und wie viele
neue Götter sind noch möglich! Mir selber, in dem der religiöse,
das heißt gottbildende Instinkt mitunter zur Unzeit lebendig wird:
wie anders, wie verschieden hat sich mir jedesmal das Göttliche offenbart!
.... So vieles Seltsame ging schon an mir vorüber, in jenen zeitlosen Augenblicken,
die ins Leben herein wie aus dem Monde fallen, wo man schlechterdings nicht mehr
weiß, wie alt man schon ist und wie jung man noch sein wird... Ich würde
nicht zweifeln, daß es viele Arten Götter gibt... Es fehlt nicht an
solchen, aus denen man einen gewissen Halkyonismus und Leichtsinn nicht hinwegdenken
darf .... Die leichten Füße gehören vielleicht selbst zum Begriffe
»Gott« .... Ist es nötig, auszuführen, daß ein Gott
sich mit Vorliebe jenseits alles Biedermännischen und Vernunftgemäßen
zu halten weiß? jenseits auch, unter uns gesagt, von Gut und Böse?
Er hat die Aussicht frei mit Goethe zu reden. Und um für diesen
Fall die nicht genug zu schätzende Autorität Zarathustras anzurufen:
Zarathustra geht so weit, von sich zu bezeugen »ich würde nur an einen
Gott glauben, der zu tanzen verstünde« .... Nochmals gesagt:
wie viele neue Götter sind noch möglich! Zarathustra selbst freilich
ist bloß ein alter Atheist: der glaubt weder an alte, noch neue Götter.
Zarathustra sagt, er würde ; aber Zarathustra wird nicht ....
Man verstehe ihn recht. Typus Gottes nach dem Typus der schöpferischen Geister,
der »großen Menschen«. (Ebd., S. 677-678).Und
wie viele neue Ideale sind im Grunde noch möglich! Hier ein
kleines Ideal, das ich alle fünf Wochen einmal auf einem wilden und einsamen
Spaziergang erhasche, im azurnen Augenblick eines frevelhaften Glücks. Sein
Leben zwischen zarten und absurden Dingen verbringen; der Realität fremd;
halb Künstler, halb Vogel und Metaphysikus; ohne Ja und Nein für die
Realität, es sei denn, daß man sie ab und zu in der Art eines guten
Tänzers mit den Fußspitzen anerkennt; immer von irgendeinem Sonnenstrahl
des Glücks gekitzelt; ausgelassen und ermutigt selbst durch Trübsal
denn Trübsal erhält den Glücklichen ; einen
kleinen Schwanz von Posse auch noch dem Heiligsten anhängend: dies,
wie sich von selbst versteht, das Ideal eines schweren, zentnerschweren Geistes,
eines Geistes der Schwere. (Ebd., S. 678).Aus der
Kriegsschule der Seele. (Den Tapfern, den Frohgemuten, den Enthaltsamen geweiht.)
Ich möchte die liebenswürdigen Tugenden nicht unterschätzen; aber
die Größe der Seele verträgt sich nicht mit ihnen. Auch in den
Künsten schließt der große Stil das Gefällige aus. In Zeiten
schmerzhafter Spannung und Verwundbarkeit wähle den Krieg: er härtet
ab, er macht Muskel. Die tief Verwundeten haben das olympische Lachen; man hat
nur, was man nötig hat. Es dauert zehn Jahre schon: kein Laut mehr erreicht
mich ein Land ohne Regen. Man muß viel Menschlichkeit übrig
haben, um in der Dürre nicht zu verschmachten. (Ebd., S. 678-679).Mein
neuer Weg zum »Ja«. Philosophie, wie ich sie bisher verstanden
und gelebt habe, ist das freiwillige Aufsuchen auch der verabscheuten und verruchten
Seiten des Daseins. Aus der langen Erfahrung, welche mir eine solche Wanderung
durch Eis und Wüste gab, lernte ich alles, was bisher philosophiert hat,
anders ansehn die verborgene Geschichte der Philosophie, die Psychologie
ihrer großen Namen kam für mich ans Licht. »Wie viel Wahrheit
erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?« dies wurde
für mich der eigentliche Wertmesser. Der Irrtum ist eine Feigheit ..., jede
Errungenschaft der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich,
aus der Sauberkeit gegen sich .... Eine solche Experimental-Philosophie,
wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichsten
Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einer
Negation, beim Nein, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr
bis zum Umgekehrten hindurch bis zu einem dionysischen Ja-sagen
zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl , sie will den ewigen
Kreislauf dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Verknotung. Höchster
Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn :
meine Formel dafür ist amor fati. Hierzu gehört, die bisher
verneinten Seiten des Daseins nicht nur als notwendig zu begreifen,
sondern als wünschenswert: und nicht nur als wünschenswert in Hinsicht
auf die bisher bejahten Seiten (etwa als deren Komplemente oder Vorbedingungen),
sondern um ihrer selber willen, als der mächtigeren, fruchtbareren, wahreren
Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht. Insgleichen
gehört hierzu, die bisher allein bejahte Seite des Daseins abzuschätzen;
zu begreifen, woher diese Wertung stammt und wie wenig sie verbindlich für
eine dionysische Wertabmessung des Daseins ist: ich zog heraus und begriff, was
hier eigentlich ja sagt (der Instinkt der Leidenden einmal, der Instinkt der Herde
andrerseits und jener dritte, der Instinkt der meisten gegen die Ausnahmen
). Ich erriet damit, inwiefern eine stärkere Art Mensch notwendig nach
einer anderen Seite hin sich die Erhöhung und Steigerung des Menschen ausdenken
müßte: höhere Wesen, jenseits von Gut und Böse, jenseits
von jenen Werten, die den Ursprung aus der Sphäre des Leidens, der Herde
und der meisten nicht verleugnen können ich suchte nach den Ansätzen
dieser umgekehrten Idealbildung in der Geschichte (die Begriffe »heidnisch«,
»klassisch«, »vornehm« neu entdeckt und hingestellt ).
(Ebd., S. 679-680).Zu demonstrieren, inwiefern die griechische
Religion die höhere war als die jüdisch-christliche. Letztere
siegte, weil die griechische Religion selber entartet (zurückgegangen)
war. (Ebd., S. 680).Es ist nicht zu verwundern, daß
ein paar Jahrtausende nötig sind, um die Anknüpfung wieder zu finden
es liegt wenig an ein paar Jahrtausenden! (Ebd., S. 681).Es
muß solche geben, die alle Verrichtungen heiligen, nicht nur Essen und Trinken
und nicht nur im Gedächtnis an sie, oder im Eins-werden mit ihnen,
sondern immer von neuem und auf eine neue Weise soll diese Welt verklärt
werden. (Ebd., S. 681).Die geistigsten Menschen empfinden
den Reiz und Zauber der sinnlichen Dinge, wie es sich die anderen Menschen
solche mit den »fleischernen Herzen« gar nicht vorstellen
können, auch nicht vorstellen dürften, sie sind Sensualisten
im besten Glauben, weil sie den Sinnen einen grundsätzlicheren Wert zugestehen
als jenem feinen Siebe, dem Verdünnungs-, Verkleinerungsapparate, oder wie
das heißen mag, was man, in der Sprache des Volkes, »Geist«
nennt. Die Kraft und Macht der Sinne das ist das Wesentlichste an einem
wohlgeratenen und ganzen Menschen: das prachtvolle »Tier« muß
zuerst gegeben sein was liegt sonst an aller »Vermenschlichung«!
(Ebd., S. 681).1. Wir wollen unsre Sinne festhalten und den Glauben
an sie und sie zu Ende denken! Die Widersinnlichkeit der bisherigen Philosophie
als der größte Widersinn des Menschen.2.
Die vorhandene Welt, an der alles Irdisch-Lebendige gebaut hat, daß sie
so scheint (dauerhaft und langsam bewegt), wollen wir weiter bauen
nicht aber als falsch wegkritisieren!3. Unsre
Wertschätzungen bauen an ihr; sie betonen und unterstreichen. Welche Bedeutung
hat es, wenn ganze Religionen sagen: »Es ist alles schlecht und falsch und
böse!« Diese Verurteilung des ganzen Prozesses kann nur ein Urteil
von Mißratenen sein!4. Freilich, die Mißratenen
könnten die Leidendsten und Feinsten sein? Die Zufriedenen könnten wenig
wert sein?5. Man muß das künstlerische
Grundphänomen verstehen, welches »Leben« heißt den
bauenden Geist, der unter den ungünstigsten Umständen baut: auf
die langsamste Weise . Der Beweis für alle seine
Kombinationen muß erst neu gegeben werden: es erhält sich.
(Ebd., S. 681-682).Die Geschlechtlichkeit, die Herrschsucht, die
Lust am Schein und am Betrügen, die große freudige Dankbarkeit für
das Leben und seine typischen Zustände das ist am heidnischen Kultus
wesentlich und hat das gute Gewissen auf seiner Seite. Die Unnatur
(schon im griechischen Altertum) kämpft gegen das Heidnische an, als Moral,
Dialektik (Ebd., S. 682).Eine antimetaphysische Weltbetrachtung
ja, aber eine artistische. (Ebd., S. 682).Die Täuschung
Apollos: die Ewigkeit der schönen Form; die aristokratische
Gesetzgebung »so soll es immer sein!«. Dionysos: Sinnlichkeit
und Grausamkeit. Die Vergänglichkeit könnte ausgelegt werden als Genuß
der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige Schöpfung.
(Ebd., S. 682-683).
Mit dem Wort »dionysisch« ist ausgedrückt:
ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft,
Realität, über den Abgrund des Vergehens: das leidenschaftlich-schmerzliche
Überschwellen in dunklere, vollere, schwebendere Zustände; ein
verzücktes Jasagen zum Gesamt-Charakter des Lebens, als dem in allem
Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große
pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten
und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt;
der ewige Wille zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Wiederkehr; das Einheitsgefühl
der Notwendigkeit des Schaffens und Vernichtens.
Mit dem Wort »apollinisch« ist ausgedrückt: der
Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen »Individuum«,
zu allem was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch
macht: die Freiheit unter dem Gesetz.
An den Antagonismus
dieser beiden Natur-Kunstgewalten ist die Fortentwicklung der Kunst ebenso notwendig
geknüpft, als die Fortentwicklung der Menschheit an den Antagonismus der
Geschlechter. Die Fülle der Macht und die Mäßigung, die höchste
Form der Selbstbejahung in einer kühlen, vornehmen, spröden Schönheit:
der Apollinismus des hellenischen Willens. Diese Gegensätzlichkeit des Dionysischen
und Apollinischen innerhalb der griechischen Seele ist eines der großen
Rätsel, von dem ich mich angesichts des griechischen Wesens angezogen fühlte.
Ich bemühte mich im Grunde um nichts als um zu erraten, warum gerade der
griechische Apollinismus aus einem dionysischen Untergrund herauswachsen mußte,
der dionysische Grieche nötig hatte, apollinisch zu werden: das heißt,
seinen Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu brechen
an einem Willen zum Maß, zur Einfachheit, zur Einordnung in Regel und Begriff.
Das Maßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde: die Tapferkeit
des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus: die Schönheit ist ihm
nicht geschenkt, so wenig als die Logik, als die Natürlichkeit der Sitte
sie ist erobert, gewollt, erkämpft sie ist sein Sieg.
(Ebd., S. 683-684).Zu den höchsten und erlauchtesten Menschen-Freuden,
in denen das Dasein seine eigene Verklärung feiert, kommen, wie billig, nur
die Allerseltensten und Bestgeratenen: und auch diese nur, nachdem sie selber
und ihre Vorfahren ein langes vorbereitendes Leben auf dieses Ziel hin, und nicht
einmal im Wissen um dieses Ziel, gelebt haben. Dann wohnt ein überströmender
Reichtum vielfältigster Kräfte und zugleich die behendeste Macht eines
»freien Wollens« und herrschaftlichen Verfügens in einem Menschen
liebreich beieinander; der Geist ist dann ebenso in den Sinnen heimisch und zu
Hause, wie die Sinne in dem Geiste zu Hause und heimisch sind; und alles, was
nur in diesem sich abspielt, muß auch in jenen ein feines außerordentliches
Glück und Spiel auslösen. Und ebenfalls umgekehrt! Man denke
über diese Umkehrung bei Gelegenheit von Hafis nach; selbst Goethe, wie sehr
auch schon im abgeschwächten Bilde, gibt von diesem Vorgange eine Ahnung.
Es ist wahrscheinlich, daß bei solchen vollkommenen und wohlgeratenen Menschen
zuletzt die allersinnlichsten Verrichtungen von einem Gleichnis-Rausche der höchsten
Geistigkeit verklärt werden; sie empfinden an sich eine Art Vergöttlichung
des Leibes und sind am entferntesten von der Asketen-Philosophie des Satzes
»Gott ist ein Geist«: wobei sich klar herausstellt, daß der
Asket der »mißratene Mensch« ist, welcher nur ein Etwas an sich,
und gerade das richtende und verurteilende Etwas, gut heißt und »Gott«
heißt. Von jener Höhe der Freude, wo der Mensch sich selber und sich
ganz und gar als eine vergöttlichte Form und Selbst-Rechtfertigung der Natur
fühlt, bis hinab zu der Freude gesunder Bauern und gesunder Halbmensch-Tiere:
diese ganze lange ungeheure Licht-und Farbenleiter des Glücks nannte
der Grieche, nicht ohne die dankbaren Schauder dessen, der in ein Geheimnis eingeweiht
ist, nicht ohne viele Vorsicht und fromme Schweigsamkeit mit dem Götternamen:
Dionysos. .Was wissen denn
alle neueren Menschen, die Kinder einer brüchigen, vielfachen, kranken, seltsamen
Zeit, von dem Umfange des griechischen Glücks, was könnten
sie davon wissen! Woher nähmen gar die Sklaven der »modernen Ideen«
ein Recht zu dionysischen Feiern!.Als der griechische
Leib und die griechische Seele »blühte«, und nicht etwa in Zuständen
krankhafter Überschwänglichkeit und Tollheit, entstand jenes geheimnisreiche
Symbol der höchsten bisher auf Erden erreichten Welt-Bejahung und Daseins-Verklärung.
Hier ist ein Maßstab gegeben, an dem alles, was seitdem wuchs, als
zu kurz, zu arm, zu eng befunden wird man spreche nur das Wort »Dionysos«
vor den besten neueren Namen und Dingen aus, vor Goethe etwa oder vor Beethoven
oder vor Shakespeare oder vor Raffael: und auf einmal fühlen wir unsere besten
Dinge und Augenblicke gerichtet. Dionysos ist ein Richter!
Hat man mich verstanden? Es ist kein Zweifel, daß die Griechen die
letzten Geheimnisse »vom Schicksal der Seele« und alles, was sie über
die Erziehung und Läuterung, vor allem über die unverrückbare Rangordnung
und Wert-Ungleichheit von Mensch und Mensch wußten, sich aus ihren dionysischen
Erfahrungen zu deuten suchten: hier ist für alles Griechische die große
Tiefe, das große Schweigen man kennt die Griechen nicht, solange
hier der verborgene unterirdische Zugang noch verschüttet liegt. Zudringliche
Gelehrten-Augen werden niemals etwas in diesen Dingen sehen, soviel Gelehrsamkeit
auch im Dienste jener Ausgrabung noch verwendet werden muß ; selbst
der edle Eifer solcher Freunde des Altertums, wie Goethes und Winckelmanns, hat
gerade hier etwas Unerlaubtes, fast Unbescheidenes. Warten und sich-vorbereiten;
das Aufspringen neuer Quellen abwarten; in der Einsamkeit sich auf fremde Gesichte
und Stimmen vorbereiten; vom Jahrmarkts-Staube und -Lärm dieser Zeit seine
Seele immer reiner waschen; alles Christliche durch ein Überchristliches
überwinden und nicht nur von sich abtun denn die christliche
Lehre war die Gegenlehre gegen die dionysische ; den Süden in
sich wieder entdecken und einen hellen glänzenden geheimnisvollen Himmel
des Südens über sich aufspannen; die südliche Gesundheit und verborgene
Mächtigkeit der Seele sich wieder erobern; Schritt vor Schritt umfänglicher
werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer,
endlich griechischer denn das Griechische war die erste große
Bindung und Synthesis alles Morgenländischen und eben damit der Anfang der
europäischen Seele, die Entdeckung unsrer »neuen Welt«
: wer unter solchen Imperativen lebt, wer weiß, was dem eines Tages
begegnen kann? Vielleicht eben ein neuer Tag! (Ebd., S. 684-686).Die
zwei Typen: Dionysos und der Gekreuzigte. Festzustellen: ob der typische
religiöse Mensch eine décadence-Form ist (die großen Neuerer
sind samt und sonders krankhaft und epileptisch); aber lassen wir nicht da einen
Typus des religiösen Menschen aus, den heidnischen? Ist der heidnische
Kult nicht eine Form der Danksagung und der Bejahung des Lebens? Müßte
nicht sein höchster Repräsentant eine Apologie und Vergöttlichung
des Lebens sein? Typus eines wohlgeratenen und entzückt-überströmenden
Geistes! Typus eines die Widersprüche und Fragwürdigkeiten des
Daseins in sich hineinnehmenden und erlösenden Geistes! Hierher stelle ich
den Dionysos der Griechen: die religiöse Bejahung des Lebens, des
ganzen, nicht verleugneten und halbierten Lebens; (typisch daß der
Geschlechtsakt Tiefe, Geheimnis, Ehrfurcht erweckt). Dionysos gegen den »Gekreuzigten«:
da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums
nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit
und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung.
Im andern Falle gilt das Leiden, der »Gekreuzigte als der Unschuldige«,
als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurteilung. Man errät:
das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer
Sinn. Im ersten Falle soll es der Weg sein zu einem heiligen Sein; im letzteren
Fall gilt das Sein als heilig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu
rechtfertigen. Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark,
voll, vergöttlichend genug dazu; der christliche verneint noch das glücklichste
Los auf Erden: er ist schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben
zu leiden. Der Gott am Kreuz ist ein Fluch auf das Leben, ein Fingerzeig, sich
von ihm zu erlösen; der in Stücke geschnittne Dionysos ist eine
Verheißung des Lebens: es wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung
heimkommen. (Ebd., S. 687-688).4.3)
Die ewige Wiedekunft |
4.3.1) Die ewige Wiederkunft
Meine
Philosophie bringt den siegreichen Gedanken, an welchem zuletzt jede andere Denkweise
zugrunde geht. Es ist der große züchtende Gedanke: die Rassen,
welche ihn nicht ertragen, sind verurteilt; die, welche ihn als größte
Wohltat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehen (Ebd., S. 689).Der
größte Kampf: dazu braucht es einer neuen Waffe.Der
Hammer: eine furchtbare Entscheidung heraufbeschwören, Europa vor die Konsequenz
stellen, ob sein Wille zum Untergang »will«.Verhütung
der Vermittelmäßigung. Lieber noch Untergang! (Ebd., S. 689).Eine
pessimistische Denkweise und Lehre, ein ekstatischer Nihilismus kann unter Umständen
gerade dem Philosophen unentbehrlich sein: als ein mächtiger Druck und Hammer,
mit dem er entartende und absterbende Rassen zerbricht und aus dem Wege schafft,
um für eine neue Ordnung des Lebens Bahn zu machen oder um dem, was entartet
und absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben. (Ebd., S. 689).Ich
will den Gedanken lehren, welcher vielen das Recht gibt, sich durchzustreichen
den großen züchtenden Gedanken. (Ebd., S. 690).Die
ewige Wiederkunft. Eine Prophezeiung.1. Darstellung
der Lehre und ihrer theoretischen Voraussetzungen und Folgen.2.
Beweis der Lehre.3. Mutmaßliche Folgen
davon, daß sie geglaubt wird (sie bringt alles zum Aufbrechen).a)
Mittel, sie zu ertragen;b) Mittel, sie zu beseitigen.4.
Ihr Platz in der Geschichte, als eine Mitte.Zeit
der höchsten Gefahr. Gründung einer Oligarchie über den Völkern
und ihren Interessen: Erziehung zu einer allmenschlichen Politik. Gegenstück
des Jesuitismus. (Ebd., S. 690).Die beiden größten
(von Deutschen gefundenen) philosophischen Gesichtspunkte:a)
der des Werdens, der Entwicklung;b) der
nach dem Werte des Daseins (aber die erbärmliche Form des deutschen
Pessimismus erst zu überwinden!) beide von
mir in entscheidender Weise zusammengebracht.Alles
wird und kehrt ewig wieder entschlüpfen ist nicht möglich!
Gesetzt, wir könnten den Wert beurteilen, was folgt daraus?
Der Gedanke der Wiederkunft als auswählendes Prinzip, im Dienste der
Kraft (und Barbarei!!). Reife der Menschheit für diesen
Gedanken. (Ebd., S. 690-691).1. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft:
seine Voraussetzungen, welche wahr sein müßten, wenn er wahr ist. Was
aus ihm folgt.2. Als der schwerste Gedanke:
seine mutmaßliche Wirkung, falls nicht vorgebeugt wird, d. h. falls nicht
alle Werte umgewertet werden.3. Mittel, ihn zu
ertragen: die Umwertung aller Werte. Nicht mehr die Lust an der Gewißheit,
sondern an der Ungewißheit; nicht mehr »Ursache und Wirkung«,
sondern das beständig Schöpferische; nicht mehr Wille der Erhaltung,
sondern der Macht; nicht mehr die demütige Wendung »es ist alles nur
subjektiv«, sondern »es ist auch unser Werk! Seien wir
stolz darauf!« (Ebd., S. 691).Um den Gedanken der Wiederkunft
zu ertragen, ist nötig: Freiheit von der Moral; neue Mittel
gegen die Tatsache des Schmerzes (Schmerz begreifen als Werkzeug, als Vater
der Lust; es gibt kein summierendes Bewußtsein der Unlust); der Genuß
an aller Art Ungewißheit, Versuchhaftigkeit, als Gegengewicht gegen jenen
extremen Fatalismus; Beseitigung des Notwendigkeitsbegriffs; Beseitigung
des »Willens«; Beseitigung der »Erkenntnis an sich«.
Größte Erhöhung des Kraft-Bewußtseins des Menschen,
als dessen, der den Übermenschen schafft. (Ebd., S. 691).Die
beiden extremsten Denkweisen die mechanistische und die platonische
kommen überein in der ewigen Wiederkunft: beide als Ideale.
(Ebd., S. 692).Hätte die Welt ein Ziel, so müßte
es erreicht sein. Gäbe es für sie einen unbeabsichtigten Endzustand,
so müßte er ebenfalls erreicht sein. Wäre sie überhaupt eines
Verharrens und Starrwerdens, eines »Seins« fähig, hätte
sie in allem ihrem Werden nur einen Augenblick diese Fähigkeit des »Seins«,
so wäre es wiederum mit allem Werden längst zu Ende, also auch mit allem
Denken, mit allem »Geiste«. Die Tatsache des »Geistes«
als eines Werdens beweist, daß die Welt kein Ziel, keinen Endzustand
hat und des Seins unfähig ist. Die alte Gewohnheit aber, bei allem
Geschehen an Ziele und bei der Welt an einen lenkenden schöpferischen Gott
zu denken, ist so mächtig, daß der Denker Mühe hat, sich selber
die Ziellosigkeit der Welt nicht wieder als Absicht zu denken. Auf diesen Einfall
daß also die Welt absichtlich einem Ziele ausweiche und sogar
das Hineingeraten in einen Kreislauf künstlich zu verhüten wisse
müssen alle die verfallen, welche der Welt das Vermögen zur ewigen
Neuheit aufdekretieren möchten, d.h. einer endlichen, bestimmten, unveränderlich
gleichgroßen Kraft, wie es »die Welt« ist, die Wunder-Fähigkeit
zur unendlichen Neugestaltung ihrer Formen und Lagen. Die Welt, wenn auch kein
Gott mehr, soll doch der göttlichen Schöpferkraft, der unendlichen
Verwandlungs-Kraft fähig sein; sie soll es sich willkürlich verwehren,
in eine ihrer alten Formen zurückzugeraten; sie soll nicht nur die Absicht,
sondern auch die Mittel haben, sich selber vor jeder Wiederholung zu bewahren;
sie soll somit in jedem Augenblick jede ihrer Bewegungen auf die Vermeidung von
Zielen, Endzuständen, Wiederholungen hin kontrollieren und
was alles die Folgen einer solchen unverzeihlich-verrückten Denk- und Wunschweise
sein mögen. Das ist immer noch die alte religiöse Denk- und Wunschweise,
eine Art Sehnsucht, zu glauben, daß irgendworin doch die Welt dem
alten geliebten, unendlichen, unbegrenzt-schöpferischen Gotte gleich sei
daß irgendworin doch »der alte Gott noch lebe« ,
jene Sehnsucht Spinozas, die sich in dem Worte »deus sive natura«
(er empfand sogar »natura sive deus« ) ausdrückt.
Welches ist denn aber der Satz und Glaube, mit welchem sich die entscheidende
Wendung, das jetzt erreichte Übergewicht des wissenschaftlichen Geistes
über den religiösen, götter-erdichtenden Geist am bestimmtesten
formuliert? Heißt es nicht: die Welt, als Kraft, darf nicht unbegrenzt gedacht
werden, denn sie kann nicht so gedacht werden wir verbieten uns den Begriff
einer unendlichen Kraft als mit dem Begriff »Kraft«
unverträglich. Also fehlt der Welt auch das Vermögen zur
ewigen Neuheit. (Ebd., S. 692-693).Der Satz vom Bestehen
der Energie fordert die ewige Wiederkehr. (Ebd., S. 693).Daß
eine Gleichgewichts-Lage nie erreicht ist, beweist, daß sie nicht möglich
ist. Aber in einem unbestimmten Raum müßte sie erreicht sein. Ebenfalls
in einem kugelförmigen Raum. Die Gestalt des Raumes muß die
Ursache der ewigen Bewegung sein und zuletzt aller »Unvollkommenheit«.
Daß »Kraft« und »Ruhe«, »Sich-gleich-bleiben«
sich widerstreiten. Das Maß der Kraft (als Größe) als fest, ihr
Wesen aber flüssig. »Zeitlos« abzuweisen. In einem bestimmten
Augenblick der Kraft ist die absolute Bedingtheit einer neuen Verteilung aller
ihrer Kräfte gegeben: sie kann nicht stillstehn. »Veränderung«
gehört ins Wesen hinein, also auch die Zeitlichkeit: womit aber nur die Notwendigkeit
der Veränderung noch einmal begrifflich gesetzt wird. (Ebd., S. 693-694).Jener
Kaiser hielt sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge vor, um
sie nicht zu wichtig zu nehmen und zwischen ihnen ruhig zu bleiben. Mir
scheint umgekehrt alles viel zu viel wert zu sein, als daß es so flüchtig
sein dürfte: ich suche nach einer Ewigkeit für jegliches: dürfte
man die kostbarsten Salben und Weine ins Meer gießen? Mein Trost
ist, daß alles, was war, ewig ist das Meer spült es wieder her.
(Ebd., S. 694).Die neue Welt-Konzeption.
Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr:
sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört
zu vergehn sie erhält sich in beidem. Sie lebt von sich selber: ihre
Exkremente sind ihre Nahrung.Die Hypothese einer
geschaffenen Welt soll uns nicht einen Augenblick bekümmern. Der Begriff
»schaffen« ist heute vollkommen undefinierbar, unvollziehbar; bloß
ein Wort noch, rudimentär aus Zeiten des Aberglaubens; mit einem Wort erklärt
man nichts. Der letzte Versuch, eine Welt, die anfängt, zu konzipieren,
ist neuerdings mehrfach mit Hilfe einer logischen Prozedur gemacht worden
zumeist, wie zu erraten ist, aus einer theologischen Hinterabsicht.Man
hat neuerdings mehrfach in dem Begriff »Zeit-Unendlichkeit der Welt
nach hinten« (regressus in infinitum) einen Widerspruch finden
wollen: man hat ihn selbst gefunden, um den Preis freilich, dabei den Kopf mit
dem Schwanz zu verwechseln. Nichts kann mich hindern, von diesem Augenblick an
rückwärts rechnend zu sagen »ich werde nie dabei an ein Ende kommen«:
wie ich vom gleichen Augenblick vorwärts rechnen kann, ins Unendliche hinaus.
Erst wenn ich den Fehler machen wollte ich werde mich hüten, es zu
tun , diesen korrekten Begriff eines regressus in infinitum gleichzusetzen
mit einem gar nicht vollziehbaren Begriff eines endlichen progressus
bis jetzt, erst wenn ich die Richtung (vorwärts oder rückwärts)
als logisch indifferent setzte, würde ich den Kopf diesen Augenblick
als Schwanz zu fassen bekommen: das bleibe Ihnen überlassen, mein
Herr Dühring!Ich bin auf diesen Gedanken
bei früheren Denkern gestoßen: jedesmal war er durch andre Hintergedanken
bestimmt ( meistens theologische, zugunsten des creator spiritus). Wenn
die Welt überhaupt erstarren, vertrocknen, absterben, nichts werden
könnte, oder wenn sie einen Gleichgewichtszustand erreichen könnte,
oder wenn sie überhaupt irgendein Ziel hätte, das die Dauer, die Unveränderlichkeit,
das Ein-für-alle-Mal in sich schlösse (kurz, metaphysisch geredet: wenn
das Werden in das Sein oder ins Nichts münden könnte), so müßte
dieser Zustand erreicht sein. Aber er ist nicht erreicht: woraus folgt .... Das
ist unsre einzige Gewißheit, die wir in den Händen halten, um als Korrektiv
gegen eine große Menge an sich möglicher Welt-Hypothesen zu dienen.
Kann z.B. der Mechanismus der Konsequenz eines Finalzustandes nicht entgehen,
welche William Thomson ihm gezogen hat, so ist damit der Mechanismus widerlegt.Wenn
die Welt als bestimmte Größe von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftzentren
gedacht werden darf und jede andre Vorstellung bleibt unbestimmt
und folglich unbrauchbar , so folgt daraus, daß sie eine berechenbare
Zahl von Kombinationen, im großen Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen
hat. In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche Kombination irgendwann
einmal erreicht sein; mehr noch: sie würde unendliche Male erreicht sein.
Und da zwischen jeder Kombination und ihrer nächsten Wiederkehr alle überhaupt
noch möglichen Kombinationen abgelaufen sein müßten und jede dieser
Kombinationen die ganze Folge der Kombinationen in derselben Reihe bedingt, so
wäre damit ein Kreislauf von absolut identischen Reihen bewiesen: die Welt
als Kreislauf, der sich unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel
in infinitum spielt. Diese Konzeption ist nicht ohne weiteres eine mechanistische:
denn wäre sie das, so würde sie nicht eine unendliche Wiederkehr identischer
Fälle bedingen, sondern einen Finalzustand. Weil die Welt ihn nicht erreicht
hat, muß der Mechanismus uns als unvollkommne und nur vorläufige Hypothese
gelten. (Ebd., S. 694-696).Und wißt
ihr auch, was mir »die Welt« ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel
zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste,
eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner
wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich
groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs,
ohne Einnahmen, vom »Nichts« umschlossen als von seiner Grenze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte
Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo »leer«
wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen
zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd,
ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd,
ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe
und Flut seiner Gestaltungen, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend,
aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste,
Sich-selber-Widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend
zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des
Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre,
sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden,
das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt :
diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste, dies mein »Jenseits
von Gut und Böse«, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises
ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat
wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für
alle ihre Rätsel? Ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten,
Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? Diese Welt ist der Wille
zur Macht und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser
Wille zur Macht und nichts außerdem! (Ebd., S. 696-697). |