Ecce homo (Wie
man wird, was man ist), 1889
Vorwort
Ich bin ein Jünger des Philosophen Dionysos,
ich zöge vor, eher noch ein Satyr zu sein als ein Heilger. Aber man
lese nur diese Schrift. Vielleicht gelang es mir, vielleicht hatte diese
Schrift gar keinen anderen Sinn, als diesen Gegensatz in einer heitren
und menschenfreundlichen Weise zum Ausdruck zu bringen. (Ebd., 1889,
S. 4).
Das letzte, was ich versprechen würde,
wäre, die Menschheit zu »verbessern«. Von mir werden keine neuen
Götzen aufgerichtet; die alten mögen lernen, was es mit tönernen
Beinen auf sich hat. Götzen (mein Wort für »Ideale«)
umwerfen das gehört schon eher zu meinem Handwerk. Man hat
die Realität in dem Grade um ihren Wert, ihren Sinn, ihre Wahrhaftigkeit
gebracht, als man eine ideale Welt erlog. Die »wahre Welt«
und die »scheinbare Welt« auf deutsch: die erlogne Welt
und die Realität. Die Lüge des Ideals war bisher der Fluch über
die Realität, die Menschheit selbst ist durch sie bis in ihre untersten Instinkte
hinein verlogen und falsch geworden bis zur Anbetung der umgekehrten
Werte, als die sind, mit denen ihr erst das Gedeihen, die Zukunft, das hohe Recht
auf Zukunft verbürgt wäre. (Ebd., 1889, S. 4).Philosophie,
wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis
und Hochgebirge das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein,
alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann getan war. Aus einer langen Erfahrung,
welche eine solche Wanderung im Verbotenen gab, lernte ich die Ursachen,
aus denen bisher moralisiert und idealisiert wurde, sehr anders ansehn, als es
erwünscht sein mag: die verborgene Geschichte der Philosophen, die
Psychologie ihrer großen Namen kam für mich ans Licht. Wieviel
Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für
mich immer mehr der eigentliche Wertmesser. Irrtum ( der Glaube ans Ideal
) ist nicht Blindheit, Irrtum ist Feigheit. Jede Errungenschaft,
jeder Schritt vorwärts in der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der
Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich .... Ich widerlege die Ideale
nicht, ich ziehe bloß Handschuhe vor ihnen an. Nitimur in vetitum:
in diesem Zeichen siegt einmal meine Philosophie, denn man verbot bisher grundsätzlich
immer nur die Wahrheit. (Ebd., 1889, S. 4-5).Hier redet kein
»Prophet«, keiner jener schauerlichen Zwitter von Krankheit und Willen
zur Macht, die man Religionsstifter nennt. Man muß vor allem den Ton, der
aus diesem Munde kommt, diesen halkyonischen Ton richtig hören, um
dem Sinn seiner Weisheit nicht erbarmungswürdig unrecht zu tun. »Die
stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen, Gedanken, die mit Taubenfüßen
kommen, lenken die Welt « (Ebd., 1889, S. 5).Die
Feigen fallen von den Bäumen, sie sind gut und süß: und indem
sie fallen, reißt ihnen die rote Haut. Ein Nordwind bin ich reifen Feigen.
Also, gleich Feigen, fallen euch diese Lehren zu, meine Freunde: nun trinkt ihren
Saft und ihr süßes Fleisch! Herbst ist es umher und reiner Himmel und
Nachmittag. (Ebd., 1889, S. 6).Hier redet kein Fanatiker,
hier wird nicht »gepredigt«, hier wird nicht Glauben verlangt:
aus einer unendlichen Lichtfülle und Glückstiefe fällt Tropfen
für Tropfen, Wort für Wort eine zärtliche Langsamkeit ist
das Tempo dieser Reden. Dergleichen gelangt nur zu den Auserwähltesten; es
ist ein Vorrecht ohnegleichen, hier Hörer zu sein; es steht niemandem frei,
für Zarathustra Ohren zu haben. Ist Zarathustra mit alledem nicht ein Verführer?.
Aber was sagt er doch selbst, als er zum ersten Male wieder in seine Einsamkeit
zurückkehrt? Genau das Gegenteil von dem, was irgendein »Weiser«,
»Heiliger«, »Welt-Erlöser« und andrer décadent
in einem solchen Falle sagen würde .... Er redet nicht nur anders, er ist
auch anders. (Ebd., 1889, S. 6).Allein gehe ich nun, meine
Jünger! Auch ihr geht nun davon und allein! So will ich es.Geht fort von
mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch: schämt euch seiner!
Vielleicht betrog er euch. Der Mensch der Erkenntnis muß nicht nur seine
Feinde lieben, er muß auch seine Freunde hassen können.Man vergilt
einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und warum wollt
ihr nicht an meinem Kranze rupfen?Ihr verehrt mich: aber wie, wenn eure Verehrung
eines Tages umfällt? Hütet euch, daß euch nicht eine Bildsäule
erschlage!Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra!
Ihr seid meine Gläubigen, aber was liegt an allen Gläubigen!Ihr hattet
euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So tun alle Gläubigen; darum
ist es so wenig mit allem Glauben.Nun heiße ich euch, mich verlieren und
euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch
wiederkehren. (Ebd., 1889, S. 6-7).
Warum ich so weise bin
Ein
Arzt, der mich länger als Nervenkranken behandelte, sagte schließlich:
»Nein! an Ihren Nerven liegt's nicht, ich selber bin nur nervös«.
(Ebd., 1889, S. 11).Eine lange, allzulange Reihe von Jahren bedeutet
bei mir Genesung sie bedeutet leider auch zugleich Rückfall, Verfall,
Periodik einer Art décadence. Brauche ich, nach alledem, zu sagen, daß
ich in Fragen der décadence erfahren bin? Ich habe sie vorwärts
und rückwärts buchstabiert. Selbst jene Filigran-Kunst des Greifens
und Begreifens überhaupt, jene Finger für nuances, jene Psychologie
des »Um-die-Ecke-sehns« und was sonst mir eignet, ward damals erst
erlernt, ist das eigentliche Geschenk jener Zeit, in der alles sich bei mir verfeinerte,
die Beobachtung selbst wie alle Organe der Beobachtung. Von der Kranken-Optik
aus nach gesünderen Begriffen und Werten, und wiederum umgekehrt aus
der Fülle und Selbstgewißheit des reichen Lebens hinuntersehn
in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts das war meine längste
Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgendworin wurde ich darin Meister.
Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen:
erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine »Umwertung der
Werte« überhaupt möglich ist. (Ebd., 1889, S. 11-12).
Abgerechnet nämlich, daß ich ein décadent bin,
bin ich auch dessen Gegensatz. Mein Beweis dafür ist, unter anderem,
daß ich instinktiv gegen die schlimmen Zustände immer die rechten
Mittel wählte: während der décadent an sich immer die
ihm nachteiligen Mittel wählt. Als summa summarum war ich gesund,
als Winkel, als Spezialität war ich décadent. Jene Energie
zur absoluten Vereinsamung und Herauslösung aus gewohnten Verhältnissen,
der Zwang gegen mich, mich nicht mehr besorgen, bedienen, beärzteln
zu lassen das verrät die unbedingte Instinkt-Gewißheit
darüber, was damals, vor allem not tat. Ich nahm mich selbst in die
Hand, ich machte mich selber wieder gesund: die Bedingung dazu
jeder Physiologe wird das zugeben ist, daß man im Grunde
gesund ist. Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch
weniger sich selbst gesund machen; für einen typisch Gesunden kann
umgekehrt Kranksein sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehrleben
sein. So in der Tat erscheint mir jetzt jene lange Krankheits-Zeit:
ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ich schmeckte
alle guten und selbst kleinen Dinge, wie sie andre nicht leicht schmecken
könnten ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben,
meine Philosophie. Denn man gebe acht darauf: die Jahre meiner niedrigsten
Vitalität waren es, wo ich aufhörte, Pessimist zu sein:
der Instinkt der Selbst-Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie
der Armut und Entmutigung. Und woran erkennt man im Grunde die Wohlgeratenheit!
Daß ein wohlgeratner Mensch unsern Sinnen wohltut: daß er
aus einem Holze geschnitzt ist, das hart, zart und wohlriechend zugleich
ist. Ihm schmeckt nur, was ihm zuträglich ist; sein Gefallen, seine
Lust hört auf, wo das Maß des Zuträglichen überschritten
wird. Er errät Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt
schlimme Zufälle zu seinem Vorteil aus; was ihn nicht umbringt, macht
ihn stärker. Er sammelt instinktiv aus allem, was er sieht, hört,
erlebt, seine Summe: er ist ein auswählendes Prinzip, er läßt
viel durchfallen. Er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit
Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt: er ehrt, indem er wählt,
indem er zuläßt, indem er vertraut. Er reagiert
auf alle Art Reize langsam, mit jener Langsamkeit, die eine lange Vorsicht
und ein gewollter Stolz ihm angezüchtet haben er prüft
den Reiz, der herankommt, er ist fern davon, ihm entgegenzugehn. Er glaubt
weder an »Unglück«, noch an »Schuld«: er
wird fertig, mit sich, mit anderen, er weiß zu vergessen,
er ist stark genug, daß ihm alles zum Besten gereichen muß.
Wohlan, ich bin das Gegenstück eines décadent:
denn ich beschrieb eben mich. (Ebd., 1889, S. 12-13).
Meine Erfahrungen geben
mir ein Anrecht auf Mißtrauen überhaupt hinsichtlich der sogenannten
»selbstlosen« Triebe, der gesamten zu Rat und Tat bereiten »Nächstenliebe«.
Sie gilt mir an sich als Schwäche, als Einzelfall der Widerstands-Unfähigkeit
gegen Reize das Mitleiden heißt nur bei décadents eine
Tugend. Ich werfe den Mitleidigen vor, daß ihnen die Scham, die Ehrfurcht,
das Zartgefühl vor Distanzen leicht abhanden kommt, daß Mitleiden im
Handumdrehn nach Pöbel riecht und schlechten Manieren zum Verwechseln ähnlich
sieht daß mitleidige Hände unter Umständen geradezu zerstörerisch
in ein großes Schicksal, in eine Vereinsamung unter Wunden, in ein Vorrecht
auf schwere Schuld hineingreifen können. Die Überwindung des Mitleids
rechne ich unter die vornehmen Tugenden: ich habe als »Versuchung
Zarathustras« einen Fall gedichtet, wo ein großer Notschrei an ihn
kommt, wo das Mitleiden wie eine letzte Sünde ihn überfallen, ihn von
sich abspenstig machen will. Hier Herr bleiben, hier die Höhe seiner
Aufgabe rein halten von den viel niedrigeren und kurzsichtigeren Antrieben, welche
in den sogenannten selbstlosen Handlungen tätig sind, das ist die Probe,
die letzte Probe vielleicht, die ein Zarathustra abzulegen hat -sein eigentlicher
Beweis von Kraft. (Ebd., 1889, S. 16-17).Auch noch
in einem anderen Punkte bin ich bloß mein Vater noch einmal und gleichsam
sein Fortleben nach einem allzufrühen Tode. Gleich jedem, der nie unter seinesgleichen
lebte und dem der Begriff »Vergeltung« so unzugänglich ist wie
etwa der Begriff »gleiche Rechte«, verbiete ich mir in Fällen,
wo eine kleine oder sehr große Torheit an mir begangen wird, jede
Gegenmaßregel, jede Schutzmaßregel wie billig, auch jede Verteidigung,
jede »Rechtfertigung«. Meine Art Vergeltung besteht darin, der Dummheit
so schnell wie möglich eine Klugheit nachzuschicken: so holt man sie vielleicht
noch ein. (Ebd., 1889, S. 17).Die Freiheit vom Ressentiment,
die Aufklärung über das Ressentiment wer weiß, wie sehr
ich zuletzt auch darin meiner langen Krankheit zu Dank verpflichtet bin!
(Ebd., 1889, S. 18).Kranksein ist eine Art Ressentiment
selbst. (Ebd., 1889, S. 18).Das Ressentiment ist das Verbotene
an sich für den Kranken sein Böses: leider auch
sein natürlichster Hang. Das begriff jener tiefe Physiolog Buddha.
Seine »Religion«, die man besser als eine Hygiene bezeichnen
dürfte, um sie nicht mit so erbarmungswürdigen Dingen wie das Christentum
ist, zu vermischen, machte ihre Wirkung abhängig von dem Sieg über das
Ressentiment: die Seele davon frei machen erster Schritt zur Genesung.
»Nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende, durch Freundschaft kommt
Feindschaft zu Ende«: das steht am Anfang der Lehre Buddhas so redet
nicht die Moral, so redet die Physiologie (Ebd., 1889, S. 18-19).Wer
den Ernst kennt, mit dem meine Philosophie den Kampf mit den Rach- und Nachgefühlen
bis in die Lehre vom »freien Willen« hinein aufgenommen hat
der Kampf mit dem Christentum ist nur ein Einzelfall daraus , wird verstehn,
weshalb ich mein persönliches Verhalten, meine Instinkt-Sicherheit
in der Praxis hier gerade ans Licht stelle. In den Zeiten der décadence
verbot ich sie mir als schädlich; sobald das Leben wieder reich und stolz
genug dazu war, verbot ich sie mir als unter mir. (Ebd., 1889, S.
19).Sich selbst wie ein Fatum nehmen, nicht sich »anders«
wollen das ist in solchen Zuständen die große Vernunft
selbst. (Ebd., 1889, S. 19).Das Weib zum Beispiel ist rachsüchtig:
das ist in seiner Schwäche bestimmt, so gut wie seine Reizbarkeit für
fremde Not. (Ebd., 1889, S. 20).Wenn ich
dem Christenthum den Krieg mache, so steht dies mir zu, weil ich von dieser Seite
aus keine Fatalitäten und Hemmungen erlebt habe, - die ernstesten Christen
sind mir immer gewogen gewesen. Ich selber, ein Gegner des Christenthums de rigueur,
bin ferne davon, es dem Einzelnen nachzutragen, was das Verhängniss von Jahrtausenden
ist. (Ebd., 1889, S. 21-22).Darf
ich noch einen letzten Zug meiner Natur anzudeuten wagen, der mir im Umgang mit
Menschen keine kleine Schwierigkeit macht? Mir eignet eine vollkommen
unheimliche Reizbarkeit des Reinlichkeits-Instinkts, so daß ich die Nähe
oder - was sage ich ? - das Innerlichste, die »Eingeweide« jeder
Seele physiologisch wahrnehme - rieche .... Ich habe an dieser Reizbarkeit
psychologische Fühlhörner .... Das macht mir aus dem Verkehr mit Menschen
keine kleine Gedulds-Probe; meine Humanität besteht nicht darin, mitzufühlen,
wie der Mensch ist, sondern es auszuhalten, daß ich ihn mitfühle
.... Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung. - Aber
ich habe Einsamkeit nöthig, will sagen, Genesung, Rückkehr zu
mir, den Athem einer freien leichten spielenden Luft .... Mein ganzer Zarathustra
ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit, oder, wenn man mich verstanden hat, auf
die Reinheit .... - Der Ekel am Menschen, am »Gesindel«
war immer meine grösste Gefahr .... Will man die Worte hören, in denen
Zarathustra von der Erlösung vom Ekel redet? (Ebd.,
1889, S. 21-22).
Warum ich so klug bin
Es
ist mir gänzlich entgangen, inwiefern ich »sündhaft« sein
sollte. Insgleichen fehlt mir ein zuverlässiges Kriterium dafür, was
ein Gewissensbiß ist: nach dem, was man darüber hört, scheint
mir ein Gewissensbiß nichts Achtbares. (Ebd., 1889, S. 24).Gott
ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelikatesse gegen uns Denker , im Grunde
sogar bloß ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken!
(Ebd., 1889, S. 25).In der Tat, ich habe bis zu meinen reifsten
Jahren immer nur schlecht gegessen moralisch ausgedrückt »unpersönlich«,
»selbstlos«, »altruistisch«, zum Heil der Köche und
andrer Mitchristen. Ich verneinte zum Beispiel durch Leipziger Küche, gleichzeitig
mit meinem ersten Studium Schopenhauers (1865), sehr ernsthaft meinen »Willen
zum Leben«. (Ebd., 1889, S. 25).Es steht niemandem
frei, überall zu leben .... (Ebd., 1889, S. 27-28).Die
Krankheit brachte mich erst zur Vernunft. (Ebd., 1889, S. 29).Die
Skeptiker, der einzige ehrenwerte Typus unter dem so zwei- bis fünfdeutigen
Volk der Philosophen! (Ebd., 1889, S. 30).Ich selbst habe
irgendwo gesagt: was war der größte Einwand gegen das Dasein bisher?
Gott .... (Ebd., 1889, S. 32).Den
höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche
umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süssen und leidenschaftlichen
Musik. Er besaß jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommene
nicht zu denken vermag .... (Ebd., 1889, S. 32).Nicht
der Zweifel, die Gewißheit ist das, was wahnsinnig macht. (Ebd.,
1889, S. 33).Und zum Teufel, meine Herrn Kritiker! Gesetzt, ich
hätte meinen Zarathustra auf einen fremden Namen getauft, zum Beispiel auf
den von Richard Wagner, der Scharfsinn von zwei Jahrtausenden hätte nicht
ausgereicht, zu erraten, daß der Verfasser von »Menschliches, Allzumenschliches«
der Visionär des Zarathustra ist. (Ebd., 1889, S. 33).Hier,
wo ich von den Erholungen meines Lebens rede, habe ich ein Wort nötig, um
meine Dankbarkeit für das auszudrücken, was mich in ihm bei weitem am
tiefsten und herzlichsten erholt hat. Dies ist ohne allen Zweifel der intimere
Verkehr mit Richard Wagner gewesen. Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen
billig; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben
weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle
der tiefen Augenblicke. Ich weiß nicht, was andre mit Wagner erlebt
haben: über unsern Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen. (Ebd.,
1889, S. 34).Alles erwogen, hätte ich meine
Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnersche Musik. Denn ich war verurteilt
zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so
hat man Haschisch nötig. Wohlan, ich hatte Wagner nötig. Wagner ist
das Gegengift gegen alles Deutsche par excellence Gift, ich bestreite es
nicht .... Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab
mein Kompliment, Herr von Bülow! , war ich Wagnerianer. Die älteren
Werke Wagners sah ich unter mir noch zu gemein, zu »deutsch«.
Aber ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Faszination,
von einer gleich schauerlichen und süßen Unendlichkeit, wie der Tristan
ist ich suche in allen Künsten vergebens. Alle Fremdheiten Leonardo
da Vincis entzaubern sich beim ersten Tone des Tristan. Dies Werk ist durchaus
das non plus ultra Wagners; er erholte sich von ihm mit den Meistersingern
und dem Ring. Gesünder werden das ist ein Rückschritt
bei einer Natur wie Wagner. Ich nehme es als Glück ersten Rangs, zur rechten
Zeit gelebt und gerade unter Deutschen gelebt zu haben, um reif für
dies Werk zu sein: so weit geht bei mir die Neugierde des Psychologen. Die Welt
ist arm für den, der niemals krank genug für diese »Wollust der
Hölle« gewesen ist: es ist erlaubt, es ist fast geboten, hier eine
Mystiker-Formel anzuwenden. Ich denke, ich kenne besser als irgend jemand
das Ungeheure, das Wagner vermag, die fünfzig Welten fremder Entzückungen,
zu denen niemand außer ihm Flügel hatte; und so wie ich bin, stark
genug, um mir auch das Fragwürdigste und Gefährlichste noch zum Vorteil
zu wenden und damit stärker zu werden, nenne ich Wagner den großen
Wohltäter meines Lebens. Das, worin wir verwandt sind, daß wir tiefer
gelitten haben, auch aneinander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten,
wird unsre Namen ewig wieder zusammenbringen .... (Ebd., 1889,
S. 35-36).Ich sage noch ein Wort für die ausgesuchtesten Ohren:
was ich eigentlich von der Musik will. Daß sie heiter und tief ist,
wie ein Nachmittag im Oktober. Daß sie eigen, ausgelassen, zärtlich,
ein kleines süßes Weib von Niedertracht und Anmut ist. (Ebd.,
1889, S. 36).Das Abwehren, das Nicht-heran-kommen-lassen ist eine
Ausgabe man täusche sich hierüber nicht , eine zu negativen
Zwecken verschwendete Kraft. Man kann, bloß in der beständigen
Not der Abwehr, schwach genug werden, um sich nicht mehr wehren zu können.
(Ebd., 1889, S. 38).Der Gelehrte gibt seine ganze Kraft im Ja-
und Neinsagen, in der Kritik von bereits Gedachtem ab er selber denkt nicht
mehr. Der Instinkt der Selbstverteidigung ist bei ihm mürbe geworden; im
anderen Falle würde er sich gegen Bücher wehren. Der Gelehrte
ein décadent. Das habe ich mit Augen gesehn: begabte, reich und
frei angelegte Naturen schon in den dreißiger Jahren »zuschanden gelesen«,
bloß noch Streichhölzer, die man reiben muß, damit sie Funken
»Gedanken« geben. Frühmorgens beim Anbruch des
Tags, in aller Frische, in der Morgenröte seiner Kraft, ein Buch lesen
das nenne ich lasterhaft! (Ebd., 1889, S. 39).An dieser
Stelle ist nicht mehr zu umgehn, die eigentliche Antwort auf die Frage, wie
man wird, was man ist, zu geben. Und damit berühre ich das Meisterstück
in der Kunst der Selbsterhaltung der Selbstsucht. Angenommen nämlich,
daß die Aufgabe, die Bestimmung, das Schicksal der Aufgabe über
ein durchschnittliches Maß bedeutend hinausliegt, so würde keine Gefahr
größer sein, als sich selbst mit dieser Aufgabe zu Gesicht zu bekommen.
Daß man wird, was man ist, setzt voraus, daß man nicht im entferntesten
ahnt, was man ist. Aus diesem Gesichtspunkte haben selbst die Fehlgriffe
des Lebens ihren eignen Sinn und Wert, die zeitweiligen Nebenwege und Abwege,
die Verzögerungen, die »Bescheidenheiten«, der Ernst, auf Aufgaben
verschwendet, die jenseits der Aufgabe liegen. Darin kommt eine große Klugheit,
sogar die oberste Klugheit zum Ausdruck: wo nosce te ipsum das Rezept zum Untergang
wäre, wird Sich-Vergessen, Sich-Mißverstehn, Sich-Verkleinern,
Verengern, Vermittelmäßigen zur Vernunft selber. Moralisch
ausgedrückt: Nächstenliebe, Leben für andere und anderes kann
die Schutzmaßregel zur Erhaltung der härtesten Selbstigkeit sein. Dies
ist der Ausnahmefall, in welchem ich, gegen meine Regel und Überzeugung,
die Partei der »selbstlosen« Triebe nehme: sie arbeiten hier im Dienste
der Selbstsucht, Selbstzucht. Man muß die ganze Oberfläche
des Bewußtseins Bewußtsein ist eine Oberfläche
rein erhalten von irgendeinem der großen Imperative. Vorsicht selbst
vor jedem großen Worte, jeder großen Attitüde! Lauter Gefahren,
daß der Instinkt zu früh »sich versteht« .
Inzwischen wächst und wächst die organisierende, die zur Herrschaft
berufne »Idee« in der Tiefe sie beginnt zu befehlen, sie leitet
langsam aus Nebenwegen und Abwegen zurück, sie bereitet einzelne Qualitäten
und Tüchtigkeiten vor, die einmal als Mittel zum Ganzen sich unentbehrlich
erweisen werden sie bildet der Reihe nach alle dienenden Vermögen
aus, bevor sie irgend etwas von der dominierenden Aufgabe, von »Ziel«,
»Zweck«, »Sinn« verlauten läßt. Nach
dieser Seite hin betrachtet ist mein Leben einfach wundervoll. (Ebd., 1889,
S. 39-40).
Es fehlt in meiner Erinnerung, daß ich
mich je bemüht hätte es ist kein Zug von Ringen
in meinem Leben nachweisbar, ich bin der Gegensatz einer heroischen Natur.
Etwas »wollen«, nach etwas »streben«, einen »Zweck«,
einen »Wunsch« im Auge haben das kenne ich alles nicht
aus Erfahrung. Noch in diesem Augenblick sehe ich auf meine Zukunft
eine weite Zukunft! wie auf ein glattes Meer hinaus: kein
Verlangen kräuselt sich auf ihm. Ich will nicht im geringsten, daß
etwas anders wird als es ist; ich selber will nicht anders werden. Aber
so habe ich immer gelebt. Ich habe keinen Wunsch gehabt. Jemand, der nach
seinem vierundvierzigsten Jahre sagen kann, daß er sich nie um Ehren,
um Weiber, um Geld bemüht hat! Nicht daß
sie mir gefehlt hätten. So war ich zum Beispiel eines Tages Universitätsprofessor
ich hatte nie im entferntesten an dergleichen gedacht, denn ich
war kaum 24 Jahre alt. So war ich zwei Jahr früher eines Tags Philolog:
in dem Sinne, daß meine erste philologische Arbeit, mein Anfang
in jedem Sinne, von meinem Lehrer Ritschl für sein »Rheinisches
Museum« zum Druck verlangt wurde (Ritschl ich sage
es mit Verehrung der einzige geniale Gelehrte, den ich bis heute
zu Gesicht bekommen habe. Er besaß jene angenehme Verdorbenheit,
die uns Thüringer auszeichnet und mit der sogar ein Deutscher sympathisch
wird wir ziehn selbst, um zur Wahrheit zu gelangen, noch die Schleichwege
vor. Ich möchte mit diesen Worten meinen näheren Landsmann,
den klugen Leopold von Ranke, durchaus nicht unterschätzt
haben.). (Ebd., 1889, S. 40-41).
Alle Fragen der Politik, der Gesellschafts-Ordnung,
der Erziehung sind dadurch bis in Grund und Boden gefälscht, daß man
die schädlichsten Menschen für große Menschen nahm daß
man die »kleinen« Dinge, will sagen die Grundangelegenheiten des Lebens
selber, verachten lehrte. Unsre jetzige Kultur ist im höchsten Grade zweideutig.
Der deutsche Kaiser mit dem Papst paktierend, als ob nicht der Papst der Repräsentant
der Todfeindschaft gegen das leben wäre! (Ebd., 1889, S. 42).Wenn
ich mich danach messe, was ich kann, nicht davon zu reden, was hinter mir
drein kommt, ein Umsturz, ein Aufbau ohne gleichen, so habe ich mehr als irgendein
Sterblicher den Anspruch auf das Wort Größe. (Ebd., 1889, S.42).Vergleiche
ich mich nun mit den Menschen, die man bisher als erste Menschen ehrte,
so ist der Unterschied handgreiflich. Ich rechne diese angeblich »Ersten«
nicht einmal zu den Menschen überhaupt sie sind für mich Ausschuß
der Menschheit, Ausgeburten von Krankheit und rachsüchtigen Instinkten: sie
sind lauter unheilvolle, im Grunde unheilbare Unmenschen, die am Leben Rache nehmen.
Ich will dazu der Gegensatz sein: mein Vorrecht ist, die höchste Feinheit
für alle Zeichen gesunder Instinkte zu haben. (Ebd., 1889, S. 42).Auch
an der Einsamkeit leiden ist ein Einwand ich habe immer nur an der
»Vielsamkeit« gelitten. (Ebd., 1889, S. 43).In
einer absurd frühen Zeit, mit sieben Jahren, wußte ich bereits, daß
mich nie ein menschliches Wort erreichen würde: hat man mich je darüber
betrübt gesehn? (Ebd., 1889, S. 43).Meine Formel für
die Größe am Menschen ist amor fati: daß man nichts anders
haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht.
Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger verhehlen aller
Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen , sondern es lieben.
(Ebd., 1889, S. 43).
Warum ich so gute Bücher schreibe
Ich
selber bin noch nicht an der Zeit, einige werden posthum geboren. (Ebd.,
1889, S. 44).Irgendwann wird man Institutionen nötig haben,
in denen man lebt und lehrt, wie ich leben und lehren verstehe: vielleicht selbst,
daß man dann auch eigene Lehrstühle zur Interpretation des Zarathustra
errichtet. Aber es wäre ein vollkommner Widerspruch zu mir, wenn ich heute
bereits Ohren und Hände für meine Wahrheiten erwartete:
daß man heute nicht hört, daß man heute nicht von mir zu nehmen
weiß, ist nicht nur begreiflich, es scheint mir selbst das Rechte. Ich will
nicht verwechselt werden dazu gehört, daß ich mich selber nicht
verwechsle. Nochmals gesagt, es ist wenig in meinem Leben nachweisbar von
»bösem Willen«; auch von literarischem »bösen Willen«
wüßte ich kaum einen Fall zu erzählen. Dagegen zuviel von reiner
Torheit! Es scheint mir eine der seltensten Auszeichnungen, die jemand sich
erweisen kann, wenn er ein Buch von mir in die Hand nimmt ich nehme selbst
an, er zieht dazu die Schuhe aus nicht von Stiefeln zu reden. Als sich
einmal der Doktor Heinrich von Stein ehrlich darüber beklagte, kein Wort
aus meinem Zarathustra zu verstehn, sagte ich ihm, das sei in Ordnung: sechs Sätze
daraus verstanden, das heißt: erlebt haben, hebe auf eine höhere
Stufe der Sterblichen hinauf, als »moderne« Menschen erreichen könnten.
Wie könnte ich, mit diesem Gefühle der Distanz, auch nur
wünschen, von den »Modernen«, die ich kenne , gelesen zu
werden! Mein Triumph ist gerade der umgekehrte, als der Schopenhauers war
ich sage »non legor, non legar«. (Ebd.,
1889, S. 44-45).Nicht, daß ich das Vergnügen unterschätzen
möchte, das mir mehrmals die Unschuld im Neinsagen zu meinen Schriften
gemacht hat. Noch in diesem Sommer, zu einer Zeit, wo ich vielleicht mit meiner
schwerwiegenden, zu schwer wiegenden Literatur den ganzen Rest von Literatur aus
dem Gleichgewicht zu bringen vermöchte, gab mir ein Professor der Berliner
Universität wohlwollend zu verstehn, ich sollte mich doch einer andren Form
bedienen: so etwas lese niemand. Zuletzt war es nicht Deutschland, sondern
die Schweiz, die die zwei extremen Fälle geliefert hat. Ein Aufsatz des Dr.
V. Widmann im »Bund«, über »Jenseits von Gut und Böse«,
unter dem Titel »Nietzsches gefährliches Buch«, und ein Gesamt-Bericht
über meine Bücher überhaupt seitens des Herrn Karl Spitteler, gleichfalls
im »Bund«, sind ein Maximum in meinem Leben ich hüte mich
zu sagen wovon. Letzterer behandelte zum Beispiel meinen Zarathustra als höhere
Stilübung, mit dem Wunsche, ich möchte später doch auch für
Inhalt sorgen; Dr. Widmann drückte mir seine Achtung vor dem Mut aus, mit
dem ich mich um Abschaffung aller anständigen Gefühle bemühe.
Durch eine kleine Tücke von Zufall war hier jeder Satz, mit einer Folgerichtigkeit,
die ich bewundert habe, eine auf den Kopf gestellte Wahrheit: man hatte im Grunde
nichts zu tun, als alle »Werte umzuwerten«, um, auf eine sogar bemerkenswerte
Weise, über mich den Nagel auf den Kopf zu treffen statt meinen Kopf
mit einem Nagel zu treffen. (Ebd., 1889, S. 45).Wer etwas
von mir verstanden zu haben glaubte, hatte sich etwas aus mir zurechtgemacht,
nach seinem Bilde nicht selten einen Gegensatz von mir, zum Beispiel einen
»Idealisten«; wer nichts von mir verstanden hatte, leugnete, daß
ich überhaupt in Betracht käme. Das Wort »Übermensch«
zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgeratenheit, im Gegensatz zu »modernen«
Menschen, zu »guten« Menschen, zu Christen und andren Nihilisten
ein Wort, das im Munde eines Zarathustra, des Vernichters der Moral, ein
sehr nachdenkliches Wort wird ist fast überall mit voller Unschuld
im Sinn derjenigen Werte verstanden worden, deren Gegensatz in der Figur Zarathustras
zur Erscheinung gebracht worden ist: will sagen als »idealistischer«
Typus einer höheren Art Mensch, halb »Heiliger«, halb »Genie.
Andres gelehrtes Hornvieh hat mich seinethalben des Darwinismus verdächtigt;
selbst der von mir so boshaft abgelehnte »Heroen-Kultus« jenes großen
Falschmünzers wider Wissen und Willen, Carlyle's, ist darin wiedererkannt
worden. Wem ich ins Ohr flüsterte, er solle sich eher nach einem Cesare Borgia
als nach einem Parsifal umsehn, der traute seinen Ohren nicht. (Ebd., 1889,
S. 46).Daß ich gegen Besprechungen meiner Bücher, insonderheit
durch Zeitungen, ohne jedwede Neugierde bin, wird man mir verzeihen müssen.
Meine Freunde, meine Verleger wissen das und sprechen mir nicht von dergleichen.
In einem besondren Falle bekam ich einmal alles zu Gesicht, was über ein
einzelnes Buch es war »Jenseits von Gut und Böse«
gesündigt worden ist; ich hätte einen artigen Bericht darüber abzustatten.
Sollte man es glauben, daß die »Nationalzeitung« ... allen Ernstes
das Buch als ein »Zeichen der Zeit« zu verstehn wußte, als die
echte rechte Junker-Philosophie, zu der es der »Kreuzzeitung«
nur an Mut gebreche? (Ebd., 1889, S. 46-47).
Ich bin der Antiesel par excellence
und damit ein welthistorisches Untier ich bin, auf griechisch und
nicht nur auf griechisch, der Antichrist. (Ebd., 1889, S.
48).
Daß
aus meinen Schriften ein Psychologe redet, der nicht seinesgleichen hat,
das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der ein guter Leser gelangt ein
Leser, wie ich ihn verdiene, der mich liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz
lasen. (Ebd., 1889, S. 51).Das Weib ist unsäglich
viel böser als der Mann, auch klüger; Güte am Weibe ist schon eine
Form der Entartung. Bei allen sogenannten »schönen Seelen«
gibt es einen physiologischen Übelstand auf dem Grunde ich sage nicht
alles, ich würde sonst medi-zynisch werden. (Ebd., 1889, S. 52).Der
Kampf um gleiche Rechte ist sogar ein Symptom von Krankheit: jeder Arzt
weiß das. Das Weib, je mehr Weib es ist, wehrt sich ja mit Händen
und Füßen gegen Rechte überhaupt: der Naturzustand, der ewige
Krieg zwischen den Geschlechtern gibt ihm ja bei weitem den ersten Rang.
(Ebd., 1889, S. 52).Hat man Ohren für meine Definition der
Liebe gehabt? es ist die einzige, die eines Philosophen würdig ist. Liebe
in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter.
(Ebd., 1889, S. 52-53).Hat man meine Antwort auf die Frage gehört,
wie man ein Weib kuriert »erlöst«? Man macht ihm
ein Kind. Das Weib hat Kinder nötig, der Mann ist immer nur Mittel: also
sprach Zarathustra. (Ebd., 1889, S. 53).Emanzipation des
Weibes« das ist der Instinkthaß des mißratenen,
das heißt gebäruntüchtigen Weibes gegen das wohlgeratene
der Kampf gegen den »Mann« ist immer nur Mittel, Vorwand, Taktik.
Sie wollen, indem sie sich hinauf heben, als »Weib an sich«,
als »höheres Weib«, als »Idealistin« von Weib, das
allgemeine Rang-Niveau des Weibes herunterbringen; kein sichereres Mittel
dazu als Gymnasial-Bildung, Hosen und politische Stimmvieh-Rechte. Im Grunde sind
die Emanzipierten die Anarchisten in der Welt des »Ewig-Weiblichen«,
die Schlechtweggekommenen, deren unterster Instinkt Rache ist. Eine ganze Gattung
des bösartigsten »Idealismus« der übrigens auch bei
Männern vorkommt, zum Beispiel bei Henrik Ibsen, dieser typischen alten Jungfrau
hat das Ziel, das gute Gewissen, die Natur in der Geschlechtsliebe zu
vergiften. (Ebd., 1889, S. 53).Und damit ich über
meine in diesem Betracht ebenso honnette als strenge Gesinnung keinen Zweifel
lasse, will ich noch einen Satz aus meinem Moral-Kodex gegen das Laster
mitteilen: mit dem Wort Laster bekämpfe ich jede Art Widernatur oder, wenn
man schöne Worte liebt, Idealismus. Der Satz heißt: »Die Predigt
der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung
des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff 'unrein'
ist das Verbrechen selbst am Leben ist die eigentliche Sünde wider
den heiligen Geist des Lebens.« (Ebd., 1889, S. 53).
Die Geburt der Tragödie 
Heraklit,
in dessen Nähe überhaupt mir wärmer, mir wohler zumute wird als
irgendwo sonst. Die Bejahung des Vergehens und Vernichtens, das Entscheidende
in einer dionysischen Philosophie, das Jasagen zu Gegensatz und Krieg, das Werden,
mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs »Sein« darin
muß ich unter allen Umständen das mir Verwandteste anerkennen, was
bisher gedacht worden ist. Die Lehre von der »ewigen Wiederkunft«,
das heißt vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge
diese Lehre Zarathustras könnte zuletzt auch schon von Heraklit
gelehrt worden sein. Zum mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen
Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon. (Ebd., 1889, S. 58-59).
Die Unzeitgemäßen ([1]
David Friedrich Strauß, [2] Vom Nutzen und Nachteil der Historie
für das Leben [ ],
[3] Schopenhauer als Erzieher [ ],
[4] Richard Wagner in Bareuth [ ];
HB).
Bis heute ist mir nichts fremder und unverwandter
als die ganze europäische und amerikanische Spezies von »libres
penseurs«. Mit ihnen als mit unverbesserlichen Flachköpfen
und Hanswursten der »modernen Ideen« befinde ich mich sogar
in einem tieferen Zwiespalt als mit irgendwem von ihren Gegnern. Sie wollen
auch, auf ihre Art, die Menschheit »verbessern«, nach ihrem
Bilde, sie würden gegen das, was ich bin, was ich will, einen unversöhnlichen
Krieg machen, gesetzt daß sie es verstünden sie glauben
allesamt noch ans »Ideal« .... Ich bin der erste Immoralist.
(Ebd., 1889, S. 65).
Menschliches, Allzumenschliches 
»Menschliches,
Allzumenschliches« ist das Denkmal einer Krisis. Es heißt sich ein
Buch für freie Geister: fast jeder Satz darin drückt einen Sieg
aus ich habe mich mit demselben vom Unzugehörigen in meiner
Natur freigemacht. Unzugehörig ist mir der Idealismus: der Titel sagt »wo
ihr ideale Dinge seht, sehe ich Menschliches, ach nur Allzumenschliches!«.
.... Ich kenne den Menschen besser .... In keinem andren Sinne will das
Wort »freier Geist« hier verstanden werden: ein freigewordner
Geist, der von sich selber wieder Besitz ergriffen hat. Der Ton, der Stimmklang
hat sich völlig verändert: man wird das Buch klug, kühl, unter
Umständen hart und spöttisch finden. Eine gewisse Geistigkeit vornehmen
Geschmacks scheint sich beständig gegen eine leidenschaftlichere Strömung
auf dem Grunde obenauf zu halten. In diesem Zusammenhang hat es Sinn, daß
es eigentlich die hundertjährige Todesfeier Voltaires ist, womit sich
die Herausgabe des Buchs schon für das Jahr 1878 gleichsam entschuldigt.
Denn Voltaire ist, im Gegensatz zu allem, was nach ihm schrieb, vor allem ein
grandseigneur des Geistes: genau das, was ich auch bin. Der Name
Voltaire auf einer Schrift von mir das war wirklich ein Fortschritt
zu mir .... Sieht man genauer zu, so entdeckt man einen unbarmherzigen
Geist, der alle Schlupfwinkel kennt, wo das Ideal heimisch ist wo es seine
Burgverließe und gleichsam seine letzte Sicherheit hat. Eine Fackel in den
Händen, die durchaus kein »fackelndes« Licht gibt, mit einer
schneidenden Helle wird in diese Unterwelt des Ideals hineingeleuchtet.
Es ist der Krieg, aber der Krieg ohne Pulver und Dampf, ohne kriegerische Attitüden,
ohne Pathos und verrenkte Gliedmaßen dies alles selbst wäre
noch »Idealismus«. Ein Irrtum nach dem andern wird gelassen aufs Eis
gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt es erfriert .... Hier zum
Beispiel erfriert »das Genie«; eine Ecke weiter erfriert »der
Heilige«: unter einem dicken Eiszapfen erfriert »der Held«;
am Schluß erfriert »der Glaube«, die sogenannte »Überzeugung«,
auch das »Mitleiden« kühlt sich bedeutend ab fast überall
erfriert »das Ding an sich« .... (Ebd., 1889, S. 68-69).
Morgenröte 
Morgenröte
.... Mit diesem Buche beginnt mein Feldzug gegen die Moral. (Ebd.,
1889, S. 75).Die Frage nach der Herkunft der moralischen Werte
ist deshalb für mich eine Frage ersten Ranges, weil sie die Zukunft
der Menschheit bedingt. Die Forderung, man solle glauben, daß alles
im Grunde in den besten Händen ist, daß ein Buch, die Bibel, eine endgültige
Beruhigung über die göttliche Lenkung und Weisheit im Geschick der Menschheit
gibt, ist, zurückübersetzt in die Realität, der Wille, die Wahrheit
über das erbarmungswürdige Gegenteil davon nicht aufkommen zu lassen,
nämlich, daß die Menschheit bisher in den schlechtesten Händen
war, daß sie von den Schlechtweggekommenen, den Arglistig-Rachsüchtigen,
den sogenannten »Heiligen«, diesen Weltverleumdern und Menschenschändern
regiert worden ist. Das entscheidende Zeichen, an dem sich ergibt, daß der
Priester ( eingerechnet die versteckten Priester, die Philosophen)
nicht nur innerhalb einer bestimmten religiösen Gemeinschaft, sondern überhaupt
Herr geworden ist, daß die décadence-Moral, der Wille zum Ende, als
Moral an sich gilt, ist der unbedingte Wert, der dem Unegoistischen, und die Feindschaft,
die dem Egoistischen überall zuteil wird. Wer über diesen Punkt mit
mir uneins ist, den halte ich für infiziert. Aber alle Welt ist mit
mir uneins. Für einen Physiologen läßt ein solcher Wert-Gegensatz
gar keinen Zweifel. Wenn innerhalb des Organismus das geringste Organ in noch
so kleinem Maße nachläßt, seine Selbsterhaltung, seinen Kraftersatz,
seinen »Egoismus« mit vollkommner Sicherheit durchzusetzen, so entartet
das Ganze. Der Physiologe verlangt Ausschneidung des entarteten Teils,
er verneint jede Solidarität mit dem Entarteten, er ist am fernsten vom Mitleiden
mit ihm. Aber der Priester will gerade die Entartung des Ganzen, der Menschheit:
darum konserviert er das Entartende um diesen Preis beherrscht er
sie. Welchen Sinn haben jene Lügenbegriffe, die Hilfsbegriffe der Moral,
»Seele«, »Geist«, »freier Wille«, »Gott«,
wenn nicht den, die Menschheit physiologisch zu ruinieren? Wenn man den Ernst
von der Selbsterhaltung, Kraftsteigerung des Leibes, das heißt des Lebens
ablenkt, wenn man aus der Bleichsucht ein Ideal, aus der Verachtung des Leibes
»das Heil der Seele« konstruiert, was ist das anderes, als ein Rezept
zur décadence? Der Verlust an Schwergewicht, der Widerstand gegen
die natürlichen Instinkte, die »Selbstlosigkeit« mit einem Worte
das hieß bisher Moral. Mit der »Morgenröte«
nahm ich zuerst den Kampf gegen die Entselbstungs-Moral auf. (Ebd., 1889,
S. 76-78).
Die fröhliche Wissenschaft 
Ein
Vers, welcher die Dankbarkeit für den wunderbarsten Monat Januar ausdrückt,
den ich erlebt habe das ganze Buch ist ein Geschenk , verrät
zur Genüge, aus welcher Tiefe heraus hier die »Wissenschaft«
fröhlich geworden ist:Der
du mit dem Flammenspeere // Meiner Seele Eis zerteilt, // Daß sie brausend
nun zum Meere // Ihrer höchsten Hoffnung eilt: // Heller stets und stets
gesunder, // Frei im liebevollsten Muß: // Also preist sie deine
Wunder, // Schönster Januarius! | Was hier »höchste
Hoffnung« heißt, wer kann darüber im Zweifel sein, der als Schluß
des vierten Buchs die diamantene Schönheit der ersten Worte des Zarathustra
aufglänzen sieht? oder der die graniten
Sätze am Ende des dritten Buchs liest, mit denen sich ein Schicksal für
alle Zeiten zum ersten Male in Formen faßt?. (Ebd., 1889, S. 79).
Also sprach Zarathustra 
Ich
erzähle nunmehr die Geschichte des Zarathustra. Die Grundkonzeption des Werks,
der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, die höchste Formel der Bejahung, die
überhaupt erreicht werden kann , gehört in den August des Jahres
1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: »6000 Fuß
jenseits von Mensch und Zeit«. Ich ging an jenem Tage am See von Silvaplana
durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgetürmten Block
unweit Surlei machte ich halt. Da kam mir dieser Gedanke. (Ebd., 1889, S.
81).Den Vormittag stieg ich in südlicher Richtung auf der
herrlichen Straße nach Zoagli hin in die Höhe, an Pinien vorbei und
weitaus das Meer überschauend; des Nachmittags, so oft es nur die Gesundheit
erlaubte, umging ich die ganze Bucht von Santa Margherita bis hinter nach Porto
fino. Dieser Ort und diese Landschaft ist durch die große Liebe, welche
Kaiser Friedrich der Dritte für sie fühlte, meinem Herzen noch näher
gerückt; ich war zufällig im Herbst 1886 wieder an dieser Küste,
als er zum letztenmal diese kleine vergessene Welt von Glück besuchte.
Auf diesen beiden Wegen fiel mir der ganze erste Zarathustra ein, vor allem Zarathustra
selber, als Typus: richtiger, er überfiel mich. (Ebd., 1889,
S. 83).Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle
nicht, daß man Jahrtausende zurückgehn muß, um jemanden zu finden,
der mir sagen darf »es ist auch die meine«. (Ebd., 1889, S.
86).Ich wollte nach Aquila, dem Gegenbegriff von Rom, aus
Feindschaft gegen Rom gegründet, wie ich einen Ort dereinst gründen
werde, die Erinnerung an einen Atheisten und Kirchenfeind comme il faut, an einen
meiner Nächstverwandten, den großen Hohenstaufen-Kaiser Friedrich den
Zweiten. (Ebd., 1889, S. 86).Das psychologische Problem im
Typus des Zarathustra ist, wie der, welcher in einem unerhörten Grade Nein
sagt, Nein tut, zu allem, wozu man bisher Ja sagte, trotzdem der Gegensatz
eines neinsagenden Geistes sein kann; wie der das Schwerste von Schicksal, ein
Verhängnis von Aufgabe tragende Geist trotzdem der leichteste und jenseitigste
sein kann Zarathustra ist ein Tänzer : wie der, welcher die
härteste, die furchtbarste Einsicht in die Realität hat, welcher den
»abgründlichsten Gedanken« gedacht hat, trotzdem darin keinen
Einwand gegen das Dasein, selbst nicht gegen dessen ewige Wiederkunft findet
vielmehr einen Grund noch hinzu, das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein,
»das ungeheure unbegrenzte Ja und Amen-sagen«. »In alle
Abgründe trage ich noch mein segnendes Jasagen«.Aber das ist der
Begriff des Dionysos noch einmal. (Ebd., 1889, S. 90-91).Für
eine dionysische Aufgabe gehört die Härte des Hammers, die Lust
selbst am Vernichten in entscheidender Weise zu den Vorbedingungen. Der Imperativ:
»werdet hart!«, die unterste Gewißheit darüber, daß
alle Schaffenden hart sind, ist das eigentliche Abzeichen einer dionysischen
Natur. (Ebd., 1889, S. 95).
Jenseits von Gut und Böse 
Theologisch
geredet man höre zu, denn ich rede selten als Theologe war
es Gott selber, der sich als Schlange am Ende seines Tagewerks unter den Baum
der Erkenntnis legte: er erholte sich so davon, Gott zu sein. Er hatte alles zu
schön gemacht. Der Teufel ist bloß der Müßiggang Gottes
an jedem siebenten Tage. (Ebd., 1889, S. 97).
Genealogie der Moral 
Genealogie
der Moral .... Die Wahrheit der ersten Abhandlung ist die Psychologie
des Christentums: die Geburt des Christentums aus dem Geiste des Ressentiment,
nicht, wie wohl geglaubt wird, aus dem »Geiste« eine
Gegenbewegung ihrem Wesen nach, der große Aufstand gegen die Herrschaft
vornehmer Werte. Die zweite Abhandlung gibt die Psychologie des
Gewissens: dasselbe ist nicht, wie wohl geglaubt wird, »die
Stimme Gottes im Menschen« es ist der Instinkt der Grausamkeit, der
sich rückwärts wendet, nachdem er nicht mehr nach außen hin sich
entladen kann. Die Grausamkeit als einer der ältesten und unwegdenkbarsten
Kultur-Untergründe hier zum ersten Male ans Licht gebracht. Die dritte
Abhandlung gibt die Antwort auf die Frage, woher die ungeheure Macht des
asketischen Ideals, des Priester-Ideals, stammt, obwohl dasselbe das schädliche
Ideal par excellence, ein Wille zum Ende, ein décadence-Ideal ist. Antwort:
nicht, weil Gott hinter den Priestern tätig ist, was wohl geglaubt
wird, sondern faute de mieux weil es das einzige Ideal bisher war, weil
es keinen Konkurrenten hatte. »Denn der Mensch will lieber noch das Nichts
wollen als nicht wollen«. .... Vor allem fehlte ein Gegen-Ideal
bis auf Zarathustra. Man hat mich verstanden. Drei entscheidende
Vorarbeiten eines Psychologen für eine Umwertung aller Werte. Dies
Buch enthält die erste Psychologie des Priesters. (Ebd., 1889, S. 98-99).
Götzen-Dämmerung 
Das,
was Götze auf dem Titelblatt heißt, ist ganz einfach das, was
bisher Wahrheit genannt wurde. Götzen-Dämmerung auf deutsch:
es geht zu Ende mit der alten Wahrheit. (Ebd., 1889, S. 100).
Es gibt keine Realität, keine »Idealität«,
die in dieser Schrift nicht berührt würde ( berührt:
was für ein vorsichtiger Euphemismus!). Nicht bloß die ewigen
Götzen, auch die allerjüngsten, folglich altersschwächsten.
Die »modernen Ideen« zum Beispiel. Ein großer Wind bläst
zwischen den Bäumen, und überall fallen Früchte nieder
Wahrheiten. Es ist die Verschwendung eines allzureichen Herbstes
darin: man stolpert über Wahrheiten, man tritt selbst einige tot
es sind ihrer zu viele. Was man aber in die Hände bekommt,
das ist nichts Fragwürdiges mehr, das sind Entscheidungen. Ich erst
habe den Maßstab für »Wahrheiten« in der Hand,
ich kann erst entscheiden. Wie als ob in mir ein zweites Bewußtsein
gewachsen wäre, wie als ob sich in mir »der Wille« ein
Licht angezündet hätte über die schiefe Bahn, auf
der er bisher abwärts lief. Die schiefe Bahn man nannte
sie den Weg zur Wahrheit«. Es ist zu Ende mit allem »dunklen
Drang«, der gute Mensch gerade war sich am wenigsten des
rechten Wegs bewußt. Und allen Ernstes, niemand wußte vor
mir den rechten Weg, den Weg aufwärts: erst von mir an gibt
es wieder Hoffnungen, Aufgaben, vorzuschreibende Wege der Kultur
ich bin deren froher Botschafter. Eben damit bin ich auch ein Schicksal.
(Ebd., 1889, S. 100-101).
Ich habe nie einen solchen Herbst erlebt, auch nie
etwas der Art auf Erden für möglich gehalten ein Claude Lorrain
ins Unendliche gedacht, jeder Tag von gleicher unbändiger Vollkommenheit.
(Ebd., 1889, S. 102).
Der Fall Wagner 
Wer
zweifelt eigentlich daran, daß ich, als der alte Artillerist, der ich bin,
es in der Hand habe, gegen Wagner mein schweres Geschütz aufzufahren?
Ich hielt alles Entscheidende in dieser Sache bei mir zurück
ich habe Wagner geliebt. (Ebd., 1889, S. 103).Dieser gerechte
Sinn des deutschen Gaumens, der allem gleiche Rechte gibt der alles schmackhaft
findet. .... Ohne allen Zweifel, die Deutschen sind Idealisten. Als ich das letzte
Mal Deutschland besuchte, fand ich den deutschen Geschmack bemüht, Wagner
und dem Trompeter von Säckingen gleiche Rechte zuzugestehn; ich selber war
Zeuge, wie man in Leipzig, zu Ehren eines der echtesten und deutschesten Musiker,
im alten Sinne des Wortes deutsch, keines bloßen Reichsdeutschen, des Meister
Heinrich Schütz einen Liszt-Verein gründete, mit dem Zweck der
Pflege und Verbreitung listiger Kirchenmusik. Ohne allen Zweifel, die Deutschen
sind Idealisten. (Ebd., 1889, S. 104).Jüngst machte
ein Idioten-Urteil in historicis, ein Satz des zum Glück verblichenen ästhetischen
Schwaben Vischer, die Runde durch die deutschen Zeitungen als eine »Wahrheit«,
zu der jeder Deutsche ja sagen müsse: »Die Renaissance und die
Reformation, beide zusammen machen erst ein Ganzes die ästhetische
Wiedergeburt und die sittliche Wiedergeburt.« Bei solchen Sätzen
geht es mit meiner Geduld zu Ende, und ich spüre Lust, ich fühle es
selbst als Pflicht, den Deutschen einmal zu sagen, was sie alles schon auf dem
Gewissen haben. Alle großen Kultur-Verbrechen von vier Jahrhunderten
haben sie auf dem Gewissen! Und immer aus dem gleichen Grunde, aus ihrer innerlichsten
Feigheit vor der Realität, die auch die Feigheit vor der Wahrheit
ist, aus ihrer bei ihnen Instinkt gewordenen Unwahrhaftigkeit, aus »Idealismus«.
Die Deutschen haben Europa um die Ernte, um den Sinn der letzten großen
Zeit, der Renaissance-Zeit, gebracht, in einem Augenblicke, wo eine höhere
Ordnung der Werte, wo die vornehmen, die zum Leben jasagenden, die Zukunftverbürgenden
Werte am Sitz der entgegengesetzten, der Niedergangs-Werte, zum Sieg gelangt
waren und bis in die Instinkte der dort Sitzenden hinein! Luther,
dies Verhängnis von Mönch, hat die Kirche, und, was tausendmal schlimmer
ist, das Christentum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unterlag.
Das Christentum, diese Religion gewordene Verneinung des Willens zum Leben!
Luther, ein unmöglicher Mönch, der, aus Gründen seiner »Unmöglichkeit«,
die Kirche angriff und sie folglich! wieder herstellte. Die Katholiken
hätten Gründe, Lutherfeste zu feiern, Lutherspiele zu dichten. Luther
und die »sittliche Wiedergeburt«! Zum Teufel mit aller Psychologie!
Ohne Zweifel, die Deutschen sind Idealisten. (Ebd., 1889, S. 104).Die
Deutschen werden auch in meinem Falle wieder alles versuchen, um aus einem ungeheuren
Schicksal eine Maus zu gebären. Sie haben sich bis jetzt an mir kompromittiert,
ich zweifle, daß sie es in der Zukunft besser machen. (Ebd., 1889,
S. 106).Man kommt beim Deutschen, beinahe wie beim Weibe, niemals
auf den Grund, er hat keinen: das ist alles. Aber damit ist man noch nicht
einmal flach. Das, was in Deutschland »tief« heißt, ist
genau diese Instinkt-Unsauberkeit gegen sich, von der ich eben rede: man will
über sich nicht im klaren sein. (Ebd., 1889, S. 107).Das
erste, woraufhin ich mir einen Menschen »nierenprüfe«, ist, ob
er ein Gefühl für Distanz im Leibe hat, ob er überall Rang, Grad,
Ordnung zwischen Mensch und Mensch sieht, ob er distinguiert: damit ist
man gentilhomme; in jedem andren Fall gehört man rettungslos unter den weitherzigen,
ach! so gutmütigen Begriff der canaille. Aber die Deutschen sind canaille
ach! sie sind so gutmütig. Man erniedrigt sich durch den Verkehr mit
Deutschen: der Deutsche stellt gleich. Rechne ich meinen Verkehr mit einigen
Künstlern, vor allem mit Richard Wagner ab, so habe ich keine gute Stunde
mit Deutschen verlebt. (Ebd., 1889, S. 108).Niemand in Deutschland
hat sich eine Gewissensschuld daraus gemacht, meinen Namen gegen das absurde Stillschweigen
zu verteidigen, unter dem er vergraben lag: ein Ausländer, ein Däne
war es, der zuerst dazu genug Feinheit des Instinkts und Mut hatte, der
sich über meine angeblichen Freunde empörte. .... An welcher deutschen
Universität wären heute Vorlesungen über meine Philosophie möglich,
wie sie letztes Frühjahr der damit noch einmal mehr bewiesene Psycholog Dr.
Georg Brandes in Kopenhagen gehalten hat? (Ebd., 1889, S. 109).
Warum ich ein Schicksal bin
Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an
meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen
an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Kollision,
an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin
geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin
Dynamit. Und mit alledem ist nichts in mir von einem Religionsstifter
Religionen sind Pöbel-Affären, ich habe nötig, mir
die Hände nach der Berührung mit religiösen Menschen zu
waschen. Ich will keine »Gläubigen«, ich denke,
ich bin zu boshaft dazu, um an mich selbst zu glauben, ich rede niemals
zu Massen. Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man mich
eines Tags heilig spricht: man wird erraten, weshalb ich dies Buch
vorher herausgebe, es soll verhüten, daß man Unfug mit
mir treibt. Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst. ....
Vielleicht bin ich ein Hanswurst. .... Und trotzdem oder vielmehr nicht
trotzdem denn es gab nichts Verlogneres bisher als Heilige
redet aus mir die Wahrheit. Aber meine Wahrheit ist furchtbar:
denn man hieß bisher die Lüge Wahrheit. Umwertung
aller Werte: das ist meine Formel für einen Akt höchster
Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden
ist. (Ebd., 1889, S. 111).
Mein Los will, daß ich der erste anständige
Mensch sein muß, daß ich mich gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden
im Gegensatz weiß. Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadurch
daß ich zuerst die Lüge als Lüge empfand roch.
Mein Genie ist in meinen Nüstern. Ich widerspreche, wie nie widersprochen
worden ist, und bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes.
Ich bin ein froher Botschafter, wie es keinen gab, ich kenne Aufgaben
von einer Höhe, daß der Begriff dafür bisher gefehlt hat;
erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen. Mit alledem bin ich notwendig
auch der Mensch des Verhängnisses. Denn wenn die Wahrheit mit der
Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen
haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Tal, wie
dergleichen nie geträumt worden ist. Der Begriff Politik ist dann
gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der
alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt sie ruhen allesamt
auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben
hat. Erst von mir an gibt es auf Erden große Politik.
(Ebd., 1889, S. 111-112).
Will man eine Formel für ein solches Schicksal,
das Mensch wird? Sie steht in meinem Zarathustra.
Und wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen, der muß
ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen. Also gehört das höchste
Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische.
Ich bin bei weitem der furchtbarste Mensch, den es bisher gegeben
hat; dies schließt nicht aus, daß ich der wohltätigste
sein werde. Ich kenne die Lust am Vernichten in einem Grade, die
meiner Kraft zum Vernichten gemäß ist, in beidem
gehorche ich meiner dionysischen Natur, welche das Neintun nicht vom Jasagen
zu trennen weiß. Ich bin der erste Immoralist: damit bin
ich der Vernichter par excellence. (Ebd., 1889, S. 112).
Man hat mich nicht gefragt, man hätte
mich fragen sollen, was gerade in meinem Munde, im Munde des ersten Immoralisten
der Name Zarathustra bedeutet: denn was die ungeheure Einzigkeit jenes
Persers in der Geschichte ausmacht, ist gerade dazu das Gegenteil. Zarathustra
hat zuerst im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe
der Dinge gesehn die Übersetzung der Moral ins Metaphysische, als
Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist sein Werk. Aber diese Frage wäre
im Grunde bereits die Antwort. Zarathustra schuf diesen verhängnisvollsten
Irrtum, die Moral: folglich muß er auch der erste sein, der ihn erkennt.
Nicht nur, daß er hier länger und mehr Erfahrung hat als sonst ein
Denker die ganze Geschichte ist ja die Experimental-Widerlegung vom Satz
der sogenannten »sittlichen Weltordnung« : das Wichtigere ist,
Zarathustra ist wahrhaftiger als sonst ein Denker. Seine Lehre, und sie allein,
hat die Wahrhaftigkeit als oberste Tugend das heißt den Gegensatz
zur Feigheit des »Idealisten«, der vor der Realität die
Flucht ergreift; Zarathustra hat mehr Tapferkeit im Leibe als alle Denker zusammengenommen.
Wahrheit reden und gut mit Pfeilen schießen, das ist die persische
Tugend. Versteht man mich? .... Die Selbstüberwindung der Moral aus
Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz
in mich das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra.
(Ebd., 1889, S. 113).Im Grunde sind es zwei Verneinungen, die mein
Wort Immoralist in sich schließt. Ich verneine einmal einen Typus Mensch,
der bisher als der höchste galt, die Guten, die Wohlwollenden,
Wohltätigen; ich verneine andrerseits eine Art Moral, welche als Moral
an sich in Geltung und Herrschaft gekommen ist die décadence-Moral,
handgreiflicher geredet, die christliche Moral. Es wäre erlaubt, den
zweiten Widerspruch als den entscheidenderen anzusehn, da die Überschätzung
der Güte und des Wohlwollens, ins große gerechnet, mir bereits als
Folge der décadence gilt, als Schwäche-Symptom, als unverträglich
mit einem aufsteigenden und jasagenden Leben: im Jasagen ist Verneinen und
Vernichten Bedingung. (Ebd., 1889, S. 113-114).Ich bleibe
zunächst bei der Psychologie des guten Menschen stehn. Um abzuschätzen,
was ein Typus Mensch wert ist, muß man den Preis nachrechnen, den seine
Erhaltung kostet muß man seine Existenzbedingungen kennen. Die Existenz-Bedingung
der Guten ist die Lüge : anders ausgedrückt, das Nicht-sehn-Wollen
um jeden Preis, wie im Grunde die Realität beschaffen ist, nämlich nicht
derart, um jederzeit wohlwollende Instinkte herauszufordern, noch weniger
derart, um sich ein Eingreifen von kurzsichtigen gutmütigen Händen jederzeit
gefallen zu lassen. (Ebd., 1889, S. 114).In der großen
Ökonomie des Ganzen sind die Furchtbarkeiten der Realität (in den Affekten,
in den Begierden, im Willen zur Macht) in einem unausrechenbaren Maße notwendiger
als jene Form des kleinen Glücks, die sogenannte »Güte«;
man muß sogar nachsichtig sein, um der letzteren, da sie in der Instinkt-Verlogenheit
bedingt ist, überhaupt einen Platz zu gönnen. (Ebd., 1889, S.
114).Ich werde einen großen Anlaß haben, die über
die Maßen unheimlichen Folgen des Optimismus, dieser Ausgeburt der
homines optimi, für die ganze Geschichte zu beweisen. Zarathustra, der erste,
der begriff, daß der Optimist ebenso décadent ist wie der Pessimist
und vielleicht schädlicher, sagt: gute Menschen reden nie die Wahrheit.
Falsche Küsten und Sicherheiten lehrten euch die Guten; in Lügen der
Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in den Grund hinein verlogen und
verbogen durch die Guten. Die Welt ist zum Glück nicht auf Instinkte
hin gebaut, daß gerade bloß gutmütiges Herdengetier darin sein
enges Glück fände; zu fordern, daß alles »guter Mensch«,
Herdentier, blauäugig, wohlwollend, »schöne Seele«
oder, wie Herr Herbert Spencer es wünscht, altruistisch werden solle, hieße
dem Dasein seinen großen Charakter nehmen, hieße die Menschheit kastrieren
und auf eine armselige Chineserei herunterbringen. Und dies hat man
versucht! Dies eben hieß man Moral. In diesem Sinne nennt Zarathustra
die Guten bald »die letzten Menschen«, bald den »Anfang vom
Ende«; vor allem empfindet er sie als die schädlichste Art Mensch,
weil sie ebenso auf Kosten der Wahrheit als auf Kosten der Zukunft ihre
Existenz durchsetzen.Die
Guten die können nicht schaffen, die sind immer der Anfang
vom Ende | sie kreuzigen
den, der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die
Zukunft, sie kreuzigen alle Menschen-Zukunft! | Die
Guten die waren immer der Anfang vom Ende .... | Und
was auch für Schaden die Welt-Verleumder tun mögen, der Schaden der
Guten ist der schädlichste Schaden. | | (Ebd.,
1889, S. 114-115).Zarathustra, der erste Psycholog der Guten, ist
folglich ein Freund der Bösen. Wenn eine décadence-Art
Mensch zum Rang der höchsten Art aufgestiegen ist, so konnte dies nur auf
Kosten ihrer Gegensatz-Art geschehn, der starken und lebensgewissen Art Mensch.
Wenn das Herdentier im Glanze der reinsten Tugend strahlt, so muß der Ausnahme-Mensch
zum Bösen heruntergewertet sein. Wenn die Verlogenheit um jeden Preis das
Wort »Wahrheit« für ihre Optik in Anspruch nimmt, so muß
der eigentlich Wahrhaftige unter den schlimmsten Namen wiederzufinden sein. Zarathustra
läßt hier keinen Zweifel: er sagt, die Erkenntnis der Guten, der »Besten«
gerade sei es gewesen, was ihm Grausen vor dem Menschen überhaupt gemacht
habe; aus diesem Widerwillen seien ihm die Flügel gewachsen, »fortzuschweben
in ferne Zukünfte« er verbirgt es nicht, daß sein
Typus Mensch, ein relativ übermenschlicher Typus, gerade im Verhältnis
zu den Guten übermenschlich ist, daß die Guten und Gerechten
seinen Übermenschen Teufel nennen würden.Ihr
höchsten Menschen, denen mein Auge begegnete, das ist mein Zweifel an euch
und mein heimliches Lachen: ich rate, ihr würdet meinen Übermenschen
Teufel heißen! | So fremd
seid ihr dem Großen mit eurer Seele, daß euch der Übermensch
furchtbar sein würde in seiner Güte.).An dieser Stelle und nirgendswo
anders muß man den Ansatz machen, um zu begreifen, was Zarathustra will:
diese Art Mensch, die er konzipiert, konzipiert die Realität, wie sie
ist: sie ist stark genug dazu , sie ist ihr nicht entfremdet, entrückt,
sie ist sie selbst, sie hat all deren Furchtbares und Fragwürdiges
auch noch in sich, damit erst kann der Mensch Größe haben.
(Ebd., 1889, S. 115-116). | Aber ich habe auch
noch in einem andren Sinne das Wort Immoralist zum Abzeichen, zum Ehrenzeichen
für mich gewählt; ich bin stolz darauf, dies Wort zu haben, das mich
gegen die ganze Menschheit abhebt. Niemand noch hat die christliche Moral
als unter sich gefühlt: dazu gehörte eine Höhe, ein Fernblick,
eine bisher ganz unerhörte psychologische Tiefe und Abgründlichkeit.
Die christliche Moral war bisher die Circe aller Denker sie standen in
ihrem Dienst. Wer ist vor mir eingestiegen in die Höhlen, aus denen
der Gifthauch dieser Art von Ideal der Weltverleumdung! emporquillt?
Wer hat auch nur zu ahnen gewagt, daß es Höhlen sind? Wer war überhaupt
vor mir unter den Philosophen Psycholog und nicht vielmehr dessen Gegensatz
»höherer Schwindler«, »Idealist«? Es gab vor mir
noch gar keine Psychologie. Hier der Erste zu sein kann ein Fluch sein,
es ist jedenfalls ein Schicksal: denn man verachtet auch als der Erste.
Der Ekel am Menschen ist meine Gefahr. (Ebd., 1889, S. 116-117).Hat
man mich verstanden? Was mich abgrenzt, was mich beiseite stellt gegen
den ganzen Rest der Menschheit, das ist, die christliche Moral entdeckt
zu haben. Deshalb war ich eines Worts bedürftig, das den Sinn einer Herausforderung
an jedermann enthält. Hier nicht eher die Augen aufgemacht zu haben, gilt
mir als die größte Unsauberkeit, die die Menschheit auf dem Gewissen
hat, als Instinkt gewordner Selbstbetrug, als grundsätzlicher Wille, jedes
Geschehen, jede Ursächlichkeit, jede Wirklichkeit nicht zu sehen, als Falschmünzerei
in psychologicis bis zum Verbrechen. Die Blindheit vor dem Christentum ist das
Verbrechen par excellence das Verbrechen am Leben. Die Jahrtausende,
die Völker, die Ersten und die Letzten, die Philosophen und die alten Weiber
fünf, sechs Augenblicke der Geschichte abgerechnet, mich als siebenten
in diesem Punkte sind sie alle einander würdig. Der Christ war bisher
das »moralische Wesen«, ein Kuriosum ohnegleichen und,
als »moralisches Wesen«, absurder, verlogner, eitler, leichtfertiger,
sich selber nachteiliger als auch der größte Verächter
der Menschheit es sich träumen lassen könnte. Die christliche Moral
die bösartigste Form des Willens zur Lüge .... (Ebd., 1889,
S. 117-118).Es ist nicht der Irrtum als Irrtum, was mich bei diesem
Anblick entsetzt, nicht der jahrtausendelange Mangel an »gutem Willen«,
an Zucht, an Anstand, an Tapferkeit im Geistigen, der sich in seinem Sieg verrät
es ist der Mangel an Natur, es ist der vollkommen schauerliche Tatbestand,
daß die Widernatur selbst als Moral die höchsten Ehren empfing
und als Gesetz, als kategorischer Imperativ, über der Menschheit hängen
blieb! In diesem Maße sich vergreifen, nicht als Einzelner, nicht
als Volk, sondern als Menschheit! .... Daß man die allerersten Instinkte
des Lebens verachten lehrte; daß man eine »Seele«, einen »Geist«
erlog, um den Leib zuschanden zu machen; daß man in der Voraussetzung
des Lebens, in der Geschlechtlichkeit, etwas Unreines empfinden lehrt; daß
man in der tiefsten Notwendigkeit zum Gedeihen, in der strengen Selbstsucht
( das Wort schon ist verleumderisch! ) das böse Prinzip sucht;
daß man umgekehrt in den typischen Abzeichen des Niedergangs und der Instinkt-Widersprüchlichkeit,
im »Selbstlosen«, im Verlust an Schwergewicht, in der »Entpersönlichung«
und »Nächstenliebe« ( Nächstensucht!) den höheren
Wert, was sage ich! den Wert an sich sieht! Wie! wäre die Menschheit
selber in décadence? war sie es immer? Was feststeht, ist, daß
ihr nur Décadence-Werte als oberste Werte gelehrt worden sind. Die
Entselbstungs-Moral ist die Niedergangs-Moral par excellence, die Tatsache, »ich
gehe zugrunde« in den Imperativ übersetzt: »ihr sollt
alle zugrunde gehn« und nicht nur in den Imperativ! Diese
einzige Moral, die bisher gelehrt worden ist, die Entselbstungs-Moral, verrät
einen Willen zum Ende, sie verneint im untersten Grunde das Leben.
Hier bliebe die Möglichkeit offen, daß nicht die Menschheit in Entartung
sei, sondern nur jene parasitische Art Mensch, die des Priesters, die mit
der Moral sich zu ihren Wert-Bestimmern emporgelogen hat die in der christlichen
Moral ihr Mittel zur Macht erriet. Und in der Tat, das ist meine Einsicht:
die Lehrer, die Führer der Menschheit, Theologen insgesamt, waren insgesamt
auch décadents: daher die Umwertung aller Werte ins Lebensfeindliche,
daher die Moral. Definition der Moral: Moral die Idiosynkrasie von
décadents, mit der Hinterabsicht, sich am Leben zu rächen
und mit Erfolg. Ich lege Wert auf diese Definition. (Ebd.,
1889, S. 118-119).Die Entdeckung der christlichen Moral
ist ein Ereignis, das nicht seinesgleichen hat, eine wirkliche Katastrophe. Wer
über sie aufklärt, ist eine force majeure, ein Schicksal er bricht
die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt vor ihm, man
lebt nach ihm. Der Blitz der Wahrheit traf gerade das, was bisher am höchsten
stand: wer begreift, was da vernichtet wurde, mag zusehn, ob er überhaupt
noch etwas in den Händen hat. Alles, was bisher »Wahrheit« hieß,
ist als die schädlichste, tückischste, unterirdischste Form der Lüge
erkannt; der heilige Vorwand, die Menschheit zu »verbessern«, als
die List, das Leben selbst auszusaugen, blutarm zu machen. Moral als Vampyrismus.
(Ebd., 1889, S. 119).Wer die Moral entdeckt, hat den Unwert aller
Werte mit entdeckt, an die man glaubt oder geglaubt hat; er sieht in den verehrtesten,
in den selbst heilig gesprochnen Typen des Menschen nichts Ehrwürdiges
mehr, er sieht die verhängnisvollste Art von Mißgeburten darin, verhängnisvoll,
weil sie faszinierten. (Ebd., 1889, S. 119).Der Begriff
»Gott« erfunden als Gegensatz-Begriff zum Leben in ihm alles
Schädliche, Vergiftende, Verleumderische, die ganze Todfeindschaft gegen
das Leben in eine entsetzliche Einheit gebracht! Der Begriff »Jenseits«,
»wahre Welt« erfunden, um die einzige Welt zu entwerten, die
es gibt um kein Ziel, keine Vernunft, keine Aufgabe für unsre Erden-Realität
übrigzubehalten? Der Begriff »Seele«, »Geist«, zuletzt
gar noch »unsterbliche Seele«, erfunden, um den Leib zu verachten,
um ihn krank »heilig« zu machen, um allen Dingen, die
Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät,
Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn entgegenzubringen!
Statt der Gesundheit das »Heil der Seele« will sagen eine folie
circulaire zwischen Bußkrampf und Erlösungs-Hysterie! Der Begriff »Sünde«
erfunden samt dem zugehörigen Folter-Instrument, dem Begriff »freier
Wille«, um die Instinkte zu verwirren, um das Mißtrauen gegen die
Instinkte zur zweiten Natur zu machen! Im Begriff des »Selbstlosen«,
des »Sich-selbst-Verleugnenden« das eigentliche décadence-Abzeichen,
das Gelocktwerden vom Schädlichen, das Seinen-Nutzen-nicht-mehr-finden-Können«,
die Selbst-Zerstörung zum Wertzeichen überhaupt gemacht, zur »Pflicht«,
zur »Heiligkeit«, zum »Göttlichen« im Menschen! Endlich
es ist das Furchtbarste im Begriff des guten Menschen die
Partei alles Schwachen, Kranken, Mißratnen, An-sich-selber-Leidenden genommen,
alles dessen, was zugrunde gehn soll -, das Gesetz der Selektion gekreuzt,
ein Ideal aus dem Widerspruch gegen den stolzen und wohlgeratenen, gegen den jasagenden,
gegen den zukunftsgewissen, zukunftverbürgenden Menschen gemacht dieser
heißt nunmehr der Böse .... Und das alles wurde geglaubt als Moral!
(Ebd., 1889, S. 119-120).Hat man mich verstanden?
D i o n y s o s g e g e n
d e n G e k r e u z i g t e n .
(Ebd., 1889, S. 120). |