Schopenhauer als Erzieher (auch
in: Die Unzeitgemäßen / Unzeitgemäße Betrachtungen),
1874

Der
Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören,
gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: »sei
du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst.«
(Ebd., 1874, S. 6).Es gibt kein öderes und widrigeres Geschöpf
in der Natur als den Menschen, welcher seinem Genius ausgewichen ist und nun nach
rechts und nach links, nach rückwärts und überallhin schielt. Man
darf einen solchen Menschen zuletzt gar nicht mehr angreifen, denn er ist ganz
Außenseite ohne Kern, ein anbrüchiges, gemaltes, aufgebauschtes Gewand,
ein verbrämtes Gespenst, das nicht einmal Furcht und gewiß auch kein
Mitleiden erregen kann. Und wenn man mit Recht vom Faulen sagt, er töte die
Zeit, so muß man von einer Periode, welche ihr Heil auf die öffentlichen
Meinungen, das heißt auf die privaten Faulheiten setzt, ernstlich besorgen,
daß eine solche Zeit wirklich einmal getötet wird: ich meine, daß
sie aus der Geschichte der wahrhaften Befreiung des Lebens gestrichen wird.
(Ebd., 1874, S. 6-7).Wie groß muß
der Widerwille späterer Geschlechter sein, sich mit der Hinterlassenschaft
jener Periode zu befassen, in welcher nicht die lebendigen Menschen, sondern öffentlich
meinende Scheinmenschen regierten; weshalb vielleicht unser Zeitalter für
irgendeine ferne Nachwelt der dunkelste und unbekannteste, weil unmenschlichste
Abschnitt der Geschichte sein mag. (Ebd., 1874, S. 7).Ich
gehe durch die neuen Straßen unserer Städte und denke, wie von allen
diesen greulichen Häusern, welche das Geschlecht der öffentlich Meinenden
sich erbaut hat, in einem Jahrhundert nichts mehr steht, und wie dann auch wohl
die Meinungen dieser Häuserbauer umgefallen sein werden. Wie hoffnungsvoll
dürfen dagegen alle die sein, welche sich nicht als Bürger dieser Zeit
fühlen; denn wären sie dies, so würden sie mit dazu dienen, ihre
Zeit zu töten und samt ihrer Zeit unterzugehen, während sie die
Zeit vielmehr zum Leben erwecken wollen, um in diesem Leben selber fortzuleben.
(Ebd., 1874, S. 7).Deine wahren Erzieher
und Bildner verraten dir, was der wahre Ursinn und Grundstoff deines Wesens ist,
etwas durchaus Unerziehbares und Unbildbares, aber jedenfalls schwer Zugängliches,
Gebundenes, Gelähmtes: deine Erzieher vermögen nichts zu sein als deine
Befreier. Und das ist das Geheimnis aller Bildung: sie verleiht nicht künstliche
Gliedmaßen, wächserne Nasen, bebrillte Augen vielmehr ist das,
was diese Gaben zu geben vermöchte, nur das Afterbild der Erziehung. Sondern
Befreiung ist sie, Wegräumung alles Unkrauts, Schuttwerks, Gewürms,
das die zarten Keime der Pflanzen antasten will, Ausströmung von Licht und
Wärme, liebevolles Niederrauschen nächtlichen Regens, sie ist Nachahmung
und Anbetung der Natur, wo diese mütterlich und barmherzig gesinnt ist, sie
ist Vollendung der Natur, wenn sie ihren grausamen und unbarmherzigen Anfällen
vorbeugt und sie zum Guten wendet, wenn sie über die Äußerungen
ihrer stiefmütterlichen Gesinnung und ihres traurigen Unverstandes einen
Schleier deckt. (Ebd., 1874, S. 9-10).Ich gehöre zu
den Lesern Schopenhauers, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen
haben, mit Bestimmtheit wissen, daß sie alle Seiten lesen werden und auf
jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat. (Ebd., 1874,
S. 16-17).Mein Vertrauen zu Schopenhauer war sofort da und ist
jetzt noch dasselbe wie vor neun Jahren. Ich verstand ihn, als ob er für
mich geschrieben hätte. (Ebd., 1874, S. 17).Das war
die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs: Vereinsamung. Die
zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden
Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt,
daß er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und
nicht nur eine klappernde Denk-und Rechenmaschine. (Ebd., 1874, S. 28).Denn
so stehe es: die Gründung des neuen Deutschen Reiches sei der entscheidende
und vernichtende Schlag gegen alles »pessimistische« Philosophieren
davon lasse sich nichts abdingen. (Ebd., 1874, S. 40).Der
Mensch Goethes ist keine so bedrohliche Macht, ja in einem gewissen Verstande
sogar das Korrektiv und Quietiv gerade jener gefährlichen Aufregungen, denen
der Mensch Rousseaus preisgegeben ist. Goethe selbst hat in seiner Jugend mit
seinem ganzen liebereichen Herzen an dem Evangelium von der guten Natur gehangen;
sein Faust war das höchste und kühnste Abbild vom Menschen Rousseaus,
wenigstens soweit dessen Heißhunger nach Leben, dessen Unzufriedenheit und
Sehnsucht, dessen Umgang mit den Dämonen des Herzens darzustellen war. Nun
sehe man aber darauf hin, was aus alle diesem angesammelten Gewölk entsteht
gewiß kein Blitz! Und hier offenbart sich eben das neue Bild des
Menschen, des Goetheschen Menschen. Man sollte denken, daß Faust durch das
überall bedrängte Leben als unersättlicher Empörer und Befreier
geführt werde, als die verneinende Kraft aus Güte, als der eigentliche
gleichsam religiöse und dämonische Genius des Umsturzes, zum Gegensatze
seines durchaus undämonischen Begleiters, ob er schon diesen Begleiter nicht
loswerden und seine skeptische Bosheit und Verneinung zugleich benutzen und verachten
müßte wie es das tragische Los jedes Empörers und Befreiers
ist. Aber man irrt sich, wenn man etwas Derartiges erwartet; der Mensch Goethes
weicht hier dem Menschen Rousseaus aus; denn er haßt jedes Gewaltsame, jeden
Sprung das heißt aber: jede Tat; und so wird aus dem Weltbefreier
Faust gleichsam nur ein Weltreisender. Alle Reiche des Lebens und der Natur, alle
Vergangenheiten, Künste, Mythologien, alle Wissenschaften sehen den unersättlichen
Beschauer an sich vorüberfliegen, das tiefste Begehren wird aufgeregt und
beschwichtigt, selbst Helena hält ihn nicht länger und nun muß
der Augenblick kommen, auf den sein höhnischer Begleiter lauert. An einer
beliebigen Stelle der Erde endet der Flug, die Schwingen fallen herab, Mephistopheles
ist bei der Hand. Wenn der Deutsche aufhört, Faust zu sein, ist keine Gefahr
größer als die, daß er ein Philister werde und dem Teufel verfalle
nur himmlische Mächte können ihn hiervon erlösen. Der Mensch
Goethes ist, wie ich sagte, der beschauliche Mensch im hohen Stile, der nur dadurch
auf der Erde nicht verschmachtet, daß er alles Große und Denkwürdige,
was je da war und noch ist, zu seiner Ernährung zusammenbringt und so lebt,
ob es auch nur ein Leben von Begierde zu Begierde ist; er ist nicht der tätige
Mensch: vielmehr, wenn er an irgendeiner Stelle sich in die bestehenden Ordnungen
der Tätigen einfügt, so kann man sicher sein, daß nichts Rechtes
dabei herauskommt wie etwa bei allem Eifer, welchen Goethe selbst für
das Theater zeigte vor allem daß keine »Ordnung« umgeworfen
wird. Der Goethesche Mensch ist eine erhaltende und verträgliche Kraft
aber unter der Gefahr, wie gesagt, daß er zum Philister entarten kann, wie
der Mensch Rousseaus leicht zum Katilinarier werden kann. Ein wenig mehr Muskelkraft
und natürliche Wildheit bei jenem, und alle seine Tugenden würden größer
sein. Es scheint, daß Goethe wußte, worin die Gefahr und Schwäche
seines Menschen liege, und er deutet es mit den Worten Jarnos an Wilhelm Meister
an: »Sie sind verdrießlich und bitter, das ist schön und gut;
wenn Sie nur einmal recht böse werden, so wird es noch besser sein.«
(Ebd., 1874, S. 47).Es ist nötig, daß wir einmal recht
böse werden, damit es besser wird. (Ebd., 1874, S. 49).Der
Schopenhauersche Mensch nimmt das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich,
und dieses Leiden dient ihm, seinen Eigenwillen zu ertöten und jene völlige
Umwälzung und Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu führen
der eigentliche Sinn des Lebens ist. (Ebd., 1874, S. 49).Es
gibt eine Art zu verneinen und zu zerstören, welche gerade der Ausfluß
jener mächtigen Sehnsucht nach Heiligung und Errettung ist, als deren erster
philosophischer Lehrer Schopenhauer unter uns entheiligte und recht eigentlich
verweltlichte Menschen trat. (Ebd., 1874, S. 49-50).So blind
und toll am Leben zu hängen, um keinen höhern Preis, ferne davon zu
wissen, daß und warum man so gestraft wird, sondern gerade nach dieser Strafe
wie nach einem Glücke mit der Dummheit einer entsetzlichen Begierde zu lechzen
das heißt Tier sein; und wenn die gesamte Natur sich zum Menschen
hindrängt, so gibt sie dadurch zu verstehen, daß er zu ihrer Erlösung
vom Fluche des Tierlebens nötig ist und daß endlich in ihm das Dasein
sich einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde das Leben nicht mehr sinnlos,
sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint. Doch überlege man
wohl: wo hört das Tier auf, wo fängt der Mensch an? Jener Mensch, an
dem allein der Natur gelegen ist! Solange jemand nach dem Leben wie nach einem
Glücke verlangt, hat er den Blick noch nicht über den Horizont des Tieres
hinausgehoben, nur daß er mit mehr Bewußtsein will, was das Tier im
blinden Drange sucht. Aber so geht es uns allen, den größten Teil des
Lebens hindurch: wir kommen für gewöhnlich aus der Tierheit nicht heraus,
wir selbst sind die Tiere, die sinnlos zu leiden scheinen. (Ebd., 1874,
S. 57-58).Jeder kennt den sonderbaren Zustand, wenn sich plötzlich
unangenehme Erinnerungen aufdrängen, und wir dann durch heftige Gebärden
und Laute bemüht sind, sie uns aus dem Sinne zu schlagen: aber die Gebärden
und Laute des allgemeinen Lebens lassen erraten, daß wir uns alle und immerdar
in einem solchen Zustande befinden, in Furcht vor der Erinnerung und Verinnerlichung.
(Ebd., 1874, S. 59).Erst wenn wir, in der jetzigen oder einer kommenden
Geburt, selber in jenen erhabensten Orden der Philosophen, der Künstler und
der Heiligen aufgenommen sind, wird uns auch ein neues Ziel unserer Liebe und
unseres Hasses gesteckt sein einstweilen haben wir unsre Aufgabe und unsern
Kreis von Pflichten, unsern Haß und unsre Liebe. Denn wir wissen, was die
Kultur ist. Sie will, um die Nutzanwendung auf den Schopenhauerschen Menschen
zu machen, daß wir seine immer neue Erzeugung vorbereiten und fördern,
indem wir das ihr Feindselige kennenlernen und aus dem Wege räumen
kurz, daß wir gegen alles unermüdlich ankämpfen, was uns um die
höchste Erfüllung unsrer Existenz brachte, indem es uns hinderte, solche
Schopenhauersche Menschen selber zu werden. (Ebd., 1874, S. 64-65).Mitunter
ist es schwerer, eine Sache zuzugeben als sie einzusehen; und so gerade mag es
den meisten ergehen, wenn sie den Satz überlegen: »die Menschheit soll
fortwährend daran arbeiten, einzelne große Menschen zu erzeugen
und dies und nichts anderes sonst ist ihre Aufgabe.« Wie gerne möchte
man eine Belehrung auf die Gesellschaft und ihre Zwecke anwenden, welche man aus
der Betrachtung einer jeden Art des Tier- und Pflanzenreichs gewinnen kann, daß
es bei ihr allein auf das einzelne höhere Exemplar ankommt, auf das ungewöhnlichere,
mächtigere, kompliziertere, fruchtbarere wie gerne, wenn nicht anerzogne
Einbildungen über den Zweck der Gesellschaft zähen Widerstand leisteten!
(Ebd., 1874, S. 65).Eigentlich ist es leicht zu begreifen, daß
dort, wo eine Art an ihre Grenze und an ihren Übergang in eine höhere
Art gelangt, das Ziel ihrer Entwicklung liegt, nicht aber in der Masse der Exemplare
und deren Wohlbefinden, oder gar in den Exemplaren, welche der Zeit nach die allerletzten
sind, vielmehr gerade in den scheinbar zerstreuten und zufälligen Existenzen,
welche hier und da einmal unter günstigen Bedingungen zustande kommen; und
ebenso leicht sollte doch wohl die Forderung zu begreifen sein, daß die
Menschheit, weil sie zum Bewußtsein über ihren Zweck kommen kann, jene
günstigen Bedingungen aufzusuchen und herzustellen hat, unter denen jene
großen erlösenden Menschen entstehen können. Aber es widerstrebt
ich weiß nicht was alles: da soll jener letzte Zweck in dem Glück aller
oder der meisten, da soll er in der Entfaltung großer Gemeinwesen gefunden
werden; und so schnell sich einer entschließt, sein Leben etwa einem Staate
zu opfern, so langsam und bedenklich würde er sich benehmen, wenn nicht ein
Staat, sondern ein einzelner dies Opfer forderte. (Ebd., 1874, S. 65-66).Es
scheint eine Ungereimtheit, daß der Mensch eines andern Menschen wegen da
sein sollte; »vielmehr aller andern wegen, oder wenigstens möglichst
vieler!« O Biedermann, als ob das gereimter wäre, die Zahl entscheiden
zu lassen, wo es sich um Wert und Bedeutung handelt! Denn die Frage lautet doch
so: wie erhält dein, des einzelnen Leben den höchsten Wert, die tiefste
Bedeutung? Wie ist es am wenigsten verschwendet? Gewiß nur dadurch, daß
du zum Vorteile der seltensten und wertvollsten Exemplare lebst, nicht aber zum
Vorteile der meisten, das heißt der, einzeln genommen, wertlosesten Exemplare.
Und gerade diese Gesinnung sollte in einem jungen Menschen gepflanzt und angebaut
werden, daß er sich selbst gleichsam als ein mißlungenes Werk der
Natur versteht, aber zugleich als ein Zeugnis der größten und wunderbarsten
Absichten dieser Künstlerin: es geriet ihr schlecht, soll er sich sagen;
aber ich will ihre große Absicht dadurch ehren, daß ich ihr zu Diensten
bin, damit es ihr einmal besser gelinge. (Ebd., 1874, S. 66).Ganz
beglückte Zeiten brauchten den Gelehrten nicht und kannten ihn nicht, ganz
erkrankte und verdrossene Zeiten schätzten ihn als den höchsten und
würdigsten Menschen und gaben ihm den ersten Rang. (Ebd., 1874, S.
86).Und so hoffe ich auch, daß es einige gebe, welche verstehen,
was ich mit der Vorführung von Schopenhauers Schicksal sagen will und wozu,
nach meiner Vorstellung, Schopenhauer als Erzieher eigentlich erziehen soll.
(Ebd., 1874, S. 91).Was müßte man einem werdenden Philosophen
gegenwärtig wünschen und nötigenfalls verschaffen, damit er überhaupt
Atem schöpfen könne und es im günstigsten Falle zu der, gewiß
nicht leichten, aber wenigstens möglichen Existenz Schopenhauers bringe?
Was wäre außerdem zu erfinden, um seiner Einwirkung auf die Zeitgenossen
mehr Wahrscheinlichkeit zu geben? Und welche Hindernisse müßten weggeräumt
werden, damit vor allem sein Vorbild zur vollen Wirkung komme, damit der Philosoph
wieder Philosophen erziehe? (Ebd., 1874, S. 91).Die Natur
wirtschaftet nicht klug, ihre Ausgaben sind viel größer als der Ertrag,
den sie erzielt; sie muß sich bei all ihrem Reichtum irgendwann einmal zugrunde
richten. Vernünftiger hätte sie es eingerichtet, wenn ihre Hausregel
wäre: wenig Kosten und hundertfältiger Ertrag, wenn es zum Beispiel
nur wenige Künstler und diese von schwächeren Kräften gäbe,
dafür aber zahlreiche Aufnehmende und Empfangende und gerade diese von stärkerer
und gewaltigerer Art, als die Art der Künstler selber ist: so daß die
Wirkung des Kunstwerks im Verhältnis zur Ursache ein hundertfach verstärkter
Widerhall wäre. Oder sollte man nicht mindestens erwarten, daß Ursache
und Wirkung gleich stark wären; aber wie weit bleibt die Natur hinter dieser
Erwartung zurück! Es sieht oft so aus, als ob ein Künstler und zumal
ein Philosoph zufällig in seiner Zeit sei, als Einsiedler oder als
versprengter und zurückgebliebener Wanderer. Man fühle nur einmal recht
herzlich nach, wie groß, durch und durch und in allem, Schopenhauer ist
und wie klein, wie absurd seine Wirkung! (Ebd., 1874, S. 93-94).Nichts
kann gerade für einen ehrlichen Menschen dieser Zeit beschämender sein
als einzusehen, wie zufällig sich Schopenhauer in ihr ausnimmt und an welchen
Mächten und Unmächten es bisher gehangen hat, daß seine Wirkung
so verkümmert wurde. Zuerst und lange war ihm der Mangel an Lesern feindlich
...; sodann als die Leser kamen, die Ungemäßheit seiner ersten öffentlichen
Zeugen: noch mehr freilich, wie mir scheint, die Abstumpfung aller modernen Menschen
gegen Bücher, welche sie eben durchaus nicht mehr ernst nehmen wollen; allmählich
ist noch eine neue Gefahr hinzugekommen, entsprungen aus den mannigfachen Versuchen,
Schopenhauer der schwächlichen Zeit anzupassen oder gar ihn als befremdliche
und reizvolle Würze, gleichsam als eine Art metaphysischen Pfeffers einzureiben.
So ist er zwar allmählich bekannt und berühmt geworden ...: und trotzdem
ist er noch ein Einsiedler, trotzdem blieb bis jetzt die Wirkung aus! Am wenigsten
haben die eigentlichen literarischen Gegner und Widerbeller die Ehre, diese bisher
verhindert zu haben, erstens weil es wenige Menschen gibt, welche es aushalten
sie zu lesen, und zweitens weil sie den, welcher dies aushält, unmittelbar
zu Schopenhauer hinführen; denn wer läßt sich wohl von einem Eseltreiber
abhalten, ein schönes Pferd zu besteigen, wenn jener auch noch so sehr seinen
Esel auf Unkosten des Pferdes herausstreicht? (Ebd., 1874, S. 94-95).Ziel
dahin bestimmen ..., die Wiedererzeugung Schopenhauers, das heißt des philosophischen
Genius, vorzubereiten. (Ebd., 1874, S. 95).Schopenhauer ...
hatte das unbeschreibliche Glück, nicht nur in sich den Genius aus der Nähe
zu sehen, sondern auch außer sich, in Goethe: durch diese doppelte Spiegelung
war er über alle gelehrtenhaften Ziele und Kulturen von Grund aus belehrt
und weise geworden. Vermöge dieser Erfahrung wußte er, wie der freie
und starke Mensch beschaffen sein muß, zu dem sich jede künstlerische
Kultur hinsehnt; konnte er, nach diesem Blicke, wohl noch viel Lust übrig
haben, sich mit der sogenannten »Kunst« in der gelehrten oder hypokritischen
Manier des modernen Menschen zu befassen? Hatte er doch sogar noch etwas Höheres
gesehn: eine furchtbare überweltliche Szene des Gerichts, in der alles Leben,
auch das höchste und vollendete, gewogen und zu leicht befunden wurde: er
hatte den Heiligen als Richter des Daseins gesehn. (Ebd., 1874, S. 99).Es
ist gar nicht zu bestimmen, wie frühzeitig Schopenhauer dieses Bild des Lebens
geschaut haben muß, und zwar gerade so, wie er es später in allen seinen
Schriften nachzumalen versuchte; man kann beweisen, daß der Jüngling,
und möchte glauben, daß das Kind schon diese ungeheure Vision gesehn
hat. Alles, was er später aus Leben und Büchern, aus allen Reichen der
Wissenschaft sich aneignete, war ihm beinahe nur Farbe und Mittel des Ausdrucks;
selbst die Kantische Philosophie wurde von ihm vor allem als ein außerordentliches
rhetorisches Instrument hinzugezogen, mit dem er sich noch deutlicher über
jenes Bild auszusprechen glaubte: wie ihm zu gleichem Zwecke auch gelegentlich
die buddhistische und christliche Mythologie diente. (Ebd., 1874, S. 99-100).Damit
sind einige Bedingungen genannt, unter denen der philosophische Genius in unserer
Zeit trotz der schädlichen Gegenwirkungen wenigstens entstehen kann: freie
Männlichkeit des Charakters, frühzeitige Menschenkenntnis, keine gelehrte
Erziehung, keine patriotische Einklemmung, kein Zwang zum Brot-Erwerben, keine
Beziehung zum Staate kurz, Freiheit und immer wieder Freiheit: dasselbe
wunderbare und gefährliche Element, in welchem die griechischen Philosophen
aufwachsen durften. (Ebd., 1874, S. 101).Plato hielt aus
eben den Gründen die Aufrichtung eines ganz neuen Staates für notwendig,
um die Entstehung des Philosophen nicht von der Unvernunft der Väter abhängig
zu machen. Beinahe sieht es nun so aus, als ob Plato wirklich etwas erreicht habe.
Denn der moderne Staat rechnet jetzt die Förderung der Philosophie zu seinen
Aufgaben und sucht zu jeder Zeit eine Anzahl Menschen mit jener »Freiheit«
zu beglücken, unter der wir die wesentlichste Bedingung zur Genesis des Philosophen
verstehen. Nun hat Plato ein wunderliches Unglück in der Geschichte gehabt:
sobald einmal ein Gebilde entstand, welches seinen Vorschlägen im wesentlichen
entsprach, war es immer bei genauerem Zusehen das untergeschobene Kind eines Kobolds,
ein häßlicher Wechselbalg; etwa wie der mittelalterliche Priesterstaat
es war, verglichen mit der von ihm geträumten Herrschaft der »Göttersöhne«.
Der moderne Staat ist nun zwar davon am weitesten entfernt, gerade die Philosophen
zu Herrschern zu machen Gottlob! wird jeder Christ hinzufügen :
aber selbst jene Förderung der Philosophie, wie er sie versteht, müßte
doch einmal darauf hin angesehn werden, ob er sie platonisch versteht,
ich meine: so ernst und aufrichtig, als ob es seine höchste Absicht dabei
wäre, neue Platone zu erzeugen. Wenn für gewöhnlich der Philosoph
in seiner Zeit als zufällig erscheint stellt sich wirklich der Staat
jetzt die Aufgabe, diese Zufälligkeit mit Bewußtsein in eine Notwendigkeit
zu übersetzen und der Natur auch hier nachzuhelfen? (Ebd., 1874, S.
102-103).Die Erfahrung belehrt uns leider eines Bessern
oder Schlimmern: sie sagt, daß in Hinsicht auf die großen Philosophen
von Natur nichts ihrer Erzeugung und Fortpflanzung so im Wege steht als die schlechten
Philosophen von Staats wegen. Ein peinlicher Gegenstand, nicht wahr? bekanntlich
derselbe, auf den Schopenhauer in seiner berühmten Abhandlung über Universitätsphilosophie
zuerst die Augen gerichtet hat. .... Genauer zugesehen ist jene »Freiheit«,
mit welcher der Staat jetzt, wie ich sagte, einige Menschen zugunsten der Philosophie
beglückt, schon gar keine Freiheit, sondern ein Amt, das seinen Mann nährt.
Die Förderung der Philosophie besteht also nur darin, daß es heutzutage
wenigstens einer Anzahl Menschen durch den Staat ermöglicht wird, von ihrer
Philosophie zu leben, dadurch, daß sie aus ihr einen Broterwerb machen können:
während die alten Weisen Griechenlands von seiten des Staates nicht besoldet,
sondern höchstens einmal, wie Zeno, durch eine goldene Krone und ein Grabmal
auf dem Kerameikos geehrt wurden. (Ebd., 1874, S. 103-104).Weil
jeder Staat sie fürchtet und immer nur Philosophen begünstigen wird,
vor denen er sich nicht fürchtet. Es kommt nämlich vor, daß der
Staat vor der Philosophie überhaupt Furcht hat, und gerade, wenn dies der
Fall ist, wird er um so mehr Philosophen an sich heranzuziehn suchen, welche ihm
den Anschein geben, als ob er die Philosophie auf seiner Seite habe weil
er diese Menschen auf seiner Seite hat, welche ihren Namen führen und doch
so gar nicht furchteinflößend sind. .... Sollte wohl je ein Universitätsphilosoph
sich den ganzen Umfang seiner Verpflichtung und Beschränkung klargemacht
haben? Ich weiß es nicht; hat es einer getan und bleibt doch Staatsbeamter,
so war er jedenfalls ein schlechter Freund der Wahrheit; hat er es nie getan
nun, ich sollte meinen, auch dann wäre er kein Freund der Wahrheit.
(Ebd., 1874, S. 105-106).Die gelehrte Historie des Vergangnen war
nie das Geschäft eines wahren Philosophen, weder in Indien noch in Griechenland;
und ein Philosophieprofessor muß es sich, wenn er sich mit solcherlei Arbeit
befaßt, gefallen lassen, daß man von ihm, bestenfalls, sagt: er ist
ein tüchtiger Philolog, Antiquar, Sprachkenner, Historiker aber nie:
er ist ein Philosoph. Jenes auch nur bestenfalls, wie bemerkt: denn bei den meisten
gelehrten Arbeiten, welche Universitätsphilosophen machen, hat ein Philolog
das Gefühl, daß sie schlecht gemacht sind, ohne wissenschaftliche Strenge
und meistens mit einer hassenswürdigen Langweiligkeit. (Ebd., 1874,
S. 107-108).Wie, wenn dieser Stoßseufzer eben die Absicht
des Staates wäre und die »Erziehung zur Philosophie« nur eine
Abziehung von der Philosophie? Man frage sich. Sollte es aber so stehen,
so ist nur eins zu fürchten: daß endlich einmal die Jugend dahinterkommt,
wozu hier eigentlich die Philosophie gemißbraucht wird. Das Höchste,
die Erzeugung des philosophischen Genius, nichts als ein Vorwand? Das Ziel vielleicht
gerade, dessen Erzeugung zu verhindern? Der Sinn in den Gegensinn umgedreht? Nun
dann wehe dem ganzen Komplex von Staats- und Professoren-Klugheit!
(Ebd., 1874, S. 109).Solange das staatlich anerkannte Afterdenkertum
bestehen bleibt, wird jede großartige Wirkung einer wahren Philosophie vereitelt
oder mindestens gehemmt, und zwar durch nichts als durch den Fluch des Lächerlichen,
den die Vertreter jener großen Sache sich zugezogen haben, der aber die
Sache selber trifft. Deshalb nenne ich es eine Forderung der Kultur, der Philosophie
jede staatliche und akademische Anerkennung zu entziehn und überhaupt Staat
und Akademie der für sie unlösbaren Aufgabe zu entheben, zwischen wahrer
und scheinbarer Philosophie zu unterscheiden. Laßt die Philosophen immerhin
wild wachsen, versagt ihnen jede Aussicht auf Anstellung und Einordnung in die
bürgerlichen Berufsarten, kitzelt sie nicht mehr durch Besoldungen, ja noch
mehr: verfolgt sie, seht ungnädig auf sie ihr sollt Wunderdinge erleben!
(Ebd., 1874, S. 114).Dem Staat ist es nie an der Wahrheit gelegen,
sondern immer nur an der ihm nützlichen Wahrheit, noch genauer gesagt, überhaupt
an allem ihm Nützlichen, sei dies nun Wahrheit, Halbwahrheit oder Irrtum.
Ein Bündnis von Staat und Philosophie hat also nur dann einen Sinn, wenn
die Philosophie versprechen kann, dem Staat unbedingt nützlich zu sein, das
heißt den Staatsnutzen höher zu stellen als die Wahrheit. (Ebd.,
1874, S. 115).Da scheint es mir von höchstem Werte, wenn außerhalb
der Universitäten ein höheres Tribunal entsteht, welches auch diese
Anstalten in Hinsicht auf die Bildung, die sie fördern, überwache und
richte; und sobald die Philosophie aus den Universitäten ausscheidet und
sich damit von allen unwürdigen Rücksichten und Verdunkelungen reinigt,
wird sie gar nichts anderes sein können als ein solches Tribunal: ohne staatliche
Macht, ohne Besoldung und Ehren, wird sie ihren Dienst zu tun wissen, frei vom
Zeitgeist sowohl als von der Furcht vor diesem Geiste kurz gesagt, so wie
Schopenhauer lebte, als der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur. Dergestalt
vermag der Philosoph auch der Universität zu nützen, wenn er sich nicht
mit ihr verquickt, sondern sie vielmehr aus einer gewissen würdevollen Weite
übersieht. (Ebd., 1874, S. 118-119).Schicksal ich folge
dir freiwillig, denn täte ich es nicht, müßte ich es ja doch unter
Tränen tun! (Ebd., 1874). |