Der Antichrist (Fluch
auf das Christentum), 1889 
Sehen
wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer, wir wissen gut genug, wie abseits
wir leben. »Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern
finden«: das hat schon Pindar von uns gewußt. Jenseits des Nordens,
des Eises, des Todes - unser Leben, unser Glück.« ....
Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang
aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand ihn sonst? Der
moderne Mensch etwa? »Ich weiß nicht aus, noch ein; ich bin alles,
was nicht aus noch ein weiß« seufzt der moderne Mensch ....
An dieser Modernität waren wir krank, am faulen Frieden, am
feigen Kompromiß, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja
und Nein. Diese Toleranz ... des Herzens, die alles »verzeiht«, weil
sie alles »begreift«. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 611 bzw.
1165).Was ist gut? - Alles, was das
Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.
Was ist schlecht? - Alles was aus der Schwäche stammt. Was ist Glück?
- Das Gefühl davon, daß die Macht wächst - daß ein
Widerstand überwunden wird. Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht,
nicht Friede überhaupt, sondern Krieg, nicht Tugend, sondern
Tüchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virtù, moralinfreie Tugend).
Die Schwachen und Mißratenen sollen zu Grunde gehn: erster Satz unsrer
Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen. Was ist schädlicher als
irgend ein Laster? - Das Mitleiden der Tat mit allen Mißratenen und Schwachen
- das Christentum .... (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 611-612 bzw. 1165-1166).Nicht,
was die Menschheit ablösen soll in der Reihenfolge der Wesen, ist das Problem,
das ich hiermit stelle (- der Mensch ist ein Ende -): sondern welchen Typus
Mensch man züchten soll, wollen soll, als den höherwertigeren,
lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren. Dieser höherwertige Typus ist
oft schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals
als gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden,
er war bisher beinahe das Furchtbare; - und aus der Furcht heraus wurde
der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das
Herdentier, das kranke Tier Mensch, - der Christ .... (Ebd., 1889, in: Werke
III, S. 611-612 bzw. 1165-1166).Die Menschheit stellt nicht
eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der
Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der »Fortschritt« ist bloß
eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Europäer von heute
bleibt in seinem Werte tief unter dem Europäer der Renaissance; Fortentwicklung
ist schlechterdings nicht mit irgendwelcher Notwendigkeit Erhöhung,
Steigerung, Verstärkung. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 612 bzw. 1166).In
einem andern Sinne gibt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle
an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Kulturen heraus,
mit denen in der Tat sich ein höherer Typus darstellt: etwas, das
im Verhältnis zur Gesamt-Menschheit eine Art Übermensch ist. Solche
Glücksfälle des großen Gelingens waren immer möglich und
werden vielleicht immer möglich sein. Und selbst ganze Geschlechter, Stämme,
Völker können unter Umständen einen solchen Treffer darstellen.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 612 bzw. 1166).Man soll das Christentum
nicht schmücken und herausputzen: es hat einen Todkrieg gegen diesen
höheren Typus Mensch gemacht, es hat alle Grundinstinkte dieses Typus
in Bann getan, es hat aus diesen Instinkten das Böse, den Bösen herausdestilliert
der starke Mensch als der typisch Verwerfliche, der »verworfene Mensch«.
Das Christentum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Mißratnen genommen,
es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des
starken Lebens gemacht; es hat die Vernunft selbst der geistig stärksten
Naturen verdorben, indem es die obersten Werte der Geistigkeit als sündhaft,
als irreführend, als Versuchungen empfinden lehrte. Das jammervollste
Beispiel: die Verderbnis Pascals, der an die Verderbnis seiner Vernunft durch
die Erbsünde glaubte, während sie nur durch sein Christentum verdorben
war! (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 613 bzw. 1167).Es ist
ein schmerzliches, ein schauerliches Schauspiel, das mir aufgegangen ist: ich
zog den Vorhang weg von der Verdorbenheit des Menschen. Dies Wort, in meinem
Munde, ist wenigstens gegen einen Verdacht geschützt: daß es eine moralische
Anklage des Menschen enthält. Es ist ich möchte es nochmals unterstreichen
moralinfrei gemeint: und dies bis zu dem Grade, daß jene Verdorbenheit
gerade dort von mir am stärksten empfunden wird, wo man bisher am bewußtesten
zur »Tugend«, zur »Göttlichkeit« aspirierte. Ich
verstehe Verdorbenheit, man errät es bereits, im Sinne von décadence:
meine Behauptung ist, daß alle Werte, in denen jetzt die Menschheit ihre
oberste Wünschbarkeit zusammenfaßt, décadence-Werte sind.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 613 bzw. 1167).Ich nenne ein Tier,
eine Gattung, ein Individuum verdorben, wenn es seine Instinkte verliert, wenn
es wählt, wenn es vorzieht, was ihm nachteilig ist. Eine Geschichte
der »höheren Gefühle«, der »Ideale der Menschheit«
und es ist möglich, daß ich sie erzählen muß
wäre beinahe auch die Erklärung dafür, weshalb der Mensch
so verdorben ist. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 613 bzw. 1167).Das
Leben selbst gilt mir als Instinkt für Wachstum, für Dauer, für
Häufung von Kräften, für Macht: wo der Wille zur Macht fehlt,
gibt es Niedergang. Meine Behauptung ist, daß allen obersten Werten der
Menschheit dieser Wille fehlt daß Niedergangs-Werte, nihilistische
Werte unter den heiligsten Namen die Herrschaft führen. (Ebd., 1889,
in: Werke III, S. 613-614 bzw. 1167-1168).Das
Mitleiden kreuzt im ganzen großen das Gesetz der Entwicklung, welches das
Gesetz der Selektion ist. Es erhält, was zum Untergange reif ist,
es wehrt sich zugunsten der Enterbten und Verurteilten des Lebens, es gibt durch
die Fülle des Mißratenen aller Art, das es im Leben festhält,
dem Leben selbst einen düsteren und fragwürdigen Aspekt. (Ebd.,
1889, in: Werke III, S. 614 bzw. 1168).Man hat gewagt, das Mitleiden
eine Tugend zu nennen ( in jeder vornehmen Moral gilt es als Schwäche
); man ist weitergegangen, man hat aus ihm die Tugend, den Boden und Ursprung
aller Tugenden gemacht nur freilich, was man stets im Auge behalten muß,
vom Gesichtspunkt einer Philosophie aus, welche nihilistisch war, welche die Verneinung
des Lebens auf ihr Schild schrieb. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 614
bzw. 1168).Schopenhauer war in seinem Recht damit: durch das Mitleid
wird das Leben verneint, verneinungswürdiger gemacht Mitleiden
ist die Praxis des Nihilismus. Nochmals gesagt: dieser depressive und kontagiöse
Instinkt kreuzt jene Instinkte, welche auf Erhaltung und Wert-Erhöhung des
Lebens aus sind: er ist eben so als Multiplikator des Elends wie als Konservator
alles Elenden ein Hauptwerkzeug zur Steigerung der décadence Mitleiden
überredet zum Nichts! .... Man sagt nicht »Nichts«: man
sagt dafür »Jenseits«: oder »Gott«; oder »das
wahre Leben«; oder Nirwana, Erlösung, Seligkeit .... Diese unschuldige
Rhetorik aus dem Reich der religiös-moralischen Idiosynkrasie erscheint sofort
viel weniger unschuldig, wenn man begreift, welche Tendenz hier
den Mantel sublimer Worte um sich schlägt: die lebensfeindliche Tendenz.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 614-615 bzw. 1168-1169).Schopenhauer
war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid zur Tugend .... Aristoteles
sah, wie man weiß, im Mitleiden einen krankhaften und gefährlichen
Zustand, dem man gut täte, hier und da durch ein Purgativ beizukommen: er
verstand die Tragödie als Purgativ. Vom Instinkte des Lebens aus müßte
man in der Tat nach einem Mittel suchen, einer solchen krankhaften und gefährlichen
Häufung des Mitleids, wie sie der Fall Schopenhauers (und leider auch unsre
gesamte literarische und artistische décadence von St. Petersburg bis Paris,
von Tolstoi bis Wagner) darstellt, einen Stich zu versetzen: damit sie platzt
.... Nichts ist ungesunder, inmitten unsrer ungesunden Modernität, als das
christliche Mitleid. Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier
das Messer führen das gehört zu uns, das ist unsre
Art Menschenliebe, damit sind wir Philosophen, wir Hyperboreer! (Ebd.,
1889, in: Werke III, S. 615 bzw. 1169).Wir leiten den Menschen
nicht mehr vom »Geist«, von der »Gottheit« ab, wir haben
ihn unter die Tiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste Tier,
weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit. Wir wehren
uns andrerseits gegen eine Eitelkeit, die auch hier wieder laut werden möchte:
wie als ob der Mensch die große Hinterabsicht der tierischen Entwicklung
gewesen sei. Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung: ...: der Mensch ist,
relativ genommen, das mißratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen
Instinkten am gefährlichsten abgeirrte freilich, mit alledem, auch
das interessanteste! (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 620 bzw. 1174).Weder
die Moral noch die Religion berührt sich im Christentume mit irgendeinem
Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen (»Gott«,
»Seele«, »Ich«, »Geist«, »der freie
Wille« oder auch »der unfreie«): lauter imaginäre
Wirkungen (»Sünde«, »Erlösung«, »Gnade«,
»Strafe«, »Vergebung der Sünde«). Ein Verkehr zwischen
imaginären Wesen (»Gott«, »Geister«, »Seelen«);
eine imaginäre Naturwissenschaft (anthropozentrisch; völliger
Mangel des Begriffs der natürlichen Ursachen); eine imaginäre Psychologie
(lauter Selbst-Mißverständnisse, Interpretationen angenehmer oder unangenehmer
Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus,
mit Hilfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie »Reue«,
»Gewissensbiß«, »Versuchung des Teufels«, »die
Nähe Gottes«); eine imaginäre Teleologie (»das Reich
Gottes«, »das Jüngste Gericht«, »das ewige Leben«).
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 621 bzw. 1175).Ein Volk, das noch
an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott. In ihm verehrt es die
Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden, es projiziert seine
Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann.
Wer reich ist, will abgeben; ein stolzes Volk braucht einen Gott, um zu opfern
.... Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit.
Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen Gott. Ein
solcher Gott muß nützen und schaden können, muß Freund und
Feind sein können man bewundert ihn im Guten wie im Schlimmen.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 622 bzw. 1176).Die widernatürliche
Kastration eines Gottes zu einem Gotte bloß des Guten läge hier außerhalb
aller Wünschbarkeit. Man hat den bösen Gott so nötig als den guten:
man verdankt ja die eigne Existenz nicht gerade der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit
.... Was läge an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewalttat
kennte? dem vielleicht nicht einmal die entzückenden ardeurs des Siegs und
der Vernichtung bekannt wären? Man würde einen solchen Gott nicht verstehn:
wozu sollte man ihn haben? Freilich: wenn ein Volk zugrunde geht; wenn
es den Glauben an Zukunft, seine Hoffnung auf Freiheit endgültig schwinden
fühlt; wenn ihm die Unterwerfung als erste Nützlichkeit, die Tugenden
der Unterworfenen als Erhaltungsbedingungen ins Bewußtsein treten, dann
muß sich auch sein Gott verändern. Er wird jetzt Duckmäuser,
furchtsam, bescheiden, rät zum »Frieden der Seele«, zum Nicht-mehr-hassen,
zur Nachsicht, zur »Liebe« selbst gegen Freund und Feind. Er moralisiert
beständig, er kriecht in die Höhle jeder Privattugend, wird Gott für
jedermann, wird Privatmann, wird Kosmopolit .... Ehemals stellte er ein Volk,
die Stärke eines Volkes, alles Aggressive und Machtdurstige aus der Seele
eines Volkes dar: jetzt ist er bloß noch der gute Gott. (Ebd., 1889,
in: Werke III, S. 622 bzw. 1176).In der Tat, es gibt keine andre
Alternative für Götter: entweder sind sie der Wille zur Macht
und so lange werden sie Volksgötter sein , oder aber
die Ohnmacht zur Macht und dann werden sie notwendig gut.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 622 bzw. 1176).Wo in irgendwelcher
Form der Wille zur Macht niedergeht, gibt es jedesmal auch einen physiologischen
Rückgang, eine décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten
an ihren männlichsten Tugenden und Trieben, wird nunmehr notwendig zum Gott
der Physiologisch-Zurückgezogenen, der Schwachen. Sie heißen sich selbst
nicht die Schwachen, sie heißen sich »die Guten«. (Ebd.,
1889, in: Werke III, S. 623 bzw. 1177).Verfall eines Gottes:
Gott ward »Ding an sich« (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 624
bzw. 1178).Mit meiner Verurteilung des Christentums möchte
ich kein Unrecht gegen eine verwandte Religion begangen haben, die der Zahl der
Bekenner nach sogar überwiegt: gegen den Buddhismus. Beide gehören
als nihilistische Religionen zusammen sie sind décadence-Religionen
, beide sind voneinander in der merkwürdigsten Weise getrennt. Daß
man sie jetzt vergleichen kann, dafür ist der Kritiker des Christentums
den indischen Gelehrten tief dankbar. Der Buddhismus ist hundertmal realistischer
als das Christentum er hat die Erbschaft des objektiven und kühlen
Probleme-Stellens im Leibe, er kommt nach einer Hunderte von Jahren dauernden
philosophischen Bewegung; der Begriff »Gott« ist bereits abgetan,
als er kommt. Der Buddhismus ist die einzige eigentlich positivistische
Religion, die uns die Geschichte zeigt, auch noch in seiner Erkenntnistheorie
(einem strengen Phänomenalismus ), er sagt nicht mehr »Kampf
gegen die Sünde«, sondern, ganz der Wirklichkeit das Recht gebend,
»Kampf gegen das Leiden«. Er hat dies unterscheidet ihn tief
vom Christentum die Selbst-Betrügerei der Moral-Begriffe bereits hinter
sich, er steht, in meiner Sprache geredet, jenseits von Gut und Böse.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 625 bzw. 1179).Die physiologischen
Tatsachen, auf denen er ruht und die er ins Auge faßt, sind: einmal eine
übergroße Reizbarkeit der Sensibilität, welche sich als raffinierte
Schmerzfähigkeit ausdrückt, sodann eine Übergeistigung, ein allzulanges
Leben in Begriffen und logischen Prozeduren, unter dem der Person-Instinkt zum
Vorteil des »Unpersönlichen« Schaden genommen hat ( beides
Zustände, die wenigstens einige meiner Leser, die »Objektiven«,
gleich mir selbst, aus Erfahrung kennen weiden). Auf Grund dieser physiologischen
Bedingungen ist eine Depression entstanden: gegen diese geht Buddha hygienisch
vor. Er wendet dagegen das Leben im Freien an, das Wanderleben; die Mäßigung
und die Wahl in der Kost; die Vorsicht gegen alle Spirituosa; die Vorsicht insgleichen
gegen alle Affekte, die Galle machen, die das Blut erhitzen; keine Sorge,
weder für sich, noch für andre. Er fordert Vorstellungen, die entweder
Ruhe geben oder erheitern er erfindet Mittel, die anderen sich abzugewöhnen.
Er versteht die Güte, das Gütigsein als gesundheit-fördernd. Gebet
ist ausgeschlossen, ebenso wie die Askese; kein kategorischer Imperativ,
kein Zwang überhaupt, selbst nicht innerhalb der Klostergemeinschaft
( man kann wieder hinaus ). (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 625-626
bzw. 1179-1180).Das alles wären Mittel, um jene übergroße
Reizbarkeit zu verstärken. Eben darum fordert er auch keinen Kampf gegen
Andersdenkende; seine Lehre wehrt sich gegen nichts mehr als gegen das
Gefühl der Rache, der Abneigung, des ressentiment ( »nicht
durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende«: der rührende Refrain
des ganzen Buddhismus...). Und das mit Recht: gerade diese Affekte wären
vollkommen ungesund in Hinsicht auf die diätetische Hauptabsicht. Die geistige
Ermüdung, die er vorfindet und die sich in einer allzugroßen »Objektivität«
(das heißt Schwächung des Individual-Interesses, Verlust an Schwergewicht,
an »Egoismus«) ausdrückt, bekämpft er mit einer strengen
Zurückführung auch der geistigsten Interessen auf die Person.
In der Lehre Buddhas wird der Egoismus Pflicht: das »eins ist not«,
das »wie kommst du vom Leiden los« reguliert und begrenzt die
ganze geistige Diät ( man darf sich vielleicht an jenen Athener erinnern,
der der reinen »Wissenschaftlichkeit« gleichfalls den Krieg machte,
an Sokrates, der den Personal-Egoismus auch im Reich der Probleme zur Moral erhob).
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 626 bzw. 1180).Das Christentum will
über Raubtiere Herr werden; sein Mittel ist, sie krank zu machen
die Schwächung ist das christliche Rezept zur Zähmung,
zur »Zivilisation«. Der Buddhismus ist eine Religion für den
Schluß und die Müdigkeit der Zivilisation, das Christentum findet sie
noch nicht einmal vor es begründet sie unter Umständen.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 628 bzw. 1182).Was ist jüdische,
was ist christliche Moral? Der Zufall um seine Unschuld gebracht; das Unglück
mit dem Begriff »Sünde« beschmutzt; das Wohlbefinden als Gefahr,
als »Versuchung«; das physiologische Übelbefinden mit dem Gewissens-Wurm
vergiftet. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 632 bzw. 1186).Der
Gottesbegriff gefälscht; der Moralbegriff gefälscht die jüdische
Priesterschaft blieb dabei nicht stehn. Man konnte die ganze Geschichte
Israels nicht brauchen: fort mit ihr! Diese Priester haben jenes Wunderwerk
von Fälschung zustande gebracht, als deren Dokumente uns ein guter Teil der
Bibel vorliegt: sie haben ihre eigne Volks-Vergangenheit mit einem Hohn ohnegleichen
gegen jede Überlieferung, gegen jede historische Realität, ins Religiöse
übersetzt, das heißt, aus ihr einen stupiden Heils-Mechanismus
von Schuld gegen Javeh und Strafe, von Frömmigkeit gegen Javeh und Lohn gemacht.
Wir würden diesen schmachvollsten Akt der Geschichts-Fälschung viel
schmerzhafter empfinden, wenn uns nicht die kirchliche Geschichts- Interpretation
von Jahrtausenden fast stumpf für die Forderungen der Rechtschaffenheit in
historicis gemacht hätte. Und der Kirche sekundierten die Philosophen: die
Lüge der »sittlichen Weltordnung« geht durch die ganze Entwicklung
selbst der neueren Philosophie. .... Die Realität an Stelle dieser
erbarmungswürdigen Lüge heißt: eine parasitische Art Mensch, die
nur auf Kosten aller gesunden Bildungen des Lebens gedeiht, der Priester,
mißbraucht den Namen Gottes: er nennt einen Zustand der Gesellschaft, in
dem der Priester den Wert der Dinge bestimmt, »das Reich Gottes«;
er nennt die Mittel, vermöge deren ein solcher Zustand erreicht oder aufrechterhalten
wird, »den Willen Gottes«; er mißt, mit einem kaltblütigen
Zynismus, die Völker, die Zeiten, die Einzelnen danach ab, ob sie der Priester-Übermacht
nützten oder widerstrebten. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 632-633
bzw. 1186-1187).Von nun an sind alle Dinge des Lebens so geordnet,
daß der Priester überall unentbehrlich ist; in allen natürlichen
Vorkommnissen des Lebens, bei der Geburt, der Ehe, der Krankheit, dem Tode, gar
nicht vom »Opfer« (der Mahlzeit) zu reden, erscheint der heilige Parasit,
um sie zu entnatürlichen in seiner Sprache: zu »heiligen«
.... Denn dies muß man begreifen: jede natürliche Sitte, jede natürliche
Institution (Staat, Gerichtsordnung, Ehe, Kranken- und Armenpflege), jede vom
Instinkt des Lebens eingegebne Forderung, kurz alles, was seinen Wert in sich
hat, wird durch den Parasitismus des Priesters (oder der »sittlichen Weltordnung«)
grundsätzlich wertlos, wert-widrig gemacht: es bedarf nachträglich
einer Sanktion eine wertverleihende Macht tut not, welche die Natur
darin verneint, welche eben damit erst einen Wert schafft .... Der Priester
entwertet, entheiligt die Natur: um diesen Preis besteht er überhaupt.
Der Ungehorsam gegen Gott, das heißt gegen den Priester, gegen »das
Gesetz«, bekommt nun den Namen »Sünde«; die Mittel, sich
wieder »mit Gott zu versöhnen«, sind, wie billig, Mittel, mit
denen die Unterwerfung unter den Priester nur noch gründlicher gewährleistet
ist: der Priester allein »erlöst« .... Psychologisch nachgerechnet,
werden in jeder priesterlich organisierten Gesellschaft die »Sünden«
unentbehrlich: sie sind die eigentlichen Handhaben der Macht, der Priester lebt
von den Sünden, er hat nötig, daß »gesündigt«
wird .... Oberster Satz: »Gott vergibt dem, der Buße tut«
auf deutsch: der sich dem Priester unterwirft. (Ebd., 1889, in: Werke
III, S. 634 bzw. 1188).Auf einem dergestalt falschen Boden,
wo jede Natur, jeder Naturwert, jede Realität die tiefsten Instinkte
der herrschenden Klasse wider sich hatte, wuchs das Christentum auf, eine
Todfeindschafts-Form gegen die Realität, die bisher nicht übertroffen
worden ist. Das »heilige Volk«, das für alle Dinge nur Priester-Werte,
nur Priester-Worte übrig behalten hatte und mit einer Schluß-Folgerichtigkeit,
die Furcht einflößen kann, alles, was sonst noch an Macht auf Erden
bestand, als »unheilig«, als »Welt«, als »Sünde«
von sich abgetrennt hatte dies Volk brachte für seinen Instinkt eine
letzte Formel hervor, die logisch war bis zur Selbstverneinung: es verneinte,
als Christentum, noch die letzte Form der Realität, das »heilige
Volk«, das »Volk der Ausgewählten«, die jüdische
Realität selbst. Der Fall ist ersten Rangs: die kleine aufständische
Bewegung, die auf den Namen des Jesus von Nazareth getauft wird, ist der jüdische
Instinkt noch einmal anders gesagt, der Priester-Instinkt, der den
Priester als Realität nicht mehr verträgt, die Erfindung einer noch
abgezogneren Daseinsform, einer noch unrealeren Vision der Welt
.... (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 634-635 bzw. 1188-1189).Dieser
heilige Anarchist, der das niedere Volk, die Ausgestoßnen und »Sünder«,
die Tschandala innerhalb des Judentums zum Widerspruch gegen die herrschende
Ordnung aufrief mit einer Sprache, falls den Evangelien zu trauen wäre,
die auch heute noch nach Sibirien führen würde, war ein politischer
Verbrecher, so weit eben politische Verbrecher in einer absurd-unpolitischen
Gemeinschaft möglich waren. Dies brachte ihn ans Kreuz: der Beweis dafür
ist die Aufschrift des Kreuzes. Er starb für seine Schuld es
fehlt jeder Grund dafür, so oft es auch behauptet worden ist, daß er
für die Schuld andrer starb. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 635 bzw.
1189).Der Instinkt-Haß gegen die Realität .... Die
Instinkt-Ausschließung aller Abneigung, aller Feindschaft, aller Grenzen
und Distanzen im Gefühl .... Dies sind die zwei physiologischen Realitäten,
auf denen, aus denen die Erlösungs-Lehre gewachsen ist. (Ebd., 1889,
in: Werke III, S. 637-638 bzw. 1191-1192).Der eine Gott und der
eine Sohn Gottes: beides Erzeugnisse des Ressentiment. (Ebd., 1889, in:
Werke III, S. 650 bzw. 1204).Der Buddhismus verspricht nicht, sondern
hält, das Christentum verspricht alles, aber hält nichts. (Ebd.,
1889, in: Werke III, S. 649-650 bzw. 1203-204).Der »frohen
Botschaft« folgte auf dem Fuß die allerschlimmste: die des
Paulus. In Paulus verkörpert sich der Gegensatz-Typus zum »frohen Botschafter«,
das Genie im Haß, in der Vision des Hasses, in der unerbittlichen Logik
des Hasses. Was hat dieser Dysangelist alles dem Hasse zum Opfer gebracht! Vor
allem den Erlöser: er schlug ihn an sein Kreuz. (Ebd., 1889,
in: Werke III, S. 650 bzw. 1204).Wenn man das Schwergewicht des
Lebens nicht ins Leben, sondern ins »Jenseits« verlegt
ins Nichts , so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht
genommen. Die große Lüge von der Personal-Unsterblichkeit zerstört
jede Vernunft, jede Natur im Instinkte alles, was wohltätig, was lebenfördernd,
was zukunftverbürgend in den Instinkten ist, erregt nunmehr Mißtrauen.
So zu leben, daß es keinen Sinn mehr hat zu leben, das wird jetzt
zum »Sinn« des Lebens. Wozu Gemeinsinn, wozu Dankbarkeit noch für
Herkunft und Vorfahren, wozu mitarbeiten, zutrauen, irgendein Gesamtwohl fördern
und im Auge haben? Ebenso viele »Versuchungen«, ebenso viele Ablenkungen
vom »rechten Weg« »eins ist not«. Daß jeder
als »unsterbliche Seele« mit jedem gleichen Rang hat, daß in
der Gesamtheit aller Wesen das »Heil« jedes Einzelnen eine
ewige Wichtigkeit in Anspruch nehmen darf, daß kleine Mucker und Dreiviertels-Verrückte
sich einbilden dürfen, daß um ihretwillen die Gesetze der Natur beständig
durchbrochen werden eine solche Steigerung jeder Art Selbstsucht
ins Unendliche, ins Unverschämte kann man nicht mit genug Verachtung
brandmarken. Und doch verdankt das Christentum dieser erbarmungswürdigen
Schmeichelei vor der Personal-Eitelkeit seinen Sieg gerade alles
Mißratene, Aufständisch-Gesinnte, Schlechtweg-gekommne, den ganzen
Auswurf und Abhub der Menschheit hat es damit zu sich überredet. Das »Heil
der Seele« auf deutsch: »die Welt dreht sich um mich«
.... Das Gift der Lehre »gleiche Rechte für alle«
das Christentum hat es am grundsätzlichsten ausgesät; das Christentum
hat jedem Ehrfurchts-und Distanz-Gefühl zwischen Mensch und Mensch, das heißt
der Voraussetzung zu jeder Erhöhung, zu jedem Wachstum der Kultur einen Todkrieg
aus den heimlichsten Winkeln schlechter Instinkte gemacht es hat aus dem
Ressentiment der Massen sich seine Hauptwaffe geschmiedet gegen uns, gegen
alles Vornehme, Frohe, Hochherzige auf Erden, gegen unser Glück auf Erden.
Die »Unsterblichkeit« jedem Petrus und Paulus zugestanden, war bisher
das größte, das bösartigste Attentat auf die vornehme Menschlichkeit.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 651 bzw. 1205).Und unterschätzen
wir das Verhängnis nicht, das vom Christentum aus sich bis in die Politik
eingeschlichen hat! Niemand hat heute mehr den Mut zu Sonderrechten, zu Herrschaftsrechten,
zu einem Ehrfurchtsgefühl vor sich und seinesgleichen zu einem Pathos
der Distanz. Unsre Politik ist krank an diesem Mangel an Mut!
Der Aristokratismus der Gesinnung wurde durch die Seelen-Gleichheits-Lüge
am unterirdischsten untergraben; und wenn der Glaube an das »Vorrecht der
Meisten« Revolutionen macht und machen wird das Christentum
ist es, man zweifle nicht daran, christliche Werturteile sind es, welche
jede Revolution bloß in Blut und Verbrechen übersetzt! Das Christentum
ist ein Aufstand alles Am-Boden-Kriechenden gegen das, was Höhe hat:
das Evangelium der »Niedrigen« macht niedrig. (Ebd.,
1889, in: Werke III, S. 651-652 bzw. 1205-1206).Die Evangelien
sind unschätzbar als Zeugnis für die bereits unaufhaltsame Korruption
innerhalb der ersten Gemeinde. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 652
bzw. 1206).Der Christ, diese ultima ratio der Lüge,
ist der Jude noch einmal dreimal selbst. (Ebd., 1889, in:
Werke III, S. 652 bzw. 1206).Indem sie Gott richten lassen, richten
sie selber; indem sie Gott verherrlichen, verherrlichen sie sich selber ....
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 653 bzw. 1207).Man lese die Evangelien
als Bücher der Verführung mit Moral: die Moral wird von diesen
kleinen Leuten mit Beschlag belegt sie wissen, was es auf sich hat mit
der Moral! Die Menschheit wird am besten genasführt mit der Moral!
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 653 bzw. 1207).Paulus war
der größte aller Apostel der Rache. (Ebd., 1889, in: Werke III,
S. 655 bzw. 1209).Hat man eigentlich die berühmte Geschichte
verstanden, die am Anfang der Bibel steht von der Höllenangst Gottes
vor der Wissenschaft? Man hat sie nicht verstanden. Dies Priesterbuch par
excellence beginnt, wie billig, mit der großen inneren Schwierigkeit
des Priesters: er hat nur eine große Gefahr, folglich hat
»Gott« nur eine große Gefahr. (Ebd., 1889, in: Werke III,
S. 658 bzw. 1212).Der alte Gott, ganz »Geist«, ganz
Hoherpriester, ganz Vollkommenheit, lustwandelt in seinen Gärten: nur daß
er sich langweilt. Gegen die Langeweile kämpfen Götter selbst vergebens.
Was tut er? Er erfindet den Menschen der Mensch ist unterhaltend. Aber
siehe da, auch der Mensch langweilt sich. Das Erbarmen Gottes mit der einzigen
Not, die alle Paradiese an sich haben, kennt keine Grenzen: er schuf alsbald noch
andre Tiere. Erster Fehlgriff Gottes: der Mensch fand die Tiere nicht unterhaltend
er herrschte über sie, er wollte nicht einmal »Tier« sein.
Folglich schuf Gott das Weib. Und in der Tat, mit der Langeweile hatte
es nun ein Ende aber auch mit anderem noch! Das Weib war der zweite
Fehlgriff Gottes. »Das Weib ist seinem Wesen nach Schlange, Heva«
das weiß jeder Priester; »vom Weib kommt jedes Unheil
in der Welt« das weiß ebenfalls jeder Priester. »Folglich
kommt von ihm auch die Wissenschaft«. .... Erst durch das Weib lernte
der Mensch vom Baume der Erkenntnis kosten. Was war geschehn? Den alten
Gott ergriff eine Höllenangst. Der Mensch selbst war sein größter
Fehlgriff geworden, er hatte sich einen Rivalen geschaffen, die Wissenschaft macht
gottgleich, es ist mit Priestern und Göttern zu Ende, wenn
der Mensch wissenschaftlich wird! Moral: die Wissenschaft ist das Verbotene
an sich sie allein ist verboten. Die Wissenschaft ist die erste
Sünde, der Keim aller Sünde, die Erbsünde. Dies allein ist Moral.
»Du sollst nicht erkennen« der Rest folgt daraus.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 658-659 bzw. 1212-1213).Die Höllenangst
Gottes verhinderte ihn nicht, klug zu sein. Wie wehrt man sich gegen die Wissenschaft?
das wurde für lange sein Hauptproblem. Antwort: fort mit dem Menschen aus
dem Paradiese! Das Glück, der Müßiggang bringt auf Gedanken
alle Gedanken sind schlechte Gedanken. Der Mensch soll nicht denken. Und
der »Priester an sich« erfindet die Not, den Tod, die Lebensgefahr
der Schwangerschaft, jede Art von Elend, Alter, Mühsal, die Krankheit
vor allem lauter Mittel im Kampfe mit der Wissenschaft! Die Not erlaubt
dem Menschen nicht, zu denken. Und trotzdem! entsetzlich! Das Werk der Erkenntnis
türmt sich auf, himmelstürmend, götterandämmernd was
tun! Der alte Gott erfindet den Krieg, er trennt die Völker, er macht,
daß die Menschen sich gegenseitig vernichten ( die Priester haben
immer den Krieg nötig gehabt ...). Der Krieg unter anderem ein großer
Störenfried der Wissenschaft! Unglaublich! Die Erkenntnis, die Emanzipation
vom Priester, nimmt selbst trotz Kriegen zu. Und ein letzter Entschluß
kommt dem alten Gotte: »der Mensch ward wissenschaftlich es hilft
nichts, man muß ihn ersäufen!« (Ebd., 1889, in: Werke
III, S. 659-660 bzw. 1213-1214).Man hat mich verstanden. Der Anfang
der Bibel enthält die ganze Psychologie des Priesters. Der
Priester kennt nur eine große Gefahr: das ist die Wissenschaft der
gesunde Begriff von Ursache und Wirkung. Aber die Wissenschaft gedeiht im ganzen
nur unter glücklichen Verhältnissen man muß Zeit, man muß
Geist überflüssig haben, um zu »erkennen«. »Folglich
muß man den Menschen unglücklich machen« dies war zu jeder
Zeit die Logik des Priesters. Man errät bereits, was, dieser Logik
gemäß, damit erst in die Welt gekommen ist die »Sünde«.
Der Schuld- und Strafbegriff, die ganze »sittliche Weltordnung« ist
erfunden gegen die Wissenschaft gegen die Ablösung des
Menschen vom Priester. Der Mensch soll nicht hinaus-, er soll in sich hineinsehn;
er soll nicht klug und vorsichtig, als Lernender, in die Dinge sehn,
er soll überhaupt gar nicht sehn: er soll leiden. Und er soll so leiden,
daß er jederzeit den Priester nötig hat. (Ebd., 1889, in: Werke
III, S. 660 bzw. 1214).Das Christentum steht auch im Gegensatz
zu aller geistigen Wohlgeratenheit es kann nur die kranke
Vernunft als christliche Vernunft brauchen, es nimmt die Partei alles Idiotischen,
es spricht den Fluch aus gegen den »Geist«, gegen die superbia des
gesunden Geistes. Weil die Krankheit zum Wesen des Christentums gehört, muß
auch der typisch-christliche Zustand, »der Glaube«, eine Krankheitsform
sein, müssen alle geraden, rechtschaffnen, wissenschaftlichen Wege
zur Erkenntnis von der Kirche als verbotene Wege abgelehnt werden. Der
Zweifel bereits ist eine Sünde .... Der vollkommne Mangel an psychologischer
Reinlichkeit beim Priester im Blick sich verratend ist eine Folgeerscheinung
der décadence man hat die hysterischen Frauenzimmer, andrerseits
rachitisch angelegte Kinder darauf hin zu beobachten, wie regelmäßig
Falschheit aus Instinkt, Lust zu lügen, um zu lügen, Unfähigkeit
zu geraden Blicken und Schritten der Ausdruck von décadence ist. »Glaube«
heißt Nicht-wissen-wollen, was wahr ist. Der Pietist, der Priester
beiderlei Geschlechts, ist falsch, weil er krank ist: sein Instinkt verlangt,
daß die Wahrheit an keinem Punkt zu Rechte kommt. »Was krank macht,
ist gut; was aus der Fülle, aus dem Überfluß, aus der Macht
kommt, ist böse«: so empfindet der Gläubige. Die Unfreiheit
zur Lüge daran errate ich jeden vorherbestimmten Theologen.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 664 bzw. 1218).Man lasse sich nicht
irreführen: große Geister sind Skeptiker. Zarathustra ist ein Skeptiker.
Die Stärke, die Freiheit aus der Kraft und Überkraft des Geistes
beweist sich durch Skepsis. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 666-667
bzw. 1220-1221).Ein Geist, der Großes will, der auch die
Mittel dazu will, ist mit Notwendigkeit Skeptiker. Die Freiheit von jeder Art
Überzeugungen gehört zur Stärke, das Frei-Blicken-können.
Die große Leidenschaft, der Grund und die Macht seines Seins, noch aufgeklärter,
noch despotischer, als er selbst es ist, nimmt seinen ganzen Intellekt in Dienst;
sie macht unbedenklich; sie gibt ihm Mut sogar zu unheiligen Mitteln; sie gönnt
ihm unter Umständen Überzeugungen. Die Überzeugung als Mittel:
vieles erreicht man nur mittelst einer Überzeugung. Die große Leidenschaft
braucht, verbraucht Überzeugungen, sie unterwirft sich ihnen nicht
sie weiß sich souverän. Umgekehrt: das Bedürfnis nach Glauben,
nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein, der Carlylismus, wenn man mir dies
Wort nachsehn will, ist ein Bedürfnis der Schwäche. Der Mensch
des Glaubens, der »Gläubige« jeder Art ist notwendig ein abhängiger
Mensch ein solcher, der sich nicht als Zweck, der von sich aus überhaupt
nicht Zwecke ansetzen kann. Der »Gläubige« gehört sich nicht,
er kann nur Mittel sein, er muß verbraucht werden, er hat jemand
nötig, der ihn verbraucht. Sein Instinkt gibt einer Moral der Entselbstung
die höchste Ehre: zu ihr überredet ihn alles, seine Klugheit, seine
Erfahrung, seine Eitelkeit. Jede Art Glaube ist selbst ein Ausdruck von Entselbstung,
von Selbst-Entfremdung. Erwägt man, wie notwendig den allermeisten ein Regulativ
ist, das sie von außen her bindet und fest macht, wie der Zwang, in einem
höheren Sinn die Sklaverei, die einzige und letzte Bedingung ist,
unter der der willensschwächere Mensch, zumal das Weib, gedeiht: so versteht
man auch die Überzeugung, den »Glauben«. Der Mensch der Überzeugung
hat in ihr sein Rückgrat. Viele Dinge nicht sehn, in keinem Punkte unbefangen
sein, Partei sein durch und durch, eine strenge und notwendige Optik in allen
Werten haben das allein bedingt es, daß eine solche Art Mensch überhaupt
besteht. Aber damit ist sie der Gegensatz, der Antagonist des Wahrhaftigen
der Wahrheit .... Dem Gläubigen steht es nicht frei, für die
Frage »wahr« und »unwahr« überhaupt ein Gewissen
zu haben: rechtschaffen sein an dieser Stelle wäre sofort sein Untergang.
Die pathologische Bedingtheit seiner Optik macht aus dem Überzeugten den
Fanatiker Savonarola, Luther, Rousseau, Robespierre, Saint-Simon ,
den Gegensatz-Typus des starken, des freigewordnen Geistes. Aber die große
Attitüde dieser kranken Geister, dieser Epileptiker des Begriffs,
wirkt auf die große Masse die Fanatiker sind pittoresk, die Menschheit
sieht Gebärden lieber, als daß sie Gründe hört.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 667-668 bzw. 1221-1222).Einen Schritt
weiter in der Psychologie der Überzeugung, des »Glaubens«. Es
ist schon lange von mir zur Erwägung anheimgegeben worden, ob nicht die Überzeugungen
gefährlichere Feinde der Wahrheit sind als die Lügen (Menschliches,
Allzumenschliches I, Aphorismus 54 und 483). Diesmal möchte ich die entscheidende
Frage tun: besteht zwischen Lüge und Überzeugung überhaupt ein
Gegensatz? Alle Welt glaubt es; aber was glaubt nicht alle Welt!
Eine jede Überzeugung hat ihre Geschichte, ihre Vorformen, ihre Tentativen
und Fehlgriffe: sie wird Überzeugung, nachdem sie es lange nicht
ist, nachdem sie es noch länger kaum ist. Wie? könnte unter diesen
Embryonal-Formen der Überzeugung nicht auch die Lüge sein? Mitunter
bedarf es bloß eines Personen-Wechsels: im Sohn wird Überzeugung, was
im Vater noch Lüge war. Ich nenne Lüge: etwas nicht sehn
wollen, das man sieht, etwas nicht so sehn wollen, wie man es sieht: ob die Lüge
vor Zeugen oder ohne Zeugen statthat, kommt nicht in Betracht. Die gewöhnlichste
Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt; das Belügen andrer
ist relativ der Ausnahmefall. Nun ist dies Nicht-sehn-wollen, was
man sieht, dies Nicht-so-sehn-wollen, wie man es sieht, beinahe die erste
Bedingung für alle, die Partei sind, in irgendwelchem Sinne: der Parteimensch
wird mit Notwendigkeit Lügner. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 668 bzw.
1222).Darf man sich noch darüber wundern, wenn, aus Instinkt,
alle Parteien, auch die deutschen Historiker, die großen Worte der Moral
im Munde haben daß die Moral beinahe dadurch fortbesteht,
daß der Parteimensch jeder Art jeden Augenblick sie nötig hat?
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 668-669 bzw. 1222-1223).Es gibt
Fragen, wo über Wahrheit und Unwahrheit dem Menschen die Entscheidung nicht
zusteht; alle obersten Fragen, alle obersten Wert-Probleme sind jenseits der menschlichen
Vernunft .... Die Grenzen der Vernunft begreifen das erst ist wahrhaft
Philosophie. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 669 bzw. 1223).Der
Mensch kann von sich nicht selber wissen, was gut und böse ist, darum
lehrte ihn Gott seinen Willen. Moral: der Priester lügt nicht
die Frage »wahr« oder »unwahr« gibt es nicht in solchen
Dingen, von denen Priester reden; diese Dinge erlauben gar nicht zu lügen.
Denn um zu lügen, müßte man entscheiden können, was
hier wahr ist. Aber das kann eben der Mensch nicht; der Priester ist damit
nur das Mundstück Gottes. Ein solcher Priester-Syllogismus ist durchaus
nicht bloß jüdisch und christlich; das Recht zur Lüge und die
Klugheit der »Offenbarung« gehört dem Typus Priester an,
den décadence-Priestern so gut als den Heidentum-Priestern ( Heiden
sind alle, die zum Leben ja sagen, denen »Gott« das Wort für
das große Ja zu allen Dingen ist). Das »Gesetz«, der
»Wille Gottes«, das »heilige Buch«, die »Inspiration«
alles nur Worte für die Bedingungen, unter denen der Priester
zur Macht kommt, mit denen er seine Macht aufrecht erhält diese
Begriffe finden sich auf dem Grunde aller Priester-Organisationen, aller priesterlichen
oder philosophisch- priesterlichen Herrschaftsgebilde. Die
»heilige Lüge«- dem Konfuzius, dem Gesetzbuch des Manu, dem Mohammed,
der christlichen Kirche gemeinsam : sie fehlt nicht bei Plato. »Die
Wahrheit ist da«: dies bedeutet, wo nur es laut wird, der Priester lügt.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 669-670 bzw. 1223-1224).Ich
lese mit einem entgegengesetzten Gefühle das Gesetzbuch des Manu,
ein unvergleichlich geistiges und überlegenes Werk, das mit der Bibel auch
nur in einem Atem nennen eine Sünde wider den Geist wäre. Man
errät sofort: es hat eine wirkliche Philosophie hinter sich, in sich, nicht
bloß ein übelriechendes Judain von Rabbinismus und Aberglauben ....
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 670 bzw. 1224).Man ertappt die Unheiligkeit
der christlichen Mittel in flagranti, wenn man den christlichen Zweck einmal
an dem Zweck des Manu-Gesetzbuches mißt wenn man diesen größten
Zweck-Gegensatz unter starkes Licht bringt. Es bleibt dem Kritiker des Christentums
nicht erspart, das Christentum verächtlich zu machen. Ein
solches Gesetzbuch, wie das des Manu, entsteht wie jedes gute Gesetzbuch: es resümiert
die Erfahrung, Klugheit und Experimental-Moral von langen Jahrhunderten, es schließt
ab, es schafft nichts mehr. Die Voraussetzung zu einer Kodifikation seiner Art
ist die Einsicht, daß die Mittel einer langsam und kostspielig erworbenen
Wahrheit Autorität zu schaffen, grundverschieden von denen sind, mit denen
man sie beweisen würde. Ein Gesetzbuch erzählt niemals den Nutzen, die
Gründe, die Kasuistik in der Vorgeschichte eines Gesetzes: eben damit würde
es den imperativischen Ton einbüßen, das »du sollst«, die
Voraussetzung dafür, daß gehorcht wird. Das Problem liegt genau hierin.
An einem gewissen Punkte der Entwicklung eines Volks erklärt die einsichtigste,
das heißt rück- und hinausblickendste Schicht desselben, die Erfahrung,
nach der gelebt werden soll das heißt kann , für
abgeschlossen. Ihr Ziel geht dahin, die Ernte möglichst reich und vollständig
von den Zeiten des Experiments und der schlimmen Erfahrung heimzubringen.
Was folglich vor allem jetzt zu verhüten ist, das ist das Noch-Fort-Experimentieren,
die Fortdauer des flüssigen Zustands der Werte, das Prüfen, Wählen,
Kritik-Üben der Werte in infinitum. (Ebd., 1889, in: Werke III,
S. 671 bzw. 1225).Ein Gesetzbuch nach Art des Manu aufstellen,
heißt einem Volke fürderhin zugestehn, Meister zu werden, vollkommen
zu werden die höchste Kunst des Lebens zu ambitionieren. Dazu muß
es unbewußt gemacht werden: dies der Zweck jeder heiligen Lüge.
Die Ordnung der Kasten, das oberste, das dominierende Gesetz, ist nur die
Sanktion einer Natur-Ordnung, Natur-Gesetzlichkeit ersten Ranges, über die
keine Willkür, keine »moderne Idee« Gewalt hat. (Ebd.,
1889, in: Werke III, S. 672 bzw. 1226).Es treten in jeder gesunden
Gesellschaft, sich gegenseitig bedingend, drei physiologisch verschieden-gravitierende
Typen auseinander, von denen jeder seine eigne Hygiene, sein eignes Reich von
Arbeit, seine eigne Art Vollkommenheits-Gefühl und Meisterschaft hat. Die
Natur, nicht Manu, trennt die vorwiegend Geistigen, die vorwiegend Muskel-
und Temperaments-Starken und die weder im einen, noch im andern ausgezeichneten
dritten, die Mittelmäßigen, voneinander ab die letzteren als
die große Zahl, die ersteren als die Auswahl. Die oberste Kaste ich
nenne sie die Wenigsten hat als die vollkommne auch die Vorrechte
der wenigsten: dazu gehört es, das Glück, die Schönheit, die Güte
auf Erden darzustellen. Nur die geistigsten Menschen haben die Erlaubnis zur Schönheit,
zum Schönen: nur bei ihnen ist Güte nicht Schwäche. Pulchrum
est paucorum bominum: das Gute ist ein Vorrecht. Nichts kann ihnen dagegen
weniger zugestanden werden als häßliche Manieren oder ein pessimistischer
Blick, ein Auge, das verhäßlicht , oder gar eine Entrüstung
über den Gesamt-Aspekt der Dinge. Die Entrüstung ist das Vorrecht der
Tschandala; der Pessimismus desgleichen. »Die Welt ist vollkommen«
so redet der Instinkt der Geistigsten, der jasagende Instinkt : »die
Unvollkommenheit, das Unter-uns jeder Art, die Distanz, das Pathos der
Distanz, der Tschandala selbst gehört noch zu dieser Vollkommenheit.«
Die geistigsten Menschen, als die Stärksten, finden ihr Glück,
worin andre ihren Untergang finden würden: im Labyrinth, in der Härte
gegen sich und andre, im Versuch; ihre Lust ist die Selbstbezwingung: der Asketismus
wird bei ihnen Natur, Bedürfnis, Instinkt. Die schwere Aufgabe gilt ihnen
als Vorrecht; mit Lasten zu spielen, die andre erdrücken, eine Erholung.
Erkenntnis eine Form des Asketismus. Sie sind die ehrwürdigste
Art Mensch: das schließt nicht aus, daß sie die heiterste, die liebenswürdigste
sind. Sie herrschen, nicht weil sie wollen, sondern weil sie sind; es steht ihnen
nicht frei, die zweiten zu sein. Die zweiten: das sind die Wächter
des Rechts, die Pfleger der Ordnung und der Sicherheit, das sind die vornehmen
Krieger, das ist der König vor allem als die höchste Formel von
Krieger, Richter und Aufrechterhalter des Gesetzes. Die zweiten sind die Exekutive
der Geistigsten, das Nächste, was zu ihnen gehört, das was ihnen alles
Grobe in der Arbeit des Herrschens abnimmt ihr Gefolge, ihre rechte
Hand, ihre beste Schüleschaft. In dem allem, nochmals gesagt, ist
nichts von Willkür, nichts »gemacht«; was anders ist,
ist gemacht die Natur ist dann zuschanden gemacht. (Ebd., 1889, in:
Werke III, S. 672-673 bzw. 1226-1227).Die Ordnung der Kasten, die
Rangordnung, formuliert nur das oberste Gesetz des Lebens selbst; die Abscheidung
der drei Typen ist nötig zur Erhaltung der Gesellschaft, zur Ermöglichung
höherer und höchster Typen die Ungleichheit der Rechte
ist erst die Bedingung dafür, daß es überhaupt Rechte gibt.
Ein Recht ist ein Vorrecht. In seiner Art Sein hat jeder auch sein Vorrecht. Unterschätzen
wir die Vorrechte der Mittelmäßigen nicht. Das Leben nach der
Höhe zu wird immer härter die Kälte nimmt zu, die Verantwortlichkeit
nimmt zu. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 673 bzw. 1227).Eine
hohe Kultur ist eine Pyramide: sie kann nur auf einem breiten Boden stehn, sie
hat zu allererst eine stark und gesund konsolidierte Mittelmäßigkeit
zur Voraussetzung. Das Handwerk, der Handel, Ackerbau, die Wissenschaft,
der größte Teil der Kunst, der ganze Inbegriff der Berufstätigkeit
mit einem Wort, verträgt sich durchaus nur mit einem Mittelmaß im Können
und Begehren; dergleichen wäre deplaziert unter Ausnahmen, der dazugehörige
Instinkt widerspräche sowohl dem Aristokratismus als dem Anarchismus.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 673-674 bzw. 1227-1228).Daß
man ein öffentlicher Nutzen ist, ein Rad, eine Funktion, dazu gibt es eine
Naturbestimmung: nicht die Gesellschaft, die Art Glück, deren
die allermeisten bloß fähig sind, macht aus ihnen intelligente Maschinen.
Für den Mittelmäßigen ist mittelmäßig sein ein Glück;
die Meisterschaft in einem, die Spezialität ein natürlicher Instinkt.
Es würde eines tieferen Geistes vollkommen unwürdig sein, in der Mittelmäßigkeit
an sich schon einen Einwand zu sehn. Sie ist selbst die erste Notwendigkeit
dafür, daß es Ausnahmen geben darf: eine hohe Kultur ist durch sie
bedingt. Wenn der Ausnahme-Mensch gerade die Mittelmäßigen mit zarteren
Fingern handhabt, als sich und seinesgleichen, so ist dies nicht bloß Höflichkeit
des Herzens es ist einfach seine Pflicht. (Ebd., 1889, in:
Werke III, S. 674 bzw. 1228).Wen hasse ich unter dem Gesindel von
Heute am besten? Das Sozialisten-Gesindel, die Tschandala-Apostel, die den Instinkt,
die Lust, das Genügsamkeits-Gefühl des Arbeiters mit seinem kleinen
Sein untergraben die ihn neidisch machen, die ihn Rache lehren .... Das
Unrecht liegt niemals in ungleichen Rechten, es liegt im Anspruch auf »gleiche«
Rechte. Was ist schlecht? Aber ich sagte es schon: alles, was aus Schwäche,
aus Neid, aus Rache stammt. Der Anarchist und der Christ sind einer
Herkunft. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 674 bzw. 1228).In
der Tat, es macht einen Unterschied, zu welchem Zweck man lügt: ob man damit
erhält oder zerstört. Man darf zwischen Christ und Anarchist
eine vollkommne Gleichung aufstellen: ihr Zweck, ihr Instinkt geht nur auf Zerstörung.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 674 bzw. 1228).Der Christ und der
Anarchist: beide décadents, beide unfähig, anders als auflösend,
vergiftend, verkümmernd, blutaussaugend zu wirken, beide der Instinkt
des Todhasses gegen alles, was steht, was groß dasteht, was Dauer
hat, was dem Leben Zukunft verspricht. Das Christentum war der Vampyr des Imperium
Romanum es hat die ungeheure Tat der Römer, den Boden für
eine große Kultur zu gewinnen, die Zeit hat, über Nacht ungetan
gemacht. Versteht man es immer noch nicht? Das Imperium Romanum,
das wir kennen, das uns die Geschichte der römischen Provinz immer besser
kennen lehrt, dies bewunderungswürdigste Kunstwerk des großen Stils,
war ein Anfang, sein Bau war berechnet, sich mit Jahrtausenden zu beweisen
es ist bis heute nie so gebaut, nie auch nur geträumt worden, in gleichem
Maße sub specie aeterni zu bauen! Diese Organisation war fest
genug, schlechte Kaiser auszuhalten: der Zufall von Personen darf nichts in solchen
Dingen zu tun haben erstes Prinzip aller großen Architektur.
Aber sie war nicht fest genug gegen die korrupteste Art Korruption, gegen den
Christen. Dies heimliche Gewürm, das sich in Nacht, Nebel und Zweideutigkeit
an alle Einzelnen heranschlich und jedem einzelnen den Ernst für wahre Dinge,
den Instinkt überhaupt für Realitäten aussog, diese feige,
femininische und zuckersüße Bande hat Schritt für Schritt die
»Seelen« diesem ungeheuren Bau entfremdet jene wertvollen,
jene männlich-vornehmen Naturen, die in der Sache Roms ihre eigne Sache,
ihren eignen Ernst, ihren eignen Stolz empfanden. Diese Mucker-Schleicherei,
die Konventikel-Heimlichkeit, düstere Begriffe wie Hölle, wie Opfer
des Unschuldigen, wie unio mystica im Bluttrinken, vor allem das langsam aufgeschürte
Feuer der Rache, der Tschandala-Rache das wurde Herr über Rom,
dieselbe Art von Religion, der in ihrer Präexistenz-Form schon Epikur den
Krieg gemacht hatte. Man lese Lukrez, um zu begreifen, was Epikur bekämpft
hat, nicht das Heidentum, sondern »das Christentum«, will sagen die
Verderbnis der Seelen durch den Schuld-, durch den Straf- und Unsterblichkeits-Begriff.
Er bekämpfte die unterirdischen Kulte, das ganze latente Christentum
die Unsterblichkeit zu leugnen war damals schon eine wirkliche Erlösung.
Und Epikur hätte gesiegt, jeder achtbare Geist im römischen Reich
war Epikureer: da erschien Paulus. Paulus, der Fleisch-, der Genie-gewordne
Tschandala-Haß gegen Rom, gegen »die Welt«, der Jude, der ewige
Jude par excellence. Was er erriet, das war, wie man mit Hilfe der kleinen sektiererischen
Christen-Bewegung abseits des Judentums einen »Weltbrand« entzünden
könne, wie man mit dem Symbol »Gott am Kreuze« alles Unten-Liegende,
alles Heimlich-Aufrührerische, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtriebe
im Reich, zu einer ungeheuren Macht aufsummieren könne. »Das Heil kommt
von den Juden.« Das Christentum als Formel, um die unterirdischen
Kulte aller Art, die des Osiris, der großen Mutter, des Mithras zum Beispiel,
zu überbieten und zu summieren: in dieser Einsicht besteht das Genie
des Paulus. Sein Instinkt war darin so sicher, daß er die Vorstellungen,
mit denen jene Tschandala-Religionen faszinierten, mit schonungsloser Gewalttätigkeit
an der Wahrheit dem »Heilande« seiner Erfindung in den Mund legte,
und nicht nur in den Mund daß er aus ihm etwas machte, das
auch ein Mithras-Priester verstehn konnte. Dies war sein Augenblick von Damaskus:
er begriff, daß er den Unsterblichkeits-Glauben nötig hatte,
um »die Welt« zu entwerten, daß der Begriff »Hölle«
über Rom noch Herr wird daß man mit dem »Jenseits«
das Leben tötet. Nihilist und Christ: das reimt sich, das reimt sich
nicht bloß. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 675-676 bzw. 1229-1230).Die
ganze Arbeit der antiken Welt umsonst: ich habe kein Wort dafür, das
mein Gefühl über etwas so Ungeheures ausdrückt. Und in Anbetracht,
daß ihre Arbeit eine Vorarbeit war, daß eben erst der Unterbau zu
einer Arbeit von Jahrtausenden mit granitnem Selbstbewußtsein gelegt war,
der ganze Sinn der antiken Welt umsonst! Wozu Griechen? wozu Römer?
Alle Voraussetzungen zu einer gelehrten Kultur, alle wissenschaftlichen
Methoden waren bereits da, man hatte die große, die unvergleichliche
Kunst, gut zu lesen, bereits festgestellt diese Voraussetzung zur Tradition
der Kultur, zur Einheit der Wissenschaft; die Naturwissenschaft, im Bunde mit
Mathematik und Mechanik, war auf dem allerbesten Wege der Tatsachen-Sinn,
der letzte und wertvollste aller Sinne, hatte seine Schulen, seine bereits Jahrhunderte
alte Tradition! Versteht man das? Alles Wesentliche war gefunden, um an
die Arbeit gehn zu können die Methoden, man muß es zehnmal sagen,
sind das Wesentliche, auch das Schwierigste, auch das, was am längsten
die Gewohnheiten und Faulheiten gegen sich hat. Was wir heute, mit unsäglicher
Selbstbezwingung denn wir haben alle die schlechten Instinkte, die christlichen,
irgendwie noch im Leibe uns zurückerobert haben, den freien Blick
vor der Realität, die vorsichtige Hand, die Geduld und den Ernst im Kleinsten,
die ganze Rechtschaffenheit der Erkenntnis sie war bereits da! vor
mehr als zwei Jahrtausenden bereits! Und, dazu gerechnet, der gute, der
feine Takt und Geschmack! Nicht als Gehirn-Dressur! (Ebd., 1889,
in: Werke III, S. 676-677 bzw. 1230-1231).Alles umsonst!
Über Nacht bloß noch eine Erinnerung! Griechen! Römer!
die Vornehmheit des Instinkts, der Geschmack, die methodische Forschung, das Genie
der Organisation und Verwaltung, der Glaube, der Wille zur Menschen-Zukunft,
das große Ja zu allen Dingen als Imperium Romanum sichtbar, für alle
Sinne sichtbar, der große Stil nicht mehr bloß Kunst, sondern Realität,
Wahrheit, Leben geworden. Und nicht durch ein Natur-Ereignis über
Nacht verschüttet! Nicht durch Germanen und andre Schwerfüßler
niedergetreten! Sondern von listigen, heimlichen, unsichtbaren, blutarmen Vampyren
zuschanden gemacht! Nicht besiegt nur ausgesogen! Die versteckte Rachsucht,
der kleine Neid Herr geworden! Alles Erbärmliche, Ansich-Leidende,
Von-schlechten-Gefühlen-Heimgesuchte, die ganze Ghetto-Welt der Seele
mit einem Male obenauf! (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 677 bzw.
1231).Man lese nur irgendeinen christlichen Agitator, den heiligen
Augustin zum Beispiel, um zu begreifen, um zu riechen, was für unsaubere
Gesellen damit obenauf gekommen sind. Man würde sich ganz und gar betrügen,
wenn man irgendwelchen Mangel an Verstand bei den Führern der christlichen
Bewegung voraussetzte oh, sie sind klug, klug, bis zur Heiligkeit, diese
Herren Kirchenväter! Was ihnen abgeht, ist etwas ganz anderes. Die Natur
hat sie vernachlässigt sie vergaß, ihnen eine bescheidne Mitgift
von achtbaren, von anständigen, von reinlichen Instinkten mitzugeben.
Unter uns, es sind nicht einmal Männer. Wenn der Islam das Christentum verachtet,
so hat er tausendmal recht dazu: der Islam hat Männer zur Voraussetzung.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 677-678 bzw. 1231-1232).Das Christentum
hat uns um die Ernte der antiken Kultur gebracht, es hat uns später wieder
um die Ernte der Islam-Kultur gebracht. Die wunderbare maurische Kultur-Welt
Spaniens, uns im Grunde verwandter, zu Sinn und Geschmack redender als Rom und
Griechenland, wurde niedergetreten ( ich sage nicht von was für
Füßen ), warum? weil sie vornehmen, weil sie Männer-Instinkten
ihre Entstehung verdankte, weil sie zum Leben ja sagte auch noch mit den seltnen
und raffinierten Kostbarkeiten des maurischen Lebens! Die Kreuzritter bekämpften
später etwas, vor dem sich in den Staub zu legen ihnen besser angestanden
hätte eine Kultur, gegen die sich selbst unser neunzehntes Jahrhundert
sehr arm, sehr »spät« vorkommen dürfte. Freilich,
sie wollten Beute machen: der Orient war reich. Man sei doch unbefangen! Kreuzzüge
die höhere Seeräuberei, weiter nichts! (Ebd., 1889, in:
Werke III, S. 678 bzw. 1232).An sich sollte es ja keine Wahl geben,
angesichts von Islam und Christentum, so wenig als angesichts eines Arabers und
eines Juden. Die Entscheidung ist gegeben; es steht niemandem frei, hier noch
zu wählen. Entweder ist man ein Tschandala, oder man ist es nicht.
»Krieg mit Rom aufs Messer! Friede, Freundschaft mit dem Islam«: so
empfand, so tat jener große Freigeist, das Genie unter den deutschen
Kaisern, Friedrich der Zweite? Wie? muß ein Deutscher erst Genie, erst Freigeist
sein, um anständig zu empfinden? Ich begreife nicht, wie ein Deutscher
je christlich empfinden konnte. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 678-679
bzw. 1232-1233).Die Umwertung der christlichen Werte, der
Versuch, mit allen Mitteln, mit allen Instinkten, mit allem Genie unternommen,
die Gegen-Werte, die vornehmen Werte zum Sieg zu bringen.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 679 bzw. 1233).Ich sehe eine Möglichkeit
vor mir von einem vollkommen überirdischen Zauber und Farbenreiz es
scheint mir, daß sie in allen Schaudern raffinierter Schönheit erglänzt,
daß eine Kunst in ihr am Werke ist, so göttlich, so teufelsmäßig-göttlich,
daß man Jahrtausende umsonst nach einer zweiten solchen Möglichkeit
durchsucht; ich sehe ein Schauspiel, so sinnreich, so wunderbar paradox zugleich,
daß alle Gottheiten des Olymps einen Anlaß zu einem unsterblichen
Gelächter gehabt hätten Cesare Borgia als Papst. Versteht
man mich? Wohlan, das wäre der Sieg gewesen, nach dem ich heute allein
verlange : damit war das Christentum abgeschafft! Was geschah?
Ein deutscher Mönch, Luther, kam nach Rom. Dieser Mönch, mit allen rachsüchtigen
Instinkten eines verunglückten Priesters im Leibe, empörte sich in Rom
gegen die Renaissance. Statt mit tiefster Dankbarkeit das Ungeheure zu verstehn,
das geschehen war, die Überwindung des Christentums an seinem Sitz
, verstand sein Haß aus diesem Schauspiel nur seine Nahrung zu ziehn.
Ein religiöser Mensch denkt nur an sich. Luther sah die Verderbnis
des Papsttums, während gerade das Gegenteil mit Händen zu greifen war:
die alte Verderbnis, das peccatum originale, das Christentum saß nicht mehr
auf dem Stuhl des Papstes! Sondern das Leben! Sondern der Triumph des Lebens!
Sondern das große Ja zu allen hohen, schönen, verwegenen Dingen! Und
Luther stellte die Kirche wieder her: er griff sie an .... Die Renaissance
ein Ereignis ohne Sinn, ein großes Umsonst! (Ebd., 1889,
in: Werke III, S. 679-680 bzw. 1233-1234).Hiermit bin ich am Schluß
und spreche mein Urteil. Ich verurteile das Christentum, ich erhebe gegen
die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger
in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Korruptionen,
sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Korruption gehabt. Die
christliche Kirche ließ nichts mit ihrer Verderbnis unberührt, sie
hat aus jedem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder
Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht. Man wage es noch, mir von
ihren »humanitären« Segnungen zu reden! Irgendeinen Notstand
abschaffen ging wider ihre tiefste Nützlichkeit: sie lebte von Notständen,
sie schuf Notstände, um sich zu verewigen. Der Wurm der Sünde
zum Beispiel: mit diesem Notstande hat erst die Kirche die Menschheit bereichert!
Die »Gleichheit der Seelen vor Gott«, diese Falschheit, dieser
Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff
von Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Prinzip der
ganzen Gesellschafts-Ordnung geworden ist ist christlicher Dynamit.
»Humanitäre« Segnungen des Christentums! Aus der humanitas einen
Selbst-Widerspruch, eine Kunst der Selbstschändung, einen Willen zur Lüge
um jeden Preis, einen Widerwillen, eine Verachtung aller guten und rechtschaffnen
Instinkte herauszuzüchten! Das wären mir Segnungen des Christentums!
Der Parasitismus als einzige Praxis der Kirche; mit ihrem Bleichsuchts-,
ihrem »Heiligkeits«-Ideale jedes Blut, jede Liebe, jede Hoffnung zum
Leben austrinkend; das Jenseits als Wille zur Verneinung jeder Realität;
das Kreuz als Erkennungszeichen für die unterirdischste Verschwörung,
die es je gegeben hat gegen Gesundheit, Schönheit, Wohlgeratenheit,
Tapferkeit, Geist, Güte der Seele, gegen das Leben selbst.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 680-681 bzw. 1234-1235).Diese ewige
Anklage des Christentums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur Wände
gibt ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen .... Ich heiße
das Christentum den einen großen Fluch, die eine große innerlichste
Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig,
heimlich, unterirdisch, klein genug ist ich heiße es den einen
unsterblichen Schandfleck der Menschheit .... (Ebd., 1889, in: Werke III,
S. 681 bzw. 1235).Und man rechnet die Zeit nach dem dies nefastus,
mit dem dies Verhängnis anhob nach dem ersten Tag des Christentums!
Warum nicht lieber nach seinem letzten? Nach heute?
Umwertung aller Werte! (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 681 bzw. 1235).Gesetz
wider das Christentum. Gegeben am Tage des Heils, am ersten Tage des Jahres Eins
(- am 30. September 1888 der falschen Zeitrechnung). Todkrieg gegen das Laster:
das Laster ist das Christentum. E r s t e r
S a t z . - Lasterhaft ist jede Art Widernatur.
Die lasterhafteste Art Mensch ist der Priester: er lehrt die Widernatur.
Gegen den Priester hat man nicht Gründe, man hat das Zuchthaus. Z w e i t e r
S a t z . - Jede Teilnahme an einem Gottesdienste
ist ein Attentat auf die öffentliche Sittlichkeit. Man soll härter gegen
Protestanten als gegen Katholiken sein, härter gegen liberale Protestanten
als gegen strenggläubige. Das Verbrecherische im Christ-sein nimmt in dem
Maße zu, als man sich der Wissenschaft nähert. Der Verbrecher der Verbrecher
ist folglich der Philosoph. D r i t t e r
S a t z . - Die fluchwürdige Stätte,
auf der das Christentum seine Basilisken-Eier gebrütet hat, soll dem Erdboden
gleich gemacht werden und als verruchte Stelle der Erde der Schrecken aller
Nachwelt sein. Man soll giftige Schlangen auf ihr züchten. V i e r t e r
S a t z . - Die Predigt der Keuschheit
ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen
Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff »unrein« ist
die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens. F ü n f t e r
S a t z . - Mit einem Priester an einem
Tisch essen stößt aus: man exkommuniziert sich damit aus der rechtschaffnen
Gesellschaft. Der Priester ist unser Tschandala, - man soll ihn verfehmen,
aushungern, in jede Art Wüste treiben. S e c h s t e r
S a t z . - Man soll die »heilige«
Geschichte mit dem Namen nennen, den sie verdient, als verfluchte Geschichte;
man soll die Worte »Gott«, »Heiland«, »Erlöser«,
»Heiliger« zu Schimpfworten, zu Verbrecher-Abzeichen benutzen. S i e b e n t e r
S a t z . - Der Rest folgt daraus.
(Ebd., 1889, in: Werke, 6. Abteilung, 3. Band, S. 252 (Anhang)). |