Jenseits von Gut und Böse (Vorspiel
einer Philosophie der Zukunft), 1886 
Leben
selbst ist Wille zur Macht -: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten
und häufigsten Folgen davon. (Ebd., 1886, 13, in: Werke III,
S. 24 bzw. 578).
Es dämmert jetzt vielleicht in fünf,
sechs Köpfen, daß Physik auch nur eine Welt-Auslegung und Zurechtlegung
und nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf den Glauben
an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muß auf lange hinaus noch als
mehr, nämlich als Erklärung gelten. (Ebd., 1886, 13, in: Werke
III, S. 24 bzw. 578).Philosophen .... Ihr Denken ist in der Tat
viel weniger ein Entdecken als ein Wiedererkennenm eine Rück- und Heimkerh
in einen fernen uralten Gesamt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals
herausgewachsen sind Philosophieren ist insofern eine Art von Atavismus
höchsten Ranges. (Ebd., 1886, 20, in: Werke III, S. 29-30 bzw. 583-584).Die
wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen
Philosophierens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft
vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, daß, dank der gemeinsamen Philosophie
der Grammatik ich meine dank der unbewußten Herrschaft und Führung
durch gleiche grammatische Funktionen von vornherein alles für eine
gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet
liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der
Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs (in
dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt ist) werden mit großer
Wahrscheinlichkeit anders »in die Welt« blicken und auf andern Pfaden
zu finden sein als Indogermanen oder Muselmänner: der Bann bestimmter grammatischer
Funktionen ist im letzten Grunde der Bann physiologischer Werturteile und Rasse-Bedingungen.
So viel zur Zurückweisung von Lockes Oberflächlichkeit in bezug
auf die Herkunft der Ideen. (Ebd., 1886, 20, in: Werke III, S. 30 bzw. 584).Man
vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann,
auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen: aber jene »Gesetzmäßigkeit
der Natur«, von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob
besteht nur dank eurer Ausdeutung und schlechten »Philologie«
sie ist kein Tatbestand, kein »Text«, vielmehr nur eine naiv-humanitäre
Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der
modernen Seele sattsam entgegenkommt! (Ebd., 1886, 22, in: Werke III, S.
32 bzw. 586).Gesetzt, daß nichts anderes
als real »gegeben« ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften,
daß wir zu keiner andern »Realität« hinab oder hinauf können
als gerade zur Realität unsrer Triebe denn Denken ist nur ein Verhalten
dieser Triebe zueinander : ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen und
die Frage zu fragen, ob dies Gegeben nicht ausreicht, um aus seinesgleichen
auch die sogenannte mechanistische (oder »materielle«) Welt zu verstehn?
Ich meine nicht als eine Täuschung, einen »Schein«, eine »Vorstellung«
(im Berkeleyschen und Schopenhauerschen Sinne) sondern als vom gleichen Realitäts-Range,
welchen unser Affekt selbst hat als eine primitivere Form der Welt der
Affekte, in der noch alles in mächtiger Einheit beschlossen liegt, was sich
dann im organischen Prozesse abzweigt und ausgestaltet (auch, wie billig, verzärtelt
und abschwächt ), als eine Art von Triebleben, in dem noch sämtliche
organische Funktionen, mit Selbst-Regulierung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung,
Stoffwechsel, synthetisch gebunden ineinander sind als eine Vorform
des Lebens? Zuletzt ist es nicht nur erlaubt, diesen Versuch zu machen:
es ist, vom Gewissen der Methode aus, geboten. Nicht mehrere Arten von
Kausalität annehmen, solange nicht der Versuch, mit einer einzigen auszureichen,
bis an seine äußerste Grenze getrieben ist ( bis zum Unsinn,
mit Verlaub zu sagen): das ist eine Moral der Methode, der man sich heute nicht
entziehen darf es folgt »aus ihrer Definition«, wie ein Mathematiker
sagen würde.Die Frage ist zuletzt, ob wir
den Willen wirklich als wirkend anerkennen, ob wir an die Kausalität
des Willens glauben: tun wir das und im Grunde ist der Glaube daran eben
unser Glaube an Kausalität selbst , so müssen wir den Versuch
machen, die Willens-Kausalität hypothetisch als die einzige zu setzen. »Wille«
kann natürlich nur auf »Wille« wirken und nicht auf »Stoffe«
(nicht auf »Nerven« zum Beispiel ): genug, man muß die
Hypothese wagen, ob nicht überall, wo »Wirkungen« anerkannt werden,
Wille auf Wille wirkt und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern
eine Kraft darin tätig wird, eben Willenskraft, Willens- Wirkung ist.
Gesetzt endlich, daß es gelänge, unser gesamtes Triebleben als die
Ausgestaltung und Verzweigung einer Grundform des Willens zu erklären
nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist ; gesetzt, daß
man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen
könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung
es ist ein Problem fände, so hätte man damit sich das
Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur
Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren »intelligiblen
Charakter« hin bestimmt und bezeichnet sie wäre eben Wille
zur Macht und nichts außerdem. (Ebd., 1886, 36, in: Werke III,
S. 46-47 bzw. 600-601).Wer, gleich mir, mit irgendeiner rätselhaften
Begierde sich lange darum bemüht hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken
und aus der halb christlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen,
mit der er sich diesem Jahrhundert zuletzt dargestellt hat, nämlich in Gestalt
der Schopenhauerschen Philosophie; wer wirklich einmal mit einem asiatischen und
überasiatischen Auge in die weltverneinendste aller möglichen Denkweisen
hinein- und hinuntergeblickt hat jenseits von Gut und Böse, und nicht
mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann und Wahne der Moral , der hat
vielleicht ebendamit, ohne daß er es eigentlich wollte, sich die Augen für
das umgekehrte Ideal aufgemacht: für das Ideal des übermütigsten,
lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war
und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es war und
ist, wiederhaben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo
rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und
nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu dem, der gerade dies Schauspiel
nötig hat und nötig macht: weil er immer wieder sich nötig
hat und nötig macht Wie? Und dies wäre nicht
circulus vitiosus deus? (Ebd., 1886, 78, in: Werke III, S. 63 bzw. 617).Wer
sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verächter.
(Ebd., 1886, 78, in: Werke III, S. 73 bzw. 627).Eine Seele, die
sich gelebt weiß, aber selbst niocht lebt, verrät ihren Bodensatz
ihr Unterstes kommt herauf. (Ebd., 1886, 79, in: Werke III, S. 73 bzw. 627).Man
liebt seine Erkenntnis nicht genug mehr, sobald man sie mitteilt. (Ebd.,
1886, 160, in: Werke III, S. 84 bzw. 638).Wir »guten Europäer«:
auch wir haben Stunden, wo wir uns eine herzhafte Vaterländerei, einen Plumps
und Rückfall in alte Lieben und Engen gestatten - ich gab eben eine Probe
davon - , Stunden nationaler Wallungen, patriotischer Beklemmungen und allerhand
anderer altertümlicher Gefuhls-Überschwemmungen. Schwerfälligere
Geister, als wir sind, mögen mit dem, was sich bei uns auf Stunden beschränkt
und in Stunden zu Ende spielt, erst in längeren Zeitäumen fertig werden,
in halben Jahren die einen, in halben Menschenleben die andern, je nach der Schnelligkeit
und Kraft, mit der sie verdauen und ihre »Stoffe wechseln«. Ja, ich
könnte mir dumpfe zögernde Rassen denken, welche auch in unserm geschwinden
Europa halbe Jahrhunderte nötig hätten, um solche atavistische Anfälle
von Vaterländerei und Schollenkleberei zu überwinden und wieder zur
Vernunft, will sagen zum »guten Europäerturn« zurückzukehren.
Und indem ich über diese Möglichkeit ausschweife, begegnet mirs,
daß ich Ohrenzeuge eines Gesprächs von zwei alten »Patrioten«
werde - sie hörten beide offenbar schlecht und sprachen darum um so lauter.
»Der hält und weiß von Philosophie so viel als ein Bauer oder
Korpsstudent« - sagte der eine - : »der ist noch unschuldig. Aber
was liegt heute daran! Es ist das Zeitalter der Massen: die liegen vor allem Massenhaften
auf dem Bauche. Und so auch in politicis. Ein Staatsmann, der ihnen einen
neuen Turm von Babel, irgendein Ungeheuer von Reich und Macht auftürmt, heißt
ihnen ,groß - was liegt daran, daß wir Vorsichtigeren und Zurückhaltenderen
einstweilen noch nicht vom alten Glauben lassen, es sei allein der große
Gedanke, der einer Tat und Sache Größe gibt. Gesetzt, ein Staatsmann
brächte sein Volk in die Lage, fürderhin ,große Politik
treiben zu müssen, für welche es von Natur schlecht angelegt und vorbereitet
ist: so daß es nötig hätte, einer neuen zweifelhaften Mittelmäßigkeit
zuliebe seine alten und sicheren Tugenden zu opfern - gesetzt, ein Staatsmann
verurteilte sein Volk zum ,Politisieren überhaupt, während dasselbe
bisher Besseres zu tun und zu denken hatte und im Grunde seiner Seele einen vorsichtigen
Ekel vor der Unruhe, Leere und lärmenden Zankteufelei der eigentlich politisierenden
Völker nicht los wurde - gesetzt, ein solcher Staatsmann stachle die eingeschlafnen
Leidenschaften und Begehrlichkeiten seines Volkes auf, mache ihm aus seiner bisherigen
Schüchternheit und Lust am Danebenstehn einen Flecken, aus seiner Ausländerei
und heimlichen Unendlichkeit eine Verschuldung, entwerte ihm seine herzlichsten
Hänge, drehe sein Gewissen um, mache seinen Geist eng, seinen Geschmack ,national,
- wie! ein Staatsmann, der dies alles täte, den sein Volk in alle Zukunft
hinein, falls es Zukunft hat, abbüßen müßte, ein solcher
Staatsmann wäre groß?« »Unzweifelhaft!« antwortete
ihm der andre alte Patriot heftig: »sonst hätte er es nicht gekonnt!
Es war toll vielleicht, so etwas zu wollen! Aber vielleicht war alles Große
im Anfang nur toll!« - »Mißbrauch der Worte!« schrie sein
Unterredner dagegen: - »stark! stark! stark und toll! Nicht groß!«
- Die alten Männer hatten sich ersichtlich erhitzt, als sie sich dergestalt
ihre »Wahrheiten« ins Gesicht schrien; ich aber, in meinem Glück
und Jenseits, erwog, wie bald über den Starken ein Stärkerer Herr werden
wird; auch daß es für die geistige Verflachung eines Volkes eine Ausgleichung
gibt, nämlich durch die Vertiefung eines andern. (Ebd., 1886, 241,
in: Werke III, S. 152-153 bzw. 706-707).Nenne man es nun »Zivilisation«
oder » Vermenschlichung« oder »Fortschritt«, worin jetzt
die Auszeichnung der Europäer gesucht wird; nenne man es einfach, ohne zu
loben und zu tadeln, mit einer politischen Formel die demokratische Bewegung
Europas: hinter all den moralischen und politischen Vordergründen, auf welche
mit solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht sich ein ungeheurer physiologischer
Prozeß, der immer mehr in Fluß gerät - der Prozeß einer
Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den Bedingungen,
unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende
Unabhängigkeit von jedem bestimmten Milieu, das jahrhundertelang sich
mit gleichen Forderungen in Seele und Leib einschreiben möchte - also die
langsame Heraufkunfi einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art
Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft
als ihre typische Auszeichnung besitzt. Dieser Prozeß des werdenden Europäers,
welcher durch große Rückfälle im Tempo verzögert werden kann,
aber vielleicht gerade damit an Vehemenz und Tiefe gewinnt und wächst - der
jetzt noch wütende Sturm und Drang des »National-Gefuhls« gehört
hierher, insgleichen der eben heraufkornmende Anarchismus - dieser Prozeß
läuft wahrscheinlich auf Resultate hinaus, auf welche seine naiven Beförderer
und Lobredner, die Apostel der »modernen Ideen«, am wenigsten rechnen
möchten. Dieselben neuen Bedingungen, unter denen im Durchschnitt eine Ausgleichung
und Vermittelmäßigung des Menschen sich herausbilden wird - ein nützliches,
arbeitsames, vielfach brauchbares und anstelliges Herdentier Mensch - , sind im
höchsten Grade dazu angetan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und
anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben. Während nämlich jene
Anpassungskraft, welche immer wechselnde Bedingungen durchprobiert und mit jedem
Geschlecht, fast mit jedem Jahrzehnt, eine neue Arbeit beginnt, die Mächtigkeit
des Typus gar nicht möglich macht; während der Gesamt-Eindruck solcher
zukünftigen Europäer wahrscheinlich der von vielfachen geschwätzigen
willensarmen und äußerst anstellbaren Arbeitern sein wird, die des
Herrn, des Befehlenden bedürfen wie des täglichen Brotes; während
also die Demokratisierung Europas auf die Erzeugung eines zur Sklaverei im feinsten
Sinne vorbereiteten Typus hinausläuft: wird, im Einzel- und Ausnahmefall,
der starke Mensch stärker und reicher geraten müssen, als er vielleicht
jemals bisher geraten ist dank der Vorurteilslosigkeit seiner Schulung, dank der
ungeheuren Vielfältigkeit von Übung, Kunst und Maske. Ich wollte sagen:
die Demokratisierung Europas ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur
Züchtung von Tyrannen - das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im
geistigsten. (Ebd., 1886, 242, in: Werke III, S. 153-154 bzw. 707-708).Das
ist keine philosophische Rasse diese Engländer: Bacon bedeutet einen
Angriff auf den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes, Hume und
Locke eine Erniedrigung und Wert-Minderung des Begriffs »Philosoph«
für mehr als ein Jahrhundert. Gegen Hume erhob und hob sich Kant; Locke war
es, von dem Schelling sagen durfte: »ich verachte Locke«; im Kampfe
mit der englisch-mechanistischen Welt-Vertölpelung waren Hegel und Schopenhauer
(mit Goethe) einmütig, jene beiden feindlichen Brüder-Genies in der
Philosophie, welche nach den entgegengesetzten Polen des deutschen Geistes auseinanderstrebten
und sich dabei unrecht taten, wie sich eben nur Brüder unrecht tun.
Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat, das wußte jener Halb-Schauspieler
und Rhetor gut genug, der abgeschmackte Wirrkopf Carlyle, welcher es unter leidenschaftlichen
Fratzen zu verbergen suchte, was er von sich selbst wußte: nämlich
woran es in Carlyle fehlte an eigentlicher Macht der Geistigkeit, an eigentlicher
Tiefe des geistigen Blicks, kurz an Philosophie. Es kennzeichnet eine solche
unphilosophische Rasse, daß sie streng zum Christentume hält: sie braucht
seine Zucht zur »Moralisierung« und Veranmenschlichung. Der Engländer,
düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler als der Deutsche
ist eben deshalb, als der Gemeinere von beiden, auch frömmer als der Deutsche:
er hat das Christentum eben noch nötiger. Für feinere Nüstern hat
selbst dieses englische Christentum noch einen echt englischen Nebengeruch von
spleen und alkoholischer Ausschweifung, gegen welche es aus guten Gründen
als Heilmittel gebraucht wird das feinere Gift nämlich gegen das gröbere:
eine feinere Vergiftung ist in der Tat bei plumpen Völkern schon ein Fortschritt,
eine Stufe zur Vergeistigung. Die englische Plumpheit und Bauern-Ernsthaftigkeit
wird durch die christliche Gebärdensprache und durch Beten und Psalmensingen
noch am erträglichsten verkleidet, richtiger: ausgelegt und umgedeutet; und
für jenes Vieh von Trunkenbolden und Ausschweifenden, welches ehemals unter
der Gewalt des Methodismus und neuerdings wieder als »Heilsarmee«
moralisch grunzen lernt, mag wirklich ein Bußkrampf die verhältnismäßig
höchste Leistung von »Humanität« sein, zu der es gesteigert
werden kann: so viel darf man billig zugestehn. Was aber auch noch am humansten
Engländer beleidigt, das ist sein Mangel an Musik, im Gleichnis (und ohne
Gleichnis ) zu reden: er hat in den Bewegungen seiner Seele und seines Leibes
keinen Takt und Tanz, ja noch nicht einmal die Begierde nach Takt und Tanz, nach
»Musik«. Man höre ihn sprechen; man sehe die schönsten Engländerinnen
gehn es gibt in keinem Lande der Erde schönere Tauben und Schwäne
endlich: man höre sie singen! Aber ich verlange zu viel ....
(Ebd., 1886, 252, in: Werke III, S. 164-165 bzw. 718-719).Es gibt
Wahrheiten, die am besten von mittelmäßigen Köpfen erkannt werden,
weil sie ihnen am gemäßesten sind, es gibt Wahrheiten, die nur für
mittelmäßige Geister Reize und Verführungskräfte besitzen
auf diesen vielleicht unangenehmen Satz wird man gerade jetzt hingestoßen,
seitdem der Geist achtbarer, aber mittelmäßiger Engländer
ich nenne Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer in der mittleren
Region des europäischen Geschmacks zum Übergewicht zu gelangen anhebt.
In der Tat, wer möchte die Nützlichkeit davon anzweifeln, daß
zeitweilig solche Geister herrschen? Es wäre ein Irrtum, gerade die hochgearteten
und abseits fliegenden Geister für besonders geschickt zu halten, viele kleine
gemeine Tatsachen festzustellen, zu sammeln und in Schlüsse zu drängen
sie sind vielmehr, als Ausnahmen, von vornherein in keiner günstigen
Stellung zu den »Regeln«. Zuletzt haben sie mehr zu tun als nur zu
erkennen nämlich etwas Neues zu sein, etwas Neues zu bedeuten, neue
Werte darzustellen! Die Kluft zwischen Wissen und Können ist vielleicht größer,
auch unheimlicher, als man denkt: der Könnende im großen Stil, der
Schaffende wird möglicherweise ein Unwissender sein müssen während
andrerseits zu wissenschaftlichen Entdeckungen nach der Art Darwins eine gewisse
Enge, Dürre und fleißige Sorglichkeit, kurz etwas Englisches nicht
übel disponieren mag. Vergesse man es zuletzt den Engländern
nicht, daß sie schon einmal mit ihrer tiefen Durchschnittlichkeit eine Gesamt-Depression
des europäischen Geistes verursacht haben: das, was man »die modernen
Ideen« oder »die Ideen des achtzehnten Jahrhunderts« oder auch
»die französischen Ideen« nennt das also, wogegen sich
der deutsche Geist mit tiefem Ekel erhoben hat , war englischen Ursprungs,
daran ist nicht zu zweifeln. Die Franzosen sind nur die Affen und Schauspieler
dieser Ideen gewesen, auch ihre besten Soldaten, insgleichen leider ihre ersten
und gründlichsten Opfer: denn an der verdammlichen Anglomanie der »modernen
Ideen« ist zuletzt die âme française so dünn geworden
und abgemagert, daß man sich ihres sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts,
ihrer tiefen leidenschaftlichen Kraft, ihrer erfinderischen Vornehmheit heute
fast mit Unglauben erinnert. Man muß aber diesen Satz historischer Billigkeit
mit den Zähnen festhalten und gegen den Augenblick und Augenschein verteidigen:
die europäische Noblesse des Gefühls, des Geschmacks, der Sitte,
kurz das Wort in jedem hohen Sinne genommen ist Frankreichs Werk
und Erfindung, die europäische Gemeinheit, der Plebejismus der modernen Ideen
Englands. (Ebd., 1886, 253, in: Werke III, S. 165-166
bzw. 719-720).Jede Erhöhung des Typus »Mensch«
war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft und so wird es
immer wieder sein: als einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung
und Wertverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgendeinem
Sinne nötig hat. Ohne das Pathos der Distanz, wie es aus dem eingefleischten
Unterschied der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick
der herrschenden Kaste auf Untertänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso
beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten
erwächst, könnte auch jenes andre geheimnisvollere Pathos gar nicht
erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der
Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltenerer, fernerer, weitgespannterer,
umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus »Mensch«,
die fortgesetzte »Selbst-Überwindung des Menschen«, um eine moralische
Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. Freilich: man darf sich
über die Entstehungsgeschichte einer aristokratischen Gesellschaft (also
der Voraussetzung jener Erhöhung des Typus »Mensch« ) keinen
humanitären Täuschungen hingeben: die Wahrheit ist hart. Sagen wir es
uns ohne Schonung, wie bisher jede höhere Kultur auf Erden angefangen hat!
Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren
Verstande des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte
und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere,
vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe
Kulturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken
von Geist und Verderbnis verflackerte. Die vornehme Kaste war im Anfang immer
die Barbaren-Kaste: ihr Übergewicht lag nicht vorerst in der physischen Kraft,
sondern in der seelischen es waren die ganzeren Menschen (was auf jeder
Stufe auch so viel mit bedeutet als »die ganzeren Bestien« ).
(Ebd., 1886, 257, in: Werke III, S. 173 bzw. 727).Korruption, als
der Ausdruck davon, daß innerhalb der Instinkte Anarchie droht, und daß
der Grundbau der Affekte, der »Leben« heißt, erschüttert
ist: Korruption ist, je nach dem Lebensgebilde, an dem sie sich zeigt, etwas Grundverschiedenes.
Wenn zum Beispiel eine Aristokratie, wie die Frankreichs am Anfange der Revolution,
mit einem sublimen Ekel ihre Privilegien wegwirft und sich selbst einer Ausschweifung
ihres moralischen Gefühls zum Opfer bringt, so ist dies Korruption
es war eigentlich nur der Abschlußakt jener Jahrhunderte dauernden Korruption,
vermöge deren sie Schritt für Schritt ihre herrschaftlichen Befugnisse
abgegeben und sich zur Funktion des Königtums (zuletzt gar zu dessen Putz
und Prunkstück) herabgesetzt hatte. Das Wesentliche an einer guten und gesunden
Aristokratie ist aber, daß sie sich nicht als Funktion (sei es des Königtums,
sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung
fühlt daß sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl
Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu
Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen. Ihr
Grundglaube muß eben sein, daß die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft
willen da sein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich
eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu
einem höheren Sein emporzuheben vermag: vergleichbar jenen sonnensüchtigen
Kletterpflanzen auf Java man nennt sie Sipo Matador , welche mit
ihren Armen einen Eichbaum so lange und oft umklammern, bis sie endlich, hoch
über ihm, aber auf ihn gestützt, in freiem Lichte ihre Krone entfalten
und ihr Glück zur Schau tragen können. (Ebd., 1886, 258,
in: Werke III, S. 174 bzw. 728).Sich gegenseitig der Verletzung,
der Gewalt, der Ausbeutung enthalten, seinen Willen dem des andern gleichsetzen:
dies kann in einem gewissen groben Sinne zwischen Individuen zur guten Sitte werden,
wenn die Bedingungen dazu gegeben sind (nämlich deren tatsächliche Ähnlichkeit
in Kraftmengen und Wertmaßen und ihre Zusammengehörigkeit innerhalb
eines Körpers). Sobald man aber dies Prinzip weiter nehmen wollte und womöglich
gar als Grundprinzip der Gesellschaft, so würde es sich sofort erweisen als
das, was es ist: als Wille zur Verneinung des Lebens, als Auflösungs- und
Verfalls-Prinzip. Hier muß man gründlich auf den Grund denken und sich
aller empfindsamen Schwächlichkeit erwehren: Leben selbst ist wesentlich
Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren,
Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung
und mindestens, mildestens, Ausbeutung aber wozu sollte man immer gerade
solche Worte gebrauchen, denen von alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt
ist? Auch jener Körper, innerhalb dessen, wie vorher angenommen wurde, die
einzelnen sich als gleich behandeln es geschieht in jeder gesunden Aristokratie
, muß selber, falls er ein lebendiger und nicht ein absterbender Körper
ist, alles das gegen andre Körper tun, wessen sich die einzelnen in ihm gegeneinander
enthalten: er wird der leibhafte Wille zur Macht sein müssen, er wird wachsen,
um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht gewinnen wollen nicht
aus irgendeiner Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil er lebt,
und weil Leben eben Wille zur Macht ist. In keinem Punkte ist aber das gemeine
Bewußtsein der Europäer widerwilliger gegen Belehrung als hier; man
schwärmt jetzt überall, unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar,
von kommenden Zuständen der Gesellschaft, denen »der ausbeuterische
Charakter« abgehn soll das klingt in meinen Ohren, als ob man ein
Leben zu erfinden verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte.
Die »Ausbeutung« gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen
und primitiven Gesellschaft an: sie gehört ins Wesen des Lebendigen, als
organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht,
der eben der Wille des Lebens ist. Gesetzt, dies ist als Theorie eine Neuerung
als Realität ist es das Ur-Faktum aller Geschichte: man sei doch so
weit gegen sich ehrlich! (Ebd., 1886, 259, in: Werke III, S. 174-175
bzw. 728-729).Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und
gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen,
fand ich gewisse Züge regelmäßig miteinander wiederkehrend und
aneinander geknüpft: bis sich mir endlich zwei Grundtypen verrieten, und
ein Grundunterschied heraussprang. Es gibt Herren-Moral und Sklaven-Moral
ich füge sofort hinzu, daß in allen höheren und gemischteren
Kulturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen zum Vorschein kommen, noch
öfter das Durcheinander derselben und gegenseitige Mißverstehen, ja
bisweilen ihr hartes Nebeneinander sogar im selben Menschen, innerhalb
einer Seele. Die moralischen Wertunterscheidungen sind entweder unter einer herrschenden
Art entstanden, welche sich ihres Unterschieds gegen die beherrschte mit Wohlgefühl
bewußt wurde oder unter den Beherrschten, den Sklaven und Abhängigen
jeden Grades. Im ersten Falle, wenn die Herrschenden es sind, die den Begriff
»gut« bestimmen, sind es die erhobenen stolzen Zustände der Seele,
welche als das Auszeichnende und die Rangordnung Bestimmende empfunden werden.
Der vornehme Mensch trennt die Wesen von sich ab, an denen das Gegenteil solcher
gehobener stolzer Zustände zum Ausdruck kommt: er verachtet sie. Man bemerke
sofort, daß in dieser ersten Art Moral der Gegensatz »gut« und
»schlecht« so viel bedeutet wie »vornehm« und »verächtlich«
der Gegensatz »gut« und »böse« ist andrer
Herkunft. Verachtet wird der Feige, der Ängstliche, der Kleinliche, der an
die enge Nützlichkeit Denkende; ebenso der Mißtrauische mit seinem
unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die Hunde-Art von Mensch, welche sich
mißhandeln läßt, der bettelnde Schmeichler, vor allem der Lügner
es ist ein Grundglaube aller Aristokraten, daß das gemeine Volk lügnerisch
ist. »Wir Wahrhaftigen« so nannten sich im alten Griechenland
die Adeligen. Es liegt auf der Hand, daß die moralischen Wertbezeichnungen
überall zuerst auf Menschen und erst abgeleitet und spät auf Handlungen
gelegt worden sind: weshalb es ein arger Fehlgriff ist, wenn Moral-Historiker
von Fragen den Ausgang nehmen wie »warum ist die mitleidige Handlung gelobt
worden?« Die vornehme Art Mensch fühlt sich als wertbestimmend, sie
hat nicht nötig, sich gutheißen zu lassen, sie urteilt »was mir
schädlich ist, das ist an sich schädlich«, sie weiß sich
als das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist werteschaffend.
Alles, was sie an sich kennt, ehrt sie: eine solche Moral ist Selbstverherrlichung.
Im Vordergrunde steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen
will, das Glück der hohen Spannung, das Bewußtsein eines Reichtums,
der schenken und abgeben möchte auch der vornehme Mensch hilft dem
Unglücklichen, aber nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem
Drang, den der Überfluß von Macht erzeugt. Der vornehme Mensch ehrt
in sich den Mächtigen, auch den, welcher Macht über sich selbst hat,
der zu reden und zu schweigen versteht, der mit Lust Strenge und Härte gegen
sich übt und Ehrerbietung vor allem Strengen und Harten hat. »Ein hartes
Herz legte Wotan mir in die Brust«, heißt es in einer alten skandinavischen
Saga: so ist es aus der Seele eines stolzen Wikingers heraus mit Recht gedichtet.
Eine solche Art Mensch ist eben stolz darauf, nicht zum Mitleiden gemacht zu sein:
weshalb der Held der Saga warnend hinzufügt »wer jung schon kein hartes
Herz hat, dem wird es niemals hart«. Vornehme und Tapfere, welche so denken,
sind am entferntesten von jener Moral, welche gerade im Mitleiden oder im Handeln
für andere oder im désintéressement das Abzeichen des
Moralischen sieht; der Glaube an sich selbst, der Stolz auf sich selbst, eine
Grundfeindschaft und Ironie gegen »Selbstlosigkeit« gehört ebenso
bestimmt zur vornehmen Moral wie eine leichte Geringschätzung und Vorsicht
vor den Mitgefühlen und dem »warmen Herzen«. Die Mächtigen
sind es, welche zu ehren verstehn, es ist ihre Kunst, ihr Reich der Erfindung.
Die tiefe Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Herkommen das ganze Recht
steht auf dieser doppelten Ehrfurcht , der Glaube und das Vorurteil zugunsten
der Vorfahren und zuungunsten der Kommenden ist typisch in der Moral der Mächtigen;
und wenn umgekehrt die Menschen der »modernen Ideen« beinahe instinktiv
an den »Fortschritt« und »die Zukunft« glauben und der
Achtung vor dem Alter immer mehr ermangeln, so verrät sich damit genugsam
schon die unvornehme Herkunft dieser »Ideen«. Am meisten ist aber
eine Moral der Herrschenden dem gegenwärtigen Geschmacke fremd und peinlich
in der Strenge ihres Grundsatzes, daß man nur gegen seinesgleichen Pflichten
habe; daß man gegen die Wesen niedrigeren Ranges, gegen alles Fremde nach
Gutdünken oder »wie es das Herz will« handeln dürfe und
jedenfalls »jenseits von Gut und Böse« : hierhin mag Mitleiden
und dergleichen gehören. Die Fähigkeit und Pflicht zu langer Dankbarkeit
und langer Rache bei des nur innerhalb seinesgleichen , die Feinheit
in der Wiedervergeltung, das Begriffs-Raffinement in der Freundschaft, eine gewisse
Notwendigkeit, Feinde zu haben (gleichsam als Abzugsgräben für die Affekte
Neid, Streitsucht, Übermut im Grunde, um gut freund sein zu können):
alles das sind typische Merkmale der vornehmen Moral, welche, wie angedeutet,
nicht die Moral der »modernen Ideen« ist und deshalb heute schwer
nachzufühlen, auch schwer auszugraben und aufzudecken ist. Es steht
anders mit dem zweiten Typus der Moral, der Sklaven-Moral. Gesetzt, daß
die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien, ihrer selbst Ungewissen
und Müden moralisieren: was wird das Gleichartige ihrer moralischen Wertschätzungen
sein? Wahrscheinlich wird ein pessimistischer Argwohn gegen die ganze Lage des
Menschen zum Ausdruck kommen, vielleicht eine Verurteilung des Menschen mitsamt
seiner Lage. Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden des
Mächtigen: er hat Skepsis und Mißtrauen, er hat Feinheit des Mißtrauens
gegen alles »Gute«, was dort geehrt wird , er möchte sich
überreden, daß das Glück selbst dort nicht echt sei. Umgekehrt
werden die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu
dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier kommt das Mitleiden, die gefällige
hilfsbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiß, die Demut, die
Freundlichkeit zu Ehren-, denn das sind hier die nützlichsten Eigenschaften
und beinahe die einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral
ist wesentlich Nützlichkeitsmoral. Hier ist der Herd für die Entstehung
jenes berühmten Gegensatzes »gut« und »böse«
ins Böse wird die Macht und Gefährlichkeit hineinempfunden, eine
gewisse Furchtbarkeit, Feinheit und Stärke, welche die Verachtung nicht aufkommen
läßt. Nach der Sklaven-Moral erregt also der »Böse«
Furcht; nach der Herren-Moral ist es gerade der »Gute«, der Furcht
erregt und erregen will, während der »schlechte« Mensch als der
verächtliche empfunden wird. Der Gegensatz kommt auf seine Spitze, wenn sich,
gemäß der Sklavenmoral-Konsequenz, zuletzt nun auch an den »Guten«
dieser Moral ein Hauch von Geringschätzung hängt sie mag leicht
und wohlwollend sein , weil der Gute innerhalb der Sklaven-Denkweise jedenfalls
der ungefährliche Mensch sein muß: er ist gutmütig, leicht zu
betrügen, ein bißchen dumm vielleicht, un bonhomme. Überall,
wo die Sklaven-Moral zum Übergewicht kommt, zeigt die Sprache eine Neigung,
die Worte »gut« und »dumm« einander anzunähern.
Ein letzter Grundunterschied: das Verlangen nach Freiheit, der Instinkt für
das Glück und die Feinheiten des Freiheits-Gefühls gehört ebenso
notwendig zur Sklaven-Moral und -Moralität, als die Kunst und Schwärmerei
in der Ehrfurcht, in der Hingebung das regelmäßige Symptom einer aristokratischen
Denk- und Wertungsweise ist. Hieraus läßt sich ohne weiteres
verstehn, warum die Liebe als Passion es ist unsre europäische Spezialität
schlechterdings vornehmer Abkunft sein muß: bekanntlich gehört
ihre Erfindung den provençalischen Ritter-Dichtern zu, jenen prachtvollen
erfinderischen Menschen des »gai saber«, denen Europa so vieles
und beinahe sich selbst verdankt. (Ebd., 1886, 260, in: Werke III,
S. 175-179 bzw. 729-733). |