Menschliches, Allzumenschliches (Ein
Buch für freie Geister), 1878-1880 
ERSTER
BAND
Vorrede
Es
ist eine gründliche Kur gegen allen Pessimismus (den Krebsschaden
alter Idealisten und Lügenbolde, wie bekannt ), auf die Art dieser
freien Geister krank zu werden, eine gute Weile krank zu bleiben und dann, noch
länger, noch länger, gesund, ich meine »gesünder« zu
werden. Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit, sich die Gesundheit selbst lange
Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen. (Ebd., 1878-1880, S. 15).»Du
solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden.
Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben
andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen
und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren
Zwecke. Du solltest das Perspektivische in jeder Wertschätzung begreifen
lernen die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte
und was alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit in
bezug auf entgegengesetzte Werte und die ganze intellektuelle Einbuße, mit
der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest die notwendige
Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit
als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische
und seine Ungerechtigkeit. Du solltest vor allem mit Augen sehn, wo die Ungerechtigkeit
immer am größten ist: dort nämlich, wo das Leben am kleinsten,
engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und dennoch nicht
umhin kann, sich als Zweck und Maß der Dinge zu nehmen und seiner Erhaltung
zuliebe das Höhere, Größere, Reichere heimlich und kleinlich und
unablässig anzubröckeln und in Frage zu stellen, du solltest
das Problem der Rangordnung mit Augen sehn, und wie Macht und Recht und
Umfänglichkeit der Perspektive miteinander in die Höhe wachsen. Du solltest«
genug, der freie Geist weiß nunmehr, welchem »du sollst«
er gehorcht hat, und auch, was er jetzt kann, was er jetzt erst
darf .... (Ebd., 1878-1880, Vorrede (Band 1), S. 15-16 ).Dergestalt
gibt der freie Geist in bezug auf jenes Rätsel von Loslösung sich Antwort
und endet damit, indem er seinen Fall verallgemeinert, sich über sein Erlebnis
also zu entscheiden. »Wie es mir erging«, sagt er sich, »muß
es jedem ergehn, in dem eine Aufgabe leibhaft werden und zur Welt kommen
will.« (Ebd., 1878-1880, Vorrede (Band 1), S. 16).
Von den ersten und letzten Dingen
Der
Glaube an die Freiheit des Willens ist ein ursprünglicher Irrtum alles Organischen,
so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existieren; der Glaube an unbedingte
Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein ursprünglicher, ebenso
alter Irrtum alles Organischen. Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich
mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft
bezeichnen, welche von den Grundirrtümern des Menschen handelt doch
so, als wären es Grundwahrheiten. (Ebd., 1878-1880, S. 35).Die
Zahl. Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglich
schon herrschenden Irrtums gemacht, daß es mehrere gleiche Dinge gebe (aber
tatsächlich gibt es nichts Gleiches), mindestens daß es Dinge gebe
(aber es gibt kein »Ding«). Die Annahme der Vielheit setzt immer schon
voraus, daß es etwas gebe, was vielfach vorkommt: aber gerade hier schon
waltet der Irrtum, schon da fingieren wir Wesen, Einheiten, die es nicht gibt.
Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen,
konsequent geprüft, auf logische Widersprüche. Bei allen wissenschaftlichen
Feststellungen rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Größen:
aber weil diese Größen wenigstens konstant sind, wie zum Beispiel
unsere Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft doch
eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange miteinander; man
kann auf ihnen fortbauen bis an jenes letzte Ende, wo die irrtümliche
Grundannahme, jene konstanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten,
zum Beispiel in der Atomenlehre. Da fühlen wir uns immer noch zur Annahme
eines »Dinges« oder stofflichen »Substrats«, das bewegt
wird, gezwungen, während die ganze wissenschaftliche Prozedur aber die Aufgabe
verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen: wir
scheiden auch hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen
aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von
altersher verknotet ist. Wenn Kant sagt »der Verstand schöpft
seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor«, so
ist dies in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr, welchen
wir genötigt sind mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als Vorstellung, das
heißt als Irrtum), welcher aber die Aufsummierung einer Menge von Irrtümern
des Verstandes ist. Auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung
ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich unanwendbar: diese gelten allein
in der Menschen-Welt (Ebd., 1878-1880, S. 35-36).Mutmaßlicher
Sieg der Skepsis. Man lasse einmal den skeptischen Ausgangspunkt gelten:
gesetzt, es gäbe keine andere, metaphysische Welt und alle aus der Metaphysik
genommenen Erklärungen der uns einzig bekannten Welt wären unbrauchbar
für uns, mit welchem Blick würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen?
Dies kann man sich ausdenken, es ist nützlich, selbst wenn dir Frage, ob
etwas Metaphysisches wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei,
einmal abgelehnt würde. Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit,
sehr gut möglich, daß die Menschen einmal in dieser Beziehung im ganzen
und allgemeinen skeptisch werden; da lautet also die Frage: wie wird sich
dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluß einer solchen Gesinnung,
gestalten? Vielleicht ist der wissenschaftliche Beweis irgendeiner metaphysischen
Welt schon so schwierig, daß die Menschheit ein Mißtrauen gegen ihn
nicht mehr los wird. Und wenn man gegen die Metaphysik Mißtrauen hat, so
gibt es im ganzen und großen dieselben Folgen, wie wenn sie direkt widerlegt
wäre und man nicht mehr an sie glauben dürfte. Die historische
Frage in betreff einer unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden
Fällen dieselbe. (Ebd., 1878-1880, S. 37).Die alte Kultur
hat ihre Größe und Güte hinter sich und die historische Bildung
zwingt einen, zuzugestehen, daß sie nie wieder frisch werden kann; es ist
ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei nötig,
um dies zu leugnen. Aber die Menschen können mit Bewußtsein
beschließen, sich zu einer neuen Kultur fortzuentwickeln, während sie
sich früher unbewußt und zu fällig entwickelten: sie können
jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung,
Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten,
die Kräfte der Menschen überhaupt gegeneinander abwägen und einsetzen.
Diese neue bewußte Kultur tötet die alte, welche als Ganzes angeschaut
ein unbewußtes Tier- und Pflanzenleben geführt hat .... (Ebd.,
1878-1880, S. 39-40).Privat- und Weltmoral. Seitdem
der Glaube aufgehört hat, daß ein Gott die Schicksale der Welt im großen
leite und trotz aller anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit sie
doch herrlich hinausführe, müssen die Menschen selber sich ökumenische,
die ganze Erde umspannende Ziele stellen. Die ältere Moral, namentlich die
Kants, verlangt vom einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht:
das war eine schöne naive Sache; als ob ein jeder ohne weiteres wüßte,
bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen
überhaupt wünschenswert seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel,
voraussetzend, daß die allgemeine Harmonie sich nach eingebornen Gesetzen
des Besserwerdens von selbst ergeben müsse. Vielleicht läßt
es ein zukünftiger Überblick über die Bedürfnisse der Menschheit
durchaus nicht wünschenwert erscheinen, daß alle Menschen gleich handeln,
vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken
der Menschheit spezielle, vielleicht unter Umständen sogar böse Aufgaben
zu stellen sein. Jedenfalls muß, wenn die Menschheit sich nicht durch
eine solche bewußte Gesamtregierung zugrunde richten soll, vorher eine alle
bisherigen Grade übersteigende Kenntnis der Bedingungen der Kultur,
als wissenschaftlicher Maßstab für ökumenische Ziele, gefunden
sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der großen Geister des nächsten
Jahrhunderts. (Ebd., 1878-1880, S. 40-41).Das Unlogische
notwendig. Zu den Dingen, welche einen Denker in Verzweiflung bringen
können, gehört die Erkenntnis, daß das Unlogische für den
Menschen nötig ist, und daß aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht.
Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der Sprache, in der Kunst, in der
Religion und überhaupt in allem, was dem Leben Wert verleiht, daß man
es nicht herausziehen kann, ohne damit diese schönen Dinge heillos zu beschädigen.
Es sind nur die allzu naiven Menschen, welche glauben können, daß die
Natur des Menschen in eine rein logische verwandelt werden könne; wenn es
aber Grade der Annäherung an dieses Ziel geben sollte, was würde da
nicht alles auf diesem Wege verloren gehen müssen! Auch der vernünftigste
Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heißt seiner unlogischen
Grundstellung zu allen Dingen. (Ebd., 1878-1880, S. 45).Ungerechtsein
notwendig. (Ebd., 1878-1880, S. 45).Wir sind von vornherein
unlogische und daher ungerechte Wesen und können dies erkennen:
dies ist eine der größten und unauflösbarsten Disharmonien des
Daseins. (Ebd., 1878-1880, S. 46).Der Irrtum über
das Leben zum Leben notwendig. (Ebd., 1878-1880, S. 46).Die
Menschheit hat im ganzen keine Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung
des ganzen Verlaufs, nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweiflung.
(Ebd., 1878-1880, S. 47).
Zur Geschichte der moralischen Empfindungen
Weil
sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet
er Reue und Gewissensbisse. (Ebd., 1878-1880, S. 56).Der
unveränderliche Charakter. Daß der Charakter unveränderlich
sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heißt dieser beliebte Satz
nur soviel, daß während der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden
Motive nicht tief genug ritzen können, um die aufgeprägten Schriftzüge
vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte man sich aber einen Menschen
von achzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen
Charakter: so daß eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und
nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu
manchen irrtümlichen Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen.
(Ebd., 1878-1880, S. 57).Es gibt keine ewgie Gerechtigkeit.
(Ebd., 1878-1880, S. 65).In der Moral behandelt sich der Mensch
nicht als individuum, sondern als dividuum. (Ebd., 1878-1880,
S. 68).Einen Rachegedanken haben und ausführen, heißt
einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber vorübergeht: einen Rachegedanken
aber haben, ohne Kraft und Mut ihn auszuführen, heißt ein chronisches
Leiden, eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen. (Ebd., 1878-1880,
S. 69).Aus sich eine ganze Person machen und in
allem, was man tut, deren höchstes Wohl ins Auge zu fassen
das bringt weiter als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zugunsten an derer.
Wir alle leiden freilich noch immer an der allzugeringen Beachtung des Persönlichen
an uns, es ist schlecht ausgebildet gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr
unsern Sinn gewaltsam von ihm abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem
Hilfebedürftigen zum Opfer angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre,
das geopfert werden müßte. Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen
arbeiten, aber nur so weit, als wir unsern eigenen höchsten Vorteil in dieser
Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als
seinen Vorteil versteht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum
wird ihn auch am rohesten verstehen. (Ebd., 1878-1880, S. 82).Das
Unschuldige an den sogenannten bösen Handlungen. Alle »bösen«
Handlungen sind motiviert durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch
die Absicht auf Lust und Vermeiden der Unlust des Individuums; als solchermaßen
motiviert aber nicht böse. .... Die bösen Handlungen, welche uns jetzt
am meisten empören, beruhen auf dem Irrtume, daß der andere, welcher
sie uns zufügt, freien Willen habe, also daß es in seinem Belieben
gelegen habe, uns dies Schlimme nicht anzutun. Dieser Glaube an das Belieben erregt
den Haß, die Rachlust, die Tücke, die ganze Verschlechterung der Phantasie,
während wir einem Tiere viel weniger zürnen, weil wir dies als unverantwortlich
betrachten. Leid tun nicht aus Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung
ist Folge eines falschen Urteils und deshalb ebenfalls unschuldig. Der
einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staat liegt, zur Abschreckung
andere Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche abschreckende
Proben seiner Macht sicherzustellen. So handelt der Gewalttätige, Mächtige,
der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren
unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder
vielmehr: es gibt kein Recht, welches dies hindern kann. Es kann erst dann der
Boden für alle Moralität zurechtgemacht werden, wenn ein größeres
Individuum oder ein Kollektiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat,
die einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen
Verband einordnet. Der Moralität geht der Zwang voraus, ja sie selber
ist noch eine Zeitlang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt.
Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe
Instinkt: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust
verknüpft und heißt nun Tugend. (Ebd., 1878-1880,
S. 85-86).Scham. Die Scham existiert überall,
wo es ein »Mysterium« gibt; dies ist aber ein religiöser Begriff,
welcher in der älteren Zeit der menschlichen Kultur einen großen Umfang
hatte. Überall gab es umgrenzte Gebiete, zu welchen das göttliche Recht
den Zutritt versagte, außer unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz
räumlich, insofern gewisse Stätten vom Fuße der Uneingeweihten
nicht zu betreten waren und in deren Nähe diese Schauder und Angst empfanden.
Dies Gefühl wurde vielfach auf andere Verhältnisse übertragen,
zum Beispiel auf die geschlechtlichen Verhältnisse, welche als ein Vorrecht
und Adyton des reiferen Alters den Blicken der Jugend, zu deren Vorteil, entzogen
werden sollten: Verhältnisse, zu deren Schutz und Heilighaltung viele Götter
tätig und im ehelichen Gemache als Wächter aufgestellt gedacht wurden.
(Im Türkischen heißt deshalb dies Gemach Harem, »Heiligtum«,
wird also mit demselben Worte bezeichnet, welches für die Vorhöfe der
Moscheen üblich ist.) So ist das Königtum als ein Zentrum, von wo Macht
und Glanz ausstrahlt, dem Unterworfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und
Scham: wovon viele Nachwirkungen noch jetzt, unter Völkern, die sonst keineswegs
zu den verschämten gehören, zu fühlen sind. Ebenso ist die ganze
Welt innerer Zustände, die sogenannte »Seele«, auch jetzt noch
für alle Nicht-Philosophen ein Mysterium, nachdem diese, endlose Zeiten hindurch,
als göttlichen Ursprungs, als göttlichen Verkehrs würdig geglaubt
wurde: sie ist demnach ein Adyton und erweckt Scham. (Ebd., 1878-1880, S.
87).Ohne Lust kein Leben; der Kampf um die Lust ist der Kampf um
das Leben. Ob der einzelne diesen Kampf so kämpft, daß die Menschen
ihn gut, oder so, daß sie ihn böse nennen, darüber entscheidet
das Maß und die Beschaffenheit seines Intellekts. (Ebd., 1878-1880,
S. 91).Wer vollständig die Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit
begriffen hat, der kann die sogenannte strafende und belohnende Gerechtigkeit
gar nicht mehr unter den Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin
besteht, daß man jedem das Seine gibt. (Ebd., 1878-1880, S. 91-92).Der
chemische Prozeß und der Streit der Elemente, die Qual des Kranken, der
nach Genesung lechzt, sind ebensowenig Verdienste als jene Seelenkämpfe und
Notzustände, bei denen man durch verschiedene Motive hin- und hergerissen
wird, bis man sich endlich für das mächtigste entscheidet wie
man sagt (in Wahrheit aber, bis das mächtigste Motiv über uns entscheidet).
Alle diese Motive aber, so hohe Namen wir ihnen geben, sind aus denselben Wurzeln
gewachsen, in denen wir die bösen Gifte wohnend glauben; zwischen guten und
bösen Handlungen gibt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höchstens
des Grades. Gute Handlungen sind sublimierte böse; böse Handlungen sind
vergröberte, verdummte gute. Das einzige Verlangen des Individuums nach Selbstgenuß
(samt der Furcht, desselben verlustig zu gehen) befriedigt sich unter allen Umständen,
der Mensch mag handeln, wie er kann, das heißt wie er muß: sei es
in Taten der Eitelkeit, Rache, Lust, Nützlichkeit, Bosheit, List, sei es
in Taten der Aufopferung, des Mitleids, der Erkenntnis. (Ebd., 1878-1880,
S. 93-94).Alles auf dem Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar,
schwankend, alles ist im Flusse, es ist wahr; aber alles ist auch im
Strome: nach einem Ziele hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrtümlichen
Schätzens, Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluß
der wachsenden Erkenntnis wird sie schwächer werden: eine neue Gewohnheit,
die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens, Überschauens, pflanzt sich
allmählich in uns auf demselben Boden an und wird in Tausenden von Jahren
vielleicht mächtig genug sein, um der Menschheit die Kraft zu geben, den
weisen, unschuldigen (unschuldbewußten) Menschen ebenso regelmäßig
hervorzubringen, wie sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewußten
Menschen das heißt die notwendige Vorstufe, nicht den Gegensatz
von jenem hervorbringt. (Ebd., 1878-1880, S. 95).Der
consensus gentium und überhaupt hominum kann billigerweise
nur einer Narrheit gelten. Dagegen gibt es einen consensus omnium sapientium
gar nicht, in bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der
Goethesche Vers spricht: Alle die Weisesten aller der Zeiten // Lächeln und
winken und stimmen mit ein: // Töricht, auf Bessrung der Toren zu harren!
// Kinder der Klugheit, o habet die Narren // Eben zum Narren auch, wie sichs
gehört! // Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet:
der consensus sapientium besteht darin, daß der consensus gentium
einer Narrheit gilt. (Ebd., 1878-1880, S. 95).
Das religiöse Leben
Das
Ungriechische im Christentum. Die Griechen sahen über sich die
homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte,
wie die Juden. Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der gelungensten Exemplare
ihrer eignen Kaste, also ein Ideal, keinen Gegensatz des eignen Wesens. Man fühlt
sich miteinander verwandt, es besteht ein gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie.
Der Mensch denkt vornehm von sich, wenn er sich solche Götter gibt, und stellt
sich in ein Verhältnis, wie das des niedrigeren Adels zum höheren ist;
während die italischen Völker eine recht Bauern-Religion haben, mit
fortwährender Ängstlichkeit gegen böse und launische Machtinhaber
und Quälgeister. Wo die olympischen Götter zurücktraten, da war
auch das griechische Leben düsterer und ängstlicher. Das Christentum
dagegen zerdrückte und zerbrach den Menschen vollständig und versenkte
ihn wie in tiefen Schlamm: in das Gefühl völliger Verworfenheit ließ
es dann mit einem Male den Glanz eines göttlichen Erbarmens hineinleuchten,
so daß der Überraschte, durch Gnade Betäubte, einen Schrei des
Entzückens ausstieß und für einen Augenblick den ganzen Himmel
in sich zu tragen glaubte. Auf diesen krankhaften Exzeß des Gefühls,
auf die dazu nötige tiefe Kopf- und Herz-Korruption wirken alle psychologischen
Empfindungen des Christentums hin: es will vernichten, zerbrechen betäuben,
berauschen, es will nur eins nicht: das Maß, und deshalb ist es im
tiefsten Verstande barbarisch, asiatisch, unvornehm, ungriechisch. (Ebd.,
1878-1880, S.106-107).Nie hat ein Mensch etwas
getan, das allein für andere und ohne jeden persönlichen Beweggrund
getan wäre; ja wie sollte er etwas tun können, das ohne Bezug zu ihm
wäre .... (Ebd., 1878-1880, S. 115).Sollte
aber ein Mensch wünschen, ganz wie jener Gott Liebe zu sein, alles für
andere, nichts für sich zu tun, zu wollen, so ist letzteres schon deshalb
unmöglich, weil er sehr viel für sich tun muß, um überhaupt
anderen etwas zuliebe tun zu können. Sodann setzt es voraus, daß der
andre Egoist genug ist, um jene Opfer, jenes Leben für ihn, immer und immer
wieder anzunehmen: so daß die Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse
an dem Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen Egoisten haben,
und die höchste Moralität, um bestehn zu können, förmlich
die Existenz der Unmoralität erzwingen müßte (wodurch sie
sich freilich selber aufheben würde). (Ebd., 1878-1880, S. 115-116).In
jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Teil von sich als Gott an und hat
dazu nötig, den übrigen Teil zu diabolisieren. (Ebd., 1878-1880,
S. 119).Wie in der antiken Welt eine unermeßliche
Kraft von Geist und Erfindungsgabe verwendet worden ist, um die Freude am Leben
durch festliche Kulte zu mehren: so ist in der Zeit des Christentums ebenfalls
unermeßlich viel Geist einem anderen Streben geopfert worden: der Mensch
sollte auf alle Weise sich sündhaft fühlen .... (Ebd., 1878-1880,
S. 124).Ebenfalls habe ich abgesehn von den indischen
Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen dem christlichen Heiligen und
dem griechischen Philosophen stehen und insofern keinen reinen Typus darstellen:
die Erkenntnis, die Wissenschaft soweit es eine solche gab , die
Erhebung über die anderen Menschen durch die logische Zucht und Schulung
des Denkens wurde bei den Buddhisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit ebenso
gefordert, wie dieselben Eigenschaften in der christlichen Welt, als Kennzeichen
der Unheiligkeit, abgelehnt und verketzert werden. (Ebd., 1878-1880, S.
128).
Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller
Antithese.
Die Antithese ist die enge Pforte, durch welche sich am liebsten der Irrtum
zur Wahrheit schleicht. (Ebd., 1878-1880, S. 150).Und sagt
im Grunde Goethes gereifte künstlerische Einsicht aus der zweiten Hälfte
seines Lebens nicht genau dasselbe? jene Einsicht, mit welcher er einen
solchen Vorsprung über eine Reihe von Generationen gewann, daß man
im großen ganzen behaupten kann, Goethe habe noch gar nicht gewirkt und
seine Zeit werde erst kommen? Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn
der poetischen Revolution festhielt, gerade weil er am gründlichsten auskostete,
was alles indirekt durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden, Aussichten,
Hilfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der Kunst ausgegraben worden
war, so wiegt seine spätere Umwandlung und Bekehrung so viel: sie bedeutet,
daß er das tiefste Verlangen empfand, die Tradition der Kunst wiederzugewinnen
und den stehengebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels
mit der Phantasie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten,
wenn die Kraft des Arms sich viel zu schwach erweisen sollte, zu bauen, wo so
ungeheure Gewalten schon zum Zerstören nötig waren. So lebte er in der
Kunst als in der Erinnerung an die wahre Kunst: sein Dichten war zum Hilfsmittel
der Erinnerung, des Verständnisses alter, längst entrückter Kunstzeiten
geworden. Seine Forderungen waren zwar in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeitalters
unerfüllbar; der Schmerz darüber wurde aber reichlich durch die Freude
aufgewogen, daß sie einmal erfüllt gewesen sind und daß
auch wir noch an dieser Erfüllung teilnehmen können. Nicht Individuen,
sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine
allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Lokalfarben zum fast Unsichtbaren
abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige Empfinden und die
Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt,
ihrer reizenden, spannenden, pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem
andern als dem artistischen Sinn wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe
und Charaktere, sondern die alten, längst gewohnten in immerfort währender
Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe später
verstand, so wie sie die Griechen ... übten. (Ebd., 1878-1880,
S. 169-170).Was von der Kunst übrigbleibt. Es
ist wahr, bei gewissen metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst viel größeren
Wert, zum Beispiel wenn der Glaube gilt, daß der Charakter unveränderlich
sei und das Wesen der Welt sich in allen Charakteren und Handlungen fortwährend
ausspreche: da wird das Werk des Künstlers zum Bild des ewig Beharrenden,
während für unsere Auffassung der Künstler seinem Bilde immer nur
Gültigkeit für eine Zeit geben kann, weil der Mensch im ganzen geworden
und wandelbar und selbst der einzelne Mensch nichts Festes und Beharrendes ist.
Ebenso steht es bei einer andern metaphysischen Voraussetzung: gesetzt,
daß unsere sichtbare Welt nur Erscheinung wäre, wie es die Metaphysiker
annehmen, so käme die Kunst der wirklichen Welt ziemlich nahe zu stehen:
denn zwischen der Erscheinungswelt und der Traumbild-Welt des Künstlers gäbe
es dann gar zuviel Ähnliches; und die übrigbleibende Verschiedenheit
stellte sogar die Bedeutung der Kunst höher als die Bedeutung der Natur,
weil die Kunst das Gleichförmige, die Typen und Vorbilder der Natur darstellte.
Jene Voraussetzungen sind aber falsch: welche Stellung bleibt nach dieser
Erkenntnis jetzt noch der Kunst? Vor allem hat sie durch Jahrtausende hindurch
gelehrt, mit Interesse und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere
Empfindung so weit zu bringen, daß wir endlich rufen: »wie es auch
sei, das Leben, es ist gut!« Diese Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben
und das Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als
Gegenstand gesetzmäßiger Entwicklung anzusehen, diese Lehre
ist in uns hineingewachsen, sie kommt jetzt als allgewaltiges Bedürfnis des
Erkennens wieder ans Licht. Man könnte die Kunst aufgeben, würde aber
damit nicht die von ihr gelernte Fähigkeit einbüßen: ebenso wie
man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen Gemüts-Steigerungen
und Erhebungen. Wie die bildende Kunst und die Musik der Maßstab des durch
die Religion wirklich erworbenen und hinzugewonnenen Gefühls-Reichtums ist,
so würde nach einem Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität
und Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern. Der wissenschaftliche
Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen. (Ebd., 1878-1880,
S. 170-171).Abendröte der Kunst. Wie man sich
im Alter der Jugend erinnert und Gedächtnisfeste feiert, so steht bald die
Menschheit zur Kunst im Verhältnis einer rührenden Erinnerung
an die Freuden der Jugend. Vielleicht daß niemals früher die Kunst
so tief und seelenvoll erfaßt wurde wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe
zu umspielen scheint. Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche
an einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter Wehmut und
Tränen darüber, daß immer mehr die ausländische Barbarei
über ihre mitgebrachten Sitten triumphiere; niemals hat man wohl das Hellenische
so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher Wollust geschlürft
als unter diesen absterbenden Hellenen. Den Künstler wird man bald als ein
herrliches Überbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an
dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten hing, Ehren
erweisen, wie wir sie nicht gleich unseresgleichen gönnen. Das
Beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu
denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne
ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet
noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen. (Ebd., 1878-1880, S.
171).
Anzeichen höherer und niederer Kultur
Veredelung
durch Entartung. Aus der Geschichte ist zu lernen, daß der Stamm
eines Volkes sich am besten erhält, in dem die meisten Menschen lebendigen
Gemeinsinn infolge der Gleichheit ihrer gewohnten und undiskutierbaren Grundsätze,
also infolge ihres gemeinsamen Glaubens haben. Hier erstarkt die gute, tüchtige
Sitte, hier wird die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit
schon als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen. Die Gefahr dieser starken,
auf gleichartige, charaktervolle Individuen gegründeten Gemeinwesen ist die
allmählich durch Vererbung gesteigerte Verdummung, welche nun einmal aller
Stabilität wie ihr Schatten folgt. Es sind die ungebundeneren, viel unsichereren
und moralisch-schwächeren Individuen, an denen das geistige Fortschreiten
in solchen Gemeinwesen hängt: es sind die Menschen, die Neues und überhaupt
vielerlei versuchen. Unzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche wegen,
ohne sehr ersichtliche Wirkung zugrunde; aber im allgemeinen, zumal wenn sie Nachkommen
haben, lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eines
Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle
wird dem gesamten Wesen etwas Neues gleichsam inokuliert; seine Kraft im ganzen
muß aber stark genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich
zu assimilieren. Die abartenden Naturen sind überall da von höchster
Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll. Jedem Fortschritt im großen
muß eine teilweise Schwächung vorhergehen. Die stärksten Naturen
halten den Typus fest, die schwächeren helfen ihn fortbilden.
Etwas Ähnliches ergibt sich für den einzelnen Menschen; selten ist eine
Entartung, eine Verstümmelung, selbst ein Laster und überhaupt eine
körperliche oder sittliche Einbuße ohne einen Vorteil auf einer andern
Seite. Der kränkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht, inmitten eines kriegerischen
und unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, für sich zu sein und dadurch
ruhiger und weiser zu werden, der Einäugige wird ein stärkeres Auge
haben, der Blinde wird tiefer ins Innere schauen und jedenfalls schärfer
hören. Insofern scheint mir der berühmte Kampf ums Dasein nicht der
einzige Gesichtspunkt zu sein, aus dem das Fortschreiten oder Stärkerwerden
eines Menschen, einer Rasse erklärt werden kann. Vielmehr muß zweierlei
zusammenkommen: einmal die Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister
im Glauben und Gemeingefühl; sodann die Möglichkeit, zu höheren
Zielen zu gelangen, dadurch, daß entartende Naturen und, infolge derselben,
teilweise Schwächungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade
die schwächere Natur, als die zartere und feinere, macht alles Fortschreiten
überhaupt möglich. Ein Volk, das irgendwo anbröckelt und schwach
wird, aber im ganzen noch stark und gesund ist, vermag die Infektion des Neuen
aufzunehmen und sich zum Vorteil einzuverleiben. Bei dem einzelnen Menschen lautet
die Aufgabe der Erziehung so: ihn so fest und sicher hinzustellen, daß er
als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat
der Erzieher ihm Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm
schlägt, zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bedürfnis entstanden
sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles inokuliert
werden. Seine gesamte Natur wird es in sich hineinnehmen und später, in ihren
Früchten, die Veredelung spüren lassen. Was den Staat betrifft,
so sagt Macchiavelli, daß »die Form der Regierungen von sehr geringer
Bedeutung ist, obgleich halbgebildete Leute anders denken. Das große Ziel
der Staatskunst sollte Dauer sein, welche alles andere aufwiegt, indem
sie weit wertvoller ist als Freiheit.« Nur bei sicher begründeter und
verbürgter größter Dauer ist stetige Entwicklung und veredelnde
Inokulation überhaupt möglich. Freilich wird gewöhnlich die gefährliche
Genossin aller Dauer, die Autorität, sich dagegen wehren (Ebd., 1878-1880,
S. 172-174).Freigeist ein relativer Begriff. Man
nennt den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner
Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten
erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel; diese werfen
ihm vor, daß seine freien Grundsätze ihren Ursprung entweder in der
Sucht aufzufallen haben, oder gar auf freie Handlungen, das heißt auf solche,
welche mit der gebundenen Moral unvereinbar sind, schließen lassen. Bisweilen
sagt man auch, diese oder jene freien Grundsätze seien aus Verschrobenheit
und Überspanntheit des Kopfes herzuleiten; doch spricht so nur die Bosheit,
welche selber an das nicht glaubt, was sie sagt, aber damit schaden will: denn
das Zeugnis für die größere Güte und Schärfe seines
Intellekts ist dem Freigeist gewöhnlich ins Gesicht geschrieben, so lesbar,
daß es die gebundenen Geister gut genug verstehen. Aber die beiden andern
Ableitungen der Freigeisterei sind redlich gemeint; in der Tat entstehen auch
viele Freigeister auf die eine oder die andere Art. Deshalb könnten aber
die Sätze, zu denen sie auf jenen Wegen gelangten, doch wahrer und zuverlässiger
sein als die der gebundenen Geister. Bei der Erkenntnis der Wahrheit kommt es
darauf an, daß man sie hat, nicht darauf, aus welchem Antriebe man sie gesucht,
auf welchem Wege man sie gefunden hat. Haben die Freigeister recht, so haben die
gebundenen Geister unrecht, gleichgültig, ob die ersteren aus Unmoralität
zur Wahrheit gekommen sind, die anderen aus Moralität bisher an der Unwahrheit
festgehalten haben. Übrigens gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes,
daß er richtigere Ansichten hat, sondern vielmehr, daß er sich von
dem Herkömmlichen gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Mißerfolg.
Für gewöhnlich wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist
der Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Gründe, die anderen
Glauben. (Ebd., 1878-1880, S. 174-175).Herkunft des Glaubens.
Der gebundene Geist nimmt seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern
aus Gewöhnung; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die Einsicht in
die verschiedenen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte; er
ist Engländer, nicht weil er sich für England entschieden hat, sondern
er fand das Christentum und das Engländertum vor und nahm sie an ohne Gründe,
wie jemand, der in einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird. Später,
als er Christ und Engländer war, hat er vielleicht auch einige Gründe
zugunsten seiner Gewöhnung ausfindig gemacht; man mag diese Gründe umwerfen,
damit wirft man ihn in seiner ganzen Stellung nicht um. Man nötige zum Beispiel
einen gebundenen Geist, seine Gründe gegen die Bigamie vorzubringen, dann
wird man erfahren, ob sein heiliger Eifer für die Monogamie auf Gründen
oder auf Angewöhnung beruht. Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne
Gründe nennt man Glauben. (Ebd., 1878-1880, S. 175).Aus
den Folgen auf Grund und Ungrund zurückgeschlossen. Alle Staaten
und Ordnungen der Gesellschaft: die Stände, die Ehe, die Erziehung, das Recht,
alles dies hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben der gebundenen Geister
an sie also in der Abwesenheit der Gründe, mindestens in der Abwehr
des Fragens nach Gründen. Das wollen die gebundenen Geister nicht gern zugeben
und sie fühlen wohl, daß es ein pudendum ist. Das Christentum, das
sehr unschuldig in seinen intellektuellen Einfällen war, merkte von diesem
pudendum nichts, forderte Glauben und nichts als Glauben und wies das Verlangen
nach Gründen mit Leidenschaft ab; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens hin:
ihr werdet den Vorteil des Glaubens schon spüren, deutete es an, ihr sollt
durch ihn selig werden. Tatsächlich verfährt der Staat ebenso, und jeder
Vater erzieht in gleicher Weise seinen Sohn: halte dies nur für wahr, sagt
er, du wirst spüren, wie gut dies tut. Dies bedeutet aber, daß aus
dem persönlichen Nutzen, den eine Meinung einträgt, ihre Wahrheit erwiesen
werden soll, die Zuträglichkeit einer Lehre soll für die intellektuelle
Sicherheit und Begründetheit Gewähr leisten. Es ist dies so, wie wenn
der Angeklagte vor Gericht spräche: mein Verteidiger sagt die ganze Wahrheit,
denn seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde freigesprochen.
Weil die gebundenen Geister ihre Grundsätze ihres Nutzens wegen haben, so
vermuten sie auch beim Freigeist, daß er mit seinen Ansichten ebenfalls
seinen Nutzen suche und nur das für wahr halte, was ihm gerade frommt. Da
ihm aber das Entgegengesetzte von dem zu nützen scheint, was seinen Landes-
oder Standesgenossen nützt, so nehmen diese an, daß seine Grundsätze
ihnen gefährlich sind; sie sagen oder fühlen: er darf nicht recht
haben, denn er ist uns schädlich. (Ebd., 1878-1880, S. 175-176).Der
starke, gute Charakter. Die Gebundenheit der Ansichten, durch Gewöhnung
zum Instinkt geworden, führt zu dem, was man Charakterstärke nennt.
Wenn jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Motiven handelt, so erlangen
seine Handlungen eine große Energie; stehen diese Handlungen im Einklange
mit den Grundsätzen der gebundenen Geister, so werden sie anerkannt und erzeugen
nebenbei in dem, der sie tut, die Empfindung des guten Gewissens. Wenige Motive,
energisches Handeln und gutes Gewissen machen das aus, was man Charakterstärke
nennt. Dem Charakterstarken fehlt die Kenntnis der vielen Möglichkeiten und
Richtungen des Handelns; sein Intellekt ist unfrei, gebunden, weil er ihm in einem
gegebenen Falle vielleicht nur zwei Möglichkeiten zeigt; zwischen diesen
muß er jetzt, gemäß seiner ganzen Natur, mit Notwendigkeit wählen,
und er tut dies leicht und schnell, weil er nicht zwischen fünfzig Möglichkeiten
zu wählen hat. Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen,
indem sie ihm die geringste Zahl von Möglichkeiten vor Augen stellt. Das
Individuum wird von seinen Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas Neues sei,
aber eine Wiederholung werden solle. Erscheint der Mensch zunächst
als etwas Unbekanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas Bekanntem, Dagewesenem
gemacht werden. Einen guten Charakter nennt man an einem Kinde das Sichtbarwerden
der Gebundenheit durch das Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen
Geister stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemeinsinn; auf der Grundlage
dieses Gemeinsinns aber wird es später seinem Staate oder Stande nützlich.
(Ebd., 1878-1880, S. 176-177).Maß der Dinge bei den gebundenen
Geistern. Von vier Gattungen der Dinge sagen die gebundenen Geister,
sie seien im Rechte. Erstens: alle Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht; zweitens:
alle Dinge, welche uns nicht lästig fallen, sind im Recht; drittens: alle
Dinge, welche uns Vorteil bringen, sind im Recht; viertens: alle Dinge, für
welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht. Letzteres erklärt zum Beispiel,
weshalb ein Krieg, der wider Willen des Volkes begonnen wurde, mit Begeisterung
fortgeführt wird, sobald erst Opfer gebracht sind. Die Freigeister,
welche ihre Sache vor dem Forum der gebundenen Geister führen, haben nachzuweisen,
daß es immer Freigeister gegeben hat, also daß die Freigeisterei Dauer
hat, sodann, daß sie nicht lästig fallen wollen, und endlich, daß
sie den gebundenen Geistern im ganzen Vorteil bringen; aber weil sie von diesem
letzten die gebundenen Geister nicht überzeugen können, nützt es
ihnen nichts, den ersten und zweiten Punkt bewiesen zu haben. (Ebd., 1878-1880,
S. 177-178).Verglichen mit dem, welcher das Herkommen auf seiner
Seite hat und keine Gründe für sein Handeln braucht, ist der Freigeist
immer schwach, namentlich im Handeln; denn er kennt zu viele Motive und Gesichtspunkte
und hat deshalb eine unsichere, ungeübte Hand. Welche Mittel gibt es nun,
um ihn doch verhältnismäßig stark zu machen, so daß
er sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos zugrunde geht? Wie entsteht
der starke Geist)? Es ist dies in einem einzelnen Falle die Frage nach der Erzeugung
des Genius. Woher kommt die Energie, die unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit welcher
der einzelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle Erkenntnis der
Welt zu erwerben trachtet? (Ebd., 1878-1880, S. 178).Es
wird mit jener Höhe vorbei sein, wenn diese Wildheit und Energie nicht mehr
großgezüchtet werden. Die Menschheit kommt vielleicht auf der Mitte
ihres Weges, in der mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele näher
als am Ende. Es könnten Kräfte, durch welche zum Beispiel die Kunst
bedingt ist, geradezu aussterben .... (Ebd., 1878-1880, S. 180).Genius
und idealer Staat in Widerspruch. Die Sozialisten begehren für
möglichst viele ein Wohlleben herzustellen. Wenn die dauernde Heimat dieses
Wohllebens, der vollkommene Staat, wirklich erreicht wäre, so würde
durch dieses Wohlleben der Erdboden, aus dem der große Intellekt und überhaupt
das mächtige Individuum wächst, zerstört sein: ich meine die starke
Energie. Die Menschheit würde zu matt geworden sein, wenn dieser Staat erreicht
ist, um den Genius noch erzeugen zu können. Müßte man somit nicht
wünschen, daß das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte und daß
immer von neuem wieder wilde Kräfte und Energien hervorgerufen werden? Nun
will das warme, mitfühlende Herz gerade die Beseitigung jenes gewaltsamen
und wilden Charakters, und das wärmste Herz, das man sich denken kann, würde
eben darnach am leidenschaftlichsten verlangen: während doch gerade seine
Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Charakter des Lebens ihr Feuer,
ihre Wärme, ja ihre Existenz genommen hat; das wärmste Herz will also
Beseitigung seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst, das heißt doch:
es will etwas Unlogisches, es ist nicht intelligent. Die höchste Intelligenz
und das wärmste Herz können nicht in einer Person beisammen sein, und
der Weise, welcher über das Leben das Urteil spricht, stellt sich auch über
die Güte und betrachtet diese nur als etwas, das bei der Gesamtrechnung des
Lebens mit abzuschätzen ist. Der Weise muß jenen ausschweifenden Wünschen
der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an dem Fortleben seines Typus
und an dem endlichen Entstehen des höchsten Intellektes gelegen ist; mindestens
wird er der Begründung des »vollkommenen Staates« nicht förderlich
sein, insofern in ihm nur ermattete Individuen Platz haben. Christus dagegen,
den wir uns einmal als das wärmste Herz denken wollen, förderte die
Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der geistig Armen und hielt
die Erzeugung des größten Intellektes auf: und dies war konsequent.
Sein Gegenbild, der vollkommene Weise dies darf man wohl vorhersagen
wird ebenso notwendig der Erzeugung eines Christus hinderlich sein. Der
Staat ist eine kluge Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegeneinander: übertreibt
man seine Veredelung, so wird zuletzt das Individuum durch ihn geschwächt,
ja aufgelöst also der ursprüngliche Zweck des Staates am gründlichsten
vereitelt. (Ebd., 1878-1880, S. 181-182).Zukunft der Wissenschaft.
Die Wissenschaft gibt dem, welcher in ihr arbeitet und sucht, viel Vergnügen,
dem, welcher ihre Ergebnisse lernt, sehr wenig. Da allmählich aber alle wichtigen
Wahrheiten der Wissenschaft alltäglich und gemein werden müssen, so
hört auch dieses wenige Vergnügen auf: so wie wir beim Lernen des so
bewundernswürdigen Einmaleins längst aufgehört haben, uns zu freuen.
Wenn nun die Wissenschaft immer weniger Freude durch sich macht und immer mehr
Freude, durch Verdächtigung der tröstlichen Metaphysik, Religion und
Kunst, nimmt: so verarmt jene größte Quelle der Lust, welcher die Menschheit
fast ihr gesamtes Menschentum verdankt. Deshalb muß eine höhere Kultur
dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft,
sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: nebeneinander liegend, ohne Verwirrung,
trennbar, abschließbar; es ist dies eine Forderung der Gesundheit. Im einen
Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten,
Leidenschaften muß geheizt werden, mit Hilfe der erkennenden Wissenschaft
muß den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Überheizung
vorgebeugt werden. Wird dieser Forderung der höheren Kultur nicht
genügt, so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwicklung fast mit
Sicherheit vorherzusagen: das Interesse am Wahren hört auf, je weniger es
Lust gewährt; die Illusion, der Irrtum, die Phantastik erkämpfen sich
Schritt um Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren ehemals behaupteten
Boden: der Ruin der Wissenschaften, das Zurücksinken in Barbarei ist die
nächste Folge; von neuem muß die Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe
zu weben, nachdem sie es, gleich Penelope, des nachts zerstört hat. Aber
wer bürgt uns dafür, daß sie immer wieder die Kraft dazu findet?
(Ebd., 1878-1880, S. 192-193).Die Lust am Erkennen.
Weshalb ist das Erkennen, das Element des Forschers und Philosophen, mit Lust
verknüpft? Erstens und vor allem, weil man sich dabei seiner Kraft bewußt
wird, also aus demselben Grunde, aus dem gymnastische Übungen auch ohne Zuschauer
lustvoll sind. Zweitens, weil man, im Verlauf der Erkenntnis, über ältere
Vorstellungen und deren Vertreter hinauskommt, Sieger wird oder wenigstens es
zu sein glaubt. Drittens, weil wir uns durch eine noch so kleine neue Erkenntnis
über alle erhaben und uns als die einzigen fühlen, welche hierin das
Richtige wissen. Diese drei Gründe zur Lust sind die wichtigsten, doch gibt
es, je nach der Natur des Erkennenden, noch viele Nebengründe. Ein
nicht unbeträchtliches Verzeichnis von solchen gibt, an einer Stelle, wo
man es nicht suchen würde, meine paränetische Schrift über Schopenhauer:
mit deren Aufstellungen sich jeder erfahrene Diener der Erkenntnis zufrieden geben
kann, sei es auch, daß er den ironischen Anflug, der auf jenen Seiten zu
liegen scheint, wegwünschen wird. Denn wenn es wahr ist, daß zum Entstehen
des Gelehrten »eine Menge sehr menschlicher Triebe und Triebchen zusammengegossen
werden muß«, daß der Gelehrte zwar ein sehr edles, aber kein
reines Metall ist und »aus einem verwickelten Geflecht sehr verschiedener
Antriebe und Reize besteht«: so gilt doch dasselbe ebenfalls von Entstehung
und Wesen des Künstlers, Philosophen, moralischen Genies und wie die
in jener Schrift glorifizierten großen Namen lauten. Alles Menschliche verdient
in Hinsicht auf seine Entstehung die ironische Betrachtung: deshalb ist die Ironie
in der Welt so überflüssig. (Ebd., 1878-1880, S. 193-194).Das
Können, nicht das Wissen, durch die Wissenschaft geübt. Der
Wert davon, daß man zeitweilig eine strenge Wissenschaft streng betrieben
hat, beruht nicht gerade auf deren Ergebnissen: denn diese werden, im Verhältnis
zum Meere des Wissenswerten, ein verschwindend kleiner Tropfen sein. Aber es ergibt
einen Zuwachs an Energie, an Schlußvermögen, an Zähigkeit der
Ausdauer; man hat gelernt, einen Zweck zweckmäßig zu erreichen.
Insofern ist es sehr schätzbar, in Hinsicht auf alles, was man später
treibt, einmal ein wissenschaftlicher Mensch gewesen zu sein. (Ebd., 1878-1880,
S. 195-196).Ein Ausschnitt unseres Selbst als künstlerisches
Objekt. Es ist ein Zeichen überlegener Kultur, gewisse Phasen
der Entwicklung, welche die geringeren Menschen fast gedankenlos durchleben und
von der Tafel ihrer Seele dann wegwischen, mit Bewußtsein festzuhalten und
ein getreues Bild davon zu entwerfen: denn dies ist die höhere Gattung der
Malerkunst, welche nur wenige verstehen. Dazu wird es nötig, jene Phasen
künstlich zu isolieren. Die historischen Studien bilden die Befähigung
zu diesem Malertum aus, denn sie fordern uns fortwährend auf, bei Anlaß
eines Stückes Geschichte, eines Volkes oder Menschenlebens uns einen
ganz bestimmten Horizont von Gedanken, eine bestimmte Stärke von Empfindungen,
das Vorwalten dieser, das Zurücktreten jener vorzustellen. Darin, daß
man solche Gedanken- und Gefühlssysteme aus gegebenen Anlässen schnell
rekonstruieren kann, wie den Eindruck eines Tempels aus einigen zufällig
stehengebliebenen Säulen und Mauerresten, besteht der historische Sinn. Das
nächste Ergebnis desselben ist, daß wir unsere Mitmenschen als ganz
bestimmte solche Systeme und Vertreter verschiedener Kulturen verstehen, das heißt
als notwendig, aber als veränderlich. Und wiederum: daß wir in unserer
eigenen Entwicklung Stücke heraustrennen und selbständig hinstellen
können. (Ebd., 1878-1880, S. 209).Zyniker und Epikureer.
Der Zyniker erkennt den Zusammenhang zwischen den vermehrten und stärkeren
Schmerzen des höher kultivierten Menschen und der Fülle von Bedürfnissen;
er begreift also, daß die Menge von Meinungen über das Schöne,
Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebensosehr reiche Genuß, aber
auch Unlustquellen entspringen lassen mußten. Gemäß dieser Einsicht
bildet er sich zurück, indem er viele dieser Meinungen aufgibt und sich gewissen
Anforderungen der Kultur entzieht; damit gewinnt er ein Gefühl der Freiheit
und der Kräftigung, und allmählich, wenn die Gewohnheit ihm seine Lebensweise
erträglich macht, hat er in der Tat seltnere und schwächere Unlustempfindungen
als die kultivierten Menschen und nähert sich dem Haustier an; überdies
empfindet er alles im Reiz des Kontrastes und schimpfen kann er ebenfalls
nach Herzenslust: so daß er dadurch wieder hoch über die Empfindungswelt
des Tieres hinauskommt. Der Epikureer hat denselben Gesichtspunkt wie der
Zyniker; zwischen ihm und jenem ist gewöhnlich nur ein Unterschied des Temperamentes.
Sodann benutzt der Epikureer seine höhere Kultur, um sich von den herrschenden
Meinungen unabhängig zu machen; er erhebt sich über dieselben, während
der Zyniker nur in der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in windstillen, wohlgeschützten,
halbdunklen Gängen, während über ihm, im Winde, die Wipfel der
Bäume brausen und ihm verraten, wie heftig bewegt da draußen die Welt
ist. Der Zyniker dagegen geht gleichsam nackt draußen im Windeswehen umher
und härtet sich bis zur Gefühllosigkeit ab. (Ebd., 1878-1880,
S. 209-210).Mikrokosmus und Makrokosmus der Kultur.
Die besten Entdeckungen über die Kultur macht der Mensch in sich selbst,
wenn er darin zwei heterogene Mächte waltend findet. Gesetzt, es lebe einer
ebensosehr in der Liebe zur bildenden Kunst oder zur Musik, als er vom Geiste
der Wissenschaft fortgerissen werde, und er sehe es als unmöglich an, diesen
Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung der anderen Macht
aufzuheben: so bleibt ihm nur übrig, ein so großes Gebäude der
Kultur aus sich zu gestalten, daß jene beiden Mächte, wenn auch an
verschiedenen Enden desselben, in ihm wohnen können, während zwischen
ihnen versöhnende Mittelmächte, mit überwiegender Kraft, um nötigenfalls
den ausbrechenden Streit zu schlichten, ihre Herberge haben. Ein solches Gebäude
der Kultur im einzelnen Individuum wird aber die größte Ähnlichkeit
mit dem Kulturbau in ganzen Zeitperioden haben und eine fortgesetzte analogische
Belehrung über denselben abgeben. Denn überall, wo sich die große
Architektur der Kultur entfaltet hat, war ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden
Mächte zur Eintracht vermöge einer übermächtigen Ansammlung
der weniger unverträglichen übrigen Mächte zu zwingen, ohne sie
des halb zu unterdrücken und in Fesseln zu schlagen. (Ebd., 1878-1880,
S. 210-211).Von der Erleichterung des Lebens. Ein
Hauptmittel, um sich das Leben zu erleichtern, ist das Idealisieren aller Vorgänge
desselben; man soll sich aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisieren
heißt. Der Maler verlangt, daß der Zuschauer nicht zu genau, zu scharf
zusehe, er zwingt ihn in eine gewisse Ferne zurück, damit er von dort aus
betrachte; er ist genötigt, eine ganz bestimmte Entfernung des Betrachters
vom Bilde vorauszusetzen; ja er muß sogar ein ebenso bestimmtes Maß
von Schärfe des Auges bei seinem Betrachter annehmen! in solchen Dingen darf
er durchaus nicht schwanken. Jeder also, der sein Leben idealisieren will, muß
es nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse Entfernung
zurückbannen. Dieses Kunststück verstand zum Beispiel Goethe.
(Ebd., 1878-1880, S. 212).Erschwerung als Erleichterung und
umgekehrt. Vieles, was auf gewissen Stufen des Menschen Erschwerung
des Lebens ist, dient einer höheren Stufe als Erleichterung, weil solche
Menschen stärkere Erschwerungen des Lebens kennengelernt haben. Ebenso kommt
das Umgekehrte vor: so hat zum Beispiel die Religion ein doppeltes Gesicht, je
nachdem ein Mensch zu ihr hinaufblickt, um von ihr sich seine Last und Not abnehmen
zu lassen, oder auf sie hinabsieht, wie auf die Fessel, welche ihm angelegt ist,
damit er nicht zu hoch in die Lüfte steige. (Ebd., 1878-1880, S. 212-213).Hauptmangel
der tätigen Menschen. Den Tätigen fehlt gewöhnlich die
höhere Tätigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte,
Kaufleute, Gelehrte, das heißt als Gattungswesen tätig, aber nicht
als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht sind
sie faul. Es ist das Unglück der Tätigen, daß ihre Tätigkeit
fast immer ein wenig unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden
Bankier nach dem Zweck seiner rastlosen Tätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig.
Die Tätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäß der Dummheit der
Mechanik. Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch,
in Sklaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich
hat, ist ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann,
Beamter, Gelehrter. (Ebd., 1878-1880, S. 214).Zugunsten
der Müßigen. Zum Zeichen dafür, daß die Schätzung
des beschaulichen Lebens abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt mit den
tätigen Menschen in einer Art von hastigem Genusse, so daß sie also
diese Art, zu genießen, höherzuschätzen scheinen als die, welche
ihnen eigentlich zukommt und welche in der Tat viel mehr Genuß ist. Die
Gelehrten schämen sich des otium. Es ist aber ein edel Ding um Muße
und Müßiggehen. Wenn Müßiggang wirklich der Anfang
aller Laster ist, so befindet er sich also wenigstens in der nächsten Nähe
aller Tugenden; der müßige Mensch ist immer noch ein besserer Mensch
als der tätige. Ihr meint doch nicht, daß ich mit Muße
und Müßiggehen auf euch ziele, ihr Faultiere? (Ebd., 1878-1880,
S. 214-215).Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in
eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt
die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen,
welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muß, das beschauliche Element
in großem Maße zu verstärken. Doch hat schon jeder einzelne,
welcher in Herz und Kopf ruhig und stetig ist, das Recht zu glauben, daß
er nicht nur ein gutes Temperament, sondern eine allgemein nützliche Tugend
besitze und durch die Bewahrung dieser Tugend sogar eine höhere Aufgabe erfülle.
(Ebd., 1878-1880, S. 215).Inwiefern der Tätige faul ist.
Ich glaube, daß jeder über jedes Ding, über welches
Meinungen möglich sind, eine eigene Meinung haben muß, weil er selber
ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu allen anderen Dingen eine neue, nie
dagewesene Stellung einnimmt. Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele des
Tätigen liegt, verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eigenen Brunnen
zu schöpfen. Mit der Freiheit der Meinungen steht es wie mit der Gesundheit:
beide sind individuell, von beiden kann kein allgemeingültiger Begriff aufgestellt
werden. Das, was das eine Individuum zu seiner Gesundheit nötig hat, ist
für ein anderes schon Grund zur Erkrankung, und manche Mittel und Wege zur
Freiheit des Geistes dürfen höher entwickelten Naturen als Wege und
Mittel zur Unfreiheit gelten. (Ebd., 1878-1880, S. 215-216).Vorsicht
der freien Geister. Freigesinnte, der Erkenntnis allein lebende Menschen
werden ihr äußerliches Lebensziel, ihre endgültige Stellung zu
Gesellschaft und Staat bald erreicht finden und zum Beispiel mit einem kleinen
Amte oder einem Vermögen, das gerade zum Leben ausreicht, gerne sich zufrieden
geben; denn sie werden sich einrichten, so zu leben, daß eine große
Verwandlung der äußeren Güter, ja ein Umsturz der politischen
Ordnungen ihr Leben nicht mit umwirft. Auf alle diese Dinge verwenden sie so wenig
wie möglich an Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten Kraft und
gleichsam mit einem langen Atem in das Element des Erkennens hinabtauchen. So
können sie hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund zu sehen.
Von einem Ereignis wird ein solcher Geist gerne nur einen Zipfel nehmen,
er liebt die Dinge in der ganzen Breite und Weitschweifigkeit ihrer Falten nicht:
denn er will sich nicht in diese verwickeln. Auch er kennt die Wochentage
der Unfreiheit, der Abhängigkeit, der Dienstbarkeit. Aber von Zeit zu Zeit
muß ihm ein Sonntag der Freiheit kommen, sonst wird er das Leben nicht aushalten
Es ist wahrscheinlich, daß selbst seine Liebe zu den Menschen vorsichtig
und etwas kurzatmig sein wird, denn er will sich nur, soweit es zum Zweck der
Erkenntnis nötig ist, mit der Welt der Neigungen und der Blindheit einlassen.
Er muß darauf vertrauen, daß der Genius der Gerechtigkeit etwas für
seinen Jünger und Schützling sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen
ihn arm an Liebe nennen sollten. Es gibt in seiner Lebens- und Denkweise
einen verfeinerten Heroismus, welcher es verschmäht, sich der großen
Massen-Verehrung, wie sein gröberer Bruder es tut, anzubieten, und still
durch die Welt und aus der Welt zu gehen pflegt. Was für Labyrinthe er auch
durchwandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom zeitweilig durchgequält
hat kommt er ans Licht, so geht er hell, leicht und fast geräuschlos
seinen Gang und läßt den Sonnenschein bis in seinen Grund hinab spielen.
(Ebd., 1878-1880, S. 217-218).
Der Mensch im Verkehr
Kopien.
Nicht selten begegnet man Kopien bedeutender Menschen; und den meisten
gefallen, wie bei Gemälden so auch hier, die Kopien besser als die Originale.
(Ebd., 1878-1880, S. 220).Doppelte Art der Gleichheit.
Die Sucht nach Gleichheit kann sich so äußern, daß man entweder
alle anderen zu sich hinunterziehen möchte (durch Verkleinern, Sekretieren,
Beinstellen) oder sich mit allen hinauf (durch Anerkennen, Helfen, Freude an fremdem
Gelingen). (Ebd., 1878-1880, S. 221).Die gefährlichsten
Ärzte. Die gefährlichsten Ärzte sind die, welche es
dem geborenen Arzte als geborene Schauspieler mit vollkommener Kunst der Täuschung
nachmachen. (Ebd., 1878-1880, S. 222).Die Mitleidigen.
Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hilfreichen Naturen sind selten
zugleich die sich mitfreuenden: beim Glück der anderen haben sie nichts zu
tun, sind überflüssig, fühlen sich nicht im Besitz ihrer Überlegenheit
und zeigen deshalb leicht Mißvergnügen. (Ebd., 1878-1880, S.
224).Undank vorauszusehen. Der, welcher etwas Großes
schenkt, findet keine Dankbarkeit; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen
zuviel Last. (Ebd., 1878-1880, S. 225).In geistloser Gesellschaft.
Niemand dankt dem geistreichen Menschen die Höflichkeit, wenn er sich
einer Gesellschaft gleichstellt, in der es nicht höflich ist, Geist zu zeigen.
(Ebd., 1878-1880, S. 225).Der Parasit. Es bezeichnet
einen völligen Mangel an vornehmer Gesinnung, wenn jemand lieber in Abhängigkeit,
auf anderer Kosten leben will, um nur nicht arbeiten zu müssen, gewöhnlich
mit einer heimlichen Erbitterung gegen die, von denen er abhängt.
Eine solche Gesinnung ist viel häufiger bei Frauen als bei Männern,
auch viel verzeihlicher (aus historischen Gründen). (Ebd., 1878-1880,
S. 232-233).
Weib und Kind
Ein Blick auf den Staat
Kultur
und Kaste. Eine höhere Kultur kann allein dort entstehen, wo es
zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft gibt: die der Arbeitenden und die
der Müßigen, zu wahrer Muße Befähigten; oder mit stärkerem
Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der Frei-Arbeit. Der Gesichtspunkt
der Verteilung des Glücks ist nicht wesentlich, wenn es sich um die Erzeugung
einer höheren Kultur handelt; jedenfalls aber ist die Kaste der Müßigen
die leidensfähigere, leidendere, ihr Behagen am Dasein ist geringer, ihre
Aufgabe größer. Findet nun gar ein Austausch der beiden Kasten statt,
so, daß die stumpferen, ungeistigeren Familien und einzelnen aus der oberen
Kaste in die niedere herabgesetzt werden und wiederum die freieren Menschen aus
dieser den Zutritt zur höheren erlangen: so ist ein Zustand erreicht, über
den hinaus man nur noch das offene Meer unbestimmter Wünsche sieht.
So redet die verklingende Stimme der alten Zeit zu uns; aber wo sind noch Ohren,
sie zu hören? (Ebd., 1878-1880, S. 262-263).Gerechtigkeit
als Parteien-Lockruf. Wohl können edle (wenn auch nicht gerade
sehr einsichtsvolle) Vertreter der herrschenden Klasse sich geloben: wir wollen
die Menschen als gleich behandeln, ihnen gleiche Rechte zugestehen. Insofern ist
eine sozialistische Denkungsweise, welche auf Gerechtigkeit ruht, möglich;
aber wie gesagt nur innerhalb der herrschenden Klasse, welche in diesem Falle
die Gerechtigkeit mit Opfern und Verleugnungen übt. Dagegen Gleichheit der
Rechte fordern, wie es die Sozialisten der unterworfenen Kaste tun, ist nimmermehr
der Ausfluß der Gerechtigkeit, sondern der Begehrlichkeit. Wenn man
der Bestie blutige Fleischstücke aus der Nähe zeigt und wieder wegzieht,
bis sie endlich brüllt: meint ihr, daß dies Gebrüll Gerechtigkeit
bedeute? (Ebd., 1878-1880, S. 268).Besitz und Gerechtigkeit.
Wenn die Sozialisten nachweisen, daß die Eigentums-Verteilung in
der gegenwärtigen Menschheit die Konsequenz zahlloser Ungerechtigkeiten und
Gewaltsamkeiten ist, und in summa die Verpflichtung gegen etwas so unrecht
Begründetes ablehnen: so sehen sie nur etwas einzelnes. Die ganze Vergangenheit
der alten Kultur ist auf Gewalt, Sklaverei, Betrug, Irrtum aufgebaut; wir können
aber uns selbst, die Erben aller dieser Zustände, ja die Konkreszenzen aller
jener Vergangenheit, nicht wegdekretieren und dürfen nicht ein einzelnes
Stück herausziehn wollen. Die ungerechte Gesinnung steckt in den Seelen der
Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht besser als die Besitzenden und haben kein
moralisches Vorrecht, denn irgendwann sind ihre Vorfahren Besitzende gewesen.
Nicht gewaltsame neue Verteilungen sondern allmähliche Umschaffungen des
Sinnes tun not, die Gerechtigkeit muß in allen größer werden,
der gewalttätige Instinkt schwächer. (Ebd., 1878-1880, S. 269).Politischer
Wert der Vaterschaft. Wenn der Mensch keine Söhne hat, so hat
er kein volles Recht, über die Bedürfnisse eines einzelnen Staatswesens
mitzureden. Man muß selber mit den anderen sein Liebstes daran gewagt haben:
das erst bindet an den Staat fest; man muß das Glück seiner Nachkommen
ins Auge fassen, also vor allem Nachkommen haben, um an allen Institutionen und
deren Veränderung rechten, natürlichen Anteil zu nehmen. Die Entwicklung
der höheren Moral hängt daran, daß einer Söhne hat; dies
stimmt ihn unegoistisch, oder richtiger: es erweitert seinen Egoismus der Zeitdauer
nach und läßt ihn Ziele über seine individuelle Lebenslänge
hinaus mit Ernst verfolgen. (Ebd., 1878-1880, S. 270-271).Ahnenstolz.
Auf eine ununterbrochene Reihe guter Ahnen bis zum Vater herauf darf man
mit Recht stolz sein nicht aber auf die Reihe; denn diese hat jeder. Die
Herkunft von guten Ahnen macht den echten Geburtsadel aus; eine einzige Unterbrechung
in jener Kette, ein böser Vorfahr also, hebt den Geburtsadel auf. Man soll
jeden, welcher von seinem Adel redet, fragen: hast du keinen gewalttätigen,
habsüchtigen, ausschweifenden, boshaften, grausamen Menschen unter deinen
Vorfahren? Kann er darauf in gutem Wissen und Gewissen mit Nein antworten, so
bewerbe man sich um seine Freundschaft. (Ebd., 1878-1880, S. 271).Fürst
und Gott. Die Menschen verkehren mit ihren Fürsten vielfach in
ähnlicher Weise wie mit ihrem Gotte, wie ja vielfach auch der Fürst
der Repräsentant des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese fast
unheimliche Stimmung von Verehrung und Angst und Scham war und ist viel schwächer
geworden, aber mitunter lodert sie auf und heftet sich an mächtige Personen
überhaupt. Der Kultus des Genius ist ein Nachklang dieser Götter-Fürsten-Verehrung.
Überall, wo man sich bestrebt, einzelne Menschen in das Übermenschliche
hinaufzuheben, entsteht auch die Neigung, ganze Schichten des Volkes sich roher
und niedriger vorzustellen, als sie wirklich sind. (Ebd., 1878-1880, S.
273).Meine Utopie. In einer besseren Ordnung der
Gesellschaft wird die schwere Arbeit und Not des Lebens dem zuzumessen sein, welcher
am wenigsten durch sie leidet, also dem Stumpfsten, und so schrittweise aufwärts
bis zu dem, welcher für die höchsten sublimiertesten Gattungen des Leidens
am empfindlichsten ist und deshalb selbst noch bei der größten Erleichterung
des Lebens leidet. (Ebd., 1878-1880, S. 274).Ein Wahn
in der Lehre vom Umsturz. Es gibt politische und soziale Phantasten,
welche feurig und beredt zu einem Umsturz aller Ordnungen auffordern, in dem Glauben,
daß dann sofort das stolzeste Tempelhaus schönen Menschentums gleichsam
von selbst sich erheben werde. In diesen gefährlichen Träumen klingt
noch der Aberglaube Rousseaus nach, welcher an eine wundergleiche ursprüngliche,
aber gleichsam verschüttete Güte der menschlichen Natur glaubt
und den Institutionen der Kultur, in Gesellschaft, Staat, Erziehung, alle Schuld
jener Verschüttung beimißt. Leider weiß man aus historischen
Erfahrungen, daß jeder solche Umsturz die wildesten Energien als die längst
begrabenen Furchtbarkeiten und Maßlosigkeiten fernster Zeitalter von neuem
zur Auferstehung bringt: daß also ein Umsturz wohl eine Kraftquelle in einer
matt gewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr aber ein Ordner, Baumeister,
Künstler, Vollender der menschlichen Natur. Nicht Voltaires
maßvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen zugeneigte Natur, sondern Rousseaus
leidenschaftliche Torheiten und Halblügen haben den optimistischen Geist
der Revolution wachgerufen, gegen den ich rufe: »Écrasez l'infâme!«
Durch ihn ist der Geist der Aufklärung und der fortschreitenden Entwicklung
auf lange verscheucht worden: sehen wir zu ein jeder bei sich selber
ob es möglich ist, ihn wieder zurückzurufen! (Ebd., 1878-1880,
S. 274).Die Privatgesellschaften ziehen Schritt vor Schritt die
Staatsgeschäfte in sich hinein: selbst der zäheste Rest, welcher von
der alten Arbeit des Regierens übrigbleibt (jene Tätigkeit zum Beispiel,
welche die Privaten gegen die Privaten sicherstellen soll), wird zu allerletzt
einmal durch Privatunternehmer besorgt werden. Die Mißachtung, der Verfall
und der Tod des Staates, die Entfesselung der Privatperson (ich hüte
mich zu sagen: des Individuums) ist die Konsequenz des demokratischen Staatsbegriffs;
hier liegt seine Mission. Hat er seine Aufgabe erfüllt die wie alles
Menschliche viel Vernunft und Unvernunft im Schoße trägt , sind
alle Rückfälle der alten Krankheit überwunden, so wird ein neues
Blatt im Fabelbuche der Menschheit entrollt, auf dem man allerlei seltsame Historien
und vielleicht auch einiges Gute lesen wird. (Ebd., 1878-1880, S. 280).Um
das Gesagte noch einmal kurz zu sagen: das Interesse der vormundschaftlichen Regierung
und das Interesse der Religion gehen miteinander Hand in Hand, so daß, wenn
letztere abzusterben beginnt, auch die Grundlage des Staates erschüttert
wird. Der Glaube an eine göttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein
Mysterium in der Existenz des Staates ist religiösen Ursprungs: schwindet
die Religion, so wird der Staat unvermeidlich seinen alten Isisschleier verlieren
und keine Ehrfurcht mehr erwecken. Die Souveränität des Volkes, in der
Nähe gesehen, dient dazu, auch den letzten Zauber und Aberglauben auf dem
Gebiete dieser Empfindungen zu verscheuchen; die moderne Demokratie ist die historische
Form vom Verfall des Staates. (Ebd., 1878-1880, S. 280-281).Die
Aussicht, welche sich durch diesen sichern Verfall ergibt, ist aber nicht in jedem
Betracht eine unglückselige: die Klugheit und der Eigennutz der Menschen
sind von allen ihren Eigenschaften am besten ausgebildet; wenn den Anforderungen
dieser Kräfte der Staat nicht mehr entspricht, so wird am wenigsten das Chaos
eintreten, sondern eine noch zweckmäßigere Erfindung, als der Staat
es war, zum Siege über den Staat kommen. Wie manche organisierende Gewalt
hat die Menschheit schon absterben sehen: zum Beispiel die der Geschlechtsgenossenschaft,
als welche Jahrtausende lang viel mächtiger war als die Gewalt der Familie,
ja längst, bevor diese bestand, schon waltete und ordnete. Wir selber sehen
den bedeutenden Rechts- und Machtgedanken der Familie, welcher einmal, so weit
wie römisches Wesen reichte, die Herrschaft besaß immer blasser
und ohnmächtiger werden. So wird ein späteres Geschlecht auch den Staat
in einzelnen Strecken der Erde bedeutungslos werden sehen eine Vorstellung,
an welche viele Menschen der Gegenwart kaum ohne Angst und Abscheu denken können.
An der Verbreitung und Verwirklichung dieser Vorstellung zu arbeiten, ist freilich
ein ander Ding: man muß sehr anmaßend von seiner Vernunft denken und
die Geschichte kaum halb verstehen, um schon jetzt die Hand an den Pflug zu legen,
während noch niemand die Samenkörner aufzeigen kann, welche auf
das zerrissene Erdreich nachher gestreut werden sollen. Vertrauen wir also »der
Klugheit und dem Eigennutz der Menschen«, daß jetzt noch der Staat
eine gute Weile bestehen bleibt und zerstörerische Versuche übereifriger
und voreiliger Halbwisser abgewiesen werden! (Ebd., 1878-1880, S. 281).Der
Sozialismus in Hinsicht auf seine Mittel. Der Sozialismus ist der phantastische
jüngere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den er beerben will; seine
Bestrebungen sind also im tiefsten Verstande reaktionär. Denn er begehrt
eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja
er überbietet alles Vergangene dadurch, daß er die förmliche Vernichtung
des Individuums anstrebt: als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur
vorkommt und durch ihn in ein zweckmäßiges Organ des Gemeinwesens
umgebessert werden soll. Seiner Verwandtschaft wegen erscheint er immer in der
Nähe aller exzessiven Machtentfaltungen, wie der alte typische Sozialist
Plato am Hofe des sizilischen Tyrannen; er wünscht (und befördert unter
Umständen) den cäsarischen Gewaltstaat dieses Jahrhunderts, weil er,
wie gesagt, sein Erbe werden möchte. Aber selbst diese Erbschaft würde
für seine Zwecke nicht ausreichen, er braucht die alleruntertänigste
Niederwerfung aller Bürger vor dem unbedingten Staat, wie niemals etwas Gleiches
existiert hat; und da er nicht einmal auf die alte religiöse Pietät
gegen den Staat mehr rechnen darf, vielmehr an deren Beseitigung unwillkürlich
fortwährend arbeiten muß nämlich weil er an der Beseitigung
aller bestehenden Staaten arbeitet , so kann er sich nur auf kurze
Zeiten, durch den äußersten Terrorismus, hier und da einmal auf Existenz
Hoffnung machen. Deshalb bereitet er sich im stillen zu Schreckensherrschaften
vor und treibt den halbgebildeten Massen das Wort »Gerechtigkeit«
wie einen Nagel in den Kopf, um sie ihres Verstandes völlig zu berauben (nachdem
dieser Verstand schon durch die Halbbildung sehr gelitten hat) und ihnen für
das böse Spiel, das sie spielen sollen, ein gutes Gewissen zu schaffen.
Der Sozialismus kann dazu dienen, die Gefahr aller Anhäufungen von Staatsgewalt
recht brutal und eindringlich zu lehren und insofern vor dem Staate selbst Mißtrauen
einzuflößen. Wenn seine rauhe Stimme in das Feldgeschrei: »so
viel Staat wie möglich« einfällt, so wird dieses zunächst
dadurch lärmender als je: aber bald dringt auch das entgegengesetzte mit
um so größerer Kraft hervor: »so wenig Staat wie möglich«.
(Ebd., 1878-1880, S. 281-282).Der europäische Mensch und
die Vernichtung der Nationen. Der Handel und die Industrie, der Bücher-
und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Kultur, das schnelle Wechseln
von Haus und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer
diese Umstände bringen notwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung
der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so daß aus ihnen
allen, infolge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen
Menschen, entstehen muß. (Ebd., 1878-1880, S. 283-284).
Der Mensch mit sich allein
Unter Freunden ein Nachspiel
ZWEITER
BAND
Vermischte Meinungen und Sprüche
Gerecht
sein wollen und Richter sein wollen. Schopenhauer, dessen große
Kennerschaft für Menschliches und Allzumenschliches, dessen ursprünglicher
Tatsachen-Sinn nicht wenig durch das bunte Leoparden-Fell seiner Metaphysik beeinträchtigt
worden ist (welches man ihm erst abziehen muß, um ein wirkliches Moralisten-Genie
darunter zu entdecken) Schopenhauer macht jene treffliche Unterscheidung,
mit der er viel mehr Recht behalten wird, als er sich selber eigentlich zugestehen
durfte: »die Einsicht in die strenge Notwendigkeit der menschlichen Handlungen
ist die Grenzlinie, welche die philosophischen Köpfe von den andern
scheidet.« Dieser mächtigen Einsicht, welcher er zu Zeiten offen stand,
wirkte er bei sich selber durch jenes Vorurteil entgegen, welches er mit den moralischen
Menschen (nicht mit den Moralisten) noch gemein hatte und das er ganz harmlos
und gläubig so ausspricht: »der letzte und wahre Aufschluß über
das innere Wesen des Ganzen der Dinge muß notwendig eng zusammenhängen
mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns«
was eben durchaus nicht »notwendig« ist, vielmehr durch jenen
Satz von der strengen Notwendigkeit der menschlichen Handlungen, das heißt
der unbedingten Willens-Unfreiheit und Unverantwortlichkeit, eben abgelehnt
wird. Die philosophischen Köpfe werden sich also von den andern durch den
Unglauben an die metaphysische Bedeutsamkeit der Moral unterscheiden: und das
dürfte eine Kluft zwischen sie legen, von deren Tiefe und Unüberbrückbarkeit
die so beklagte Kluft zwischen »Gebildet« und »Ungebildet«,
wie sie jetzt existiert, kaum einen Begriff gibt. Freilich muß noch manche
Hintertür, welche sich die »philosophischen Köpfe«, gleich
Schopenhauern selbst, gelassen haben, als nutzlos erkannt werden: keine
führt ins Freie, in die Luft des freien Willens; jede, durch welche
man bisher geschlüpft ist, zeigte dahinter wieder die ehern blinkende Mauer
des Fatums: wir sind im Gefängnis, frei können wir uns nur träumen,
nicht machen. Daß dieser Erkenntnis nicht lange mehr widerstrebt werden
kann, das zeigen die verzweifelten und unglaublichen Stellungen und Verzerrungen
derer an, welche gegen sie andringen, mit ihr noch den Ringkampf fortsetzen.
So ungefähr geht es bei ihnen jetzt zu: »also kein Mensch verantwortlich?
Und alles voll Schuld und Schuldgefühl? Aber irgendwer muß doch der
Sünder sein: ist es unmöglich und nicht mehr erlaubt, den einzelnen,
die arme Welle im notwendigen Wellenspiele des Werdens anzuklagen und zu richten
nun denn: so sei das Wellenspiel selbst, das Wer den, der Sünder:
hier ist der freie Wille, hier darf angeklagt, verurteilt, gebüßt und
gesühnt werden: so sei Gott der Sünder und der Mensch sein Erlöser:
so sei die Weltgeschichte Schuld, Selbstverurteilung und Selbstmord; so werde
der Missetäter zum eigenen Richter, der Richter zum eigenen Henker.«
Dieses auf den Kopf gestellte Christentum was ist es denn
sonst? ist der letzte Fechter-Ausfall im Kampfe der Lehre von der unbedingten
Moralität mit der von der unbedingten Unfreiheit ein schauerliches
Ding, wenn es mehr wäre als eine logische Grimasse, mehr als eine
häßliche Gebärde des unterliegenden Gedankens etwa der
Todeskrampf des verzweifelnden und heilsüchtigen Herzens, dem der Wahnsinn
zuflüstert: »Siehe, du bist das Lamm, das Gottes Sünde trägt.«
Der Irrtum steckt nicht nur im Gefühle »ich bin verantwortlich«,
sondern ebenso in jenem Gegensatze »ich bin es nicht, aber irgendwer muß
es doch sein«. Dies ist eben nicht wahr: der Philosoph hat also zu
sagen, wie Christus, »richtet nicht!«, und der letzte Unterschied
zwischen den philosophischen Köpfen und den andern wäre der, daß
die ersten gerecht sein wollen, die andern Richter sein wollen.
(Ebd., 1878-1880, S. 359-361).Macht ohne Siege. Die
stärkste Erkenntnis (die von der völligen Unfreiheit des menschlichen
Willens) ist doch die ärmste an Erfolgen: denn sie hat immer den stärksten
Gegner, die menschliche Eitelkeit. (Ebd., 1878-1880, S. 365).Äußerstes
Herostratentum. Es könnte Herostrate geben, welche den eignen
Tempel anzündeten, in dem ihre Bilder verehrt werden. (Ebd., 1878-1880,
S. 369).Aus dem Traume deuten. Was man mitunter im
Wachen nicht genau weiß und fühlt ob man gegen eine Person ein
gutes oder ein schlechtes Gewissen habe darüber belehrt völlig
unzweideutig der Traum. (Ebd., 1878-1880, S. 372).Die
Sitte und ihr Opfer. Der Ursprung der Sitte geht auf zwei Gedanken
zurück: »die Gemeinde ist mehr wert als der einzelne« und »der
dauernde Vorteil ist dem flüchtigen vorzuziehen«; woraus sich der Schluß
ergibt, daß der dauernde Vorteil der Gemeinde unbedingt dem Vorteile des
einzelnen, namentlich seinem momentanen Wohlbefinden, aber auch seinem dauernden
Vorteile und selbst seinem Weiterleben voranzustellen sei. Ob nun der einzelne
von einer Einrichtung leide, die dem Ganzen frommt, ob er an ihr verkümmre,
ihretwegen zugrunde gehe die Sitte muß erhalten, das Opfer gebracht
werden. Eine solche Gesinnung entsteht aber nur in denen, welche nicht
das Opfer sind denn dieses macht in seinem Falle geltend, daß der
einzelne mehr wert sein könne als viele, ebenso daß der gegenwärtige
Genuß, der Augenblick im Paradiese vielleicht höher anzuschlagen sei
als eine matte Fortdauer von leidlosen oder wohlhäbigen Zuständen. Die
Philosophie des Opfertiers wird aber immer zu spät laut: und so bleibt es
bei der Sitte und der Sittlichkeit: als welche eben nur die Empfindung
für den ganzen Inbegriff von Sitten ist, unter denen man lebt und erzogen
wurde und zwar erzogen nicht als einzelner, sondern als Glied eines Ganzen,
als Ziffer einer Majorität. So kommt es fortwährend vor, daß
der einzelne sich selbst, vermittelst seiner Sittlichkeit, majorisiert.
(Ebd., 1878-1880, S. 374-375).Von der Zukunft des Christentums.
Über das Verschwinden des Christentums und darüber, in welchen
Gegenden es am langsamsten weichen wird, kann man sich eine Vermutung gestatten,
wenn man erwägt, aus welchen Gründen und wo der Protestantismus
so ungestüm um sich griff. Er verhieß bekanntlich alles dasselbe weit
billiger zu leisten, was die alte Kirche leistete, also ohne kostspielige Seelenmessen,
Wallfahrten, Priester-Prunk und -Üppigkeit; er verbreitete sich namentlich
bei den nördlichen Nationen, welche nicht so tief in der Symbolik und Formenlust
der alten Kirche eingewurzelt waren als die des Südens: bei diesen lebte
ja im Christentum das viel mächtigere religiöse Heidentum fort, während
im Norden das Christentum einen Gegensatz und Bruch mit dem Altheimischen bedeutete
und deshalb mehr gedankenhaft als sinnfällig von Anfang an war, eben deshalb
aber auch, zu Zeiten der Gefahr, fanatischer und trotziger. Gelingt es, vom Gedanken
aus das Christentum zu entwurzeln, so liegt auf der Hand, wo es anfangen wird,
zu verschwinden: also gerade dort, wo es auch am allerhärtesten sich wehren
wird. Anderwärts wird es sich beugen, aber nicht brechen, entblättert
werden, aber wieder Blätter ansetzen weil dort die Sinne und
nicht die Gedanken für dasselbe Partei genommen haben. Die Sinne aber sind
es, welche auch den Glauben unterhalten, daß mit allem Kostenaufwand der
Kirche doch immer noch billiger und bequemer gewirtschaftet werde als mit den
strengen Verhältnissen von Arbeit und Lohn: denn welches Preises hält
man die Muße (oder die halbe Faulheit) für wert, wenn man sich erst
an sie gewöhnt hat! Die Sinne wenden gegen eine entchristlichte Welt ein,
daß in ihr zu viel gearbeitet werden müsse, und der Ertrag an Muße
zu klein sei: sie nehmen die Partei der Magie, das heißt sie lassen
lieber Gott für sich arbeiten (oremus nos, deus laboret!). (Ebd.,
1878-1880, S. 378-379).Schauspielerei und Ehrlichkeit der Ungläubigen.
Es gibt kein Buch, welches das, was jedem Menschen gelegentlich wohltut,
schwärmerische, opfer- und todbereite Glücks-Innigkeit im Glauben
und Schauen seiner »Wahrheit« so reichlich enthielte, so treuherzig
ausdrückte als das Buch, welches von Christus redet: aus ihm kann ein Kluger
alle Mittel lernen, wodurch ein Buch zum Weltbuch, zum Jedermanns-Freund gemacht
werden kann, namentlich jenes Meister-Mittel, alles als gefunden, nichts als kommend
und ungewiß hinzustellen. Alle wirkungsvollen Bücher versuchen, einen
ähnlichen Eindruck zu hinterlassen, als ob der weiteste geistige und seelische
Horizont hier umschrieben sei und um die hier leuchtende Sonne sich jedes gegenwärtige
und zukünftig sichtbare Gestirn drehen müsse. Muß also
nicht aus demselben Grunde, aus dem solche Bücher wirkungsvoll sind, jedes
rein wissenschaftliche Buch wirkungsarm sein? Ist es nicht verurteilt,
niedrig und unter Niedrigen zu leben, um endlich gekreuzigt zu werden und nie
wieder aufzuerstehen? Sind im Verhältnis zu dem, was die Religiösen
von ihrem »Wissen«, von ihrem »heiligen« Geiste verkünden,
nicht alle Redlichen der Wissenschaft »arm im Geiste«? Kann irgendeine
Religion mehr Entsagung verlangen, unerbittlicher den Selbstsüchtigen aus
sich hinausziehen als die Wissenschaft? So und ähnlich und
jedenfalls mit einiger Schauspielerei mögen wir reden, wenn wir uns
vor den Gläubigen zu verteidigen haben; denn es ist kaum möglich, eine
Verteidigung ohne etwas Schauspielerei zu führen. Unter uns aber muß
die Sprache ehrlicher sein: wir bedienen uns da einer Freiheit, welche jene nicht
einmal, ihres eigenen Interesses halber, verstehen dürfen. Weg also mit der
Kapuze der Entsagung! der Miene der Demut! Viel mehr und viel besser: so klingt
unsere Wahrheit! Wenn die Wissenschaft nicht an die Lust der Erkenntnis,
an den Nutzen des Erkannten geknüpft wäre, was läge uns an der
Wissenschaft? Wenn nicht ein wenig Glaube, Liebe und Hoffnung unsere Seele zur
Erkenntnis hinführte, was zöge uns sonst zur Wissenschaft? Und wenn
zwar in der Wissenschaft das Ich nichts zu bedeuten hat, so bedeutet das erfinderische
glückliche Ich, ja selbst schon jedes redliche und fleißige Ich, sehr
viel in der Republik der Wissenschafts-Menschen. Achtung der Achtung-Gebenden,
Freude solcher, welchen wir wohlwollen oder die wir verehren, unter Umständen
Ruhm und eine mäßige Unsterblichkeit der Person ist der erreichbare
Preis für jene Entpersönlichung, von geringeren Aussichten und Belohnungen
hier zu schweigen, obschon gerade ihrethalben die meisten den Gesetzen jener Republik
und überhaupt der Wissenschaft zugeschworen haben und immerfort zuzuschwören
pflegen. Wenn wir nicht in irgendeinem Maße unwissenschaftliche Menschen
geblieben wären, was könnte uns auch nur an der Wissenschaft liegen!
Alles in allem genommen und rund glatt und voll ausgesprochen: für ein
rein erkennendes Wesen wäre die Erkenntnis gleichgültig.
Von den Frommen und Gläubigen unterscheidet uns nicht die Qualität,
sondern die Quantität Glaubens und Frommseins; wir sind mit wenigerem zufrieden.
Aber, werden jene uns zurufen so seid auch zufrieden und gebt euch auch
als zufrieden! worauf wir leicht antworten dürften: »In der
Tat, wir gehören nicht zu den Unzufriedensten. Ihr aber, wenn euer Glaube
euch selig macht, so gebt euch auch als selig! Eure Gesichter sind immer eurem
Glauben schädlicher gewesen als unsere Gründe! Wenn jene frohe Botschaft
eurer Bibel euch ins Gesicht geschrieben wäre, ihr brauchtet den Glauben
an die Autorität dieses Buches nicht so halsstarrig zu fordern: eure Werke,
eure Handlungen sollten die Bibel fortwährend überflüssig machen,
eine neue Bibel sollte durch euch fortwährend entstehen! So aber hat alle
eure Apologie des Christentums ihre Wurzel in eurem Unchristentum; mit eurer Verteidigung
schreibt ihr eure eigne Anklageschrift. Solltet ihr aber wünschen, aus diesem
eurem Ungenügen am Christentum herauszukommen, so bringt euch doch die Erfahrung
von zwei Jahrtausenden zur Erwägung: welche, in bescheidene Frageform gekleidet,
so klingt: »wenn Christus wirklich die Absicht hatte, die Welt zu erlösen,
sollte es ihm nicht mißlungen sein?« (Ebd., 1878-1880, S. 4379-381).Der
Dichter als Wegzeiger für die Zukunft. So viel noch überschüssige
dichterische Kraft unter den jetzigen Menschen vorhanden ist, welche bei der Gestaltung
des Lebens nicht verbraucht wird, so viel sollte, ohne jeden Abzug, einem
Ziele sich weihen, nicht etwa der Abmalung des Gegenwärtigen, der Wiederbeseelung
und Verdichtung der Vergangenheit, sondern dem Wegweisen für die Zukunft:
und dies nicht in dem Verstande, als ob der Dichter gleich einem phantastischen
Nationalökonomen günstigere Volks- und Gesellschafts-Zustände und
deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen sollte. Vielmehr wird er, wie früher
die Künstler an den Götterbildern fortdichteten, so an dem schönen
Menschenbilde fortdichten und jene Fälle auswittern, wo mitten
in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede künstliche Abwehr
und Entziehung von derselben, die schöne große Seele noch möglich
ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmäßige Zustände
einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt
und also, durch Erregung von Nachahmung und Neid, die Zukunft schaffen hilft.
Dichtungen solcher Dichter würden dadurch sich auszeichnen, daß sie
gegen die Luft und Glut der Leidenschaften abgeschlossen und verwahrt erschienen:
der unverbesserliche Fehlgriff, das Zertrümmern des ganzen menschlichen Saitenspiels,
Hohnlachen und Zähneknirschen und alles Tragische und Komische im alten gewohnten
Sinne würde in der Nähe dieser neuen Kunst als lästige archaisierende
Vergröberung des Menschen-Bildes empfunden werden. Kraft, Güte, Milde,
Reinheit und ungewolltes, eingeborenes Maß in den Personen und deren Handlungen:
ein geebneter Boden, welcher dem Fuße Ruhe und Lust gibt: ein leuchtender
Himmel auf Gesichtern und Vorgängen sich abspiegelnd: das Wissen und die
Kunst zu neuer Einheit zusammengeflossen: der Geist ohne Anmaßung und Eifersucht
mit seiner Schwester, der Seele zusammenwohnend und aus dem Gegensätzlichen
die Grazie des Ernstes, nicht die Ungeduld des Zwiespaltes herauslockend:
dies alles wäre das Umschließende, Allgemeine, Goldgrundhafte, auf
dem jetzt erst die zarten Unterschiede der verkörperten Ideale das
eigentliche Gemälde das der immer wachsenden menschlichen Hoheit
machen würden. Von Goethe aus führt mancher Weg
in diese Dichtung der Zukunft: aber es bedarf guter Pfadfinder und vor allem einer
weit größern Macht, als die jetzigen Dichter, das heißt die unbedenklichen
Darsteller des Halbtiers und der mit Kraft und Natur verwechselten Unreife und
Unregelmäßigkeit, besitzen. (Ebd., 1878-1880, S. 381-382).Stil
der Überladung. Der überladene Stil in der Kunst ist die
Folge einer Verarmung der organisierenden Kraft bei verschwenderischem Vorhandensein
von Mitteln und Absichten. In den Anfängen der Kunst findet sich mitunter
das gerade Gegenstück dazu. (Ebd., 1878-1880, S. 389).Wie
nach der neueren Musik sich die Seele bewegen soll. Die künstlerische
Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlich,
als »unendliche Melodie« bezeichnet wird, kann man sich dadurch klarmachen,
daß man ins Meer geht, allmählich den sicheren Schritt auf dem Grunde
verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergibt:
man soll schwimmen. In der bisherigen älteren Musik mußte man,
im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wider, Schneller und Langsamer,
tanzen: wobei das hierzu nötige Maß, das Einhalten bestimmter
gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende
Besonnenheit erzwang: auf dem Widerspiele dieses kühleren Luftzuges,
welcher von der Besonnenheit herkam, und des durchwärmten Atems musikalischer
Begeisterung ruhte der Zauber jener Musik. Richard Wagner wollte eine andere
Art Bewegung der Seele, welche, wie gesagt, dem Schwimmen und Schweben
verwandt ist. Vielleicht ist dies das Wesentlichste seiner Neuerungen. Sein berühmtes
Kunstmittel, diesem Wollen entsprungen und angepaßt die »unendliche
Melodie« bestrebt sich, alle mathematische Zeit- und Kraft-Ebenmäßigkeit
zu brechen, mitunter selbst zu verhöhnen; und er ist überreich in der
Erfindung solcher Wirkungen, welche dem älteren Ohre wie rhythmische Paradoxien
und Lästerreden klingen. Er fürchtet die Versteinerung, die Kristallisation,
den Übergang der Musik in das Architektonische und so stellt er dem
zweitaktigen Rhythmus einen dreitaktigen entgegen, führt nicht selten den
Fünf- und Siebentakt ein, wiederholt dieselbe Phrase sofort, aber mit einer
Dehnung, daß sie die doppelte und dreifache Zeitdauer bekommt. Aus einer
bequemen Nachahmung solcher Kunst kann eine große Gefahr für die Musik
entstehen: immer hat neben der Überreife des rhythmischen Gefühls die
Verwilderung, der Verfall der Rhythmik im Versteck gelauert. Sehr groß wird
zumal diese Gefahr, wenn eine solche Musik sich immer enger an eine ganz naturalistische,
durch keine höhere Plastik erzogene und beherrschte Schauspielerkunst und
Gebärdensprache anlehnt, welche in sich kein Maß hat und dem sich ihr
anschmiegenden Elemente, dem allzuweiblichen Wesen der Musik, auch kein
Maß mitzuteilen vermag. (Ebd., 1878-1880, S. 395-396).Vom
Barockstile. Wer sich als Denker und Schriftsteller zur Dialektik und
Auseinanderfaltung der Gedanken nicht geboren oder erzogen weiß, wird unwillkürlich
nach dem Rhetorischen und Dramatischen greifen: denn zuletzt kommt
es ihm darauf an, sich verständlich zu machen und dadurch Gewalt zu
gewinnen, gleichgültig ob er das Gefühl auf ebenem Pfade zu sich leitet
oder unversehens überfällt als Hirt oder als Räuber. Dies
gilt auch in den bildenden wie musischen Künsten; wo das Gefühl mangelnder
Dialektik oder des Ungenügens in Ausdruck und Erzählung, zusammen mit
einem überreichen, drängen den Formentriebe, jene Gattung des Stiles
zutage fördert, welche man Barockstil nennt. Nur die Schlechtunterrichteten
und Anmaßenden werden übrigens bei diesem Wort sogleich eine abschätzige
Empfindung haben. Der Barockstil entsteht jedesmal beim Abblühen jeder großen
Kunst, wenn die Anforderungen in der Kunst des klassischen Ausdrucks allzu groß
geworden sind, als ein Natur-Ereignis, dem man wohl mit Schwermut weil
es der Nacht voranläuft zusehen wird, aber zugleich mit Bewunderung
für die ihm eigentümlichen Ersatzkünste des Ausdrucks und der Erzählung.
Dahin gehört schon die Wahl von Stoffen und Vorwürfen höchster
dramatischer Spannung, bei denen auch ohne Kunst das Herz zittert, weil Himmel
und Hölle der Empfindung allzu nah sind: dann die Beredsamkeit der starken
Affekte und Gebärden, des Häßlich-Erhabenen, der großen
Massen, überhaupt der Quantität an sich wie dies sich schon bei
Michelangelo, dem Vater oder Großvater der italienischen Barockkünstler
ankündigt : die Dämmerungs, Verklärungs- oder Feuersbrunstlichter
auf so starkgebildeten Formen: dazu fortwährend neue Wagnisse in Mitteln
und Absichten, vom Künstler für die Künstler kräftig unterstrichen,
während der Laie wähnen muß, das beständige unfreiwillige
Überströmen aller Füllhörner einer ursprünglichen Natur-Kunst
zu sehen: diese Eigenschaften alle, in denen jener Stil seine Größe
hat, sind in den früheren, vorklassischen und klassischen Epochen einer Kunstart
nicht möglich, nicht erlaubt: solche Köstlichkeiten hängen lange
als verbotene Früchte am Baume. Gerade jetzt, wo die Musik
in diese letzte Epoche übergeht, kann man das Phänomen des Barockstils
in einer besondern Pracht kennenlernen und vieles durch Vergleichung daraus für
frühere Zeiten lernen: denn es hat von den griechischen Zeiten ab schon oftmals
einen Barockstil gegeben, in der Poesie, Beredsamkeit, im Prosastile, in der Skulptur
ebensowohl als bekanntermaßen in der Architektur und jedesmal hat
dieser Stil, ob es ihm gleich am höchsten Adel, an dem einer unschuldigen,
unbewußten, sieghaften Vollkommenheit gebricht, auch vielen von den Besten
und Ernstesten seiner Zeit wohlgetan: weshalb es, wie gesagt, anmaßend
ist, ohne weiteres ihn abschätzig zu beurteilen; so sehr sich jeder glücklich
preisen darf, dessen Empfindung durch ihn nicht für den reineren und größeren
Stil unempfänglich gemacht wird. (Ebd., 1878-1880, S. 398-399).Schärfste
Kritik. Man kritisiert einen Menschen, ein Buch am schärfsten,
wenn man das Ideal desselben hinzeichnet. (Ebd., 1878-1880, S. 403).Zugunsten
der Kritiker. Die Insekten stechen, nicht aus Bosheit, sondern weil
sie auch leben wollen: ebenso unsere Kritiker; sie wollen unser Blut, nicht unseren
Schmerz. (Ebd., 1878-1880, S. 405).Die Musik ist eben
nicht eine allgemeine überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer
Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls, Wärme-
und Zeitmaß, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich
gebundene Kultur als inneres Gesetz in sich trägt: die Musik Palestrinas
würde für einen Griechen völlig unzugänglich sein, und wiederum
was würde Palestrina bei der Musik Rossinis hören? Vielleicht,
daß auch unsere neueste deutsche Musik, so sehr sie herrscht und herrschlustig
ist, in kurzer Zeitspanne nicht mehr verstanden wird: denn sie entsprang aus einer
Kultur, die im raschen Absinken begriffen ist; ihr Boden ist jene Reaktions- und
Restaurations-Periode, in welcher ebenso ein gewisser Katholizismus des Gefühls
wie die Lust an allem heimisch-nationalen Wesen und Urwesen zur Blüte
kam und über Europa einen gemischten Duft ausgoß: welche beide Richtungen
des Empfindens, in größter Stärke erfaßt und bis in die
entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerschen Kunst zuletzt zum Erklingen
gekommen sind. Wagners Aneignung der altheimischen Sagen, sein veredelndes Schalten
und Walten unter deren so fremdartigen Göttern und Helden welche eigentlich
souveräne Raubtiere sind, mit Anwandlungen von Tiefsinn, Großherzigkeit
und Lebensüberdruß , die Neubeseelung dieser Gestalten, denen
er den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter Sinnlichkeit und
Entsinnlichung dazugab, dieses ganze Wagnerische Nehmen und Geben in Hinsicht
auf Stoffe, Seelen, Gestalten und Worte spricht deutlich auch den Geist seiner
Musik aus, wenn diese, wie alle Musik, von sich selber nicht völlig unzweideutig
zu reden vermöchte: dieser Geist führt den allerletzten Kriegs-
und Reaktionszug an gegen den Geist der Aufklärung, welcher aus dem vorigen
Jahrhundert in dieses hineinwehte, ebenso gegen die übernationalen Gedanken
der französischen Umsturz-Schwärmerei und der englisch-amerikanischen
Nüchternheit im Umbau von Staat und Gesellschaft. Ist es aber nicht
ersichtlich, daß die hier bei Wagner selbst und seinem Anhange
noch zurückgedrängt erscheinenden Gedanken- und Empfindungskreise längst
von neuem wieder Gewalt bekommen haben, und daß jener späte musikalische
Protest gegen sie zumeist in Ohren hineinklingt, die andere und entgegengesetzte
Töne lieber hören? so daß eines Tages jene wunderbare und hohe
Kunst ganz plötzlich unverständlich werden und sich Spinnweben und Vergessenheit
über sie legen könnten. Man darf sich über diese Sachlage
nicht durch jene flüchtigen Schwankungen beirren lassen, welche als Reaktion
innerhalb der Reaktion, als ein zeitweiliges Einsinken des Wellenbergs inmitten
der gesamten Bewegung erscheinen; so mag dieses Jahrzehnt der nationalen Kriege,
des ultramontanen Martyriums und der sozialistischen Beängstigung in seinen
feineren Nachwirkungen auch der genannten Kunst zu einer plötzlichen Glorie
verhelfen ohne ihr damit die Bürgschaft dafür zu geben, daß
sie »Zukunft habe«, oder gar, daß sie die Zukunft habe.
Es liegt im Wesen der Musik, daß die Früchte ihrer großen
Kultur-Jahrgänge zeitiger unschmackhaft werden und rascher verderben als
die Früchte der bildenden Kunst oder gar die auf dem Baume der Erkenntnis
gewachsenen: unter allen Erzeugnissen des menschlichen Kunstsinns sind nämlich
Gedanken das Dauerhafteste und Haltbarste. (Ebd., 1878-1880, S. 410-411).Vor-
und Rückblick. Eine Kunst, wie sie aus Homer, Sophokles, Theokrit,
Calderon, Racine, Goethe ausströmt, als Überschuß
einer weisen und harmonischen Lebensführung das ist das Rechte, nach
dem wir endlich greifen lernen, wenn wir selber weiser und harmonischer geworden
sind: nicht jene barbarische, wenngleich noch so entzückende Aussprudelung
hitziger und bunter Dinge aus einer ungebändigten, chaotischen Seele, welche
wir früher als Jünglinge unter Kunst verstanden. Es begreift sich aber
aus sich selber, daß für gewisse Lebenszeiten eine Kunst der Überspannung,
der Erregung, des Widerwillens gegen das Geregelte, Eintönige, Einfache,
Logische ein notwendiges Bedürfnis ist, welchem Künstler entsprechen
müssen, damit die Seele solcher Lebenszeiten sich nicht auf anderem Weg,
durch allerlei Unfug und Unart, entlade. So bedürfen die Jünglinge,
wie sie meistens sind, voll, gärend, von nichts mehr als von der Langeweile
gepeinigt, so bedürfen Frauen, denen eine gute, die Seele füllende
Arbeit fehlt, jener Kunst der entzückenden Unordnung. Um so heftiger noch
entflammt sich ihre Sehnsucht nach einem Genügen ohne Wechsel, einem Glück
ohne Betäubung und Rausch. (Ebd., 1878-1880, S. 412).Kunst
und Restauration. Die rückläufigen Bewegungen in der Geschichte,
die sogenannten Restaurationszeiten, welche einem geistigen und gesellschaftlichen
Zustand, der vor dem zuletzt bestehenden lag, wieder Leben zu geben suchen und
denen eine kurze Toten-Erweckung auch wirklich zu gelingen scheint, haben den
Reiz gemütvoller Erinnerung, sehnsüchtigen Verlangens nach fast Verlorenem,
hastigen Umarmens von minutenlangem Glücke. Wegen dieser seltsamen Vertiefung
der Stimmung finden gerade in solchen flüchtigen, fast traumhaften Zeiten
Kunst und Dichtung einen natürlichen Boden: wie an steil absinkenden Bergeshängen
die zartesten und seltensten Pflanzen wachsen. So treibt es manchen guten
Künstler unvermerkt zu einer Restaurations-Denkwei se in Politik und Gesellschaft,
für welche er sich, auf eigene Faust, ein stilles Winkelchen und Gärtchen
zurechtmacht: wo er dann die menschlichen Überreste jener ihn anheimelnden
Geschichtsepoche um sich sammelt und vor lauter Toten, Halbtoten und Sterbensmüden
sein Saitenspiel ertönen läßt, vielleicht mit dem erwähnten
Erfolge einer kurzen Toten-Erweckung. (Ebd., 1878-1880, S. 415-416).Glück
der Zeit. In zwei Beziehungen ist unsere Zeit glücklich zu preisen.
In Hinsicht auf die Vergangenheit genießen wir alle Kulturen und
deren Hervorbringungen und nähren uns mit dem edelsten Blute aller Zeiten,
wir stehen noch dem Zauber der Gewalten, aus deren Schoße jene geboren wurden,
nahe genug, um uns vorübergehend ihnen mit Lust und Schauder unterwerfen
zu können: während frühere Kulturen nur sich selber zu genießen
vermochten und nicht über sich hinaussahen, vielmehr wie von einer weiter
oder enger gewölbten Glocke überspannt waren, aus welcher zwar Licht
auf sie herabströmte, durch welche aber kein Blick hindurchdrang. In Hinsicht
auf die Zukunft erschließt sich uns zum ersten Male in der Geschichte
der ungeheure Weitblick menschlich-öku menischer, die ganze bewohnte Erde
umspannender Ziele. Zugleich fühlen wir uns der Kräfte bewußt,
diese neue Aufgabe ohne Anmaßung selber in die Hand nehmen zu dürfen,
ohne übernatürlicher Beistände zu bedürfen; ja, möge
unser Unternehmen ausfallen, wie es wolle, mögen wir unsere Kräfte überschätzt
haben, jedenfalls gibt es niemanden, dem wir Rechenschaft schuldeten als uns selbst:
die Menschheit kann von nun an durchaus mit sich anfangen, was sie will.
Es gibt freilich sonderbare Menschen-Bienen, welche aus dem Kelche aller Dinge
immer nur das Bitterste und Ärgerlichste zu saugen verstehen; und
in der Tat, alle Dinge enthalten etwas von diesem Nicht-Honig in sich. Diese mögen
über das geschilderte Glück unseres Zeitalters in ihrer Art empfinden
und an ihrem Bienen-Korb des Mißbehagens weiterbauen (Ebd., 1878-1880,
S. 416).Eine Vision. Lehr- und Betrachtungsstunden
für Erwachsene, Reife und Reifste, und diese täglich, ohne Zwang, aber
nach dem Gebot der Sitte von jedermann besucht: die Kirchen als die würdigsten
und erinnerungsreichsten Stätten dazu: gleichsam alltägliche Festfeiern
der erreichten und erreichbaren menschlichen Vernunftwürde: ein neueres und
volleres Auf-und Ausblühen des Lehrer-Ideals, in welches der Geistliche,
der Künstler und der Arzt, der Wissende und der Weise hineinverschmelzen,
wie deren Einzel-Tugenden als Gesamt-Tugend auch in der Lehre selber, in ihrem
Vortrag, ihrer Methode zum Vorschein kommen müßten, dies ist
meine Vision, die mir immer wiederkehrt und von der ich fest glaube, daß
sie einen Zipfel des Zukunfts-Schleiers gehoben hat. (Ebd., 1878-1880, S.
417).Die alte Welt und die Freude. Die Menschen der
alten Welt wußten sich besser zu freuen: wir, uns weniger zu betrüben;
jene machten immerfort neue Anlässe, sich wohl zu fühlen und Feste zu
feiern, ausfindig, mit allem ihrem Reichtum von Scharfsinn und Nachdenken: während
wir unsern Geist auf Lösung von Aufgaben verwenden, welche mehr die Schmerzlosigkeit,
die Beseitigung von Unlustquellen im Auge haben. In betreff des leidenden Daseins
suchten die Alten zu vergessen oder die Empfindung ins Angenehme irgendwie umzubiegen:
so daß sie hierin palliativisch zu helfen suchten, während wir den
Ursachen des Leidens zu Leibe gehen und im ganzen lieber prophylaktisch wirken.
Vielleicht bauen wir nur die Grundlagen, auf denen spätere Menschen
auch wieder den Tempel der Freude errichten. (Ebd., 1878-1880, S. 420).Drei
Denker gleich einer Spinne. In jeder philosophischen Sekte folgen drei
Denker in diesem Verhältnisse aufeinander: der erste erzeugt aus sich den
Saft und Samen, der zweite zieht ihn zu Fäden aus und spinnt ein künstliches
Netz, der dritte lauert in diesem Netz auf Opfer, die sich hier verfangen
und sucht von der Philosophie zu leben. (Ebd., 1878-1880, S. 422).Freizügige
Geister. Wer von uns würde sich einen freien Geist zu nennen wagen,
wenn er nicht auf seine Art jenen Männern, denen man diesen Namen als Schimpf
anhängt, eine Huldigung darbringen möchte, indem er etwas von jener
Last der öffentlichen Mißgunst und Beschimpfung auf seine Schultern
ladet? Wohl aber dürften wir uns »freizügige Geister« in
allem Ernste (und ohne diesen hoch- oder großmütigen Trotz) nennen,
weil wir den Zug zur Freiheit als stärksten Trieb unseres Geistes fühlen
und im Gegensatz zu den gebundenen und festgewurzelten Intellekten unser Ideal
fast in einem geistigen Nomadentum sehen um einen bescheidenen und fast
abschätzigen Ausdruck zu gebrauchen. (Ebd., 1878-1880, S. 426-427).Die
Gefahr eines Rückfalls ins Asiatische schwebte immer über den Griechen,
und wirklich kam es von Zeit zu Zeit über sie wie ein dunkler überschwemmender
Strom mystischer Regungen, elementarer Wildheit und Finsternis. (Ebd., 1878-1880,
S. 430).Das eigentlich Heidnische. Vielleicht gibt
es nichts Befremdenderes für den, welcher sich die griechische Welt ansieht,
als zu entdecken, daß die Griechen allen ihren Leidenschaften und bösen
Naturhängen von Zeit zu Zeit gleichsam Feste gaben und sogar eine Art Festordnung
ihres Allzumenschlichen von Staats wegen einrichteten: es ist dies das eigentlich
Heidnische ihrer Welt, vom Christentume aus nie begriffen, nie zu begreifen und
stets auf das Härteste bekämpft und verachtet. Sie nahmen jenes
Allzumenschliche als unvermeidlich und zogen vor, statt es zu beschimpfen, ihm
eine Art Recht zweiten Ranges durch Einordnung in die Bräuche der Gesellschaft
und des Kultus zu geben: ja alles, was im Menschen Macht hat, nannten sie
göttlich und schrieben es an die Wände ihres Himmels. Sie leugnen den
Naturtrieb, der in den schlimmen Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab,
sondern ordnen ihn ein und beschränken ihn auf bestimmte Kulte und Tage,
nachdem sie genug Vorsichtsmaßregeln erfunden haben, um jenen wilden Gewässern
einen möglichst unschädlichen Abfluß geben zu können. Dies
ist die Wurzel aller moralistischen Freisinnigkeit des Altertums. Man gönnte
dem Bösen und Bedenklichen, dem Tierisch-Rückständigen ebenso wie
dem Barbaren, Vor-Griechen und Asiaten, welcher im Grunde des griechischen Wesens
noch lebte, eine mäßige Entladung und strebte nicht nach seiner völligen
Vernichtung. Das ganze System solcher Ordnungen umfaßte der Staat, der nicht
auf einzelne Individuen oder Kasten, sondern auf die gewöhnlichen menschlichen
Eigenschaften hin konstruiert war. In seinem Bau zeigen die Griechen jenen wunderbaren
Sinn für das Typisch-Tatsächliche, der sie später befähigte,
Naturforscher, Historiker, Geographen und Philosophen zu werden. Es war nicht
ein beschränktes priesterliches oder kastenmäßiges Sittengesetz,
welches bei der Verfassung des Staates und Staats-Kultus zu entscheiden hatte:
sondern die umfänglichste Rücksicht auf die Wirklichkeit alles Menschlichen.
Woher haben die Griechen diese Freiheit, diesen Sinn für das Wirkliche?
Vielleicht von Homer und den Dichtern vor ihm; denn gerade die Dichter, deren
Natur nicht die gerechteste und weiseste zu sein pflegt, besitzen dafür jene
Lust am Wirklichen, Wirkenden jeder Art und wollen selbst das Böse
nicht völlig verneinen: es genügt ihnen, daß es sich mäßige
und nicht alles totschlage oder innerlich giftig mache das heißt,
sie denken ähnlich wie die griechischen Staatenbildner und sind deren Lehrmeister
und Wegebahner gewesen. (Ebd., 1878-1880, S. 430-431).Ausnahme-Griechen.
In Griechenland waren die tiefen, gründlichen, ernsten Geister die
Ausnahme: der Instinkt des Volkes ging vielmehr dahin, das Ernste und Gründliche
als eine Art von Verzerrung zu empfinden. Die Formen aus der Fremde entlehnen,
nicht schaffen, aber zum schönsten Schein umbilden das ist griechisch:
nachahmen, nicht zum Gebrauch, sondern zur künstlerischen Täuschung,
über den aufgezwungenen Ernst immer wieder Herr werden, ordnen, verschönern,
verflachen so geht es fort von Homer bis zu den Sophisten des dritten und
vierten Jahrhunderts der neuen Zeitrechnung, welche ganz Außenseite, pomphaftes
Wort, begeisterte Gebärde sind und sich an lauter ausgehöhlte schein,
klang-und effekt-lüsterne Seelen wenden. Und nun würdige man
die Größe jener Ausnahme-Griechen, welche die Wissenschaft schufen!
Wer von ihnen erzählt, erzählt die heldenhafteste Geschichte des menschlichen
Geistes! (Ebd., 1878-1880, S. 431-432).Das Einfache nicht
das erste, noch das letzte der Zeit nach. In die Geschichte der religiösen
Vorstellungen wird viel falsche Entwicklung und Allmählichkeit hineingedichtet,
bei Dingen, die in Wahrheit nicht aus- und hintereinander, sondern nebeneinander
und getrennt aufgewachsen sind; namentlich ist das Einfache viel zu sehr noch
im Rufe, das Älteste und Anfänglichste zu sein. Nicht wenig Menschliches
entsteht durch Subtraktion und Division und gerade nicht durch Verdopplung, Zusatz,
Zusammenbildung. Man glaubt zum Beispiel immer noch an eine allmähliche
Entwicklung der Götterdarstellung von jenen ungefügen Holzklötzen
und Steinen aus bis zur vollen Vermenschlichung hinauf: und doch steht es gerade
so, daß, solange die Gottheit in Bäume, Holzstücke, Steine,
Tiere hineinverlegt und empfunden wurde, man sich vor einer Anmenschlichung ihrer
Gestalt wie vor einer Gottlosigkeit scheute. Erst die Dichter haben, abseits vom
Kultus und dem Banne der religiösen Scham, die innere Phantasie der
Menschen daran gewöhnen, dafür willig machen müssen: überwogen
aber wieder frömmere Stimmungen und Augenblicke, so trat dieser befreiende
Einfluß der Dichter wieder zurück und die Heiligkeit verblieb nach
wie vor auf seiten des Ungetümlichen, Unheimlichen, ganz eigentlich Unmenschlichen.
Selbst aber vieles von dem, was die innere Phantasie sich zu bilden wagt, würde
doch noch, in äußere leibhafte Darstellung übersetzt, peinlich
wirken: das innere Auge ist um vieles kühner und weniger schamhaft als das
äußere (woraus sich die bekannte Schwierigkeit und teilweise Unmöglichkeit
ergibt, epische Stoffe in dramatische umzuwandeln). Die religiöse Phantasie
will lange Zeit durchaus nicht an die Identität des Gottes mit einem
Bilde glauben: das Bild soll das numen der Gottheit in irgendeiner geheimnisvollen,
nicht völlig auszudenkenden Weise hier als tätig, als örtlich gebannt
erscheinen lassen. Das älteste Götterbild soll den Gott bergen und
zugleich verbergen ihn andeuten, aber nicht zur Schau stellen. Kein
Grieche hat je innerlich seinen Apollo als Holz-Spitzsäule, seinen Eros als
Steinklumpen angeschaut; es waren Symbole, welche gerade Angst vor der
Veranschaulichung machen sollten. Ebenso steht es noch mit jenen Hölzern,
denen mit dürftigster Schnitzerei einzelne Glieder, mitunter in der Überzahl,
angebildet waren: wie ein lakonischer Apollo vier Hände und vier Ohren hatte.
In dem Unvollständigen, Andeutenden oder Übervollständigen liegt
eine grausenhafte Heiligkeit, welche abwehren soll, an Menschliches, Menschenartiges
zu denken. Es ist nicht eine embryonische Stufe der Kunst, in der man so etwas
bildet: als ob man in der Zeit, wo man solche Bilder verehrte, nicht hätte
deutlicher reden, sinnfälliger darstellen können. Vielmehr scheut
man gerade eines: das direkte Heraussagen. Wie die Cella das Allerheiligste, das
eigentliche numen der Gottheit birgt und in geheimnisvolles Halbdunkel versteckt,
doch nicht ganz; wie wiederum der peripterische Tempel die Cella birgt,
gleichsam mit einem Schirm und Schleier vor dem ungescheuten Auge schützt,
aber nicht ganz: so ist das Bild die Gottheit und zugleich Versteck der
Gottheit. Erst als außerhalb des Kultus, in der profanen Welt des
Wettkampfes, die Freude an dem Sieger im Kampfe so hoch gestiegen war, daß
die hier erregten Wellen in den See der religiösen Empfindung hinüberschlugen,
erst als das Standbild des Siegers in den Tempelhöfen aufgestellt wurde und
der fromme Besucher des Tempels freiwillig oder unfreiwillig sein Auge wie seine
Seele an diesen unumgänglichen Anblick menschlicher Schönheit
und Überkraft gewöhnen mußte, so daß, bei der räumlichen
und seelischen Nachbarschaft, Mensch- und Gottverehrung ineinander überklangen:
da erst verliert sich auch die Scheu vor der eigentlichen Vermenschlichung des
Götterbildes, und der große Tummelplatz für die große Plastik
wird aufgetan: auch jetzt noch mit der Beschränkung, daß überall,
wo angebetet werden soll, die uralte Form und Häßlichkeit bewahrt
und vorsichtig nachgebildet wird. Aber der weihende und schenkende Hellene
darf seiner Lust, Gott Mensch werden zu lassen, jetzt in aller Seligkeit nachhängen.
(Ebd., 1878-1880, S. 432-434).Wohin man reisen muß.
Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht lange nicht aus, um sich kennenzulernen:
wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen
in uns fort; wir selber sind ja nichts als das, was wir in jedem Augenblick von
diesem Fortströmen empfinden. Auch hier sogar, wenn wir in den Fluß
unseres anscheinend eigensten und persönlichsten Wesens hinabsteigen wollen,
gilt Heraklits Satz: man steigt nicht zweimal in denselben Fluß.
Das ist eine Weisheit, die allmählich zwar altbacken geworden, aber trotzdem
ebenso kräftig und wahrhaft geblieben ist, wie sie es je war: ebenso wie
jene, daß, um Geschichte zu verstehen, man die lebendigen Überreste
geschichtlicher Epochen aufsuchen müsse daß man reisen
müsse, wie Altvater Herodot reiste, zu Nationen diese sind ja nur
festgewordene ältere Kulturstufen, auf die man sich stellen
kann , zu sogenannten wilden und halbwilden Völkerschaften, namentlich
dorthin, wo der Mensch das Kleid Europas ausgezogen oder noch nicht angezogen
hat. Nun gibt es aber noch eine feinere Kunst und Absicht des Reisens,
welche es nicht immer nötig macht, von Ort zu Ort und über Tausende
von Meilen hin den Fuß zu setzen. Es leben sehr wahrscheinlich die letzten
drei Jahrhunderte in allen ihren Kulturfärbungen und -strahlenbrechungen
auch in unsrer Nähe noch fort: sie wollen nur entdeckt werden. In
manchen Familien, ja in einzelnen Menschen liegen die Schichten schön und
übersichtlich noch übereinander: anderswo gibt es schwieriger zu verstehende
Verwerfungen des Gesteins. Gewiß hat sich in abgelegenen Gegenden, in weniger
bekannten Gebirgstälern, umschlossenern Gemeinwesen ein ehrwürdiges
Musterstück sehr viel älterer Empfindung leichter erhalten können
und muß hier aufgespürt werden: während es zum Beispiel unwahrscheinlich
ist, in Berlin, wo der Mensch ausgelaugt und abgebrüht zur Welt kommt, solche
Entdeckungen zu machen. Wer, nach langer Übung in dieser Kunst des Reisens,
zum hundertäugigen Argos geworden ist, der wird seine Jo ich
meine sein ego endlich überall hinbegleiten und in Ägypten
und Griechenland, Byzanz und Rom, Frankreich und Deutschland, in der Zeit der
wandernden oder der festsitzenden Völker, in Renaissance und Reformation,
in Heimat und Fremde, ja in Meer, Wald, Pflanze und Gebirge die Reise-Abenteuer
dieses werdenden und verwandelten ego wieder entdecken. So wird
Selbst-Erkenntnis zur All-Erkenntnis in Hinsicht auf alles Vergangene: wie, nach
einer anderen, hier nur anzudeutenden Betrachtungskette, Selbstbestimmung und
Selbsterziehung in den freiesten und weitest blickenden Geistern einmal zur All-Bestimmung,
in Hinsicht auf alles zukünftige Menschentum, werden könnte. (Ebd.,
1878-1880, S. 434-435).Balsam und Gift. Man kann
es nicht gründlich genug erwägen: das Christentum ist die Religion des
altgewordenen Altertums, seine Voraussetzung sind entartete alte Kulturvölker;
auf diese vermochte und vermag es wie ein Balsam zu wirken. In Zeitaltern, wo
die Ohren und Augen »voller Schlamm« sind, so daß sie die Stimme
der Vernunft und Philosophie nicht mehr zu vernehmen, die leibhaft wandelnde Weisheit,
trage sie nun den Namen Epiktet oder Epikur, nicht mehr zu sehen vermögen:
da mag vielleicht noch das aufgerichtete Marterkreuz und die »Posaune des
jüngsten Gerichts« wirken, um solche Völker noch zu einem anständigen
Ausleben zu bewegen. Man denke an das Rom Juvenals, an diese Giftkröte mit
den Augen der Venus: da lernt man, was es heißt, ein Kreuz vor der
»Welt« schlagen, da verehrt man die stille christliche Gemeinde und
ist dankbar für ihr Überwuchern des griechisch-römischen Erdreichs.
Wenn die meisten Menschen damals gleich mit der Verknechtung der Seele, mit der
Sinnlichkeit von Greisen geboren wurden: welche Wohltat, jenen Wesen zu begegnen,
die mehr Seelen als Leiber waren und welche die griechische Vorstellung von den
Hadesschatten zu verwirklichen schienen: scheue, dahinhuschende, zirpende, wohlwollende
Gestalten, mit einer Anwartschaft auf das »bessere Leben« und dadurch
so anspruchslos, so still-verachtend, so stolz-geduldig geworden! Dies
Christentum als Abendläuten des guten Altertums, mit zersprungener,
müder und doch wohltönender Glocke, ist selbst noch für den, welcher
jetzt jene Jahrhunderte nur historisch durchwandert, ein Ohrenbalsam: was muß
es für jene Menschen selber gewesen sein! Dagegen ist das Christentum
für junge, frische Barbarenvölker Gift; in die Helden,
Kinder- und Tierseele des alten Deutschen zum Beispiel die Lehre von der Sündhaftigkeit
und Verdammnis hineinpflanzen, heißt nichts anderes als sie vergiften; eine
ganz ungeheuerliche chemische Gärung und Zersetzung, ein Durcheinander von
Gefühlen und Urteilen, ein Wuchern und Bilden des Abenteuerlichsten mußte
die Folge sein und also, im weiteren Verlaufe, eine gründliche Schwächung
solcher Barbarenvölker. Freilich: was hätten wir, ohne diese
Schwächung, noch von der griechischen Kultur! was von der ganzen Kultur-Vergangenheit
des Menschengeschlechts! denn die vom Christentume unangetasteten
Barbaren verstanden gründlich mit alten Kulturen aufzuräumen: wie es
zum Beispiel die heidnischen Eroberer des romanisierten Britannien (erst
keltisch [also: heidnisch], dann romanisiert [also: römisch-»zivilisiert«],
dann germanisch [also: heidnisch]; HB) mit furchtbarer Deutlichkeit
bewiesen haben. Das Christentum hat wider seinen Willen helfen müssen, die
antike »Welt« unsterblich zu machen. Nun bleibt auch hier wieder
eine Gegenfrage und die Möglichkeit einer Gegenrechnung übrig: wäre
vielleicht, ohne jene Schwächung durch das erwähnte Gift, eine oder
die andere jener frischen Völkerschaften, etwa die deutsche, imstande gewesen,
allmählich von selber eine höhere Kultur zu finden, eine eigene, neue?
(JA, MÖGLCHERWEISE
[!]; HB) von welcher somit der Menschheit selbst der entfernteste
Begriff verlorengegangen wäre? So steht es auch hier wie überall:
man weiß nicht, christlich zu reden, ob Gott dem Teufel oder der Teufel
Gott mehr Dank dafür schuldig ist, daß alles so gekommen ist, wie es
ist. (Ebd., 1878-1880, S. 435-437).Glaube macht selig
und verdammt. Ein Christ, der auf unerlaubte Gedankengänge gerät,
könnte sich wohl einmal fragen: ist es eigentlich nötig, daß
es einen Gott, nebst einem stellvertretenden Sündenlamme, wirklich gibt,
wenn schon der Glaube an das Dasein dieser Wesen ausreicht, um die gleichen
Wirkungen hervorzubringen? Sind es nicht überflüssige Wesen,
falls sie doch existieren sollten? Denn alles Wohltuende, Tröstliche, Versittlichende,
ebenso wie alles Verdüsternde und Zermalmende, welches die christliche Religion
der menschlichen Seele gibt, geht von jenem Glauben aus und nicht von den Gegenständen
jenes Glaubens. Es steht hier nicht anders als bei dem bekannten Falle: zwar hat
es keine Hexen gegeben, aber die furchtbaren Wirkungen des Hexenglaubens sind
dieselben gewesen, wie wenn es wirklich Hexen gegeben hätte (heute
sind es übrigens nicht mehr die Hexen, auch nicht mehr die Demokraten
oder Bürgerlichen [»Bourgeoises«], ja sogar auch
schon nicht mehr die Kommunisten, sondern nur noch die Nazis [und
bei diesen vielleicht immer noch die Juden], die auch da gewittert werden,
wo es sie gar nicht gibt, an deren Böswilligkeiten auch dann geglaubt wird,
wenn es sie gar nicht gibt - mit eben jenen Wirkungen, wie wenn es sie wirklich
gäbe; HB). Für alle jene Gelegenheiten, wo der Christ das
unmittelbare Eingreifen eines Gottes erwartet, aber umsonst erwartet weil
es keinen Gott gibt, ist seine Religion erfinderisch genug in Ausflüchten
und Gründen zur Beruhigung: hierin ist es sicherlich eine geistreiche Religion.
Zwar hat der Glaube bisher noch keine wirklichen Berge versetzen können,
obschon dies - ich weiß nicht wer - behauptet hat; aber er vermag Berge
dorthin zu setzen, wo keine sind. (Ebd., 1878-1880, S. 437).Tragikomödie
von Regensburg. Hier und da kann man mit einer schreckenden Deutlichkeit
das Possenspiel der Fortuna sehen, wie sie an wenig Tage, an einen Ort, an die
Zustände und Meinungen eines Kopfes das Seil der nächsten Jahrhunderte
anknüpft, an dem sie diese tanzen lassen will. So liegt das Verhängnis
der neueren deutschen Geschichte in den Tagen jener Disputation von Regensburg:
der friedliche Ausgang der kirchlichen und sittlichen Dinge, ohne Religionskriege,
Gegenreformation, schien gewährleistet, ebenso die Einheit der deutschen
Nation; der tiefe milde Sinn des Contarini schwebte einen Augenblick über
dem theologischen Gezänk, siegreich, als Vertreter der reiferen italienischen
Frömmigkeit, welche die Morgenröte der geistigen Freiheit auf ihren
Schwingen widerstrahlte. Aber der knöcherne Kopf Luthers, voller Verdächtigungen
und unheimlicher Ängste, sträubte sich: weil die Rechtfertigung durch
die Gnade ihm als sein größter Fund und Wahlspruch erschien,
glaubte er diesem Satze nicht im Munde von Italienern: während diese ihn,
wie es bekannt ist, schon viel früher gefunden und durch ganz Italien in
tiefer Stille verbreitet hatten. Luther sah in dieser scheinbaren Übereinstimmung
die Tücken des Teufels und verhinderte das Friedenswerk, so gut er konnte:
wodurch er die Absichten der Feinde des Reiches ein gutes Stück vorwärts
brachte. Und nun nehme man, um den Eindruck des schauerlich Possenhaften
noch mehr zu haben, hinzu, daß keiner der Sätze, über welche man
sich damals in Regensburg stritt, weder der von der Erbsünde, noch der von
der Erlösung durch Stellvertretung, noch der von der Rechtfertigung im Glauben,
irgendwie wahr ist, oder auch nur mit der Wahrheit zu tun hat, daß sie alle
jetzt als undiskutierbar erkannt sind: und doch wurde darüber die
Welt in Flammen gesetzt, also über Meinungen, denen gar keine Dinge und Realitäten
entsprechen; während in betreff von rein philologischen Fragen, zum Beispiel
nach der Erklärung der Einsetzungs-Worte des Abendmahls, doch wenigstens
ein Streit erlaubt ist, weil hier die Wahrheit gesagt werden kann. Aber wo nichts
ist, da hat auch die Wahrheit ihr Recht verloren. Zuletzt bleibt nichts
übrig zu sagen, als daß damals allerdings Kraftquellen entsprungen
sind, so mächtig, daß ohne sie alle Mühlen der modernen Welt nicht
mit gleicher Stärke getrieben würden. Und erst kommt es auf Kraft an,
dann erst auf Wahrheit, oder auch dann noch lange nicht nicht wahr, meine
lieben Zeitgemäßen? (Ebd., 1878-1880, S. 438-439).Goethes
Irrungen. Goethe ist darin die große Ausnahme unter den großen
Künstlern, daß er nicht in der Borniertheit seines wirklichen Vermögens
lebte, als ob dasselbe an ihm selber und für alle Welt das Wesentliche und
Auszeichnende, das Unbedingte und Letzte sein müsse. Er meinte zweimal etwas
Höheres zu besitzen, als er wirklich besaß und irrte sich, in
der zweiten Hälfte seines Lebens, wo er ganz durchdrungen von der
Überzeugung erscheint, einer der größten wissenschaftlichen
Entdecker und Lichtbringer zu sein. Und ebenso schon in der ersten Hälfte
seines Lebens: er wollte von sich etwas Höheres, als die Dichtkunst
ihm schien und irrte sich schon darin. Die Natur habe aus ihm einen bildenden
Künstler machen wollen das war sein innerlich glühendes und versengendes
Geheimnis, das ihn endlich nach Italien trieb, damit er sich in diesem Wahne noch
recht austobe und ihm jedes Opfer bringe. Endlich entdeckte er, der Besonnene,
allem Wahnschaffnen an sich ehrlich Abholde, wie ein trügerischer Kobold
von Begierde ihn zum Glauben an diesen Beruf gereizt habe, wie er von der größten
Leidenschaft seines Wollens sich losbinden und Abschied nehmen müsse.
Die schmerzlich schneidende und wühlende Überzeugung, es sei nötig,
Abschied zu nehmen, ist völlig in der Stimmung des Tasso ausgeklungen:
über ihm, dem »gesteigerten Werther«, liegt das Vorgefühl
von Schlimmerem als der Tod ist, wie wenn sich einer sagt: »nun ist es aus
nach diesem Abschiede; wie soll man weiterleben, ohne wahnsinnig zu werden!«
Diese beiden Grundirrtümer seines Lebens gaben Goethe angesichts einer
rein literarischen Stellung zur Poesie, wie damals die Welt allein sie kannte,
eine so unbefangene und fast willkürlich erscheinende Haltung. Abgesehen
von der Zeit, wo Schiller der arme Schiller, der keine Zeit hatte und keine
Zeit ließ ihn aus der enthaltsamen Scheu vor der Poesie, aus der
Furcht vor allem literarischen Wesen und Handwerk heraustrieb, erscheint Goethe
wie ein Grieche, der hier und da eine Geliebte besucht, mit dem Zweifel, ob es
nicht eine Göttin sei, der er keinen rechten Namen zu geben wisse. Allem
seinem Dichten merkt man die anhauchende Nähe der Plastik und der Natur an:
die Züge dieser ihm vorschwebenden Gestalten und er meinte vielleicht
immer nur den Verwandlungen einer Göttin auf der Spur zu sein wurden
ohne Willen und Wissen die Züge sämtlicher Kinder seiner Kunst. Ohne
die Umschweife des Irrtums wäre er nicht Goethe geworden: das heißt,
der einzige deutsche Künstler der Schrift, der jetzt noch nicht veraltet
ist weil er ebensowenig Schriftsteller als Deutscher von Beruf sein wollte.
(Ebd., 1878-1880, S. 439-440).Die Tiefen. Tiefdenkende
Menschen kommen sich im Verkehr mit anderen als Komödianten vor, weil sie
sich da, um verstanden zu werden, immer erst eine Oberfläche anheucheln müssen.
(Ebd., 1878-1880, S. 441).Umsturzgeister und Besitzgeister.
Das einzige Mittel gegen den Sozialismus, das noch in eurer Macht steht,
ist: ihn nicht herauszufordern, das heißt selber mäßig und genügsam
leben, die Schaustellung jeder Üppigkeit nach Kräften verhindern und
dem Staate zu Hilfe kommen, wenn er alles Überflüssige und Luxus-Ähnliche
empfindlich mit Steuern belegt. Ihr wollt dies Mittel nicht? Dann, ihr reichen
Bürgerlichen, die ihr euch »liberal« nennt, gesteht es euch nur
zu, eure eigne Herzensgesinnung ist es, welche ihr in den Sozialisten so furchtbar
und bedrohlich findet, in euch selber aber als unvermeidlich gelten laßt,
wie als ob sie dort etwas anderes wäre. Hättet ihr, so wie ihr seid,
euer Vermögen und die Sorge um dessen Erhaltung nicht, diese eure Gesinnung
würde euch zu Sozialisten machen: nur der Besitz unterscheidet zwischen euch
und ihnen. Euch müßt ihr zuerst besiegen, wenn ihr irgendwie über
die Gegner eures Wohlstandes siegen wollt. Und wäre jener Wohlstand
nur wirklich Wohlbefinden! Er wäre nicht so äußerlich und neidherausfordernd,
er wäre mitteilender, wohlwollender, ausgleichender, nachhelfender. Aber
das Unechte und Schauspielerische eurer Lebensfreuden, welche mehr im Gefühl
des Gegensatzes (daß andere sie nicht haben und euch beneiden) als im Gefühle
der Kraft-Erfüllung und Kraft-Erhöhung liegen eure Wohnungen,
Kleider, Wagen, Schauläden, Gaumen-und Tafel-Erfordernisse, eure lärmende
Opern- und Musikbegeisterung, endlich eure Frauen, geformt und gebildet, aber
aus unedlem Metall, vergoldet aber ohne Goldklang, als Schaustücke von euch
gewählt, als Schaustücke sich selber gebend; das sind die giftträgerischen
Verbreiter jener Volkskrankheit, welche als sozialistische Herzenskrätze
sich jetzt immer schneller der Masse mitteilt, aber in euch ihren ersten
sitz und Brüteherd hat. Und wer hielte diese Pest jetzt noch auf? (Ebd.,
1878-1880, S. 457-458).Gefahr im Reichtum. Nur wer
Geist hat, sollte Besitz haben: sonst ist der Besitz gemeingefährlich.
Der Besitzende nämlich, der von der freien Zeit, welche der Besitz ihm gewähren
könnte, keinen Gebrauch zu machen versteht, wird immer fortfahren,
nach Besitz zu streben: dieses Streben wird seine Unterhaltung, seine Kriegslist
im Kampf mit der Langeweile sein. So entsteht zuletzt, aus mäßigem
Besitz, welcher dem Geistigen genügen würde, der eigentliche Reichtum:
und zwar als das gleißende Ergebnis geistiger Unselbständigkeit und
Armut. Nur erscheint er eben ganz anders, als seine armselige Abkunft erwarten
läßt, weil er sich mit Bildung und Kunst maskieren kann: er kann eben
die Maske kaufen. Dadurch erweckt er Neid bei den Ärmeren und Ungebildeten
welche im Grunde immer die Bildung beneiden und in der Maske nicht die
Maske sehen und bereitet allmählich eine soziale Umwälzung vor:
denn vergoldete Roheit und schauspielerisches Sich-Blähen im angeblichen
»Genusse der Kultur« gibt jenen den Gedanken ein »es liegt nur
am Gelde«, während allerdings etwas am Gelde liegt, aber viel
mehr am Geiste. (Ebd., 1878-1880, S. 460).Partei-Sitte.
Eine jede Partei versucht, das Bedeutende, das außer ihr gewachsen
ist, als unbedeutend darzustellen; gelingt es ihr aber nicht, so feindet sie es
um so bitterer an, je vortrefflicher es ist. (Ebd., 1878-1880, S. 461).Von
der Herrschaft der Wissenden. Es ist leicht, zum Spotten leicht, das
Muster zur Wahl einer gesetzgebenden Körperschaft aufzustellen. Zuerst hätten
die Redlichen und Vertrauenswürdigen eines Landes, welche zugleich irgendworin
Meister und Sachkenner sind, sich auszuscheiden, durch gegenseitige Auswitterung
und Anerkennung: aus ihnen wiederum müßten sich, in engerer Wahl, die
in jeder Einzelart Sachverständigen und Wissenden ersten Ranges auswählen,
gleichfalls durch gegenseitige Anerkennung und Gewährleistung. Bestünde
aus ihnen die gesetzgebende Körperschaft, so müßten endlich, für
jeden einzelnen Fall, nur die Stimmen und Urteile der speziellsten Sachverständigen
entscheiden und die Ehrenhaftigkeit aller übrigen groß genug
und einfach zur Sache des Anstandes geworden sein, die Abstimmung dabei auch nur
jenen zu überlassen: so daß im strengsten Sinne das Gesetz aus dem
Verstande der Verständigsten hervorginge. Jetzt stimmen Parteien ab:
und bei jeder Abstimmung muß es hunderte von beschämten Gewissen geben
die der Schlecht-Unterrichteten, Urteils-Unfähigen, die der Nachsprechenden,
Nachgezogenen, Fortgerissenen. Nichts erniedrigt die Würde jedes neuen Gesetzes
so, als dieses anklebende Schamrot der Unredlichkeit, zu der jede Partei-Abstimmung
zwingt. Aber, wie gesagt, es ist leicht, zum Spotten leicht, so etwas aufzustellen:
keine Macht der Welt ist jetzt stark genug, das Bessere zu verwirklichen,
es sei denn, daß der Glaube an die höchste Nützlichkeit der
Wissenschaft und der Wissenden endlich auch dem Böswilligsten einleuchte
und dem jetzt herrschenden Glauben an die Zahl vorgezogen werde. Im Sinne dieser
Zukunft sei unsere Losung: »Mehr Ehrfurcht vor dem Wissenden! Und nieder
mit allen Parteien!« (Ebd., 1878-1880, S. 462).Meinungen.
Die meisten Menschen sind nichts und gelten nichts, bis sie sich in
allgemeine Überzeugungen und öffentliche Meinungen eingekleidet haben
nach der Schneider-Philosophie: Kleider machen Leute. Von den Ausnahme-Menschen
aber muß es heißen: erst der Träger macht die Tracht;
hier hören die Meinungen auf, öffentlich zu sein, und werden etwas anderes
als Masken, Putz und Verkleidung. (Ebd., 1878-1880, S. 468).Nie
umsonst. Im Gebirge der Wahrheit kletterst du nie umsonst: entweder
du kommst schon heute weiter hinauf oder du übst deine Kräfte, um morgen
höher steigen zu können. (Ebd., 1878-1880, S. 475).»Wolle
ein Selbst.« Die tätigen, erfolgreichen Naturen handeln nicht
nach dem Spruche »kenne dich selbst«, sondern wie als ob ihnen der
Befehl vorschwebte: wolle ein Selbst, so wirst du ein Selbst. Das
Schicksal scheint ihnen immer noch die Wahl gelassen zu haben; während die
Untätigen und Beschaulichen darüber nachsinnen, wie sie jenes eine Mal,
beim Eintritt ins Leben, gewählt haben. (Ebd., 1878-1880, S.
477).Gegen-Sätze. Das Greisenhafteste, was je
über den Menschen gedacht worden ist, steckt in dem berühmten Satze
»das Ich ist immer hassenswert«; das Kindlichste in dem noch berühmteren
»liebe deinen Nächsten, wie dich selbst«. Bei dem einen
hat die Menschenkenntnis aufgehört, bei dem andern noch gar nicht angefangen.
(Ebd., 1878-1880, S. 480).Anzeichen der vornehmen Seele.
Eine vornehme Seele ist die nicht, welche der höchsten Aufschwünge
fähig ist, sondern jene, welche sich wenig erhebt und wenig fällt, aber
immer in einer freieren durchleuchteten Luft und Höhe wohnt. (Ebd.,
1878-1880, S. 483).Wie die Pflicht Glanz bekommt.
Das Mittel, um deine eherne Pflicht im Auge von jedermann in Gold zu verwandeln,
heißt: halte immer etwas mehr als du versprichst. (Ebd., 1878-1880,
S. 484).Gebet zu Menschen. »Vergib uns unsere
Tugenden« so soll man zu Menschen beten. (Ebd., 1878-1880,
S. 484).Schaffende und Genießende. Jeder Genießende
meint, dem Baume habe es an der Frucht gelegen; aber ihm lag am Samen.
Hierin besteht der Unterschied zwischen allen Schaffenden und Genießenden.
(Ebd., 1878-1880, S. 484).Der Ruhm aller Großen.
Was ist am Genie gelegen, wenn es nicht seinem Betrachter und Verehrer solche
Freiheit und Höhe des Gefühls mitteilt, daß er des Genies nicht
mehr bedarf! Sich überflüssig machen das ist der
Ruhm aller Großen. (Ebd., 1878-1880, S. 485).Die
Hadesfahrt. Auch ich bin in der Unterwelt gewesen, wie Odysseus, und
werde es noch öfter sein; und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit
einigen Toten reden zu können, sondern des eignen Blutes nicht geschont.
Vier Paare waren es, welche sich mir, dem Opfernden nicht versagten: Epikur und
Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. Mit
diesen muß ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin,
von ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhören,
wenn sie sich dabei selber untereinander Recht und Unrecht geben. Was ich auch
nur sage, beschließe, für mich und andere ausdenke: auf jene acht hefte
ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet. Mögen die Lebenden
es mir verzeihen, wenn sie mir mitunter wie die Schatten vorkommen, so verblichen
und verdrießlich, so unruhig und ach! so lüstern nach Leben: während
jene mir dann so lebendig scheinen, als ob sie nun, nach dem Tode, nimmermehr
lebensmüde werden könnten. Auf die ewige Lebendigkeit aber kommt
es an: was ist am »ewigen Leben« und überhaupt am Leben gelegen!
(Ebd., 1878-1880, S. 485).
Der Wanderer und sein Schatten
Vom
Baume der Erkenntnis. Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit: Freischeinlichkeit,
aber keine Freiheit, diese beiden Früchte sind es, derentwegen der
Baum der Erkenntnis nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden kann.
(Ebd., 1878-1880, S. 489).Die Vernunft der Welt.
Daß die Welt nicht der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit ist, läßt
sich endgültig dadurch beweisen, daß jenes Stück Welt, welches
wir kennen ich meine unsre menschliche Vernunft , nicht allzu vernünftig
ist. Und wenn sie nicht allezeit und vollständig weise und rationell ist,
so wird es die übrige Welt auch nicht sein; hier gilt der Schluß a
minori ad majus, a parte ad totum, und zwar mit entscheidender Kraft. (Ebd.,
1878-1880, S. 489).Wo die Lehre von der Freiheit des Willens
entstanden ist. Über dem einen steht die Notwendigkeit in der
Gestalt seiner Leidenschaften, über dem andern als Gewohnheit zu hören
und zu gehorchen, über dem dritten als logisches Gewissen, über dem
vierten als Laune und mutwilliges Behagen an Seitensprüngen. Von diesen vieren
wird aber gerade da die Freiheit ihres Willens gesucht, wo jeder von ihnen
am festesten gebunden ist: es ist, als ob der Seidenwurm die Freiheit seines Willens
gerade im Spinnen suchte. Woher kommt dies? Ersichtlich daher, daß jeder
sich dort am meisten für frei hält, wo sein Lebensgefühl
am größten ist, also, wie gesagt, bald in der Leidenschaft, bald in
der Pflicht, bald in der Erkenntnis, bald im Mutwillen. Das, wodurch der einzelne
Mensch stark ist, worin er sich belebt fühlt, meint er unwillkürlich,
müsse auch immer das Element seiner Freiheit sein: er rechnet Abhängigkeit
und Stumpfsinn, Unabhängigkeit und Lebensgefühl als notwendige Paare
zusammen. Hier wird eine Erfahrung, die der Mensch im gesellschaftlich-politischen
Gebiete gemacht hat, fälschlich auf das allerletzte metaphysische Gebiet
übertragen: dort ist der starke Mann auch der freie Mann, dort ist lebendiges
Gefühl von Freud und Leid, Höhe des Hoffens, Kühnheit des Begehrens,
Mächtigkeit des Hassens das Zubehör der Herrschenden und Unabhängigen,
während der Unterworfene, der Sklave, gedrückt und stumpf lebt.
Die Lehre von der Freiheit des Willens ist eine Erfindung herrschender
Stände. (Ebd., 1878-1880, S. 493-494).Keine neuen
Ketten fühlen. Solange wir nicht fühlen, daß wir irgendwovon
abhängen, halten wir uns für unabhängig: ein Fehlschluß,
welcher zeigt, wie stolz und herrschsüchtig der Mensch ist. Denn er nimmt
hier an, daß er unter allen Umständen die Abhängigkeit, sobald
er sie erleide, merken und erkennen müsse, unter der Voraussetzung, daß
er in der Unabhängigkeit für gewöhnlich lebe und sofort, wenn er
sie ausnahmsweise verliere, einen Gegensatz der Empfindung spüren werde.
Wie aber, wenn das Umgekehrte wahr wäre: daß er immer in vielfacher
Abhängigkeit lebt, sich aber für frei hält, wo er den Druck
der Kette aus langer Gewohnheit nicht mehr spürt? Nur an den neuen
Ketten leidet er noch; »Freiheit des Willens« heißt eigentlich
nichts weiter, als keine neuen Ketten fühlen. (Ebd., 1878-1880, S.
494).Die Freiheit des Willens und die Isolation der Fakta.
Unsere gewohnte ungenaue Beobachtung nimmt eine Gruppe von Erscheinungen
als eins und nennt sie ein Faktum: zwischen ihm und einem andern Faktum denkt
sie sich einen leeren Raum hinzu, sie isoliert jedes Faktum. In Wahrheit aber
ist all unser Handeln und Erkennen keine Folge von Fakten und leeren Zwischenräumen,
sondern ein beständiger Fluß. Nun ist der Glaube an die Freiheit des
Willens gerade mit der Vorstellung eines beständigen, einartigen, ungeteilten,
unteilbaren Fließens unverträglich: er setzt voraus, daß jede
einzelne Handlung isoliert und unteilbar ist; er ist eine Atomistik
im Bereiche des Wollens und Erkennens. Gerade so wie wir Charaktere ungenau
verstehen, so machen wir es mit den Fakten: wir sprechen von gleichen Charakteren,
gleichen Fakten: beide gibt es nicht. Nun loben und tadeln wir aber nur
unter dieser falschen Voraussetzung, daß es gleiche Fakta gebe, daß
eine abgestufte Ordnung von Gattungen der Fakten vorhanden sei, welcher eine abgestufte
Wertordnung entspreche: also wir isolieren nicht nur das einzelne Faktum, sondern
auch wiederum die Gruppen von angeblich gleichen Fakten (gute, böse, mitleidige,
neidische Handlungen usw.) beide Male irrtümlich. Das Wort
und der Begriff sind der sichtbarste Grund, weshalb wir an diese Isolation von
Handlungen- Gruppen glauben: mit ihnen bezeichnen wir nicht nur die Dinge,
wir meinen ursprünglich durch sie das Wahre derselben zu erfassen.
Durch Worte und Begriffe werden wir jetzt noch fortwährend verführt,
die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind, getrennt voneinander, unteilbar,
jedes an und für sich seiend. Es liegt eine philosophische Mythologie in
der Sprache versteckt, welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig
man sonst auch sein mag. Der Glaube an die Freiheit des Willens, das heißt
der gleichen Fakten und der isolierten Fakten, hat in der
Sprache seinen beständigen Evangelisten und Anwalt. (Ebd., 1878-1880,
S. 494-495).Die Grundirrtümer. Damit der Mensch
irgendeine seelische Lust oder Unlust empfinde, muß er von einer dieser
beiden Illusionen beherrscht sein: entweder glaubt er an die Gleichheit
gewisser Fakta, gewisser Empfindungen: dann hat er durch die Vergleichung jetziger
Zustände mit früheren und durch Gleich- oder Ungleichsetzung derselben
(wie sie bei aller Erinnerung stattfindet) eine seelische Lust oder Unlust; oder
er glaubt an die Willens-Freiheit, etwa wenn er denkt »dies hätte
ich nicht tun müssen«, »dies hätte anders auslaufen können«,
und gewinnt daraus ebenfalls Lust oder Unlust. Ohne die Irrtümer welche bei
jeder seelischen Lust und Unlust tätig sind, würde niemals ein Menschentum
entstanden sein dessen Grundempfindung ist und bleibt, daß der Mensch
der Freie in der Welt der Unfreiheit sei, der ewige Wundertäter, sei
es, daß er gut oder böse handelt, die erstaunliche Ausnahme, das Übertier,
der Fast-Gott, der Sinn der Schöpfung, der Nichthinwegzudenkende, das Lösungswort
des kosmischen Rätsels, der große Herrscher über die Natur und
Verächter derselben, das Wesen, das seine Geschichte Weltgeschichte nennt!
Vanitas vanitatum homo. (Ebd., 1878-1880, S. 495-496).Der
Mensch als der Messende. Vielleicht hat alle Moralität der Menschheit
in der ungeheuren inneren Aufregung ihren Ursprung, welche die Urmenschen ergriff,
als sie das Maß und das Messen, die Wage und das Wägen entdeckten (das
Wort »Mensch« bedeutet ja den Messenden, er hat sich nach seiner größten
Entdeckung benennen wollen!). Mit diesen Vorstellungen stiegen sie in Bereiche
hinauf, die ganz unmeßbar und unwägbar sind, aber es ursprünglich
nicht zu sein schienen. (Ebd., 1878-1880, S. 502).Prinzip
des Gleichgewichts. Der Räuber und der Mächtige, welcher
einer Gemeinde verspricht, sie gegen den Räuber zu schützen, sind wahrscheinlich
im Grunde ganz ähnliche Wesen, nur daß der zweite seinen Vorteil anders
als der erste erreicht: nämlich durch regelmäßige Abgaben, welche
die Gemeinde an ihn entrichtet, und nicht mehr durch Brandschatzungen. (Es ist
das nämliche Verhältnis wie zwischen Handelsmann und Seeräuber,
welche lange Zeit ein und dieselbe Person sind: wo ihr die eine Funktion nicht
rätlich scheint, da übt sie die andere aus. Eigentlich ist ja selbst
jetzt noch alle Kaufmanns-Moral nur die Verklügerung der Seeräuber-Moral:
so wohlfeil wie möglich kaufen womöglich für nichts als
die Unternehmungskosten , so teuer wie möglich verkaufen.) Das Wesentliche
ist: jener Mächtige verspricht, gegen den Räuber Gleichgewicht zu halten;
darin sehen die Schwachen eine Möglichkeit zu leben. Denn entweder müssen
sie sich selber zu einer gleichwiegenden Macht zusammentun oder sich einem
Gleichwiegenden unterwerfen (ihm für seine Leistungen Dienste leisten). Dem
letzteren Verfahren wird gern der Vorzug gegeben, weil es im Grunde zwei gefährliche
Wesen in Schach hält: das erste durch das zweite und das zweite durch den
Gesichtspunkt des Vorteils; letzteres hat nämlich seinen Gewinn davon, die
Unterworfenen gnädig oder leidlich zu behandeln, damit sie nicht nur sich,
sondern auch ihren Beherrscher ernähren können. Tatsächlich kann
es dabei immer noch hart und grausam genug zugehen, aber verglichen mit der früher
immer möglichen völligen Vernichtung atmen die Menschen schon in diesem
Zustande auf. Die Gemeinde ist im Anfang die Organisation der Schwachen
zum Gleichgewicht mit gefahrdrohenden Mächten. Eine Organisation zum
Übergewicht wäre rätlicher, wenn man dabei so stark würde,
um die Gegenmacht auf einmal zu vernichten: und handelt es sich um einen
einzelnen mächtigen Schadentuer, so wird dies gewiß versucht. Ist aber
der eine ein Stammhaupt oder hat er großen Anhang, so ist die schnelle entscheidende
Vernichtung unwahrscheinlich und die dauernde lange Fehde zu gewärtigen:
diese aber bringt der Gemeinde den am wenigsten wünschbaren Zustand mit sich,
weil sie durch ihn die Zeit verliert, für ihren Lebensunterhalt mit der nötigen
Regelmäßigkeit zu sorgen, und den Ertrag aller Arbeit jeden Augenblick
bedroht sieht. Deshalb zieht die Gemeinde vor, ihre Macht zu Verteidigung und
Angriff genau auf die Höhe zu bringen, auf der die Macht des gefährlichen
Nachbars ist, und ihm zu verstehen zu geben, daß in ihrer Wagschale jetzt
gleich viel Erz liege: warum wolle man nicht gut Freund miteinander sein?
Gleichgewicht ist also ein sehr wichtiger Begriff für die älteste
Rechts- und Morallehre; Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit. Wenn diese
in roheren Zeiten sagt: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, so setzt sie
das erreichte Gleichgewicht voraus und will es vermöge dieser Vergeltung
erhalten: so daß, wenn jetzt der eine sich gegen den andern vergeht,
der andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr nimmt. Sondern vermöge
des jus talionis wird das Gleichgewicht der gestörten Machtverhältnisse
wiederhergestellt: denn ein Auge, ein Arm mehr ist in solchen Urzuständen
ein Stück Macht, ein Gewicht mehr. Innerhalb einer Gemeinde,
in der alle sich als gleichgewichtig betrachten, ist gegen Vergehungen, das heißt
gegen Durchbrechungen des Prinzips des Gleichgewichts Schande und Strafe da: Schande,
ein Gewicht, eingesetzt gegen den übergreifenden einzelnen, der durch den
Übergriff sich Vorteile verschafft hat, durch die Schande nun wieder Nachteile
erfährt, die den früheren Vorteil aufheben und überwiegen.
Ebenso steht es mit der Strafe: sie stellt gegen das Übergewicht, das sich
jeder Verbrecher zuspricht, ein viel größeres Gegengewicht auf, gegen
Gewalttat den Kerkerzwang, gegen Diebstahl den Wiederersatz und die Strafsumme.
So wird der Frevler erinnert, daß er mit seiner Handlung aus der Gemeinde
und deren Moral-Vorteilen ausschied: sie behandelt ihn wie einen Ungleichen, Schwachen,
außer ihr Stehenden; deshalb ist Strafe nicht nur Wiedervergeltung, sondern
hat ein Mehr, ein Etwas von der Härte des Naturzustandes; an diesen
will sie eben erinnern. (Ebd., 1878-1880, S. 502-504).Ob
die Anhänger der Lehre vom freien Willen strafen dürfen?
Die Menschen, welche von Berufswegen richten und strafen, suchen in jedem Falle
festzustellen, ob ein Übeltäter überhaupt für seine Tat verantwortlich
ist, ob er seine Vernunft anwenden konnte, ob er aus Gründen handelte
und nicht unbewußt oder im Zwange. Straft man ihn, so straft man, daß
er die schlechteren Gründe den besseren vorzog: welche er also gekannt
haben muß. Wo diese Kenntnis fehlt, ist der Mensch nach der herrschenden
Ansicht unfrei und nicht verantwortlich: es sei denn, daß seine Unkenntnis,
zum Beispiel seine ignorantia legis, die Folge einer absichtlichen Vernachlässigung
des Erlernens ist; dann hat er also schon damals, als er nicht lernen wollte was
er sollte, die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen und muß
jetzt die Folge seiner schlechten Wahl büßen. Wenn er dagegen die besseren
Gründe nicht gesehen hat, etwa aus Stumpf-und Blödsinn, so pflegt man
nicht zu strafen: es hat ihm, wie man sagt, die Wahl gefehlt, er handelte als
Tier. Die absichtliche Verleugnung der besseren Vernunft ist jetzt die Voraussetzung,
die man beim strafwürdigen Verbrechen macht. Wie kann aber jemand absichtlich
unvernünftiger sein, als er sein muß? Woher die Entscheidung, wenn
die Wagschalen mit guten und schlechten Motiven belastet sind? Also nicht vom
Irrtum, von der Blindheit her, nicht von einem äußeren, auch von keinem
inneren Zwange her? (Man erwäge übrigens, daß jeder sogenannte
»äußere Zwang« nichts weiter ist, als der innere Zwang
der Furcht und des Schmerzes.) Woher? fragt man immer wieder. Die Vernunft
soll also nicht die Ursache sein, weil sie sich nicht gegen die besseren Gründe
entscheiden könnte? Hier nun ruft man den »freien Willen« zu
Hilfe: es soll das vollendete Belieben entscheiden, ein Moment eintreten,
wo kein Motiv wirkt, wo die Tat als Wunder geschieht, aus dem Nichts heraus. Man
straft diese angebliche Beliebigkeit, in einem Falle, wo kein Belieben
herrschen sollte: die Vernunft, welche das Gesetz, das Verbot und Gebot kennt,
hätte gar keine Wahl lassen dürfen, meint man, und als Zwang und höhere
Macht wirken sollen. Der Verbrecher wird also bestraft, weil er vom »freien
Willen« Gebrauch macht, das heißt weil er ohne Grund gehandelt hat,
wo er nach Gründen hätte handeln sollen. Aber warum tat er dies?
Dies eben darf nicht einmal mehr gefragt werden: es war eine Tat ohne »darum«,
ohne Motiv, ohne Herkunft, etwas Zweckloses und Vernunftloses. Eine
solche Tat dürfte man aber, nach der ersten oben vorangeschickten Bedingung
aller Strafbarkeit, auch nicht strafen! Auch jene Art der Strafbarkeit
darf nicht geltend gemacht werden, als wenn hier etwas nicht getan, etwas
unterlassen, von der Vernunft nicht Gebrauch gemacht sei: denn unter allen
Umständen geschah die Unterlassung ohne Absicht! und nur die absichtliche
Unterlassung des Gebotenen gilt als strafbar. Der Verbrecher hat zwar die schlechteren
Gründe den besseren vorgezogen, aber ohne Grund und Absicht: er hat
zwar seine Vernunft nicht angewendet, aber nicht, um sie nicht anzuwenden.
Jene Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrechen macht, daß
er seine Vernunft absichtlich verleugnet habe, gerade sie ist bei der Annahme
des »freien Willens« aufgehoben. Ihr dürft nicht strafen,
ihr Anhänger der Lehre vom »freien Willen«, nach euern eigenen
Grundsätzen nicht! Diese sind aber im Grunde nichts, als eine sehr
wunderliche Begriffs-Mythologie; und das Huhn, welches sie ausgebrütet hat,
hat abseits von aller Wirklichkeit auf seinen Eiern gesessen. (Ebd., 1878-1880,
S. 504-506).Zur Beurteilung des Verbrechers und seines Richters.
Der Verbrecher der den ganzen Fluß der Umstände kennt, findet
seine Tat nicht so außer der Ordnung und Begreiflichkeit, wie seine Richter
und Tadler; seine Strafe aber wird ihm gerade nach dem Grad von Erstaunen zugemessen,
welches jene beim Anblick der Tat als einer Unbegreiflichkeit befällt.
Wenn die Kenntnis, welche der Verteidiger eines Verbrechers von dem Fall und seiner
Vorgeschichte hat, weit genug reicht so müssen die sogenannten Milderungsgründe,
welche er der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern. Oder,
noch deutlicher: der Verteidiger wird schrittweise jenes verurteilende und Strafe
zumessende Erstaunen mildern und zuletzt ganz aufheben, indem er jeden
ehrlichen Zuhörer zu dem inneren Geständnis nötigt: »er mußte
so handeln, wie er gehandelt hat; wir würden, wenn wir straften, die ewige
Notwendigkeit bestrafen.« Den Grad der Strafe abmessen nach dem Grad
der Kenntnis, welchen man von der Historie eines Verbrechens hat oder überhaupt
gewinnen kann, streitet dies nicht wider alle Billigkeit? (Ebd.,
1878-1880, S. 506-507).Der Tausch und die Billigkeit.
Bei einem Tausche würde es nur dann ehrlich und rechtlich zugehen, wenn jeder
der beiden Tauschenden so viel verlangte, als ihm seine Sache wert scheint, die
Mühe des Erlangens, die Seltenheit, die aufgewendete Zeit usw. in Anschlag
gebracht, nebst dem Affektionswerte. Sobald er den Preis in Hinsicht auf das
Bedürfnis des andern macht, ist er ein feinerer Räuber und Erpresser.
Ist Geld das eine Tauschobjekt, so ist zu erwägen, daß ein Frankentaler
in der Hand eines reichen Erben, eines Tagelöhners, eines Kaufmannes, eines
Studenten ganz verschiedene Dinge sind: jeder wird, je nachdem er fast nichts
oder viel tat, ihn zu erwerben, wenig oder viel dafür empfangen dürfen
so wäre es billig: in Wahrheit steht es bekanntlich umgekehrt. In
der großen Geldwelt ist der Taler des faulsten Reichen gewinnbringender
als der des Armen und Arbeitsamen. (Ebd., 1878-1880, S. 507).Rechtszustände
als Mittel. Recht, auf Verträgen zwischen Gleichen beruhend, besteht,
solange die Macht derer, die sich vertragen haben, eben gleich oder ähnlich
ist; die Klugheit hat das Recht geschaffen, um der Fehde und der nutzlosen
Vergeudung zwischen ähnlichen Gewalten ein Ende zu machen. Dieser aber ist
ebenso endgültig ein Ende gemacht, wenn der eine Teil entschieden schwächer
als der andere geworden ist: dann tritt Unterwerfung ein, und das Recht hört
auf, aber der Erfolg ist derselbe wie der, welcher bisher durch das Recht
erreicht wurde. Denn jetzt ist es die Klugheit des Überwiegenden,
welche die Kraft des Unterworfenen zu schonen und nicht nutzlos zu vergeuden
anrät: und oft ist die Lage des Unterworfenen günstiger, als die des
Gleichgestellten war. Rechtszustände sind also zeitweilige Mittel,
welche die Klugheit anrät, keine Ziele. (Ebd., 1878-1880, S. 507-508).Das
Willkürliche im Zumessen der Strafen. Die meisten Verbrecher kommen
zu ihren Strafen wie die Weiber zu ihren Kindern. Sie haben zehn- und hundertmal
dasselbe getan, ohne üble Folgen zu spüren: plötzlich kommt eine
Entdeckung und hinter ihr die Strafe. Die Gewohnheit sollte doch die Schuld der
Tat, derentwegen der Verbrecher gestraft wird, entschuldbarer erscheinen lassen:
es ist ja ein Hang entstanden, dem schwerer zu widerstehen ist. Anstatt dessen
wird er, wenn der Verdacht des gewohnheitsmäßigen Verbrechens vorliegt,
härter gestraft; die Gewohnheit wird als Grund gegen alle Milderung geltend
gemacht. Eine vorherige musterhafte Lebensweise, gegen welche das Verbrechen um
so fürchterlicher absticht, sollte die Schuldbarkeit verschärft erscheinen
lassen! Aber sie pflegt die Strafe zu mildern. So wird alles nicht nach dem Verbrecher
bemessen, sondern nach der Gesellschaft und deren Schaden und Gefahr: frühere
Nützlichkeit eines Menschen wird gegen seine einmalige Schädlichkeit
eingerechnet, frühere Schädlichkeit zur gegenwärtig entdeckten
addiert, und demnach die Strafe am höchsten zugemessen. Wenn man aber dergestalt
die Vergangenheit eines Menschen mit straft oder mit belohnt (dies im ersten Fall,
wo das Weniger-Strafen ein Belohnen ist), so sollte man noch weiter zurückgehn
und die Ursache einer solchen oder solchen Vergangenheit strafen und belohnen,
ich meine Eltern, Erzieher, die Gesellschaft usw.: in vielen Fällen wird
man dann die Richter irgendwie bei der Schuld beteiligt finden. Es ist
willkürlich, beim Verbrecher stehenzubleiben, wenn man die Vergangenheit
straft: man sollte, falls man die absolute Entschuldbarkeit jeder Schuld nicht
zugeben will, bei jedem einzelnen Fall stehnbleiben und nicht weiter zurückblicken:
also die Schuld isolieren und sie gar nicht mit der Vergangenheit in Verknüpfung
bringen, sonst wird man zum Sünder gegen die Logik. Zieht vielmehr,
ihr Willens-Freien, den notwendigen Schluß aus eurer Lehre von der »Freiheit
des Willens« und dekretiert kühnlich: »keine Tat hat eine
Vergangenheit.« (Ebd., 1878-1880, S. 508-509).Der
Neid und sein edlerer Bruder. Wo die Gleichheit wirklich durchgedrungen
und dauernd begründet ist, entsteht jener, im ganzen als unmoralisch geltende
Hang, der im Naturzustande kaum begreiflich wäre: der Neid. Der Neidische
fühlt jedes Hervorragendes anderen über das gemeinsame Maß und
will ihn bis dahin herabdrücken oder sich bis dorthin erheben: woraus
sich zwei verschiedene Handlungsweisen ergeben, welche Hesiod als die böse
und die gute Eris bezeichnet hat. Ebenso entsteht im Zustande der Gleichheit die
Indignation darüber, daß es einem anderen unter seiner Würde
und Gleichheit schlecht ergeht, einem zweiten über seiner Gleichheit
gut: es sind dies Affekte edlerer Naturen. Sie vermissen in den Dingen,
welche von der Willkür des Menschen unabhängig sind, Gerechtigkeit und
Billigkeit, das heißt: sie verlangen, daß jene Gleichheit, die der
Mensch anerkennt, nun auch von der Natur und dem Zufall anerkannt werde, sie zürnen
darüber, daß es den Gleichen nicht gleich ergeht. (Ebd., 1878-1880,
S. 509-510).Türkenfatalismus. Der Türkenfatalismus
hat den Grundfehler, daß er den Menschen und das Fatum als zwei geschiedene
Dinge einander gegenüberstellt: der Mensch, sagt er, könne dem Fatum
widerstreben, es zu vereiteln suchen, aber schließlich behalte es immer
den Sieg; weshalb das Vernünftigste sei, zu resignieren oder nach Belieben
zu leben. In Wahrheit ist jeder Mensch selber ein Stück Fatum; wenn er in
der angegebenen Weise dem Fatum zu widerstreben meint, so vollzieht sich eben
darin auch das Fatum; der Kampf ist eine Einbildung, aber ebenso jene Resignation
in das Fatum; alle diese Einbildungen sind im Fatum eingeschlossen. Die
Angst, welche die meisten vor der Lehre der Unfreiheit des Willens haben, ist
die Angst vor dem Türkenfatalismus: sie meinen, der Mensch werde schwächlich,
resigniert und mit gefalteten Händen vor der Zukunft stehen, weil er an ihr
nichts zu ändern vermöge: oder aber, er werde seiner vollen Launenhaftigkeit
die Zügel schießen lassen, weil auch durch diese das einmal Bestimmte
nicht schlimmer werden könne. Die Torheiten des Menschen sind ebenso ein
Stück Fatum wie seine Klugheiten: auch jene Angst vor dem Glauben an das
Fatum ist Fatum. Du selber, armer Ängstlicher, bist die unbezwingliche Moira,
welche noch über den Göttern thront, für alles, was da kommt; du
bist der Segen oder Fluch und jedenfalls die Fessel, in welcher der Stärkste
gebunden liegt; in dir ist alle Zukunft der Menschen-Welt vorherbestimmt, es hilft
dir nichts, wenn dir vor dir selber graut. (Ebd., 1878-1880, S. 526).Die
weltliche Gerechtigkeit. Es ist möglich, die weltliche Gerechtigkeit
aus den Angeln zu heben mit der Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit
und Unschuld jedermannes: und es ist schon ein Versuch in gleicher Richtung gemacht
worden, gerade auf Grund der entgegengesetzten Lehre von der völligen Verantwortlichkeit
und Verschuldung jedermannes. Der Stifter des Christentums war es, der die weltliche
Gerechtigkeit aufheben und das Richten und Strafen aus der Welt schaffen wollte.
Denn er verstand alle Schuld als »Sünde«, das heißt als
Frevel an Gott und nicht als Frevel an der Welt; andererseits hielt
er jedermann im größten Maßstabe und fast in jeder Hinsicht für
einen Sünder. Die Schuldigen sollen aber nicht die Richter ihresgleichen
sein: so urteilte seine Billigkeit. Alle Richter der weltlichen Gerechtigkeit
waren also in seinen Augen so schuldig wie die von ihnen Verurteilten, und ihre
Miene der Schuldlosigkeit schien ihm so heuchlerisch und pharisäerhaft. Überdies
sah er auf die Motive der Handlungen und nicht auf den Erfolg, und hielt für
die Beurteilung der Motive nur einen einzigen für scharfsichtig genug: sich
selber (oder wie er sich ausdrückte: Gott). (Ebd., 1878-1880, S. 534).Der
Verfolger Gottes. Paulus hat den Gedanken ausgedacht, Calvin ihn nachgedacht,
daß Unzähligen seit Ewigkeiten die Verdammnis zuerkannt ist und daß
dieser schöne Weltenplan so eingerichtet wurde, damit die Herrlichkeit Gottes
sich daran offenbare; Himmel und Hölle und Menschheit sollen also da sein,
um die Eitelkeit Gottes zu befriedigen! Welch grausame und unersättliche
Eitelkeit muß in der Seele dessen geflackert haben, der so etwas sich zuerst
oder zu zweit ausdachte! Paulus ist also doch Paulus geblieben der
Verfolger Gottes. (Ebd., 1878-1880, S. 536).Ausweichen.
Man weiß nicht eher, worin bei ausgezeichneten Geistern das Feine
ihres Ausdrucks, ihrer Wendung liegt, wenn man nicht sagen kann, auf welches Wort
jeder mittelmäßige Schriftsteller beim Ausdrücken derselben Sache
unvermeidlich geraten sein würde. Alle großen Artisten zeigen sich
beim Lenken ihres Fuhrwerks zum Ausweichen, zum Entgleisen geneigt doch
nicht zum Umfallen. (Ebd., 1878-1880, S. 540).Dichter-Gedanken.
Die wirklichen Gedanken gehen bei wirklichen Dichtern alle verschleiert
einher, wie die Ägypterinnen: nur das tiefe Auge des Gedankens blickt frei
über den Schleier hinweg. Dichter-Gedanken sind im Durchschnitt nicht
so viel wert, als sie gelten: man bezahlt eben für den Schleier und die eigene
Neugierde mit. (Ebd., 1878-1880, S. 542-543).Schreibstil
und Sprechstil. Die Kunst zu schreiben verlangt vor allem Ersatzmittel
für die Ausdrucksarten, welche nur der Redende hat: also für Gebärden,
Akzente, Töne, Blicke. Deshalb ist der Schreibstil ein ganz anderer, als
der Sprechstil, und etwas viel Schwierigeres: er will mit wenigerem sich
ebenso verständlich machen wie jener. Demosthenes hielt seine Reden anders
als wir sie lesen: er hat sie zum Gelesenwerden erst überarbeitet.
Ciceros Reden sollten, zum gleichen Zwecke, erst demosthenisiert werden: jetzt
ist viel mehr römisches Forum in ihnen, als der Leser vertragen kann.
(Ebd., 1878-1880, S. 544).Vorsicht im Zitieren. Die
jungen Autoren wissen nicht, daß der gute Ausdruck, der gute Gedanke sich
nur unter seinesgleichen gut ausnimmt, daß ein vorzügliches Zitat ganze
Seiten, ja das ganze Buch vernichten kann, indem es den Leser warnt und ihm zuzurufen
scheint: »Gib acht, ich bin der Edelstein und rings um mich ist Blei, bleiches,
schmähliches Blei!« Jedes Wort, jeder Gedanke will nur in seiner
Gesellschaft leben: das ist die Moral des gewählten Stils (Ebd.,
1878-1880, S. 544).Die Faust-Idee. Eine kleine Nähterin
wird verführt und unglücklich gemacht; ein großer Gelehrter aller
vier Fakultäten ist der Übeltäter. Das kann doch nicht mit rechten
Dingen zugegangen sein? Nein, gewiß nicht! Ohne die Beihilfe des leibhaftigen
Teufels hätte es der große Gelehrte nicht zustande gebracht.
Sollte dies wirklich der größte deutsche »tragische Gedanke«
sein, wie man unter Deutschen sagen hört? Für Goethe war aber
auch dieser Gedanke noch zu fürchterlich; sein mildes Herz konnte nicht umhin,
die kleine Nähterin, »die gute Seele, die nur einmal sich vergessen«,
nach ihrem unfreiwilligen Tode in die Nähe der Heiligen zu versetzen; ja
selbst den großen Gelehrten brachte er, durch einen Possen, der dem Teufel
im entscheidenden Augenblick gespielt wird, noch zur rechten Zeit in den Himmel,
ihn, »den guten Menschen« mit dem »dunklen Drange«:
dort im Himmel finden sich die Liebenden wieder. Goethe sagt einmal, für
das eigentlich Tragische sei seine Natur zu konziliant gewesen. (Ebd., 1878-1880,
S. 550).Goethe ... gehört in eine höhere Gattung von
Literaturen ...: deshalb steht er auch zu seiner Nation weder im Verhältnis
des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens. .... Goethe, nicht nur ein
guter und großer Mensch, sondern eine Kultur .... Es ist ein hoher
Zustand der Menschheit möglich, wo das Europa der Völker eine dunkle
Vergessenheit ist, wo Europa aber noch in dreißig sehr alten, nie veralteten
Büchern lebt: in den Klassikern. (Ebd., 1878-1880, S. 551-552).Gegen
die Sprach-Neuerer. In der Sprache neuern oder altertümeln, das
Seltene und Fremdartige vorziehen, auf Reichtum des Wortschatzes statt auf Beschränkung
trachten, ist immer ein Zeichen des ungereiften oder verderbten Geschmacks. Eine
edele Armut, aber innerhalb des unscheinbaren Besitzes eine meisterliche Freiheit
zeichnet die griechischen Künstler der Rede aus: sie wollen weniger
haben, als das Volk hat denn dieses ist am reichsten in Altem und Neuem
aber sie wollen dies Wenige besser haben. Man ist schnell mit dem
Aufzählen ihrer Archaismen und Fremdartigkeiten fertig, aber kommt nicht
zu Ende im Bewundern, wenn man für die leichte und zarte Art ihres Verkehrs
mit dem Alltäglichen und scheinbar längst Verbrauchten in Worten und
Wendungen ein gutes Auge hat. (Ebd., 1878-1880, S. 552).Den
Gedanken verbessern. Den Stil verbessern das heißt den
Gedanken verbessern, und gar nichts weiter! Wer dies nicht sofort zugibt,
ist auch nie davon zu überzeugen. (Ebd., 1878-1880, S. 553).Der
Stil der Unsterblichkeit. Thukydides sowohl wie Tacitus beide
haben beim Ausarbeiten ihrer Werke an eine unsterbliche Dauer derselben gedacht:
dies würde, wenn man es sonst nicht wüßte, schon aus ihrem Stile
zu erraten sein. Der eine glaubte seinen Gedanken durch Einsalzen, der andre durch
Einkochen Dauerhaftigkeit zu geben; und beide, scheint es, haben sich nicht verrechnet.
(Ebd., 1878-1880, S. 556).Gegen Bilder und Gleichnisse.
Mit Bildern und Gleichnissen überzeugt man, aber beweist nicht. Deshalb
hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche Scheu vor Bildern und Gleichnissen;
man will hier gerade das Überzeugende, das Glaublich-Machende nicht
und fordert vielmehr das kälteste Mißtrauen auch schon durch die Ausdrucksweise
und die kahlen Wände heraus: weil das Mißtrauen der Prüfstein
für das Gold der Gewißheit ist. (Ebd., 1878-1880, S. 557).Die
Angestellten der Wissenschaft und die anderen. Die eigentlich tüchtigen
und erfolgreichen Gelehrten könnte man insgesamt als »Angestellte«
bezeichnen. Wenn, in jungen Jahren, ihr Scharfsinn hinreichend geübt, ihr
Gedächtnis gefüllt ist, wenn Hand und Auge Sicherheit gewonnen haben,
so werden sie von einem älteren Gelehrten auf eine Stelle der Wissenschaft
angewiesen, wo ihre Eigenschaften Nutzen bringen können; späterhin,
nachdem sie selber den Blick für die lückenhaften und schadhaften Stellen
ihrer Wissenschaft erlangt haben, stellen sie sich von selber dorthin, wo sie
not tun. Diese Naturen allesamt sind um der Wissenschaft willen da: aber es gibt
seltnere, selten gelingende und völlig ausreifende Naturen, »um derentwillen
die Wissenschaft da ist« wenigstens scheint es ihnen selber so :
oft unangenehme, oft eingebildete, oft querköpfige, fast immer aber bis zu
einem Grade zauberhafte Menschen. Sie sind nicht Angestellte, und auch nicht Ansteller,
sie bedienen sich dessen, was von jenen erarbeitet und sichergestellt worden ist,
in einer gewissen fürstenhaften Gelassenheit und mit geringem und seltenem
Lobe: gleichsam als ob jene einer niedrigern Gattung von Wesen angehörten.
Und doch haben sie eben nur die gleichen Eigenschaften, wodurch diese anderen
sich auszeichnen, und diese mitunter sogar ungenügender entwickelt: obendrein
ist ihnen eine Beschränktheit eigentümlich, die jenen fehlt,
um derentwegen es unmöglich ist, sie an einen Posten zu stellen und in ihnen
nützliche Werkzeuge zu sehen, sie können nur in ihrer eigenen
Luft, auf eigenem Boden leben. Diese Beschränktheit gibt ihnen ein, was
alles von einer Wissenschaft »zu ihnen gehöre«, das heißt,
was sie in ihre Luft und Wohnung heimtragen können; sie wähnen immer
ihr zerstreutes »Eigentum« zu sammeln. Verhindert man sie, an ihrem
eigenen Neste zu bauen, so gehen sie wie obdachlose Vögel zugrunde; Unfreiheit
ist für sie Schwindsucht. Pflegen sie einzelne Gegenden der Wissenschaft
in der Art jener anderen, so sind es doch immer nur solche, wo gerade die ihnen
nötigen Früchte und Samen gedeihen; was geht es sie an, ob die Wissenschaft,
im ganzen gesehen, unangebaute oder schlecht gepflegte Gegenden hat? Es fehlt
ihnen jede unpersönliche Teilnahme an einem Problem der Erkenntnis;
wie sie selber durch und durch Person sind, so wachsen auch alle ihre Einsichten
und Kenntnisse wieder zu einer Person zusammen, zu einem lebendigen Vielfachen,
dessen einzelne Teile voneinander abhängen, ineinander greifen, gemeinsam
ernährt werden, das als Ganzes eine eigne Luft und einen eignen Geruch hat.
Solche Naturen bringen, mit diesen ihren personenhaften Erkenntnis-Gebilden,
jene Täuschung hervor, daß eine Wissenschaft (oder gar die ganze
Philosophie) fertig sei und am Ziele stehe; das Leben in ihrem Gebilde übt
diesen Zauber aus: als welcher zuzeiten sehr verhängnisvoll für die
Wissenschaft und irreführend für jene vorhin beschriebenen, eigentlich
tüchtigen Arbeiter des Geistes gewesen ist, zu andern Zeiten wiederum, als
die Dürre und die Ermattung herrschten, wie ein Labsal und gleich dem Anhauche
einer kühlen, erquicklichen Raststätte gewirkt hat. Gewöhnlich
nennt man solche Menschen Philosophen. (Ebd., 1878-1880, S. 567-568).Eitelkeit
als die große Nützlichkeit. Ursprünglich behandelt
der starke einzelne nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft und die
schwächeren einzelnen als Gegenstand des Raub-Baues: er nützt sie aus,
so viel er kann, und geht dann weiter. Weil er sehr unsicher lebt, wechselnd zwischen
Hunger und Überfluß, so tötet er mehr Tiere, als er verzehren
kann, und plündert und mißhandelt die Menschen mehr, als nötig
wäre. Seine Machtäußerung ist eine Racheäußerung zugleich
gegen seinen pein- und angstvollen Zustand: sodann will er für mächtiger
gelten, als er ist, und mißbraucht deshalb die Gelegenheiten: der Furchtzuwachs,
den er erzeugt, ist sein Machtzuwachs. Er merkt zeitig, daß nicht das, was
er ist, sondern das, was er gilt, ihn trägt oder niederwirft: hier ist der
Ursprung der Eitelkeit. Der Mächtige sucht mit allen Mitteln Vermehrung
des Glaubens an seine Macht. Die Unterworfenen, die vor ihm zittern und
ihm dienen, wissen wiederum, daß sie genau so viel wert sind, als sie ihm
gelten: weshalb sie auf diese Geltung hinarbeiten und nicht auf ihre eigene
Befriedigung an sich. Wir kennen die Eitelkeit nur in den abgeschwächtesten
Formen, in ihren Sublimierungen und kleinen Dosen, weil wir in einem späten
und sehr gemilderten Zustande der Gesellschaft leben: ursprünglich ist sie
die große Nützlichkeit, das stärkste Mittel der Erhaltung.
Und zwar wird die Eitelkeit um so größer sein, je klüger der einzelne
ist: weil die Vermehrung des Glaubens an Macht leichter ist, als die Vermehrung
der Macht selber, aber nur für den, der Geist hat -oder, wie es für
Urzustände heißen muß, der listig und hinterhältig
ist (Ebd., 1878-1880, S. 571-572).Krieg als Heilmittel.
Matt und erbärmlich werdenden Völkern mag der Krieg als Heilmittel
anzuraten sein, falls sie nämlich durchaus noch fortleben wollen: denn es
gibt für die Völker-Schwindsucht auch eine Brutalitäts-Kur. Das
ewige Leben-wollen und Nicht-sterben-Können ist aber selber schon ein Zeichen
von Greisenhaftigkeit der Empfindung: je voller und tüchtiger man lebt, um
so schneller ist man bereit, das Leben für eine einzige gute Empfindung dahinzugeben.
Ein Volk, das so lebt und empfindet, hat die Kriege nicht nötig. (Ebd.,
1878-1880, S. 575).Geistige und leibliche Verpflanzung als Heilmittel.
Die verschiedenen Kulturen sind verschiedene geistige Klimata, von denen
ein jedes diesem oder jenem Organismus vornehmlich schädlich oder heilsam
ist. Die Historie im ganzen, als das Wissen um die verschiedenen Kulturen,
ist die Heilmittellehre, nicht aber die Wissenschaft der Heilkunst selber.
Der Arzt ist erst recht noch nötig, der sich dieser Heilmittellehre bedient,
um jeden in sein ihm gerade ersprießliches Klima zu senden zeitweilig
oder auf immer. In der Gegenwart leben, innerhalb einer einzigen Kultur, genügt
nicht als allgemeines Rezept, dabei würden zu viele höchst nützliche
Arten von Menschen aussterben, die in ihr nicht gesund atmen können. Mit
der Historie muß man ihnen Luft machen und sie zu erhalten suchen;
auch die Menschen zurückgebliebener Kulturen haben ihren Wert. Dieser
Kur der Geister steht zur Seite, daß die Menschheit in leiblicher Beziehung
darnach streben muß, durch eine medizinische Geographie dahinterzukommen,
zu welchen Entartungen und Krankheiten jede Gegend der Erde Anlaß gibt,
und umgekehrt welche Heilfaktoren sie bietet: und dann müssen allmählich
Völker, Familien und einzelne so lange und so anhaltend verpflanzt werden,
bis man über die angeerbten physischen Gebrechen Herr geworden ist. Die ganze
Erde wird endlich eine Summe von Gesundheits-Stationen sein. (Ebd., 1878-1880,
S. 575-576).Der Baum der Menschheit und die Vernunft.
Das, was ihr als Übervölkerung der Erde in greisenhafter Kurzsichtigkeit
fürchtet, gibt dem Hoffnungsvolleren eben die große Aufgabe in die
Hand: die Menschheit soll einmal ein Baum werden, der die ganze Erde überschattet,
mit vielen Milliarden von Blüten, die alle nebeneinander Früchte werden
sollen, und die Erde selbst soll zur Ernährung dieses Baumes vorbereitet
werden. Daß der jetzige noch kleine Ansatz dazu an Saft und Kraft zunehme,
daß in unzähligen Kanälen der Saft zur Ernährung des Ganzen
und des Einzelnen umströme aus diesen und ähnlichen Aufgaben
ist der Maßstab zu entnehmen, ob ein jetziger Mensch nützlich
oder unnütz ist. Die Aufgabe ist unsäglich groß und kühn:
wir alle wollen dazu tun, daß der Baum nicht vor der Zeit verfaule! Dem
historischen Kopfe gelingt es wohl, das menschliche Wesen und Treiben sich im
ganzen der Zeit so vor die Augen zu stellen, wie uns allen das Ameisen-Wesen mit
seinen kunstvoll getürmten Haufen vor Augen steht. Oberflächlich beurteilt,
würde auch das gesamte Menschentum gleich dem Ameisentum von »Instinkt«
reden lassen. Bei strengerer Prüfung nehmen wir wahr, wie ganze Völker,
ganze Jahrhunderte sich abmühen, neue Mittel ausfindig zu machen und auszuprobieren,
womit man einem großen menschlichen Ganzen und zuletzt dem großen
Gesamt-Fruchtbaume der Menschheit wohltun könne; und was auch immer bei diesem
Ausprobieren die einzelnen, die Völker und die Zeiten für Schaden leiden,
durch diesen Schaden sind jedesmal einzelne klug geworden, und von ihnen
aus strömt die Klugheit langsam auf die Maßregeln ganzer Völker,
ganzer Zeiten über. Auch die Ameisen irren und vergreifen sich; die Menschheit
kann recht wohl durch Torheit der Mittel verderben und verdorren, vor der Zeit,
es gibt weder für jene, noch für diese einen sicher führenden Instinkt.
Wir müssen vielmehr der großen Aufgabe ins Gesicht sehen, die
Erde für ein Gewächs der größten und freudigsten Fruchtbarkeit
vorzubereiten, einer Aufgabe der Vernunft für die Vernunft!
(Ebd., 1878-1880, S. 576-577).Das Lob des Uneigennützigen
und sein Ursprung. Zwischen zwei nachbarlichen Häuptlingen war
seit Jahren Hader: man verwüstete einander die Saaten, führte Herden
weg, brannte Häuser nieder, mit einem unentschiedenen Erfolge im ganzen,
weil ihre Macht ziemlich gleich war. Ein Dritter, der durch die abgeschlossene
Lage seines Besitztums von diesen Fehden sich fernhalten konnte, aber doch Grund
hatte, den Tag zu fürchten, an dem einer dieser händelsüchtigen
Nachbarn entscheidend zum Übergewicht kommen würde, trat endlich zwischen
die Streitenden, mit Wohlwollen und Feierlichkeit: und im Geheimen legte er auf
seinen Friedensvorschlag ein schweres Gewicht, indem er jedem einzeln zu verstehen
gab, fürderhin gegen den, welcher sich wider den Frieden sträube, mit
dem andern gemeinsame Sache zu machen. Man kam vor ihm zusammen, man legte zögernd
in seine Hand die Hände, welche bisher die Werkzeuge und allzuoft die Ursache
des Hasses gewesen waren, und wirklich, man versuchte es ernstlich mit
dem Frieden. Jeder sah mit Erstaunen, wie plötzlich sein Wohlstand, sein
Behagen wuchs, wie man jetzt am Nachbar einen kaufs- und verkaufsbereiten Händler,
anstatt eines tückischen oder offen höhnenden Übeltäters,
hatte, wie selbst, in unvorhergesehenen Notfällen, man sich gegenseitig aus
der Not ziehen konnte, anstatt, wie es bisher geschehen, diese Not des Nachbars
auszunutzen und aufs höchste zu steigern; ja es schien, als ob der Menschenschlag
in beiden Gegenden sich seitdem verschönert hätte: denn die Augen hatten
sich erhellt, die Stirnen sich entrunzelt, allen war das Vertrauen zur Zukunft
zu eigen geworden, und nichts ist den Seelen und Leibern der Menschen förderlicher,
als dies Vertrauen. Man sah einander alle Jahre am Tage des Bündnisses wieder,
die Häuptlinge sowohl wie deren Anhang: und zwar vor dem Angesicht des Mittlers,
dessen Handlungsweise man, je größer der Nutzen war, den man ihr verdankte
immer mehr anstaunte und verehrte. Man nannte sie uneigennützig
man hatte den Blick viel zu fest auf den eigenen, seither eingeernteten Nutzen
gerichtet, um von der Handlungsweise des Nachbars mehr zu sehen, als daß
sein Zustand infolge derselben sich nicht so verändert habe wie der eigene:
er war vielmehr derselbe geblieben, und so schien es, daß jener den Nutzen
nicht im Auge gehabt habe. Zum ersten Male sagte man sich, daß die Uneigennützigkeit
eine Tugend sei: gewiß mochten im kleinen und privaten sich oftmals bei
ihnen ähnliche Dinge ereignet haben, aber man hatte das Augenmerk für
diese Tugend erst, als sie zum ersten Male in ganz großer Schrift, lesbar
für die ganze Gemeinde, an die Wand gemalt wurde. Erkannt als Tugenden, zu
Namen gekommen, in Schätzung gebracht, zur Aneignung anempfohlen sind die
moralischen Eigenschaften erst von dem Augenblicke an, da sie sichtbar über
Glück und Verhängnis ganzer Gesellschaften entschieden haben: dann ist
nämlich die Höhe der Empfindung und die Erregung der inneren schöpferischen
Kräfte bei vielen so groß, daß man dieser Eigenschaft Geschenke
bringt, vom Besten, was jeder hat: der Ernste legt ihr seinen Ernst zu Füßen,
der Würdige seine Würde, die Frauen ihre Milde, die Jünglinge alles
Hoffnungs- und Zukunftsreiche ihres Wesens; der Dichter leiht ihr Worte und Namen,
reiht sie in den Reigentanz ähnlicher Wesen ein, gibt ihr einen Stammbaum
und betet zuletzt, wie es Künstler tun, das Gebilde seiner Phantasie als
neue Gottheit an er lehrt sie anbeten. So wird eine Tugend, weil
die Liebe und die Dankbarkeit aller an ihr arbeitet, wie an einer Bildsäule,
zuletzt eine Ansammlung des Guten und Verehrungswürdigen, eine Art
Tempel und göttlicher Person zugleich. Sie steht fürderhin als einzelne
Tugend da, als ein Wesen für sich, was sie bis dahin nicht war, und übt
die Rechte und die Macht einer geheiligten Übermenschlichkeit aus.
Im späteren Griechenland standen die Städte voll von solchen vergottmenschlichten
Abstractis (man verzeihe das absonderliche Wort um des absonderlichen Begriffs
willen); das Volk hatte sich auf seine Art einen platonischen »Ideenhimmel«
inmitten seiner Erde hergerichtet, und ich glaube nicht, daß dessen Inwohner
weniger lebendig empfunden wurden, als irgendeine althomerische Gottheit.
(Ebd., 1878-1880, S. 577-579).Spitzen und Spitzchen.
Die geringe Fruchtbarkeit, die häufige Ehelosigkeit und überhaupt die
geschlechtliche Kühle der höchsten und kultiviertesten Geister, sowie
der zu ihnen gehörenden Klassen, ist wesentlich in der Ökonomie der
Menschheit: die Vernunft erkennt und macht Gebrauch davon, daß bei einem
äußersten Punkte der geistigen Entwickelung die Gefahr einer nervösen
Nachkommenschaft sehr groß ist: solche Menschen sind Spitzen der
Menschheit sie dürfen nicht weiter in Spitzchen auslaufen.
(Ebd., 1878-1880, S. 581).Sonnenbahn der Idee. Wenn
eine Idee am Horizonte eben aufgeht, ist gewöhnlich die Temperatur der Seele
dabei sehr kalt. Erst allmählich entwickelt die Idee ihre Wärme, und
am heißesten ist diese (das heißt sie tut ihre größten
Wirkungen), wenn der Glaube an die Idee schon wieder im sinken ist. (Ebd.,
1878-1880, S. 583).Der Fanatiker des Mißtrauens und seine
Bürgschaft. Der
Alte: Du willst das Ungeheure wagen und die Menschen im
großen belehren? Wo ist deine Bürgschaft? Pyrrhon:
Hier ist sie: ich will die Menschen vor mir selber warnen, ich will alle Fehler
meiner Natur öffentlich bekennen und meine Übereilungen, Widersprüche
und Dummheit vor aller Augen bloßstellen. Hört nicht auf mich, will
ich ihnen sagen, bis ich nicht eurem Geringsten gleich geworden bin, und noch
geringer bin, als er; sträubt euch gegen die Wahrheit, so lange ihr nur könnt,
aus Ekel vor dem, der ihr Fürsprecher ist. Ich werde euer Verführer
und Betrüger sein, wenn ihr noch den mindesten Glanz von Achtbarkeit und
Würde an mir wahrnehmt. Der Alte:
Du versprichst zu viel, du kannst diese Last nicht tragen. Pyrrhon:
So will ich auch dies den Menschen sagen, daß ich zu schwach bin und nicht
halten kann, was ich verspreche. Je größer meine Unwürdigkeit,
um so mehr werden sie der Wahrheit mißtrauen, wenn sie durch meinen Mund
geht. Der Alte: Willst du denn der
Lehrer des Mißtrauens gegen die Wahrheit sein? Pyrrhon:
Des Mißtrauens, wie es noch nie in der Welt war, des Mißtrauens gegen
alles und jedes. Es ist der einzige Weg zur Wahrheit. Das rechte Auge darf dem
linken nicht trauen, und Licht wird eine Zeitlang Finsternis heißen müssen:
dies ist der Weg, den ihr gehen müßt. Glaubt nicht, daß er euch
zu Fruchtbäumen und schönen Weiden führe. Kleine harte Körner
werdet ihr auf ihm finden, das sind die Wahrheiten: Jahrzehnte lang werdet
ihr die Lügen händevoll verschlingen müssen, um nicht Hungers zu
sterben, ob ihr schon wisset, daß es Lügen sind. Jene Körner aber
werden gesäet und eingegraben, und vielleicht, vielleicht gibt es einmal
einen Tag der Ernte: Niemand darf ihn versprechen, er sei denn ein Fanatiker.
Der Alte: Freund! Freund! Auch deine
Worte sind die des Fanatikers! Pyrrhon:
Du hast recht! ich will gegen alle Worte mißtrauisch sein. Der
Alte: Dann wirst du schweigen müssen. Pyrrhon:
Ich werde den Menschen sagen, daß ich schweigen muß und daß
sie meinem Schweigen mißtrauen sollen. Der
Alte: Du trittst also von deinem Unternehmen zurück? Pyrrhon:
Vielmehr du hast mir eben das Tor gezeigt, durch welches ich gehen muß.
Der Alte: Ich weiß nicht :
verstehen wir uns jetzt noch völlig? Pyrrhon:
Wahrscheinlich nicht. Der Alte: Wenn
du dich nur selber völlig verstehst! Pyrrhon dreht sich um und lacht.
Der Alte: Ach Freund! Schweigen und
Lachen ist das jetzt deine ganze Philosophie? Pyrrhon:
Es wäre nicht die schlechteste. (Ebd., 1878-1880, S. 586-587).Die
Gefährlichkeit der Aufklärung. Alles das Halbverrückte,
Schauspielerische, Tierisch-Grausame, Wollüstige, namentlich Sentimentale
und Sich-selbst-Berauschende, was zusammen die eigentlich revolutionäre
Substanz ausmacht und in Rousseau, vor der Revolution, Fleisch und Geist geworden
war, dieses ganze Wesen setzte sich mit perfider Begeisterung noch die
Aufklärung auf das fanatische Haupt, welches durch diese selber wie in einer
verklärenden Glorie zu leuchten begann: die Aufklärung, die im
Grunde jenem Wesen so fremd ist und, für sich waltend, still wie ein Lichtglanz
durch Wolken gegangen sein würde, lange Zeit zufrieden damit, nur die einzelnen
umzubilden: so daß sie nur sehr langsam auch die Sitten und Einrichtungen
der Völker umgebildet hätte. Jetzt aber, an ein gewaltsames und plötzliches
Wesen gebunden, wurde die Aufklärung selber gewaltsam und plötzlich.
Ihre Gefährlichkeit ist dadurch fast größer geworden als die befreiende
und erhellende Nützlichkeit, welche durch sie in die große Revolutions-Bewegung
kam. Wer dies begreift, wird auch wissen, aus welcher Vermischung man sie herauszuziehen,
von welcher Verunreinigung man sie zu läutern hat: um dann, an sich selber,
das Werk der Aufklärung fortzusetzen und die Revolution nachträglich
in der Geburt zu ersticken, ungeschehen zu machen. (Ebd., 1878-1880, S.
594).Große Werke und großer Glaube. Jener
hatte die großen Werke, sein Genosse aber hatte den großen Glauben
an diese Werke. Sie waren unzertrennlich: aber ersichtlich hing der erstere völlig
vom zweiten ab. (Ebd., 1878-1880, S. 598).Der Gesellige.
»Ich bekomme mir nicht gut« sagte jemand, um seinen Hang zur
Gesellschaft zu erklären. »Der Magen der Gesellschaft ist stärker
als der meinige, er verträgt mich.« (Ebd., 1878-1880, S. 598).Warum
die Bettler noch leben. Wenn alle Almosen nur aus Mitleiden gegeben
würden, so wären die Bettler allesamt verhungert. (Ebd., 1878-1880,
S. 599).Zurückerstatten. Hesiod rät an,
dem Nachbar, der uns ausgeholfen hat, mit gutem Maße und womöglich
reichlicher zurückzugeben, sobald wir es vermögen. Dabei hat nämlich
der Nachbar seine Freude, denn seine einstmalige Gutmütigkeit trägt
ihm Zinsen ein; aber auch der, welcher zurückgibt, hat seine Freude, insofern
er die kleine einstmalige Demütigung, sich aushelfen lassen zu müssen,
durch ein kleines Übergewicht, als Schenkender, zurückkauft. (Ebd.,
1878-1880, S. 603).Feiner als nötig. Unser Beobachtungssinn
dafür, ob andere unsere Schwächen wahrnehmen, ist viel feiner, als unser
Beobachtungssinn für die Schwächen anderer: woraus sich also ergibt,
daß er feiner ist, als nötig wäre. (Ebd., 1878-1880, S.
603).Sich nicht rächen? Es gibt so viele feine
Arten der Rache, daß einer, der Anlaß hätte sich zu rächen,
im Grunde tun oder lassen kann, was er will: alle Welt wird doch nach einiger
Zeit übereingekommen sein, daß er sich gerächt habe. Sich nicht
zu rächen steht also kaum im Belieben eines Menschen: daß er es nicht
wolle, darf er nicht einmal aussprechen, weil die Verachtung der Rache als eine
sublime, sehr empfindliche Rache gedeutet und empfunden wird. Woraus
sich ergibt, daß man nichts Überflüssiges tun soll.
(Ebd., 1878-1880, S. 603).Brief. Der Brief ist ein
unangemeldeter Besuch, der Briefbote der Vermittler unhöflicher Überfälle.
Man sollte alle acht Tage eine Stunde zum Briefempfangen haben und danach ein
Bad nehmen. (Ebd., 1878-1880, S. 604).Weg zur Gleichheit.
Einige Stunden Bergsteigens machen aus einem Schuft und einem Heiligen
zwei ziemlich gleiche Geschöpfe. Die Ermüdung ist der kürzeste
Weg zur Gleichheit und Brüderlichkeit und die Freiheit
wird endlich durch den Schlaf hinzugegeben. (Ebd., 1878-1880, S. 605).Verleumdungen
sind Krankheiten anderer, die an deinem Leibe ausbrechen; sie beweisen, daß
die Gesellschaft ein (moralischer) Körper ist, so daß du an
dir die Kur vornehmen kannst, die den anderen nützen soll.
(Ebd., 1878-1880, S. 605).Ob der Besitz mit der Gerechtigkeit
ausgeglichen werden kann. Wird die Ungerechtigkeit des Besitzes stark
empfunden der Zeiger der großen Uhr ist einmal wieder an dieser Stelle
, so nennt man zwei Mittel, derselben abzuhelfen: einmal eine gleiche Verteilung
und sodann die Aufhebung des Eigentums und den Zurückfall des Besitzes an
die Gemeinschaft. Letzteres Mittel ist namentlich nach dem Herzen unserer Sozialisten,
welche jenem altertümlichen Juden darüber gram sind, daß er sagte:
du sollst nicht stehlen. Nach ihnen soll das siebente Gebot vielmehr lauten: du
sollst nicht besitzen. Die Versuche nach dem ersten Rezepte sind
im Altertum oft gemacht worden, zwar immer nur in kleinem Maßstabe, aber
doch mit einem Mißerfolg, der auch uns noch Lehrer sein kann. »Gleiche
Ackerlose« ist leicht gesagt; aber wieviel Bitterkeit erzeugt sich durch
die dabei nötig werdende Trennung und Scheidung, durch den Verlust von alt
verehrtem Besitz, wie viel Pietät wird verletzt und geopfert! Man gräbt
die Moralität um, wenn man die Grenzsteine umgräbt. Und wieder, wieviel
neue Bitterkeit unter den neuen Besitzern, wie viel Eifersucht und Scheelsehen,
da es zwei wirklich gleiche Ackerlose nie gegeben hat, und wenn es solche gäbe,
der menschliche Neid auf den Nachbar nicht an deren Gleichheit glauben würde.
Und wie lange dauerte diese schon in der Wurzel vergiftete und ungesunde Gleichheit!
In wenigen Geschlechtern war durch Erbschaft hier das eine Los auf fünf Köpfe,
dort waren fünf Lose auf einen Kopf gekommen: und im Falle man durch harte
Erbschafts-Gesetze solchen Mißständen vorbeugte, gab es zwar noch die
gleichen Ackerlose, aber dazwischen Dürftige und Unzufriedene, welche nichts
besaßen, außer der Mißgunst auf die Anverwandten und Nachbarn
und dem Verlangen nach dem Umsturz aller Dinge. Will man aber nach dem
zweiten Rezepte das Eigentum der Gemeinde zurückgeben und den
einzelnen nur zum zeitweiligen Pächter machen, so zerstört man das Ackerland.
Denn der Mensch ist gegen alles, was er nur vorübergehend besitzt, ohne Vorsorge
und Aufopferung, er verfährt damit ausbeuterisch, als Räuber oder als
liederlicher Verschwender. Wenn Plato meint, die Selbstsucht werde mit der Aufhebung
des Besitzes aufgehoben, so ist ihm zu antworten, daß, nach Abzug der Selbst
sucht, vom Menschen jedenfalls nicht die vier Kardinaltugenden übrigbleiben
werden, wie man sagen muß: die ärgste Pest könnte der Menschheit
nicht so schaden, als wenn eines Tages die Eitelkeit aus ihr entschwände.
Ohne Eitelkeit und Selbstsucht was sind denn die menschlichen Tugenden?
Womit nicht von ferne gesagt sein soll, daß es nur Namen und Masken von
jenen seien. Platos utopistische Grundmelodie, die jetzt noch von den Sozialisten
fortgesungen wird, beruht auf einer mangelhaften Kenntnis des Menschen: ihm fehlte
die Historie der moralischen Empfindungen, die Einsicht in den Ursprung der guten
nützlichen Eigenschaften der menschlichen Seele. Er glaubte, wie das ganze
Altertum, an Gut und Böse wie an Weiß und Schwarz: also an eine radikale
Verschiedenheit der guten und der bösen Menschen, der guten und der schlechten
Eigenschaften. Damit der Besitz fürderhin mehr Vertrauen einflöße
und moralischer werde, halte man alle Arbeitswege zum kleinen Vermögen offen,
aber verhindere die mühelose, die plötzliche Bereicherung; man ziehe
alle Zweige des Transports und Handels, welche der Anhäufung großer
Vermögen günstig sind, also namentlich den Geldhandel, aus den Händen
der Privaten und Privatgesellschaften und betrachte ebenso die Zuviel-
wie die Nichts-Besitzer als gemeingefährliche Wesen. (Ebd., 1878-1880,
S. 617-619).Wert der Arbeit. Wollte man den Wert
der Arbeit darnach bestimmen, wie viel Zeit, Fleiß, guter oder schlechter
Wille, Zwang, Erfindsamkeit oder Faulheit, Ehrlichkeit oder Schein darauf verwendet
ist, so kann der Wert niemals gerecht sein; denn die ganze Person müßte
auf die Waagschale gesetzt werden können, was unmöglich ist. Hier heißt
es »richtet nicht!« Aber der Ruf nach Gerechtigkeit ist es ja, den
wir jetzt von denen hören, welche mit der Abschätzung der Arbeit unzufrieden
sind. Denkt man weiter, so findet man jede Persönlichkeit unverantwortlich
für ihr Produkt, die Arbeit: ein Verdienst ist also niemals daraus abzuleiten,
jede Arbeit ist so gut oder schlecht, wie sie bei der und der notwendigen Konstellation
von Kräften und Schwächen, Kenntnissen und Begehrungen sein muß.
Es steht nicht im Belieben des Arbeiters, ob er arbeitet; auch nicht, wie
er arbeitet. Nur die Gesichtspunkte des Nutzens, engere und weitere, haben
Wertschätzung der Arbeit geschaffen. Das, was wir jetzt Gerechtigkeit nennen,
ist auf diesem Felde sehr wohl am Platz als eine höchst verfeinerte Nützlichkeit,
welche nicht auf den Moment nur Rücksicht nimmt und die Gelegenheit ausbeutet,
sondern auf Dauerhaftigkeit aller Zustände sinnt und deshalb auch das Wohl
des Arbeiters, seine leibliche und seelische Zufriedenheit ins Auge faßt,
damit er und seine Nachkommen gut auch für unsere Nachkommen
arbeiten und noch auf längere Zeiträume, als das menschliche Einzelleben
ist, hinaus zuverlässig werde. Die Ausbeutung des Arbeiters war, wie
man jetzt begreift, eine Dummheit, ein Raub-Bau auf Kosten der Zukunft, eine Gefährdung
der Gesellschaft. Jetzt hat man fast schon den Krieg: und jedenfalls werden die
Kosten, um den Frieden zu erhalten, um Verträge zu schließen und Vertrauen
zu erlangen, nunmehr sehr groß sein, weil die Torheit der Ausbeutenden sehr
groß und langdauernd war. (Ebd., 1878-1880, S. 619-620).Der
gefährlichste Anhänger. Der gefährlichste Anhänger
ist der, dessen Abfall die ganze Partei vernichten würde: also der beste
Anhänger. (Ebd., 1878-1880, S. 621).Sieg der Demokratie.
Es versuchen jetzt alle politischen Mächte, die Angst vor dem Sozialismus
auszubeuten, um sich zu stärken. Aber auf die Dauer hat doch allein die Demokratie
den Vorteil davon: denn alle Parteien sind jetzt genötigt, dem »Volke«
zu schmeicheln und ihm Erleichterungen und Freiheiten aller Art zu geben, wodurch
es endlich omnipotent wird. Das Volk ist vom Sozialismus, als einer Lehre von
der Veränderung des Eigentumerwerbes, am entferntesten: und wenn es erst
einmal die Steuerschraube in den Händen hat, durch die großen Majoritäten
seiner Parlamente, dann wird es mit der Progressivsteuer dem Kapitalisten-, Kaufmanns-
und Börsenfürstentum an den Leib gehen und in der Tat langsam einen
Mittelstand schaffen, der den Sozialismus wie eine überstandene Krankheit
vergessen darf. Das praktische Ergebnis dieser um sich greifenden Demokratisierung
wird zunächst ein europäischer Völkerbund sein, in welchem jedes
einzelne Volk, nach geographischen Zweckmäßigkeiten abgegrenzt, die
Stellung eines Kantons und dessen Sonderrechte innehat: mit den historischen Erinnerungen
der bisherigen Völker wird dabei wenig noch gerechnet werden, weil der pietätvolle
Sinn für dieselben unter der neuerungssüchtigen und versuchslüsternen
Herrschaft des demokratischen Prinzips allmählich von Grund aus entwurzelt
wird. Die Korrekturen der Grenzen, welche dabei sich nötig zeigen, werden
so ausgeführt, daß sie dem Nutzen der großen Kantone und zugleich
dem des Gesamtverbandes dienen, nicht aber dem Gedächtnisse irgendwelcher
vergrauten Vergangenheit. Die Gesichtspunkte für diese Korrekturen zu finden
wird die Aufgabe der zukünftigen Diplomaten sein, die zugleich Kulturforscher,
Landwirte, Verkehrskenner sein müssen und keine Heere, sondern Gründe
und Nützlichkeiten hinter sich haben. Dann erst ist die äußere
Politik mit der inneren unzertrennbar verknüpft: während jetzt immer
noch die letztere ihrer stolzen Gebieterin nachläuft und im erbärmlichen
Körbchen die Stoppelähren sammelt, die bei der Ernte der ersteren übrigbleiben.
(Ebd., 1878-1880, S. 621-622).Ziel und Mittel der Demokratie.
Die Demokratie will möglichst vielen Unabhängigkeit schaffen
und verbürgen, Unabhängigkeit der Meinungen, der Lebensart und des Erwerbs.
Dazu hat sie nötig, sowohl den Besitzlosen als den eigentlich Reichen das
politische Stimmrecht abzusprechen: als den zwei unerlaubten Menschenklassen,
an deren Beseitigung sie stetig arbeiten muß, weil diese ihre Aufgabe immer
wieder in Frage stellen. Ebenso muß sie alles verhindern, was auf die Organisation
von Parteien abzuzielen scheint. Denn die drei großen Feinde der Unabhängigkeit
in jenem dreifachen Sinne sind die Habenichtse, die Reichen und die Parteien.
Ich rede von der Demokratie als von etwas Kommendem. Das, was schon jetzt
so heißt, unterscheidet sich von den älteren Regierungsformen allein
dadurch, daß es mit neuen Pferden fährt: die Straßen sind
noch die alten, und die Räder sind auch noch die alten. Ist die Gefahr
bei diesen Fuhrwerken des Völkerwohls wirklich geringer geworden?
(Ebd., 1878-1880, S. 623).Aus der Praxis des Weisen.
Um Weise zu werden, muß man gewisse Erlebnisse erleben wollen, also ihnen
in den Rachen laufen. Sehr gefährlich ist dies freilich; mancher »Weise«
wurde dabei aufgefressen. (Ebd., 1878-1880, S. 625).»Eins
ist not.« Wenn man klug ist, ist einem allein darum zu tun, daß
man Freude im Herzen habe. Ach, setzte jemand hinzu, wenn man klug ist,
tut man am besten, weise zu sein. (Ebd., 1878-1880, S. 625).Ein
Zeugnis der Liebe. Jemand sagte: Ȇber zwei Personen habe
ich nie gründlich nachgedacht: es ist das Zeugnis meiner Liebe zu ihnen.«
(Ebd., 1878-1880, S. 625).Wie man siegen muß.
Man soll nicht siegen wollen, wenn man nur die Aussicht hat, um eines Haares
Breite seinen Gegner zu überholen. Der gute Sieg muß den Besiegten
freudig stimmen, er muß etwas Göttliches haben, welches die Beschämung
erspart. (Ebd., 1878-1880, S. 636).Forderung der Reinlichkeit.
Daß man seine Meinungen wechselt, ist für die einen Naturen
ebenso eine Forderung der Reinlichkeit, wie die, daß man seine Kleider wechselt:
für andere Naturen aber nur eine Forderung ihrer Eitelkeit. (Ebd.,
1878-1880, S. 637).Die goldene Losung. Dem Menschen
sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Tier zu
gebärden: und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden,
als alle Tiere sind. Nun aber leidet er noch daran, daß er so lange seine
Ketten trug, daß es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte:
diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene
schweren und sinnvollen Irrtümer der moralischen, der religiösen, der
metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die Ketten-Krankheit überwunden
ist, ist das erste große Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen
von den Tieren. Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen,
und haben dabei die höchste Vorsicht nötig. Nur dem veredelten Menschen
darf die Freiheit des Geistes gegeben werden; ihm allein naht die Erleichterung
des Lebens und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, daß er
um der Freudigkeit willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und
in jedem anderen Munde wäre sein Wahlspruch gefährlich: Frieden um
mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen. Bei diesem
Wahlspruch für einzelne gedenkt er eines alten großen und rührenden
Wortes, welches allen galt, und das über der gesamten Menschheit stehengeblieben
ist, als ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem jeder zugrunde gehen soll, der
damit zu zeitig sein Banner schmückt, an dem das Christentum zugrunde
ging. Noch immer, so scheint es, ist es nicht Zeit, daß es allen
Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich
erhellt sahen und jenes Wort hörten: »Friede auf Erden und den Menschen
ein Wohlgefallen aneinander.« Immer noch ist es die Zeit der einzelnen.
(Ebd., 1878-1880, S. 637-638). |