Der Fall Wagner (Ein
Musikanten-Problem), 1889 
Hat
man sich für die Abzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht
man auch die Moral man versteht, was sich unter ihren heiligsten Namen
und Wertformeln versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die
große Müdigkeit. Moral verneint das Leben .... Zu einer solchen
Aufgabe war mir eine Selbstdisziplin vonnöten Partei zu nehmen gegen
alles Kranke an mir, eingerechnet Wagner, eingerechnet Schopenhauer, eingerechnet
die ganze moderne »Menschlichkeit«. Eine tiefe Entfremdung,
Erkältung, Ernüchterung gegen alles Zeitliche, Zeitgemäße:
und als höchsten Wunsch das Auge Zarathustras, ein Auge, das die ganze
Tatsache Mensch aus ungeheurer Ferne übersieht unter sich sieht ....
Einem solchen Ziele welches Opfer wäre ihm nicht gemäß?
welche »Selbst-Überwindung«! welche »Selbst-Verleugnung«!.
(Ebd., 1889, S. 3-4),
Mein größtes Erlebnis war
eine Genesung. Wagner gehört bloß zu meinen Krankheiten. Nicht
daß ich gegen diese Krankheit undankbar sein möchte. Wenn ich mit dieser
Schrift den Satz aufrechterhalte, daß Wagner schädlich ist,
so will ich nicht weniger aufrechthalten, wem er trotzdem unentbehrlich ist
dem Philosophen. Sonst kann man vielleicht ohne Wagner auskommen: dem Philosophen
aber steht es nicht frei, Wagners zu entraten. Er hat das schlechte Gewissen seiner
Zeit zu sein dazu muß er deren bestes Wissen haben. Aber wo fände
er für das Labyrinth der modernen Seele einen eingeweihteren Führer,
einen beredteren Seelenkündiger als Wagner? Durch Wagner redet die Modernität
ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie
hat alle Scham vor sich verlernt. Und umgekehrt: man hat beinahe eine Abrechnung
über den Wert des Modernen gemacht, wenn man über Gut und Böse
bei Wagner mit sich im klaren ist. Ich verstehe es vollkommen, wenn heut
ein Musiker sagt: »ich hasse Wagner, aber ich halte keine andere Musik mehr
aus«. Ich würde aber auch einen Philosophen
verstehen, der erklärte: »Wagner resümiert die Modernität.
Es hilft nichts, man muß erst Wagnerianer sein.« (Ebd., 1889,
S. 4),Auch dieses Werk erlöst, nicht Wagner allein ist ein
»Erlöser«. (Ebd., 1889, S. 9),Sie ziehen
selbst das Problem Wagners dem Bizets vor? Auch ich unterschätze es
nicht, es hat seinen Zauber. Das Problem der Erlösung ist selbst ein ehrwürdiges
Problem. Wagner hat über nichts so tief wie über die Erlösung nachgedacht:
seine Oper ist die Oper der Erlösung. Irgendwer will bei ihm immer erlöst
sein: bald ein Männlein, bald ein Fräulein dies ist sein Problem.
Und wie reich er sein Leitmotiv variiert! Welche seltenen, welche tiefsinnigen
Ausweichungen! Wer lehrte es uns, wenn nicht Wagner, daß die Unschuld mit
Vorliebe interessante Sünder erlöst? (der Fall im Tannhäuser).
Oder daß selbst der ewige Jude erlöst wird, seßhaft wird,
wenn er sich verheiratet? (der Fall im Fliegenden Holländer). Oder
daß alte verdorbene Frauenzimmer es vorziehn, von keuschen Jünglingen
erlöst zu werden? (der Fall Kundry). Oder daß schöne Mädchen
am liebsten durch einen Ritter erlöst werden, der Wagnerianer ist? (der Fall
in den Meistersingern). Oder daß auch verheiratete Frauen gerne durch
einen Ritter erlöst werden? (der Fall Isoldens). Oder daß »der
alte Gott«, nachdem er sich moralisch in jedem Betracht kompromittiert hat,
endlich durch einen Freigeist und Immoralisten erlöst wird? (der Fall im
»Ring«). Bewundern Sie insonderheit diesen letzten Tiefsinn!
Verstehn Sie ihn? Ich hüte mich, ihn zu verstehn. (Ebd., 1889,
S. 10-11),Daß man noch andere Lehren aus den genannten Werken
ziehn kann, möchte ich eher beweisen als bestreiten. Daß man durch
ein Wagnersches Ballett zur Verzweiflung gebracht werden kann und
zur Tugend! (nochmals der Fall Tannhäusers). Daß es von den
schlimmsten Folgen sein kann, wenn man nicht zur rechten Zeit zu Bett geht (nochmals
der Fall Lohengrins). Daß man nie zu genau wissen soll, mit wem man
sich eigentlich verheiratet (zum drittenmal der Fall Lohengrins).
Tristan und Isolde verherrlichen den vollkommnen Ehegatten, der, in einem
gewissen Falle, nur eine Frage hat: »aber warum habt ihr mir das nicht eher
gesagt? Nichts einfacher als das!« Antwort: »Das kann ich dir nicht
sagen; und was du frägst, das kannst du nie erfahren.« Der Lohengrin
enthält eine feierliche In-Acht-Erklärung des Forschens und Fragens.
Wagner vertritt damit den christlichen Begriff »du sollst und mußt
glauben«. Es ist ein Verbrechen am Höchsten, am Heiligsten,
wissenschaftlich zu sein .... Der fliegende Holländer predigt
die erhabne Lehre, daß das Weib auch den Unstetesten festmacht, wagnerisch
geredet, »erlöst«. (Ebd., 1889, S. 11-12),Ins
Wirkliche übersetzt: die Gefahr der Künstler, der Genies ... liegt im
Weibe: die anbetenden Weiber sind ihr Verderb. Fast keiner hat Charakter
genug, um nicht verdorben »erlöst« zu werden, wenn er
sich als Gott behandelt fühlt er kondeszendiert alsbald zum
Weibe. Der Mann ist feige vor allem Ewig-Weiblichen: das wissen die Weiblein.
In vielen Fällen der weiblichen Liebe, und vielleicht gerade in den
berühmtesten, ist Liebe nur ein feinerer Parasitismus, ein Sich-Einnisten
in eine fremde Seele, mitunter selbst in ein fremdes Fleisch ach! wie sehr
immer auf »des Wirtes« Unkosten! (Ebd., 1889, S. 12),Gerade,
weil nichts moderner ist als diese Gesamterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit
der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par
excellence, der Cagliostro der Modernität. In seiner Kunst ist auf die verführerischste
Art gemischt, was heute alle Welt am nötigsten hat die drei großen
Stimulantia der Erschöpften, das Brutale, das Künstliche
und das Unschuldige (Idiotische). (Ebd., 1889, S. 17),Wagner
... hat ... das Mittel erraten, müde Nerven zu reizen er hat die Musik
damit krank gemacht. Seine Erfindungsgabe ist keine kleine in der Kunst, die Erschöpftesten
wieder aufzustacheln, die Halbtoten ins Leben zu rufen. Er ist der Meister hypnotischer
Griffe, er wirft die Stärksten noch wie Stiere um. Der Erfolg Wagners
sein Erfolg bei den Nerven und folglich bei den Frauen hat die ganze
ehrgeizige Musiker-Welt zu Jüngern seiner Geheimkunst gemacht. Und nicht
nur die ehrgeizige, auch die kluge .... Man macht heute nur Geld mit kranker
Musik; unsre großen Theater leben von Wagner. (Ebd., 1889, S. 17),Der
Parsifal wird in der Kunst der Verführung ewig seinen Rang behalten,
als der Geniestreich der Verführung .... Ich bewundere dies Werk,
ich möchte es selbst gemacht haben; in Ermangelung davon verstehe ich
es .... Wagner war nie besser inspiriert als am Ende. Das Raffinement im Bündnis
von Schönheit und Krankheit geht hier so weit, daß es über Wagners
frühere Kunst gleichsam Schatten legt sie erscheint zu hell, zu gesund.
Versteht ihr das? Die Gesundheit, die Helligkeit als Schatten wirkend? als Einwand
beinahe? .... So weit sind wir schon reine Toren .... Niemals gab es einen
größeren Meister in dumpfen hieratischen Wohlgerüchen nie
lebte ein gleicher Kenner alles kleinen Unendlichen, alles Zitternden und Überschwänglichen,
aller Feminismen aus dem Idiotikon des Glücks! Trinkt nur, meine Freunde,
die Philtren dieser Kunst! Ihr findet nirgends eine angenehmere Art, euren Geist
zu entnerven, eure Männlichkeit unter einem Rosengebüsche zu vergessen
.... Ah dieser alte Zauberer! Dieser Klingsor aller Klingsore! Wie er uns
damit den Krieg macht! uns, den freien Geistern! Wie er jeder Feigheit der modernen
Seele mit Zaubermädchen-Tönen zu Willen redet! Es gab nie einen
solchen Todhaß auf die Erkenntnis! Man muß Zyniker sein,
um hier nicht verführt zu werden, man muß beißen können,
um hier nicht anzubeten. Wohlan, alter Verführer! Der Zyniker warnt dich
cave canem .... (Ebd., 1889, S. 37),In der
engeren Sphäre der sogenannten moralischen Werte ist kein größerer
Gegensatz aufzufinden als der einer Herren-Moral und der Moral der christlichen
Wertbegriffe: letztere, auf einem durch und durch morbiden Boden gewachsen (
die Evangelien führen uns genau dieselben physiologischen Typen vor, welche
die Romane Dostojewskis schildern), die Herren-Moral (»römisch«,
»heidnisch«, »klassisch«, »Renaissance«) umgekehrt
als die Zeichensprache der Wohlgeratenheit, des aufsteigenden Lebens, des
Willens zur Macht als Prinzips des Lebens. Die Herren-Moral bejaht ebenso
instinktiv, wie die christliche verneint (»Gott«, »Jenseits«,
»Entselbstung« lauter Negationen). Die erstere gibt aus ihrer Fülle
an die Dinge ab sie verklärt, sie verschönt, sie vernünftigt
die Welt , die letztere verarmt, verblaßt, verhäßlicht
den Wert der Dinge, sie verneint die Welt. »Welt« ein christliches
Schimpfwort. (Ebd., 1889, S. 44-45),Diese Gegensatzformen
in der Optik der Werte sind beide notwendig: es sind Arten zu sehen, denen man
mit Gründen und Widerlegungen nicht beikommt. Man widerlegt das Christentum
nicht, man widerlegt eine Krankheit des Auges nicht. Daß man den Pessimismus
wie eine Philosophie bekämpft hat, war der Gipfelpunkt des gelehrten Idiotentums.
Die Begriffe »wahr« und »unwahr« haben, wie mir scheint,
in der Optik keinen Sinn. Wogegen man sich allein zu wehren hat, das ist
die Falschheit, die Instinkt-Doppelzüngigkeit, welche diese Gegensätze
nicht als Gegensätze empfinden will: wie es zum Beispiel Wagners Wille war,
der in solchen Falschheiten keine kleine Meisterschaft hatte. Nach der Herren-Moral,
der vornehmen Moral hinschielen ( die isländische Sage ist beinahe
deren wichtigste Urkunde ) und dabei die Gegenlehre, die vom »Evangelium
der Niedrigen«, vom Bedürfnis der Erlösung, im Munde führen!
(Ebd., 1889, S. 45),Das Bedürfnis nach Erlösung,
der Inbegriff aller christlichen Bedürfnisse ... ist die ehrlichste Ausdrucksform
der décadence, es ist das überzeugteste, schmerzhafteste Ja-sagen
zu ihr in sublimen Symbolen und Praktiken. Der Christ will von sich loskommen
.... Die vornehme Moral, die Herren-Moral, hat umgekehrt ihre Wurzel in
einem triumphierenden Ja-sagen zu sich sie ist Selbstbejahung, Selbstverherrlichung
des Lebens .... (Ebd., 1889, S. 45-46),Ich erinnere daran,
wie der letzte Deutsche vornehmen Geschmacks, wie Goethe das Kreuz empfand. Man
sucht umsonst nach wertvolleren, nach notwendigeren Gegensätzen. (Ebd.,
1889, S. 46),Anmerkung. Über den Gegensatz »vornehme
Moral« und »christliche Moral« unterrichtete zuerst meine
»Genealogie der Moral«: es gibt vielleicht keine entscheidendere
Wendung in der Geschichte der religiösen und moralischen Erkenntnis. Dies
Buch, mein Prüfstein für das, was zu mir gehört, hat das Glück,
nur den höchstgesinnten und strengsten Geistern zugänglich zu sein:
dem Reste fehlen die Ohren dafür. Man muß seine Leidenschaft
in Dingen haben, wo sie heute niemand hat. (Ebd., 1889, S. 46),Der
moderne Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werte dar, er
sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in einem Atem Ja und Nein. (Ebd.,
1889, S. 46),Aber wir alle haben wider Wissen, wider Willen, Werte,
Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter Abkunft im Leibe wir sind,
physiologisch betrachtet, falsch .... Eine Diagnostik der modernen Seele
womit begänne sie? Mit einem resoluten Einschnitt in diese Instinkt-Widersprüchlichkeit,
mit der Herauslösung ihrer Gegensatz-Werte, mit der Vivisektion vollzogen
an ihrem lehrreichsten Fall. (Ebd., 1889, S. 47), |