Götzen-Dämmerung (oder:
Wie man mit dem Hammer philosophiert), 1889 
Sprüche und Pfeile
Um
allein zu leben, muß man ein Tier oder ein Gott sein sagt Aristoteles.
Fehlt der dritte Fall: man muß beides sein Philosoph.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 389 bzw. 943).
Aus
der Kriegsschule des Lebens. Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 389 bzw. 943).Der Mensch strebt
nicht nach Glück; nur der Engländer tut das. (Ebd., 1889,
in: Werke III, S. 390 bzw. 944 ).»Böse Menschen haben
keine Lieder.« - Wie kommt es, daß die Russen Lieder haben?
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 392 bzw. 946).Wenn das Weib männliche
Tugenden hat, so ist es zum Davonlaufen; und wenn es keine männliche Tugenden
hat, so läuft es selbst davon. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 392 bzw.
951).
Das Problem des Sokrates
Mir
selbst ist diese Unehrerbietigkeit, daß die großen Weisen Niedergangs-Typen
sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo ihr am stärksten das gelehrte
und ungelehrte Vorurteil entgegensteht: ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome,
als Werkzeuge der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch
(»Geburt der Tragödie«, 1872 ).
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 397 bzw. 951).Sokrates gehörte,
seiner Herkunft nach, zum niedersten Volk: Sokrates war Pöbel. (Ebd.,
1889, in: Werke III, S. 398 bzw. 952).Mit Sokrates schlägt
der griechische Geschmack zugunsten der Dialektik um: was geschieht da eigentlich?
Vor allem wird damit ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt
mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die
dialektischen Manieren ab: sie galten als schlechte Manieren, sie stellten bloß.
Man warnte die Jugend vor ihnen. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 399 bzw.
953).Der Dialektiker überläßt seinem Gegner den
Nachweis, kein Idiot zu sein: er macht wütend, er macht zugleich hilflos.
Der Dialektiker depotenziert den Intellekt seines Gegners. (Ebd.,
1889, in: Werke III, S. 400 bzw. 954).Der Moralismus der griechischen
Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt: ebenso ihre Schätzung
der Dialektik. Vernunft = Tugend = Glück heißt bloß: man muß
es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein Tageslicht in
Permanenz herstellen das Tageslicht der Vernunft. Man muß
klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes Nachgeben an die Instinkte, ans Unbewußte
führt hinab .... (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 401 bzw. 955).Ich
habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates faszinierte: er schien ein Arzt, ein
Heiland zu sein. Ist es nötig, noch den Irrtum aufzuzeigen, der in seinem
Glauben an die »Vernünftigkeit um jeden Preis« lag? Es
ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der
décadence herauszutreten, daß sie gegen dieselbe Krieg machen.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 401 bzw. 955).Es ist ein Selbstbetrug
seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence
herauszutreten, daß sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht
außerhalb ihrer Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist
selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence sie verändern
deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg. (Ebd., 1889, in: Werke
III, S. 401 bzw. 955).
Die Vernunft in der Philosophie
Sie
fragen mich, was alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist? .... Zum Beispiel
ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Haß gegen die Vorstellung selbst des
Werdens, ihr Ägyptizismus. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 403 bzw.
957).Die »Vernunft« ist die Ursache, daß wir
das Zeugnis der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn,
den Wechsel zeigen, lügen sie nicht .... Aber damit wird Heraklit ewig recht
behalten, daß das Sein eine leere Fiktion ist. Die »scheinbare«
Welt ist die einzige: die »wahre Welt« ist nur hinzugelogen
.... (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 404 bzw. 958).Wir besitzen
heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis
der Sinne anzunehmen als wir sie noch schärfen, bewaffnen,
zu Ende denken lernten. Der Rest ist Mißgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft:
will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie. Oder
Formal-Wissenschaft, Zeichen-Lehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die
Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem:
ebensowenig als die Frage, welchen Wert überhaupt eine solche Zeichen-Konvention,
wie die Logik ist, hat. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 404 bzw. 958).
Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden
überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür,
daß etwas da sein müsse, das uns irreführe. Heute umgekehrt
sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurteil uns zwingt, Einheit,
Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen,
uns gewissermaßen verstrickt in den Irrtum, nezessitiert
zum Irrtum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns
darüber sind, daß hier der Irrtum ist. Es steht damit
nicht anders als mit den Bewegungen des großen Gestirns: bei ihnen
hat der Irrtum unser Auge, hier hat er unsre Sprache zum beständigen
Anwalt. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 405 bzw. 959).
Wie die wahre Welt endlich zur Fabel wurde
Geschichte eines Irrtums.
1. Die wahre Welt, erreichbar für den Weisen, den Frommen,
den Tugendhaften, - er lebt in ihr, er ist sie.
(Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel,überzeugend.
Umschreibung des Satzes »ich, Plato, bin die Wahrheit«.)
2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für
den den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften (»für den Sünder,
der Buße tut«).
(Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher.
umfaßlicher, - sie wird Weib, sie wird christlich.)
3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon
als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.
(Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis
hindurch; die Idees ublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.)
4. Die wahre Welt, unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht
auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend,
verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten?
(Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei
des Positivismus.)
5. Die »wahre Welt« - eine Idee, die zu nicht mehr nütz
ist, nicht einmal mehr verpflichtend, - eine unnütz, eine überflüssig
gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie
ab!
(Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des
bon sens und der Heiterkeit; Schamröte Platos; Teufelslärm
aller freien Geister.)
6. Die »wahre Welt« haben wir abgeschafft: welche Welt blieb
übrig? die scheinbare vielleicht? ... Aber nein! mit der wahren
Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!
(Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens;
Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT
ZRATHUSTRA.) (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 409 bzw. 963).
Die vier großen Irrtümer
Die
vier großen Irrtümer : (1)
Irrtum der Verwechslung von Ursache und Folge. .... (2)
Irrtum einer falschen Ursächlichkeit. .... (3)
Irrtum der imaginären Ursachen. .... (4)
Irrtum vom freien Willen. .... (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 417-424
bzw. 971-978).
Die Verbesserer der Menschheit
Man
kennt meine Forderung an den Philosophen, sich jenseits von Gut und Böse
zu stellen die Illusion des moralischen Urteils unter sich zu haben.
Diese Forderung folgt aus einer Einsicht, die von mir zum ersten Male formuliert
worden ist: daß es gar keine moralischen Tatsachen gibt. (Ebd.,
1889, in: Werke III, S. 425 bzw. 979).Das moralische Urteil hat
das mit dem religiösen gemein, daß es an Realitäten glaubt, die
keine sind. Moral ist nur eine Ausdeutung gewisser Phänomene, bestimmter
geredet, eine Mißdeutung. Das moralische Urteil gehört, wie
das religiöse, einer Stufe der Unwissenheit zu, auf der selbst der Begriff
des Realen, die Unterscheidung des Realen und Imaginären noch fehlt: so daß
»Wahrheit« auf solcher Stufe lauter Dinge bezeichnet, die wir heute
»Einbildungen« nennen. Das moralische Urteil ist insofern nie wörtlich
zu nehmen: als solches enthält es immer nur Widersinn. Aber es bleibt als
Semiotik unschätzbar: es offenbart, für den Wissenden wenigstens,
die wertvollsten Realitäten von Kulturen und Innerlichkeiten, die nicht genug
wußten, um sich selbst zu »verstehn«. Moral ist bloß
Zeichenrede, bloß Symptomatologie: man muß bereits wissen, worum
es sich handelt, um von ihr Nutzen zu ziehn. (Ebd., 1889, in: Werke III,
S. 425 bzw. 979).Zu allen Zeiten hat man
die Menschen »verbessern« wollen: dies vor allem hieß Moral.
Aber unter dem gleichen Wort ist das Allerverschiedenste von Tendenz versteckt.
Sowohl die Zähmung der Bestie Mensch, als die Züchtung
einer bestimmten Gattung Mensch ist »Besserung« genannt worden: erst
diese zoologischen termini drücken Realitäten aus Realitäten
freilich, von denen der typische »Verbesserer«, der Priester, nichts
weiß nichts wissen will. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 425
bzw. 979).Die Zähmung eines Tieres seine
»Besserung« nennen ist in unsern Ohren beinahe ein Scherz. Wer weiß,
was in Menagerien geschieht, zweifelt daran, daß die Bestie daselbst »verbessert«
wird. Sie wird geschwächt, sie wird weniger schädlich gemacht, sie wird
durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger
zur krankhaften Bestie. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 425-426 bzw.
979-980).Nicht anders steht es mit dem gezähmten Menschen,
den der Priester »verbessert« hat. Im frühen Mittelalter, wo
in der Tat die Kirche vor allem eine Menagerie war, machte man allerwärts
auf die schönsten Exemplare der »blonden Bestie« Jagd
man »verbesserte« zum Beispiel die vornehmen Germanen. Aber wie sah
hinterdrein ein solcher »verbesserter«, ins Kloster verführter
Germane aus? Wie eine Karikatur des Menschen, wie eine Mißgeburt: er war
zum »Sünder« geworden, er stak im Käfig, man hatte ihn zwischen
lauter schreckliche Begriffe eingesperrt .... Da lag er nun, krank, kümmerlich,
gegen sich selbst böswillig; voller Haß gegen die Antriebe zum Leben,
voller Verdacht gegen alles, was noch stark und glücklich war. Kurz, ein
»Christ« .... Physiologisch geredet: im Kampf mit der Bestie kann
Krankmachen das einzige Mittel sein, sie schwach zu machen. Das verstand die Kirche:
sie verdarb den Menschen, sie schwächte ihn aber sie nahm in
Anspruch, ihn »verbessert« zu haben. (Ebd., 1889, in: Werke
III, S. 426 bzw. 980).Nehmen wir den andern
Fall der sogenannten Moral, den Fall der Züchtung einer bestimmten
Rasse und Art. Das großartigste Beispiel dafür gibt die indische Moral,
als »Gesetz des Manu« zur Religion sanktioniert. Hier ist die Aufgabe
gestellt, nicht weniger als vier Rassen auf einmal zu züchten: eine priesterliche,
eine kriegerische, eine händler- und ackerbauerische, endlich eine Dienstboten-Rasse,
die Sudras. Ersichtlich sind wir hier nicht mehr unter Tierbändigern: eine
hundertmal mildere und vernünftigere Art Mensch ist die Voraussetzung, um
auch nur den Plan einer solchen Züchtung zu konzipieren. Man atmet auf, aus
der christlichen Kranken- und Kerkerluft in diese gesündere, höhere,
weitere Welt einzutreten. Wie armselig ist das »Neue Testament« gegen
Manu, wie schlecht riecht es! Aber auch diese Organisation hatte nötig,
furchtbar zu sein nicht diesmal im Kampf mit der Bestie, sondern
mit ihrem Gegensatz-Begriff, dem Nicht-Zucht-Menschen, dem Mischmasch-Menschen,
dem Tschandala. Und wieder hatte sie kein andres Mittel, ihn ungefährlich,
ihn schwach zu machen, als ihn krank zu machen es war der Kampf mit der
»großen Zahl«. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 426-427
bzw. 980-981).Vielleicht gibt es nichts unserm Gefühle Widersprechenderes
als diese Schutzmaßregeln der indischen Moral. Das dritte Edikt zum Beispiel
(Avadana-Sastra I), das »von den unreinen Gemüsen«, ordnet an,
daß die einzige Nahrung, die den Tschandala erlaubt ist, Knoblauch und Zwiebeln
sein sollen, in Anbetracht, daß die heilige Schrift verbietet, ihnen Korn
oder Früchte, die Körner tragen, oder Wasser oder Feuer zu geben.
Dasselbe Edikt setzt fest, daß das Wasser, welches sie nötig haben,
weder aus den Flüssen, noch aus den Quellen, noch aus den Teichen genommen
werden dürfe, sondern nur aus den Zugängen zu Sümpfen und aus Löchern,
welche durch die Fußtapfen der Tiere entstanden sind. Insgleichen wird ihnen
verboten, ihre Wäsche zu waschen und sich selbst zu waschen, da das
Wasser, das ihnen aus Gnade zugestanden wird, nur benutzt werden darf, den Durst
zu löschen. Endlich ein Verbot an die Sudra-Frauen, den Tschandala-Frauen
bei der Geburt beizustehn, insgleichen noch eins für die letzteren, einander
dabei beizustehn. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 427 bzw. 981).Der
Erfolg einer solchen Sanitäts-Polizei blieb nicht aus: mörderische Seuchen,
scheußliche Geschlechtskrankheiten und daraufhin wieder »das Gesetz
des Messers«, die Beschneidung für die männlichen, die Abtragung
der kleinen Schamlippen für die weiblichen Kinder anordnend. Manu
selbst sagt: »die Tschandala sind die Frucht von Ehebruch, Inzest und Verbrechen
( dies die notwendige Konsequenz des Begriffs Züchtung). Sie
sollen zu Kleidern nur die Lumpen von Leichnamen haben, zum Geschirr zerbrochne
Töpfe, zum Schmuck altes Eisen, zum Gottesdienst nur die bösen Geister;
sie sollen ohne Ruhe von einem Ort zum andern schweifen. Es ist ihnen verboten,
von links nach rechts zu schreiben und sich der rechten Hand zum Schreiben zu
bedienen: der Gebrauch der rechten Hand und des Von-links-nach-rechts ist bloß
den Tugendhaften vorbehalten, den Leuten von Rasse.«
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 427 bzw. 981).Diese
Verfügungen sind lehrreich genug: in ihnen haben wir einmal die arische Humanität,
ganz rein, ganz ursprünglich wir lernen, daß der Begriff »reines
Blut« der Gegensatz eines harmlosen Begriffs ist. Andrerseits wird klar,
in welchem Volk sich der Haß, der Tschandala-Haß gegen diese
»Humanität« verewigt hat, wo er Religion, wo er Genie
geworden ist .... Unter diesem Gesichtspunkte sind die Evangelien eine Urkunde
ersten Ranges; noch mehr das Buch Henoch. Das Christentum, aus jüdischer
Wurzel und nur verständlich als Gewächs dieses Bodens, stellt die Gegenbewegung
gegen jede Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar es
ist die antiarische Religion par excellence: das Christentum die
Umwertung aller arischen Werte, der Sieg der Tschandala-Werte, das Evangelium
den Armen, den Niedrigen gepredigt, der Gesamt-Aufstand alles Niedergetretenen,
Elenden, Mißratenen, Schlechtweggekommenen gegen die »Rasse«
die unsterbliche Tschandala-Rache als Religion der Liebe.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 427-428 bzw. 981-982).Die
Moral der Züchtung und die Moral der Zähmung sind in den
Mitteln, sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig: wir dürfen
als obersten Satz hinstellen, daß, um Moral zu machen, man den unbedingten
Willen zum Gegenteil haben muß. Dies ist das große, das unheimliche
Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin: die Psychologie der »Verbesserer«
der Menschheit. Eine kleine und im Grunde bescheidne Tatsache, die der sogenannten
pia fraus, gab mir den ersten Zugang zu diesem Problem: die pia fraus,
das Erbgut aller Philosophen und Priester, die die Menschheit »verbesserten«.
Weder Manu, noch Plato, noch Konfuzius, noch die jüdischen und christlichen
Lehrer haben je an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt. Sie haben an ganz
andren Rechten nicht gezweifelt .... In Formel ausgedrückt dürfte man
sagen: alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden
sollte, waren von Grund aus unmoralisch. (Ebd., 1889, in: Werke III,
S. 428 bzw. 982).
Was den Deutschen abgeht
Man
mache einen Überschlag: es liegt nicht nur auf der Hand, daß die ...
Kultur niedergeht, es fehlt auch nicht am zureichenden Grund dafür. Niemand
kann zuletzt mehr ausgeben, als er hat das gilt von Einzelnen, das gilt
von Völkern. Gibt man sich für Macht, für große Politik,
für Wirtschaft, Weltverkehr, Parlamentarismus, Militär-Interessen aus
gibt man das Quantum Verstand, Ernst, Wille, Selbstüberwindung, das
man ist, nach dieser Seite weg, so fehlt es auf der andern Seite.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 431 bzw. 985).Die
Kultur und der Staat man betrüge sich hierüber nicht sind
Antagonisten: »Kultur-Staat« ist bloß eine moderne Idee. Das
eine lebt vom andern, das eine gedeiht auf Unkosten des andern. Alle großen
Zeiten der Kultur sind politische Niedergangs-Zeiten: was groß ist im Sinn
der Kultur, war unpolitisch, selbst antipolitisch .... (Ebd., 1889, in:
Werke III, S. 431 bzw. 985).  Dem
ganzen höheren Erziehungswesen in Deutschland ist die Hauptsache abhanden
gekommen: Zweck sowohl als Mittel zum Zweck. Daß Erziehung, Bildung
selbst Zweck ist und nicht »das Reich« , daß
es zu diesem Zweck der Erzieher bedarf und nicht der Gymnasiallehrer
und Universitäts-Gelehrten man vergaß das .... Erzieher tun
not, die selbst erzogen sind, überlegne, vornehme Geister, in jedem
Augenblick bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, süß
gewordene Kulturen nicht die gelehrten Rüpel, welche Gymnasium
und Universität der Jugend heute als »höhere Ammen« entgegenbringt.
Die Erzieher fehlen, die Ausnahmen der Ausnahmen abgerechnet, die erste
Vorbedingung der Erziehung: daher der Niedergang der deutschen Kultur.
Eine jener allerseltensten Ausnahmen ist mein verehrungswürdiger Freund Jacob
Burckhardt in Basel: ihm zuerst verdankt Basel seinen Vorrang von Humanität.
Was die »höheren Schulen« Deutschlands tatsächlich
erreichen, das ist eine brutale Abrichtung, um, mit möglichst geringem Zeitverlust,
eine Unzahl junger Männer für den Staatsdienst nutzbar, ausnutzbar zu
machen. »Höhere Erziehung« und Unzahl das widerspricht
sich von vornherein. Jede höhere Erziehung gehört nur der Ausnahme:
man muß privilegiert sein, um ein Recht auf ein so hohes Privilegium zu
haben. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 432 bzw. 986).  Was
bedingt den Niedergang der deutschen Kultur? Daß »höhere
Erziehung« kein Vorrecht mehr ist der Demokratismus der »allgemeinen«,
der gemein gewordnen »Bildung«. (Ebd., 1889, in: Werke
III, S. 433 bzw. 987).  Es
steht niemandem mehr frei, im jetzigen Deutschland seinen Kindern eine vornehme
Erziehung zu geben: unsre »höheren« Schulen sind allesamt auf
die zweideutigste Mittelmäßigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen,
mit Lehrzielen. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als
ob etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann mit 23 Jahren noch nicht
»fertig« ist, noch nicht Antwort weiß auf die »Hauptfrage«:
welchen Beruf? Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt,
liebt nicht »Berufe«, genau deshalb, weil sie sich berufen weiß
.... Sie hat Zeit, sie nimmt sich Zeit, sie denkt gar nicht daran, »fertig«
zu werden mit dreißig Jahren ist man, im Sinne hoher Kultur, ein
Anfänger, ein Kind. Unsre überfüllten Gymnasien, unsre überhäuften,
stupid gemachten Gymnasiallehrer sind ein Skandal: um diese Zustände in Schutz
zu nehmen, wie es jüngst die Professoren von Heidelberg getan haben, dazu
hat man vielleicht Ursachen Gründe dafür gibt es nicht.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 433 bzw. 987). 
Streifzüge eines Unzeitgemäßen
Anti-Darwin.
Was den berühmten »Kampf ums Leben« betrifft, so scheint
er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme;
der Gesamt-Aspekt des Lebens ist nicht die Notlage, die Hungerlage, vielmehr
der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung wo gekämpft
wird, kämpft man um Macht .... Man soll nicht Malthus mit der Natur
verwechseln. Gesetzt aber, es gibt diesen Kampf und in der Tat,
er kommt vor , so läuft er leider umgekehrt aus, als die Schule Darwins
wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen dürfte: nämlich
zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen.
Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden
immer wieder über die Starken Herr das macht, sie sind die große
Zahl, sie sind auch klüger .... Darwin hat den Geist vergessen (
das ist englisch!), die Schwachen haben mehr Geist .... Man muß Geist
nötig haben, um Geist zu bekommen man verliert ihn, wenn man ihn nicht
mehr nötig hat. Wer die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes
( »laß fahren dahin!« denkt man heute in Deutschland »
das Reich muß uns doch bleiben« ...). Ich verstehe unter Geist,
wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die große
Selbstbeherrschung und alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört
ein großer Teil der sogenannten Tugend). (Ebd., 1889, in: Werke III,
S. 444-445 bzw. 998-999).Ich trage es den Deutschen nach, sich
über Kant und seine »Philosophie der Hintertüren«,
wie ich sie nenne, vergriffen zu haben das war nicht der Typus der
intellektuellen Rechtschaffenheit. Das andre, was ich nicht hören
mag, ist ein berüchtigtes »und«: die Deutschen sagen »Goethe
und Schiller«, ich fürchte, sie sagen »Schiller
und Goethe« .... Kennt man noch nicht diesen Schiller? Es
gibt noch schlimmere »und«; ich habe mit meinen eigenen Ohren, allerdings
nur unter Universitäts-Professoren, gehört »Schopenhauer und
Hartmann«. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 445-446 bzw. 999-1000).Was
den Menschen rechtfertigt, ist seine Realität sie wird ihn ewig rechtfertigen.
Um wie viel mehr wert ist der wirkliche Mensch, verglichen mit irgendeinem bloß
gewünschten, erträumten, erstunkenen und erlogenen Menschen? mit irgendeinem
idealen Menschen? .... Und nur der ideale Mensch geht dem Philosophen wider
den Geschmack (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 453-454 bzw. 1007-1008).Naturwert
des Egoismus. Die Selbstsucht ist so viel wert, als der physiologisch
wert ist, der sie hat: sie kann sehr viel wert sein, sie kann nichtswürdig
und verächtlich sein. Jeder Einzelne darf daraufhin angesehn werden, ob er
die aufsteigende oder die absteigende Linie des Lebens darstellt. Mit einer Entscheidung
darüber hat man auch einen Kanon dafür, was seine Selbstsucht wert ist.
Stellt er das Aufsteigen der Linie dar, so ist in der Tat sein Wert außerordentlich
und um des Gesamt-Lebens willen, das mit ihm einen Schritt weiter
tut, darf die Sorge um Erhaltung, um Schaffung seines optimum von Bedingungen
selbst extrem sein. Der Einzelne, das »Individuum«, wie Volk und Philosoph
das bisher verstand, ist ja ein Irrtum: er ist nichts für sich, kein Atom,
kein »Ring der Kette«, nichts bloß Vererbtes von ehedem
er ist die ganze eine Linie Mensch bis zu ihm hin selber noch .... Stellt er die
absteigende Entwicklung, den Verfall, die chronische Entartung, Erkrankung dar
( Krankheiten sind, ins Große gerechnet, bereits Folgeerscheinungen
des Verfalls, nicht dessen Ursachen), so kommt ihm wenig Wert zu, und die
erste Billigkeit will, daß er den Wohlgeratnen so wenig als möglich
wegnimmt. Er ist bloß noch deren Parasit .... (Ebd., 1889,
in: Werke III, S. 454 bzw. 1008).Christ und Anarchist.
Wenn der Anarchist, als Mundstück niedergehender Schichten der Gesellschaft,
mit einer schönen Entrüstung »Recht«, »Gerechtigkeit«,
»gleiche Rechte« verlangt, so steht er damit nur unter dem Drucke
seiner Unkultur, welche nicht zu begreifen weiß, warum er eigentlich
leidet woran er arm ist, an Leben .... Ein Ursachen-Trieb ist in
ihm mächtig: jemand muß schuld daran sein, daß er sich schlecht
befindet .... Auch tut ihm die »schöne Entrüstung« selber
schon wohl, es ist ein Vergnügen für alle armen Teufel, zu schimpfen
es gibt einen kleinen Rausch von Macht. Schon die Klage, das Sich-Beklagen
kann dem Leben einen Reiz geben, um dessentwillen man es aushält: eine feinere
Dosis Rache ist in jeder Klage, man wirft sein Schlechtbefinden, unter
Umständen selbst seine Schlechtigkeit denen, die anders sind, wie ein Unrecht,
wie ein unerlaubtes Vorrecht vor. »Bin ich eine Kanaille, so solltest du
es auch sein«: auf diese Logik hin macht man Revolution. Das Sich-Beklagen
taugt in keinem Falle etwas: es stammt aus der Schwäche. Ob man sein Schlecht-Befinden
andern oder sich selber zumißt ersteres tut der Sozialist,
letzteres zum Beispiel der Christ , macht keinen eigenlichen Unterschied.
Das Gemeinsame, sagen wir auch das Unwürdige daran ist, daß
jemand schuld daran sein soll, daß man leidet kurz, daß der
Leidende sich gegen sein Leiden den Honig der Rache verordnet. Die Objekte dieses
Rach-Bedürfnisses als eines Lust-Bedürfnisses sind Gelegenheits-Ursachen:
der Leidende findet überall Ursachen, seine kleine Rache zu kühlen,
ist er Christ, nochmals gesagt, so findet er sie in sich .... Der
Christ und der Anarchist Beide sind décadents. Aber
auch wenn der Christ die »Welt« verurteilt, verleumdet, beschmutzt,
so tut er es aus dem gleichen Instinkte, aus dem der sozialistische Arbeiter die
Gesellschaft verurteilt, verleumdet, beschmutzt: das »Jüngste
Gericht« selbst ist noch der süße Trost der Rache die
Revolution, wie sie auch der sozialistische Arbeiter erwartet, nur etwas ferner
gedacht .... Das »Jenseits« selbst wozu ein Jenseits, wenn
es nicht ein Mittel wäre, das Diesseits zu beschmutzen? (Ebd., 1889,
in: Werke III, S. 455 bzw. 1009).Kritik der décadence-Moral.
Eine »altruistische« Moral, eine Moral, bei der die Selbstsucht
verkümmert , bleibt unter allen Umständen ein schlechtes Anzeichen.
Dies gilt vom Einzelnen, dies gilt namentlich von Völkern. Es fehlt am Besten,
wenn es an der Selbstsucht zu fehlen beginnt. Instinktiv das Sich-Schädliche
wählen, Gelockt-werden durch »uninteressierte« Motive
gibt beinahe die Formel ab für décadence. »Nicht seinen
Nutzen suchen« das ist bloß das moralische Feigenblatt für
eine ganz andere, nämlich physiologische Tatsächlichkeit: »ich
weiß meinen Nutzen nicht mehr zu finden« .... Disgregation
der Instinkte! Es ist zu Ende mit ihm, wenn der Mensch altruistisch wird.
Statt naiv zu sagen »ich bin nichts mehr wert«, sagt die Moral-Lüge
im Munde des décadent: »Nichts ist etwas wert, das Leben
ist nichts wert« .... Ein solches Urteil bleibt zuletzt eine große
Gefahr, es wirkt ansteckend auf dem ganzen morbiden Boden der Gesellschaft
wuchert es bald zu tropischer Begriffs-Vegetation empor, bald als Religion (Christentum),
bald als Philosophie (Schopenhauerei). Unter Umständen vergiftet eine solche
aus Fäulnis gewachsene Giftbaum-Vegetation mit ihrem Dunste weithin, auf
Jahrtausende hin das Leben .... (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 456
bzw. 1010).Moral für Ärzte. Der Kranke
ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig,
noch länger zu leben. Das Fortvegetieren in feiger Abhängigkeit von
Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verlorengegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn.
Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein
nicht Rezepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vor ihrem Patienten
.... Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle,
wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das
rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden
Lebens verlangt zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das
Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben .... (Ebd., 1889,
in: Werke III, S. 456 bzw. 1010).Auf eine stolze Art sterben, wenn
es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien
Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit,
inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so daß ein wirkliches Abschiednehmen
noch möglich ist, wo der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen
ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summierung
des Lebens alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften
Komödie, die das Christentum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll
es dem Christentume nie vergessen, daß es die Schwäche des Sterbenden
zu Gewissens-Notzucht, daß es die Art des Todes selbst zu Wert-Urteilen
über Mensch und Vergangenheit gemißbraucht hat! Hier gilt es,
allen Feigheiten des Vorurteils zum Trotz, vor allem die richtige, das heißt
physiologische Würdigung des sogenannten natürlichen Todes herzustellen:
der zuletzt auch nur ein »unnatürlicher«, ein Selbstmord ist.
Man geht nie durch jemand anderes zugrunde, als durch sich selbst. Nur ist es
der Tod unter den verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod
zur unrechten Zeit, ein Feiglings-Tod. Man sollte, aus Liebe zum Leben
, den Tod anders wollen, frei, bewußt, ohne Zufall, ohne Überfall
.... (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 456-457 bzw. 1010-1011).Endlich
ein Rat für die Herrn Pessimisten und andre décadents. Wir haben es
nicht in der Hand zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können diesen
Fehler denn bisweilen ist es ein Fehler wieder gutmachen. Wenn man
sich abschafft, tut man die achtungswürdigste Sache, die es gibt:
man verdient beinahe damit, zu leben .... Die Gesellschaft, was sage ich! das
Leben selber hat mehr Vorteil davon als durch irgendwelches »Leben«
in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend man hat die andern von seinem
Anblick befreit, man hat das Leben von einem Einwand befreit .... Der Pessimismus,
pur ... beweist sich erst durch die Selbst-Widerlegung der Herrn Pessimisten:
man muß einen Schritt weiter gehn in seiner Logik, nicht bloß mit
»Wille und Vorstellung«, wie Schopenhauer es tat, das Leben verneinen
, man muß Schopenhauer zuerst verneinen .... Der Pessimismus,
anbei gesagt, so ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit
einer Zeit, eines Geschlechts im ganzen: er ist deren Ausdruck. Man verfällt
ihm, wie man der Cholera verfällt: man muß morbid genug dazu schon
angelegt sein. Der Pessimismus selbst macht keinen einzigen décadent
mehr; ich erinnere an das Ergebnis der Statistik, daß die Jahre, in denen
die Cholera wütet, sich in der Gesamt-Ziffer der Sterbefälle nicht von
andern Jahrgängen unterscheiden. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 457-458
bzw. 1011-1012).Ob wir moralischer geworden sind.
Gegen meinen Begriff »jenseits von Gut und Böse« hat sich, wie
zu erwarten stand, die ganze Ferozität der moralischen Verdummung
... ins Zeug geworfen: ich hätte artige Geschichten davon zu erzählen.
Vor allem gab man mir die »unleugbare Überlegenheit« unsrer Zeit
im sittlichen Urteil zu überdenken, unsern wirklich hier gemachten Fortschritt:
ein Cesare Borgia sei, im Vergleich mit uns, durchaus nicht als ein »höherer
Mensch«, als eine Art Übermensch, wie ich es tue, aufzustellen
.... Ein Schweizer Redakteur, vom »Bund«, ging so weit, nicht ohne
seine Achtung vor dem Mut zu solchem Wagnis auszudrücken, den Sinn meines
Werks dahin zu »verstehn«, daß ich mit demselben die Abschaffung
aller anständigen Gefühle beantragte. Sehr verbunden! ich erlaube
mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, ob wir wirklich moralischer geworden
sind. Daß alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen ....
Wir modernen Menschen, sehr zart, sehr verletztlich und hundert Rücksichten
gebend und nehmend, bilden uns in der Tat ein, diese zärtliche Menschlichkeit,
die wir darstellen, diese erreichte Einmütigkeit in der Schonung,
in der Hilfsbereitschaft, im gegenseitigen Vertrauen, sei ein positiver Fortschritt,
damit seien wir weit über die Menschen der Renaissance hinaus. Aber so denkt
jede Zeit, so muß sie denken. Gewiß ist, daß wir uns
nicht in Renaissance-Zustände hineinstellen dürften, nicht einmal hineindenken:
unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus, nicht zu reden von unsern Muskeln.
Mit diesem Unvermögen ist aber kein Fortschritt bewiesen, sondern nur eine
andre, eine spätere Beschaffenheit, eine schwächere, zärtlichere,
verletztlichere, aus der sich notwendig eine rücksichtenreiche Moral
erzeugt. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 458 bzw. 1012).Denken
wir unsre Zartheit und Spätheit, unsre physiologische Alterung weg, so verlöre
auch unsre Moral der »Vermenschlichung« sofort ihren Wert an
sich hat keine Moral Wert : sie würde uns selbst Geringschätzung
machen. Zweifeln wir andrerseits nicht daran, daß wir Modernen mit unsrer
dick wattierten Humanität, die durchaus an keinen Stein sich stoßen
will, den Zeitgenossen Cesare Borgias eine Komödie zum Totlachen abgeben
würden. In der Tat, wir sind über die Maßen unfreiwillig spaßhaft,
mit unsren modernen »Tugenden« .... Die Abnahme der feindseligen und
mißtrauen-weckenden Instinkte und das wäre ja unser »Fortschritt«
stellt nur eine der Folgen in der allgemeinen Abnahme der Vitalität
dar: es kostet hundertmal mehr Mühe, mehr Vorsicht, ein so bedingtes, so
spätes Dasein durchzusetzen. Da hilft man sich gegenseitig, da ist jeder
bis zu einem gewissen Grade Kranker und jeder Krankenwärter. Das heißt
dann »Tugend« : unter Menschen, die das Leben noch anders kannten,
voller, verschwenderischer, überströmender, hätte man's anders
genannt, »Feigheit« vielleicht, »Erbärmlichkeit«,
»Altweiber-Moral« .... (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 458-459
bzw. 1012-1013).Unsre Milderung der Sitten das ist mein
Satz, das ist, wenn man will, meine Neuerung ist eine Folge des
Niedergangs; die Härte und Schrecklichkeit der Sitte kann umgekehrt eine
Folge des Überschusses von Leben sein. Dann nämlich darf auch viel gewagt,
viel herausgefordert, viel auch vergeudet werden. Was Würze ehedem
des Lebens war, für uns wäre es Gift .... Indifferent zu sein
auch das ist eine Form der Stärke dazu sind wir gleichfalls
zu alt, zu spät: unsre Mitgefühls-Moral, vor der ich als der erste gewarnt
habe, ... ist ein Ausdruck mehr der physiologischen Überreizbarkeit, die
allem, was décadent ist, eignet. Jene Bewegung, die mit der Mitleids-Moral
Schopenhauers versucht hat, sich wissenschaftlich vorzuführen
ein sehr unglücklicher Versuch! ist die eigentliche décadence-Bewegung
in der Moral, sie ist als solche tief verwandt mit der christlichen Moral. Die
starken Zeiten, die vornehmen Kulturen sehen im Mitleiden, in der »Nächstenliebe«,
im Mangel an Selbst und Selbstgefühl etwas Verächtliches. (Ebd.,
1889, in: Werke III, S. 459 bzw. 1013).Die Zeiten sind zu messen
nach ihren positiven Kräften und dabei ergibt sich jene so verschwenderische
und verhängnisreiche Zeit der Renaissance als die letzte große Zeit,
und wir, wir Modernen mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe,
mit unsern Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der
Wissenschaftlichkeit sammelnd, ökonomisch, machinal als eine
schwache Zeit .... Unsre Tugenden sind bedingt, sind herausgefordert
durch unsre Schwäche .... (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 459 bzw.
1013).Die »Gleichheit«, eine gewisse tatsächliche
Anähnlichung, die sich in der Theorie von »gleichen Rechten«
nur zum Ausdruck bringt, gehört wesentlich zum Niedergang: die Kluft zwischen
Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen, der Wille, selbst
zu sein, sich abzuheben , das, was ich Pathos der Distanz nenne,
ist jeder starken Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite zwischen
den Extremen wird heute immer kleiner die Extreme selbst verwischen sich
endlich bis zur Ähnlichkeit .... Alle unsre politischen Theorien und
Staats-Verfassungen, das »Deutsche Reich« durchaus nicht ausgenommen,
sind Folgerungen, Folge-Notwendigkeiten des Niedergangs; die unbewußte Wirkung
der décadence ist bis in die Ideale einzelner Wissenschaften hinein
Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze Soziologie in England und Frankreich
bleibt, daß sie nur die Verfalls-Gebilde der Sozietät aus Erfahrung
kennt und vollkommen unschuldig die eignen Verfalls-Instinkte als Norm
des soziologischen Werturteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme
aller organisierenden, das heißt trennenden, Klüfte aufreißenden,
unter- und überordnenden Kraft formuliert sich in der Soziologie von heute
zum Ideal .... Unsre Sozialisten sind décadents, aber auch
Herr Herbert Spencer ist ein décadent er sieht im Sieg des
Altruismus etwas Wünschenswertes! (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 459-460
bzw. 1013-1014).Mein Begriff von Freiheit. Der Wert
einer Sache liegt mitunter nicht in dem, was man mit ihr erreicht, sondern in
dem, was man für sie bezahlt was sie uns kostet. Ich gebe ein
Beispiel. Die liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal zu sein,
sobald sie erreicht sind: es gibt später keine ärgeren und gründlicheren
Schädiger der Freiheit als liberale Institutionen. Man weiß ja, was
sie zuwege bringen: sie unterminieren den Willen zur Macht, sie sind die zur Moral
erhobene Nivellierung von Berg und Tal, sie machen klein, feige und genüßlich
mit ihnen triumphiert jedesmal das Herdentier. Liberalismus: auf deutsch
Herden-Vertierung .... Dieselben Institutionen bringen, so lange sie noch
erkämpft werden, ganz andre Wirkungen hervor; sie fördern dann in der
Tat die Freiheit auf eine mächtige Weise. Genauer zugesehn, ist es der Krieg,
der diese Wirkungen hervorbringt, der Krieg um liberale Institutionen,
der als Krieg die illiberalen Instinkte dauern läßt. Und der
Krieg erzieht zur Freiheit. Denn was ist Freiheit? Daß man den Willen zur
Selbstverantwortlichkeit hat. Daß man die Distanz, die uns abtrennt, festhält.
Daß man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben
gleichgültiger wird. Daß man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern,
sich selber nicht abgerechnet. Freiheit bedeutet, daß die männlichen,
die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andre Instinkte,
zum Beispiel über die des »Glücks«. (Ebd., 1889, in:
Werke III, S. 460-461 bzw. 1014-1015).Der freigewordne Mensch,
um wie viel mehr der freigewordne Geist, tritt mit Füßen auf die verächtliche
Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer
und andre Demokraten träumen. Der freie Mensch ist Krieger.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 461 bzw. 1015).Wonach mißt
sich die Freiheit, bei Einzelnen wie bei Völkern? Nach dem Widerstand, der
überwunden werden muß, nach der Mühe, die es kostet, oben
zu bleiben. Den höchsten Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen,
wo beständig der höchste Widerstand überwunden wird: fünf
Schritte weit von der Tyrannei, dicht an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft.
Dies ist psychologisch wahr, wenn man hier unter den »Tyrannen« unerbittliche
und furchtbare Instinkte begreift, die das Maximum von Autorität und Zucht
gegen sich herausfordern schönster Typus Julius Cäsar ;
dies ist auch politisch wahr, man mache nur seinen Gang durch die Geschichte.
Die Völker, die etwas wert waren, wert wurden, wurden dies nie unter
liberalen Institutionen: die große Gefahr machte etwas aus ihnen,
das Ehrfurcht verdient, die Gefahr, die uns unsre Hilfsmittel, unsre Tugenden,
unsre Wehr und Waffen, unsern Geist erst kennen lehrt die uns zwingt, stark
zu sein .... Erster Grundsatz: man muß es nötig haben, stark
zu sein: sonst wird man's nie. Jene großen Treibhäuser für
starke, für die stärkste Art Mensch, die es bisher gegeben hat, die
aristokratischen Gemeinwesen in der Art von Rom und Venedig verstanden Freiheit
genau in dem Sinne, wie ich das Wort Freiheit verstehe: als etwas, das man hat
und nicht hat, das man will, das man erobert .... (Ebd.,
1889, in: Werke III, S. 461 bzw. 1015).Kritik der Modernität.
Unsre Institutionen taugen nichts mehr: darüber ist man einmütig.
Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an uns. Nachdem uns alle Instinkte
abhanden gekommen sind, aus denen Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen
überhaupt abhanden, weil wir nicht mehr zu ihnen taugen. Demokratismus
war jederzeit die Niedergangs-Form der organisierenden Kraft: ich habe schon in
»Menschliches, Allzumenschliches« (I, 682) die moderne Demokratie
samt ihren Halbheiten, wie »Deutsches Reich«, als Verfallsform
des Staats gekennzeichnet. Damit es Institutionen gibt, muß es eine
Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen
zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus,
zur Solidarität von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts
in infinitum. Ist dieser Wille da, so gründet sich etwas wie das Imperium
Romanum: oder wie Rußland, die einzige Macht, die heute Dauer im
Leibe hat, die warten kann, die etwas noch versprechen kann Rußland,
der Gegensatz-Begriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei
und Nervosität, die mit der Gründung des Deutschen Reichs in einen kritischen
Zustand eingetreten ist .... Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus
denen Institutionen wachsen, aus denen Zukunft wächst: seinem »modernen
Geiste« geht vielleicht nichts so sehr wider den Strich. (Ebd., 1889,
in: Werke III, S. 461-462 bzw. 1015-1016).Man lebt für heute,
man lebt sehr geschwind man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt
man »Freiheit«. Was aus Institutionen Institutionen macht,
wird verachtet, gehaßt, abgelehnt: man glaubt sich in der Gefahr einer neuen
Sklaverei, wo das Wort »Autorität« auch nur laut wird. Soweit
geht die décadence im Wert-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen
Parteien: sie ziehn instinktiv vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt
.... Zeugnis die moderne Ehe. Aus der modernen Ehe ist ersichtlich alle
Vernunft abhanden gekommen: das gibt aber keinen Einwand gegen die Ehe ab, sondern
gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe sie lag in der juristischen
Alleinverantwortlichkeit des Mannes: damit hatte die Ehe Schwergewicht, während
sie heute auf beiden Beinen hinkt. Die Vernunft der Ehe sie lag in ihrer
prinzipiellen Unlösbarkeit: damit bekam sie einen Akzent, der, dem Zufall
von Gefühl, Leidenschaft und Augenblick gegenüber, sich Gehör
zu schaffen wußte. Sie lag insgleichen in der Verantwortlichkeit der
Familien für die Auswahl der Gatten. Man hat mit der wachsenden Indulgenz
zugunsten der Liebes-Heirat geradezu die Grundlage der Ehe, das, was erst
aus ihr eine Institution macht, eliminiert. Man gründet eine Institution
nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe nicht,
wie gesagt, auf die »Liebe« man gründet sie auf den Geschlechtstrieb,
auf den Eigentumstrieb (Weib und Kind als Eigentum), auf den Herrschafts-Trieb,
der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisiert,
der Kinder und Erben braucht, um ein erreichtes Maß von Macht, Einfluß,
Reichtum auch physiologisch festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität
zwischen Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits
die Bejahung der größten, der dauerhaftesten Organisationsform in sich:
wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich gutsagen kann
bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt keinen
Sinn. Die moderne Ehe verlor ihren Sinn folglich schafft
man sie ab. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 462-463 bzw. 1016-1017).Die
Arbeiter-Frage. Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung, welche
heute die Ursache aller Dummheiten ist, liegt darin, daß es eine Arbeiter-Frage
gibt. Über gewisse Dinge fragt man nicht: erster Imperativ des Instinkts.
Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter
machen will, nachdem man erst eine Frage aus ihm gemacht hat. Er befindet sich
viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu
fragen. Er hat zuletzt die große Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen
vorüber, daß hier sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art
Mensch, ein Typus Chinese zum Stande herausbilde: und dies hätte Vernunft
gehabt, dies wäre geradezu eine Notwendigkeit gewesen. Was hat man getan?
Alles, um auch die Voraussetzung dazu im Keime zu vernichten man
hat die Instinkte, vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich,
sich selber möglich wird, durch die unverantwortlichste Gedankenlosigkeit
in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter militärtüchtig
gemacht, man hat ihm das Koalitions-Recht, das politische Stimmrecht gegeben:
was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits als Notstand (moralisch
ausgedrückt als Unrecht) empfindet? Aber was will man? nochmals
gefragt. Will man einen Zweck, muß man auch die Mittel wollen: will man
Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herrn erzieht. (Ebd., 1889,
in: Werke III, S. 463-464 bzw. 1017-1018).»Freiheit, die
ich nicht meine ....« In solchen Zeiten, wie heute, seinen
Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängnis mehr. Diese Instinkte
widersprechen, stören sich, zerstören sich untereinander; ich definierte
das Moderne bereits als den physiologischen Selbst-Widerspruch. Die Vernunft
der Erziehung würde wollen, daß unter einem eisernen Drucke wenigstens
eins dieser Instinkt-Systeme paralysiert würde, um einem andern zu
erlauben, zu Kräften zu kommen, stark zu werden, Herr zu werden. Heute müßte
man das Individuum erst möglich machen, indem man dasselbe beschneidet:
möglich, das heißt ganz .... Das Umgekehrte geschieht: der
Anspruch auf Unabhängigkeit, auf freie Entwicklung, auf laisser aller wird
gerade von denen am hitzigsten gemacht, für die kein Zügel zu streng
wäre dies gilt in politicis, dies gilt in der Kunst. Aber das
ist ein Symptom der décadence: unser moderner Begriff »Freiheit«
ist ein Beweis von Instinkt-Entartung mehr. (Ebd., 1889, in: Werke III,
S. 464 bzw. 1018).Den Konservativen ins Ohr gesagt.
Was man früher nicht wußte, was man heute weiß, wissen könnte
, eine Rückbildung, eine Umkehr in irgendwelchem Sinn und Grade
ist gar nicht möglich. Wir Physiologen wenigstens wissen das. Aber alle Priester
und Moralisten haben daran geglaubt sie wollten die Menschheit auf
ein früheres Maß von Tugend zurückbringen, zurückschrauben.
Moral war immer ein Prokrustes-Bett. Selbst die Politiker haben es darin den Tugendpredigern
nachgemacht: es gibt auch heute noch Parteien, die als Ziel den Krebsgang
aller Dinge träumen. Aber es steht niemandem frei, Krebs zu sein. Es hilft
nichts: man muß vorwärts, will sagen Schritt für Schritt weiter
in der décadence ( dies meine Definition des modernen
»Fortschritts« ...). Man kann diese Entwicklung hemmen und, durch
Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und plötzlicher
machen: mehr kann man nicht. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 464-465 bzw.
1018-1019).Fortschritt in meinem Sinne. Auch ich
rede von »Rückkehr zur Natur«, obwohl es eigentlich nicht ein
Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen ist hinauf in die hohe,
freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit, eine solche, die mit großen
Aufgaben spielt, spielen darf .... Um es im Gleichnis zu sagen: Napoleon
war ein Stück »Rückkehr zur Natur«, so wie ich sie verstehe
(zum Beispiel in rebus tacticis, noch mehr, wie die Militärs wissen, im Strategischen).
Aber Rousseau wohin wollte der eigentlich zurück? Rousseau,
dieser erste moderne Mensch, Idealist und Kanaille in einer Person; der die moralische
»Würde« nötig hatte, um seinen eignen Aspekt auszuhalten;
krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung. Auch
diese Mißgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat,
wollte »Rückkehr zur Natur« wohin, nochmals gefragt, wollte
Rousseau zurück? Ich hasse Rousseau noch in der Revolution:
sie ist der welthistorische Ausdruck für diese Doppelheit von Idealist und
Kanaille. Die blutige Farce, mit der sich diese Revolution abspielte, ihre »Immoralität«,
geht mich wenig an: was ich hasse, ist ihre Rousseausche Moralität
die sogenannten »Wahrheiten« der Revolution, mit denen sie
immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmäßige zu sich überredet.
Die Lehre von der Gleichheit! .... Aber es gibt gar kein giftigeres Gift: denn
sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das
Ende der Gerechtigkeit ist . .... »Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches«
das wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit: und, was daraus
folgt, »Ungleiches niemals gleich machen.« Daß es um
jene Lehre von der Gleichheit herum so schauerlich und blutig zuging, hat dieser
»modernen Idee« par excellence eine Art Glorie und Feuerschein gegeben,
so daß die Revolution als Schauspiel auch die edelsten Geister verführt
hat. Das ist zuletzt kein Grund, sie mehr zu achten. Ich sehe nur einen,
der sie empfand, wie sie empfunden werden muß, mit Ekel Goethe.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 469-470 bzw. 1023-1024).Goethe
kein deutsches Ereignis, sondern ein europäisches: ein großartiger
Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr
zur Natur, durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit der Renaissance,
eine Art Selbstüberwindung von seiten dieses Jahrhunderts. Er trug
dessen stärkste Instinkte in sich: die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie,
das Antihistorische, das Idealistische, das Unreale und Revolutionäre (
letzteres ist nur eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft,
die Antike, insgleichen Spinoza zu Hilfe, vor allem die praktische Tätigkeit;
er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er löste sich nicht
vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als
möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Totalität;
er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille
( in abschreckendster Scholastik durch Kant gepredigt, den Antipoden Goethes);
er disziplinierte sich zur Ganzheit, er schuf sich .... Goethe war, inmitten
eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte Ja zu
allem, was ihm hierin verwandt war er hatte kein größeres Erlebnis
als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe konzipierte einen starken,
hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden,
vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichtum
der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit
ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke,
weil er das, woran die durchschnittliche Natur zugrunde gehn würde, noch
zu seinem Vorteil zu brauchen weiß; den Menschen, für den es nichts
Verbotenes mehr gibt, es sei denn die Schwäche, heiße sie nun
Laster oder Tugend .... Ein solcher freigewordner Geist steht mit einem
freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, daß
nur das Einzelne verwerflich ist, daß im Ganzen sich alles erlöst und
bejaht er verneint nicht mehr .... Aber ein solcher Glaube ist der
höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos
getauft. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 470-471 bzw. 1024-1025).Man
könnte sagen, daß in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert das
alles auch erstrebt hat, was Goethe als Person erstrebte: eine Universalität
im Verstehn, im Gutheißen, ein An-sich-heran-kommen-lassen von jedwedem,
einen verwegnen Realismus, eine Ehrfurcht vor allem Tatsächlichen. Wie kommt
es, daß das Gesamt-Ergebnis kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein nihilistisches
Seufzen, ein Nicht-wissen-wo-aus-noch-ein, ein Instinkt von Ermüdung, der
in praxi fortwährend dazu treibt, zum achtzehnten Jahrhundert zurückzugreifen?
( zum Beispiel als Gefühls-Romantik, als Altruismus und Hyper-Sentimentalität,
als Feminismus im Geschmack, als Sozialismus in der Politik). Ist nicht das neunzehnte
Jahrhundert, zumal in seinem Ausgange, bloß ein verstärktes verrohtes
achtzehntes Jahrhundert, das heißt ein décadence-Jahrhundert?
So daß Goethe nicht bloß für Deutschland, sondern für ganz
Europa bloß ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre?
Aber man mißversteht große Menschen, wenn man sie aus der armseligen
Perspektive eines öffentlichen Nutzens ansieht. Daß man keinen Nutzen
aus ihnen zu ziehen weiß, das gehört selbst vielleicht zur Größe.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 471-472 bzw. 1025-1026).Goethe ist
der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurcht habe: er hätte drei Dinge empfunden,
die ich empfinde, auch verstehen wir uns über das »Kreuz«
.... Man fragt mich öfter, wozu ich eigentlich deutsch schriebe: nirgendswo
würde ich schlechter gelesen, als im Vaterlande. Aber wer weiß zuletzt,
ob ich auch nur wünsche, heute gelesen zu werden? Dinge schaffen,
an denen umsonst die Zeit ihre Zähne versucht; der Form nach, der Substanz
nach um eine kleine Unsterblichkeit bemüht sein ich war noch nie
bescheiden genug, weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in
denen ich als der erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der »Ewigkeit«;
mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andre in einem Buche
sagt was jeder andre in einem Buche nicht sagt .... Ich habe
der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zarathustra:
ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste. (Ebd., 1889, in: Werke
III, S. 472 bzw. 1026).
Was ich den Alten verdanke
Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandt
starken Eindrücke; und, um es geradezu herauszusagen, sie können
uns nicht sein, was die Römer sind. Man lernt nicht von den Griechen
- ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flüssig,um imperativisch,um
»klassisch« zu wirken. Wer hätte je an einem Griechen
schreiben gelernt! m Wer hätte es je ohne die Römer gelernt!
.... Man wende bloß nicht Plato ein! .... Meine
Kur von allem Platonismus war zu jeder Zeit Thukydides.
Thukydides und, vielleicht, der Principe Machiavellis sind mir selber
am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, mich nichts vorzumachen
und die Vernunft in der Realität zu sehn - nicht in der »Vernunft«,
noch wniger in der »Moral« .... (Ebd., 1889, in: Werke
III, S. 474 bzw. 1028).
Erst in den dionysischen Mysterien, in der Psychologie des dionysischen
Zustands spricht sich die Grundtatsache des hellenischen Instinkts
aus sein »Wille zum Leben«. Was verbürgte sich
der Hellene mit diesen Mysterien? Das ewige Leben, die ewige Wiederkehr
des Lebens; die Zukunft in der Vergangenheit verheißen und geweiht;
das triumphierende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus; das wahre
Leben als das Gesamt-Fortleben durch die Zeugung, durch die Mysterien
der Geschlechtlichkeit. Den Griechen war deshalb das geschlechtliche
Symbol das ehrwürdige Symbol an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb
der ganzen antiken Frömmigkeit. Alles einzelne im Akte der Zeugung,
der Schwangerschaft, der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten
Gefühle. In der Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen:
die »Wehen der Gebärerin« heiligen den Schmerz überhaupt,
alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt
den Schmerz .... Damit es die ewige Lust des Schaffens gibt, damit der
Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muß es auch ewig
die »Qual der Gebärerin« geben .... Dies alles bedeutet
das Wort Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese griechische
Symbolik, die der Dionysien. In ihnen ist der tiefste Instinkt des Lebens,
der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des Lebens, religiös empfunden,
der Weg selbst zum Leben, die Zeugung, als der heilige Weg
.... Erst das Christentum, mit seinem Ressentiment gegen das Leben
auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Unreines gemacht:
es warf Kot auf den Anfang, auf die Voraussetzung unsres Lebens.
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 477-478 bzw. 1031-1032).
Die
Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls,
innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel
zum Begriff des tragischen Gefühls, das sowohl von Aristoteles als
in Sonderheit von unsern Pessimisten mißverstanden worden ist. Die Tragödie
ist so fern davon, etwas für den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauers
zu beweisen, daß sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und Gegen-Instanz
zu gelten hat. Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten
Problemen, der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der
eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend das nannte ich dionysisch,
das erriet ich als die Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters.
Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem
gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen so
verstand es Aristoteles : sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus,
die ewige Lust des Werdens selbst zu sein jene Lust, die auch noch
die Lust am Vernichten in sich schließt. Und damit berühre ich wieder
die Stelle, von der ich einstmals ausging die »Geburt der Tragödie«
war meine erste Umwertung aller Werte: damit stelle ich mich wieder auf den Boden
zurück, aus dem mein Wollen, mein Können wächst ich,
der letzte Jünger des Philosophen Dionysos ich, der Lehrer der ewigen
Wiederkunft. (Ebd., 1889, in: Werke III, S. 478 bzw. 1032).
Der Hammer redet
»Warum
so hart! « sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle: »sind
wir denn nicht Nah-Verwandte?« Warum so weich? O meine Brüder, also
frage ich euch: seid ihr denn nicht meine Brüder? Warum so weich,
so weichend und nachgebend? Warum ist so viel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen?
so wenig Schicksal in eurem Blicke? Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche:
wie könntet ihr einst mit mir siegen? Und wenn eure Härte nicht
blitzen und schneiden und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir
schaffen? Alle Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muß
es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs,
Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf
Erz, härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart allein ist das Edelste.
Diese neue Tafel, o meine Brüder, stelle ich über euch: Werdet hart!
( )
(Ebd., 1889, in: Werke III, S. 479 bzw. 1033). |