Also sprach Zarathustra (Ein
Buch für Alle und Keinen) , 1883-1885
1. Teil
I c h l e h r e
e u c h d e n Ü b e r m e n s c h e n .
Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt
ihr gethan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen Etwas
über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein
und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden?
Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine
schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch für den Übermenschen
sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham: Ihr habt den
Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm.
Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe,
als irgendein Affe. Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch
nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst. Aber heisse
ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden? Seht, ich lehre euch den
Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille
sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde! (Ebd., 1883-1885,
S. 8).
Ich beschwöre euch, meine Brüder,
bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen
Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.
Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete,
deren die Erde müde ist: so mögen sie dahinfahren!
Einst war der Frevel an Gott der größte Frevel, aber Gott starb,
und damit starben auch diese Frevelhaften. An der Erde zu freveln ist
jetzt das Furchtbarste und die Eingeweide des Unerforschlichen höher
zu achten, als den Sinn der Erde!
Einst blickte die Seele verächtlich auf den Leib: und damals war
diese Verachtung das Höchste sie wollte ihn mager, gräßlich,
verhungert. So dachte sie ihm und der Erde zu entschlüpfen.
Oh diese Seele war selber noch mager, gräßlich und verhungert:
und Grausamkeit war die Wollust dieser Seele!
Aber auch ihr noch, meine Brüder, sprecht mir: was kündet euer
Leib von eurer Seele? Ist eure Seele nicht Armut und Schmutz und ein erbärmliches
Behagen?
Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch. Man muß schon ein
Meer sein, um einen schmutzigen Strom aufnehmen zu können, ohne unrein
zu werden.
Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dies Meer, in ihm
kann eure große Verachtung untergehn.
Was ist das Größte, das ihr erleben könnt? Das ist Stunde
der großen Verachtung. Die Stunde, in der euch auch euer Glück
zum Ekel wird und ebenso eure Vernunft und eure Tugend.
Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meinem Glücke! Es ist
Armut und Schmutz und ein erbärmliches Behagen. Aber mein Glück
sollte das Dasein selber rechtfertigen!«
Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meiner Vernunft! Begehrt
sie nach Wissen wie der Löwe nach seiner Nahrung? Sie ist Armut und
Schmutz und ein erbärmliches Behagen!«[280]
Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meiner Tugend! Noch hat sie
mich nicht rasen gemacht. Wie müde bin ich meines Guten und meines
Bösen! Alles das ist Armut und Schmutz und ein erbärmliches
Behagen!«
Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meiner Gerechtigkeit! Ich
sehe nicht, daß ich Glut und Kohle wäre. Aber der Gerechte
ist Glut und Kohle!«
Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meinem Mitleiden! Ist nicht
Mitleid das Kreuz, an das der genagelt wird, der die Menschen liebt? Aber
mein Mitleiden ist keine Kreuzigung.«
Spracht ihr schon so? Schriet ihr schon so? Ach, daß ich euch schon
so schreien gehört hätte!
Nicht eure Sünde eure Genügsamkeit schreit gen Himmel,
euer Geiz selbst in eurer Sünde schreit gen Himmel!
Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge lecke? Wo ist der Wahnsinn,
mit dem ihr geimpft werden müßtet?
Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der
ist dieser Wahnsinn! (Ebd., 1883-1885, S. 9-10).
Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch
- ein Seil über einem Abgrund. Ein gefährliches Hinüber,
ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken,
ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Was gross ist
am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: Was
geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Ü b e r g a n g
und ein U n t e r g a n g
ist. (Ebd., 1883-1885, S. 10-11).
Seht!
Ich zeige euch den l e t z t e n M e n s c h e n .
Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?
so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und
auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist
unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. »Wir
haben das Glück erfunden« sagen die letzten Menschen und blinzeln.
(Ebd., 1883-1885, S. 13).Sie haben die Gegenden verlassen, wo es
hart war zu leben; denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und
reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. Krankwerden und Misstrauen-haben
gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über
Steine und Menschen stolpert! Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume.
Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit
ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.
(Ebd., 1883-1885, S. 13-14).Man wird nicht mehr arm und reich:
Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen?
Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche.
Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.
»Ehemals war alle Welt irre« sagen die Feinsten und blinzeln.
Man ist klug und weiß Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten.
Man zankt sich noch; aber man versöhnt sich bald - sonst verdirbt es den
Magen. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für
die Nacht, aber man ehrt die Gesundheit. »Wir haben das Glück erfunden«
sagen die letzten Menschen und blinzeln. (Ebd., 1883-1885, S. 14).»Nicht
doch«, sprach Zarathustra, »du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht,
daran ist nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde: dafür
will ich dich mit meinen Händen begraben.« (Ebd., 1883-1885,
S. 16).
Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum
Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der
Löwe. Vieles Schwere giebt es dem Geiste, dem starken, tragsamen
Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt
seine Stärke. Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist,
so kniet er nieder, dem Kameele gleich, und will gut beladen sein. ....
Neue Werthe schaffen - das vermag auch der Löwe noch nicht: aber
Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen - das vermag die Macht des Löwen.
Freiheit sich schaffen zu neuen Werthen und ein heiliges Nein auch vor
der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des Löwen. .... Unschuld
ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes
Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens,
meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: s e i n e n
Willen will nun der Geist, s e i n e
Welt gewinnt sich der Weltverlorene. Drei Verwandlungen nannte ich
euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele ward, und zum Löwen das
Kameel, und der Löwe zuletzt zum Kinde. (Ebd., 1883-1885, S.
25-27).
Also sprach Zarathustra. Und damals weilte er in der Stadt, welche
genannt wird: die bunte Kuh. (Ebd., 1883-1885, S. 27).
»Leib bin ich und Seele« so
redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden?
(Ebd., 1883-1885, S. 34).
Aber der Erwachsene, der Wissende sagt: »Leib
bin ich ganz und gar, nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für
ein Ewtas am Leibe«. (Ebd., 1883-1885, S. 34).
Der Mensch ist Etwas, das überwunden
werden muss: und darum sollst du deine Tugenden lieben denn du wirst an
ihnen zugrunde gehn. (Ebd., 1883-1885, S. 40).Dass Jedermann
lesen lernen darf, verdirbt auf die Dauer nicht allein das Schreiben, sondern
auch das Denken. (Ebd., 1883-1885, S. 44).Einst war der Geist
Gott, dann wurde er zum Menschen und jetzt wird er gar noch Pöbel.
(Ebd., 1883-1885, S. 44).Und auch ihr, denen das Leben wilde Arbeit
und Unruhe ist: seid ihr nicht sehr müde des Lebens? Seid ihr nicht sehr
reif für die Predigt des Todes? Ihr alle, denen die wilde Arbeit lieb ist
und das Schnelle, Neue, Fremde ihr ertragt euch schlecht, euer Fleiß
ist Fluch und Wille, sich selber zu vergessen. Wenn ihr mehr an das Leben glaubtet,
würdet ihr weniger euch dem Augenblicke hinwerfen. Aber ihr habt zum Warten
nicht Inhalt genug in euch und selbst zur Faulheit nicht! (Ebd.,
1883-1885, S. 52-53).Überall ertönt die Stimme derer,
welche den Tod predigen: und die Erde ist voll von Solchen, welchen der Tod gepredigt
werden muss. Oder »das ewige Leben«: das gilt mir gleich, wofern
sie nur schnell dahinfahren! (Ebd., 1883-1885, S. 53).Ihr
sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr
als den langen. (Ebd., 1883-1885, S. 54).Euch rathe ich nicht
zur Arbeit, sondern zum Kampfe. Euch rate ich nicht zum Frieden, sondern zum Siege.
Eure Arbeit sei ein Kampf, euer Friede sei ein Sieg! (Ebd., 1883-1885, S.
55).Man kann nur schweigen und stillsitzen, wenn man Pfeil und
Bogen hat: sonst schwätzt und zankt man. Euer Friede sei ein Sieg!
(Ebd., 1883-1885, S. 55).Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar
den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.
(Ebd., 1883-1885, S. 55).Der Krieg und der Muth haben mehr große
Dinge gethan, als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit
rettete bisher die Verunglückten. (Ebd., 1883-1885, S. 55).Euren
höchsten Gedanken aber sollt ihr euch von mir befehlen lassen und
er lautet: der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. (Ebd.,
1883-1885, S. 56).So lebt euer Leben des Gehorsams und des Krieges!
Was liegt am Lang-Leben! Welcher Krieger will geschont sein! (Ebd., 1883-1885,
S. 56).Ich schone euch nicht, ich liebe euch von Grund aus, meine
Brüder im Kriege! (Ebd., 1883-1885, S. 56).Vom
neuen Götzen. Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden,
doch nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten. Staat? Was ist das?
Wohlan! Jetzt thut mir die Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode
der Völker. Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt
es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: »Ich, der Staat,
bin das Volk.« Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die Völker
und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten
sie dem Leben. Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für Viele und heissen
sie Staat: sie hängen ein Schwert und hundert Begierden über sie hin.
Wo es noch Volk giebt, da versteht es den Staat nicht und hasst ihn als bösen
Blick und Sünde an Sitten und Rechten. Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes
Volk spricht seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der Nachbar nicht.
Seine Sprache erfand es sich in Sitten und Rechten. Aber der Staat lügt in
allen Zungen der Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt
und was er auch hat, gestohlen hat er's. Falsch ist Alles an ihm; mit gestohlenen
Zähnen beisst er, der Bissige. Falsch sind selbst seine Eingeweide. Sprachverwirrung
des Guten und Bösen: dieses Zeichen gebe ich euch als Zeichen des Staates.
Wahrlich, den Willen zum Tode deutet dieses Zeichen! Wahrlich, es winkt den Predigern
des Todes! Viel zu Viele werden geboren: für die Überflüssigen
ward der Staat erfunden! Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-Vielen!
Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut! »Auf der Erde ist nichts
Grösseres als ich: der ordnende Finger bin ich Gottes« also
brüllt das Unthier. Und nicht nur Langgeohrte und Kurzgeäugte sinken
auf die Kniee! Ach, auch in euch, ihr großen Seelen, raunt er seine düsteren
Lügen! Ach, er erräth die reichen Herzen, die gerne sich verschwenden!
Ja, auch euch erräth er, ihr Besieger des alten Gottes! Müde wurdet
ihr im Kampfe, und nun dient eure Müdigkeit noch dem neuen Götzen! Helden
und Ehrenhafte möchte er um sich aufstellen, der neue Götze! Gerne sonnt
er sich im Sonnenschein guter Gewissen das kalte Unthier! Alles will er
euch geben, wenn ihr ihn anbetet, der neue Götze: also kauft er sich den
Glanz eurer Tugenden und den Blick eurer stolzen Augen. Ködern will er mit
euch die Viel-zu Vielen! Ja, ein Höllenkunststück ward da erfunden,
ein Pferd des Todes, klirrend im Putz göttlicher Ehren! Ja, ein Sterben für
Viele ward da erfunden, das sich selber als Leben preist: wahrlich, ein Herzensdienst
allen Predigern des Todes! Staat nenne ich's, wo alle Gifttrinker
sind, Gute und Schlimme: Staat, wo alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme:
Staat, wo der langsame Selbstmord aller »das Leben« heisst.
Seht mir doch diese Überflüssigen! Sie stehlen sich die Werke der Erfinder
und die Schätze der Weisen: Bildung nennen sie ihren Diebstahl und
alles wird ihnen zu Krankheit und Ungemach! Seht mir doch diese Überflüssigen!
Krank sind sie immer, sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung. Sie verschlingen
einander und können sich nicht einmal verdauen. Seht mir doch diese Überflüssigen!
Reichtümer erwerben sie und werden ärmer damit. Macht wollen sie und
zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld diese Unvermögenden! Seht
sie klettern, diese geschwinden Affen! Sie klettern übereinander hinweg und
zerren sich also in den Schlamm und die Tiefe. Hin zum Throne wollen sie alle:
ihr Wahnsinn ist es als ob das Glück auf dem Throne sässe! Oft
sitzt der Schlamm auf dem Thron - und oft auch der Thron auf dem Schlamme. Wahnsinnige
sind sie mir alle und kletternde Affen und Überheisse. Übel riecht mir
ihr Götze, das kalte Unthier: übel riechen sie mir alle zusammen, diese
Götzendiener. Meine Brüder, wollt ihr denn ersticken im Dunste ihrer
Mäuler und Begierden? Lieber zerbrecht doch die Fenster und springt ins Freie!
Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von der Götzendienerei
der Überflüssigen! Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht
fort von dem Dampfe dieser Menschenopfer! Frei steht großen Seelen auch
jetzt noch die Erde. Leer sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame,
um die der Geruch stiller Meere weht. Frei steht noch großen Seelen ein
freies Leben. Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt
sei die kleine Armut! Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch,
der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Nothwendigen, die
einmalige und unersetzliche Weise. Dort, wo der Staat a u f h ö r t
so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen
und die Brücken des Übermenschen? (Ebd., 1883-1885, S. 57-60).Wahrlich,
das schlaue Ich, das lieblose, das seinen Nutzen im Nutzen Vieler will: das ist
nicht der Heerde Ursprung, sondern ihr Untergang. (Ebd., 1883-1885, S. 72).Tausend
Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. Nur die Fessel der tausend
Nacken fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. Noch hat die Menschheit kein Ziel.
Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt,
fehlt da nicht auch sie selber noch? (Ebd., 1883-1885, S. 72).Ihr
drängt euch um den Nächsten und habt schöne Worte dafür. Aber
ich sage euch: eure Nächstenliebe ist eure schlechte Liebe zu euch selber.
Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus
eine Tugend machen: aber ich durchschaue euer »Selbstloses«.
(Ebd., 1883-1885, S. 73).Das Du ist älter als das Ich; das
Du ist heilig gesprochen, aber noch nicht das Ich: so drängt sich der Mensch
hin zum Nächsten. (Ebd., 1883-1885, S. 73).Meine Brüder,
zur Nächstenliebe rathe ich euch nicht: ich rathe euch zur Fernsten-Liebe.
(Ebd., 1883-1885, S. 75).Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber!
Und an dir selber führt dein Weg vorbei, und an deinen sieben Teufeln!
(Ebd., 1883-1885, S. 78).Der Mann soll zum Kriege erzogen werden
und das Weib zur Erholung des Kriegers: alles Andere ist Thorheit. (Ebd.,
1883-1885, S. 81).Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche
nicht! (Ebd., 1883-1885, S. 82).Ich habe eine Frage für
dich allein, mein Bruder: wie ein Senkblei werfe ich diese Frage in deine Seele,
dass ich wisse, wie tief sie sei. Du bist jung und wünschest dir Kind und
Ehe. Aber ich frage dich: bist du ein Mensch, der ein Kind sich wünschen
d a r f ? Bist du der Siegreiche, der Selbstbezwinger,
der Gebieter der Sinne, der Herr deiner Tugenden? Also frage ich dich. Oder redet
aus deinem Wunsche das Thier und die Nothdurft? Oder Vereinsamung? Oder Unfriede
mit dir? Ich will, dass dein Sieg und deine Freiheit sich nach einem Kinde sehne.
Lebendige Denkmale sollst du bauen deinem Siege und deiner Befreiung. Über
dich sollst du hinausbauen. Aber erst mußt du mir selber gebaut sein, rechtwinklig
an Leib und Seele. Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf! Dazu
helfe dir der Garten der Ehe. Einen höheren Leib sollst du schaffen, eine
erste Bewegung, ein aus sich rollendes Rad, - einen Schaffenden sollst du schaffen.
Ehe: so heisse ich den Willen zu Zweien, das Eine zu schaffen, das mehr ist, als
die es schufen. (Ebd., 1883-1885, S. 86).Viele sterben zu
spät, und einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: »stirb
zur rechten Zeit!« Stirb zur rechten Zeit; also lehrt es Zarathustra. Freilich,
wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten Zeit sterben? Möchte
er doch nie geboren sein! Also rathe ich den Überflüssigen. Aber
auch die Überflüssigen tun noch wichtig mit ihrem Sterben, und auch
die hohlste Nuß will noch geknackt sein. Wichtig nehmen Alle das Sterben:
aber noch ist der Tod kein Fest. Noch erlernten die Menschen nicht, wie man die
schönsten Feste weiht. Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden
ein Stachel und ein Gelöbnis wird. Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich,
umringt von Hoffenden und Gelobenden. Also sollte man sterben lernen; und es sollte
kein Fest geben, wo ein solcher Sterbender nicht der Lebenden Schwüre weihte!
Also zu sterben ist das Beste; das zweite aber ist: im Kampfe zu sterben und eine
große Seele zu verschwenden. Aber dem Kämpfenden gleich verhasst wie
dem Sieger ist euer grinsender Tod, der heranschleicht wie ein Dieb und
doch als Herr kommt. Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt,
weil i c h will. Und wann werde ich wollen? Wer ein
Ziel hat und einen Erben, der will den Tod zur rechten Zeit für Ziel und
Erben. (Ebd., 1883-1885, S. 89-90).Sagt mir, meine Brüder:
was gilt uns als Schlechtes und Schlechtestes? Ist es nicht E n t a r t u n g ?
Und auf Entartung rathen wir immer, wo die schenkende Seele fehlt.
Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Über-Art. Aber
ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: »Alles für
mich.« (Ebd., 1883-1885, S. 94).Arzt, hilf dir selber:
so hilfst du auch deinem Kranken noch. Das sei seine beste Hilfe, dass er den
mit Augen sehe, der sich selber heil macht. (Ebd., 1883-1885, S. 96).Ihr
Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch,
die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen
und aus ihm der Übermensch. (Ebd., 1883-1885, S. 96-97).Der
Mensch der Erkenntnis muss nicht nur seine Feinde lieben, sondern auch seine Freunde
hassen können. Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der
Schüler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen? Ihr verehrt
mich; aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch,
daß euch nicht eine Bildsäule erschlage! Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra?
Aber was liegt an Zarathustra? Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an
allen Gläubigen! Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich.
So tun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben. Nun heiße
ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet
habt, will ich euch wiederkehren. Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder,
werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer andern Liebe werde ich euch
dann lieben. Und einst noch sollt ihr mir Freunde geworden sein und Kinder einer
Hoffnung: dann will ich zum dritten Male bei euch sein, daß ich den großen
Mittag mit euch feiere. Und das ist der große Mittag, da der Mensch auf
der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg
zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem
neuen Morgen. Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, daß er ein
Hinübergehender sei; und die Sonne seiner Erkenntnis wird ihm im Mittage
stehn. (Ebd., 1883-1885, S. 97-98). » T o d t
s i n d a l l e G ö t t e r :
n u n w o l l e n w i r ,
d a s s d e r Ü b e r m e n s c h
l e b e . « diess
sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille! (Ebd., 1883-1885, S. 98).
2. Teil
Könntet
ihr einen Gott s c h a f f e n ?
So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet
ihr den Übermenschen schaffen. Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder!
Aber zu Vätern und Vorfahren könntet ihr euch umschaffen des Übermenschen:
und Diess sei euer bestes Schaffen! (Ebd., 1883-1885, S. 105).Ach,
wo in der Welt geschahen grössere Thorheiten, als bei den Mitleidigen? Und
was in der Welt stiftete mehr Leid als die Thorheiten der Mitleidigen? Wehe allen
Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche über ihrem Mitleiden
ist! Also sprach der Teufel einst zu mir: »auch Gott hat seine Hölle:
das ist seine Liebe zu den Menschen.« Und jüngst hörte ich ihn
dies Wort sagen: »Gott ist todt; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist
Gott gestorben.« (Ebd., 1883-1885, S. 111).Und noch
von Grösseren, als alle Erlöser waren, müsst ihr, meine Brüder,
erlöst werden, wollt ihr zur Freiheit den Weg finden! Niemals noch gab es
einen Übermenschen. Nackt sah ich Beide, den grössten und den kleinsten
Menschen: - Allzuähnlich sind sie noch einander. Wahrlich, auch den Grössten
fand ich - allzumenschlich! (Ebd., 1883-1885, S. 115).Von
den Taranteln. Siehe, das ist der Tarantel Höhle! Willst du sie
selber sehn? Hier hängt ihr Netz: rühre daran, dass es erzittert. Da
kommt sie willig: willkommen, Tarantel! Schwarz sitzt auf deinem Rücken dein
Dreieck und Wahrzeichen; und ich weiss auch, was in deiner Seele sitzt. Rache
sitzt in deiner Seele: wohin du beissest, da wächst schwarzer Schorf; mit
Rache macht dein Gift die Seele drehend! Also rede ich zu euch im Gleichnis, die
ihr die Seelen drehend macht, ihr Prediger der G l e i c h h e i t !
Taranteln seid ihr mir und versteckte Rachsüchtige! Aber ich will eure Verstecke
schon ans Licht bringen: darum lache ich euch ins Antlitz mein Gelächter
der Höhe. Darum reisse ich an eurem Netze, dass eure Wut euch aus eurer Lügen-Höhle
locke, und eure Rache hervorspringe hinter eurem Wort »Gerechtigkeit«.
Denn d a s s d e r M e n s c h
e r l ö s t w e r d e
v o n d e r R a c h e :
das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach
langen Unwettern. Aber anders wollen es freilich die Taranteln. »Das gerade
heisse uns Gerechtigkeit, dass die Welt voll werde von den Unwettern unsrer Rache«
also reden sie mit einander. »Rache wollen wir üben und Beschimpfung
an Allen, die uns nicht gleich sind« so geloben sich die Tarantel-Herzen.
»Und Wille zur Gleichheit das selber soll fürderhin
der Name für Tugend werden; und gegen Alles, was Macht hat, wollen wir unser
Geschrei erheben!« Ihr Prediger der Gleichheit, der Tyrannen-Wahnsinn der
Ohnmacht schreit also aus euch nach »Gleichheit«: eure heimlichsten
Tyrannen-Gelüste vermummen sich also in Tugend-Worte! Vergrämter Dünkel,
verhaltener Neid, vielleicht eurer Väter Dünkel und Neid: aus euch bricht's
als Flamme heraus und Wahnsinn der Rache. Was der Vater schwieg, das kommt im
Sohne zum Reden; und oft fand ich den Sohn als des Vaters entblösstes Geheimnis.
Den Begeisterten gleichen sie: aber nicht das Herz ist es, was sie begeistert
sondern die Rache. Und wenn sie fein und kalt werden, ist's nicht der Geist,
sondern der Neid, der sie fein und kalt macht. Ihre Eifersucht führt sie
auch auf der Denker Pfade; und diess ist das Merkmal ihrer Eifersucht immer
gehn sie zu weit: dass ihre Müdigkeit sich zuletzt noch auf Schnee schlafen
legen muss. Aus jeder ihrer Klagen tönt Rache, in jedem ihrer Lobsprüche
ist ein Wehetun; und Richter-sein scheint ihnen Seligkeit. Also aber rate ich
euch, meine Freunde: misstraut Allen, in welchen der Trieb, zu strafen, mächtig
ist! Das ist Volk schlechter Art und Abkunft; aus ihren Gesichtern blickt der
Henker und der Spürhund. Misstraut Allen denen, die viel von ihrer Gerechtigkeit
reden! Wahrlich, ihren Seelen fehlt es nicht nur an Honig. Und wenn sie sich selber
»die Guten und Gerechten« nennen, so vergeßt nicht, dass ihnen
zum Pharisäer nichts fehlt als Macht! Meine Freunde, ich will nicht
vermischt und verwechselt werden. Es giebt Solche, die predigen meine Lehre vom
Leben: und zugleich sind sie Prediger der Gleichheit und Taranteln. Dass sie dem
Leben zu Willen reden, ob sie gleich in ihrer Höhle sitzen, diese Gift-Spinnen,
und abgekehrt vom Leben: das macht, sie wollen damit wehetun. Solchen wollen sie
damit wehetun, die jetzt die Macht haben: denn bei diesen ist noch die Predigt
vom Tode am besten zu Hause. Wäre es anders, so würden die Taranteln
anders lehren: und gerade sie waren ehemals die besten Welt-Verleumder und Ketzer-Brenner.
Mit diesen Predigern der Gleichheit will ich nicht vermischt und verwechselt sein.
Denn so redet mir die Gerechtigkeit: »die Menschen sind nicht gleich«.
Und sie sollen es auch nicht werden! Was wäre denn meine Liebe zum Übermenschen,
wenn ich anders spräche? Auf tausend Brücken und Stegen sollen sie sich
drängen zur Zukunft, und immer mehr Krieg und Ungleichheit soll zwischen
sie gesetzt sein: so lässt mich meine große Liebe reden! Erfinder von
Bildern und Gespenstern sollen sie werden in ihren Feindschaften, und mit ihren
Bildern und Gespenstern sollen sie noch gegeneinander den höchsten Kampf
kämpfen! Gut und Böse, und Reich und Arm, und Hoch und Gering, und Alle
Namen der Werthe: Waffen sollen es sein und klirrende Merkmale davon, dass das
Leben sich immer wieder selber überwinden muss! In die Höhe will es
sich bauen mit Pfeilern und Stufen, das Leben selber: in weite Fernen will es
blicken und hinaus nach seligen Schönheiten d a r u m
braucht es Höhe! Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und Widerspruch
der Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und steigend sich überwinden.
Und seht mir doch, meine Freunde! Hier, wo der Tarantel Höhle ist, heben
sich eines alten Tempels Trümmer aufwärts seht mir doch mit erleuchteten
Augen hin! Wahrlich, wer hier einst seine Gedanken in Stein nach Oben thürmte,
um das Geheimnis Alles Lebens wusste er gleich dem Weisesten! Dass Kampf und Ungleiches
auch noch in der Schönheit sei, und Krieg um Macht und Übermacht: das
lehrt er uns hier im deutlichsten Gleichnis. Wie sich göttlich hier Gewölbe
und Bogen brechen, im Ringkampfe: wie mit Licht und Schatten sie wider einander
streben, die göttlich-Strebenden Also sicher und schön lasst
uns auch Feinde sein, meine Freunde! Göttlich wollen wir w i d e r
einander streben! Wehe! Da biss mich selber die Tarantel, meine alte Feindin!
Göttlich sicher und schön biss sie mich in den Finger! »Strafe
muss sein und Gerechtigkeit« so denkt sie: »nicht umsonst soll
er hier der Feindschaft zu Ehren Lieder singen!« Ja, sie hat sich gerächt!
Und wehe! nun wird sie mit Rache auch noch meine Seele drehend machen! Dass ich
mich aber nicht drehe, meine Freunde, bindet mich fest hier an diese Säule!
Lieber noch Säulen-Heiliger will ich sein, als Wirbel der Rachsucht! Wahrlich,
kein Dreh- und Wirbelwind ist Zarathustra; und wenn er ein Tänzer ist, nimmermehr
doch ein Tarantel-Tänzer! (Ebd., 1883-1885, S. 124-127).Wo
ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden
fand ich den Willen, Herr zu sein. Dass dem Stärkeren diene das Schwächere,
dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein
will: dieser Lust allein mag es nicht entraten. Und wie das Kleinere sich dem
Größeren hingiebt, dass es Lust und Macht am Kleinsten habe: also giebt
sich auch das Grösste noch hin und setzt um der Macht willen das Leben
dran. Das ist die Hingebung des Grössten, dass es Wagnis ist und Gefahr,
und um den Tod ein Würfelspielen. (Ebd., 1883-1885, S. 143-144).Und
wo Opferung und Dienste und Liebesblicke sind: auch da ist Wille, Herr zu sein.
Auf Schleichwegen schleicht sich da der Schwächere in die Burg und bis ins
Herz dem Mächtigeren und stiehlt da Macht. Und diess Geheimnis redete
das Leben selber zu mir: »Siehe«, sprach es, »ich bin das, w a s
s i c h i m m e r s e l b e r
ü b e r w i n d e n
m u s s . Freilich, ihr heisst es Wille zur Zeugung
oder Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren: aber all diess
ist Eins und Ein Geheimnis. Lieber noch gehe ich unter, als dass ich diesem Einen
absagte; und wahrlich, wo es Untergang giebt und Blätterfallen, siehe, da
opfert sich Leben um Macht! Dass ich Kampf sein muss und Werden und Zweck
und der Zwecke Widerspruch: ach, wer meinen Willen erräth, erräth wohl
auch, auf welchen k r u m m e n Wegen
er gehen muss! Was ich auch schaffe und wie ich's auch liebe, bald muss
ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille. (Ebd., 1883-1885,
S. 144).Und auch du, Erkennender, bist nur ein Pfad und Fußtapfen
meines Willens: wahrlich, mein Wille zur Macht wandelt auch auf den Füßen
deines Willens zur Wahrheit! Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort
nach ihr schoss vom »Willen zum Dasein«: diesen Willen giebt
es nicht! Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist,
wie könnte das noch zum Dasein wollen! (Ebd., 1883-1885, S. 144-145).Nur,
wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern so
lehre ich's dich Wille zur Macht! (Ebd., 1883-1885, S. 145).Also
lehrte mich einst das Leben: und daraus löse ich euch, ihr Weisesten, noch
das Räthsel eures Herzens. Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Böses,
das unvergänglich wäre das gibt es nicht! Aus sich selber muss
es sich immer wieder überwinden. (Ebd., 1883-1885, S. 145).»Und
das heisse mir aller Dinge u n b e f l e c k t e
Erkenntnis, dass ich von den Dingen Nichts will: ausser dass ich vor ihnen da
liegen darf wie ein Spiegel mit hundert Augen.« (Ebd., 1883-1885,
S. 153).Wo ist Unschuld? Wo der Wille zur Zeugung ist. Und
wer über sich hinaus schaffen will, der hat mir den reinsten Willen. Wo ist
die Schönheit ? Wo ich mit allem Willen wollen muss; wo ich lieben
und untergehn will, dass ein Bild nicht nur Bild bleibe. Lieben und Untergehn:
das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum
Tode. Also rede ich zu euch Feiglingen! (Ebd., 1883-1885, S. 153).Wahrlich,
der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Meere. Und diess heisst m i r
Erkenntnis: alles Tiefe soll hinauf zu meiner Höhe! (Ebd., 1883-1885,
S. 155).Denn die Menschen sind n i c h t
gleich: so spricht die Gerechtigkeit. (Ebd., 1883-1885, S. 158).»Seit
ich den Leib besser kenne«, sagte Zarathustra zu einem seiner Jünger
»ist mir der Geist nur noch gleichsam Geist; und alles das Unvergängliche
das ist auch nur ein Gleichnis.« (Ebd., 1883-1885, S. 159).Die
Erde ... hat eine Haut; und diese Haut hat Krankheiten. Eine dieser Krankheiten
heisst zum Beispiel: »Mensch«. (Ebd., 1883-1885, S. 164).Lasst
euch nur umstürzen! Dass ihr wieder zum Leben kommt, und zu euch die
Tugend! (Ebd., 1883-1885, S. 165).Also redete ich vor dem
Feuerhunde: da unterbrach er mich mürrisch und fragte: »Kirche? Was
ist denn das?« »Kirche?« antwortete ich, »das ist eine
Art von Staat, und zwar die verlogenste. Doch schweig still, du Heuchelhund! Du
kennst deine Art wohl am besten schon! Gleich dir selber ist der Staat ein Heuchelhund;
gleich dir redet er gern mit Rauch und Gebrülle dass er glauben mache,
gleich dir, er rede aus dem Bauch der Dinge. Denn er will durchaus das wichtigste
Thier auf Erden sein, der Staat; und man glaubt's ihm auch.« Als
ich das gesagt hatte, gebärdete sich der Feuerhund wie unsinnig vor Neid.
»Wie?« schrie er, »das wichtigste Thier auf Erden? Und man glaubt's
ihm auch?« Und so viel Dampf und grässliche Stimmen kamen ihm aus dem
Schlunde, dass ich meinte, er werde vor Ärger und Neid ersticken. (Ebd.,
1883-1885, S. 165-166).Ihr höchsten Menschen, denen mein Auge
begegnete! das ist mein Zweifel an euch und mein heimliches Lachen: ich rathe,
ihr würdet meinen Übermenschen Teufel heissen! (Ebd., 1883-1885,
S. 181-182).Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: »Was
liegt an ihrem Spotte! Du bist Einer, der das Gehorchen verlernt hat: nun sollst
du befehlen! Weisst du nicht, wer allen am nöthigsten tut? Der Grosses befiehlt.
Grosses vollführen ist schwer: aber das Schwerere ist, Grosses befehlen.
(Ebd., 1883-1885, S. 185).
3. Teil
Gelobt
sei, was hart macht! Ich lobe das Land nicht, wo Butter und Honig fliesst!
(Ebd., 1883-1885, S. 190).Mitleiden ... ist der tiefste Abgrund:
so tief der Mensch in das Leben sieht, so tief sieht er auch in das Leiden.
(Ebd., 1883-1885, S. 195).»Alles Gerade lügt«,
murmelte verächtlich der Zwerg. »Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit
selber ist ein Kreis.« (Ebd., 1883-1885, S. 196).Muss
nicht, was laufen k a n n von allen Dingen, schon einmal
diese Gasse gelaufen sein? Muß nicht, was geschehn k a n n
von allen Dingen, schon einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein? Und
wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick?
Muß auch dieser Torweg nicht schon dagewesen sein? (Ebd., 1883-1885,
S. 196).
Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre:
ȟber allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld,
der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth.«
. Diesen
Übermuth und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes Willens,
als ich lehrte: »bei Allem ist Eins unmöglich - Vernünftigkeit!«
Ein wenig Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von Stern zu
Stern, - dieser Sauerteig ist allen Dingen eingemischt: um der Narrheit
willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt! Ein wenig Weisheit ist schon
möglich, aber diese selige Sicherheit fand ich an allen Dingen: dass
sie lieber noch auf den Füssen des Zufalls - tanzen. (Ebd.,
1883-1885, S. 205).
Als Zarathustra wieder auf dem festen Lande war, ging er nicht
stracks auf sein Gebirge und seine Höhle los, sondern that viele
Wege und Fragen und erkundete diess und das, also, dass er von sich selber
im Scherze sagte: »siehe einen Fluss, der in vielen Windungen zurück
zur Quelle fliesst!« Denn er wollte in Erfahrung bringen, was sich
inzwischen m i t d e m
M e n s c h e n zugetragen
habe: ob er grösser oder kleiner geworden sei. Und einmal sah er
eine Reihe neuer Häuser; da wunderte er sich und sagte: »Was
bedeuten diese Häuser? Wahrlich, keine große Seele stellte
sie hin, sich zum Gleichnisse! Nahm wohl ein blödes Kind sie aus
seiner Spielschachtel? Dass doch ein anderes Kind sie wieder in seine
Schachtel thäte. Und diese Stuben und Kammern: können
M ä n n e r da aus- und
eingehen? Gemacht dünken sie mich für Seiden-Puppen; oder für
Naschkatzen, die auch wohl an sich naschen lassen.« (Ebd.,
1883-1885, S. 207).
Und Zarathustra blieb stehn und dachte nach. Endlich sagte er
betrübt: »Es ist A l l e s
kleiner geworden! Überall sehe ich niedrigere Thore: wer
m e i n e r Art ist, geht da
wohl noch hindurch, aber er muß sich bücken! O wann
komme ich wieder in meine Heimat, wo ich mich nicht mehr bücken muss
nicht mehr bücken muß v o r
d e n K l e i n e n ! «
Und Zarathustra seufzte und blickte in die Ferne.
Desselbigen Tages aber redete er seine Rede über die verkleinernde
Tugend. (Ebd., 1883-1885, S. 207-208).
Ich gehe durch dies Volk und halte die Augen offen: sie sind k l e i n e r
geworden und werden immer kleiner d a s a b e r
m a c h t i h r e
L e h r e v o n
G l ü c k u n d
T u g e n d . (Ebd., 1883-1885,
S. 209).
Fuss und Augen sollen nicht lügen, noch sich einander Lügen
strafen. Aber es ist viel Lügnerei bei den kleinen Leuten. Einige
von ihnen wollen, aber die Meisten werden nur gewollt. Einige von ihnen
sind ächt, aber die Meisten sind schlechte Schauspieler. Es gibt
Schauspieler wider Wissen unter ihnen und Schauspieler wider Willen ,
die Ächten sind immer selten, sonderlich die ächten Schauspieler.
(Ebd., 1883-1885, S. 209).
Des
Mannes ist hier wenig: darum vermännlichen sich ihre Weiber. Denn nur wer
Mannes genug ist, wird im Weibe d a s W e i b
e r l ö s e n .
(Ebd., 1883-1885, S. 209-210).
Und diese Heuchelei fand ich unter ihnen am schlimmsten: daß
auch die, welche befehlen, die Tugenden derer heucheln, welche dienen.
(Ebd., 1883-1885, S. 210).
»Ich diene, du dienst, wir dienen« so betet
hier auch die Heuchelei der Herrschenden und wehe, wenn der erste
Herr n u r der erste Diener ist! (Ebd., 1883-1885,
S. 210).
Ach, auch in ihre Heucheleien verflog sich wohl meines Auges Neugier;
und gut erriet ich all ihr Fliegen-Glück und ihr Summen um besonnte
Fensterscheiben. (Ebd., 1883-1885, S. 210).
Soviel Güte, soviel Schwäche sehe ich. Soviel Gerechtigkeit
und Mitleiden, soviel Schwäche. (Ebd., 1883-1885, S. 210).
Rund, rechtlich und gütig sind sie miteinander, wie Sandkörnchen
rund, rechtlich und gütig mit Sandkörnchen sind. (Ebd.,
1883-1885, S. 210).
Bescheiden ein kleines Glück umarmen das heissen sie »Ergebung«!
und dabei schielen sie bescheiden schon nach einem neuen kleinen Glücke
aus. (Ebd., 1883-1885, S. 210).
Sie wollen im Grunde einfältiglich Eins am meisten: dass ihnen
Niemand wehe thue. So kommen sie jedermann zuvor und thun ihm wohl.
(Ebd., 1883-1885, S. 210).
Dies aber ist F e i g h e i t :
ob es schon »Tugend« heißt. (Ebd., 1883-1885,
S. 210).
Und wenn sie einmal rauh reden, diese kleinen Leute: i c h
höre darin nur ihre Heiserkeit jeder Windzug nämlich
macht sie heiser. (Ebd., 1883-1885, S. 210).
Klug sind sie, ihre Tugenden haben kluge Finger. Aber ihnen fehlen die
Fäuste, ihre Finger wissen nicht, sich hinter Fäuste zu verkriechen.
(Ebd., 1883-1885, S. 210).
Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: damit machten sie
den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen bestem Hausthiere.
(Ebd., 1883-1885, S. 210).
»Wir setzten unsern Stuhl in die M i t t e «
das sagt mir ihr Schmunzeln »und ebenso weit
weg von sterbenden Fechtern wie von vergnügten Säuen.«
(Ebd., 1883-1885, S. 210).
Dies aber ist M i t t e l m ä ß i g k e i t :
ob es schon Mäßigkeit heisst. (Ebd., 1883-1885, S. 211).
Ich gehe durch dies Volk und lasse manches Wort fallen: aber sie
wissen weder zu nehmen noch zu behalten. (Ebd., 1883-1885, S. 211).
Sie wundern sich, dassich nicht kam, auf Lüste und Laster zu lästern;
und wahrlich, ich kam auch nicht, daß ich vor Taschendieben warnte!
(Ebd., 1883-1885, S. 211).
Sie wundern sich, daß ich nicht bereit bin, ihre Klugheit noch
zu witzigen und zu spitzigen: als ob sie noch nicht genug der Klüglinge
hätten, deren Stimme mir gleich Schieferstiften kritzelt! (Ebd.,
1883-1885, S. 211).
Und wenn ich rufe: »Flucht allen feigen Teufeln in euch, die gerne
winseln und Hände falten und anbeten möchten«: so rufen
sie: »Zarathustra ist gottlos.« (Ebd., 1883-1885, S.
211).
Und sonderlich rufen es ihre Lehrer der Ergebung ; aber gerade
ihnen liebe ich's, in das Ohr zu schrein: Ja! Ich bin Zarathustra, der
Gottlose! (Ebd., 1883-1885, S. 211).
Diese Lehrer der Ergebung! Überallhin, wo es klein und krank und
grindig ist, kriechen sie, gleich Läusen; und nur mein Ekel hindert
mich, sie zu knacken. (Ebd., 1883-1885, S. 211).
Wohlan! Dies ist meine Predigt für i h r e
Ohren: ich bin Zarathustra, der Gottlose, der da spricht »wer ist
gottloser denn ich, daß ich mich seiner Unterweisung freue?«
(Ebd., 1883-1885, S. 211).
Ich bin Zarathustra, der Gottlose: wo finde ich meinesgleichen? Und
alle die sind meinesgleichen, die sich selber ihren Willen geben und alle
Ergebung von sich abtun. (Ebd., 1883-1885, S. 211).
Ich bin Zarathustra, der Gottlose: ich koche mir noch jeden Zufall in
m e i n e m Topfe. Und erst, wenn
er da gargekocht ist, heiße ich ihn willkommen, als m e i n e
Speise. (Ebd., 1883-1885, S. 211).
Und wahrlich, mancher Zufall kam herrisch zu mir: aber herrischer noch
sprach zu ihm mein W i l l e ,
da lag er schon bittend auf den Knieen bittend, daß er Herberge
finde und Herz bei mir, und schmeichlerisch zuredend: »sieh doch,
o Zarathustra, wie nur Freund zum Freunde kommt!«. (Ebd.,
1883-1885, S. 211-212).
Doch was rede ich, wo niemand meine Ohren hat! Und so will ich es hinaus
in alle Winde rufen: Ihr werdet immer kleiner, ihr kleinen Leute! Ihr
bröckelt ab, ihr Behaglichen! Ihr geht mir noch zugrunde an
euren vielen kleinen Tugenden, an eurem vielen kleinen Unterlassen, an
eurer vielen kleinen Ergebung! (Ebd., 1883-1885, S. 212).
Zu viel schonend, zu viel nachgebend: so ist euer Erdreich! Aber daß
ein Baum g r o s s werde, dazu will er
um harte Felsen harte Wurzeln schlagen! (Ebd., 1883-1885, S. 212).
Auch was ihr unterlasst, webt am Gewebe aller Menschen-Zukunft; auch
euer Nichts ist ein Spinnennetz und eine Spinne, die von der Zukunft Blute
lebt. (Ebd., 1883-1885, S. 212).
Und wenn ihr nehmt, so ist es wie stehlen, ihr kleinen Tugendhaften;
aber noch unter Schelmen spricht die E h r e :
»man soll nur stehlen, wo man nicht rauben kann.« (Ebd.,
1883-1885, S. 212).
»Es gibt sich« das ist auch eine Lehre der Ergebung.
Aber ich sage euch, ihr Behaglichen: e s n i m m t
s i c h und wird immer mehr noch von euch nehmen!
(Ebd., 1883-1885, S. 212).
Ach, dassihr alles h a l b e Wollen
von euch abtätet und entschlossen würdet zur Trägheit wie
zur That! (Ebd., 1883-1885, S. 212).
Ach, dass ihr mein Wort verstündet: »thut immerhin,
was ihr wollt aber seid erst solche, die w o l l e n
k ö n n e n ! «
(Ebd., 1883-1885, S. 212).
»Liebt immerhin euren Nächsten gleich euch,
aber seid mir erst Solche, die s i c h s e l b e r
l i e b e n mit der grossen Liebe
lieben, mit der grossen Verachtung lieben!« Also spricht Zarathustra,
der Gottlose. (Ebd., 1883-1885, S. 212).
Doch was rede ich, wo niemand m e i n e
Ohren hat! Es ist hier noch eine Stunde zu früh für mich.
(Ebd., 1883-1885, S. 212).
Mein eigner Vorläufer bin ich unter diesem Volke, mein eigner
Hahnen-Ruf durch dunkle Gassen. (Ebd., 1883-1885, S. 213).
Aber i h r e Stunde kommt! Und es kommt
auch die meine! Stündlich werden sie kleiner, ärmer, unfruchtbarer
armes Kraut! armes Erdreich! (Ebd., 1883-1885, S. 213).
Und b a l d sollen sie mir dastehn
wie dürres Gras und Steppe, und wahrlich! ihrer selber müde
und mehr, als nach Wasser, nach F e u e r
lechzend! (Ebd., 1883-1885, S. 213).
Oh gesegnete Stunde des Blitzes! Oh Geheimnis vor Mittag!
Laufende Feuer will ich einst noch aus ihnen machen und Verkünder
mit Flammen-Zungen: verkünden sollen sie einst noch mit Flammen-Zungen:
Er kommt, er ist nahe, d e r g r o s s e
M i t t a g ! (Ebd., 1883-1885,
S. 213).
Also sprach Zarathustra. (Ebd., 1883-1885, S. 213).
Der Rest: das sind immer die Allermeisten, der Alltag,
der Überfluß, die Viel-zu-Vielen diese alle sind feige!
(Ebd., 1883-1885, S. 223).Wer Alles bei den Menschen begreifen
wollte, der müsste Alles angreifen. (Ebd., 1883-1885, S. 229).Sonderlich
Die, welche sich »die Guten« heissen, fand ich als die giftigsten
Fliegen: sie stechen in aller Unschuld, sie lügen in aller Unschuld; wie
v e r m ö c h t e n
sie gegen mich gerecht zu sein! Wer unter den Guten lebt, den lehrt Mitleid
lügen. Mitleid macht dumpfe Luft allen freien Seelen. Die Dummheit der Guten
nämlich ist unergründlich. Mich selber verbergen und meinen Reichtum
das lernte ich da unten: denn jeden fand ich noch arm am Geiste. Das war
der Lug meines Mitleidens, dass ich bei Jedem wusste, daß ich Jedem
es ansah und anroch, was ihm Geistes g e n u g
und was ihm schon Geistes z u v i e l war!
(Ebd., 1883-1885, S. 230).Wer da segnen lehrte, der lehrte auch
fluchen: welches sind in der Welt die drei bestverfluchten Dinge? Diese will ich
auf die Wage tun. W o l l u s t ,
H e r r s c h s u c h t ,
S e l b s t s u c h t :
diese drei wurden bisher am besten verflucht und am schlimmsten beleu- und belügenmundet
diese drei will ich menschlich gut abwägen. (Ebd., 1883-1885,
S. 232).Widriger aber sind mir noch alle Speichellecker; und das
widrigste Thier von Mensch, das ich fand, das taufte ich Schmarotzer: das wollte
nicht lieben und doch von Liebe leben. (Ebd., 1883-1885, S. 240).Das
Vergangne am Menschen zu erlösen und alles »Es war« umzuschaffen,
bis der Wille spricht: »Aber so wollte ich es! So werde ich's wollen «
Dies hiess ich ihnen Erlösung, Dies allein lehrte ich sie Erlösung
heissen. Nun warte ich m e i n e r
Erlösung , dass ich zum letzten Male zu ihnen gehe. Denn noch Ein Mal
will ich zu den Menschen: u n t e r ihnen will
ich untergehen, sterbend will ich ihnen meine reichste Gabe geben! Der Sonne lernte
ich das ab, wenn sie hinabgeht, die Überreiche: Gold schüttet sie da
ins Meer aus unerschöpflichem Reichthume, also, dass der ärmste
Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dies nämlich sah ich einst und wurde
der Thränen nicht satt im Zuschauen Der Sonne gleich will auch Zarathustra
untergehn: nun sitzt er hier und wartet, alte zerbrochene Tafeln um sich und auch
neue Tafeln halbbeschriebene. (Ebd., 1883-1885, S. 245).Siehe,
hier ist eine neue Tafel: aber wo sind meine Brüder, die sie mit mir zu Thale
und in fleischerne Herzen tragen? Also heischt es meine große Liebe
zu den Fernsten: s c h o n e d e i n e n
N ä c h s t e n n i c h t !
Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss. Es gibt vielerlei Weg und
Weise der Überwindung: da siehe d u zu! Aber nur ein Possenreisser
denkt: »der Mensch kann auch ü b e r s p r u n g e n
werden.« Überwinde dich selber noch in deinem Nächsten: und ein
Recht, das du dir rauben kannst, sollst du dir nicht geben lassen! Was du thust,
das kann dir keiner wieder thun. Siehe, es giebt keine Vergeltung. Wer sich nicht
befehlen kann, der soll gehorchen. Und Mancher k a n n
sich befehlen, aber da fehlt noch viel, dass er sich auch gehorche! (Ebd.,
1883-1885, S. 245-246).Also will es die Art edler Seelen: sie wollen
Nichts u m s o n s t haben, am wenigsten
das Leben. Wer vom Pöbel ist, der will umsonst leben; wir Anderen aber, denen
das Leben sich gab wir sinnen immer darüber, w a s
wir am besten d a g e g e n geben! Und
wahrlich, dies ist eine vornehme Rede, welche spricht: »Was u n s
das Leben verspricht, das wollen w i r dem Leben
halten!« Man soll nicht geniessen wollen, wo man nicht zu geniessen giebt.
Und man soll nicht geniessen w o l l e n !
Genuss und Unschuld nämlich sind die schamhaftesten Dinge: Beide wollen nicht
gesucht sein. Man soll sie h a b e n , aber
man soll eher noch nach Schuld und Schmerzen s u c h e n !
(Ebd., 1883-1885, S. 246).Gute Menschen reden nie die Wahrheit
.... (Ebd., 1883-1885, S. 247). N e b e n
dem bösen Gewissen wuchs bisher alles W i s s e n !
Zerbrecht, zerbrecht mir, ihr Erkennenden, die alten Tafeln! (Ebd., 1883-1885,
S. 247).Oh meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten
Tafeln! (Ebd., 1883-1885, S. 249).Denn es könnte einmal
kommen, dass der Pöbel Herr würde, und in seichten Gewässern alle
Zeit ertränke. Darum, oh meine Brüder, bedarf es eines n e u e n
A d e l s , der allem Pöbel und allem
Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt »edel«.
Vieler Edlen nämlich bedarf es und vielerlei Edlen, d a s s
e s A d e l g e b e !
Oder, wie ich einst im Gleichnis sprach: »Das eben ist Göttlichkeit,
dass es Götter, aber keinen Gott giebt!« (Ebd., 1883-1885, S.
250).Wo der schlimmste aller Bäume wuchs, das Kreuz,
an dem Lande ist Nichts zu loben! (Ebd., 1883-1885, S. 251).Oh
meine Brüder, nicht zurück soll euer Adel schauen, sondern h i n a u s !
Vertriebene sollt ihr sein aus allen Vater- und Urväterländern! Eurer
K i n d e r L a n d
sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel das unentdeckte, im fernsten
Meere! Nach ihm heisse ich eure Segel suchen und suchen! An euren Kindern sollt
ihr g u t m a c h e n ,
dass ihr eurer Väter Kinder seid: Alles Vergangene sollt ihr so erlösen!
Diese neue Tafel stelle ich über euch! (Ebd., 1883-1885, S. 251).Zerbrecht,
zerbrecht mir die alten Tafeln der Nimmer-Frohen! (Ebd., 1883-1885, S. 252).Der
Beste ist noch Etwas, das überwunden werden muss! (Ebd., 1883-1885,
S. 253).Zerbrecht, zerbrecht mir, oh meine Brüder, diese alten
Tafeln der Frommen! Zersprecht mir die Sprüche der Welt-Verleumder!
(Ebd., 1883-1885, S. 253).Und so ist es immer schwacher Menschen
Art: sie verlieren sich auf ihren Wegen. Und zuletzt fragt noch ihre Müdigkeit:
»wozu gingen wir jemals Wege! Es ist alles gleich!« D e n e n
klingt es lieblich zu Ohren, dass gepredigt wird: »Es verlohnt sich nichts!
Ihr sollt nicht wollen!« Dies aber ist eine Predigt zur Knechtschaft.
(Ebd., 1883-1885, S. 254).Wollen befreit: denn Wollen ist Schaffen:
so lehre ich. Und n u r zum Schaffen sollt ihr lernen! Und
auch das Lernen sollt ihr erst von mir l e r n e n ,
das Gut-Lernen! (Ebd., 1883-1885, S. 254).Ich schließe
Kreise um mich und heilige Grenzen; immer Wenigere steigen mit mir auf immer höhere
Berge: ich baue ein Gebirge aus immer heiligeren Bergen. Wohin ihr aber
auch mit mir steigen mögt, oh meine Brüder: seht zu, daß nicht
ein S c h m a r o t z e r
mit euch steige! Schmarotzer: das ist ein Gewürm, ein kriechendes, geschmiegtes,
das fett werden will an euren kranken wunden Winkeln. Und d a s
ist seine Kunst, dass ersteigende Seelen errät, wo sie müde sind: in
euren Gram und Unmut, in eure zarte Scham baut er sein ekles Nest. Wo der Starke
schwach, der Edle allzumild ist dahinein baut er sein ekles Nest: der Schmarotzer
wohnt, wo der Große kleine wunde Winkel hat. Was ist die höchste Art
alles Seienden und was die geringste? Der Schmarotzer ist die geringste Art; wer
aber höchster Art ist, der ernährt die meisten Schmarotzer. Die Seele
nämlich, welche die längste Leiter hat und am tiefsten hinunter kann:
wie sollten nicht an der die meisten Schmarotzer sitzen? die umfänglichste
Seele, welche am weitesten in sich laufen und irren und schweifen kann; die nothwendigste,
welche sich aus Lust in den Zufall stürzt: die seiende Seele, welche
ins Werden taucht; die habende, welche ins Wollen und Verlangen w i l l :
die sich selber fliehende, die sich selber im weitesten Kreise einholt;
die weiseste Seele, welcher die Narrheit am süssesten zuredet: die
sich selber liebendste, in der alle Dinge ihr Strömen und Widerströmen
und Ebbe und Flut haben: o hwie sollte d i e h ö c h s t e
S e e l e nicht die schlimmsten Schmarotzer haben?
(Ebd., 1883-1885, S. 256-257).Oh meine Brüder, bin ich denn
grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stossen! Das Alles
von heute das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber
ich ich w i l l es noch stoßen!
(Ebd., 1883-1885, S. 257-258).Ihr sollt nur Feinde haben, die zu
hassen sind, aber nicht Feinde zum Verachten: ihr müsst stolz auf euren Feind
sein: also lehrte ich schon Ein Mal. (Ebd., 1883-1885, S. 258).Der
Mensch nämlich ist das beste Raubthier. Allen Thieren hat der Mensch schon
ihre Tugenden abgeraubt: das macht, von allen Thieren hat es der Mensch am schwersten
gehabt. Nur noch die Vögel sind über ihm. Und wenn der Mensch noch fliegen
lernte, wehe! w o h i n a u f
würde seine Raublust fliegen! (Ebd., 1883-1885, S. 259).So
will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den einen, gebärtüchtig das
andre, beide aber tanztüchtig mit Kopf und Beinen. Und verloren sei uns der
Tag, wo nicht einmal getanzt wurde! Und falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der
es nicht ein Gelächter gab! (Ebd., 1883-1885, S. 260).Nicht
nur fort euch zu pflanzen, sondern h i n a u f
dazu, oh meine Brüder, helfe euch der Garten der Ehe! (Ebd.,
1883-1885, S. 260).Im Erdbeben alter Völker brechen neue Quellen
aus. (Ebd., 1883-1885, S. 261).Die Menschen-Gesellschaft:
die ist ein Versuch, so lehre ich's ein langes Suchen: sie sucht aber den
Befehlenden! ein Versuch, oh meine Brüder! Und k e i n
»Vertrag«! Zerbrecht, zerbrecht mir solch Wort der Weich-Herzen und
Halb- und Halben! (Ebd., 1883-1885, S. 261).Oh meine Brüder!
Bei welchen liegt doch die grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist es
nicht bei den Guten und Gerechten? (Ebd., 1883-1885, S. 261).Und
was für Schaden auch die Bösen thun mögen: der Schaden der Guten
ist der schädlichste Schaden! Und was für Schaden auch die Welt-Verleumder
thun mögen: der Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden. Oh meine
Brüder, den Guten und Gerechten sah einer einmal ins Herz, der da sprach:
»es sind die Pharisäer«. Aber man verstand ihn nicht. Die Guten
und Gerechten selber durften ihn nicht verstehen: ihr Geist ist eingefangen in
ihr gutes Gewissen. Die Dummheit der Guten ist unergründlich klug. Das aber
ist die Wahrheit: die Guten m ü s s e n
Pharisäer sein sie haben keine Wahl! Die Guten m ü s s e n
den kreuzigen, der sich seine eigne Tugend erfindet! Das i s t
die Wahrheit! Der zweite aber, der ihr Land entdeckte, Land, Herz und Erdreich
der Guten und Gerechten: das war, der da fragte: »wen hassen sie am meisten?«
Den S c h a f f e n d e n
hassen sie am meisten: den, der Tafeln bricht und alte Werte, den Brecher
den heissden sie Verbrecher. Die Guten nämlich die k ö n n e n
nicht schaffen: die sind immer der Anfang vom Ende: sie kreuzigen den,
der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die Zukunft sie
kreuzigen alle Menschen-Zukunft! Die Guten die waren immer der Anfang vom
Ende. (Ebd., 1883-1885, S. 262).Und was ich einst sagte vom
»letzten Menschen«? Bei welchen liegt die grösste Gefahr
aller Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten? Z e r b r e c h t ,
z e r b r e c h t m i r
d i e G u t e n u n d
G e r e c h t e n !
(Ebd., 1883-1885, S. 263).Ihr flieht von mir? Ihr seid erschreckt?
Ihr zittert vor diesem Worte? Oh meine Brüder, als ich euch die Guten zerbrechen
hiessund die Tafeln der Guten: da erst schiffte ich den Menschen ein auf seine
hohe See. Und nun erst kommt ihm der große Schrecken, das grosse Umsich-sehn,
die grosse Krankheit, der grosse Ekel, die grosse See-Krankheit. Falsche Küsten
und falsche Sicherheiten lehrten euch die Guten; in Lügen der Guten wart
ihr geboren und geborgen. Alles ist in den Grund hinein verlogen und verbogen
durch die Guten. Aber wer das Land »Mensch« entdeckte, entdeckte auch
das Land »Menschen-Zukunft«. Nun sollt ihr mir Seefahrer sein, wackere,
geduldsame! Aufrecht geht mir beizeiten, oh meine Brüder, lernt aufrecht
gehn! Das Meer stürmt: Viele wollen an euch sich wieder aufrichten. Das Meer
stürmt: alles ist im Meere. Wohlan! Wohlauf! Ihr alten Seemanns-Herzen! Was
Vaterland! D o r t h i n will unser
Steuer, wo unser K i n d e r - L a n d
ist! Dorthinaus, stürmischer als das Meer, stürmt unsre grosse Sehnsucht!
(Ebd., 1883-1885, S. 263-264).»Warum
so hart!« sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle; »sind
wir denn nicht Nah-Verwandte?« Warum so weich? Oh meine Brüder,
also frage ich euch: seid ihr denn nicht meine Brüder? Warum so weich,
so weichend und nachgebend? Warum ist so viel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen?
So wenig Schicksal in eurem Blicke? Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche:
wie könntet ihr mit mir siegen? Und wenn eure Härte nicht blitzen
und scheiden und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir
schaffen? Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muss es euch dünken,
eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, Seligkeit, auf
dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, härter als
Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste. Diese neue Tafel, oh meine
Brüder, stelle ich über euch: w e r d e t
h a r t ! (Ebd., 1883-1885, S. 264).Oh
du mein Wille! Du Wende aller Not, du m e i n e
Nothwendigkeit! Bewahre mich vor allen kleinen Siegen! Du Schickung meiner Seele,
die ich Schicksal heisse! Du In-mir! Über-mir! Bewahre und spare mich auf
zu einem großen Schicksale! Und deine letzte Grösse, mein Wille, spare
dir für dein Letztes auf daß du unerbittlich bist in deinem
Siege! Ach, wer unterlag nicht seinem Siege! Ach, wessen Auge dunkelte nicht in
dieser trunkenen Dämmerung! Ach, wessen Fuß taumelte nicht und verlernte
im Siege stehen! Dass ich einst bereit und reif sei im großen
Mittage: bereit und reif gleich glühendem Erze, blitzschwangrer Wolke und
schwellendem Milch-Euter: bereit zu mir selber und zu meinem verborgensten
Willen: ein Bogen brünstig nach seinem Pfeile, ein Pfeil brünstig nach
seinem Sterne: ein Stern, bereit und reif in seinem Mittage, glühend,
durchbohrt, selig vor vernichtenden Sonnen-Pfeilen: eine Sonne selber und
ein unerbittlicher Sonnen-Wille, zum Vernichten bereit im Siegen! Oh Wille, Wende
aller Not, du m e i n e Nothwendigkeit! Spare
mich auf zu einem grossen Siege! (Ebd., 1883-1885, S. 264-265).Es
ist eine schöne Narrethei, das Sprechen: damit tanzt der Mensch über
alle Dinge. (Ebd., 1883-1885, S. 268).Wie lieblich ist alles
Reden und alle Lüge der Töne! Mit Tönen tanzt unsre Liebe auf bunten
Regenbögen. (Ebd., 1883-1885, S. 268).Alles geht, Alles
kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht
wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt;
ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich
wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein;
um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist
der Pfad der Ewigkeit. (Ebd., 1883-1885, S. 268-269).Oh ihr
Schalks-Narren und Drehorgeln! antwortete Zarathustra und lächelte wieder,
wie gut wißt ihr, was sich in sieben Tagen erfüllen musste: ....
(Ebd., 1883-1885, S. 269). U n d i h r
s c h a u t e t d e m
A l l e n z u ? Oh meine
Thiere, seid auch ihr grausam? Habt ihr meinem grossen Schmerze zuschaun wollen,
wie Menschen thun? Der Mensch nämlich ist das grausamste Thier. (Ebd.,
1883-1885, S. 270).Der Mensch ist gegen sich selber das grausamste
Thier; und bei Allem, was sich »Sünder« und »Kreuzträger«
und »Büsser« heisst, überhört mir die Wollust nicht,
die in diesem Klagen und Anklagen ist! (Ebd., 1883-1885, S. 269).Und
ich selber will ich damit des Menschen Ankläger sein? Ach, meine Thiere,
Das allein lernte ich bisher, dass dem Menschen sein Bösestes nöthig
ist zu seinem Besten, dass alles Böseste seine beste Kraft ist und
der härteste Stein dem höchsten Schaffenden; und dass der Mensch besser
u n d böser werden muß: Nicht an d i e s
Marterholz war ich geheftet, dass ich weiß: der Mensch ist böse
sondern ich schrie, wie noch niemand geschrien hat: »Ach, dass sein Bösestes
so gar klein ist! Ach, dass sein Bestes so gar klein ist!« Der grosse Überdruss
am Menschen d e r würgte mich und war mir in
den Schlund gekrochen: und was der Wahrsager wahrsagte: »Alles ist gleich,
es lohnt sich nichts, Wissen würgt.« Eine lange Dämmerung hinkte
vor mir her, eine todesmüde, todestrunkene Traurigkeit, welche mit gähnendem
Munde redete. »Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du müde bist,
der kleine Mensch« so gähnte meine Traurigkeit und schleppte
den Fuss und konnte nicht einschlafen. Zur Höhle wandelte sich mir die Menschen-Erde,
ihre Brust sank hinein, alles Lebendige ward mir Menschen-Moder und Knochen und
morsche Vergangenheit. Mein Seufzen sass auf allen Menschen-Gräbern und konnte
nicht mehr aufstehn; mein Seufzen und Fragen unkte und würgte und nagte und
klagte bei Tag und Nacht: »ach, der Mensch kehrt ewig wieder! Der
kleine Mensch kehrt ewig wieder!« Nackt hatte ich einst Beide gesehn, den
größten Menschen und den kleinsten Menschen: allzuähnlich einander
allzumenschlich auch den Größten noch! Allzuklein der Größte!
das war mein Überdruss am Menschen! Und ewige Wiederkunft auch des
Kleinsten! das war mein Überdruss an allem Dasein! (Ebd., 1883-1885,
S. 270).»Sprich nicht weiter«, antworteten ihm abermals
seine Thiere; »lieber noch, du Genesender, mache dir erst eine Leier zurecht,
eine neue Leier! (Ebd., 1883-1885, S. 271).Denn deine Tiere
wissen es wohl, oh Zarathustra, wer du bist und werden mußt: siehe, d u
b i s t d e r L e h r e r
d e r e w i g e n W i e d e r k u n f t
, das ist nun d e i n Schicksal! (Ebd.,
1883-1885, S. 271).Siehe, wir wissen, was du lehrst: dass alle
Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit, und dass wir schon ewige Male dagewesen
sind, und alle Dinge mit uns. Du lehrst, dass es ein grosses Jahr des Werdens
gibt, ein Ungeheuer von grossem Jahre: das muss sich, einer Sanduhr gleich, immer
wieder von neuem umdrehn, damit es von neuem ablaufe und auslaufe: so dass
alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Grössten und auch im Kleinsten,
so dass wir selber in jedem großen Jahre uns selber gleich sind, im Grössten
und auch im Kleinsten. (Ebd., 1883-1885, S. 272).Aber der
Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin der wird
mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft.
Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, mit diesem Adler, mit dieser
Schlange n i c h t zu einem neuen Leben
oder besseren Leben oder ähnlichen Leben: ich komme ewig wieder zu
diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass
ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre, dass ich wieder das Wort
spreche vom großen Erden- und Menschen-Mittage, dass ich wieder den Menschen
den Übermenschen künde. Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem
Wort: so will es mein ewiges Loos , als Verkündiger gehe ich zu Grunde!
Die Stunde kam nun, dass der Untergehende sich selber segnet. Also e n d e t
Zarathustra's Untergang. (Ebd., 1883-1885, S. 273).Oh wie
sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen
Ring der Ringe, - dem Ring der Wiederkunft! Nie noch fand ich das Weib, von dem
ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe
dich, oh Ewigkeit! D e n n i c h
l i e b e d i c h ,
o h E w i g k e i t ! (Ebd.,
1883-1885, S. 283-287).
4. Teil
D e r
nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranziehend, hinaufziehend,
aufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich nicht umsonst
einstmals zusprach: »Werde, der du bist!« (Ebd., 1883-1885,
S. 293).Ich aber und mein Schicksal wir reden nicht zum
Heute, wir reden auch nicht zum Niemals: wir haben zum Reden schon Geduld und
Zeit und Überzeit. Denn einst muss er doch kommen und darf nicht vorübergehn.
Wer muss einst kommen und darf nicht vorübergehn? Unser grosser Hazar, das
ist unser grosses fernes Menschen-Reich, das Zarathustra-Reich von tausend Jahren.
(Ebd., 1883-1885, S. 294).Einstmals ich glaub, im
Jahr des Heiles Eins // Sprach die Sibylle, trunken sonder Weins: // »Weh,
nun geht's schief! // Verfall! Verfall! Nie sank die Welt so tief! // Rom sank
zur Hure und zur Huren-Bude, // Roms Caesar sank zum Vieh, Gott selbst
ward Jude!« (Ebd., 1883-1885, S. 303).Verlange Viel
das rät mein Stolz! // Und rede kurz das rät mein andrer
Stolz! (Ebd., 1883-1885, S. 312).Ich liebe die grossen Verachtenden.
Der Mensch aber ist Etwas, das überwunden werden muss. (Ebd., 1883-1885,
S. 328).So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so
kommen wir nicht in das Himmelreich. Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen:
das Wiederkäuen. Und wahrlich, wenn der Mensch auch die ganze Welt gewönne
und lernte das Eine nicht, das Wiederkäuen: was hülfe es! Er würde
nicht seine Trübsal los seine große Trübsal: die aber heißt
heute Ekel. Wer hat heute von Ekel nicht Herz, Mund und Augen voll? Auch du! Auch
du! Aber siehe doch diese Kühe an! (Ebd., 1883-1885, S. 330).Die
Kühe aber schauten dem Allen zu und wunderten sich. »Sprich nicht von
mir, du Wunderlicher! Lieblicher!« sagte Zarathustra und wehrte seiner Zärtlichkeit,
»sprich mir erst von dir! Bist du nicht der freiwillige Bettler, der einst
einen großen Reichtum von sich warf, der sich seines Reichthums schämte
und der Reichen, und zu den Ärmsten floh, dass er ihnen seine Fülle
und sein Herz schenke? Aber sie nahmen ihn nicht an.« »Aber sie nahmen
mich nicht an«, sagte der freiwillige Bettler, »du weisst es ja. So
gieng ich endlich zu den Thieren und zu diesen Kühen.« »Da lerntest
du«, unterbrach Zarathustra den Redenden, »wie es schwerer ist, recht
geben als recht nehmen, und dass gut schenken eine K u n s t
ist und die letzte listigste Meister-Kunst der Güte.« »Sonderlich
heutzutage«, antwortete der freiwillige Bettler: »heute nämlich,
wo alles Niedrige aufständisch ward und scheu und auf seine Art hoffärtig:
nämlich auf Pöbel-Art. Denn es kam die Stunde, du weisst es ja, für
den großen schlimmen langen langsamen Pöbel- und Sklaven-Aufstand:
der wächst und wächst! Nun empört die Niedrigen alles Wohltun und
kleine Weggeben; und die Überreichen mögen auf der Hut sein! Wer heute
gleich bauchichten Flaschen tröpfelt aus allzuschmalen Hälsen
solchen Flaschen bricht man heute gern den Hals. Lüsterne Gier, gallichter
Neid, vergrämte Rachsucht, Pöbel-Stolz: das sprang mir alles ins Gesicht.
Es ist nicht mehr wahr, daß die Armen selig sind. Das Himmelreich aber ist
bei den Kühen.« »Und warum ist es nicht bei den Reichen?«
fragte Zarathustra versuchend, während er den Kühen wehrte, die den
Friedfertigen zutraulich anschnauften. »Was versuchst du mich?« antwortete
dieser. »Du weisst es selber besser noch als ich. Was trieb mich doch zu
den Ärmsten, oh Zarathustra? War es nicht der Ekel vor unsern Reichsten?
vor den Sträflingen des Reichtums, welche sich ihren Vortheil aus
jedem Kehricht auflesen, mit kalten Augen, geilen Gedanken, vor diesem Gesindel,
das gen Himmel stinkt, vor diesem vergüldeten, verfälschten Pöbel,
dessen Väter Langfinger oder Aasvögel oder Lumpensammler waren, mit
Weibern willfährig, lüstern, vergesslich sie habens nämlich
alle nicht weit zur Hure Pöbel oben, Pöbel unten! Was ist heute
noch arm und reich! Diesen Unterschied verlernte ich
da floh ich davon, weiter, immer weiter, bis ich zu diesen Kühen kam.«
(Ebd., 1883-1885, S. 331-332).Es wird mir wahrlich zu viel; diess
Gebirge wimmelt, mein Reich ist nicht mehr von dieser Welt, ich brauche neue Berge.
(Ebd., 1883-1885, S. 334).Am späten Nachmittage war es erst,
dass Zarathustra, nach langem umsonstigen Suchen und Umherstreifen, wieder zu
seiner Höhle heimkam. Als er aber derselben gegenüberstand, nicht zwanzig
Schritt mehr von ihr ferne, da geschah das, was er jetzt am wenigsten erwartete:
von Neuem hörte er den grossen N o t h s c h r e i .
Und, erstaunlich! diess Mal kam derselbige aus seiner eignen Höhle. Es war
aber ein langer vielfältiger seltsamer Schrei, und Zarathustra unterschied
deutlich, dass er sich aus vielen Stimmen zusammensetze: mochte er schon, aus
der Ferne gehört, gleich dem Schrei aus einem einzigen Munde klingen. Da
sprang Zarathustra auf seine Höhle zu, und siehe! welches Schauspiel erwartete
ihn erst nach diesem Hörspiele! Denn da sassen sie allesamt beieinander,
an denen er des Tags vorübergegangen war: der König zur Rechten und
der König zur Linken, der alte Zauberer, der Papst, der freiwillige Bettler,
der Schatten, der Gewissenhafte des Geistes, der traurige Wahrsager und der Esel;
der hässlichste Mensch aber hatte sich eine Krone aufgesetzt und zwei Purpurgürtel
umgeschlungen denn er liebte es, gleich allen Hässlichen, sich zu
verkleiden und schön zu tun. Inmitten aber dieser betrübten Gesellschaft
stand der Adler Zarathustras, gesträubt und unruhig, denn er sollte
auf zu vieles antworten, wofür sein Stolz keine Antwort hatte; die kluge
Schlange aber hing um seinen Hals. Dies alles schaute Zarathustra mit grosser
Verwunderung; dann aber prüfte er jeden Einzelnen seiner Gäste mit leutseliger
Neugierde, las ihre Seelen ab und wunderte sich von Neuem. Inzwischen hatten sich
die Versammelten von ihren Sitzen erhoben und warteten mit Ehrfurcht, dass Zarathustra
reden werde. Zarathustra aber sprach also: »Ihr Verzweifelnden! Ihr Wunderlichen!
Ich hörte also e u r e n Nothschrei? Und
nun weiss ich auch, wo Der zu suchen ist, den ich umsonst heute suchte: d e r
h ö h e r e M e n s c h
: in meiner eignen Höhle sitzt er, der höhere
Mensch! Aber was wundere ich mich! Habe ich ihn nicht selber zu mir gelockt, durch
Honig-Opfer und listige Lockrufe meines Glücks? (Ebd., 1883-1885, S.
342-343).»Meine Gäste, ihr höheren Menschen, ich
will deutsch und deutlich mit euch reden. Nicht auf e u c h
wartete ich hier in diesen Bergen.« (»....«) »Ihr mögt
wahrlich insgesamt höhere Menschen sein«, fuhr Zarathustra fort, »aber
für mich seid ihr nicht hoch und stark genug. Für mich, das heisst:
für das Unerbittliche, das in mir schweigt, aber nicht immer schweigen wird.
Und gehört ihr zu mir, so doch nicht als mein rechter Arm. Wer nämlich
selber auf kranken und zarten Beinen steht, gleich euch, der will vor Allem, ob
er's weiss oder sich verbirgt: dass er g e s c h o n t
werde. Meine Arme und meine Beine aber schone ich nicht, i c h
s c h o n e m e i n e
K r i e g e r n i c h t :
wieso könntet ihr zu m e i n e m Kriege
taugen? Mit euch verdürbe ich mir jeden Sieg noch. Und mancher von euch fiele
schon um, wenn er nur den lauten Schall meiner Trommeln hörte. Auch seid
ihr mir nicht schön genug und wohlgeboren. Ich brauche reine glatte Spiegel
für meine Lehren; auf eurer Oberfläche verzerrt sich noch mein eignes
Bildnis. Eure Schultern drückt manche Last, manche Erinnerung; manch schlimmer
Zwerg hockt in euren Winkeln. Es giebt verborgenen Pöbel auch in euch. Und
seid ihr auch hoch und höherer Art: vieles an euch ist krumm und missgestalt.
Da ist kein Schmied in der Welt, der euch mir zurecht und gerade schlüge.
Ihr seid nur Brücken: mögen Höhere auf euch hinüberschreiten!
Ihr bedeutet Stufen: so zürnt Dem nicht, der über euch hinweg in s e i n e
Höhe steigt! Aus eurem Samen mag auch mir einst ein echter Sohn und vollkommener
Erbe wachsen: aber das ist ferne. Ihr selber seid Die nicht, welchen mein Erbgut
und Name zugehört. Nicht auf euch warte ich hier in diesen Bergen, nicht
mit euch darf ich zum letzten Male niedersteigen. Als Vorzeichen kamt ihr mir
nur, dass schon Höhere zu mir unterwegs sind, n i c h t
die Menschen der grossen Sehnsucht, des grossen Ekels, des grossen Überdrusses
und das, was ihr den Überrest Gottes nanntet. Nein! Nein! Drei Mal
Nein! Auf A n d e r e warte ich hier in diesen
Bergen und will meinen Fuss nicht ohne sie von dannen heben, auf Höhere,
Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, solche, die rechtwinklig gebaut sind
an Leib und Seele: l a c h e n d e
L ö w e n müssen kommen! Oh, meine Gastfreunde,
ihr Wunderlichen hörtet ihr noch nichts von meinen Kindern? Und dass
sie zu mir unterwegs sind? Sprecht mir doch von meinen Gärten, von meinen
glückseligen Inseln, von meiner neuen schönen Art warum sprecht
ihr mir nicht davon? Diess Gastgeschenk erbitte ich mir von eurer Liebe, dass
ihr mir von meinen Kindern sprecht. Hierzu bin ich reich, hierzu ward ich arm:
was gab ich nicht hin, was gäbe ich nicht hin, dass ich Eins hätte:
d i e s e Kinder, d i e s e
lebendige Pflanzung, d i e s e Lebensbäume
meines Willens und meiner höchsten Hoffnung!« (Ebd., 1883-1885,
S. 346-347).Als ich zum ersten Male zu den Menschen kam, da that
ich die Einsiedler-Thorheit, die große Thorheit: ich stellte mich auf den
Markt. Und als ich zu Allen redete, redete ich zu Keinem. Des Abends aber waren
Seiltänzer meine Genossen, und Leichname; und ich selber fast ein Leichnam.
Mit dem neuen Morgen aber kam mir eine neue Wahrheit: da lernte ich sprechen »Was
geht mich Markt und Pöbel und Pöbel-Lärm und lange Pöbel-Ohren
an!« Ihr höheren Menschen, Diess lernt von mir: auf dem Markt glaubt
niemand an höhere Menschen. Und wollt ihr dort reden, wohlan! Der Pöbel
aber blinzelt »wir sind alle gleich«. »Ihr höheren Menschen«
so blinzelt der Pöbel »es giebt keine höheren Menschen,
wir sind Alle gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott sind wir Alle gleich!«
Vor Gott! Nun aber starb dieser Gott. Vor dem Pöbel aber wollen wir
nicht gleich sein. Ihr höheren Menschen, geht weg vom Markt! (Ebd.,
1883-1885, S. 352).Vor Gott! Nun aber starb dieser Gott!
Ihr höheren Menschen, dieser Gott war eure grösste Gefahr. Seit er im
Grabe liegt, seid ihr erst wieder auferstanden. Nun erst kommt der große
Mittag, nun erst wird der höhere Mensch Herr! Verstandet ihr diess
Wort, oh meine Brüder? Ihr seid erschreckt: wird euren Herzen schwindlig?
Klafft euch hier der Abgrund? Kläfft euch hier der Höllenhund? Wohlan!
Wohlauf! Ihr höheren Menschen! Nun erst kreisst der Berg der Menschen-Zukunft.
Gott starb: nun wollen wir dass der Übermensch lebe. (Ebd.,
1883-1885, S. 353).Die Sorglichsten fragen heute: »wie bleibt
der Mensch erhalten?« Zarathustra aber fragt als der einzige und erste:
»wie wird der Mensch ü b e r w u n d e n ? «
Der Übermensch liegt mir am Herzen, d e r ist mein
Erstes und Einziges und n i c h t der Mensch:
nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste, nicht der
Beste. Oh meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist,
dass er ein Übergang ist und ein Untergang. Und auch an euch ist Vieles,
das mich lieben und hoffen macht. Dass ihr verachtetet, ihr höheren Menschen,
das macht mich hoffen. Die großen Verachtenden nämlich sind die großen
Verehrenden. Dass ihr verzweifeltet, daran ist Viel zu ehren. Denn ihr lerntet
nicht, wie ihr euch ergäbet, ihr lerntet die kleinen Klugheiten nicht. Heute
nämlich wurden die kleinen Leute Herr: die predigen alle Ergebung und Bescheidung
und Klugheit und Fleiss und Rücksicht und das lange Und-so-weiter der kleinen
Tugenden. Was von Weibsart ist, was von Knechtsart stammt und sonderlich der Pöbel-Mischmasch:
D a s will nun Herr werden alles Menschen-Schicksals
oh Ekel! Ekel! Ekel! Das frägt und frägt und wird nicht müde: »wie
erhält sich der Mensch, am besten, am längsten, am angenehmsten?«
Damit sind sie die Herren von heute. Diese Herren von heute überwindet
mir, oh meine Brüder diese kleinen Leute: d i e
sind des Übermenschen grösste Gefahr! Überwindet mir, ihr höheren
Menschen, die kleinen Tugenden, die kleinen Klugheiten, die Sandkorn-Rücksichten,
den Ameisen-Kribbelkram, das erbärmliche Behagen, das »Glück der
Meisten« ! Und lieber verzweifelt, als dass ihr euch ergebt. Und,
wahrlich, ich liebe euch dafür, dass ihr heute nicht zu leben wisst, ihr
höheren Menschen! So nämlich lebt i h r
am Besten! (Ebd., 1883-1885, S. 353-354).Habt ihr Muth, oh
meine Brüder? Seid ihr herzhaft? Nicht Muth vor Zeugen, sondern Einsiedler-
und Adler-Muth, dem auch kein Gott mehr zusieht? Kalte Seelen, Maultiere, Blinde,
Trunkene heissen mir nicht herzhaft. Herz hat, wer Furcht kennt, aber Furcht zwingt;
wer den Abgrund sieht, aber mit S t o l z .
Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen, wer mit Adlers-Krallen den
Abgrund f a s s t : Der hat Muth. (Ebd.,
1883-1885, S. 354).»Der Mensch ist böse«
so sprachen mir zum Troste alle Weisesten. Ach, wenn es heute nur noch wahr ist!
Denn das Böse ist des Menschen beste Kraft. »Der Mensch muss besser
und böser werden« so lehre ich. Das Böseste ist nöthig
zu des Übermenschen Bestem. Das mochte gut sein für jenen Prediger der
kleinen Leute, dass er litt und trug an des Menschen Sünde. Ich aber erfreue
mich der grossen Sünde als meines großen T r o s t e s .
Solches ist aber nicht für lange Ohren gesagt. Jedwedes Wort gehört
auch nicht in jedes Maul. Das sind feine ferne Dinge: nach denen sollen nicht
Schafs-Klauen greifen! (Ebd., 1883-1885, S. 355).Ihr höheren
Menschen, meint ihr, ich sei da, gut zu machen, was ihr schlecht machtet? Oder
ich wollte fürderhin euch Leidende bequemer betten? Oder euch Unstäten,
Verirrten, Verkletterten neue leichtere Fussteige zeigen? Nein! Nein! Drei Mal
Nein! Immer Mehr, immer Bessere eurer Art sollen zu Grunde gehn denn ihr
sollt es immer schlimmer und härter haben. So allein so allein
wächst der Mensch in d i e Höhe, wo der Blitz
ihn trifft und zerbricht: hoch genug für den Blitz! Auf Weniges, auf Langes,
auf Fernes geht mein Sinn und meine Sehnsucht: was gienge mich euer kleines, vieles,
kurzes Elend an! Ihr leidet mir noch nicht genug! Denn ihr leidet an euch, ihr
littet noch nicht a m M e n s c h e n .
Ihr würdet lügen, wenn ihr's anders sagtet! Ihr leidet Alle nicht, woran
i c h litt. (Ebd., 1883-1885, S. 355).Es
ist mir nicht genug, dass der Blitz nicht mehr schadet. Nicht ableiten will ich
ihn: er soll lernen für m i c h arbeiten.
Meine Weisheit sammelt sich lange schon gleich einer Wolke, sie wird stiller
und dunkler. So tut jede Weisheit, welche e i n s t
Blitze gebären soll. Diesen Menschen von Heute will ich nicht Licht
sein, nicht Licht heissen. D i e will ich blenden.
Blitz meiner Weisheit! stich ihnen die Augen aus! (Ebd., 1883-1885, S. 356).Wollt
Nichts über euer Vermögen: es giebt eine schlimme Falschheit bei Solchen,
die über ihr Vermögen wollen. Sonderlich, wenn sie grosse Dinge wollen!
Denn sie wecken Misstrauen gegen grosse Dinge, diese feinen Falschmünzer
und Schauspieler: bis sie endlich falsch vor sich selber sind, schieläugig,
übertünchter Wurmfrass, bemäntelt durch starke Worte, durch Aushänge-Tugenden,
durch glänzende falsche Werke. Habt da eine gute Vorsicht, ihr höheren
Menschen! Nichts nämlich gilt mir heute kostbarer und seltner als Redlichkeit.
Ist diess Heute nicht des Pöbels? Pöbel aber weiss nicht, was gross,
was klein, was gerade und redlich ist: der ist unschuldig krumm, der lügt
immer. (Ebd., 1883-1885, S. 356).Habt heute ein gutes Misstrauen,
ihr höheren Menschen, ihr Beherzten! Ihr Offenherzigen! Und haltet eure Gründe
geheim! Diess Heute nämlich ist des Pöbels. Was der Pöbel ohne
Gründe einst glauben lernte, wer könnte ihm durch Gründe das
umwerfen? Und auf dem Markte überzeugt man mit Gebärden. Aber Gründe
machen den Pöbel misstrauisch. Und wenn da einmal die Wahrheit zum Siege
kam, so fragt euch mit gutem Misstrauen: »welch starker Irrtum hat für
sie gekämpft?« Hütet euch auch vor den Gelehrten! Die hassen euch:
denn sie sind unfruchtbar! Sie haben kalte vertrocknete Augen, vor ihnen liegt
jeder Vogel entfedert. Solche brüsten sich damit, dass sie nicht lügen:
aber Ohnmacht zur Lüge ist lange noch nicht Liebe zur Wahrheit. Hütet
euch! Freiheit von Fieber ist lange noch nicht Erkenntnis! Ausgekälteten
Geistern glaube ich nicht. Wer nicht lügen kann, weiss nicht, was Wahrheit
ist. (Ebd., 1883-1885, S. 357).Wollt ihr hoch hinaus, so
braucht die eignen Beine! Lasst euch nicht empor t r a g e n ,
setzt euch nicht auf fremde Rücken und Köpfe! Du aber stiegst zu Pferde?
Du reitest nun hurtig hinauf zu deinem Ziele? Wohlan, mein Freund! Aber dein lahmer
Fuß sitzt auch mit zu Pferde! Wenn du an deinem Ziele bist, wenn du von
deinem Pferde springst: auf deiner Höhe gerade, du höherer Mensch
wirst du stolpern! (Ebd., 1883-1885, S. 357).Ihr Schaffenden,
ihr höheren Menschen! Man ist nur für das eigne Kind schwanger. Lasst
euch nichts vorreden, einreden! Wer ist denn euer Nächster? Und handelt ihr
auch »für den Nächsten« ihr schafft doch nicht für
ihn! Verlernt mir doch diess »Für«, ihr Schaffenden: eure Tugend
gerade will es, dass ihr kein Ding mit »für« und »um«
und »weil« thut. Gegen diese falschen kleinen Worte sollt ihr euer
Ohr zukleben. Das »für den Nächsten« ist die Tugend nur
der kleinen Leute: da heisst es »gleich und gleich« und »Hand
wäscht Hand« sie haben nicht Recht noch Kraft zu eurem Eigennutz!
In eurem Eigennutz, ihr Schaffenden, ist der Schwangeren Vorsicht und Vorsehung!
Was niemand noch mit Augen sah, die Frucht: die schirmt und schont und nährt
eure ganze Liebe. Wo eure ganze Liebe ist, bei eurem Kinde, da ist auch eure ganze
Tugend! Euer Werk, euer Wille ist e u e r »Nächster«:
lasst euch keine falschen Werte einreden! (Ebd., 1883-1885, S. 358).Ihr
Schaffenden, ihr höheren Menschen! Wer gebären muss, der ist krank;
wer aber geboren hat, ist unrein. Fragt die Weiber: man gebiert nicht, weil es
Vergnügen macht. Der Schmerz macht Hühner und Dichter gackern. Ihr Schaffenden,
an euch ist viel Unreines. Das macht, ihr musstet Mütter sein. Ein neues
Kind: oh, wie viel neuer Schmutz kam auch zur Welt! Geht beiseite! Und wer geboren
hat, soll seine Seele rein waschen! (Ebd., 1883-1885, S. 358).Seid
nicht tugendhaft über eure Kräfte! Und wollt Nichts von euch wider die
Wahrscheinlichkeit! Geht in den Fusstapfen, wo schon eurer Väter Tugend ging!
Wie wolltet ihr hoch steigen, wenn nicht eurer Väter Wille mit euch steigt?
Wer aber Erstling sein will, sehe zu, dass er nicht auch Letztling werde! Und
wo die Laster eurer Väter sind, darin sollt ihr nicht Heilige bedeuten wollen!
Wessen Väter es mit Weibern hielten und mit starken Weinen und Wildschweinen:
was wäre es, wenn der von sich Keuschheit wollte? Eine Narrheit wäre
es! Viel, wahrlich, dünkt es mich für einen Solchen, wenn er Eines oder
Zweier oder Dreier Weiber Mann ist. Und stiftete er Klöster und schriebe
über die Tür: »der Weg zum Heiligen« ich spräche
doch: wozu! es ist eine neue Narrheit! Er stiftete sich selber ein Zucht- und
Fluchthaus: wohl bekomm's! Aber ich glaube nicht daran. In der Einsamkeit wächst,
was Einer in sie bringt, auch das innere Vieh. Solchergestalt widerräth sich
vielen die Einsamkeit. Gab es Schmutzigeres bisher auf Erden als Wüsten-Heilige?
U m d i e herum war nicht nur der Teufel
los sondern auch das Schwein. (Ebd., 1883-1885, S. 359).Scheu,
beschämt, ungeschickt, einem Tiger gleich, dem der Sprung missriet: also,
ihr höheren Menschen, sah ich oft euch beiseite schleichen. Ein Wurf missriet
euch. Aber, ihr Würfelspieler, was liegt daran! Ihr lerntet nicht spielen
und spotten, wie man spielen und spotten muss! Sitzen wir nicht immer an einem
grossen Spott- und Spieltische? Und wenn euch Grosses missriet, seid ihr selber
darum missraten? Und missrietet ihr selber, missriet darum der Mensch?
Missriet aber der Mensch: wohlan! wohlauf! (Ebd., 1883-1885, S. 359-360).Je
höher von Art, je seltener gerät ein Ding. Ihr höheren Menschen
hier, seid ihr nicht alle missgeraten? Seid guten Muths, was liegt daran!
Wie Vieles ist noch möglich! Lernt über euch selber lachen, wie man
lachen muss! Was Wunders auch, dass ihr missrietet und halb gerietet, ihr Halbzerbrochenen!
Drängt und stösst sich nicht in euch des Menschen Z u k u n f t ?
Des Menschen Fernstes, Tiefstes, Sternen-Höchstes, seine ungeheure Kraft:
schäumt das nicht alles gegen einander in eurem Topfe? Was Wunders, dass
mancher Topf zerbricht! Lernt über euch lachen, wie man lachen muss! Ihr
höheren Menschen, oh wie Vieles ist noch möglich! Und wahrlich, wie
Viel gerieth schon! Wie reich ist diese Erde an kleinen guten vollkommenen Dingen,
an Wohlgerathenem! Stellt kleine gute vollkommene Dinge um euch, ihr höheren
Menschen! Deren goldene Reife heilt das Herz. Vollkommnes lehrt hoffen.
(Ebd., 1883-1885, S. 360).Welches war hier auf Erden bisher die
grösste Sünde? War es nicht das Wort dessen, der sprach: »Wehe
denen, die hier lachen!« Fand er zum Lachen auf der Erde selber keine Gründe?
So suchte er nur schlecht. Ein Kind findet hier noch Gründe. Der liebte
nicht genug: sonst hätte er auch uns geliebt, die Lachenden! Aber er hasste
und höhnte uns, Heulen und Zähneklappern verhiess er uns. Muss man denn
gleich fluchen, wo man nicht liebt? Das dünkt mich ein schlechter
Geschmack. Aber so that er, dieser Unbedingte. Er kam vom Pöbel. Und er selber
liebte nur nicht genug: sonst hätte er weniger gezürnt, dass man ihn
nicht liebe. Alle grosse Liebe w i l l nicht Liebe
die will mehr. Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten! Das ist eine
arme kranke Art, eine Pöbel-Art: sie sehn schlimm diesem Leben zu, sie haben
den bösen Blick für diese Erde. Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten!
Sie haben schwere Füsse und schwüle Herzen sie wissen nicht zu
tanzen. Wie möchte Solchen wohl die Erde leicht sein! (Ebd., 1883-1885,
S. 361).Krumm kommen alle guten Dinge ihrem Ziele nahe. Gleich
Katzen machen sie Buckel, sie schnurren innewendig vor ihrem nahen Glücke
alle guten Dinge lachen. Der Schritt verrät, ob Einer schon auf s e i n e r
Bahn schreitet: so seht mich gehn! Wer aber seinem Ziele nahe kommt, der tanzt.
Und, wahrlich, zum Standbild ward ich nicht, noch stehe ich nicht da, starr, stumpf,
steinern, eine Säule; ich liebe geschwindes Laufen. Und wenn es auf Erden
auch Moor und dicke Trübsal giebt: wer leichte Füsse hat, läuft
über Schlamm noch hinweg und tanzt wie auf gefegtem Eise. Erhebt eure Herzen,
meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt
auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem
Kopf! (Ebd., 1883-1885, S. 361-362).Diese Krone des Lachenden,
diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte mir diese Krone auf, ich selber sprach
heilig mein Gelächter. Keinen Anderen fand ich heute stark genug dazu. Zarathustra
der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein
Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, ein Selig-Leichtfertiger:
Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher, kein Ungeduldiger,
kein Unbedingter, einer, der Sprünge und Seitensprünge liebt; ich selber
setzte mir diese Krone auf! (Ebd., 1883-1885, S. 362).Erhebt
eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir auch die Beine
nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht
auch auf dem Kopf! Es giebt auch im Glück schweres Gethier, es giebt Plumpfüssler
von Anbeginn. Wunderlich mühn sie sich ab, einem Elephanten gleich, der sich
müht auf dem Kopf zu stehn. Besser aber noch närrisch sein vor Glücke
als närrisch vor Unglücke, besser plump tanzen, als lahm gehn. So lernt
mir doch meine Weisheit ab: auch das schlimmste Ding hat zwei gute Kehrseiten,
auch das schlimmste Ding hat gute Tanzbeine: so lernt mir doch euch
selbst, ihr höheren Menschen, auf eure rechten Beine stellen! So verlernt
mir doch Trübsal-Blasen und alle Pöbel-Traurigkeit! Oh wie traurig dünken
mich heute des Pöbels Hanswürste noch! Diess Heute aber ist des Pöbels.
(Ebd., 1883-1885, S. 362-363).Dem Winde thut mir gleich, wenn er
aus seinen Berghöhlen stürzt: nach seiner eignen Pfeife will er tanzen,
die Meere zittern und hüpfen unter seinen Fusstapfen. Der den Eseln Flügel
giebt, der Löwinnen melkt, gelobt sei dieser gute unbändige Geist, der
allem Heute und allem Pöbel wie ein Sturmwind kommt, der Distel-
und Tiftelköpfen feind ist und allen welken Blättern und Unkräutern:
gelobt sei dieser wilde gute freie Sturmgeist, welcher auf Mooren und Trübsalen
wie auf Wiesen tanzt! Der die Pöbel-Schwindhunde hasst und alles missratene
düstere Gezücht: gelobt sei dieser Geist aller freien Geister, der lachende
Sturm, welcher allen Schwarzsichtigen, Schwärsüchtigen Staub in die
Augen bläst! Ihr höheren Menschen, euer Schlimmstes ist: ihr lerntet
alle nicht tanzen, wie man tanzen muss über euch hinweg tanzen! Was
liegt daran, dass ihr missrietet! Wie vieles ist noch möglich! So l e r n t
doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer,
hoch! höher! Und vergesst mir auch das gute Lachen nicht! Diese Krone des
Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, meinen Brüdern, werfe ich diese
Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig; ihr höheren Menschen, l e r n t
mir lachen! (Ebd., 1883-1885, S. 363-364).Und da stehe
ich schon, Als Europäer, Ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen!
(Ebd., 1883-1885, S. 381). D i e W ü s t e
w ä c h s t : w e h
D e m , d e r W ü s t e n
b i r g t ! (Ebd., 1883-1885, S. 381).Eins
aber weiss ich, von dir selber lernte ich's einst, oh Zarathustra: wer
am gründlichsten tödten will, der l a c h t .
Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man so sprachst
du einst. Oh Zarathustra, du Verborgener, du Vernichter ohne Zorn, du gefährlicher
Heiliger, du bist ein Schelm! (Ebd., 1883-1885, S. 388).Es
lohnt sich auf der Erde zu leben: ein Tag, ein Fest mit Zarathustra lehrte mich
die Erde lieben. War D a s das Leben?
will ich zum Tode sprechen. Wohlan! Noch Ein Mal! Meine Freunde, was
dünket euch? Wollt ihr nicht gleich mir zum Tode sprechen: War D a s
das Leben? Um Zarathustras Willen, wohlan! Noch Ein Mal! (Ebd., 1883-1885,
S. 392).Weh spricht: »Vergeh! Weg, du Wehe!« Aber Alles,
was leidet, will leben, dass es reif werde und lustig und sehnsüchtig,
sehnsüchtig nach Fernerem, Höherem, Hellerem. »Ich will Erben,
so spricht Alles, was leidet, ich will Kinder, ich will nicht m i c h « ,
Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder Lust will sich selber,
will Ewigkeit, will Wiederkunft, will Alles-sich-ewig-gleich. (Ebd., 1883-1885,
S. 397-398).Mitternacht ist auch Mittag .... (Ebd., 1883-1885,
S. 398). D e n n a l l e
L u s t w i l l
E w i g k e i t ! (Ebd.,
1883-1885, S. 398).Lust will a l l e r
Dinge Ewigkeit, w i l l t i e f e ,
t i e f e E w i g k e i t !
(Ebd., 1883-1885, S. 399).Oh Mensch! Gib Acht! // Was spricht die
tiefe Mitternacht? // »Ich schlief, ich schlief , // Aus tiefem Traum
bin ich erwacht: // Die Welt ist tief, // Und tiefer als der Tag gedacht.
// Tief ist ihr Weh , // Lust tiefer noch als Herzeleid: // Weh spricht:
Vergeh! // Doch alle Lust will Ewigkeit , // will tiefe, tiefe Ewigkeit!
(Ebd., 1883-1885, S. 400).Mein Leid und mein Mitleiden was
liegt daran! Trachte ich denn nach G l ü c k e ?
Ich trachte nach meinem W e r k e ! Wohlan!
Der Löwe kam, meine Kinder sind nahe, Zarathustra ward reif, meine
Stunde kam: Dies ist m e i n Morgen, m e i n
Tag hebt an: h e r a u f n u n ,
h e r a u f , d u g r o s s e r
M i t t a g ! «
Also sprach Zarathustra und verliess seine Höhle, glühend und stark,
wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt. (Ebd., 1883-1885, S.
404). |