Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen
Sinn, 1872

In
irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen
Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden.
Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«;
aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das
Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. So könnte jemand
eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben,
wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig
sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt. Es gab Ewigkeiten,
in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben
haben. Denn es gibt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über
das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer
und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten.
Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden
wir vernehmen, daß auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und
in sich das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt. (Ebd., 1872, S. 3).Im
Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung,
das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden,
das Repräsentieren, das im erborgten Glanze leben, das Maskiertsein, die
verhüllende Konvention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst,
kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr
die Regel und das Gesetz, daß fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter
den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.
(Ebd., 1872, S. 4).Zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären,
wie zwischen Subjekt und Objekt, gibt es keine Kausalität, keine Richtigkeit,
keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten,
ich meine eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung
in eine ganz fremde Sprache: wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und
frei erfindenden Mittelsphäre und Mittelkraft bedarf. (Ebd., 1872,
S. 11).»Wenn ein Handwerker gewiß wäre, jede Nacht
zu träumen, volle zwölf Stunden hindurch, daß er König sei,
so glaube ich«, sagt Pascal, »daß er ebenso glücklich wäre
als ein König, welcher alle Nächte während zwölf Stunden träumte,
er sei Handwerker.« Der wache Tag eines mythisch erregten Volkes, etwa der
älteren Griechen, ist durch das fortwährend wirkende Wunder, wie es
der Mythus annimmt, in der Tat dem Traume ähnlicher als dem Tag des wissenschaftlich
ernüchterten Denkers. Wenn jeder Baum einmal als Nymphe reden oder unter
der Hülle eines Stieres ein Gott Jungfrauen wegschleppen kann, wenn die Göttin
Athene selbst plötzlich gesehn wird, wie sie mit einem schönen Gespann
in der Begleitung des Pisistratus durch die Märkte Athens fährt
und das glaubte der ehrliche Athener , so ist in jedem Augenblicke wie im
Traume alles möglich, und die ganze Natur umschwärmt den Menschen, als
ob sie nur die Maskerade der Götter wäre, die sich nur einen Scherz
daraus machten, in allen Gestalten den Menschen zu täuschen. (Ebd.,
1872, S. 14). |