Nachwort zu Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht ( ),
von Alfred Baeumler 
Der »Wille zur Macht« ist das philosophische Hauptwerk
Nietzsches. Alle grundsätzlichen Resultate seines Denkens sind in
diesem Buche vereinigt. Man darf sich durch die Abneigung seines Verfassers
gegen die Systematiker nicht davon abhalten lassen, dieses Werk ein System
zu nennen. Nur die künstliche Systembauerei ist von Nietzsche verspottet
worden; im übrigen wußte er wohl, daß alles wahrhaft
philosophische Denken innerlich systematisch ist, d. h. daß es einen
erzeugenden Mittelpunkt hat, der das Einzelne bedingt und trägt.
Nietzsche ist in dem Sinne Systematiker wie es Heraklit ist, oder Anaximander,
dessen systematischen Geist wir aus dem einzigen Satze kennen, der von
ihm erhalten ist. (Ebd., S. 699).
Der Gedankenzusammenhang, der im »Willen zur Macht«
vor uns liegt, ist nicht nur ein System, weil er aus einem lebendigen
Mittelpunkt erzeugt und genährt ist, sondern er ist System auch noch
in einem weiteren Sinne des Wortes. Alle großen Gebiete des Lebens
werden hier behandelt. In vier gewaltigen Teilen baut sich das Ganze auf.
( ).
Ausgangspunkt ist die geistige Lage der Gegenwart. Der erste Teil soll
den europäischen »Nihilismus« darstellen, den Zustand
der Ermüdung und der Sinnlosigkeit, in dem sich das Leben der europäischen
Völker nach Nietzsches Ansicht befindet ( ).
Im zweiten Teil wird nach den Ursachen gefragt, die diesen Zustand herbeigeführt
haben. Sie werden in den herrschenden höchsten Werten gefunden: Religion,
Moral und Philosophie. ( ).
Das dritte Buch zeigt auf, wie es (im Gegensatz zu den geltenden Werten)
innerhalb der Reiche des Geistes und der Natur wirklich zugeht, und entwickelt
das Prinzip einer neuen Wertsetzung. ( ).
Der vierte Teil enthält die Lehre von der Rangordnung und die Verkündigung
des großen Menschen. ( ).
(Ebd., S. 699).
Die Verteilung des ausgedehnten Gedankenmaterials auf vier Bücher
hat Nietzsche am 17. März 1887 in einer Disposition vorgenommen (vgl.
S. 1 ),
zu der er sich selbst ein Register angelegt hat. Diese Einteilung ist
die Grundlage für die Einteilung des Stoffes. Wir haben noch viele
andere Dispositionsentwürfe aus dem Sommer und dem Herbst des gleichen
Jahres. Es gibt keinen Grund, daraus eine Ungültigkeit des bevorzugten
Entwurfes abzuleiten. Man findet die Systementwürfe und Pläne
in »Die Unschuld des Werdens« (KTA 83, S. 273-313). Nachdem
zunächst eine unvollständige Auswahl des Gedankenmaterials im
Jahre 1901 zum Druck gegeben worden war, haben die Herausgeber des Nietzscheschen
Nachlasses im Jahre 1906 eine Ausgabe des »Willens zur Macht«
erscheinen lassen, die 1067 Aphorismen auf Grund der Disposition Nietzsches
vom 17. März 1887 anordnet. Diese Ausgabe, von der das erste und
dritte Buch Peter Gast, das zweite und vierte Buch Frau Elisabeth Förster-Nietzsche
zusammengestellt haben, liegt dem vorliegenden Abdruck zugrunde.
(Ebd., S. 700).
Den exakten Nachweis der handschriftlichen Grundlagen für
die Auswahl hat Otto Weiß im »Nachbericht« der Großoktavausgabe
erbracht (Bd. XVI, S. 471 ff.). Sie ist von allen späteren Herausgebern
übernommen worden. Schlechta ( )
hat unter dem Titel »Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre«
( )
lediglich die von Gast geschaffene Reihenfolge aufgelöst und die
gliedernden Überschriften gestrichen. ( ).
(Ebd., S. 700).
Der »Wille zur Macht«, den Gast uns hinterlassen hat,
ist ein historisches Dokument, das auch dann seine Bedeutung behalten
wird, wenn einmal alle Handschriften entziffert und publiziert sein werden.
Wer in der Umgebung Nietzsches so lange und so teilnehmend gelebt hat,
wie Peter Gast, vermittelt uns etwas, das für Verständnis und
Rekonstruktion des »Willens zur Macht« unentbehrlich bleiben
wird. (Ebd., S. 702).
Der Begriff des Willens zur Macht taucht zuerst im zweiten Teil
des »Zarathustra« ( )
auf. In dem Abschnitt »Von der Selbstüberwindung« wird
er hier »der unerschöpfte, zeugende Lebens-Wille« genannt.
»Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht.« ( ).
Das metaphysische Hauptwerk sollte zuerst nach der Ewigen Wiederkunft
benannt werden. Allmählich erst rang sich in Nietzsche der Gedanke
durch, den Willen zur Macht in den Mittelpunkt zu rücken. Der Nihilismus
wird die »Gefahr der Gefahren« genannt. (Ebd., S. 702).
Durch die Kritik der Werte soll überall die Disharmonie aufgezeigt
werden zwischen dem Ideal und seinen einzelnen Bedingungen. Als Problem
des Gesetzgebers wird formuliert: die entfesselten Kräfte neu zu
binden, daß sie sich nicht gegenseitig vernichten. Der »Hammer«
( )
wird hier noch anders aufgefaßt als später. »Wie müssen
Menschen beschaffen sein, die umgekehrt wertschätzen, Menschen, die
alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie
in lauter Gesundheit umzuwandeln; ihre Mittel zu ihrer Aufgabe«
(
[oder auch in: KTA Bd. 83 II S. 301]). (Ebd., S. 702).
Die Feststellung aber, daß Nietzsche in die Irre ging, als
er seine Anklage gegen das historische Christentum erhob, nimmt der Diagnose
seines Zeitalters nichts von ihrer Bedeutung. In der Vermutung historischer
»Ursachen« ist er nicht glücklicher gewesen als alle
andern, die nach gesitigen Kausalitäten forschten. Wenn wir ihn noch
lesen, dann geschieht es, weil er der größte Phänomenologe
des aufsteigenden und des absteigenden Lebens, der erste Diagnostiker
der Kultur war, den Europa hervorgebracht hat. (Ebd., S. 705-706).
Eine Interpretation der Aphorismen, die für
Nietzsches Hauptwerk bestimmt waren, ist bisher noch nicht versucht worden.
Gewiß ist, daß die gedankliche Linie die von Spengler ( )
aus gezogen worden ist, nicht als Hauptlinie des »Willens zur Macht«
angesehen werden kann. Diese Linie setzt mit dem Begriff des Typus ein
und endet mit Ausblicken auf einen neuen Cäsarismus. Man wird den
letzten Intentionen der Philosophie Nietzsches nicht gerecht, wenn man
Begriffe wie Cäsarismus und Demokratie gleichsam als Bestandteile
einer politischen Terminologie auffaßt, statt als Hinweise auf eine
geschichtsphilosophische Konzepion. Eine Diagnose der historischen Situation,
in welcher Europa sich befindet, ist die Aufgabe, die Nietzsche sich gestellt
hat. Was er sieht, ist die unaufhaltsam fortschreitende »Verkleinerung«
des Menschen, eine Verhäßlichung der Welt. Er treibt nicht
Ursachenforschung, sondern er beschreibt und wertet. (Ebd., S. 706).
Dem kulturkritischen ersten Teil folgt der wertkritische zweite.
Die Religion macht den Anfang. Was hier in Aph. 135-252 (S. 99-181 )
dargelegt wird, ist in der »Genealogie der Moral« ( )
und im »Antichrist« ( )
teilweise weiter ausgeführt; zum Teil gibt Nietzsche hier auch neue
geschichtliche Durchblicke. Die Kritik der Moral beruht auf dem
Gedanken, dass die moralischen Werte selbst, um zur wirklichen Herrschaft
in der menschlichen Gemeinschaft zu gelangen, lauter unmoralische Kräfte
und Affekte zu Hilfe rufen müssen (Aph. 266 ).
Der moralische Standpunkt wird also durch den geschichtlichen überwunden:
die geschichtliche Betrachtung rechnet nicht mit der »Tugend«.
Seine eigneen Aufgabe formuliert Nietzsche: die naturlos gewordenen Moralwerte
in ihre natürlich Inmoralität zurückzuübersetzen (Aph.
299 ).
Instinkte und Affekte drücken bei jeder Rasse und bei jedem Stande
etwas von ihren Existenzbedingungen aus; verlangen, daß diese Affekte
der »Tugend« weichen sollen, heißt fordern, daß
jene Rassen oder Stände zugrunde gehen sollen. (Aph. 315 ).
Es gibt keinen moralischen Gegensatz von Egoismus und Altruismus. »Der
Egoismus ist soviel wert, als der physiologisch wert ist, der ihn hat«
(Aph. 373 ).
Nicht der moralische Begriff der Tugend, sondern der historische Begriff
der Größe steht im Mittelpunkt der Nietzscheschen Ethik.
(Ebd., S. 706-707).
Auf den Einzelnen kommt es Nietzsche an, auf den »großen
Menschen« was für ihn einen Begriff der Qualität,
nicht der Quantität, das heißt der Wirkung bedeutet. Es wäre
ein elementarer Widerspruch, dessen Nietzsche sich nicht schuldig gemacht
hat, den absoluten Wert der »Herde« zu verneinen und die Macht
des Herdenführers zu bejahen. Man darf sich durch den Gebrauch des
Wortes »Macht« bei Nietzsche nicht irreführen lassen.
»Die höhere Natur des großen Mannes liegt im Anderssein,
in der Unmittelbarkeit, in der Rangdistanz nicht in irgendwelchen
Wirkungen: und ob er auch den Erdball erschütterte« (Aph. 876 ).
(Ebd., S. 707).
»Prinzip einer neuen Wertsetzung« ( )
ist das dritte Buch überschrieben, das den einzigen, von Nietzsche
selbst stammenden Abriß seines Philosophischen Systems enthält.
In vier Abschnitten baut sich dieses entscheidende Buch auf: Der Wille
zur Macht als Erkenntnis ( ),
Der Wille zur Macht in der Natur ( ),
Der Wille zur Macht als Gesellschaft und Individuum ( ),
Der Wille zur Macht als Kunst ( ).
In den zusammengehörenden ersten beiden Abschnitten haben wir die
dynamische Philosophie der Natur vor uns, die neben der Kulturkritik Nietzsches
Nietzsches hervorragendste philosophische Leistung darstellt. Der Begriff
der Kraft wird hier in einer Weise angewendet, die seit Leibniz und Goethe
der deutschen Philosophie abhanden gekommen war. Mit seiner Kritik des
Mechanismus und des »Kausalismus« nimmt Nietzsche wesentliche
Tendenzen der heutigen Naturforschung vorweg. Er sieht auch da noch Bewegungen
und Kräfte, wo der Mechanist nur Gleichgewichtszustände feststellen
zu können glaubt, er sieht Schöpfung, wo andere Wiederholung
zu sehen meinen. Nichts »ist«, nichts wiederholt sich im Fluß
des Geschehens, jeder Vorgang, und wäre es die einfachste chemische
Veränderung, ist einmalig... Mit Nachdruck wird der erkennende Geist
aufgefordert, sich auf das zu besinnen, was eigentlich unter einem »Gesetz«
des Geschehens zu verstehen sei. (Ebd., S. 707-708).
Die dynamische Naturphilosophie bewährt sich vor allem in
der Deutung des organischen Lebens. Der Organismus wird von innen heraus
als bewegte Ordnung, als Herrschaftsgebilde begriffen. Gegen die Einseitigkeit
des Darwinismus wird der Begriff der Produktivität ausgespielt (Aph.
647 [ ],
684 [ ]).
Keinem Idealisten ist es gelungen, den Menschen so lebendig als Einheit
zu erfassen wie Nietzsd1e auf seinem physiologischen Wege »am Leitfaden
des Leibes« (Aph. 659 ).
Wie Goethe geht er überall von der Gestalt auf die gestaltenden Kräfte
zurüdt. Sein Dynamismus steht im Dienste seiner umfassenden morphologischen
Konzeption. (Ebd., S. 708).
Um Machtpositionen wird »gekämpft«. Nicht diese
Art von Kampf ist es, die Nietzsche im Auge hat, wenn er von einem Kampf
um die Macht in der Natur redet. Was er unter Machtpositionen versteht,
sind vielmehr Rangpositionen. Alle Bewegungen in Natur und Geschichte
sind Bewegungen zur Feststellung einer im Werden sich offenbarenden Rangordnung.
Es gibt auch in der Natur eine Rangordnung von Prozessen das ist
der Sinn eines Satzes wie: »Die angeblichen »Naturgesetze«
sind die Formeln für Machtverhältnisse« (KTA, Bd. 83,
S. 102). (Ebd., S. 708).
Es war vorauszusehen, daß der Philosoph in unüberwindliche
Schwierigkeiten geraten mußte, wenn er den dynamischen Grundgedanken
in der Sphäre des Menschlichen zur Durchführung bringen wollte.
(Ebd., S. 708-709).
Der dritte Abschnitt des dritten Buches ( )
bringt Nietzsches Soziologie. Mit nüchternem Auge verfolgt der Philosoph
das Spiel zwischen den Individuen und der Gesellschaft. Scharf wird der
Satz an die Spitze gestellt: »Nur einzelne fühlen sich verantwortlich.«
Alle Mystik der Institutionen verfliegt vor dem unbarmherzigen Willen
zur Entschleierung sozial nützlicher Fiktionen. Im vierten
Abschnitt ( )
wird ein Beispiel dafür gegeben, wie man Asthetik nicht von den Werken,
sondern von den Schaffenden her treiben soll. Kunst ist Daseinsvollendung,
Bejahung, Vergöttlichung des Lebens. Wo der Formwille erlahmt, findet
der Philosoph Zeichen einer verarmenden Seele. (So in der Romantik.) Vom
klassischen Stil sagt er: »Das höchste Gefühl der Macht
ist konzentriert im klassischen Typus. Schwer reagieren: ein großes
Bewußtsein: kein Gefühl von Kampf« (Aph. 799 ).
(Ebd., S. 709).
Im vierten Buch, das die überschrift trägt »Zucht
und Züchtung« ( ),
wird das bruchstüdthafte des Ganzen noch mehr spürbar als in
den vorhergehenden Teilen. Mit dem Gefühl: Ich bin dazu gedrängt,
im Zeitalter des allgemeinen Stimmrechts die Rangordnung wiederherzustellen
(Aph. 854 ),
tritt Nietzsche an seine Aufgabe heran. Seine Kritik gewinnt eine geradezu
mathematische Präzision in dem Absatz, wo der Gegner als der »ökonomische
Optimismus« bezeichnet wird: mit den wachsenden Unkosten Aller (das
bedeutet: mit dem zunehmenden Komfort) wächst nicht auch der Nutzen
Aller, sondern im Gegenteil: die Unkosten Aller summieren sich zu einem
Gesamtverlust: der Mensch wird geringer (Aph. 866 ).
(Ebd., S. 709).
Als Nietzsche sein philosophisches Hauptwerk ankündigte,
schrieb er einmal, daß schon der Titel zum Fürchtenmachen sei.
Diese Bemerkung war schicksalhafter als er ahnte. (Ebd., S. 709).
Durch einen herausfordernden Titel wollte Nietzsche die geheimnisvolle
Tendenz in allem Werden bezeichnen, die von Gestalt zu Gestalt sich erhebend
in der Natur und in der Geschichte ihre Mächitigkeit erweist. Die
Inhalte der Begriffe Wert und Form sind in den Begriff »Wille zur
Macht« eingesffimolzen, denn Macht und Wert sind Wechselbegriffe:
»Wert ist das höchste Quantum Macht, das der Mensch sich einzuverleiben
vermag.« (Aph. 713 )
Leben ist der Zentralbegriff dieser Philosophie. Dem moralischen Begriff
der Selbstüberwindung zum Trotz definiert Nietzsche das Leben als
das, was sich immer selber »überwinden« muß. Selbstüberwindung
des Lebens durch sich elber ist ein anderes Wort für Metamorphose.
Wille zur Macht ist Metamorphose, von innen erlebt, als Bewegung vorgestellt.
(Ebd., S. 709-710).
Was bei Nietzsche Macht heißt, trägt in Goethes Lehre
von der Metamorphose den Namen Steigerung. Der »großen Spur«
zu folgen, auf der das Leben geht (Aph. 820 )
das ist es, was Nietzsche von Goethe gelernt hat. Aus einfamen Gestalten
erbaut die Natur verwerfend und umbildend immer rechere Gewächse.
In diesem Aufsteigen, in dieser Anamorphose erscheint der »Wille
zur Macht«. (Ebd., S. 710).
Nur eine kleine Änderung wird von Nietzsche an der Konzeption
der Goetheschen Morphologie angebracht. Sie betrifft die Hervorhebung
der Negation in den morphologischen Vorgängen. Im Gegensatz zu Goethe
hat Nietzsche den Blick. für das, was zum Übergang von einer
Form zur andern gehört: für das Zerbrechen, Fallenlassen, den
notwendigen Untergang des schon Erreichten. Vor den Untergängen hat
Goethe die Augen bewußt geschlossen. Mit der Übertragung der
Metamorphose auf die Welt des Menschen entsteht etwas neues: eine Anthropologie
und ein Bild der Geschichte, in welchem der Negation, der Verwandlung
und dem Untergang eine entscheidende Stelle zukommt. (Ebd., S. 710).
Je höher das Leben steigt, desto stärker und desto
reiner tritt das hervor, was Nietzsche den Willen zur Macht nennt. Dieser
Wille scheut den Untergang nicht es gibt Situationen, in welchen
er den Untergang will. »Wo es Untergang gibt und Blätterfallen,
siehe, da opfert sich Leben um Macht.« (Von der Selbstüberwindung ).
(Ebd., S. 710-711).
Goethe hat in Polarität und Steigerung »die zwei großen
Triebräder aller Natur« gefunden, wobei er die Polarität
der Materie, die Steigerung dem Geiste zuordnete. (An den Kanzler von
Müller, 24. Mai 1828.) Der Geist ist es, der von Gestalt zu Gestalt
fortgehend sich der Form des Menschen zubewegt. Durch Nietzsche wird die
Metamorphose gleichsam aus der Dimension des Raumes in die Dimension der
Bewegung versetzt. Er holt das dynamische Moment aus der »Steigerung«
hervor und potenziert es zur hödtsten Intensität, versetzt es
in ein Fluidum vibrierender Erregung und schmilzt so die Metamorphose
zu einer Metaphysik des ewig gestaltenden Werdens um. Damit wird er der
Schöpfer der letzten europäischen Metaphysik, der er den Namen
gibt: der Wille zur Macht. (Ebd., S. 711).
Der
Nachlaß und seine Kritiker
Nietzsches Nachlaß ist zum Verständnis seiner Philosophie
unentbehrlich. (Ebd., S. 712).
Im Jahre 1931 machte ich den Versuch, aus Nietzsches Nachlaß
herauszuholen, was mir biographisch oder philosophisch von Bedeutung zu
sein schien. Es entstand eine disponierte Auswahl, der ich den Nietzsche-Titel
gab. Die Unschuld des Werdens ( )
(KTA 82 und 83). .... In diesen Niederschriften werden noch einmal die
philosophischen Probleme behandelt, die den Willen zur Macht noch immer
für unss unerschöpflich machen: der interpretierende Charakter
des Geschehens, die Perspektive des Menschen, der Irrtum usw.. Das neue
ontologische Denekn Nietzsches gelangt in kostbaren Notizen zum Ausdruck.
Zum Beispiel: »Wir gehören zum Charakter der Welt, das ist
kein Zweifel! Wir haben keinen ZUgang zu ihr durch uns: es muß alles
Hohe und Niedrige an uns als notwendig ihrem Wesen zugehörig verstanden
werden!« (KTA 83, S. 108). (Ebd., S. 711).
Wie tief Schlechtas Verleugnung des Philosophen Nietzsche in
die Philologie hineinreicht, wird durch seine Behandlung des wichtigen
Aphorismus in Jenseits von Gut und Böse ( )
bewiesen, in welchem Nietzsche zum erstenmal öffentlich den Willen
zur Macht als die Formel seiner Philosophie bezeichnet (Aph. 36 ).
Es handelt sich um ein Meisterstück der Diplomatie. Der Philosoph
will mit dem Hauptgedanken herausrücken - aber wie kann er das in
einem bloßen »Vorspiel« ( )
und in der Maske eines »freien Geistes«? Wie weit ist die
»Philosophie der Zukunft« ( )
von dieser Maske entfernt? Die Lösung ist echtester Nietzsche: die
Philosophie des Willens zur Macht wird lediglich als eine Möglichkeit
hingestellt. So beginnt denn der verschlagene Stilist mit Sätzen
wie: »Gesetzt, daß« ( ),
fährt fort mit »ist es nicht erlaubt« ( ),
»man muß die Hypothese wagen« ( )
usw.. Der Schluß steht dementsprechend im Konjunktiv: »Die
Welt von innen gesehen ... sie wäre eben »Wille zur
Macht« und nichts außerdem« ( ).
(Ebd., S. 713-714).
Das Hauptthema im Conditionalis pianissimo vorgetragen
wie vertraut ist das jedem Leser Nietzsches! Was wird bei Schlechta aus
dieser anmutigen Einführung des Themas: »Das klingt für
einen Gedanken, der tragen soll, nicht sehr zuversichtlich.« (Der
Fall Nietzsche, S. 121 ).
Es ist mehr als ein bloßes Ausgleiten, wenn man ein Stilmittel als
eine sachliche Distanzierung im Hauptpunkt auslegt. »Erfreulicherweise«,
so meint Schlechta, wird bei dieser Einführung weniger behauptet
als erklärt, wie vorsichtig sei hier »unser Autor«. Wir
finden, daß unser Autor hier etwas mißhandelt wird. Der von
Schlechta beiseite geschobene Peter Gast hat einen der schönsten
Aphorismen Nietzsches an den Schluß des »Willens zur Macht«
gestellt. Und siehe da, hier findet sich der Indikativ, der von Schlechta
im »Jenseits« ( )
nicht ohne Befriedigung vermißt wurde. »Diese Welt ist der
Wille zur Macht -und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser
Wille zur Macht -und nichts außerdem!« ( ).
(Ebd., S. 714-715).
Die dionysische Welt des Willens zur Macht tritt uns Zug für
Zug als das negative Spiegelbild des teleologischen Harmonismus entgegen.
Was Nietzsche mit seinen Verneinungen bekämpft, ist die Ontologie
der Zwecke des weisen und gütigen Gottes, die er weder in der Natur
noch in der Geschichte finden kann. Zum Philosophen wird er dadurch, daß
er diese Ontologie bis in ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen
hinein verfolgt. Die naive Voraussetzung eines »an sich« der
Dinge und Prozesse wird von ihm unerbittlich zerstört. Es ist nicht
gleichgültig, daß Schlechta sich den Begriff des »Großen
Mittag« zu einer Analyse gewählt hat, der kein Bestandteil
des philosophischen Begriffsystems ist, sondern nur ein berauschendes
Bild. Solche Mißgriffe gehen letztlich auf eine falsche Auslegung
des Begriffs der Irrtümlichkeit im System des Willens zur Macht zurück.
Wenn Nietzsche sagt: es gibt nichts als perspektivische Schätzungen
und Scheinbarkeiten, so wird das von Schlechta so verstanden: alles ist
schwankend, alles ist Thesis, es gibt keine objektive sinnvolle Korrespondenz
zwischen uns und den Dingen und Verhältnissen (Nietzsches Werke
in drei Bänden, III, 1445 ).
Alle Aussagen Nietzsches jedoch über Irrtum und Scheinbarkeit richten
sich mit ihrer Spitze gegen das prätendierte »an sich«
der überlieferten Erkenntnistheorie. Wenn man diese Invektiven gegen
die »Wahrheit« richtig interpretiert, dann liest man sie als
Hinweise auf den Menschen, dessen »Perspektiven« aus dem Prozeß
der Erkenntnis nicht ausgeschaltet werden dürfen. Nur wenn man alles
Wahrnehmen und Erkennen auf ein der Welt entnommenes »Subjekt«
bezieht, ist alles wirkliche Erkennen des Menschen irrtümlich und
scheinbar. Wer in der Rückführung des Erkennens auf den Menschen
eine Minderung des Begriffs der Wahrheit, einen Übergang zum Relativismus
oder gar einen Schleichweg zum Nihilismus erblicken möchte, vergreift
sich an dem Willen zur Macht des Nietzscheschen Denkens, das nie etwas
anderes angestrebt hat als die Wiederherstellung des Menschen. Indem Nietzsche
den sinnlichen Menschen der Welt gegenüber bestehen läßt
und als Ganzes in den Erkenntnisprozeß einbezieht, gelangt er zu
neuen Vorstellungen von Wahrheit und Irrtum. Daß in seiner Erkenntniskritik
die negativen Ausdrücke überwiegen, kann den Philosophen nicht
wunder nehmen. In diesen Negationen kündigt sich der moderne Begriff
des Menschen an, der von den idealistischen Irrtümern der Vergangenheit
abgehoben wird. (Ebd., S. 715).
Alfred Baeumler
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