Warum ich doch recht habe
Mit einer Verzögerung von
einigen Monaten wurde dieses Papier, das unter dem redaktionellen Titel »Die
Revolution der gebenden Hand« erschienen war, von einem in jedem Sinn
des Worts aufgebrachten Leser zum Anlaß genommen, zu behaupten, der Verfasser
habe sich nun für immer aus dem Kreis der zurechnungsfähigen Zeitgenossen
verabschiedet. Der Angriff auf meine Thesen erfolgte in der ZEIT vom 24. September
2009 unter dem Titel »Fataler Tiefsinn aus Karlsruhe« . Er stammte
aus der Feder von Axel Honneth, einem Nachfahren der erloschenen Frankfurter
Schule. Ich habe darauf halbwegs gelassen, aber nicht ganz ohne Zuspitzungen
in der FAZ geantwortet. Dabei erläuterte ich meine Idee noch einmal, wonach
nur eine Ethik des Gebens die Stagnation der zeitgenössischen politischen
Kultur überwinden könnte. Aus der Erregung über meine mithilfe
der ZEIT-Feuilleton-Redaktion effektvoll verzerrten Thesen entwickelten sich mehrere
parallele Debatten, teils unter dem Stichwort »Klassenkampf von oben«,
was in meinen Augen eine eigenwillige Abschweifung vom Thema »Steuerreform
aus dem Geist des Gebens« bedeutete.Niemand hat je im Ernst geleugnet,
daß zu einer geordneten Staatlichkeit ein zuverlässiges Finanzwesen
gehört. Meine Anregungen tasten die Evidenzen nicht an. Was selbstverständlich
ist, soll selbstverständlich bleiben. Wären Steuern, wie manche sagen,
nichts anderes als der natürliche Preis des Glücks, in einem effizienten
Staat unter der Herrschaft des Rechts zu leben, so brauchte man über ihre
Begründung kein Wort zu verlieren obschon über ihre angemessene
Höhe zu streiten bliebe. Jedoch: Es gibt im Innersten des Selbstverständlichen
einen Komplex von Annahmen, die sich bei näherem Zusehen als ein völlig
unplausibles Konstrukt erweisen.Auf diese schwache Stelle zielt, was
ich im folgenden erläutern will. Wer dort genauere Sondierungen vornehmen
möchte, stößt fürs erste auf die Mauer der Tatsächlichkeit:
Der zeitgenössische Staat ist, wie jeder seiner mittelalterlichen und absolutistischen
Vorgänger, ein nehmender Staat, der vom Vermögen seiner Bürger
immer so viel abzieht, wie er nehmen kann, ohne öffentliche Unruhen zu provozieren.
Sollte man ihn mit der Frage konfrontieren, wie er sein nehmendes Benehmen rechtfertigt,
so wird man feststellen: Er begnügt sich damit, in Tautologien zu kreisen.
Er erhebt Steuern, weil es zum Staatsein gehört, Steuern zu erheben, und
er braucht das Geld, weil es keinen Staat gibt, der das Geld nicht braucht. Auf
diese eherne Logik kann der Bürger allein mit Fatalismus antworten. Den vernimmt
man in dem Seufzer des alten Benjamin Franklin: »Völlig sicher sind
auf dieser Welt nur zwei Dinge, man stirbt und man zahlt Steuern.«Bei
der Vereinnahmung von Gütern, die in den Fiskus neuzeitlicher Staatswesen
fließen, sind vier verschiedene Modi (vgl. 1.,
2., 3.,
4.) der Aneignung
und ebenso viele Optionen zur Begründung von Nehmer-Routinen in Ansatz zu
bringen:1.
»Plünderungen« in kriegerisch-beutemacherischer oder piratischer
Tradition ein Modus der Staatsbereicherung, der sich von den ersten Reichsbildungen
der Antike an über Jahrtausende bewährt hat und auch für die Gründungsphasen
frühmoderner Staatswesen typisch blieb. Die Bürger Roms waren über
Jahrhunderte hinweg völlige Steuerbefreiung gewohnt, weil die Plünderungspolitik
des sich ausdehnenden Reichs Abgaben im Inneren überflüssig machte.
Erst unter Augustus mußten die nicht mehr ausreichenden Plünderungen
an der Peripherie durch interne Steuern ergänzt werden.Die Wirksamkeit
dieses Verfahrens zur Füllung der Staatskasse reicht weit bis ins 20. Jahrhundert,
seine Popularität kann auch in »volksgemeinschaftlich« integrierten
Sozialstaaten zuweilen ein hohes Niveau erreichen. Dies hat Götz Aly in seiner
Untersuchung über Hitlers Volksstaat gezeigt .... Eine Prise Sozialismus,
eine Prise Rassismus, schon kommt der Plünderungsfiskus auch auf der Höhe
der Moderne in Schwung. Daß Formen der Bereicherung dieses Typs für
die heutige Bedarfsregelung von Steuerstaaten zumindest auf der Ebene diskursiver
Begründungen unannehmbar sind, bedarf keiner näheren Erläuterung.2.
»Auflagen« in autoritär-absolutistischer Tradition. Dies ist
der im frühneuzeitlichen Staat etablierte Modus einer regulär-bürokratischen
Fiskalität, die das Bürgertum und die ärmeren Schichten der Bevölkerung
gewohnheitsmäßig kräftig belastete, indes sie Adel, Klerus und
andere Privilegierte schonte. Die Legitimierung von Auflagen wurde anfangs oft
in der natürlichen Berufung der zum Dienen bestimmten Schichten gesucht und
nach kurzer Suche gefunden. Gleichwohl kommt es im Absolutismus schon zu Ansätzen
einer reziproken Bindung zwischen dem schützend-vorsorgenden Staat und einer
aus den Wohltaten der autoritär gewährten Ordnung Vorteile ziehenden
Zivilgesellschaft. Es entstehen die ersten Grundlagen einer transaktionalen Deutung
des Steuerwesens, wonach Steuern der gerechte Preis des Lebens in geordneten Verhältnissen
seien. Aus ihnen geht ein wesentlicher Teil der aktuellen Fiskalität hervor.Jedoch
ist auch diese autoritäre Tradition für eine demokratische Gesellschaft
letztlich inakzeptabel, weil sie zwar Elemente einer rational-reziproken Beziehung
impliziert, jedoch die Reziprozität einseitig von oben her gestaltet. Nach
einer demokratischen Metamorphose sollte der Staat seine Zugriffe auf Bürgervermögen
längst den postabsolutistischen Verhältnissen angepaßt haben
man würde dies daran erkennen, daß die faktisch gebende Seite auch
rechtens mehr als gebende denn als schuldende verstanden würde und daher
in alle Phasen des fiskalischen Prozesses angemessen involviert würde. Von
einem solchen Schritt in die steuerpolitische Moderne jedoch kann bis heute nirgendwo
die Rede sein. Das fiskalische Mittelalter (richtig muß
es heißen: der fiskalische Absolutismus der Neuzeit; HB)
ist nicht zu Ende. Nach Lage der Dinge sieht alles so aus, als solle das Fiskalsystem
direkt aus dem Absolutismus ins postdemokratische Zeitalter übergehen, ohne
je eine demokratische Phase gekannt zu haben.3.
»Gegenenteignung« in sozialistischer Tradition, ausgehend von der
populären Devise »Expropriation der Expropriateure«, mit welcher
die Linke des 19. Jahrhunderts ihr Verständnis des bürgerlichen Reichtums
als Resultat von »Ausbeutung der Werktätigen« zum Ausdruck brachte.
Wenn wirklich, wie Proudhon unter dem Beifall von Marx behauptete, Eigentum Diebstahl
ist, kann nur ein gut dosierter Gegendiebstahl das Mittel zur Behebung des Übels
sein. Die Legitimierung der staatlichen Zugriffe erfolgt hier durch den Imperativ
der Umverteilung eines Reichtums, vom dem nicht einzusehen sei, warum seine »kollektive
Erzeugung« durch seine »private Aneignung« dementiert werden
sollte. In sozialdemokratisierten Systemen wie dem der Bundesrepublik Deutschland
werden hohe Steuersätze als Erfolge der verteilenden Linken eingeschätzt,
während man niedere Sätze den Bestrebungen der raffenden Rechten zuordnet.Die
Legitimitätsbasis dieses Modells ist freilich seit je brüchig, da sie
von der sachlich wie ethisch problematischen Hypothese der »Ausbeutung«
der Arbeitnehmer durch den »Mehrwertdiebstahl« seitens der Unternehmen
abhängt. Weist man dieses vergilbte Dogma zurück, so ist der gängigen
Steuerbegründung sozialistischen Stils der Boden entzogen. Der Mythos vom
Diebstahl der Reichen an den Armen und vom moralisch legitimen Gegendiebstahl
des sozial engagierten Staats zugunsten der Benachteiligten hält in unseren
Breiten und unter heutigen Umständen der Überprüfung nicht stand.
Als Grundlage für eine steuerethisch reflektierte Rechtfertigung des staatlichen
Teilnehmens an den ökonomischen Erfolgen der Gesellschaft kommt diese Erklärung
nicht mehr in Betracht, so tief sie auch in unser »sozialistisches Unbewußtes«
eingegraben ist und so verzweifelt manche Bewohner des linken Antiquariats versuchen,
sie zu verteidigen.4.
»Spenden« in philanthropischer Tradition aufbauend auf der
christlichen, humanistischen, solidaristischen und volksmoralischen Überzeugung,
daß es den Habenden gut ansteht, den Nichthabenden und den Organisationen
ihrer Helfer einen angemessenen, also nicht unbedeutenden Teil ihrer Überschüsse
abzutreten: sei es aufgrund des Solidaritätsgefühls, das Erfolgreiche
an den Schicksalen der weniger Glücklichen Anteil nehmen läßt,
sei es aufgrund des »schlechten Gewissens«, das oft als moralischer
Schatten auf das Leben der Bevorzugten fällt.Spenden können
auch als Friedensprämie für eine von Ungleichheitskonflikten bedrohte
Gesellschaft verstanden werden oder als freiwillige Beiträge zur Kompensation
von Nachteilen, mit denen begabte Bewerber aus ärmeren Milieus um Aufstiegschancen
zu ringen haben. Schließlich sollen Spenden als reguläre Beiträge
zu anerkannten Gemeinschaftsaufgaben geleistet werden oder werden schlechthin
aufgrund der Genugtuung des Gebers über seine Großzügigkeit erbracht.
Ein Legitimitätsproblem bei der Annahme von Spenden durch den Staat tritt
hier nicht auf, viel eher stellt sich die Frage, was seitens des Empfängers
getan werden sollte, um solches Verhalten als ein allgemein nachahmenswertes Muster
privater Generosität in öffentlicher Perspektive zu popularisieren.Blickt
man auf diese Liste, die summarisch alle Modi der Staatsbereicherung erfaßt,
ist eines unmittelbar evident: Das aktuelle Fiskalsystem läßt sich
nur als ein in sich widersprüchliches Amalgam aus dem zweiten und dritten
Modus der Steuerrechtfertigung verstehen (vgl. 2.,
3.). Es ist zur
einen Hälfte nach wie vor autoritär-obrigkeitlich bestimmt und in der
»Auflagen«-Praxis vordemokratischer Staatswesen verankert was
sich nicht zuletzt in der Kontinuität der Finanzverwaltungen vom Spätabsolutismus
bis in die Gegenwart zeigt (vgl. 2.).
In seiner anderen Hälfte stützt es sich auf die Gegenenteignungslogik
des sozialistischen Umverteilungsdenkens, das es irgendwie geschafft hat, sich
mit den Versprechen der »sozialen Marktwirtschaft« zu verbinden (vgl.
3.). In ihrer
praktischen Fusion erzeugen die beiden steuerethischen Komplexe einen Block, der
für die gebende Seite keine andere Option als die Unterwerfung unter das
waltende Regime übrig zu lassen scheint.
Die Widersprüchlichkeit
zwischen der spätabsolutistischen und der semisozialistischen Steuermotivierung
wird durch den Umstand verdeckt, daß beide dank ihrer gemeinsamen latent
antidemokratischen Visionen von der Rolle der Staatlichkeit aufeinander zugehen
können. De facto kommen sie sich bis zur Verwechselbarkeit der Standpunkte
nahe: hier die altetatistische Konzeption des Staats als wohltätiger Ordnungsmacht,
die sich selbst autorisiert, indem sie vorgibt, von oben eingesetzt zu sein (vgl.
2.); dort die
neuetatistische Konzeption des Staats als moralisch autorisierter Agentur der
Umverteilung und der umfassenden sozialen Fürsorge (vgl. 3.).Was
man im aktuellen Zustand durchweg vermißt, ist die Bemühung um eine
Neubegründung der fiskalischen Transaktionen zwischen der gebenden Gesellschaft
und dem nehmenden Fiskus aus dem Geist der demokratischen Bürger-Allianz.
Als fehlende Größe kommt dies zu Bewußtsein, wenn man sich der
Mühe unterzieht, den Block der Selbstverständlichkeiten, auf dem unsere
Fiskalität beruht, hinsichtlich seiner Grundlagen zu befragen. Wer sich darauf
einläßt, bemerkt mit Erstaunen, daß es nicht die geringsten Ansätze
zu einer Neudeutung des Systems öffentlicher Finanzen von der Geberfunktion
der Zivilgesellschaft her gibt. Man denkt auch heute noch, sobald von Steuern
die Rede ist, so gut wie immer vom Bedarf des Staates aus und setzt seine Nehmer-Berechtigung
dogmatisch voraus. Im Steuersystem der Moderne überlebt der Absolutismus.
Vom Ohr der Steuerbehörden ist der Satz, wonach alle Gewalt vom Volke ausgehe,
nie gehört worden. Die Wahrheit des Finanzsystems heißt: Alle Gewalt
geht vom Fiskus aus. Weil souverän ist, wer über die Zwangsvollstreckung
entscheidet, ist der Fiskus der nicht deklarierte Souverän.Begriffe
wie »Volkssouveränität« und »Bürgermacht«
sind in diese Sphäre bisher nicht eingedrungen. Sogar die Idee einer nachträglichen
Kontrolle des Fiskus durch den Bürger steht nach wie vor auf schwachen Füßen.
Gewiß, wir schätzen den Bund der Steuerzahler, der sich immense Verdienste
erwirbt, indem er Jahr für Jahr dem Staat bei seinen Verausgabungen auf die
Hände schaut. Lobenswert ist auch die Tätigkeit der Rechnungshöfe.
Beiden Institutionen aber stehen bedauerlicherweise kein »Bund der Spender
für den Staat« und kein »Parlament der Geber« zur Seite.
Diese virtuellen Organe müßten sich für die Tätigkeiten der
Staatshand von der Seite jener »Einnahmen« her interessieren, die
in Wahrheit als solche noch nicht begriffene Gaben der Bürger an den Staat
darstellen.Solchen Einrichtungen fiele die psychopolitisch wichtige Rolle
zu, das Steuerzahlen zu deautomatisieren und aus dem Bereich der stummen Erduldungen
herauszuführen. Ihr Ziel wäre es, das große Einzahlen in die Staatskasse
als das explizit zu machen, was es in einer demokratischen Gesellschaft de
facto immer schon ist: kein Tribut von Unterworfenen an eine immer siegreiche
Obrigkeit, auch nicht eine einseitig festgesetzte, mit nebulösen Rechtsformeln
statuierte Schuld des Steueruntertanen gegenüber dem Leviathan, sondern eine
von Einsicht und generösem Beitragswillen getragene aktive Gebe-Leistung
zugunsten des Gemeinwesens seitens einer anteilnehmenden und anteilgebenden Bürgerschaft.Die
Deautomatisierung der fiskalischen Abläufe würde die Zurückdrängung
des zweiten und dritten Modus von Steuermotivierung nach sich ziehen (vgl. 2.,
3.) und unvermeidlich
den vierten Modus stärken (vgl. 4.).
Nur sie würde wohl aus dem fiskalischen Mittelalter (richtig
muß es heißen: dem fiskalischem Absolutismus der Neuzeit; HB) herausführen, in dem wir, wenn man es sich recht überlegt,
noch immer leben. Allein sie könnte das auf mentaler Ebene ebenfalls »mittelalterliche«
(richtig muß es heißen: »absolutistische«;
Anm .HB) Phänomen der Steuerflucht eindämmen, das ja nichts anderes
besagt, als daß zahlreiche Wohlhabende sich noch immer für Adlige halten,
die nicht einsehen, warum ausgerechnet sie für das Gemeinwesen etwas erübrigen
sollten über die Wohltat ihrer bloßen Gegenwart hinaus. Die
großen Steuerhinterzieher bringen ja durch ihr Verhalten zum Ausdruck, daß
sie nicht verstanden haben, auf welcher Geschäftsgrundlage sie dem Gemeinwesen
sechs-, sieben- oder achtstellige Euro-Beträge »schulden«
könnten. Hier böte sich die Gelegenheit, den subtilen Unterschied zwischen
einer »Schuld« und einer »imperativen Leistungserwartung«
zu diskutieren.Intuitiv mag evident sein, daß Wohlhabende auf ihre
Stärken angesprochen werden dürfen, wenn es um die Beschaffung von Mitteln
für Gemeinwesenaufgaben geht, doch von einer moralischen Intuition bis zur
Festsetzung einer vollstreckbaren Schuld ist es ein weiter Weg. An der Geste des
Spendens läßt sich hingegen ohne großen Aufwand zeigen, daß
sie die einzige Form von Zuwendungen an den Staat ist, die einer sich selbst ernst
nehmenden Bürgergesellschaft zu Gesicht stünde. Sie ist zugleich die
einzige Weise der Mittelausstattung des Staats durch seine Bürger, die sich
bei ihrer Begründung nicht in selbstsabotierende Inkonsequenzen verstrickt.Nur
wenn die Zuwendungen der Bürger an den Staat Spenden sind und nicht Schulden,
lassen sich die Absurditäten ausräumen, die sofort auftreten, wenn man
Steuern als Preise für Staatsleistungen oder als relativ gleichwertige Opfer
für das Gemeinwesen bestimmt. Diesem Gedanken widersetzt sich allein, wer
von vornherein auf eine rechtlich stichhaltige Steuerbegründung verzichtet.
Einen solchen Verzicht leistet gern, wer offen für die vorgeblich gutartige
Despotie des leviathanischen Wohlfahrtsstaats eintritt, und erst recht, wer in
der paranoischen Tradition des Marxismus die rechtsstaatlichen Verfassungen als
freiheitlich getarnte Herrschaftsapparate der Kapitalbesitzer »durchschaut«.Sobald
man der Auffassung zuneigt, der demokratische Rechtsstaat sei eine politisch-ethische
Struktur eigenen Werts und nicht nur die Maske von »Kapitalherrschaft«,
führt kein Weg daran vorbei, sich über die Möglichkeiten einer
Ausweitung des vierten Modus von Geben und Nehmen im Verkehr zwischen Staat und
Gesellschaft Gedanken zu machen (vgl. 4.).
Die erste Pflicht der Finanzminister wäre es dann, ihr Ressort als Seminar
für Geberbildung zu führen. Demokratie würde synonym mit einer
Schule der Großzügigkeit, und solange nicht Großzügigkeit
das primäre Merkmal einer Gesellschaftsform wäre, sollte man von Demokratie
nur mit Vorbehalt reden.Jacques Derrida hat nicht umsonst von der Demokratie
als einer politischen Lebensform gesprochen, die nur als »im Kommen«
vorgestellt werden dürfe. Demokratie ist nicht der Name einer vorhandenen
politischen Ordnung, sondern eine Richtungsangabe, die einer dynamisierten Gesellschaft
das Ziel ihrer ständigen endogenen Verwandlung nennt. Die Demokratie ist
ihre eigene Visionsquelle und bringt die Korrektive ihrer Zustände aus sich
selbst hervor. Wenn sich jedoch in einer Gesellschaft, wie es heute der Fall ist,
ein dumpfes Gefühl von Aussichtslosigkeit breitmacht, beweist dies nichts
anderes, als daß die Bürger schon allzu lange einer demoralisierenden
Mechanik ausgesetzt sind.In einer sich selber näher kommenden Demokratie
würde das Geben für überpersönliche Zwecke mit der Zeit aufhören,
nur als eine moralische Privatlaune zu gelten. Die Spender-Geste würde in
einer vom Geist der Gabe umgestimmten Gesellschaft nach und nach selbstverständlich
genug werden, um alles aufzubringen, was ein zeitgenössisches öffentliches
Finanzwesen zu seiner Konsolidierung braucht. Das Spenden fürs Gemeinwohl
müßte sich mit der Zeit in einen psychopolitischen Habitus verwandeln,
der die Populationen wie eine zweite Natur durchdringt und eine globale Umstimmung
der Gesellschaften in Richtung auf Empathie und materiellen Ausgleich bewirkt.
Der neue Habitus könnte nach und nach die Kräfte freisetzen, die nötig
wären, um die unwürdigen Relikte der spätabsolutistischen Staatskleptokratie
und deren Fortsetzung in der tief eingewurzelten Gegenenteignungslogik der klassischen
Linken durch eine demokratische Geberkultur zu überwinden.Sobald
man den Bürgern die Freiheit einräumte, einen Teil ihrer bisherigen
Steuerlast, und wären es anfangs nur einige Prozente der fiskalischen »Schuld«,
als frei adressierbare Gabe aufzubringen, würden sie aller psychologischen
Wahrscheinlichkeit zufolge aus ihrer Steuerduldungsstarre erwachen um nicht
zu reden von den unwürdigen Steuervermeidungsreflexen, um die unser durch
falsche Anreize pervertiertes Wirtschaftsrechtssystem konstruiert ist. Dieser
Effekt darf nicht mit der »Absetzung« von Spenden bei der Steuererklärung
verwechselt werden: Das neuartige generalisierte Spendensegment in der Pflichtsteuer
wäre keine Laune von hoch motivierten Einzelnen mehr, sondern würde
zu einem allen Steueraktiven garantierten Recht, gewisse Beträge aus ihrem
Steuerpensum an gemeinwohlrelevante Instanzen ihrer Wahl zu adressieren. Es geht
nicht um Steuersenkungen für geizige Wohlhabende, die dem Gemeinwohl den
Rücken gekehrt haben, sondern um die ethische Intensivierung und Verlebendigung
von Steuern als Gaben des Bürgers ans Gemeinwesen. Dies würde vor allem
dem Bildungswesen zugutekommen, zu dessen Priorität sich Politiker am Sonntag
bekennen, um es an Werktagen mit seinen Defiziten allein zu lassen.Was
die große Mehrheit der Kritiker meiner Thesen miteinander teilt, ist die
Überzeugung, es würde bei einer Umstellung der öffentlichen Haushalte
von Zwangssteuern auf freiwillige Bürgerspenden sofort zu einem Kollaps des
sozialen Lebens kommen.Diese Beobachtung kann als ein gesichertes Resultat
der Diskussion verbucht werden: Das Gros der Beiträger bekennt sich durch
seine Einlassungen zu einer überaus pessimistischen Ansicht über die
Natur des sozialen Zusammenhangs in unserem Gemeinwesen. Zwar lobt man die kommunikative
Kompetenz des Bürgers in hohen Tönen. Wenn es ans effektive Geben geht,
erlischt jedoch der Glaube an eine solche Kompetenz, und man stellt vorsorglich
von Kommunikation auf Konfiskation um. Die Mehrheit der Diskutanten geht davon
aus, die von ihnen unisono unterstellte kollektive Selbstsucht würde
sich sofort Bahn brechen, wollte man dem dubiosen Kollektiv der Steueraktiven
(den im Fiskaljargon so genannten »Leistungsträgern«) auch nur
für einen Augenblick die Freiheit lassen, selber zu entscheiden, ob sie etwas
für den Zusammenhalt des Gemeinwesens aufbringen wollen.Fast ausnahmslos
machen die Kommentatoren die Annahme, eine Geberkultur auf der Basis von Freiheit
und Freiwilligkeit könne bloß ein Patchwork aus Launen und Almosen
ergeben nichts jedoch, was einem Budget gliche, aus dem ein Staat wie der
unsere seine Aufgaben bestreiten könnte. Man sähe vermutlich ein paar
schöne Gesten, einzelne Geber täten sich durch aufsehenerregende Spenden
hervor, und einige Menschen guten Willens erbrächten wohl ihre regelmäßigen
Opfer, im großen und ganzen aber würde die Massenflucht vor dem Klingelbeutel
die Szene beherrschen. Unsere kritischen Kommentatoren, überwiegend Journalisten
und Sozialwissenschaftler altlinker, gelegentlich sogar altleninistischer und
paläomaoistischer Provenienz sie alle traten bei dem Schreckensbegriff
»Freiwilligkeit« die Flucht nach vorne an. Mit einem Mal bekannten
sie sich freimütig zum Zwang, weil der eben sein müsse, sobald es ums
Materielle geht, und noch einmal zum Zwang, da nur er die Staatsbürger auf
das Verhalten festlegen könne, das den Diskutanten als das einzig richtige
erscheint: die Unterwerfung unter den Oktroi von Abgaben.Nun könnte
man hypothetisch annehmen, diese Autoren hätten mit ihrem misanthropischen
Weltbild letztlich recht. Womöglich ist es wirklich so, daß sozialer
Zusammenhang in allen Gesellschaften jenseits einer gewissen Größe
nur durch äußere Gewalt und ihre Verinnerlichung entsteht. Hat nicht
Hobbes im Leviathan geschrieben: »Verträge ohne das Schwert sind bloße
Worte«? Also hängen wir letztlich nur durch die Furcht zusammen? Dann
dürfte man auch den Gedanken zulassen, man sei der Wahrheit am nächsten,
wenn man die unvornehmen Unterstellungen hinsichtlich der Beweggründe menschlichen
Verhaltens favorisiert: Angst, Gier und heimliche Lust an der Erniedrigung des
Mitmenschen?Dies zugegeben, könnte es erlaubt scheinen, diese »Gesellschaft
von Teufeln«, Kantisch klug und pädagogisch realistisch, auch steuergesetzlich
streng an die Kandare zu nehmen. Das alles gehört in einen Bezirk anthropologischer
Spekulation, über deren Legitimität oder Illegitimität nichts vorentschieden
ist. Dennoch möchte ich gleich erklären, warum ich diese allzu populäre
Anthropologie der primären Gier und die Überzeugung von der überwiegend
niederträchtigen Motiviertheit menschlichen Verhaltens (worin bürgerliche
Konservative und altgediente Linke längst konvergieren) für von Grund
auf falsch halte und nicht nur für falsch, sondern für ethisch
prekär und sozialklimatisch verheerend.Angenommen, meine Kritiker
seien, ihren offen bekundeten prosozialen und diskret prosozialistischen Optionen
zum Trotz, tatsächlich von solchen traurigen Ansichten über die menschliche
Natur eingenommen. Woher dann ihre Wut gegen die Erinnerung an die dennoch unbestreitbar
vorhandene generöse Komponente im menschlichen Seelenhaushalt, die nach allem,
was man weiß, noch vor dem Mitgefühl die stärkste Quelle aller
gebenden Haltungen darstellt? Woher die Aufgeregtheit, mit der man darauf besteht,
das Geben fürs Allgemeine sei nur dann ein richtiges Geben, wenn es unter
Zwang zustande kommt?In diesem Punkt zeigt sich die nicht überbrückbare
Differenz in den sozialanthropologischen Grundannahmen, die meine Überlegungen
von den Einwänden der meisten Kritiker trennen. Unsere »realistischen«
Freunde glauben ganz entschieden nicht daran, daß aus Freiwilligkeit in
sozialen Angelegenheiten je etwas Gutes und Verläßliches entsteht.
Diese Ungläubigkeit bewirkt, daß die Ungläubigen die reale Gegenthese
zu ihren Bekenntnissen bis heute nicht einmal bemerkt haben. Der kritische Punkt
meiner Überlegungen kommt in ihren Kommentaren nicht vor. Sie reagierten
fast durchweg mit der monotonen Unterstellung, daß der Autor des FAZ-Essays
nur eine heimtückische Form von Steuerersparnis für die Reichen in die
Debatte geworfen habe! Für diese Autoren sind freiwillig geben und wenig
geben synonym wobei sie sich wohl auf Selbstbeobachtungen stützen,
sind sie doch selbst Kinder des sozialpsychologischen Status quo, der in uns engherzige
Haltungen züchtet. Sie glauben: Der Hinweis auf Großzügigkeit
kann nur ein Sparprogramm bedeuten! Nur aufgrund dieser Unterstellung haben sie
sich geweigert, meine leitende Annahme zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn
zu referieren und gegebenenfalls mit Gründen zurückzuweisen.Die
prononciertesten Kritiker meiner Anregungen sind Partisanen eines »Realismus«,
der sich überschlau gibt und doch blind bleibt für die psychopolitischen
Wirklichkeiten in den modernen sozialen Systemen. Der vorgebliche Realismus flüstert
ihnen ein, der gesamte soziale Zusammenhang müßte sofort in Millionen
autistischer Gier-Atome zerfallen, sobald man den Bürgern mehr Freiheit in
der Gestaltung ihrer Gaben ans Gemeinwesen ließe. Sie denken noch immer
in den Klassenhaß-Stereotypen des 19. Jahrhunderts und der zwanziger, dreißiger
Jahre, wie sie nach 1967 vom leninistischen Flügel der Studentenbewegung
rezykliert wurden. Sie folgen den Bahnen einer falschen Soziologie, nach welcher
eine bürgerliche Gesellschaft nichts anderes sei als ein Mosaik aus Agenten
des Eigennutzes.Die traditionelle Sozialdemokratie liegt politisch und
ideell am Boden, weil sie in sozialethischer Hinsicht keinen neuen Gedanken zu
fassen vermochte. Sie war allzu lange unfähig, ihren Wortschatz zu erneuern.
Sie hat es nicht gelernt, das Wortfeld der Großzügigkeit in ihre Sprache
zu integrieren und die Verben des Gebens zu konjugieren. Sie ist in den zeitgenössischen
psychopolitischen Tatsachen nicht mehr zu Hause. In der alten Unzufriedenheit
bewegt sie sich weiterhin wie der Fisch im Wasser, doch auf dem Boden der gebenden
Tugenden humpelt sie. Ich wünschte, sie würde so bald wie möglich
wieder gehen lernen. Zu lange hat sie auf eine »realistische« Soziologie
und auf eine vom gutgesinnten Ressentiment diktierte Sozialphilosophie gehört.
Und je weiter man heute nach links schaut, desto reaktionärere Konzepte blicken
zurück. .... (Peter Sloterdijk, Warum ich doch recht habe, in:
Die Zeit, 02.12.2010 ).
Rückblick auf eine verzerrte Diskussion
Das politische
Feuilleton unserer Tage lebt davon, daß es in endlos variierten Formulierungen
vier Gemeinplätze umwälzt. Erstens: Die »Globalisierung«
unter neoliberaler Regie hat in letzten Jahrzehnten eine neue soziale Frage entstehen
lassen, die sich durch das immer stärkere Aufklaffen der Schere zwischen
Arm und Reich manifestiert im globalen Maßstab wie auf nationaler
Ebene; während die absolute Armut stellenweise zurückgeht, nimmt die
die relative Armut in den wohlhabenden »Gesellschaften« zu. Zweitens:
Die traditionelle Linke, die wesentlich Arbeiter- und Arbeitnehmerbewegung war,
ist tot und kehrt doch aufgrund der neuen Gegebenheiten als Interessenorganisation
der Prekären und Arbeitslosen wieder wobei ihre potentielle und reelle
Klientel das ärmere Fünftel der reichen »Gesellschaften«
umfaßt genug für eine Partei wie »Die Linke«, zu
wenig für eine Sozialdemokratie herkömmlichen Stils. Drittens: Die modernen
sozialen Systeme sprich die wohlfahrtsstaatlich organisierten Nationalstaaten
der Ersten Welt haben die Fähigkeit entwickelt, ihre früher so
genannten systemsprengenden »Widersprüche« in stimulierende Irritationen
umzuwandeln und aus internen Konflikten Anlässe zu systemstabilisierendem
»Lernen« zu machen sehr zur Enttäuschung derer, die ihre
Hoffnungen auf die »Krise«, die »Revolution«, die »Katastrophe«
oder das »Ereignis« setzten. Viertens: In einer Situation wie dieser
liegt die Chance des sozialen Protests fast ausschließlich in der Auslösung
von Skandalen daher ist der gute Gebrauch des Skandals eines der Mittel,
das utopische Potential der politischen Lebensform Demokratie am Leben zu halten.
Ich möchte mit der hier vorgelegten Dokumentation einiger meiner
Äußerungen zur aktuellen Debatte über die neue soziale Frage den
Vorschlag machen, diese Gemeinplätze und ihren inneren Zusammenhang anhand
eines plötzlich zum Politicum gewordenen Themas zu überprüfen:
Tatsächlich hatte ich und nicht nur beiläufig, sondern mit ernst
gemeinten Argumenten vor einiger Zeit angeregt, eine allmähliche Umwandlung
des bestehenden Steuersystems von einem bürokratisierten Ritual der Zwangsabgaben
in eine Praxis freiwilliger Bürgerbeiträge zum Gedeihen des Gemeinwesens
in Erwägung zu ziehen. Dieser Vorschlag mochte ungewöhnlich klingen,
er ergab sich jedoch mit zwingender Konsequenz aus den anthropologischen und moralphilosophischen
Überlegungen, denen ich mich seit einer Reihe von Jahren widme: Sie kondensieren
sich in der Empfehlung, die überzogene Erotisierung unserer von Aneignungsaffekten
dominierten Zivilisation durch eine stärkere Betonung der thymotischen, das
heißt stolzhaften und gebenden Regungen auszugleichen. Sollte ein Hauch
von Ironie an meinen Thesen zu bemerken gewesen sein, so wäre diese durch
eine berufsbedingte Selbstdistanz zu erklären. Ein Autor kann normalerweise
ziemlich gut einschätzen, wann er etwas von sich gibt, was aller Wahrscheinlichkeit
nach in den Wind gesprochen ist. Zumindest schien es mir so: Ohne den Beweis durch
die Tatsachen hätte es niemand, ich selbst zu allerletzt, für möglich
gehalten, daß eine Wortmeldung zu dem hierzulande seit Jahrzehnten monoton
diskutierten Komplex der unumgänglichen und doch unmöglichen »Steuerreform«
überhaupt jemals noch Aufmerksamkeit erregen werden könnte. Genau
dieses jedoch geschah infolge eines kompakten Essay, den ich am 13. Juni 2009
zu der von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lancierten Serie von Äußerungen
zum Thema »Die Zukunft des Kapitalismus« vorgelegt hatte die
Reihe als ganze erschien vor etwa einem halben Jahr als ein Buch der Edition Suhrkamp.
Mit einer Verzögerung von wenigen Monaten wurde dieses Papier, das unter
dem redaktionellen Titel »Die
Revolution der gebenden Hand« erschienen war, von einem in jedem Sinn
des Worts aufgebrachten Leser zum Anlaß genommen zu behaupten, der Verfasser
habe sich nun für immer aus dem Kreis der zurechnungsfähigen Zeitgenossen
verabschiedet. Der Angriff auf meine Thesen erfolgte in einer Ausgabe der ZEIT
im September 2009 unter dem (wohl ebenfalls redaktionellen) Titel »Fataler
Tiefsinn aus Karlsruhe«. Er stammte aus der Feder von Axel Honneth, eines
Nachfahren der erloschenen Frankfurter Schule ich habe darauf halbwegs
gelassen, aber nicht ohne Zuspitzungen, mit einer kurzen Replik in der FAZ geantwortet.
Dabei erläuterte ich meine Idee noch einmal, wonach nur eine Ethik des Gebens
die Stagnation der zeitgenössischen politischen Philosophie und der politischen
Kultur als solcher überwinden könnte. Aus der Erregung über
meine mit Hilfe der ZEIT-Feuilleton-Redaktion effektvoll verzerrten
Thesen entwickelten sich mehrere parallele Debatten, die in einigen Tages- und
Wochenzeitungen über ein paar Monate am Leben gehalten wurden teils
unter dem Stichwort »Klassenkampf von oben« (was in meinen Augen eine
ziemlich eigenwillige Abschweifung vom Thema »Steuerreform aus dem Geist
des Gebens« bedeutete), teils in Form von Beiträgen zu einer Standortbestimmung
einer aktuellen Linken was ich weiterhin für eine produktive Fragestellung
halte, obschon mir, gleich vielen Zeitgenossen, nicht entgangen ist, wie wenig
die herkömmliche Links-Rechts-Unterscheidung zum Verständnis der heutigen
sozialen Verwerfungen beiträgt. Ich hatte von der Bedeutung der Großzügigkeit
für die Demokratie sprechen wollen, um den Weg zu einem empathisch umgestimmten
Gemeinwesen anzudeuten die Mehrheit der Kommentatoren hatte jedoch entschieden,
meine Thesen so zu verstehen, als hätte ich unter dem Stichwort »Freiwilligkeit«
eine Steuersenkung für die Reichen gefordert. Ich hatte von einer Intensivierung
des Gemeinsinns durch die erweiterte Spendentätigkeit gehandelt, meine Kritiker
hingegen wollten in diesen Überlegungen gefährliche Lockerungsübungen
erkennen, die auf nicht weniger als die Zerstörung des Sozialstaats zielen.
Damit die Komik zu ihrem Recht kommt, erwähne ich die von einem fröhlichen
Blogger aufgebrachte Idee, ich hätte mich mit meinem Essay um die Mitgliedschaft
bei den Freien Demokraten beworben. Wer Geschmack an der Groteske hatte, wurde
bestens bedient durch die von einem irregeführten Honneth-Leser aufgestellte
These, ich hätte zum »antifiskalischen Bürgerkrieg« aufgerufen.
Sogar wer auf Delirien Lust hatte, sollte auf seine Kosten kommen: Unter dem Datum
vom 21. Januar 2010 las man in der ZEIT eine Verdrehung meiner Thesen, die auch
hohe Erwartungen ans Kabarett aus der Anstalt erfüllte: Ein bieder entsetzter
Feuilletonist behauptete mit gut gespielter Sorge um den Zustand der Republik,
ich hätte die Bettelei befürwortet, als ich den Vorschlag machte, die
Fiskalität durch den Einbau freiwilliger Elemente in sie zu reformieren!
Solche Kuriosa erwähnt man nur, wenn sie zur Sache gehören: Wer in dem
heutigen stark re-ideologisierten intellektuellen Feld der Bundesrepublik Deutschland
den Versuch unternimmt, eine Programmatik für eine parteilich-überparteilich
zukunftweisende Finanz- und Sozialpolitik im 21. Jahrhundert zu definieren, die
mit dem Vorschlag verbunden ist, endlich auch die Wohlhabenden zu integrieren
und die Gemeinwohlidee nicht mehr bloß durch erzwungene Umverteilung zu
sichern, sondern in einer Ethik des Gebens auf breitester Basis zu begründen,
muß sich auf Widerstand seitens der Verteidiger von hundertjährigen
Klischees gefaßt machen. Debatten enden hierzulande in der Regel
damit, daß das Publikum seine von den Medien permanent umworbene Aufregungsbereitschaft
nach kurzer Zeit anderen Themen zur Verfügung stellt. Am Ende siegt regelmäßig
die Erschöpfung über das Lernen. Der demokratische Gebrauch der Aufregung
bestünde im vorliegenden Fall darin, gewisse Thesen, die, zum Halbsatz verkürzt,
provokativ und abwegig erscheinen im richtigen Zusammenhang gesehen
zu weiterwirkenden Anregungen umzuwandeln. Die hier zusammengestellten Dokumente
sind als Beiträge des Autors zu einem Diskussionsexperiment zu lesen, das
über die Entstellungen und Projektionen hinausführt, wie sie in vielen
Artikeln des vergangenen Jahres zutage kamen. Ich möchte meine konfliktträchtige
These noch einmal erläutern, wonach in einer demokratischen Gesellschaft
Steuern aus Zwangserhebungen in freiwillig erbrachte Bürgerspenden für
das Gemeinwesen umgewandelt werden sollten für eine Anfangszeit zu
bescheidenen Prozentsätzen, später in höheren Proportionen. Nur
eine solche Transformation und ein entsprechendes Umdenken, behaupte ich, könnte
die in Routinen der Staatsverdrossenheit erstarrte »Gesellschaft«
reanimieren und einen neuen Hauch von Gemeinwesenbewußtsein in die selbstbezüglich
gewordenen Funktionssysteme tragen. Eine Wiederbelebung dieser Art käme einer
Kehre gleich, die unserem entgeisterten politischen Betrieb eine moralisch anspruchsvolle
Alternative zum visionslosem Weitermachen im Gewohnten aufzeigt. Natürlich
wäre es naiv, von einer Neubestimmung der Gemeinwesenfinanzierung all die
Effekte zu erwarten, die sich die Wohlmeinenden von einem Konzept wie »soziale
Gerechtigkeit« oder gar von der Utopie einer »post-kapitalistischen«
Wirtschaftsweise versprechen. Gleichwohl bin ich der Überzeugung, eine tief
ansetzende Neu-Ausrichtung der Steuertätigkeit könnte einen wichtigen
Schritt in die gute Richtung bewirken. Zu diesem Zweck ist es keineswegs nötig,
erneut den »Geist der Utopie« zu beschwören oder hilflose Großbehauptungen
wie un altro mondo è possibile zu wiederholen. Es sollte genügen
zu zeigen, daß eine andere Idee von Steuern möglich ist und
daß von einer entsprechenden alternativen Praxis weitreichende Impulse zur
Revitalisierung des Gemeinwesens ausstrahlen. Über die Chancen für die
rasche Akzeptanz meiner Überlegungen machte ich mir von vorneherein wenig
Illusionen. Auch ich weiß, was systemische Trägheiten sind. So gut
wie jeder andere bin ich mit dem Phänomen vertraut, daß eingeschliffene
Vorurteile um ihr Überleben kämpfen, und das steuerpolitische Vorurteil
hat sieben Leben. Dennoch scheint es mir nötig, die Fragwürdigkeit,
mehr noch, die Destruktivität des herrschenden Zwangssteuersystems zu verdeutlichen,
um von der babylonischen Irrationalität seiner Ausgestaltung in unserem Land
zu schweigen. Ich lege dem Publikum insgesamt ein gutes Dutzend Dokumente
aus jüngerer Zeit vor den eben genannten FAZ-Aufsatz und eine Reihe
von Interviews und Statements, mehrheitlich aus dem letzten und vorletzten Jahr,
in denen ich auf Fragen von Journalisten zum aktuellen Thema und zum Umfeld der
weltweiten Finanz- und Moralkrise der Gegenwart antworte. Mir schien es plausibel,
einige Gespräche in die Sammlung einzuschließen, die einen weiteren
thematischen Fokus aufweisen und auch von anderen Sorgen als von der besseren
Begründung der Steuern handeln. Sie führen aufs Feld der allgemeineren
Zeitdiagnostik, sie enthalten Verständigungen über aktuelle Trends der
»Weltgesellschaft«. Vor allem zeigen sie, wie das in meinen Büchern
des letzten Jahrzehnts stets präsente Motiv einer Psychopolitik der Großzügigkeit
von vorneherein in den Horizont einer Ethik der Gabe eingebettet ist. (Peter
Sloterdijk, www.petersloterdijk.net, Dezember 2010 ). |