Lob, Kritik, Skepsis.
Einleitung.
Martin Heidegger gilt (neben Hermann F.-H. Schmitz [**])
als der größte Philosoph des 20. Jahrhunderts, und das zu Recht.
Zusätzlich ist er als der erste Chirotopologe der Menschheitsgeschichte
und der erste Ökosoph der Menschheitsgeschichte zu bezeichnen, ja
auszuzeichnen. Im Gegensatz zu allen heutigen Philosophen, Wissenschaftlern
Theoretikern und Parktikern, die sich mit dem Thema Existenz bei allernächster,
nächster und nicht mehr so naher Umwelt beschäftigen, war
er der einzige, der es sehr gründlich und ernsthaft durchdachte und
dabei ehrlich blieb. Heidegger hat sich nie vor den Karren der Ökobewegung
spannen lassen (wenn man von der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei
einmal absieht, denn die war ja auch eine Ökobewegung). Ich
habe ... schon früh in Heidegger den eigentlichen Begründer
der »grünen« Bewegung gesehen, denn er war ja zumindest
auch ein Philosoph des Umweltschutzes oder der Umweltbewahrung (**)
, so der Heidegger-Schüler Ernst Nolte
und auch Peter Sloterdijk,
denn für ihn ist Heidegger als der erste Chirotopologe
(**)
auch der erste Ökologe (**)
bzw. der erste Ökosoph (**).
Er hat explizit gemacht: Weil die Menscheninsel (**)
ein Chirotop ist, wo kluge Hände mit Zeug (**)
zurechtkommen, sind die Insulaner manipulative Realisten und luxurierende
Treibhausgeschöpfe zugleich. (**).
Logisch: aktiv sind sie Belastende und Entlastende, passiv sind sie Belastete
und Entlastete. Auf der einen Seite bewähren sie sich als werkzeugbewehrte
Überlebenskämpfer, erfolgsbewußte Kooperateure, listige
Plänemacher; auf der anderen sind sie für immer entwaffnete
Nestbewohner, zitternde Ekstatiker, erwachsene Föten, die in die
Weltnacht horchen und Götterbesuch empfangen. (**).
Sloterdijks 1. Chirotopologe und 1. Ökologe bzw. 1. Ökosoph
Heidegger kann deswegen zugleich auch als der größte
Denker Alteuropas (**)
gelten, weil er die Tradition, den Bruch und als Synthesis auch
die Rettung so sehr in sein riesenhaftes Werk (**)
integrierte, daß nach ihm diesbezüglich fast nichts mehr zu
sagen übrig bleibt. Man muß sich mit Heidegger auseinandersetzen
- ob man will oder nicht, ist egal, denn man kommt an ihm nicht vorbei.
Und: Eine Welt ohne Wohner wäre eine Welt ohne Schoner, eine Welt
ohne Bauern und Techniker wäre wie eine Welt ohne Bodenbau und Überbau,
ohne Leben und Überleben.
Biographie.
Martin
Heidegger
|
1. Stadium
(Winter) |
2. Stadium
(Frühling) |
3. Stadium
(Sommer) |
4. Stadium
(Herbst) |
Vor-/Urdenken:
Heideggers
Vor-/Urphilosophie |
Frühdenken:
Heideggers
Frühphilosophie |
Hochdenken:
Heideggers
Hochphilosophie |
Spätdenken:
Heideggers
Spätphilosophie |
(Dauer: 20
Jahre) |
(Dauer: 18
Jahre) |
(Dauer: 18
Jahre) |
(Dauer: 31
Jahre) * |
1889 bis
1909 |
1909 bis
1927 |
1927 bis
1945 |
1945 bis
1976 * |
Geburt
(26.09.) |
SEIN
UND ZEIT |
Tod
(26.05.) |
Übergang
Schule / Studium |
| |
Verbindung
nach Frankreich |
Frühe
Kindheit |
Grund-
schule |
Bürgeschule
und Gymnasium |
1909
- 1913 |
1913
- 1919 |
1919
- 1927 |
1927
- 1933 |
1933
- 1939 |
1939
- 1945 |
1945
- 1949 |
1949
- 1951 |
1951
- 1976 * |
|
* 6 Jahre Winter
(1965-1976)
(5. Stadium)
Martin Heidegger wurde am 26.09.1889 in Meßkirch geboren, war als
Kind auch ein Läuterbub der dortigen katholischen Kirche, besuchte
das Gymnasium in Konstanz, wo er im katholischen Internat (Konradihaus)
wohnte, und in Freiburg, hier im erzbischöflichen Konvikt.
1909 begann er mit dem Studium der Theologie und Philosophie in Freiburg,
brach 1911 die Priesterausbildung ab, studierte weiterhin Philosophie
sowie Geistes- und Naturwissenschaften in Freiburg. Heidegger promovierte
1913 mit der Dissertation Die Lehre vom Urteil im Psychologismus
(**)
und habilitierte sich 1915 mit der Arbeit Die Kategorien- und Bedeutungslehre
des Duns Scotus (**).
Das Habilitationsverfahren endete am 27. Juli 1915 mit der Probevorlesung
über den Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft (**).
Von nun an war er Privatdozent (bis 1923). Im Dezember 1915 lernte er
in seinem Seminar Prolegomena Elfride Petri (1893-1992) kennen,
mit der er sich im März 1916 heimlich, im August 1916 (auf der Insel
Reichenau) offiziell verlobte, im März 1917 vermählte (20. März:
Kriegstrauung im Standesamt Freiburg; 21. März: Katholische Trauung
in der Universitätskapelle im Freiburger Münster ohne Eltern;
25. März: Evangelische Trauung in Wiesbaden mit Hochzeitsfeier ohne
Brautvater und ohne Bräutigameltern). Am 1. Januar 1919 wurde er
Husserls Privatassistent. Während seiner in der Eigenschaft als Husserls
Privatassistent ersten Vorlesung (Die Idee der Philosophie und das
Weltanschauungsproblem [**])
vollzog er den endgültigen Bruch mit dem Katholizismus. Schon am
9. Januar 1919 schrieb er seinem Freund aus katholischen Tagen, Engelbert
Krebs, der inzwischen Professor für katholische Dogmatik in Freiburg
geworden war:
Die vergangenen zwei Jahre,
in denen ich mich um prinzipielle Klärung meiner philosophischen
Stellungnahme mühte ..., haben mich zu Resultaten geführt,
für die ich, in einer außerphilosophischen Bindung stehend,
nicht die Freiheit der Überzeugung und der Lehre gewährleistet
haben könnte. Erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend
auf die Theorie des geschichtlichen Erkennens haben mir das System
des Katholizismus problematisch und unannehmbar gemacht - nicht
aber das Christentum und die Metaphysik, diese allerdings in einem
neuen Sinne. Ich glaube zu stark ... empfunden zu haben, was das
katholische Mittelalter an Werten in sich trägt. .... Meine
religionsphänomenologischen Untersuchungen, die das Mittelalter
stark heranziehen werden, sollen ... Zeugnis davon ablegen, daß
ich mich durch eine Umbildung meiner prinzipiellen Standpunkte nicht
habe dazu treiben lassen, das objektive vornehme Urteil und die
Hochschätzung der katholischen Lebenswelt einer verärgerten
und wüsten Apostatenpolemik hintanzusetzen. .... Es ist schwer
zu leben als Philosoph - die innere Wahrhaftigkeit sich selber gegenüber
und mit Bezug auf die, für die man Lehrer sein soll, verlangt
Opfer und Verzichte und Kämpfe, die dem wissenschaftlichen
Handwerker immer fremd bleiben. Ich glaube, den inneren Beruf zur
Philosophie zu haben und durch seine Erfüllung in Forschung
und Lehre für die ewige Bestimmung des inneren Menschen - und
nur dafür das in meinen Kräften Stehende zu leisten
und so mein Dasein und Wirken selbst vor Gott zu rechtfertigen. |
|
 |
Am 21. Januar 1919 wurde Heideggers Sohn Jörg, am 20. August 1920
sein Stiefsohn Hermann geboren, ein Kind aus einer Beziehung von Elfride
und dem Arzt Friedrich Caesar.
|
|
Die Hütte nahe Todtnauberg im Schwarzwald wurde 1922 gebaut und bezogen.
Im selben Jahr erregten Heideggers Aristoteles-Interpretationen (vgl.
Heideggers Werk Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles,
1923) großes Aufsehen in Marburg. Seine 1923 vollzogene Hinwendung
zu Kant und der sogenannte Natorp-Bericht, adressiert an den
renommierten Marburger Neukantianer Paul Nartop, in dem Heidegger seine
Frühphilosophie und die Klärung der hermeneutischen Situation
der Zeit in eine vorläufige Letztfassung brachte, waren es
denn auch, die zu seiner Berufung nach Marburg und zu einem vielbeachteten
Zeugnis seines Denkaufbuchs führten: Er wurde 1923 ordenlicher Professor
ad personam auf dem außerordenlichen Lehrstuhl für Philosophie
der Universität Marburg. Zu dieser Zeit begründete Heideggers
Ontologie-Vorlesung seinen Ruf als heimlicher König der Philosophie.
Am 2. Mai 1924 starb sein Vater, Heinrich Heidegger (1851-1924), am 3.
Mai 1927 seine Mutter, Johanna Heidegger, geborene Kempf (1858-1927).
Nachdem Nicolai Hartmann 1925 eine Berufung nach Köln angenommen
hatte, dadurch sein ordentlicher Lehrstuhl für Philosophie in Marburg
frei geworden war, Heidegger für die Nachfoge Hartmanns vorgeschlagen
worden war, das Ministerium in Berlin diese aber abgelehnt hatte, weil
für sie »große literarische Leistungen (Minister
Becker) Heideggers noch ausgeblieben waren (**),
der sich auf diesen ordentlichen Lehrstuhl Hoffnungen machende Heidegger
also Grund hatte, sich zumindest in dieser Hinsicht unter Druck zu sehen
(trotz seiner diesbezüglich eher entgegengesetzten Aussagen [**]),
erschien im Frühjahr 1927 das Werk Sein und Zeit, das sich
als Heideggers Hauptwerk herausstellen sollte, in dem von Husserl herausgegebenen
Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung
(Band VIII), wodurch das Ministerium in Berlin überzeugt wurde und
der Noch-Außerordentliche Heidegger den ordentlichen Lehrstuhl für
Philosophie in Marburg erhielt. Und schon ein Jahr später, 1928,
erfolgte die Berufung an den ordentlichen Lehrstuhl für Philosophie
der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg sowie der Einzug (20.
Oktober) in das nach sechs Monaten Bauzeit bezugsfertige eigene Haus in
Freiburg-Zähringen (Rötebuckweg 47).
Während der Davoser Hochschulkurse im Frühling 1929, bei denen
das Thema Kant und das Problem der Metaphysik im Mittelpunkt
stand, kam es zu einem Streitgespräch zwischen Heidegger und Ernst
Cassirer, der kurz danach das Rektorat der Universität Hamburg übernahm
(der erste Jude als Rektor einer deutschen Universität). Am 24. Juli
1929 hielt Heidegger seine Antrittsvorlesung in Freiburg unter dem Titel:
Was ist Metaphysik?. Im Wintersemester 1929/30 hielt
er die bekannte Vorlesung über die Grundbegriffe der Metaphysik,
die später von so manchem Interpreten als ein zweites Hauptwerk
(**)
bezeichnet werden sollte.
1930 lehnte Heidegger den Ruf nach Berlin ab (1. Ablehnung). Das Jahr
1930 sollte später von nicht wenigen Deutern als der Beginn von Heideggers
Spätwerk angesehen werden, weil Heidegger in der 1930er Schrift
Vom Wesen der Wahrheit nicht mehr wie vorher das Dasein als
konstituierenden Ort der Wahrheit betrachtete, sondern ein Seinsverständnis
vertrat, außerdem die wachsende Heimatlosigkeit des moderenen Menschen
in der Seinsvergessenheit zum Ausdruck brachte. Am 21. April 1933 wurde
Heidegger zum Rektor der Universität Freiburg gewählt. Am 3.
Mai 1933 trat er der NSDAP bei (rückdatiert auf den 1. Mai 1933),
von der er den Neubeginn des deutschen Schicksals erwartetete
und am 27. Mai 1933 für seine Antrittsrede einen zu dieser Erwartung
passenden Titel wählte: Die Selbstbehauptung der deutschen
Universität. In dieser Rede zog er Parallelen zwischen dem
Dienst des Gelehrten am Wissen, dem Dienst des Soldaten im Heer
und dem Dienst des Arbeiters in der Produktionsstätte. Den
zweiten Ruf nach Berlin lehnte er im Oktober 1933 ab (2. Ablehnung), kurz
danach auch einen Ruf nach München. Im April 1934 erfolgte Heideggers
Rücktritt vom Rektorat wegen der Differenzen mit den Regierungs-
und Parteistellen und der Fakultät und nicht zuletzt deswegen eine
erneute völlige Hinwendung zur Philosophie sowie die Ausarbeitung
von Plänen für eine Dozentenakademie in Berlin. Der Kontakt
zu Karl Jaspers, den Heidegger 1933 zum letzten Mal besucht hatte, wurde
1936 auch auf der Briefebene beendet. Seit 1936 setzte sich Heidegger
in mehreren Nietzsche-Vorlesungen kritisch mit dem Nationalsozialismus
auseinander, was der Regierung nicht entgehen konnte, weshalb sie veranlaßte,
ihn von der Gestapo überwachen zu lassen. 1936 begann auch seine
Ausarbeitung der Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis),
die 1938 abgeschlossen wurde; diese erst sehr viel später als Buch
veröffentlichten Beiträge sollten später oft
als sein zweites Hauptwerk (**)
bezeichnet werden (vgl. dazu: die im Wintersemester 192930 gehaltene
Vorlesung Grundbegriffe der Metaphysik, die auch sehr viel
später als sein zweites Hauptwerk bezeichnet werden sollte).
Im November 1944 wurde Heidegger zum Volkssturm eingezogen.
Mao Tse ist das Gestell von Lao Tse.
(Fritz Heidegger [Martins Bruder]).
|
|
1945 erhielt er Lehrverbot. Es wurde nach vier Jahren, 1949, aufgehoben.
1950 erfolgte die Pensionierung, 1951 die Emeritierung, 1955 die erste
Reise nach Frankreich, 1957 die Aufnahme in die Heidelberger Akademie
der Wissenschaft und in die Berliner Akademie der Künste, 1959 die
Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Meßkirch. Die Zusammenarbeit
mit dem Psychiater Mesard Boss begann 1959 (vgl. die Zollikoner
Seminare, 1959-1969). Seine seit einiger Zeit bereits geplante Reise
nach Griechenland, die er bislang stets aufgeschoben hatte, erfüllte
sich Heidegger erstmals 1962 (drei weitere Reisen sollten noch folgen:
1964, 1966, 1967). Am 26. Mai 1976 starb Martin Heidegger. Zwei Tage später
wurde er in seinem Geburtsort Meßkirch beerdigt (**).
|
 |
In Heideggers philosophischem Werdegang sehen manche einen Weg von
der Entschlossenheit zur Gelassenheit, andere
einen Weg von der Fundamentalontotogie bzw. Daseinsanalyse zur Seinsgeschichte,
wieder andere in Heidegger selbst ein Getrennt(worden)-Sein in Heidegger
I und Heidegger II - in all diesen Fällen wird
darum oft auch eine persönliche Kehre Heideggers
angenommen, obwohl diese Kehre nach Heideggers eigenem Bekunden eher sachlich
als persönlich zu verstehen ist (**). Ich jedenfalls
deute Heideggers Hauptwerk als den Höhepunkt seiner Philosophie bzw.
seines Denkens, und zwar trotz der Möglichkeit, daß es während
dieser Entwicklung auch eine Kehre gegeben haben kann, z.B. ausgelöst
durch entweder jene im Wintersemester 1929/30 gehaltene Vorlesung
Grundbegriffe der Metaphysik (Heideggers zweites Hauptwerk?
**)
oder aber jene von 1936 bis 1938 enstandenen Beiträge zur Philosophie
(Heideggers zweites Hauptwerk? **).
Es ist auch schwierig zu entscheiden, ob man sich bei der Beurteilung
über diese Entwicklung mehr auf die Person als auf die Sache oder
mehr auf die Sache als auf die Person beziehen soll, zumal man hierbei
mit Kausalität oft gar nicht weiterkommt, denn die Person war ja
schon da, als die Sache ihr begegnete, und die Sache war ja schon da,
als die Person ihr begegnete. - Heideggerianisch war diese Aussage?
|
Zur Frage, ob das Hauptwerk (Sein
und Zeit) aus einem Werk oder mehreren Werken besteht |
Zur Frage eines zweiten Hauptwerks |
Nur ein Werk |
Zwei Werke |
Drei Werke |
Nur ein Hauptwerk |
Zwei Hauptwerke |
Sein und Zeit *
|
1) Sein und Zeit
2) entweder (a) Kant und das Problem der Metaphysik
oder (b) Die Grundbegriffe der Metaphysik.
Welt - Endlichkeit - Einsamkeit |
1) Sein und Zeit
2) Kant und das Problem der Metaphysik
3) Die Grundbegriffe der Metaphysik.
Welt - Endlichkeit - Einsamkeit |
Sein und Zeit * |
1) Sein und Zeit
2) Beiträge zur Philosophie
(Vom Ereignis) |
* Ein Teil (Buch) - ursprünglich beabsichtigt
waren zwei Teile (Bücher). Der 1.Teil
(das bekannte 1. Buch, 1927) ist unabgeschlossen geblieben, weil
der dritte Abschnitt fehlt,
jedoch können Grundzüge und Ansätze dazu aus anderen
Veröffentlichungen ersehen werden (vgl. z.B. Die Grundprobleme
der Phänomenologie, 1927, und Metaphysische
Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, 1928).
Der 2. Teil (das 2. Buch) fehlt ganz, obwohl die Titel seiner drei
Abschnitte im 1. Teil (1. Buch) angekündigt sind.
|
Was die Frage nach Heideggers Hauptwerk (Sein und Zeit) und der
Möglichkeit eines zweiten Hauptwerkes angeht, so möchte ich
anmerken, daß (a) das 1929 erschienene Kant-Buch (Kant und das
Problem der Metaphysik) und die als Buch veröffentlichte Vorlesung
vom Wintersemester 1929/30 (Die Grundbegriffe der Metaphysik.
Welt - Endlichkeit - Einsamkeit) das Hauptwerk ergänzen, dem
ja sein zweiter Teil (die zweite Hälfte, so Heidegger
in der Vorbemerkung von Sein und Zeit) fehlt und eventuell auch ein dritter
Teil hinzugefügt werden darf, und daß (b) das 1936 bis 1938
erstellte Beiträge-Buch (Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis))
durchaus als ein zweites Hauptwerk angesehen werden kann. Im Grunde genommmen
ist es aber nicht besonders wichtig, eine derartige Zuordnung und Bewertung
vorzunehmen. Auch die Frage nach einer persönlichen Kehre
(**)
oder nach dem Entschlossenheits-Heidegger und dem Gelassenheits-Heidegger
oder gar nach Heidegger I und Heidegger II
erachte ich als nicht besonders wichtig. Trotzdem bleibt festzuhalten:
Sein und Zeit ist ein Fragment geblieben; als Buch präsentiert
sich das Werk, im Anschluß an die Prolegomena der Einleitung,
in zwei Abschnitten zu jeweils sechs Kapiteln; gemäß dem Aufriß
der Abhandlung (§
8) ist aber ein dritter Abschnitt vorgesehen: Zeit und Sein,
der in die Version des zügig abzuschließenden Buches jedoch
nicht einging; die Vermutung ist plausibel, daß in der im Sommersemester
1927 gehaltenen Vorlesung mit dem Titel Die Grundprobleme der Phänomenologie
und in der letzten Marburger Vorlesung aus dem Sommersemester 1928 mit
dem Titel Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von
Leibniz Grundzüge dieses dritten Abschnitts und Ansätze
zu dieser Fortsetzung entwickelt worden sind, dessen Ausarbeitung Heidegger
aber wohl nicht als ausreichend erschienen ist, wie seine späteren
Auseinandersetzungen mit dem eigenen Hauptwerk zeigen. Auch dem angekündigten
zweiten Teil (zweiten Buch) von Sein und Zeit, der sich auch wieder
dreifach (d.h. in drei Abschnitten) hätte gliedern sollen, ist vereinzelt
in Vorlesungen und Abhandlungen mitgeteilt worden. In der Übersicht
(**)
hat Heidegger keine systematische Leitfrage genannt, sondern lediglich
die denkgeschichtlichen Orte, um die sich dieser zweite Teil gruppieren
soll:
1. |
Kants Lehre vom
Schematismus und der Zeit als Vorstufe einer Problematik der Temporalität. |
2. |
Das ontologische Fundament des »cogito
sum« Descartes und die Übernahme der mittelalterlichen
Ontologie in die Problematik des »res cogitans«. |
3. |
Die Abhandlung des Aristoteles über
die Zeit als Diskrimen der phänomenalen Basis der Grenzen der
antiken Ontologie. ** |
Weitere Spuren zum zweiten Teil, der als ein Buch leider nie erschienen
ist, gibt es in Heideggers anderen Werken.
Erläuterung
der Lebenslauf-Tabelle (**).
Es geht bei der
Lebenslauf-Tabelle und ihrer Erläuterung auch um eine Bewertung,
ja, aber bei dieser Bewertung geht es nicht in erster Linie, sondern
nur in zweiter Linie um die Werke, denn in erster Linie
geht es um Heideggers Biographie, besonders um dessen Denk-Biographie.
Denk-Biographie von Martin Heidegger
(1889-1976 ):
1. Stadium (Winter -
1889-1909) und seine 3 Stufen:
Heideggers frühe Kindheit (1. Stufe); Grundschulzeit (2. Stufe);
Bürgerschul- und Gymnasialzeit (3. Stufe), also bis zum Übergang
von der Schule zur Universität (1909).
2. Stadium (Frühling
- 1909-1927) und seine 3 Stufen:
Heideggers Studienzeit von 1909 bis 1913 (4. Stufe); die Zeit von
der Promotion bis zum Bruch mit dem Katholizismus, also die Zeit von
1913 bis 1919 (5. Stufe); die folgenden 8 Jahre bis zur Veröffentlichung
seines Hauptwerkes Sein und Zeit, also die Zeit von 1919 bis
1927 (6. Stufe).
3. Stadium (Sommer -
1927-1945) und seine 3 Stufen:
Heideggers veröffentlichtes Hauptwerk Sein und Zeit und
die Folgen bis zum Beginn des Rektorats, also die Zeit von 1927 bis
1933 (7. Stufe); die Zeit vom Beginn des Rektorats bis zum Beginn
des 2. Weltkriegs, also die Zeit von 1933 bis 1939 (8. Stufe); die
Zeit des 2. Weltkriegs, also die Zeit von 1939 bis 1945 (9. Stufe).
4. Stadium (Herbst -
1945-1970 [1976]) und seine 3 Stufen:
Heideggers Zeit zwischen dem Ende des 2. Weltkriegs und dem Ende seines
Lehrverbot de jure, also die Zeit von 1945 bis 1949 (10. Stufe);
die Zeit von dem Ende seines Lehrverbots de jure bis zum Ende seines
Lehrverbots de facto (bei gleichzeitiger Emeritierung) und
damit zur Wiederzulassung seiner Vorlesungstätigkeit an der Universität,
also die Zeit von 1949 bis 1951 (11. Stufe); die Zeit von der Wiederzulassung
seiner Vorlesungstätigkeit an der Universität bis zu seinem
Schlaganfall in Augsburg ( ),
es ist die Zeit, in der Heidegger noch einmal eine weitere große
und letzte Karriere erlebte (schließlich wohl auch seine zweite
Geburt, die man als seine denkerische Geburt, sein Zur-Welt-Kommen
bezeichnen darf!), also die Zeit von 1951 bis 1970 bzw. 1976 (12.
Stufe).
5. Stadium (Winter -
1970-1976), wenn man es berücksichtigen
will, betrifft die Zeit von 1970 bis 1976 (13. Stufe) - eine Zeit,
die mit Heideggers Schlaganfall in Augsburg im April 1970 ( )
begann, der das von seiner Frau Elfride so lange herbeigesehnte Ende
der von ihr oftmals - und wohl auch mit Recht (!) - empfundenen Trennungen
bewirkte. Diese Zeit ist vielleicht die Zeit der dritten Geburt
(die Zeit nach jener zweiten Geburt [seine Denkergeburt,
sein Zur-Welt-Kommen] die Heidegger wohl tatsächlich auch
erlebt hat), ist aber jedenfalls die Zeit, in der Martin und Elfride
Heidegger wieder so zusammen waren, als wären sie wieder am 1915
erfolgten Anfang ihrer Beziehung. Am 26. Mai wacht er morgens
nicht mehr auf. In der darauffolgenden Nacht schläft Elfride
ein letztes Mal im Ehebett an der Seite ihres toten Mannes.
(Gertrud Heidegger, Mein liebes Seelchen - Briefe Martin
Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, 2005, S. 381 ).
|
Philosophische Schwerpunkte und Wirkung Heideggers.

Heideggers Hinwendung zur Phänomenologie begann um 1913
oder gar spätestens 1913, als er mit seiner gegen den Psychologismus
gerichteten Dissertation (**|**)
promovierte, d.h. lange vor seiner Zeit als Husserls Privatassistent,
der er zum 1. Januar 1919 wurde. Als Heidegger 1923 ordentlicher Professor
ad personam auf dem außerordentlichen Lehrstuhl für Philosophie
der Universität Marburg - seinerzeit eine Hochburg des Neukantianismus
(Marburger Schule) - wurde, begann er sich Kants Philosophie
zuzuwenden, bezog diese dann in seine eigene Philosophie ein, die spätestens
1927 als Fundamentalontologie bekannt wurde, und widmete im unmittelbaren
Anschluß an sein 1927 erschienenes Hauptwerk Sein und Zeit
der Kantischen Philosophie erneut große Aufmerksamkeit - an dem
1929 erschienen Kantbuch (Kant und das Problem der Metaphysik)
besonders deutlich erkennbar. 1930 begann Heidegger, wie zuerst an der
Schrift Vom Wesen der Wahrheit zu erkennen, seine Orientierung
an der Seins- bzw. Seynsgeschichte. Dies bedeutete einen Wechsel
des konstituierenden Ortes der Wahrheit vom Dasein selbst zum
metaphyischen Seinsverständnis mit der Hervorhebung der geschichtlichen
Tatsache der wachsenden Heimatlosigkeit des modernen Menschen in der Seinsvergessenheit«.
- Die drei Schwerpunkte Phänomenologie, Fundamentalontologie (Daseinsanalyse),
Seins- bzw. Seynsgeschichte haben Heideggers Philosophie bzw. Denken
nie verlassen, sind also auch seinem vierten Schwerpunkt, den ich hier
Spätdenken genannt habe, und folglich bis an Heideggers Lebensende
treu geblieben - so wie er ihnen.
Vier Generationen.
1 |
Friedrich Heidegger
(1851-1924)
°° Johanna, geb. Kempf
(1858-1927) |
1 |
2 |
Martin
(1889-1976)
°° Elfride, geb. Petri
(1893-1992) |
Maria
(1891-1956)
°° Rudolf Oschwald
(1890-1957) |
Fritz
(1894-1980)
°° Elisabeth, geb. Walter
(1890-1957) |
2 |
3 |
Jörg
(1919-2019)
°° 1. Dorothee, geb. Kurrer
(1917-2003)
°° 2. Hedi, geb. Veidt
(1928-2020) |
Hermann
(aus der Verbindung von Elfride und Friedrich Cesar)
(1920-2020)
°° Jutta, geb. Stölting
(1929-2020) |
Erika, geb. Birle
(Pflegetochter seit 1935)
(1921-2005)
°° Wilhelm Deyhle
(1914-1991) |
Clothild, geb. Oschwald
(* 1923)
°° Heinrich Rapp
(1923-1972) |
Thomas
(1926-2013)
°° Gertrud, geb. Herre
(*1938) |
Heinrich
(1928-2021) |
Franz
(1929-1955) |
3 |
4 |
Gertrud
(* 1955) |
Friederike
(* 1956) |
Burghard
(* 1959) |
Imke
(* 1966) |
Dorle
(* 1968) |
Ulrike
(* 1955) |
Almuth
(* 1957) |
Detlev
(* 1960) |
Dietrich
(* 1960) |
Arnulf
(* 1968) |
Martin
(* 1945) |
Ursula
(* 1946) |
Christoph
(* 1948) |
Johannes
(* 1955) |
Andreas
(* 1953) |
Susanne
(* 1956) |
Stephan
(* 1959) |
3 Kinder |
|
|
4 |
Der letzte Brief an Elfride vom 10.04.1970 und die Zeit danach.
Brief Martins vom 10.04.1970 an seine
Frau Elfride: |
|
|
|
Erinnerungen: |
|
|
|
|
|
 |
|
»München, 10.IV.70
M. lb. S.
Alles ging gut, die Reise und der Aufenthalt in Rotsee
Nur ein heftiges Rheuma in Rotsee geschnappt - im
rechten Handgelenk. Aber es wird schon besser.
20 cm. Neuschnee am Morgen des 9. April.
Ich wohne in Pension Gräfin Harrach - ganz ruhig.
Heute Ruhetag. Morgen Heisenberg und Georgiades
Son[n]tag Weizsäcker, der gerade umzieht
Montag Meßkirch.
Das Gelenk sehr schmerzhaft
Rheumasan schon gekauft u. eingerieben.
Ina Seidel war auch da; u. sehr dankbar
Sonst geht es mir sehr gut.
Alles Liebe.
D w. M.
Preetorius schwer krank«
Von Elfride angefügt:
»letzter Brief (vor Augsburg)
der Zusammenbruch dort
brachte endgültig alles ans Licht
seitdem waren wir nicht mehr getrennt.«
|
|
  
  
  |
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In Augsburg, wo Martin ein Rendezvous hat, erleidet er einen Schlaganfall,
dessen Folgen eine Halbseitenlähmung rechts und Sprachausfall
sind. Mit dem Krankenwagen wird er nach Freiburg gebracht und von
Elfride im Rötebuck-Haus gesund gepflegt. Er erholt sich vollständig;
nur seine Handschrift bleibt verändert.
....
Anfang September 1971 beziehen Elfride und Martin den Alterswohnsitz
im hinteren Garten des Rötebuck-Hauses. Bis zu Martins Tod
sind sie nur noch selten und kurz getrennt. Es sind keine weiteren
Briefe von Martin an Elfride vorhanden.
Im Frühjahr 1976 verschlechtert sich Martins Gesundheitszustand
und er weiß um seinen bevorstehenden Tod. Am
26. Mai wacht er morgens nicht mehr auf. In der darauffolgenden
Nacht schläft Elfride ein letztes Mal im Ehebett an der Seite
ihres toten Mannes.
Am 28. Mai wird Martin in Meßkirch neben seinen Eltern und
seiner Schwägerin Liesel beerdigt.
Elfride stirbt am 21. März 1992. Drei Tage später wird
sie neben ihrem Mann in Meßkirch bestattet.
(Gertrud
Heidegger, Mein liebes Seelchen - Briefe Martin Heideggers
an seine Frau Elfride 1915-1970, 2005, S. 379-381).
|
Das Sein. **
Heidegger ging es zeitlebens um die Frage nach dem Sein.
Das Sein, dem diese eine durchgehende Frage seines Denkens gilt, ist
von Heidegger in unterschiedlichen Modifizierungen (oft als: Als-Modifizierungen)
durchdacht und besprochen worden. Zunächst bezieht sich die Seinsfrage
auf das altgriechische on he on, das Sein als Sein,
das aus den verschiedenen Weisen, vom Sein zu sprechen, durch Auslegung
herauszudifferenzieren ist. Diese Deutungsweise ist von Heidegger existenzial-ontologisch
als Herausarbeitung der Temporalität des Seins aufgefaßt
worden. Hier geht es also um die Freilegung der Grundstrukturen des Seins
des Daseins (d.h. des Menschen), do daß das on he on
auf dessen Seinsverständnis zielt. Die Grundzüge der ontologischen
Differenz zwischen Sein und Seiendem sind schon im 1927 veröffentlichten
Werk »Sein und Zeit deutlich herausgestellt worden. Daher
ist die ontologische Differenz eine metaphysische Grundtatsache von den
Anfängen des Seinsgeschehens her. Heidegger zufolge ist diesbezüglich
die höchste und zum Grund aller Geschichte werdende Entscheidung
die zwischen der Vormacht des Seienden und der Herrschaft des Seins.
Gemäß unterschiedlicher hermeneutisch-ontologischer Als-Aussagen
sind vor diesem Fragehorizont einzelne verkürzende Seinsauslegungen
zur Abhebung zu bringen:
Sein als Anwesenheit (ousia, parousia) bezeichnet
das nach Heideggers Verständnis grundlegende Seinsverständnis
der griechischen Ontologie. Es verbindet so verschiedene Konzeptionen
wie die platonische Ideenlehre und die aristotelische Substanzlehre. Sein
als Geschaffenheit bezeichnet die mittelalterliche Ontologie und ihre
Fixierung auf das ens creatum; wo, wie in der frühneuzeitlichen
klassischen Ontologie, das Seinsverständnis auf das innerweltliche
Seiende bezogen ist, dominiert die Konzeption des res. Das
Sein erhält den Sinn von Realität bis hin zum Inbegriff
des höchsten Seienden als Allheit der Realität (omnitudo
realitatis). Dies wird in der epochenübergreifenden Diagnose noch
verstärkt. Heidegger zufolge verstand die Ontologie bislang das
Sein primär im Sinne von Vorhandenheit. Diese vereinfachende
- z.B. der platonischen Ideenlehre nicht gerecht werdende Konzeption -
zeigt an, daß Heidegger mit der Ontologie des Seins des Daseins
eine Einsicht ans Licht hat heben wollen, die in der abendländischen
Metaphysik (d.h. für Heidegger seit Platon) unthematisch geblieben
ist.
Sein gehört wesentlich in den Sinnzusammenhang des Entbergens. Zugleich
bleibt es aber in seinem Grund verborgen. Deshalb liegt es am Wesen
des Seins, das als das Sichentbergen sich so entbirgt, daß zu diesem
Entbergen ein Sichverbergen und d.h. Sichentziehen gehört.
Damit verbindet sich die Grundeinsicht (oder doch nur Vermutung?), daß
Sein nicht ist, sondern daß es Sein nur gibt, daß
es sich selbst gibt. So ist aber auch eine sehr enge Verbindung zwischen
Sein und Wahrheit geknüpft. Das Sein als Sein, d.h. das Seyn
als die Wahrheit des Seins des Seienden. »Sein«
ist stets »Sein des Seienden« (Seiendes im Sein). Das
auf den Wegbahnen der überlieferten Metaphysik ungedachte Sein
ist bei Heidegger ab einem bestimmten Zeitpunkt seines Denkens durch die
Schreibung Seyn hervorgehoben. Die Schreibweise ist an einer
älteren deutschen Rechtschreibung orientiert. Sie hebt das Seyn im
einzigen Sinne des Wortes gegenüber dem Sein des Seienden hervor.
Seyn erweist sich dabei als das Übergangene, das Verweigerte, das
aber die Einzigkeit für sich hat und die völlige Befremdlichkeit.
Auch hier wird die komplementäre Wechselseitigkeit von An- und Abwesenheit
aufgewiesen. Denn das Seyn ist außerhalb seiner Verweigerung und
seinem Sich-Entziehen nicht zu gewinnen. Es ist die erste höchste
Schenkung des Seyns, dessen anfängliche Wesung selbst. Damit
wird die Erwartung verbunden, daß das Seyn jäh aufgehe, sich
zeige. Es wird deshalb als das Ereignis gedeutet. Damit ist
verbunden, daß das Ereignis durchgehend temporal verstanden wird.
Es lichtet das Sichverbergen. Das Seyn kann anfänglich
gedacht und aus der Wahrheit heraus erfragt werden. Im Ereignis zeigt
sich auch an, daß das Seyn gerade nicht immer ist, daß
es nicht dem Grundzug der Parousia beständigen Anwesenheit folgt,
sondern in der Spannung zwischen An- und Abwesenheit west.
Diese Wesung wird verdeckt, wenn das Sein als Wirklichkeit
oder absolutes Wissen aufgefaßt wird. Diese Klärungsversuche
hat Heidegger insbesondere im Gegenüber zur ontologischen Logik Hegels
unternommen. Das Seyn und das Nicht sind nicht, wie am Beginn der Hegelschen
Logik, leere und darum unbestimmte Kategorien. Sie liegen in einem innigen
Streit, der vorprädikativen Charakter hat. Hierbei hat Heidegger
sich auf den Herakltischen Kampf (Polemos) als die gegensätzliche
Konstituierung des gesamten Seienden berufen. Die Strittigkeit des Seyns
ist wahrscheinlich mit der Frage nach dem letzten Gott verbunden.
Das Seyn ist die Erzitterung des Götterns (des Vorklanges der
Götterentscheidung über ihren Gott).
Sein und Seyn ist dasselbe und doch grundverschieden. Mit
der Durchstreichung des Wortes Seyn - Seyn - wird auf das Geviert,
d.h. die Entgegensetzung von Himmel und Erde, Unsterblichen und Sterblichen
hingewiesen. Seyn wird damit auch als Anzeige der ontologischen Differenz
zwischen dem Sein und dem Seienden verwendet. Seyn nennt die Wahrnis
der Unterscheidung zwischen dem Seienden und dem Sein. Das
Seyn ist, sofern es allein »eigentlich« »ist«
(istet), als Sein west, das Seiendste und deshalb gerade nie ein Seiendes.
Damit ist das Seinsdenken einer Gegensatzstruktur angenähert. Zugleich
ist dieses Seinsdenken einer tautologischen Wiederholung des Ereignisses
angenähert: Das Seyn ist. Dies ist die einzige Sage.
Es handelt sich beim Seyn um das Ereignis als das Ereignis.
Mit dem Sinn von Sein ist der Richtungssinn von Sein, dem das Sein im
Horizont seiner Zeitigung nachgeht, gemeint.Die Frage nach dem Sinn von
Sein ist fundamentalontologisch die Seinsfrage, sofern sie in die
Verständlichkeit des Daseins hereinsteht. So bedeutet dieser
Sinn: Das Woraufhin des primären Entwurfs des Verstehens von
Sein. Dieser Grundzug ist von Heideggers Zeit als Husserls Assistent
(1919-1923 - vgl. z.B. die 1922 veröffentlichten Phänomenologischen
Interpretationen zu Aristoteles) an bis in seine späten Denkwege
konstant geblieben. Die Bestimmung des Seinssinns kann sich immer nur
im Horizont der Zeit vollziehen. Der Seinsinn wird als der Entwurfsbereich
charakterisiert, in dem sich die Verständlichkeit eines Seienden
hält. Die Sinnbestimmung des Daseins geht über eine Seblstreflexivität
hinaus, auf den Sinn des Seins selbst. Die Frage nach dem Sinn von Sein
geht auf die Selbstauslegung des Daseins und die Schickung des Seins.
Seinen Grund gewinnt das Dasein (d.h. der Mensch) aus dem Bezug
zum Sein.
Als Gelassenheit bzw. Sein-Lassen ist ein medialer,
zwischen Aktivität und Pasivität die Schwebe haltender Daseinsvollzug
zu verstehen - schon wesentlich bedeutend in Heideggers Sein und
Zeit. Der Grundgedanke der Entschlossenheit wird als ein
Sich-aufrufen-Lassen aus der Verlorenheit des Man charakterisiert.
Das Seinkönnen des Daseins ist ein Tun-Lassen in der Richtung auf
die eigene Schuldigkeit. Der Vorrang des Möglichkeitsmodus verlangt,
daß das Dasein seine eigensten Seinsmöglichkeiten sein und
damit geschehen läßt. In der Philosophie der Kehre wird die
Gelassenheit als Passivität zu einem immer zentraleren Topos des
Seinsdenkens. Dabei spielt der mystische Topos der Gelassenheit des Lese-
und Lebensmeisters Eckhart eine entscheidende Rolle. Der andere
Anfang (**)
erfordert ein solches Sein-Lassen, ein Freiwerden im Absprung. Der Bezug
zur Sprache, die sagt und zeigt, wird als Sich-sagen-Lassen ausfiguriert.
Heidegger zufolge muß auch die Differenz zwischen dem ersten und
dem anderen Anfang letzlich in ein Sein-Lassen, eine übergreifende
Gelassenheit, überführt werden.
Das In-der-Welt-Sein. **
Durch den Begiff des In-der-Welt-Seins werden der Bewußtseinsbegriff
und der Subjekt-Objekt-Gegensatz ausgeschaltet.
Das In-der-Welt-Sein (oder: Inderweltsein) ist die transzendentale Grundverfassung
des Daseins. An ihm sind erkennbar: a) das
In-Sein (**)
als solches, was wohnen beivertraut sein mit bedeutet;
b) die Welt als die Wirklichkeit des Daseins,
insofern zum Sein des Daseins die Angewiesenheit auf eine begegnende Welt
wesenhaft gehört; c) das Mitsein der
Anderen. Das Dasein als Existenz, dem es um sein eigenes Seinkönnen
geht, hat als In-der-Welt-Sein immer schon eine Welt entdeckt. Durch den
Begriff des In-der-Welt-Seins werden der Bewußtseinsbegriff und
der Subjekt-Objekt-Gegensatz ausgeschaltet.
Dasein ist Sorge - z.B. das Besorgen (**)
in der Beziehung zur Umwelt und die Fürsorge in der Beziehung
zu den Mitmenschen -, deren Wesen das Sich-vorweg-schon-Sein in der Welt
ist. Die Sorge ist a priori, d.h. sie liegt immer schon in jedem
tatsächlichen Verhalten vor. Zum Dasein gehört aber auch der
Tod. Den Tod übernimmt das Dasein, sobald es ist. Das Geworfensein
(**)
in den Tod enthüllt sich in dem Phänomen der Angst - womit wir
wieder am Anfang, d.h. vor dem Nichts stehen. Das Dasein ist ein Sein
zum Tode, aber nicht ein Sein in der Zeit, sondern ein Sein als Zeit.
(Vgl. Zeitlichkeit [**]).
Später überholte Heidegger diesen Ansatz so, daß das Dasein
als Seinsverständnis nicht autonom, daß die Existenz
als Eksistenz (Ek-sistenz) zu begreifen sei. Sein
Wesen ist nicht Selbststand, sondern Ausstand, Eksistenz, mit der Aufgabe,
dem Sein gegenüber gehorsam zu sein, um ihm eine beschränkte
und ungenügende, aber geschichtlich notwendige und geforderte Stätte
zu bereiten, die Ankunft des Seins geschehen zu lassen. (Max Müller,
Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart, 1958). Es
ist nicht mehr das Dasein selbst, das sich entwirft und das Sein schafft,
sondern das Sein lichtet sich im Dasein. Es schickt dieses Dasein in die
Ek-sistenz (das Heraus-stehen). Umgeben von Wald steht es
gleichsam in einer Lichtung oder Öffnung. (**).
Heidegger sagte: Das Denken bringt in seinem Sagen das ungesprochene
Wort des Seins zur Sprache. (Zur Sprache kommen [**];
vgl. Unterwegs zur Sprache **).
Dieses wesentliche Denken ist ein Ereignis des Seins,
es hält sich fern von jeder fertigen Logik, von jeder Kunst des Denkens,
von der es nur dazu verführt wurde, über sich selbst nachzudenken
anstatt seiner Bestimmung zu folgen: das anwesende Sein aus seiner Verborgenheit
ans Licht zu bringen. Das Denken des späten Heidegger ist Danken;
ein behutsames Entbergen im Unterschied zu einem rücksichtslosen
Entbergen und Gebären, wie Heidegger das im seinsvergessenen technischen,
auf Machbarkeit setzenden Denken sah, für das die Natur zum Gestell
wird. (Ge-stell [**|**]).
Für Heideggers Denken ist sie ein Uterus. In seinem Buch Das
Ding (1954) ist der Prototyp des Dings ein Krug, ein himmlisch Umschließendes,
also: Uterus, Höhle, gefaßte Leere, Lichtung.
Im Besorgen von Vorhandenem begegnet das In-der-Welt-Sein in einem impliziten,
unthematischen Sinn. Es ist etwas, »worin« das Dasein
je schon war, worauf es in jedem irgendwie ausdrücklichen Hinkommen
immer nur zurückkommen kann. Dasein ist auf seine Welt angewiesen.
Es bedarf, um zu sein, dieser Angewiesenheit. Erst dann, wenn sich das
Dasein auf seine Welt hin entworfen hat, erschließt sich sein In-der-Welt-Sein.
Das In-der-Welt-Sein hat ontologisch immer den Vorrang gegenüber
dem Bezug auf einzelnes Seiendes, Vorhandenes und Zuhandenes. In seinem
letzten und äußersten Horizont erschließt sich das In-der-Welt-Sein
als Sein zum Tode. Eine der entscheidenden Inventionen von Heideggers
Fundamentalontologie besagt, daß das Dasein immer schon verstehend
in-der-Welt ist. Dies bestimmt per se das Existenzial des In-Seins: Das
Dasein wohnt bei einer Welt, ist mit einer Welt vertraut. Dies bedeutet
auch, daß eine Innensphäre bzw. ein innerliches Geschehen eines
Ego die Ontologie des Daseins nicht ausreichend zu erfasen
vermag. Das Dasein ist immer schon draußen, in den Bezügen
zu seiner Welt. Keineswegs vollzieht sich erst ein späterer expliziter
Schritt von der Immanenz in die Transzendenz. Die cartesianische Differenz
von innen und außen, von Subjekt
und Welt, wird vielmehr selbst aufgegeben. Das Dasein ist als In-der-Welt-Sein
auch im Draußen-Sein drinnen und bleibt auch im Bewahren
und im Behalten draußen.
Zwei Denkwege im Rahmen der Seinsfrage
|
Erster Denkweg im Rahmen der Seinsfrage.
Heideggers Fragen und sein Suchen, sein Antworten und sein Finden waren
zunächst auf die Analyse des Daseins als des Menschens bezogen, weil
Heidegger zufolge das Sein nur über das Dasein erkannt bzw.
dem Denken zugänglich gemacht werden kann. Seine Daseinsanalyse im
Rahmen seiner Fundamentalontologie, die - wie gesagt - der Ausarbeitung
der Seinsfrage dienen sollte, ist am eindrucksvollsen in seinem 1927 erschienenen
Hauptwerk Sein und Zeit beschrieben, auch in seinen späteren
Werken, besonders in den bis 1930 erschienenen Büchern, genannt seien
hier z.B. sein Kant-Buch, das unter dem Titel Kant und
das Problem der Metaphysik 1929 erschien, seine unter dem Titel
Was ist Metaphysik? gehaltene Antrittsvorlesung vom 24. Juli
1929 und seine im Wintersemester 1929/30 gehaltene Vorlesung über
die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit
(urprünglich: Vereinzelung), die hin und wieder sogar als sein
zweites Hauptwerk (**)
genannt worden ist.
Einzelwissenschaftliche Untersuchungen wie z.B. die von Biologie, Anthropologie
und Psychologie, müssen den Daseinscharakter des Menschen grundsätzlich
verfehlen.
Der Mensch, das Dasein also, ist immer schon verstehend in der Welt. Man
könnte auch sagen, daß er durch das Exisenzial In-Sein
bestimmt ist. Er wohnt in bzw. bei einer Welt, ist mit einer jeweilgen
Welt vertraut. Dies bedeutet auch, daß eine Innensphäre bzw.
ein innerseelisches Geschehen eines Ego die Ontologie des
Daseins nicht ausreichend erfassen kann. Das Dasein ist immer schon draußen
in den Beziehungen zu seiner Welt. Keineswegs vollzieht sich erst ein
späterer expliziter Schritt von der Immanenz in die Transzendenz.
Die cartesianische Differenz von innen und außen,
von Subjekt und Welt, wird vielmehr selbst aufgegeben. Das Dasein ist
als In-der-Welt-Sein (**)
auch im Draußen-Sein drinnen und bleibt auch im Bewahren
und im Behalten draußen.
Das Zusammenvorhandenensein
von Physischen und Psychischen ist ontisch und ontologisch völlig
verschieden vom Phänomen des In-der-Welt seins. (In:
Sein und Zeit, S. 204. **) |
Den Unterschied und Zusammenhang
des »in mir« und außer mir« setzt Kant -
faktisch mit Recht, im Sinne einer Beweistendenz aber zu Unrecht
- voraus. Desgleichen ist nicht erwiesen, daß das, was über
das Zusammenvorhandensein von Wechselndem und Beharrlichem am Leitfaden
der Zeit ausgemacht wird, auch für den Zusammenhang des »in
mir« und »außer mir« zutrifft. Wäre
aber das im Beweis vorausgesetzte Ganze des Unterschieds und Zusammenhangs
des »Innen« und »Außen« gesehen,
wäre ontologisch begriffen, was mit dieser Voraussetzung vorausgesetzt
ist, dann fiele die Möglichkeit in sich zusammen, den Beweis
für das »Dasein der Dinge außer mir« für
noch ausstehend und notwendig zu halten. (In: Sein und
Zeit, S. 204-205. **) |
Der »Skandal der Philosophie«
besteht ... darin, daß solche Beweise immer wieder erwartet
und versucht werden. Dergleichen Erwartungen, Absichten und
Forderungen erwachsen einer ontologisch unzureichenden Ansetzung
dessen, davon unabhängig und »außerhalb«
eine »Welt« als vorhandene bewiesen werden soll. ....
Die Seinsart des beweisenden und beweisheischenden Seienden ist
unterbestimmt. Daher kann der Schein entstehen, es sei mit
dem Nachweis des notwendigen Zusammenvorhandenseins zweier Vorhandener
über das Dasein als In-der-Welt-sein etwas erwiesen oder auch
nur beweisbar. Das recht verstandene Dasein widersetzt sich solchen
Beweisen, weil es in seinem Sein je schon ist, was nachkommende
Beweise ihm erst anzudemonstrieren für notwendig halten.
(In: Sein und Zeit, S. 205. **) |
Wollte man aus der Unmöglichkeit
von Beweisen für das Vorhandensein der Dinge außer uns
schließen, dieses sei daher »bloß auf Glauben
anzunehmen«, dann wäre die Verkehrung des Problems nicht
überwunden. Die Vormeinung bliebe bestehen, im Grunde und idealerweise
müßte ein Beweis geführt werden können. Mit
der Beschränkung auf einen »Glauben an die Realität
der Außenwelt« ist der unangemessene Problemansatz auch
dann bejaht, wenn diesem Glauben ausdrücklich sein eigenes
»Recht« zurückgegeben wird. Man macht grundsätzlich
die Forderung eines Beweises mit, wenngleich versucht wird, ihr
auf anderem Wege als dem eines stringenten Beweises zu genügen.
(In: Sein und Zeit, S. 205. **) |
Selbst wenn man sich darauf
berufen wollte, das Subjekt müsse voraussetzen und setze bewußt
auch schon immer voraus, daß die »Außenwelt«
vorhanden sei, bliebe die konstruktive Ansetzung eines isolierten
Subjekts doch noch im Spiel. Das Phänomen des In-der-Welt-seins
wäre damit ebensowenig getroffen wie mit dem Nachweis eines
Zusammenvorhandenseins von Physischem und Psychischem. Das Dasein
kommt mit dergleichen Voraussetzungen immer schon »zu spät«,
weil es, sofern es als Seiendes diese Voraussetzung vollzieht -
und anders ist sie nicht möglich -, als Seiendes je
schon in einer Welt ist. »Früher« als jede daseinsmäßige
Voraussetzung und Verhaltung ist das »Apriori« der Seinsverfassung
in der Seinsart der Sorge. (In: Sein und Zeit, S. 206.
**) |
Das In-der-Welt-sein schaltet den Begriff Bewußtsein
und den Gegensatz von Subjekt und Objekt aus.
Außerdem ist für Heidegger das Subjekt nicht der Ausgangspunkt
des In-der-Welt-Seins. Dies richtet sich in erster Linie gegen einen cartesianischen
Subjekt-Objekt-Dualismus. Der Ansatz eines zunächst gegebenen Subjekts
verfehlt Heidegger zufolge das Sein des Dasein von Grund aus. In Heideggers
Hauptwerk Sein und Zeit - wie überhaupt in Heideggers Philosophie
- wird nicht die Selbstheit als Ich charakterisiert, sondern die Selbigkeit
und Beständigkeit eines immer schon Vorhandenen. Die enge Beziehung
zwischen dem Subjektbegriff und dem Substanzbegriff ist bei Heidegger
im Rückgriff auf das Hyopkeimenon (upokeimenon)
thematisiert. Dieses Wort nennt das Vor-Liegende, das als Grund alles
auf sich sammelt. Sammlung ist übrigens auch die ursprüngliche
Bedeutung des Wortes Logos (logoV).
Kantisch, d.h. an der Transzendentalphilosophie orientiert, ist Heideggers
Subjektivitätsbegriff nur insofern, als sich aus der
Subjektivität des In-der-Welt-Seins erst die Gegebenheit der Gegenstände
der Erfahrung ergeben soll. Wie in seinem Kant-Buch deutlich ausgeführt,
ist es die Temporalität der transzendentalen Einbildungskraft und
nicht die Argumentationsgestalt der transzendentalen Deduktion,
auf die diese Grundlegung des Daseins in der Subjektivität zurückzufürhen
ist. Vor diesem Hintergrund, aber nur vor diesem Hintergrund,
erweist sich der Weltbegriff der Hermeneutik des Daseins in seinem Ursprung
als subjektiv. Heideggers Anspruch zufolge legt erst die existenziale
Analytik des Daseins den Seincharakter des Subjektes in sachlich angemessener
Weise frei. Erst mit der Fragerichtung auf die Existenz des Daseins wird
Hegels Anspruch eingelöst, daß sich die Substanz zum Subjekt
erheben müsse. Aus dieser Problemanzeige stammt Heideggers grundsätzliche
Kritik an der Substanzontologie. Sie beruht darauf, daß der Seinscharakter
eines Seienden nicht in den Blick genommen wird und dadurch der
kategoriale Bestand der traditionellen Ontologie mit entsprechenden Formalisierungen
und lediglich negativen Einschränkungen auf die ausgezeichneten
Seinsbezirke des Subjektes (Daseins) umstandslos übertragen wird.
Subjektivität wird bei Heidegger zunehmend kritisch als die Selbstsicherung
des Daseins gedeutet, mit der sich die Seinsverlassenheit vollziehe.
Der Ort der Transzendenz ist das Dasein, das über sich als Seiendes
auf das Sein selbst hinausgeht. Sein aber ist die Transzendenz schlechthin.
Eben weil das Dasein auf Sein bezogen ist, verweist es auf eine transzendente
Wahrheit. Im Kant-Buch wird die Transzendenzbewegung, die - wie gesagt
- in der Spantaneität der transzendentalen Einbildungskraft zu erkennen
ist, als Grundvermögem einer entgegenstehenden Zuwendung zu
... verstanden, in dem sich das endliche Dasein den Spielraum vorhält
und in den hinein es sich entwerfen kann.
Die Erschlossenheit als Welt- und Selbstbezug des Daseins ist immer schon
temporal. Die drei Ekstasen - Zukunft, Gegenwart, Gewesenheit
- werden aufgrund der Zeitlichkeit zu einer Einheit verbunden. Die Zeitlichkeit
ermöglicht die Einheit von Existenz, Faktizität und Verfallen
und konstituiert so ursprünglich die Ganzheit der Sorgestruktur.
Daher ist zu erkennen, daß Zeitlichkeit nicht als Seiendes verstanden
werden darf. Zeit ist nicht, sondern zeitigt sich. Als Zeitlichkeit
wird darum das originäre Wesen der Zeit benannt. Heidegger hat nachdrücklich
und durchgehend betont, daß die Zeitlichkeit das Ekstatikon schlechthin
ist. Der vulgäre Zeitbegriff verneint dies zwar und reduziert Zeit
auf ein Nacheinander von raumartig gedachten Punkten. In diesem vulgären
Zeitsinn vergeht Zeit. Dagegen erweist sich die ekstatische
Verschränkung der Zeit darin, daß Zukunft den Charakter der
Auf-sich-zu, Gewesenheit den des Zurück-auf,
Gegenwart den des Begegnenlassens von zeitigt. Der ekstatische
Charakter konstituiert die Temporalität. Ek-statik bedeutet zudem,
daß das Dasein sich selbst in eine Transzendenz auf Welt hin überschreitet.
Darum ist das Dasein in seinem Weltbezug immer schon außer sich.
Sein Selbstverhältnis ist ein Welt- und damit indirekt ein Seinsverhältnis.
Im Sein- und Selbstverständnis des Daseins kommt übrigens der
Zukunft als dem Sich-vorweg-Sein die primäre Bedeutung
zu.
Das Dasein ist seiner grundsätzlichen Struktur nach in sein ekstatisches,
exzentrisches Da geworfen. Über die Situation seines In-der-Welt-Seins
ist es selbst nicht Herr. Deshalb kommt der Existenz dem Daß
es ist in seiner Kontingenz und Notwendigkeit ein Vorrang zu. Die
Faktizität ist als eine vor- und nichtbewußte Überantwortung
expliziert. In seinem Woher oder Wohin ist sich
das Dasein gerade nicht transparent. Solange es ist, ist das Dasein ein
geworfenes. Es ist die Faktizität der Existenz: Daß es
ist. Diese hat Heidegger mit der Geworfenheit verbunden. Das In-der-Welt-Sein
ist darum immer der Faktizität der Überantwortung
überlassen. In Sein und Zeit wird der Grundzug der Geworfenheit
mit der Endlichkeit des Daseins in einen engen Zusammenhang gebracht.
Stimmungen wie die Angst oder die Endlichkeit und Sterblichkeit sind es,
in der sich die Geworfenheit weiter konkretisiert. Ihre komplementäre
Entsprechung hat die Geworfenheit im Entwurf bzw. Entwurfscharakter des
Daseins. Im Entwerfen-Können liegt die Freiheit des Daseins. Der
Entwurf ist ein verstehend sich entwerfender Entschluß,
wobei der Entwurf immer in seiner Endlichkeit, als geworfener Entwurf,
bestehen bleibt.
Mit der Fundamentalontolgie ist die ontologische Frage nach dem Dasein
in seinem Seinsverständnis beschrieben, die alle ontischen Bestimmungen
des Seins des Seienden mehr oder weniger explizit voraussetzt und aus
der auch alle Regionalontologien erst entspringen. Das Ziel ist deshalb
die Seinsfrage (Fundamentalfrage), weil sie nicht mehr auf dem Weg einer
spezifischen Ontologie angegangen werden kann. In Heideggers Kant-Buch
ist die Fundamentalontologie als eine Metaphysik der Metaphysik
gekennzeichnet, da sie die zur Ermöglichung der Metaphysik notwendig
geforderte Metaphysik des menschlichen Daseins sei und darin von aller
Anthropologie, auch der philosophischen, grundsätzlich unterschieden
bleibe.
Man kann im Horizont von Heideggers Kant-Buch davon ausgehen, daß
die Existenzialien eine ontologische Grundschicht bezeichnen, die den
Kategorien unzugänglich bleiben. Mithin sind Kategorien im Horizont
der Existenzialien deutbar, aber nicht umgekehrt.
Zweiter Denkweg im Rahmen der Seinsfrage.
Heideggers zweiter Denkweg ist ein Weg der Geschichte und wird
allgemein als sein seinsgeschichtlicher Denkweg bezeichnet.
Heidegger ging hier von der Geschichte des Seins insofern aus, als er
darunter die Geschichte der abendländischen Metaphysik, die
er auch die Geschichte der Seinsvergessenheit nannte, verstand,
womit ausgedrückt ist, daß das Sein immer mehr vergessen, zum
Schluß hin sogar verlassen wurde, also seitdem auch Geschichte
der Seinsverlassenheit genannt werden kann. Zwar hatte Heidegger die
Seinsvergessenheit selbstverständlich auch in seinem ersten Denkweg
thematisiert; doch während seines zweiten Denkweges drang Heidegger
in das Geschichtliche viel tiefer ein, als er es während seines ersten
Denkweges getan hatte. Der ursprüngliche Anfang war noch vor der
Unterscheidung zwischen Daß-Sein und Was-Sein, zwischen Existenz
und Essenz.
Darum bedeutete schon diese Unterscheidung zwischen Daß-Sein (Existenz)
und Was-Sein (Essenz) den Verlust der Dimension des Seins selbst. Die
Geschichte der Seinsvergessenheit begann mit Platon, der aber immerhin
noch die ursprüngliche Bestimmung von Sein (beständige
Anwesenheit bzw. ousia) kannte, sie aber
in die Richtung seiner idea drehte und damit
das Übersinnliche zum wahren Sein machte. Angefangen
hat diese Geschichte also mit der Unterjochung der anfänglichen Alethia,
des Wahrheitsgeschehens, unter die platonische Idee. Platons Idee wurde
zur ersten Bestimmung des Was-seins, des Wesens des Seins - in Erscheinung
als das ekfanestaton: das Leuchtendste. So
wurde mit dem Vorrang des Was-seins der Seinscharakter der Dinge auf ihr
Erscheinen festgelegt. Das, was Platon mit seiner Ideenlehre, auch Dialektik
genannt, durchsetzte, setzte nach ihm Aristoteles mit seiner Analytik
genannten Lehre von entelexeia und energeia
durch. Beide - Platon und Aristoteles - kannten aber noch die ursprüngliche
Bestimmung von Sein aus der Zeit der frühen Griechen,
d.h. der Vorplatoniker. Mit dem Hellenismus und vor allem seit
dem Christentum geriet die urspüngliche Bestimmung des Seins immer
mehr in Vergessenheit. Die Seinsvergessenheit begann aber - wie gesagt
- schon mit Platon. Um eine Seinsvergessenheit zu sein, muß die
urspüngliche Bestimmung des Seins nicht notwendigerweise schon vergessen
sein, sondern die Seinsvergessenheit zeichnet sich eben durch den Prozeß,
das Geschehen des Vergessens, nämlich des Seinsvergessens, aus, anders
gesagt: die Seinsvergessenheit ist die Geschichte des allmählichen
Seinsvergessens, das anfangs noch sehr langsam vor sich ging, durch das
Christentum einen enormen Schub bekam und seit der Neuzeit durch den sogenannten
Subjektivismus sogar immer mehr in Richtung des Gestells
als der technischen Machenschaft und der Seinsverlassenheit geschoben
wird. Heidegger zufolge reicht es, wenn man nur die großen Philosophen
aufzählt (die man allerdings auch verstanden haben muß!); für
die Neuzeit sind das in chronologischer Reihenfolge: Descartes, Leibniz,
Kant, Fichte, Hegel, Schelling, Nietzsche.
Heidegger zufolge ist die Geschichte der Seinsvergessenheit
identisch mit der Geschichte der abendländischen Metaphysik, die
wiederum identisch mit dem abendländischen Nihilismus ist und mit
Platon begann. Die spezifischen Bestimmungen der Metaphysik beruhen auf
der Prämisse, daß nach dem ursprünglichen Wissen des Seins
nicht gefragt werden darf. Daher findet der erste Anfang zu
den verschiedenen Bestimmungen des Seins des Seienden im Ganzen seit Platons
Ideen seinen Ausdruck. Daß die Seinsfrage selbst verboten bleibt,
ist gemäß Heidegger kein Mangel des ersten Anfangs. Er ist
mit dessen Struktur mitgegeben.
Um zu dem anderen Anfang zu gelangen muß das sogenannte
Zuspiel des ersten Anfangs aufgenommen und er selbst in seinen
verschiedenen Grundstellungen wiederholt werden. Dies ist der eine Weg
des ersten Anfangs. Der andere Weg ist der sogenannte Sprung,
der die Wege dieses Anfangs hinter sich läßt und sich der Jähe
der Seinserfahrung aussetzt. »Sein und Zeit« ist der
Übergang zum Sprung (Fragen der Grundfrage [**|**]).
(In: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), S. 234 **).
Als Zugang zum anderen Anfang ist Heidegger zufolge das seinsgeschichtliche
Denken zu verstehen. Der andere Anfang greift auf die Spuren einer ursprünglicheren
Seins- und Wahrheitserfahrung zurück, die in der Metaphysik weitgehend
verdeckt worden ist. Der Anspruch, auf einen Ursprung zurückzugreifen,
berührt sich dabei durchaus mit der Tendenz der Phänomenologie,
die ursprüngliche Quelle von Phänomenen zu erfassen.
Der andere Anfang bedeutet auch eine Verschiebung des Denkens zu einem
Fragen nach dem Wesen des Seins, das sich weiterer ontologischer Bestimmungen
enthält. Er soll ausdrücklich weder zu weiteren metaphysischen
Bestimmungen führen noch sich im Bezirk des Mythos aufhalten. Anzunähern
ist der andere Anfang von den Lücken und Bruchstellen im ersten Anfang
her. In der Überlieferung vorgezeichnet ist er primär durch
die Denkform der Lanthanonten besonders der Dichter wie Hölderlin,
George, Rilke, Trakl, die von ihm Ahnung hatten, und der frühgriechischen,
d.h. vorplatonischen Philosophen. Heidegger sagte aber auch, es
ginge dabei keineswegs um das Projekt einer Wiederholung oder Wiederherstellung
dieses ersten Anfangs.
Der erste Anfang fragt zwar nach dem Sein des Seienden und
nach bestimmten Seienden in seine kategorialen Ordnung, doch
die Geschichte der Metaphysik - man mag auch sagen: Geschichte des Nihlismus
- läßt die Seinserfahrung nur negativ, verschwiegen, erkennen.
Der andere Anfang setzt daher das zugleich dekonstruierende und bewahrende
Fußfassen im ersten Anfang voraus.
In verschiedener Form fließen Heideggers Bestimmungen der Grundstellungen
der Geschichte der Metaphysik ein, die er in seinen Vorlesungen entfaltet
hat. Besonderes Augenmerk hat er einerseits auf die platonische Idee und
ihre Umkehrung durch Nietzsche (umgekehrter Platonismus) gelegt,
wobei seiner Auslegung nach Nietzsches Umkehrung des Platonismus der Seinsvergessenheit
der Metaphysik folgt.
Sprache (Sage, Rede, Gespräch, Zeige usw.).
Schon in Sein und Zeit ist die Sprache verstanden als das
ursprüngliche Wesen der Wahrheit als Da. Im Zusammenhang mit
Heideggers Hölderlin-Auslegungen ist die Bindung der Eröffnung
von Welt an Sprache betont. Nur wo Sprache ist, da ist Welt
(**).
Eine enge Verbindung wird ebenfalls im Hölderlin-Zusammenhang zwischen
Sprache und Gespräch exponiert. Das Gespräch ist jedoch
nicht nur eine Weise, wie Sprache sich vollzieht, sondern als Gespräch
nur ist Sprache wesentlich (**).
In Sein und Zeit hat die Sprache ihren systematischen Ort
im Zusammenhang mit der existenzialen Konstitution des Da. Sie ist das
Hinausgesprochensein der Rede, und die Rede wiederum ist der
fundamentalontologische Grund der Aus sage (des Logos). Neben den verschiedenen
Seinsweisen des Redens und Sich-Aussprechens ist hier auch der Existenzialsinn
des Hören-Könnens hematisiert. Das Hören-Können seinerseits
ist eine bloße Möglichkeit, die sich wieder in zweifacher Weise
entfaltet, als Schweigen und aufmerksames Horchen. Die Schlußsequenz
in den Beiträgen zur Philosophie gilt dem Schweigen.
Im Schweigen gründe die Sprache, so Heidegger. Es sei das verborgenste
Maßhalten, und setze die Maßstäbe für das
Ereignis. Sprache ist dabei sowohl im Modus des aktiven Sprechens als
auch des Schweigens auf das Seinsgeschehen bezogen.
In Unterwegs zur Sprache hat Heidegger der Sprache einen
eigenen Resonanzraum gegeben. Sprechen schöpft aus den Worten und
Sinnbildern der Dichtung (Hölderlin, Trakt, George, Rilke). Indem
sie die Welt benennen, setzen sie den wesentlichen Unterschied zwischen
dem eminent Seienden, den Dingen, und der Welt im Ganzen. Sprache, vor
allem dort, wo sie dichterisch geformt und zum eminenten Sagen gebildet
ist, ist Aufenthalt und Bewahrung des Seins. Dies verdeutlicht Heideggers
Evokation von der Sprache als Haus des Seins; im Sprachdenken
kommt auch die Kraft des Schweigens zu Wort: Sprache ist das Geläut
der Stille.
Seins- und Spracherfahrung sind bei Heidegger so eng miteinander verbunden,
daß er die Umkehrgleichung formuliert hat Das Wesen der Sprache:
- Die Sprache des Wesens (**).
Es ist offensichtlich, daß diese Sprachkonzeption sich ausdrücklich
von der Reduktion der Sprache auf ein Kommunikationsmittel, bzw. ihre
Funktion als Information abgrenzt.
Annäherungen an das Sprachdenken
des anderen Anfangs (**)
hat Heidegger wahrscheinlich aus Novalis Wort, daß die Sprache
ein Selbstverhältnis und eigentlich nur mit sich selbst spricht,
gewonnen, oder aus Wilhelm von Humboldts Lehre über die Weltansichten,
die aus Sprache hergestellt werden. Sprache ist Heidegger zufolge, wie
schon lange vorher Humboldt zufolge, nicht Werk (Ergon), sondern Energeia
(im Vollzug-Sein). Die eigentliche Quelle des Sprachdenkens sei allerdings
die Dichtung, so Heidegger, gerade dort, wo sie poetologisch über
die Nennkraft der Sprache, die Übersetzung, z.B. des Griechischen
und des Nordens oder das Gedächtnis im Seinsgeschehen selbst ins
Wort bringt. Deshalb eröffnet Friedrich Hölderlins Dichtung
für Heidegger den eminentesten Zugang zum Wesen der Sprache.
Das Grundverhältnis der Sprache ist Heidegger zufolge als
die Sage des Weltgeviertes nicht mehr nur solches, wozu wir, die sprechenden
Menschen, ein Verhältnis haben, im Sinne einer Beziehung, die zwischen
Mensch und Sprache besteht (**).
Die bedeutet eben, daß eigentlich die Sprache spreche und nicht
der Mensch.
Die klassisch-metaphysische Definition, der Mensch sei das Wesen, das
den Logos (die Sprache) hat, hat Heidegger umgekehrt: Es ist die Sprache,
die den Menschen umgibt und aus der heraus er seinen sprachlichen Weltzugang
hat. Insofern hat sie ihn. Daß die Sprache spricht, ist nicht im
Sinne von Selbstreflexivität gedeutet, so daß die Sprache nicht
zur Welt führen würde: Sie spricht, indem sie zeigt. Dadurch
übernimmt das Sprachdenken wesentliche Züge der Phänomenologie.
Sie zeigt durch das Sagen. Damit verbindet sich die Kunst des Schweigens
(Sigetik): Die Sprache spricht, indem sie sagt, d.h. zeigt
(**).
Eng verbindet sich damit der Zusammenhang von Sprache und Schweigen, bzw.
Hören: Das Sprechen ist von sich aus ein Hören (**).
Anders als in der Spätphilosophie ist in Sein und Zeit
die Rede als Fundament der Sprache vorgeordnet. Die Rede ist in Sein
und Zeit bereits als existenziale Verfassung der Erschlossenheit
des Daseins aufgefaßt. Mit Befindlichkeit und Verstehen sei
die Rede gleichursprünglich. Als existenzialer Modus des Daseins
ist die Rede auch selbst zeitlich bestimmt, sofern alles Reden über
..., von ... und zu ... in der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit gründet.
Der Rede kommt der fundamentale, Wirklichkeit erschließende Grundzug
zu, der später der Sage vorbehalten bleibt. Rede ist
dabei einerseits die Artikulation der Verständlichkeit;
andererseits ist sie aber auch phänomenales Sich-selbst-Offenbaren
des menschlichen Daseins. Der Mensch gibt sich im Reden selbst zu verstehen.
Der Logos gilt bei Heidegger als der Ursinn von Rede. Im Redezusammenhang
wird das In-der-Welt-Sein artikuliert und kategorial ausgelegt. Rede ist
mit-konstitutiv für den Entdeckungszusammenhang, in dem das Dasein
zu sich selbst und zur Welt steht. Bemerkenswert ist, daß bei Heidegger
die hörende Dimension der Rede als ihre Abschattung und Modifikation
begriffen ist. Das Hören sei für das Reden sogar konstitutiv.
Eine enge Verbindung besteht zwischen Rede und Logos. Die Rede erschließt
das Seiende. Sie läßt sehen. Im Logos-Charakter der Rede wird
deshalb der delotische Charakter von Wahrheit als Entdeckung vollzogen.
Dieser Logos-Charakter erschließt die Phänomene erst in ihrem
Sein. Die Rede erschließt die Bedeutung in der Gestaltung des Wortes.
Das Bedeutungsganze der Verständlichkeit kommt zu Wort. Den
Bedeutungen wachsen Worte zu. Insofern ist die Rede ein Kulminationspunkt
der Hermeneutik der Faktizität.
In den späteren seinsgeschichtlichen Zusammenhängen betont
Heidegger insbesondere den Zusammenhang von Sprache, Gespräch und
Rede. Sprache »ist« im Sprechen. Sprechen geschieht
als Rede. Die Rede ist Geschichte als Gespräch. Das Gespräch
ist Da-sein, inständiges Er-hören.
Raum und Zeit.
Heidegger sieht den Raum, bzw. die Räumlichkeit eindeutig als der
Zeit nachgeordnet an. Nur von einem existenzialen Verständnis von
Welt her ist der Raum zu entdecken. Das Dasein ist aufgrund seiner ekstatischen
Temporalität räumlich. Es nimmt aufgrund der existenzialen
Deutung seines In-der-Welt-Seins einen Spielraum ein. Dieses existenziale
Raumverhältnis des Daseins unterscheidet sich grundsätzlich
von der räumlichen Realität der res extensa, der
ausgedehnten Körperdinge. Nur auf dem Grund von Welt ist auch der
Raum konstituiert. Doch auch umgekehrt konstituiert der Raum die Welt
und ist insofern unabhängig von der Zeitlichkeit. Deshalb kann formuliert
werden, daß sich die Zeitlichkeit des In-der-Welt Seins als Fundament
der spezifischen Räumlichkeit des Daseins erweist (vgl. Sein
und Zeit, § 70). Unterschieden werden dabei verschiedene Formen
von Räumlichkeit. Das innerweltlich Zuhandene, um das
es im umsichtigen Besorgen geht, bestimmt den Raum des Zeugs nach den
Gegenden, in die es gehört. Solche Gegenden zeigen nicht nur eine
Richtung an, sondern den Umkreis von etwas. Das Zuhandene
konstituiert sich an Plätzen und Örtern, die beim Zeug durch
unauffällige Vertrautheit charakterisiert sind. Dieses
Ent-fernen ist zugleich ein Raum-geben, bzw. Einräumen, was für
die Seinsart des Daseins konstitutiv ist. Heidegger zufolge ist das Wesen
des Raumes selbst nichts Räumliches. Deshalb ist die Bestimmung der
Ausgedehntheit unzureichend. Dagegen ist die Räumlichkeit
des Daseins durch existenziale Dynamiken konstituiert. Gemäß
Heidegger sind dabei zwei Seinscharaktere zu unterscheiden: Die Ent-fernung
und die Aus-richtung. Die Ent-fernung ist dynamisch als Tendenz verstanden,
Seiendes in die Nähe zu bringen. Das Dasein richtet sich auf dieses
Seiende aus, und bringt es in die Nähe seiner Welt. Beim Zeug ist
die Nähe im wesentlichen durch Unauffälligkeit im Gebrauch bestimmt.
Orientierung ist Ausgerichtetheit in eine je schon zuhandene Welt.
Diese Welt also ist vorgängig. Heidegger hat dabei Bezug genommen
auf den Status der Richtungen im Raum, orientiert an Kants Abhandlung
Was heißt: Sich im Denken orientieren?
Die Raum-Kategorie wird von Heidegger auf die Vollzugsweise von Räumen,
Einräumen hin interpretiert. Das Einräumen lasse
Offenes walten, das unter anderem das Erscheinen anwesender Dinge
zuläßt, an die menschliches Wohnen sich verwiesen sieht. Zum
anderen bereitet das Einräumen den Dingen die Möglich keit,
an ihr jeweiliges Wohin und aus diesem her zueinander zu gehören.
Die Raumkategorie kann also kategorial nur aus der Lichtung heraus existieren.
Deshalb ist der Raum immer schon leer und Leere stiftend. Räumen
besagt leer machen, aufgeben, verlassen (**).
Menschliches Dasein verhält sich also in spezifischer Weise zum Raum:
Es läßt diese Leere zu und ermöglicht so, daß im
Raum Welt begegnet, die Dinge ihm begegnen und eingeräumt werden.
Kennzeichnend ist eine spezifische existenziale Räumlichkeit
des Daseins (**).
Sie ist nur vor dem Hintergrund des In-Seins in Weltzusammenhängen
möglich. In den Beiträgen zur Philosophie wird die
Frage nach dem Raum in den breiteren Rahmen der Zeiträumlichkeit
eingetragen. Raum soll dabei aber ursprünglich als Räumung
begriffen werden, wie sich diese in der Räumlichkeit
des Da-Seins anzeigen, aber nicht vollursprünglich begreifen läßt
(**)
. Im Zusammenhang der Seinsgeschichte wird das Ende der Philosophie zum
Problem. Das Ende der Philosophie ist der Ort, dasjenige, worin
sich das Ganze ihrer Geschichte in seine äußerste Möglichkeit
versammelt (**).
Einerseits ist dieses Ende dann durch die maßlose Technik und ihre
Fraglosigkeit bestimmt. Andererseits fordert das Zu-Denkende,
das als das bislang Ungedachte erfahren wird, einen Anspruch an das Denken,
der über die Philosophie hinausgeht. Dann muß das Denken
die »Philosophie« verlassen. Das aber sagt: Das Denken muß
denkender werden.
Der Komplementarität von Raum und Zeit und zugleich ihrer Asymmetrie
ist Heidegger in Sein und Zeit bereits nachgekommen; später,
in den Beiträgen zur Philosophie hat er versucht, die
Einheit in Zerklüftung des Zeit-Raums zu exponieren.
Zeit ist Heidegger zufolge keine reine Anschauungsfonn. Er hat die Zeit
als den Horizont konzipier, vor dem das Dasein auf Sein bezogen ist. Das
Dasein ist selbst durchgehend temporal bestimmt. Zeit ist insofern der
Horizont des Seinsverständnisses des Daseins. Der vulgäre Zeitbegriff
verstellt das Wesen der Zeit. Er beginnt mit der Bestimmung des Sinnes
von Sein in der griechischen Ontologie als parousia. Das Sein
des Seienden sei damit an der Gegenwart abgelesen. Dieser vulgäre
Zeitbegriff ordnet die Glieder der Zeit in eine Nacheinanderfolge verschiedener
Jetzt-Punkte ein. Sowohl die Datierbarkeit als auch die Bedeutsamkeit
von Zeit werde dadurch nivelliert: Die Jetzt sind um diese Bezüge
beschnitten und reihen sich als so beschnittene aneinander lediglich an,
um das Nacheinander auszumachen. Davon wird der Zeitmodus der Gegenwart
im eigentlichen Sinn unterschieden: Sie ist auf den Augenblick bezogen,
die Situation mit den in ihr angelegen Möglichkeiten. Eigentliche
Zukunft erschließt sich als Vorlaufen in die Möglichkeiten
des Verstehens. Die Erschlossenheit als Welt- und Selbstbezug des Daseins
ist daher immer schon temporal.
Die Zeitlichkeit wird von der Zeit nochmals unterschieden. Zeitlichkeit
ist in einem eminenten Sinn der Sinn desjenigen Seins, das wir Dasein
nennen. Die Zeitlichkeit enthüllt sich daher als der
Sinn der eigenflicben Sorge. Die drei Ekstasen (Gewesenheit, Gegenwart,
Zukunft,) werden aufgrund der Zeitlichkeit zu einer Einheit verbunden
und zusammengeführt. Die Zeitlichkeit ermöglicht die Einheit
von Existenz, Faktizität und Verfallen und konstituiert so ursprünglich
die Ganzheit der Sorgestruktur. Daher ist zu erkennen, daß
die Zeitlichkeit nicht als Seiendes verstanden werden darf. Sie
ist nicht, sondern zeitigt sich. Als Zeitlichkeit wird deshalb das
originäre Wesen der Zeit benannt.
Auch in seinem späteren Seinsdenken akzentuiert Heidegger die Zeitlichkeit.
Sie meine die entrückende Lichtung bzw. sei der
Vorname für die Wahrheit des Seyns, das als Ereignis die Wesung der
»Geschichte« ist. Im ersten Anfang (**)
von Sein und Zeit ist Zeit und Raum noch in einer klaren Asymmetrie
verstanden. Dem Raum kommt gegenüber der Zeit Nachrangigkeit zu.
Erst aufgrund der Zeitlichkeit kommt das Seiende auf den Raum (die Räumlichkeit)
seines In-der-Welt-Seins zu. In den Beiträgen zur Philosophie
und anderen Ausarbeitungen des anderen Anfangs (**)
ist demgegenüber die Gleichursprünglichkeit von Raum und Zeit
betont, wobei beide in der Dynamik des Einräumens und der Zeitigung
verstanden werden. Der Zeit-Raum als die Einheit der ursprünglichen
Zeitigung und Räumung ist ursprünglich selbst die Augenblicks-Stätte,
diese die ab-gründige wesenhafte Zeit Räumlichkeit der Offenheit
der Verbergung, d.h. des Da. Interessant ist die Hinzufügung,
Raum und Zeit seien dem Zeit-Raum entsprungen; dieser bilde
gleichsam ihren Ursprung und gehe ihrer rechenhaft vorgestellten
Verbindung voraus. Diese Vorgängigkeit ist wohl, wenn man Heideggers
apokryph-dunkle Formulierungen zusammennimmt, auf das Seinsereignis selbst
zurückgeführt worden. Es sei die Gründung des Zeit-Raumes,
also gleichsam der metaphysische Ort für jedes
Wo und Wann. Aus dem Zeit-Raum als Verschränkung von Raum und
Zeit gewinnt schließlich das Verhältnis zwischen Lichtung und
Verbergung sein inneres Maß. Heidegger hat die Zeit-Raum-Konstellation
auch als einen Spielraum, in dem das Sein des Daseins allererst situiert
werden kann, aufgefaßt. Damit ist die Verschränkung des Seinsdenkens
ganz in der Spur von Sein und Zeit, wo die Einnahme des Spielraums
des Daseins von der Zeitlichkeit abhängig gemacht ist.
Eine weitere Korrelation könnte sich aus der Raumzeitlichkeit
der Quantenmechanik ergeben, mit der Heidegger sich gut ausgekannt
und mit dessen Begründer, Werner Heisenberg, er intensive Kontakte
gepflegt hat.
Geschichte und Historie.
Geschichte transzendiert gemäß Heidegger grundsätzlich
den Bereich des Historischen. Daher ist Geschichte das sich begebende
spezifische Geschehen des existierenden Daseins, so zwar, daß das
im Miteinandersein »vergangene« und zugleich »überlieferte«
und fortwirkende Geschehen im betonten Sinne als Geschichte gilt
(**).
Bei Heidegger ist deshalb Geschichte von Historie
mehr unterschieden als bei Wortkundlern, Lexikologen, Philologen und anderen
Sprachwissenschaftlern, auch mehr als bei Geschichtswissenschaftlern,
Historikern). Besonders einprägsam ist Heideggers Aussage in Sein
und Zeit, Geschichte sei als Wiederkehr des Möglichen
zu verstehen. Deshalb zeige sie auch an, wie das Dasein für eine
solche Wiederkehr offen und bereit sein müsse. Dabei hängt Geschichte
bzw. Geschichtlichkeit mit der Verschränkung der Zeitekstasen eng
zusammen: Auf-sich-zu (Zukunft), Zurück-auf
(Gewesenheit), Begegnenlassen (Gegenwart). Sie setzt ein Wahrheitsgeschehen
und die Lichtung des Seins voraus. Vor diesem Hintergrund erfordert der
seinsgeschichtliche Geschichtsbegriff lediglich eine Vertiefung dieses
fundamentalontologischen Geschichtsverständnisses. Die Geschichte
ist Geschichte des Seyns und deshalb Geschichte der Wahrheit des
Seyns und deshalb Geschichte der Gründung der Wahrheit und
deshalb Geschichte als Da-sein (**).
In solchen Bestimmungen wird die Zusammengehörigkeit des ersten und
des anderen Anfangs besonders deutlich formuliert (**).
Aus diesem Grunde ist die Seinsgeschichte bei Heidegger als Wesen der
Geschichte verstanden.
Daß die Fundamentalfrage nach dem Sinn von Sein selbst geschichtlich
orientiert ist, ist bereits in Sein und Zeit festgeschrieben.
Die Ausarbeitung der Seinsfrage muß aus dem eigensten Seinssinn
des Fragens selbst, als eines geschichtlichen, die Anweisung vernehmen,
seiner eigenen Geschichte nachzufragen. Auf dem Weg des anderen Anfangs
ist dieses Vorhaben bei Heidegger weitgehend im Sinn einer destruierenden
Geschichte der Metaphysik realisiert. Diese erweist sich als geschichtlicher
Nihilismus, nämlich als Geschichte von Grundstellungen des Seins
des Seienden, in dem diese anfängliche Bedeutung des Sinns von Sein
übersprungen und nicht befragt wird. Die Seinsfrage führt also
zu unterschiedlichen Epochen (mit Husserl: Formen der Epoché: des
Aufbehaltenseins), in denen es mit dem Sein nichts ist und das Sein in
der Verborgenheit bleibt. Nur in dieser Grundform von Nichthaftigkeit,
als die Geschichte, in der es mit der Frage nach Sein nichts ist, ist
die Seinsgeschichte faßbar. Den Wegstrecken dieser Geschichte ist
Heidegger in einer geschichtlichen und systematischen Linienführung
nachgegangen: einerseits in der Rekonstruktion der metaphysischen Grundstellungen
zwischen Platon und Nietzsche, andererseits in der Kontrastierung zwischen
metaphysischem ersten und anderem Anfang (vgl. die Kapitel bzw. Fugen
Anklang, Zuspiel in dem Buch Beiträge
zur Philosophie (Vom Ereignis)).
Bei Heidegger sind nicht nur Geschichte und Historie, sondern auch und
noch mehr Geschichtlichkeit und Historizität deutlich unterschieden.
Historizität kann dem vulgären Zeitbegriff und seiner Nacheinanderordnung
von Jetztpunkten folgen; Geschichtlichkeit aber setzt die Zeitlichkeit
als Bedingung ihrer Möglichkeit voraus (vgl. Sein und Zeit,
§ 72 ff.). Indem das Dasein dem Sinn von Sein nachgeht, erweist es
sich selbst als geschichtlich. Dessen Geschichtlichkeit konstituiert sich
aus der Sorgestruktur des Daseins. Geschichtlichkeit wird mithin als Seinsverfassung
des Daseins verstanden. Dieses ist, indem es sich versteht und in seinem
Verstehen zugleich entwirft, in eine Geschehensstruktur einbezogen, die
als schicksalhaftes Geschick charakterisiert und besonders
prägnant durch die Situation und die Generation bezeichnet wird,
der ein Dasein angehört. Auch hier wird die gängige Unterscheidung
zwischen der eigentlichen und der uneigentlichen
Geschichtlichkeit aufgenommen. Die eigentliche Geschichtlichkeit konstituiert
sich im Vorlauf zum Tode, zu der eigentlichen Existenz vor dem Horizont
ihres Nicht-mehr-Seins. Uneigentliche Geschichtlichkeit dagegen orientiert
sich nicht auf die temporal ekstatische Struktur, sondern auf ein Nacheinander
von Zeitpunkten. In ihr werden die Möglichkeiten abgeblendet und
sie bleibt in der Insistenz des Seienden. Damit geht dem Verhältnis
zur Geschichte der Möglichkeitssinn, einschließlich seiner
Modifikationen, verloren. Es bleibt auf eine blinde punktuelle Gegenwärtigkeit
begrenzt.
Welt-Geschichte bedeutet im Sinn von Sein und Zeit nicht
eine global verstandene Ereignisgeschichte, sondern die jeweilige, jemeinige
Geschichtlichkeit des In-der Welt-seins eines Daseins (vgl.
Sein und Zeit, § 75: Die Geschichtlichkit des Daseins und
die Welt-Geschichte). Die verschiedenen Modifizierungen dieses In-der-Welt-Seins,
z.B. seine Beziehung auf Vorhandenes und Zuhandenes, sind in diesen geschichtlichen
Weltbegriff einbezogen. Auf dem Weg der Kehre bzw. des anderen Anfangs
wird dieses Verständnis von Geschichtlichkeit in die Ausprägungen
der Seinsgeschichte einbezogen.
Da sich das Dasein in seine Geschichtlichkeit überliefert, an sie
hingibt, begründet sich aus dem Mit-Sein, der Situativität und
der Geworfenheit in die eigene Geschichte, ein Geschick (Seinsgeschick).
Das schicksalhafte Geschick kann in der Wiederholung ausdrücklich
erschlossen werden hinsichtlich seiner Verhaftung an das überkommene
Erbe. Es ist offensichtlich, daß Freiheit und der Entwurfscharakter
des Daseins im Gegenüber zu diesem Geschick zu verstehen und damit
auf einen bestimmten Spielraum eingegrenzt sind (vgl. Sein und Zeit,
§ 74). Der Charakterzug des Geschicks ist beim späten
Heidegger weiter verstärkt worden. Die Seinsgeschichte in den Epochen
eines je unterschiedlichen Sich-Zeigens und Sich-Entziehens des Seins
wird als Geschick aufgefaßt. Auch die Lichtung der Aletheia ist
Teil eines Geschicks. Das andenkende Denken bewegt sich also innerhalb
der Lichtungen, die durch das Sein geschickt sind. Dies bestimmt auch
den Ort der verschiedenen philosophischen, metaphysischen Grundstellungen.
Sie sind not-wendig aufgrund des Geschicks. Dabei kommt auch dem Moira-Verständ
nis des frühgriechischen Denkens eine Schlüsselbedeutung zu.
Seinsgeschichte heißt Geschick von Sein, in welchem Schicken
sowohl das Schicken als auch das Es, das schickt, an sich halten mit der
Bekundung ihrer selbst (**).
Mit der Konzeption der Seinsgeschichte verbindet sich diejenige des Seinsgeschicks.
Wenn wir das Wort »Geschick« vom Sein sagen, dann meinen
wir, daß Sein sich uns zuspricht und sich lichtet und lichtend den
Zeit-Raum einräumt, worin Seiendes erscheinen kann (**).
Die Epochen der Seinsgeschichte sind deshalb immer ebenso durch das Mitgeteilte
und das Vorenthaltene charakterisiert. Epoche bedeutet deshalb zugleich
Epoché: Vorbehaltensein.
Heideggers Begriff der Historie und die Absetzung der Historie von Geschichte
sowie die der Historizität von Geschichtlichkeit sind im wesentlichen
als eine Reaktion auf die Debatten des Historismus zu deuten, die Heidegger
unter anderem in Auseinandersetzung mit Dilthey, Troeltsch und den Positionen
der Neukantianer rezipiert hat. Historie gründet in der Geschichte;
sie ist der Zeitlichkeit und damit den Grundvollzügen des Daseins
verwurzelt. Die jeweilige Art der Historie ist immer erst und nur
die Folge einer schon gesetzten Wesensbestimmung der Geschichte
(**).
Deshalb ist die Historie immer ein abkünftiger Modus von Geschichte
und Geschichtlichkeit. Im Kontext der Nietzsche-Vorlesungen ist dies kritisch
zugespitzt worden: Mit der Vollendung der Neuzeit liefert sich die
Geschichte an die Historie aus, die mit der Technik desselben Wesens ist
(**).
Historie als geschriebene und reflektierte Geschichte ist daher von einem
Seinsgeschick, einer Lichtung des Seins abhängig. Historie ist eine
partielle Realisierung dieser Geschichtlichkeit im Bereich des Vorstellens,
wobei sie zugleich wieder verdeckt wird. Alles Historische, alles in der
Weise der Historie Vor- und Festgestellte ist geschichtlich, d.h. auf
das Geschick im Geschehen gegründet. Aber die Geschichte ist niemals
notwendig historisch.
Der Historismus ist Heidegger zufolge ein Indiz dafür, daß
die Historie das Dasein seiner eigentlichen Geschichtlichkeit zu
entfremden trachtet. Hier wird man auch Resonanzen auf Nietzsches
Zweite Unzeitgemäße Betrachtung in Rechnung stellen
müssen. Nietzsches monumentalische Historie, die die
plastische Kraft des Einzelnen und einer Kultur ins Zentrum
rückt, berührt diese Dimension des Daseins, anders als der Historismus,
wieder.
Historismus ist die völlige Herrschaft der Historie als Verrechnung
des Vergangenen auf Gegenwärtiges mit dem Anspruch, dadurch das Wesen
des Menschen als eines historischen - nicht geschichtlichen - Wesens endgültig
festzumachen (**).
Geschichtlichkeit erweist sich vor diesem Hintergrund nicht nur als Grund
der Historie. Vielmehr kann Heidegger zufolge der Historismus einzig durch
Geschichtlichkeit, eine neue Entscheidung und erstmalige Erfragung
der Wahrheit des Seyns überwunden werden.
Phänomenologie und Hermeneutik.
Die Methode von Sein und Zeit ist von Heidegger ausdrücklich
als Phänomenologie und ebenso als Hermeneutik verstanden worden.
Es gibt mehrere ausdrückliche Verweise auf Husserls Begründung
der Phänomenologie in desse Logischen Untersuchungen.
Sowohl Husserl als auch Heidegger zufolge, ist die Phänomenologie
als Methodenbegriff und nicht als eine Richtung neben anderen innerhalb
der Philosophie zu verstehen. Die Phänomenologie drückt eine
Maxime aus, die also formuliert werden kann: »zu den Sachen selbst«.
Damit ist der Bezug auf Husserl offensichtlich. Die Phänomenologie
ist im einzelnen als Methodenbegriff ausgewiesen, in dem es nicht in erster
Linie um das sachhaltige Was der Gegenstände geht, sondern
um deren Wie-Sein. Nicht als philosophische Richtung,
sondern als ein Ergreifen einer Möglichkeit fungiert
die Phänomenologie, so Heidegger. Entscheidend dabei ist, daß
Phänomenologie und Ontologie eng miteinander verschränkt sind.
Sie unterscheiden sich nur nach Gegenstand und Behandlungsart.
Dabei nimmt die Phänomenologie ihren Ausgangspunkt bei der Hermeneutik
des faktischen Daseins. Einerseits ist die Ontologie nur als Phänomenologie
möglich, andererseits ist die Ontologie die Thematik der Phänomenologie.
Phänomenologie ist Zugangsart zu dem und die ausweisende Bestimmungsart
dessen, was Thema der Ontologie werden soll. (**).
Methodisch grundsätzlich ist diese Verfahrensweise schon mit dem
altgriechischen Terminus als apophainesthai ta phainomena
charakterisiert: Das, was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst
her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen. Dabei spielt der Methodenschritt
der Destruktion eine maßgebliche Rolle. Freilegendes Sehenlassen
vollzieht sich im Sinne des methodisch geleiteten Abbauens der Verdeckungen.
Mit der Erscheinung ist immer zugleich ihre Verdeckung zu untersuchen.
Darum ist eine dreifache Schrittfolge der Phänomenologie gefordert:
Der Ausgang der Analyse, bei der Faktizität des Daseins, deren Zugang
zum Phänomen und der Durchgang zu dem ontologischen Kern.
Phänomenologie ist zugleich Hermeneutik. Phänomenologisches
Sehen ist gerade nicht unmittelbar möglich, sondern immer
schon durch das Verstehen bzw. die Logik als den Logos angeleitet.
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Hans-Georg Gadamer und Martin Heidegger bei der
Arbeit mit zuhandenem Zeug neben der Hütte im Schwarzwald.
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Methodisch hat Heidegger seine Fundamentalontologie (vgl. z.B. in Sein
und Zeit) gleichursprünglich zu ihrem Wesenszug als Phänomenologie
auch als Hermeneutik verstanden. Die Auffassung der Hermeneutik ist die
elementare, auf Aristoteles (vgl. Peri Hermeneias -
latinisiert: De interpretatione) zurückgehende
Form als Lehre von Rede (also: Sprache) und Verstehen (also: Sprache).
Es ist hier also nicht in erster Linie die Hermeneutik im Sinne von Schleiermacher
und Dilthey gemeint. Heideggers Hermeneutik-Begriff ist ungleich weiter
angelegt und durch den Terminus Hermeneutik der Faktizität
schon sehr früh präzisiert. Deshalb ist es auch nur folgerichtig,
wenn der späte Heidegger in seinem sprachphilosophischen
Denken die Hermeneutik als Proprium Gadamers auszeichnet. Schon der frühe
Heidegger hatte den Titel Hermeneutik der Faktizität
als sachgemäßere Bezeichnung an die Stelle von Ontologie gesetzt.
Gegenüber der überlieferten und heutigen Ontologie
gibt es demnach ein zweifaches Ungenügen: (1) Die Ontologie ist auf
das Sein von Gegenständen fixiert. (2) Damit versperrt sie sich den
Zugang des faktischen Daseins in seinem Weltbezug. (Vgl. Heideggers Vorlesung
aus dem Sommersemester 1923: Hermeneutik der Faktizität,
veröffentlicht als Band 63 der Werke [GA].) Die
Hermeneutik der Faktizität wird daher als eine Vorform der Fundamentalontologie
aufgefaßt. Sie fragt, im Sinne des hermeneutischen und phänomenologischen
Als nach der Weise, als was bzw. wie das Dasein gesehen
wird. Dazu gehört dem frühen Heidegger zufolge
die Aufklärung der hermeneutischen Situation. Sie ist nicht nur gegenüber
der philosophischen Problemlage, sondern auch gegenüber der geistigen
Situation der Zeit zu klären. Dabei wird die Phänomenologie
als das Wie der Forschung eingeführt. Sie fragt nach
den Phänomenen, so wie diese sich zeigen. Die Berücksichtigung
der hermeneutischen Situation positioniert die Phänomenologie in
zeitlichen Horizonten. Die Erwartung einer atemporalen Ersten Philosophie
ist insofern zurückzuweisen. Im Zusammenhang mit dieser frühen
Selbstverständigung spielt daher die Positionierung der Phänomenologie
zwischen positiver Wissenschaft und Weltanschauung eine entscheidende
Rolle. Schon im Zusammenhang der Hermeneutik der Faktizität werden
wesentliche Momente des später in Sein und Zeit ausgearbeiteten
In-der-Welt-Seins des Daseins expliziert. Welt begegnet im Wie des
Besorgtseins, so daß neben der Vertrautheit des Man auch die
Auffälligkeiten und Störungen, der Kontingenz- und Begegnischarakter
der Welt auftreten. Erstmals werden in der Hermeneutik der Faktizität
Kategorien der Existenz, die Existenzialien, benannt. Hervorgehoben wird
insbesondere die Ruinanz: Ein Hineingehaltensein in den Fortgang
der Zeit, welcher das Ethos, die Aufenthaltsdeutung in der Welt, entgegengesetzt
wird. Die Abriegelung und Selbstverfehlung des Daseins wird unter die
Rubrik der Reluzenz gefaßt. Sorge wird als Grundphänomen
des Daseins aufgewiesen. Besonders markant ist dabei, daß im Selbst-
und Weltverstehen des Daseins Die Sorge als das Primäre
erwiesen wird.
Heideggers Phänomen-Begriff geht in ontologischer Hinsicht grundlegend
über denjenigen Husserls hinaus. Husserl zog in seinen Prinzipien
der Prinzipien die Grenzen, in denen sich die Erscheinung gibt,
doch wurden diese Grenzen bei ihm nicht thematisch. In Sein und
Zeit ist der Phänomen-Begriff von den altgriechischen Wörtern
phaonmenon und phainestai her eingeführt.
Das Phänomen ist das Sich-an-ihm-selbst-Zeigende, das
Offenbare. Das Sein des Seienden muß aber in ausgezeichnetem
Sinne Phänomen genannt werden, obwohl es sich selbst nicht zeigt.
Schon in seiner im Wintersemester 1925/26 gehaltenen Marburger Logik-Vorlesung
hatte Heidegger festgehalten: Der Titel Phänomen bedeutet also
gewissermaßen immer eine Aufgabe (in: Band 21 der Werke
[GA], S. 33 [**]).
Heidegger hat gerade dieses Verborgene, das ontologisch Sinn
und Grund des sich zeigenden Seienden ausmacht, thematisiert; weil
ihm zugfolge dieses Verborgene gerade das Sein des Seienden
ist, das aus seinem eigensten Sachgehalt fordert, als Phänomen
zu erscheinen.
Anthropologie/Anthropologismus und Psychologie/Psychologismus.
Seit seinen philosophischen Anfängen hat sich Heidegger gegen eine
Anthropologisierung der Philosophie stark gemacht. Die fundamentalontologische
Frage nach dem Dasein und dessen Bezogenheit auf das Sein ist nicht mit
Anthropologie zu verwechseln. Auch hat Heideggers Kritik an der Anthropologie
Husserls Einwände gegen Psychologie und Psychologismus fortgesetzt.
Heidegger zufolge ist darin zudem eine biologistische Verkürzung
zu sehen, wie er insbesondere in seinen Nietzsche-Vorlesungen verdeutlicht
hat. Die Struktur des Einwandes geht allerdings auf Heideggers phänomenologische
Vorlesungen seiner frühen Zeit als Dozent zurück. Auch Heideggers
grundsätzliche Einwände gegenüber einer Subjektivierung
des Grundverhältnisses des Menschen zur Welt haben zu einem kritischen
Verhältnis zur Anthropologie geführt. Auf dem Weg der Kehre
wird zwar vom Menschen her auf das Seinsgeschehen geblickt, dies bedeutet
aber keineswegs einen anthropologischen Blick (vgl. z.B.: Über
den Anfang, 1940, S. 133; Das Ereignis, 1941:
S. 174 f.).
Heidegger hat sich immer wieder in den Auseinandersetzungen ausdrücklich
gegen ein psychologistisches Mißverständnis der Exposition
von Grundbegriffen der Phänomenologie und Ontologie des faktischen
Daseins gewehrt. Von seinen Anfängen an ist Heidegger einer Kritik
am Psychologismus verpflichtet gewesen, wie sie am Anfang von Husserls
phänomenologischem Programm stand. Die Psychologie ist auf einer
ähnlichen Ebene zu sehen wie die Anthropologie: als Verkürzung.
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Und ich bin mir ziemlich sicher,
daß dieser eigenartige subtile Mechanismus auch dafpür
sorgen wird, daß Heidegger immer eine Stelle besetzt halten
wird, auf die man ständig zurückkommt, wenn man in eine
ganz bestimmte Tiefendimension des Nachdenkens über das Leben
eintaucht. (Rüdiger Safranski, Heidegger, Film,
2001 ).
Medard Boss hatte sich Heidegger schriftlich
zugewandt und suchte im Denken Heideggers die Möglichkeit einer
gewandelten Grundlegung .... (Friedrich-Wilhelm von Herrmann,
Heidegger, Film, 2001 ).
Im wesentlichen beginnt der Brückenschlag
zwischen dem therapeutischen Philosophieren und dem Idealismus schon
im Frühwerk Fichtes, bei dem man übrigens eine sehr schöne,
hier einschlägige polemische Bemerkung findet. In einer Fußnote
zur Grundlegung der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 schreibt
er einmal ..., die meisten Menschen würden leichter dahin zu
bringen seyn, sich für ein Stück Larva im Monde, als für
ein Ich zu halten (**).
(Peter Sloterdijk, Heidegger, Film, 2001 ).
Nur wenn das geschieht, was in diesem Funkenschlag
zwischen Boss und Heidegger einerseits und Heidegger und Lacan andererseits
sich schon einmal abgezeichnet hatte - nämlich, daß die
Medizin (Medizin? HB) aus ihrem dogmatischen
naturalistischen Schlummer erwacht und einen existierenden Menschen
als Patienten vor sich sieht, einen Menschen, dessen Patiens mit seiner
ontologischen Ekstase in der Tiefe verbunden ist -, erst dann würde
diese philosophische Therapeutik, die sich in Heideggers Werk abzeichnet
oder andeutet, auf einer breiteren Ebene Früchte tragen. Und
ich bin überzeugt davon, daß es in der nächsten Generation
viele Schritte in der zeitgenössischen Philosophie geben wird,
die diese Kräfte verdeutlichen. (Peter Sloterdijk, Heidegger,
Film, 2001 ).
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Die Psychiater/Psychoanalytiker Ludwig Binswanger und Medard Boss waren
an Heideggers Daseisnanalyse sehr interessiert (sie benannten ihre psychiatrische
und psychoanalytische Richtung nach Heideggers Daseinsanalyse).
Genauer gesagt: Ludwig Binswanger hatte Heideggers Daseinsanalyse, die
als wissenschaftliche Fundierung der Psychiatrie gedacht war, für
den therapeutischen Kontext fruchtbar gemacht, und Medard Boss gelang
es später, nämlich ab 1959, Heidegger für seinen eigenen
Ansatz innerhalb der Psychiatrie/Psychoanalyse mit ihren Ansätzen
zu Diagnose und Therapie zu gewinnen, denn es sollte ja darum gehen, nicht
mehr nach hinter den Dingen liegenden Erklärungen für psychiatrische
Erkrankungen zu suchen, sondern diese ausgehend vom Verstehen des gesunden
und kranken Gesamtdaseins des Menschen zu begreifen. Heideggers Analysen
des Daseins boten hierfür die nötige Erkenntnis, den Menschen
in seinem Gesamtsein als verstehendes Ganzes zu betrachten, der die Ursache
der Subjekt-Objekt-Spaltung selber ist und die ihm selber nicht zugrunde
liegt, und somit dem traditionellen mechanistisch kausalen Verständnis
der modernen Wissenschaften ein neues, dem Wesen des Menschen gerecht
werdendes Verstehen entgegenzusetzen. Heidegger zufolge unterscheidet
sich die Daseinsanalyse von Boss letztendlich auch wissenschaftlich vom
Ansatz Binswangers (vgl. die von Heidegger von 1959 bis 1969 gehaltenen,
später unter dem Titel veröffentlichten Zollikoner
Seminare). Krankheit wird gemäß diesem Ansatz als
Ausdruck der wesensmäßigen Endlichkeit des Daseins verstanden.
Heilung wird demnach als Begegnung im Sinne des Mit-Seins mit Anderen
verstanden; der Arzt oder Therapeut ist als Partner in das Krankheitsgeschehen
eingebunden (vgl. Übertragung) und soll dem Kranken aus
der Enge der durch die Begrenztheit des Daseins vorgegebenen Einschränkung
helfen. Die Daseinsanalyse - als psychotherapeutische Richtung auch Daseinsanalytik
genannt - ist ein prominentes Beispiel für die Einflußnahme
von Heideggers Phislosophie auf ein angewandt-therapeutisches Feld. Ähnlich
wie in der Logopädie und anderen therapeutischen Richtungen ist auch
die Daseinsanalytik nicht das Unbewußte, sondern das Bewußte
der Leitfaden, genauer: die sich bewußt bestimmende Existenz, d.h.
das sich bewußt bestimmende Dasein in den verschiedenen Horizonten
seines In-der-Welt-Seins.
Wissenschaft und Technik.
Der Entwurfscharakter der Wissenschaft bedeutet Heidegger zufolge -
aber nicht nur Heidegger zufolge (!) - zunächst einmal eine
Vereinzelung in spezifische Gegenstandsbereiche und ihre Verfahren. Damit
wurde die Wissenschaft zur Forschung. Der Wissenschaft ist ihr eigenes
Wesen bis heute verborgen geblieben. Sie hat bis heute nicht erkannt,
auf welche Grundbegriffe sie eigentlich ausgelegt ist. Heidegger hat dies
in einer seiner Vorlesungen auf eine einfache Formel gebracht: Die
Wissenschaft denkt nicht. (Gedruckt erschienen in: Was heißt
Denken, S. 9. **)
Später sagte Heidegger in einem Gespräch mit Richard Wisser,
das als Film festgehalten worden ist: Und dieser Satz »Die
Wissenschaft denkt nicht«, der viel Aufsehen erregte, als ich ihn
in einer Freiburger Vorlesung aussprach, bedeutet: Die Wissenschaft bewegt
sich nicht in der Dimension der Philosophie, sie ist aber, ohne daß
sie es weiß, auf diese Dimension angewiesen. Zum Beispiel: Die Physik
bewegt sich im Bereich von Raum und Zeit und Bewegung; was Bewegung, was
Raum; was Zeit ist, kann die Wissenschaft als Wissenschaft nicht entscheiden.
Die Wissenschaft denkt also nicht, d.h. sie kann gar nicht denken im Sinne
mit ihren Methoden. Ich kann z.B. nicht physikalisch oder mit physikalischen
Methoden sagen, was die Physik ist; sondern das, was die Physik ist, kann
ich nur denkend, philosophierend sagen. Der Satz »Die Wissenschaft
denkt nicht« ist kein Vorwurf, sondern ist nur eine Feststellung
der inneren Struktur der Wissenschaft, daß zu ihrem Wesen gehört,
daß sie einerseits auf das, was die Philosophie denkt, angewiesen
ist, sie selbst aber das vergißt und nicht beachtet. (In:
Im Denken unterwegs **)
Keine Wissenschaft kann mit ihren eigenen Mitteln etwas über sich,
über ihr Tun und über ihre Grundbegriffe oder auch Stammbegriffe
(Kategorien) aussagen, ist aber unbedingt auf die Philosophie angewiesen,
weil die Philosophie nämlich die einzige Disziplin ist, die das kann.
Die Naturwissenschaft macht zwar notwendig von einer bestimmten
Vorstellung von Kraft und Bewegung und Raum und Zeit Gebrauch, aber
sie kann niemals sagen, was Kraft, Bewegung, Raum, Zeit sind, weil sie
solches nicht fragen kann, solnage sie Naturwissenschaft bleibt
und nicht unversehens den Übertritt in die Philosophie vollzieht.
Daß jeder Wissenschaft als solcher, d.h. als der Wissenschaft,
die sie ist, ihre Grundbegriffe und das, was diese begreifen, unzugänglich
bleiben, hängt damit zusammen, daß keine Wissenschaft je
mit ihren eigenen wissenschaftlichen Mitteln etwas über sich aussagen
kann. Was Mathematik sei, läßt sich niemals mathematisch
ausmachen; was Philologie sei, läßt sich niemals philologisch
erörtern; was Biologie sei, kann niemals biologisch gesagt werden.
Was eine Wissenschaft sei, ist schon als Frage keine wissenschaftliche
Frage mehr. In dem Augenblick, wo die Frage nach der Wissenschaft überhaupt,
d.h. immer zugleich nach den bestimmten möglichen Wissenschaften
gestellt wird, tritt der Fragende in einen neuen Bereich mit anderen
Beweisansprüchen und Beweisformen, als die sind, die in den Wissenschaften
für geläufig gelten. Es ist der Bereich der Philosophie.
Sie ist den Wissenschaften nicht angeklebt und aufgestockt, sie liegt
im innersten Bereich der Wissenschaft selbst verschlossen, so daß
der Satz gilt: Eine bloße Wissenschaft ist nur so weit wissenschaftlich,d.h.
über eine bloße Technik hinaus echtes Wissen, als sie philosophisch
ist. Man kann von hier aus das Ausmaß des Widersinns und Unsinns
abschätzen,der in einem Streben liegt, das die »Wissenschaften«
angeblich erneuern und gleichzeitig die Philosophie abschaffen will.
(In: Nietzsche I, S. 332-333. **)
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Heidegger hat immer wieder ausdrücklich nach dem Wesen der Technik
gefragt. Das Wesen der Technik ist selbst nichts Technisches, sondern
resultiert aus einer metaphysischen Grundstellung. Diese hat er als Endpunkt
der neuzeitlichen Metaphysik spezifiziert. Aus dem Paradigma der Vorstellung
des cartesischen Ego cogito ist der Bestand geworden, so daß
die elaborierte, entfesselte Technik die Welt nicht mehr Welt sein läßt,
sondern ausschließlich in ihrer Präpariertheit, als Gestell
eben thematisch macht. Die Vernutzungen in ihrer Wiederholungsstruktur
zeichnen die Technik aus. Damit ist im technischen Paradigma die pragmatische
Gebrauchsdimension verunmöglicht. Das Dasein ist selbst in das technische
Gestell einbezogen. Nachdem Nietzsches Wille zur Macht die letzte
Ausprägung einer Metaphysik gewesen ist, entfesselt sich die Technik
als Wille zum Willen und als Form der Selbstermächtigung.
Für die Generierung dieses Technikbegriffs spielt Ernst Jüngers
Begriff des Arbeiters eine Schlüsselrolle (vgl. z.B.: Zu Jünger,
in: Gesamtausgabe, Band 90). Das technische Weltverhältnis bedeutet
Bestandssicherung und Wachstum. Das rechnende Denken reduziert sich auf
die kybernetische Operation der Unterscheidung von 0 und 1.
In dem Gestell also zeigt sich das Wesen der modernen Technik.
Da das Wesen der Technik selbst nichts Technisches ist, kann man es auch
bezeichnen als ein seinsgeschichtliches Geschick der in der Vergessenheit
ruhenden Wahrheit des Seins (In: Brief über den Humanismus,
a.a.O., S. 340 **).
Die Technik stammt nicht nur dem Namen nach, sonder auch wesensgeschichtlich
aus der tecnh als einer Weise
des alhqenein, das heißt des Offenbarmachens
des Seienden (ebd. **).
Darum gründet die Technik Heidegger zufolge im Ereignis
selbst (das Ereignis ist eng mit dem Sein verknüpft!),
der Ermöglichung der Metaphysik. Obwohl Heidegger die Technik mit
der Seinsverlassenheit bzw. Seinsverwahrlosung gleichgesetzt und sie als
Machenschaft herausgehoben hat, hat er auch in ihr selbst die Kehre
auf das Ungedachte in der Seinsgeschichte sich vollziehen gesehen: Ich
sehe also im Wesen der Technik den ersten Vorschein eines sehr viel tieferen
Geschehnisses, was ich das Ereignis nenne. (In: Im Denken unterwegs
**)
Die Technik hat die Tendenz ins Riesenhafte, in ein Wachstum,
das an natürlichen Ressourcengrenzen nicht mehr gebunden ist. Daher
übergreift die Technik auch alle politischen Systeme. Ethische Maximen
erweisen sich angesichts der autopoietsichen Macht der Technik als hinfällig.
Sie kann nur durch eine grundlegende Umkehrung der Denkart und des Seinsverständnisses
berichtigt werden.
Heideggers Technikphilosophie geht über eine herkömmliche
Entfremdungsanalyse ebenso entschieden hinaus wie über anthropologische
oder kulturphilosophische Technikphilosophien.
Die neuzeitliche Technik entspricht einer vollständigen Seinsverlassenheit
und einem Seinsentzug. Heidegger hat aber eben auch, wie schon angedeutet,
gerade aus der seinsgeschichtlichen Lage der Technik eine mögliche
Rückkehr des bislang ungeborgenen Seins des Seienden erwartet.
In diesen Tagen sind wir selbst Zeugen eines geheimnisvollen
Gesetzes der Geschichte, daß ein Volk eines Tages der Metaphysik,
die aus seiner eigenen Geschichte entsprungen, nicht mehr gewachsen
ist und dies gerade in einem Augenblick, da diese Metaphysik sich in
das Unbedingte gewandelt hat. Jetzt zeigt sich, was Nietzsche (angeblich
der »Antimetaphysiker« [**|**];
HB) bereits metaphysisch erkannte, daß die neuzeitliche
»machinale Ökonomie«, die maschinenmäßige
Durchrechnung alles Handelns und Planens in ihrer unbedingten Gestalt
ein neues Menschentum fordert, das über den bisherigen Menschen
hinausgeht. Es genügt nicht, daß man Panzerwagen, Flugzeuge
und Nachrichtengeräte besitzt; es genügt auch nicht, daß
man über Menschen verfügt, die dergleichen bedienen können;
es genügt nicht einmal, daß der Mensch die Technik nur beherrscht,
als sei diese etwas an sich Gleichgültiges, jenseits von Nutzen
und Schaden, Aufbau und Zerstörung, beliebig von irgendwem zu beliebigen
Zeiten Zwecken nutzbar. - Es bedarf eines Menschentums, das von Grund
aus dem einzigartigen Grundwesen der neuzeitlichen Technik und ihrer
metaphysischen Wahrheit gemäß ist, d.h. vom Wesen der Technik
sich ganz beherrschen läßt, um so gerade selbst die einzelnen
technischen Vorgänge und Möglichkeiten zu lenken und zu nützen
(oder von ihnen gelenkt und genutzt zu werden;
HB). Der unbedingten »machinalen Ökonomie« ist
im Sinne der Metaphysik Nietzsches nur der Über-mensch gemäß,
und umgkehrt: dieser bedarf jener zur Errichtung der unbedingten Herrschaft
über die Erde (oder umgekehrt: die Maschinen
bedürfen der letzten Menschen zur Errichtung der unbedingten Herrschaft
über die Erde; HB). (In: Nietzsche II, S. 146-147.
**)
Die Philosophie löst sich in selbständige Wissenschaften
auf. Sie heißen: Logistik, Semantik, Psychologie, Anthropologie,
Soziologie, Politologie, Poetologie, Technologie. Zugleich mit der Auflösung
in die Wissenschaften wird die Philosophie abgelöst durch eine
neuartige Einigung aller Wissenschaften. Die Übermächtigung
der Wissenschaften durch einen in ihnen selbst waltenden Grundzug vollzieht
sich im Heraufkommen dessen, was sich unter dem Titel Kybernetik auszubauen
versucht. Dieser Vorgang wird dadurch gefördert und beschleunigt,
daß ihm die moderne Wissenschaft zufolge ihres Grundcharakters
selbst entgegenkommt. (In: Rede am Vorabend des 60. Geburtstags
von Eugen Fink **).
Mit Gestell (auch Ge-stell)
hat Heidegger den Grundzug der neuzeitlichen und modernen Technik benannt,
dabei einen Doppelcharakter des Gestells expliziertend, denn es zeigt
sich als äußerste Vergessenheit und zugleich als Wink
in das Ereignis. Das Gestell steht im Zusammenhang mit dem Stellen,
einer herausfordernden Grundhaltung gegenüber dem Sein
des Seienden, das sich im Wesen der modernen Technik manifestiert. Die
Seinsvergessenheit erfährt im Gestell ihre höchste Zuspitzung,
denn alles Seiende wird in den Bestand einbezogen. Daß sich gerade
im Gestell eine Wendung bzw. Umkehrung auf das Sein vollzieht, ist das
oft übersehene Mysterium der Seinsgeschichte. Deshalb hat Heidegger
bemerken können, daß das Gestell ein Vorspiel des Ereignisses
sei. Dieses verharrt jedoch nicht notwendig in seinem Vorspiel.
Denn im Er-eignis spricht die Möglichkeit an, daß es das bloße
Walten des Gestells in ein einfacheres Ereignen verwindet. (In:
Identität und Differenz, a.a.o, S. 45 f.. **)
Heidegger hat auch den nachstellenden, einholenden Charakter des Gestells
notiert, weshalb er als dessen Wesenszug die Gefahr bestimmt
hat. Abstände und Entfernungen werden im Gestell getilgt.
Humanismus.
In diesem Text soll es in erster Linie um Heideggers 1947 erschienenen
Brief über den Humansimus (**)
und seine Folgen gehen. 50 Jahre nach dem Erscheinen dieses dicken
Briefes hielt Peter Sloterdijk aus Anlaß dieses Jubiläums am
15. Juni 1977 seine Rede Regeln für den Menschenpark
in Basel. Im Juli 1999 wiederholte er in Elmau diese Rede und bekam anschließend
eine Sloterdijk Debatte (**)
um die Ohren gehauen. Diese Rede erschien noch 1999 als Buch - mit dem
Untertitel: Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den
Humanismus. Darin ist eine von Sloterdijk selbst als Epochenfrage
genannte Frage gestellt: Was zähmt noch den Menschen, wenn
der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert? Was zähmt
den Menschen, wenn seine bisherigen Anstrengungen der Selbstzähmung
in der Hauptsache doch nur zu seiner Machtergreifung über alles Seiende
geführt haben? Was zähmt den Menschen, wenn nach allen bisherigen
Experimenten mit der Erziehung des Menschengeschlechts unklar geblieben
ist, wer oder was als Erzieher wozu erzieht? (**).
In Heideggers Brief über den Humanismus ist u.a. zu lesen:
Substanz« ist, seinsgeschichtlich gedacht, bereits die
verdeckende Übersetzung von ousia,
welches Wort die Anwesenheit des Anwesenden nennt und meistens zugleich
aus einer rätselhaften Zweideutigkeit das Anwesende selbst meint.
Denken wir den metaphysischen Namen »Substanz« in diesem
Sinne, der in »Sein und Zeit« der dort vollzogenen »phänomenologischen
Destruktion« gemäß schon vorschwebt (vgl. S. 25), dann
sagt der Satz »die Substanz des Menschen ist die Ek-sistenz«
nichts anderes als: die Weise, wie der Mensch in seinem eigenen Wesen
zum Sein anwest, ist das ekstatische Innestehen in der Wahrheit des
Seins. Durch diese Wesensbestimmung des Menschen werden die humanistischen
Auslegungen des Menschen als animal rationale, als »Person«,
als geistig-seelisch-leibliches Wesen nicht für falsch erklärt
und nicht verworfen. Vielmehr ist der einzige Gedanke der, daß
die höchsten humanistischen Bestimmungen des Wesens des Menschen
die eigentliche Würde des Menschen noch nicht erfahren. Insofern
ist das Denken in »Sein und Zeit« gegen den Humanismus.
Aber dieser Gegensatz bedeutet nicht, daß sich solches Denken
auf die Gegenseite des Humanen schlüge und das Inhumane befürworte,
die Unmenschlichkeit verteidige und die Würde des Menschen herabsetze.
Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die Humanitas des Menschen
nicht hoch genug ansetzt. Freilich beruht die Wesenshoheit des Menschen
nicht darin, daß er die Substanz des Seienden als dessen »Subjekt«
ist, um als der Machthaber des Seins das Seiendsein des Seienden in
der allzu laut gerühmten »Objektivität« zergehen
zu lassen. **
Heideggers Grundgedanke seines Denkens ist ja gerade der, daß
das Sein beziehungsweise die Offenbarkeit des Seins den Menschen braucht
und daß umgekehrt der Mensch nur Mensch ist, insofern er in der
Offenbarkeit des Seins steht. (**).
Und darum ist es nur folgerichtig, die Aufgabe des Menschen als das Hüten
des Seins zu denken:
Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit des
Seins »geworfen«, daß er, dergestalt ek-sistierend,
die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende
als das Seiende, das es ist, erscheine. Ob es und wie es erscheint,
ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur
in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet
nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des Seins.
Für den Menschen aber bleibt die Frage, ob er in das Schickliche
seines Wesens findet, das diesem Geschick entspricht; denn diesem gemäß
hat er als der Ek-sistierende die Wahrheit des Seins zu hüten.
Der Mensch ist der Hirt des Seins. Darauf allein denkt »Sein und
Zeit« hinaus, wenn die ekstatische Existenz als »die Sorge«
erfahren ist (vgl. §44a, S.226ff.). **
Die künftigen Denker müssen das Sein lernen.
Steht das Wort Humanismus in seiner tiefsten Bedeutung nicht
viel mehr für das Böse als für das Gute in den Menschen
oder, anders gesagt, mehr für das den Menschen entweder umzingelnde
Böse - versinnbildlicht durch den Teufel, der z.B. die Räume
eng macht und auf die Angst setzt, weil er selbst sich einst verengt
hat und seitdem verängstigt ist - als das ansonsten in den Menschen
zu findende Gute? Kommt dieses Böse eher von außen, oder ist
es gar mitten in der Welt - der Teufel als erster mitten in
der Welt - und beeinflußt die Menschen von innen heraus, z.B. vom
Kern der Erde aus? Der kosmologische Raum ist Aristoteles und dem späteren
Christentum zufolge so aufgeteilt, daß unterhalb des Mondes
die unvollkommenen, weil dem Bösen direkt ausgesetzten
Wesen und oberhalb des Mondes die vollkommenen
Wesen des Guten sich aufhalten. Und wenn dies alles auch nur ein Bild
ist, dem man zwar möglicherweise, aber doch nicht notwendigerweise,
in der Wirklichkeit vielleicht nur gemäß einer Wahrscheinlichkeit
und also vielleicht gar nicht ausgesetzt ist, dann kann es doch auch eine
Zeit vor dem Bösen gegeben haben, wofür ja auch
die Geschichte des Teufels selber spricht: er war anfangs ein Engel, wollte
sein wie Gott, konnte es aber nicht, wurde trotzig und begann, alles um
ihn herum anzustecken. Darum war Heidegger auch in dieser
Hinsicht einfach nur konsequent, als er davon ausging, daß
der Mensch als Dasein, das sein Da deuten kann und darum ein In-der-Welt-Sein
ist, sich der Angst oder der tiefsten Langeweile auszusetzen hat, wenn
es frei vom Uneigentlichen, also eigentlich werden, sein
Selbstsein verstehen will. Der Mensch muß sich der Gefahr um seiner selbst willen stellen
oder, wie Peter Sloterdijk sagte, als er mit Rüdiger Safranski zusammen
auf dem Brocken saß und dem Morgengrauen des 1. Mai 1999 entgegenphilosophierte:
Die Welt hat kein Geländer
in der Heideggerschen ekstatischen Lehre vom Ort - von dorther glaube
ich, daß er trotz
allem das Anliegen der klassischen Metaphysik mit den Mitteln unseres
Jahrhunderts sehr wohl weitergedacht hat. |
Muß nicht jeder Mensch selber etwas oder gar viel dafür tun,
das Böse - in welcher Gestalt auch immer - von sich fern zu halten?
Ist es nicht so, daß Wörter oder Begriffe wie Gottvertrauen,
Optimismus Menschlichkeit und eben oder gar besonders
Humanismus die Menschen eher dazu verleiten, die Gefahr
wegen vermeintlicher Gutheit, vermeintlichen Gutmenschentums gar nicht mehr zu erkennen,
das Böse mit dem
Guten zu verwechseln und mit einer um so höheren Wahrscheinlichkeit
Opfer bzw. Mittäter des Teufels zu werden?
Peter Sloterdijk zufolge muß man, wenn Heidegger im Brief
an den jungen Franzosen im Jahr 1946 das Etikett Humanismus zurückweist
mit der Bemerkung, solche Begriffe hätten schon genug Unheil angerichtet,
... die historische Szene mitbedenken - dieses Bilanzziehen nach dem Schlimmsten
und dieses Hinwirklen auf eine tiefere Diagnose hinsichtlich der modernen
Menschenwelt, die in ihren Massenvernichtungsorgien gewissermaßen
ihre Selbstdarstellung vollzogen hätte. Man müßte eher
in den Blitz der Katastrophe schauen, um zu erfahren, wie es um die Sache
des Seins und des Menschen wirklich steht. ....
Man kann weder unverwandt in die Sonne blicken noch in den Tod. Nach Heidegger
wäre hinzuzufügen, man kann auch nicht in den Menschen oder
in die Lichtung blicken. .... Heidegger regt an, daß man nicht nur
das anschaut, was im Licht liegt, sondern daß man darüber nachdenkt,
wie das Licht und die Dinge zusammenkommen, anders gesagt, man soll die
Lichtung als solche meditieren. Die Lichtung ist gleichsam der weltgebende
Blitz, und diesen sollten wir jetzt eigens vergegenwärtigen. Aber
wer direkt in ihn schaut, wird geblendet. Wenn man es recht überlegt,
geht es Heidegger darum, eine Art von anonymer Religion zu stiften, abseits
der klassischen Metaphysik und doch auf eine konservative Weise, eine
Religion der Lichtung. Deren Grundsatz lautet, daß die Menschen
noch verhaltener und noch gesammelter zu werden haben, als sie es waren.
Sie sollen nicht nur die Zehn Gebote beachten oder auf dem achtfachen
Pfad wandeln, was gut und ehrenhaft bleibt, eins wie das andere, und für
immer unverzichtbar. Sie sollen zusätzlich ein elftes, ein ontologisches
Gebot beachten und einen neunten Zweig des Pfads betreten, wenn man so
sagen dürfte. Voraussetzung dafür ist, daß sie den Blitz
bedenken und sich in seinem Licht selber als die Unheimlichen fürchten
lernen. Der Mensch kennt sich selber noch gar nicht, weil er noch nie
richtig nach sich selbst gefragt hat. Wenn er sich konventionell als animal
rationale definiert, fügt er nur zwei scheinbar vertraute Größen
zusammen: Er bildet sich ein, zu wissen, was Tiere sind, und er glaubt
zu verstehen, was die Ratio ist, und indem er die beiden Trivialitäten
addiert, meint er zu guter Letzt, er habe Übersicht hergestellt und
sei bei sich zu Hause.
Auf dieser Ebene argumentieren auch heute noch oder schon wieder all diejenigen,
denen die Ungewißheiten und Unübersichtlichkeiten, alt oder
neu, zu viel geworden sind und sich in einem »neuen Humanismus«
retten wollen, zum Beispiel die reaktionären Neokantianer in Frankreich,
die das angeblich antihumane Denken von 1968 zuerst verhunzt und dann
in seiner Verhunzungsgestalt scharf abgelehnt haben. Human, da weiß
man, was man hat: Der Humanismus ist der Fundamentalismus unserer Kultur,
er ist die politische Religion des globalisierten okzidentalen Menschen,
der sich für so gut und klarsichtig hält, daß er sich
gern überall nachgeahmt sähe. -
Heidegger ist ein Ontologe der Unheimlichkeit des Menschen bei sich selbst,
wenn er darauf hinweist, daß der Mensch den Ort im Seienden innehat,
wo sich die Seinsfrage überhaupt erst stellt. Durch den Menschen
hindurch geschehen all diese explosiven Ereignisse wie der Weltkrieg als
planetarische Projektion der Machtfrage und die Totalbenutzung der Erde
und des Lebendigen für die Produktion, den Verkehr, den Konsum. Wo
so gefragt wird, ist es mit der Erbaulichkeit des Humanismus in Schule
und Sonntagspolitik vorbei. .... - Versuchen wir, die ontologische Exzentrik
der menschlichen Situation, dieses Hinausstehen ins Offene, näher
zu charakterisieren. Die Natur wird von der modernen Wissenschaft beschrieben
als eine sich selbser bauende Hypermaschine. Der gängige Ausdruck
für Selbstbau heißt Evolution. Innerhalb des großen physikalischen
Maschinenbaus, von dem die Kosmologie und die Geologie handeln, finden
zwei Prozesse des Sondermaschinenbaus statt: Zum einen werden Lebensmaschinen
gebaut, und zwar autoplastisch oder autopoietisch. Das ist schon unheimlich:
daß es da auch noch lebt und nicht nur »ist«, daß
es spürt und treibt, daß in die Welt punktuell so etwas wie
beginnende Weltoffenheit eingebaut wird, durch organismische Sensibilität,
durch Pflanzlichkeit, durch Tierwerdung. Seltsam, daß die leidlosen
Atome so leichtsinnig waren, sich auf Nervlichkeit, auf Schmerz und Gedächtnis
einzulassen, lange vor dem Menschen. Ist das nicht eine Unfaßbarkeit
für sich?
Das ist sie ohne Zweifel, aber nur, wenn der Mensch da ist, dem sie auffällt.
Sie kann ihm freilich nur auffallen vor dem Hintergrund seiner eigenen,
noch größeren Ungeheuerlichkeit, seiner noch enormeren Auffälligkeit,
seiner ontologischen Ekstase, die man diskret mit dem Allerweltswort Existenz
bezeichnet. Damit kommen wir zu dem zweiten Sonderaspekt: daß beim
Menschen zusätzlich zur Lebensmaschine evolutionär so etwas
wie eine Geistmaschine enststanden ist als die Möglichkeit, zu denken
und im Denken die Welt als Welt aufgehen zu lassen.
Heidegger hat in einem quasi-naturwissenschaftlichen Passus der Grundbegriffe
der Metaphysik, 1929-1930, nach dem berühmten Langeweile-Abschnitten,
die Differenzen zwischen der Weltlosigleit der Steine, der Weltarmut des
Tieres und dem weltbildenden Wesen des Menschen herausgearbeitet, im übrigen
mit einer Darstellungskraft, die kaum ihresgleichen hat, zugleich professoral
und dämonisch. Das läßt sich auch so lesen, als sei beim
Menschen zu allem Bisherigen eine Art von ontologischem Organ hinzugekommen,
ein Welt-Sinn oder eine Totalitätsfühligkeit, wie sie kein Tier
besitzen konnte - vorausgesetzt, der Mensch »macht auf« und
hebt den Kopf und existiert. Ansonsten bliebe auch für Mitglieder
der Menschengattung wahr, was Heidegger bemerkt: »der vulgäre
Verstand sieht vor lauter Seiendem die Welt nicht«. Diese potenzierte
Unheimlichkkeit der Seinsfrage, als Menschenfrage oder besser als Sein-durch-Menschen-Frage
gestellt, macht den enormen Angriffswert der scheinbar so betulichen Heideggerschen
Reflexionen aus. Manche Zeitgenossen haben gespürt, daß Fragestellungen
von einer ähnlichen Mächtigkeit nur in den Zeiten der Schöpfung
der Hochreligionen aufgekommen waren. So umfassend, wie ein Religionsstifter
nach dem Heilsweg fragt, fragt Heidegger nach der Wahrheit über den
Menschen oder vermittels des Menschen. Man versteht ihn besser, wenn man
ihn mit Lehrern der zurückgezogenen Weisheit wie Lao-Tse, mit indischen
Denkmeistern wie Shankara und Nagarjuna oder Religionsgründern wie
Paulus, Mani oder Luther in eine Linie stellt. Bei Gestalten dieses Ranges
geht es um Neufassungen des modus vivendi.
Bei Heidegger wird es für uns deswegen so unheimlich, weil uns die
Zurückführung seiner Gedanken auf die mystischen Muster und
die christlichen Analogien letztlich nichts nützt.
Wir können nicht sagen, bei Meister Eckhart steht das alles schon,
denn Meister Eckhart hat die Atombombe nicht erlebt, aber Heidegger hat
sie erlebt, und mehr noch als das, er hat sie gedacht. Im Herbst 1946,
als er den Humanismus-Brief redigierte, ... da waren seit einem Jahr die
beiden amerikanischen Bomben über Japan abgeworfen .... Die Blitze
von Hiroshima und Nagasaki waren so etwas wie Offenbarungen des Stands
der Dinge auf der Linie seiner Betrachtungen. Die beiden Atompilze kamen,
seiner Sicht gemäß, aus dem Kern des Humanozentrismus, sie
waren Menschenwitz-und-Kunst in quintessentieller Form, sie waren Gestell
und Explosion in einem, sie waren Offenbarungseid der modernen Physik
und in gewisser Hinsicht die deutlichste Selbsterklärung nicht nur
der amerikanischen, sondern der modernen Stellung zur Welt überhaupt.
- Deswegen hat es keinen Sinn, Heidegger nach rückwärts zu lesen,
als habe er dasselbe gesagt wie die deutschen Mystiker, nur angepaßt
an den Geist der Zeit. Die Versuche, Heidegger vor den Blitzen unseres
Jahrhunderts zu trennen, verarmen die Diskussion und verkleinern die Sicht.
Er war in seiner Zeit der stärkste Interpret des historischen Ereignisses,
daß die Menschen Herren über das nukleare Feuer geworden sind
.... Ihm war klar, daß sich die Seinsfrage durch die Macht- und
Technikfrage hindurch stellt. Und wie richtig das gesehen ist, bemerken
wir heute nicht zuletzt daran, daß die Spitzentechnologie in den
life sciences sich daran machen, die Codes des Lebendigen umzuschreiben.
(Peter Sloterdijk und Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der
Tod, 2001, S. 112-118).
In Sloterdijks 2001 veröffentlichten Buch Nicht gerettet (Versuche
nach Heidegger) ist ein Kapitel mit dem Titel Domestikation des
Seins (Die Verdeutlichung der Lichtung) belegt, in dem es u.a. heißt,
daß das ontologisch Monströse darin bestehe, daß
um ein nichtgöttliches Wesen herum alles Welt wird. Welt werden heißt
sich in wahrheitsrelevanter Weise enthüllen. Was Heidegger die Lichtung
nennt, bezeichnet nichts anderes als dieses Grundverhältnis. ....
Die stärksten Lektionen in der modernen Selbstinstruktion des Menschen
gehen von den beiden Nukleartechnologien aus, mit denen im 20. Jahrhundert
der Einbruch in den Tresor der Naturgeheimnisse geschah. Für die
philosophischen Betrachtung taucht unweigerlich die Frage auf, ob und
wie diese Natureröffnungstechniken mit dem Menschenwesen »zusammengehören«.
Die Epoche, in der sich die Menschen in eine Unbelangbarkeit durch das
Monströse absentieren zu können meinen, klingt aus. Weil sie
Monstrotechniker geworden sind, wiederholen sie mit aktuellen Mitteln
die Position der alten Theurgen oder Gott-Macher. Auch das allgemeine
Bewußtsein nimmt etwas wahr vom unheimlichen und epochalen Charakter
der neu ins Dasein getretenen Möglichkeiten. Das kollektive Gedächtnis
hatte recht, den August 1945 mit den beiden Atombombenzündungen über
japanischen Städten als das Datum der physikalischen Apokalypse und
den Februar 1997 mit der Publikation der Existenz des Klonschafes als
das Datum einer beginnenden biologischen Apokalypse festzuhalten. Es sind
zwei Schlüsseldaten im Prozeß des Technik-Menschen gegen sich
selbst, zwei Daten, die bezeugen, daß der Mensch weniger denn je
vom Tier her, das er war und das zu sein er zuweilen noch vorgibt, verstanden
werden kann. Sie beweisen, daß der Mensch - wir bleiben bis auf
weiteres bei dem verdächtigen Singular - nicht im Zeichen des Göttlichen,
sondern des Monströsen existiert. Mit seine avancierten Technik führt
er einen Menschenbeweis, der unmittelbar in einen Monstrositätsbeweis
übergeht. ....
Wir müssen die Erkundigung nach dem Menschen so führen, daß
verständlich wird, wie er in die Lichtung heraustrat und wie er dort
für »Wahrheit« empfänglich wurde. Es ist dieselbe
Lichtung, in der vorzeiten der Mensch aufgehört hat, Tier in einer
Umwelt zu sein, und in der jetzt das Blöken der menschengemachten
Tiere zu hören sind. Es ist weder unser Fehler noch unser Verdienst,
wenn wir in einer Zeit leben, in der die Apokalypse des Menschen etwas
Alltägliches ist. ....
Wir lassen uns die Schlüsselworte für die neue Konfigurierung
von Anthropologie und Seinsdenken wieder von Heidegger, dem Gegner aller
bekannten Formen von Anthropologie, vorgeben. Wir finden sie erneut -
wie bei der Rede Regeln für den Menschenpark - im dem Brief
über den Humanismus (**),
im Zusammenhang mit Sätzen und Wendungen, in denen die Rolle der
Sprache bei der Lichtung des Seins erörtert wird.
»Die Sprache ist in ihrem Wesen
nicht Äußerung eines Organismus, auch nicht Ausdruck
eines Lebewesens. (**)
.... Der Mensch ist der Hirt des Seins (**)
.... Das Sein ist das Nächste. Doch die Nähe bleibt dem
Menschen am fernsten. (**)
....
Diese Nähe west als die Sprache selbst. (**)
.... Der Mensch aber ist nicht nur ein Lebewesen, das neben anderen
Fähigkeiten auch die Sprache besitzt. Vielmehr ist die Sprache
das Haus des Seins, darin wohnend der Mensch eksistiert. (**)
.... So kommt es denn bei der Bestimmung der Menschlichkeit des
Menschen als der Ek-sistenz darauf an, daß nicht der Mensch
das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen
der Ek-sistenz. Die Dimension jedoch ist nicht das bekannte Räumliche.
Vielmehr west alles Räumliche und aller Zeit-Raum im Dimensionalen,
als welches das Sein selbst ist. (**)
....
Ob dieses Denken ... sich noch als Humanismus
bezeichnen läßt? Gewiß nicht, ... wenn er Existentialismus
ist und den Satz vertritt, den Sartre ausspricht: precisement nous
sommes sur un plan ou il y a seulement des hommes (L'Existentialisme
est un humanisme, p. 36). Statt dessen wäre, von »S.
u. Z.« her gedacht, zu sagen: precisement nous sommes sur
un plan ou il y a principalement l'Être. Woher aber kommt
und was ist le plan? L'Être et le plan sind dasselbe. (**)
.... »Ek-sistenz« ist .... das ek-statische Wohnen in
der Nähe des Seins. (**)
.... Die Heimat dieses ... Wohnens ist die Nähe zum Sein. (**)«
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus, 1946,
a.a.O..) |
Die ... Termini ... - wenn sie denn Termini sind - Haus, Heimat, Nähe,
Nächstes, Wohnen, Aufenthalt lassen erkennen, daß das menschliche
Ek-sistieren eher im Zeichen von Räumlichkeit als von Zeitlichkeit
gedacht wird, zumal wenn man das etymologische Pathos Heideggers respektiert,
mit dem er Ek-sistenz und Ek-stase als Hinaus-Stehen oder Hinein-Gehaltenwerden
in eine nicht näher bezeichnete räumliche und zeiträumliche
»Dimension« oder Offenheit verstanden haben möchte. -
Wir verwenden die Metapher vom Wohnen im Haus des Seins als Wegweiser
für die anthropologische Denkbewegung und fargen also, auf welche
Weise ein noch ganz vormenschliches Lebe-Wesen, ein Herdentier, das in
paläontologischer Sicht irgendwo im Spektrum der Arten zwischen Nach-Affe
und Vor-Sapiens angesiedelt werden muß, sich auf den Weg gemacht
haben kann, der ins »Haus des Seins« führte. ....
Man kann plausibel zeigen, wie aus einem tierischen Im-Umwelt-Treibhaus-Sein
ein menschliches In-der-Welt-Sein hat werden können. - Mit dem Sphärenkonzept
wird eine Lücke im Feld der Raumtheorien geschlossen, die, bisher
weitgehed unbemerkt, zwischen dem Umweltbegriff und dem Weltbegriff aufklafft.
Wenn Umwelt-Haben ontologisch als Umschlossensein von einem Ring aus relevanten
Umständen und Mit-Bedingungen für organisches Leben verstanden
werden kann - vor allem von »Phänomenen« mit Nahrungs-,
Kopulations- und Gefahren-Sinn -, In-der-Welt-Sein hingegen als ekstatisches
Hinausragen ins Offene-Gelichtete zu deuten ist, so muß man annehmen,
daß es eine Mittel-Welt-Lage oder ein Zwischen gibt, das weder Einschluß
im Umwelt-Käfig ist noch purer Terror der Hineingehaltenheit ins
Unbestimmte. Der Übergang von Umwelt in Welt zeigt sich in den Sphären
als Zwischen-Welten. Sphären haben den Status einer »Zwischenoffenheit«.
Sie sind Membranhüllen zwischen Innerem und Äußerem und
somit Medien vor allen Medien. Auf diese mittlere »Zone« deutet
Heidegger ... mit hoch auffälligem Nachdruck hin, wenn er Wörter
wie Nähe, Heimat, Wohnen, Haus ins Feld führt - Ausdrücke,
die Anheimelungswerte auf ontologischer Ebene anzeigen. Das Sphärische
ist der Mittelwert zwischen der dichten animalischen Umringung und der
lichten Apokalypse des Seins; es erlaubt seinen Bewohnern, sich zugleich
in der Nähedimension und im Ungeheuren der Weltoffenheit und Weltäußerlichkeit
zu lokalisieren. Es richtet die ursprüngliche räumliche »Struktur«
von Wohnverhältnissen ein. Zugleich können Sphären als
Austauscher zwischen Formen der animalisch-körperhaften und der menschlich-symbolischen
Koexistenz fungieren, weil sie die physischen Berührungen, einschließlich
des Stoffwechsels und der Fortpflanzung, ebenso wie die Fern-Intentionen
auf Unberührbares wie den Horizonte und die Gestirne umgreifen. ....
Archäologische Funde in der Oldovai-Schlucht deuten darauf hin, daß
vor mehr als anderthalb Millionen Jahren vormenschliche Wohnplätze
der Homo-habilis-Stufe (bedeutet »Homo«
nicht bereits »Mensch«? HB) durch Windpalisaden umgeben
wurden. Damit wäre das Prinzip Wand als Klimamanipulator schon für
eine Periode lange vor der Ausbildung des Sapiensmenschen nachgewiesen.
Wollen wir die Menschwerdung und die Lichtung ausgehend vom »Haus«
interpretieren, so muß es bereits bei den noch überwiegend
tierischen Präsapienten etwas geben, was einer Interieurbildung und
einem Häuserbau vor der Erfindung des Hauses im architektonischen
Sinn des Wortes gleichkommt. ....
Ausgehend von spontanen Insulationen (**|**),
die gewissermaßen Schutzräume in der Natur gegen die Natur
vorzeichnen, bildet sich in der Evolution auf den Menschen zu bei gewissen
Prä-Hominiden eine neue Dimension der Naturdistanzierung auf der
Linie von zuerst zufälligem, dann elaboriertem und chronischem Werkzeuggebrauch.
....
Der Mensch stammt weder vom Affen ab ..., noch stammt er vom Zeichen ab
..., sondern er kommt vom Stein her, allgemeiner gesprochen vom harten
Mittel, sofern wir uns zu der Ansicht verstehen, daß es der Steingebrauch
war, der den Horizont der Prototechnik eröffnete.
Als primitiver Steintechnologe, als Werfer und als Operateur von Schlag-Zeug,
wird der Präsapiens zum Praktikanten des harten Mittels. Die Menschwerdung
geschieht unter der Protektion der Lithotechnik. Denn im Einsatz von Steinen
zum Werfen, Schlagen, Schneiden kommt das Prinzip der Technik: die Entlastung
vom Körperkontakt mit Präsenzen in der Umwelt, erstmals zum
Zuge. Das erlaubt dem werdenden Menschen, die Körperberührung
auszuschalten und durch Steinberührung zu ersetzen. ....
Andere Forscher sehen das Kriterium in der Hegung des Feuers, das seit
vielleicht anderthalb bis zwei Millionen Jahren, wie der Fund in der Höhle
von EScale zeigt, bei Vormenschengruppen in Gebrauch ist. Es ist in seiner
Mächtigkeit als Nischen- und Sphärenbildner und damit als Emanzipationsmitel
für Menschengruppen gegenüber klimatischen und biogeographischen
Hintergründen nie zu überschätzen. ....
Die Lichtung ist ein Werk der Steine, die zu anderen Steinen, zu entstehenden
Händen und zu bearbeitbaren oder treffbaren Dingen passend werden.
Der erfolgreiche Schlag ist die Vorform des Satzes.
Der treffende Wurf ist die erste Synthesis aus Subjekt (Stein), Kopula
(Aktion) und Objekt (Tier oder Feind). Der durchgehende Schnitt präfiguriert
das analytische Urteil. Sätze sind Wurf-, Schlag- und Schnittmimesis
im Zeichenraum, wobei Affirmationen Wurf-, Schlag- und Schnitterfolge
nachvollziehen, während Negationen aus der Beobachtung von fehlgehenden
Würfen, mißglückten Schlägen und gescheiterten Schnitten
geboren werden. Die ältesten Steinartefakte sind Werkzeug und Zeigzeug
in einem. Sie sprechen von Anfang an von der Macht, die aus dem Gegenüber-Sein-Können
folgt. ....
Man könnte versucht sein, den gesamten Vorgang unter dem Titel »Naturgeschichte
der Naturdistanzierung« oder auch »Naturgeschichte der Verfeinerung«
zusammenzufassen - das einzige, was gegen diese Formulierungen spräche,
ist die Tatsache, daß das im englischen Emiprismus verankerte Konzept
von natural history immer noch zu sehr an die Vorgaben einer habituell
kultur- und technikblinden Biologie gebunden bliebe. In Wahrheit geht
es schon bei diesem scheinbar einfachen, sprengmächtigen Vorgängen
um nicht weniger als die Lichtung. Der Gebrauch des harten Mittels während
der gesamten Dauer der altsteinzeitlichen Anthropogenese erzeugt eine
evolutionär einzigartige Situation, in der die Organismen der Präsapienten
von dem Zwang zu nur körperlichen Anpassung an die äußere
Umwelt zunehmend freigesetzt werden. ....
Die Sapiens-Wesen weisen, wie die paläo-anatomische Forschung unmißverständlich
gezeigt hat, eine Reihe von Merkmalen auf, die sich nur als Aufbewahrung
von juvenilen, ja sogar von fötalen Bildungen bis in die Erwachsenenstufe
verstehen lassen. Es ist das Proprium der Sapienten, daß sich bei
ihnen dank des Treibhausprivilegs monströse Verwöhnungserfolge
langfristig stabilisieren konnten: dies geht bis zur Beibehaltung intrauteriner
Morphologien in der extrauterinen Situation - als könne sich dieses
dissidente Tier es sich erlauben, den Gesetzen der Reifung zu entgehen.
- Das alles deutet darauf hin, daß das »Haus des Seins«,
in dem der Mensch zu wohnen eingeladen sein wird, nicht allein und nicht
einmal in erster Linie durch die lichtende Kraft der Zeichen errichtet
wird. Vor der Sprache sind es umweltdistanzierende Gesten des harten (wurf-,
schlag- und schneidetechnischen) Typs, die den Menschenbrutkasten erzeugen
und sichern. Der spezifische Ort des werdenden Menschen besitzt also funktional
die Qualitäten eines technisch eingeräumten externen Uterus,
in dem die Geborenen zeitlebens Ungeborenenprivilegien genießen.
Danach reproduzieren sich die Lebe-Wesen, die eines Tages Menschen sein
werden, zunächst und ausschließlich in einer Schonung, die
sich am passendsten als autogener Park bezeichnen läßt. Die
Schonung, in der es Menschen gibt, ist ein Effekt der primitiven Technik.
Was Heidegger als das »Ge-stell« benennen und als fatales
Seinsgeschick verstehen wird, ist zunächst nichts anderes als das
Ge-Häuse, das Menschen beherbergt und durch Beherbergung unmerklich
herstellt. (Heidegger kommt dem Begriff des Ge-Häuses sachlich zur
Zeit des Kunstwerk-Aufsatzes, 1935, am nächsten, als er an dem Konzept
eines guten Ge-stells [»das Kunstwerk stellt eine Welt auf«]
arbeitete. ....
Beim modernen Menschentypus ist davon auszugehen, daß das traditionelle
anthropogonische Treibhaus schon ganz die Eigenschaften eines Brutkastens
übernimmt. Die uterusmimetischen Qualitäten des Menschen-»Ge-Häuses«
erstrecken sich in der Folge auf die Adoloszenten und die erwachsenen
Mitglieder der Gruppen und setzen auch bei ihnen Tendenzen zur Verspätung
der reinen Fromen frei. ....
Gerade weil die menschlich riskanten Körper es sich aufgrund der
langfristig stabilen und erfolgreichen Gruppenbrutkastentechnik haben
leisten können, Züge ihrer fötalen und frühkindlichen
Vergangenheit in die Gegenwart mitzunehmen, mußten sie lernen, ihren
eigenen Brutkasten - in anderer Terminologie: ihre »Gesetze«
- zunehmend explizit zu hüten. Die Verwöhnung erzwingt die Vorsorge,
die Vorsorge stabilisiert die Verwöhnung. Was Heidegger die Sorge
nennt, ist die Selbstabsicherung des Verwöhnungszusammenhangs. Diese
Rückkopplung wird nötig, weil die Unwahrscheinlichkeit des luxurierenden
Zustandes einen Gefährdungssinn freisetzt; sie wird möglich,
weil dem verwöhnten Tier »werdender Mensch« mit seinem
Hochleistungsgehirn, seinen angeborenen Werferqualitäten und seiner
quasi universalen Hand die Mittel zur Verteidigung seiner Verwöhnung
mitgegeben sind. Aus dem Verwöhnungsprozeß entsprungen, müssen
diese evolutionär erworbenen Begabungen der weiteren Verwöhnung
dienen. Die Zukunft ist zunächst nichts anderes als die Dimension,
in der die Unwahrscheinlichkeit eines biologisch nahezu unmöglichen
Zustandes mit technischer List stablilisiert werden will. In diesem Sinn
sind die Menschen a priori luxuskonservativ. - Nur weil der Mensch
zur Luxusvorsorge verdammt ist, kann Sein als Zeit verstanden werden.
Heidegger kommt dieser Einsicht mit seiner Sorge-Theorie in Sein und Zeit
ganz nahe ....
Der Mensch luxuriert ontologisch, weil er physiologisch luxuriert, und
er luxuriert physiologisch, weiler in einem Treibhaus lebt, das offensiv
stabilisiert werden muß. Eines Tgaes wird man diese Menschengruppen-Treibhäuser
»Kulturen« nennen - man könnte das mit Selbstsorgesysteme
übersetzen ....
Will man ... erklären, wie das Ge-Häuse als das »Haus
des Seins« entstand und wie es bezogen und klimatisiert wurde, so
ist hervorzuheben, daß es vor allem eine Wiederholung von Uterusleistungen
im Öffentlichen, Gemeinsamen und »Objektiven« darstellt.
Das Ge-Häuse ist ein offener Brutkasten. Nur durch den Einsatz grobtechnischer
Mittel zur Umweltdistanzierung kann er erzeugt und auf Dauer gestellt
werden. ....
Angesichts dieser Zusammenhänge kann man behaupten, daß alle
Technik ursprünglich - und die längste Zeit unbewußt -
Treibhaustechnik und ipso facto indiekte Gentechnik gewesen ist.
Unter Perspektiven der Evolutionstheorie ist die umweltdistanzierende
Praxis der Vormenschen und erst recht der beginnenden Menschen immer schon
eine spontane Genmanipulation - Selbstbehausungstechnik mit der Nebenwirkung
Menschwerdung. Ihr Starteffekt besteht in der Freigabe von evolutionärer
Plastizität beim Einwohner des bizarren Raumes, der in dem Maß
aufgeht, wie er durch eine Art von ekstatischer Einwohnung geöffnet
und gedehnt wird. Weil Menschen nur als Geschöpfe des Wohnens vorkommen,
sind sie instabiler, flüssiger, ihrer Art untreuer als je ein Tier
vor ihnen.
Nur weil Menschen seit jeher in (wandernden oder lokal improvisierten)
Gruppen-»Häusern« leben, können sie schon in einer
relativ frühen Phase Windpalisaden und Hütten, in einer späten
Phase ihrer Geschichte auch ortsfeste Häuser bauen ....
Um mit den Selbstgefährdungen fertig zu werden, die den Sapiens-Wesen
aus ihrer biologischen Sonderstellung zuwuchsen, haben sie das Inventar
von Selbstformungsprozeduren hervorgebracht, die wir heute unter dem Sammelbegriff
Kultur diskutieren - ein Ausdruck, in dem normative Momente zusammenfließen
mit der Einladung zum Vergleich von anderen Möglichkeiten. (Vgl.
Dirk Baecker, Wozu Kultur?, 2000, S. 46.) Zu den kulturwirksamen
Formungstechniken am Menschen gehören symbolische Institutionen wie
die Sprachen (Sprache ist der Überbegriff zum
Begriff Symbol - nicht umgekehrt! HB), die Grndungsgeschichten,
die Heiratsregeln, die Verwandtschaftslogiken, die Erziehungstechniken,
die Normierung der Geschlechts- und Altersrollen, nicht zuletzt die Vorbereitungen
zum Krieg sowie die Kalender und die Teilung der Arbeit - all jene Ordnungen,
Techniken, Rituale und Üblichkeiten, mit denen die Menschengruppen
ihre symbolische und disziplinarische Formung selbst »in die Hand«
genommen haben - mit besserem Recht könnte man sagen, in deren Hand
sie selbst erst zu Menschen geworden sind. Diese Ordnungen und Formkräfte
sind es, die der sinngerecht verwendete Ausdruck Anthropotechniken bezeichnet.
....
Wir haben ... die Menschwerdung als Effekt einer Hyper-Insulation (**|**)
interpretiert. Auch hoch-insulierte Gruppen stehen weiterhin unter Außendruck,
ja gerade sie bauen wegen ihrer internen Verfeinerung ein hohes Gefälle
nach außen hin und geraten im Ernstfall unter erhöhte Spannung.
Die Einbrüche der Umwelt in die prähuman-humanen Gruppenhüllen
erreichen bereits früh ein fatale Dramatik. Wenn bei den Sapiensgruppen
die Jäger wieder zu Gejagten werden; wenn Naturkatastrophen den Insulationsschutz
aufheben; wenn äußere Gewalten in Tier- und Menschengestalt
bis in den Mutter-Kind-Raum durchschlagen; wenn Feinde die Lagerstellen
verwüsten, ganze Gruppen verletzen und verschleppen: dann treten
Verhältnisse ein, in denen die Menschenwesen den höchsten Preis
für ihre biologischen Verfeinerung und ihre ontologische Ekstase
zahlen. ....
Als Heidegger die Sprache als das »Haus des Seins« bezeichnete,
bereitete er die Einsicht in die Sprache als das allgemeine Organon der
Übertragung vor. Mit ihr navigieren die Menschen in den Ähnlichkietsräumen.
An ihr ist nicht nur wichtig, daß sie die nahe Welt aneignet, indem
sie Dingen, Personen und Qualitäten zuverlässige Namen zuordnet
und sie in Gecshichten, Vergleiche, Serien verstrickt. Entscheidend ist:
Sie »nähert« das Fremde und Unheimliche, um es in eine
bewohnbare, verstehbare, mit Einfühlung auskleidbare Sphäre
einzubeziehen. Sie macht die menschliche Heraussetzung an die offene Welt
lebbar, indem sie die Ekstase in Enstase übersetzt. Die »Tendenz
auf Nähe« (**)
setzt sich in der menschlichen Rede vom ersten Wort an durch: Sprache
ist immer schon Nähe-Dichtung. Sie assimiliert das Unähnliche
dem Ähnlichen - wie bei der Bildung von Metaphern besonders deutlich
wird. Man könnte umgekehrt auch sagen, daß sie die Enstase
im Gewohnten »hinaus«trägt in die Ekstase beim Ungewohnten.
Ihre wesentliche Leistung besteht darin, wie Heidegger bemerkt, daß
sie das Seiende im Ganzen verhäuslicht ....
Es ist weder unser Fehler noch unser Verdienst, wenn wir in einer Zeit
leben, in der die Apokalypse des Menschen etwas Alltägliches ist.
Wir brauchen nicht im Stahlgewitter, unter der Folter, im Auslöschungslager
zu sein oder uns in der Nähe zu solchen Exzessen aufzuhalten, um
zu erfahren, wie der Geist der äußeren Situationen im Innersten
des Zivilisationsprozesses aufbricht. Die Vertreibung aus den Gewöhnungen
des humanistischen Scheins ist das logische Hauptereignis der Gegenwart,
dem man sich nicht durch Flucht in den guten Willen entzieht. Ihre Folgen
reichen weiter als die Verteidiger der Bestände vermuten: Sie zerrüttet
alle Illusionen des Bei-sich-Seins. Sie rückt nicht nur den Humanismus
weg, sondern unterwandert das Gesamtverhältnis, das Heidegger als
»Wohnen« des Menschen in der Welt angesprochen hatte. ....
»Die Heimatlosigkeit wird ein
Weltschicksal. Darum ist es nötig, dieses Geschick seinsgeschichtlich
zu denken. (**)
....
Die Technik ist in ihrem Wesen ein seinsgeschichtliches
Geschick (**)
....
Als eine Gestalt der Wahrheit gründet die Technik in der Geschichte
der Metaphysik. (**)
.... «
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus, 1946,
a.a.O..) |
Daß zwischen Wahrheit und Schicksal ein Zusammenhang besteht, der
über die metaphysische Zuflucht zum Zeitlosen hinausweist, gehört
seit Hegel zu den großen Intuitionen des modernen europäischen
Denkens. ....
Heidegger ... würde einen späten Helden seine Hütte bauen
lassen in den Hügeln, um dort abzuwarten, wie die Geschichte weitergeht.
Für ihn war evident, daß die Irre im großen andauert.
....
(Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Veruche nach Heidegger, 2001,
S. 165, 165-166, 166, 169, 169-170, 171, 173, 174-175, 178-179, 180, 182,
183, 185-186, 188-189, 191, 192, 193, 196-197, 197-198, 200, 201-202,
207, 210, 212, 213, 214).
 
Absturz und Kehre -
Auszüge aus Sloterdijks Rede über Heideggers Denken
in der Bewegung |
Absturz und Kehre - Auszüge aus Sloterdijks Rede
über Heideggers Denken in der Bewegung
Absturz.
Ich möchte ... eine Formel vorschlagen, die Heideggers spirituelle
Physiognomie und sein philosophisches projekt in einem kompakten Ausdruck
zu sammenfaßt: Heidegger ist der Denker in der Bewegung. Sein Urgedanken
oder quasi seine Tathandlung ist der Sprung oder das Sichloslassen in
eine Befindlichkeit, bei der er in sich selbst und »unter seinen
Füßen« nichts anderes mehr findet als Bewegtheit. ....
Die Bewegung ist sein Fundamment. Der Impuls seiner Rede ist es, Bewegtheit
auszusagen - oder vielmehr: mit der Rede-Bewegung der wirklichen und unumgänglichen
Bewegtheit »nachzukommen«. Mithin hat er wie kein Philosoph
vor ihm verdient, durch diese ungewohnte und nicht nach allen Seiten ausgeleuchtete
Formel charakterisiert zu werden: der Denker in der Bewegung. ....
Es gibt in Heideggers Denken und im allgemeinen ... drei universelle und
allem zuvorkommende Bewegtheiten, drei kinetische Seinszüge, die
sich in der menschlichen Existenz zu jeder Zeit, doch je verschieden nach
kulturellen und epochalen Töungen auswirken. Diese Züge nenne
ich hier: zum ersten den Absturz, zum zweiten die Erfahrung,
zum dritten die Umwendung (Kehre!
HB). Ihr Durchgriff durch die Existenz oder ihr Überfall auf
diese geschieht »immer schon«, jeweils und überall, ohne
daß er je, die klassischen Hermeneutiken des Schicksals eingerechnet,
in hinreichend klarer Beleuchtung betrachtet worden wäre - es sei
denn eben, beginnend, bei Heidegger. (Wir lassen die Frage beiseite, inwiefern
die Logokinetik des Neoplatonikers Proklos, insbesondere seine Lehre von
der Kreisstruktur des Geistes und den Kreisgängen der Seele, als
Vorläugfer von Heideggers Ontokinetik angesehen werden kann [wenn
diese Frage beiseite gelassen werden soll, wieso wird sie dann erwähnt?
HB]). Dieser Denker war es, der wie niemand vor ihm Ausdrücklichkeit
in den Sachverhalt legte, daß Dasein immer schon in Bewegung »gesetzt«
und von Bewegung durchwirkt ist und es durch nichts vor der durchgreifenden
Bewegtheit in Sicherheit gebracht werden kann. Seine Bewegtheit ist der
Grund seiner Geschichtlichkeit und seines Bezugs zum Offenen. Man könnte,
in Abwandlung der berühmten Formel aus dem Vortrag (gemeint
ist die Antrittsvorlesung vom 24.07.1929; HB) Was ist Metaphysik?
sagen: Dasein heißt in den Überfall der Bewegung hineingehalten
sein. ....
So setzt alles für uns mit dem »Dasein« ein, das als
»In-der-Welt-Sein« ausgelegt wird, und dies zu Recht, vorausgesetzt
wir lesen diese Formel so: durch den Überfall der Bewegung auf uns
den »Ort« erreicht zu haben, an dem wir uns meistens zerstreuen
und ausnahmsweise sammeln. Philosophie ist Lagebesprechung. - Der erste
Zug von Bewegtheit aus der bezeichneten Dreiheit - das Im-Fall-Sein oder
das Abstürzen - geht, der Reihe wie der Sache nach, den beiden anderen
Zügen, Erfahrung und Umwendung oder Kehre, voran. ....
Es bedeutet den Unterschied ums Ganze - zumindest ist das Heideggers frühe
Wette - , ob das Dasein seinen Fall ungesammelt fortsetzt und damit seiner
Zerstreuung ins Irgendwie-Sein verfällt, ..., oder ob das Dasein
seines Sturzes inne wird, sich vom Bewußtsein der Bodenlosigkeit
und Bestimmtheit zugleich durchdringen und schließlich aus dem erlittenen
einen übernommenen Sturz, ja vielleicht sogar einen eigenen Wurf
macht, aus dem Fall ein Projekt, aus dem Überfallensein das entschiedene
Entsprechen zu einem Schicksal. Halten wir fest, daß für den
Heidegger von Sein und Zeit diese Selbstübernahme vor allem
als »Entschlossenheit« doer »Sich-anrufen-lassen aus
der Verlorenheit des Man« (**)
zu verstehen ist »... das verschwiegene angstbereite Sichentwerfen
auf das eigenste Schuldigsein - nennen wir die Entschlossenheit.«
(**).
....
Die Feststellung am Platz, daß Heideggers Umwandlung der Metaphysik
in Ontokinetik - die Erhellung der Bewegtheiten, die den Sinn von Sein
berühren - unmöglich ausmünden kann in ein kriterienloses
Mitmachen bei allem, was historisch im Gang ist. (Heideggers Option von
1933 gibt Anlaß, dies zu betonen. Denn alles »Sicheinfügen
und Sicheinstellen in das ganze Walten und Schicksal der Welt überhaupt«,
von dem Heidegger bereits in der großen Metaphysik-Vorlesung des
Winters 1929-1930 spricht, ist ohne Mehrdeutigkeit, Wahl und Entscheidung
nicht zu denken. Auch das »Waltende« kann nur als mehrfach
wirkendes und nichteindeutig ergreifendes Spiel aufgegriffen werden.)
....
Das Verfallen nivelliert die Differenz zwischen der Seinsart der Existenz
und der des Vorhandenen. Es ist die anfängliche Tendenz des Menschen,
sich selbst als Menschenmaterial und Umweltfaktor zu erfassen. Angesichts
dieser immer schon angetretenen Flucht in die Indifferenz sind das anarchistische
Sichgehenlassen und das gehorsame Funktionieren dasselbe. Vor Heidegger
hat nur Johann Gottlob Fichte einen ähnlich aufgefaßten Sachverhalt
mit vergleichbarer Radikalität formuliert, wenn er, in einem polemischen
Zusatz zu seiner Grundlehre der gesamten Wissenschaftslehre (§ 4),
schrieb:
»Die meisten Menschen würden leichter dahin
zu bringen seyn, sich für ein Stück Larva im Monde, als für
ein Ich zu halten. ( **).
Dem würde der frühe Heidegger zugestimmt haben, unter der Bedingung,
daß zwei Modifikationen an Fichtes These anzubringen sind: zum einen
die Bemerkung, daß dieses verfallen unter die Dinge und Abläufe
das spontane Resultat des gewöhnlichen Daseins ist; denn etwas Lava-Geschmack
haftet an allem, was »geworfen« ist. Weil unsere Existenz
immer von fremder Seite her angefangen ist, kommt sie in gewisser Weise
stets zu spät; sie tritt zum Vorhandensein hinzu und muß sich
überall mit Früherem und Fremdem auseinandersetzen. ....
Erfahrung.
In diesem (welchem? HB) Sinn ist Heidegger
ein Neutheologe, und Theologen, die von neuen, sei es verhüllten
oder abgewandten Göttern reden, haben es mit ihrer Botschaft unvermeidlich
eilig. Alttheologen erkennt man daran, daß sie Zeit haben und der
Gott sie nicht mehr drängt. Heidegger hat es eilig, von der vorherrschenden
falschen zerstreuenden Bewegung zu der wahren sammelnden zu kommen. Mehr
als ein halbes Jahrhundert lang meditiert der Denker die Grundbewegtheiten
des Daseins und bleibt in dieser ganzen Sturm- und Ruhe-nach-dem-Sturm-Zeit
seinem kinetischen Apriori treu. In immer neuen Anläufen, in modifizierten
Stimmungen, in veränderten Begriffsaufstellungen wiederholt er die
Frage: Wie kommt das Dasein aus seinem anfänglichen Absturz unter
die Dinge in die entschiedene Selbstheit, von der flachen Geworfenheit
in die vertiefende Wiederholung, vom Unwesen des Zufälligen ins Unumgängliche,
von der Fehlgeburt in die Zerstreutheit zur Wiedergeburt in der engsten
Gesammeltheit, von dem vorläufigen Anfang zum anderen Anfang? Wer
in alldem einen Hinweis auf Heideggers Modernität vermißt,
könnte sich dieser dem Umstand vergewissern, daß sich nach
ihm das Entschiedene und Schicksalhafte auch und vor allem als übernommenes
Scheitern manifestieren kann. - Daß diese Figuren etwas Bewegendes
haben und noch in ihrer kahlen Abstraktheit nicht ohne Zauber sind, das
zuzugeben, fällt nicht schwer. Ich werde Heideggers Reden von Absturz
und Kehre gleich noch einmal aufgreifen, indem ich sie ins Profil setze
gegen analoge Figuren bei Platon und Augustinus. ....
Kehre. **
Wo der mittlere Heidegger (gemeint ist Heidegger
während seiner Denkperiode mit dem Schwerpunkt der Seins- bzw.
Seynsgeschichte: 1930-1945 [**];
HB) die Bewegtheit des Daseins in der Umwendung oder der Kehre
zu denken beginnt, da tritt er in einen Dialog mit den beiden einzigen
Ebenbürtigen der westlichen Tradition ein: er findet sich, jenseits
von Neuzeit und Mittelalter, allein mit Platon und allein mit Augustinus.
....
Tatsächlich, nur im Gespräch mit Platon läßt sich
die Frage nach der Wendung zur Wahrheit wiederholen, die der Gründer
der Akademie in seiner Lehre exponiert hatte, und nur im Gespräch
mit Augustinus läßt sich wiederholend klären, warum unser
Herz ein unruhiges sein muß, bis es Ruhe fände in dem großen
Anderen. Platon, Augustinus und Heidegger sind die Denker, die sich als
einzige mit grundbegrifflichem Ernst Rechenschaft darüber gegeben
haben, daß im Sein selbst »Revolution« stattfindet.
Der Zusammenhang von Sein und Revolution ist für sie ein so tiefer,
daß es ihnen unmöglich ist zu sagen, was Wahrheit ist, ohne
zuvor gesagt zu haben, was Revolution, was Umkehrung, was Bekehrung ist.
Ohne eine Umwälzung des Gesamtsinns von Sein kann weder bei Platon
noch bei Augustinus noch bei Heidegger von einer Wendung in der Wahrheit
oder eine Zuwendung zur Wahrheit die Rede sein. - So ist die Feststellung
gerechtfertigt, daß für diese Denker der Sinn von Sein nicht
ohne Rücksicht auf eine »gegenwendige« oder »revolutionäre«
Bewegtheit aussagbar ist. Platon wie Augustinus und Heidegger gehen davon
aus, daß die Menschen »zunächst und zumeist« von
der Wahrheit weg leben und in einer unvordenklichen Drift in den Irrtum
und die Verdunkelung befangen sind. Das Irren ist in ihren Augen die ursprünglichste
Möglichkeit des Daseins, und das nicht nur in dem Sinn, daß
Menschen in diesem oder jenem Sachbezug »doxisch« auf dem
falschen Weg sein können und von den meisten Dingen nichts verstehen,
sondern so, daß sie sich insgesamt in einer Fehlstellung befinden
und sie gewissermaßen mit dem Rücken zur eigentlichen Wirklichkeit
und Wahrheit stehen. ....
Platons Revolution heißt Umdrehung oder Herumführung der Seele
- altgriechsich: periagogé. Sie impliziert nichts geringeres
als die Gesamtumdrehung der Lebensfahrtrichtung. Wer sich an Platons Höhlengleichnis
erinnert, weiß, was gemeint ist.
Das Höhlengleichnis zielt auf Befreiung durch Erkenntniskritik. ...
Wenn der Philosoph nach Platon auch den Pädagogen spielt, so will
er eigentlich ein Seelenumdreher sein; die gewöhnlichen Kinderführer,
die Lehrer und andere, die auch Geld nehmen, bringen junge Leute dorthin,
wohin sie meistens ohnedies wollen, auf Laufbahnstufen und Rednerbühnen.
Der philosophische Kinderumdreher lenkt sie zu einem Ziel, das sie zunächst
nicht anstreben, weil sie aus Eigenem nicht ahnen konnten, was dort für
sie zu gewinnen wäre. ....
|
Die Grundlage für die Erbsünde
lieferte Paulus Lehre: daß durch einen Mann (Adam)
die Sünde in die Welt kam, so daß durch die
Übertretung dieses einen die vielen starben (Römer,
5, 12). Dies gipfelte in Augustinus' Formulierung, daß Adams
Sünde von den Eltern auf die Kinder durch sinnliche Begierde,
in diesem Fall die sündige sexuelle Erregung, die die Zeugung
begleitet, übertragen worden und das Menschengeschlecht damit
zu einer Masse von Sünden (massa damnata)
geworden sei, wie z.B. durch die Praxis, selbst neugeborene Kinder
mit Exorzismus zu taufen.
Als Theologe und auch als Bischof war Augustinus maßgeblich
an der inneren Reorganisation der Kirche beteiligt. Er stellte z.B. eine
Regel für Frauen und Männer auf, die
von verschiedenen Orden als
Augustinusregel verwendet werden sollte und heute noch wird. Außerdem
versammelte er eine Gruppe von Klerikern (Priester, Diakone etc.)
um sich, die ein gemeinsames Leben führten und so zu den ersten
Kanonikern wurden. Die Kanoniker des Augustinus waren, wie damals
üblich, zum Enthaltsamkeitszölibat angehalten, was durch
das gemeinsame Leben unterstützt wurde.
|
Für Augustinus ist die Menschwerdung Gottes inmitten der Lawine
der Völker und Reiche der Revolutionspunkt; nur er gibt der triebhaften
und mörderischen Parade potentiell eine andere Richtung vor. ....
Die Weltgeschichte ist nach Augustinus die Resultierende aus allen lokalen
Teufelsbewegungen oder Selbstbezüglichkeiten der Einzelnen, die den
Ersten Egoisten nachahmen. Wer von der anfänglichen Fehlbewegung
erst einmal erfaßt wurde, und das ist nach Meinung des Kirchenvaters
die natürlich gezeugte Menschheit im ganzen, bleibt kraft der Urperversion
in einer übermächtigen Bewegung von Gott weg befangen. ....
Entscheidend ist nun für Augustinus, daß diese Sezession vom
gefallenen Menschen aus eigener Kraft nicht mehr überwunden werden
kann. ....
Die Gnade ist Ausfluß einer göttlichen Subjektivität,
die den menschlichen Willen überholt oder mediatisiert, indem sie
ihm schenkt, was dieser aus Eigenem nicht erreichen kann: sie läßt
geschehen, was das Menschenkönnen und -wollen nicht vermag. Sie löst
die Gegenbewegung aus, die in der Tendenz der ersten Bewegtheit als solcher
nie mehr hätte zustande kommen können. ....
|
|
Der Begriff (oder das Modell) der Gnade kehrt bei Heidegger - in das kinetische
Schema Gelassenheit verwandelt - wieder. So wenig die Gnade vom bloßen
Verlangen nach ihr erzwungen werden kann, so wenig steht es im Ermessen
des Menschen, sich selbst willentlich gelassen zu machen. Nichtsdestoweniger
kann weder die Gnade ohne eine geeignete menschliche Bemühung um
sie gewährt werden, noch ist die Gelassenheit erreichbar ohne eine
intensive Abspannung des Subjekts (hier wäre
das Wort »Selbst« angemessener gewesen; HB). Ihr widmet
Heidegger eine Fülle monotoner Gedanken, die um das Motiv des »Übergangs«
in die andere Einstellung kreisen. Somit kehrt nicht allein die Gnade
bei Heidegger wieder - auch die theozentrische Bewegungsfigur: Gott läßt
die Konversion geschehen, wird als das Herzstück der Heideggerschen
Lehre von der Kehre neu geschrieben. Nur die Kehre kehrt, die Gegenbewegung
hat ihren Drehpunkt im Sein. Allein die sich zur Verfügung haltende
Mitgenommenheit durch die gewährte Gegenbewegung läßt
den Menschen in die »eigenste Möglichkeit« gelangen:
in die Entschiedenheit, die gültige Ergriffenheit, in die Sammlung,
in die Revolution, ins Werk, in die eigentliche Dichtung, in die ursprüngliche
Innigkeit des Streits, in den »Gegenschwung im Seyn«, zuletzt
sogar in die Schonung, ins »Spiegel-Spiel des Gevierts« und
in die »eigentliche Bewegung« - die Namen der umwendenden
Motive sind so zahlreich, weil Heidegger bis zuletzt immer neue Deutungen
der Bewegung, die den Sturz kompensiert, in Betracht zieht. Er bleibt
fortwährend auf der Suche nach etwas, was tiefer, umfassender und
seinsgerechter wäre als jede profan verstandene Revolution. Das Motiv
der Gegenwendung ist, wie gesehen, formal schon im Spiel, seit der junge
Heidegger auf Vereigentlichung drängt. Es wird auf politisch nachtwandlerische
Weise aktualisiert, solange der Denker glaubt, sein eigenes Drängen
auf Mitgenommenwerden durch ein bejahbares Weltschicksal in die »nationale
Revolution« hineinlegen zu können. Es gewinnt an Volumen und
Radikalität, als der von der NS-Bewegung enttäuschte Denker
zu dozieren beginnt, es komme nicht mehr darauf an, einem »festgefahrenen
Menschenbetrieb« vorhersehbar vergeblich neue Direktiven vorzusagen,
sondern es gelte, eine integrale »Verrückung des Menschen«
(**)
vorzubereiten - wobei für eine Weile die Geste des »Sprungs«
anzeigen sollte, wie das Sichlosmachen zum Mitgenommenwerden durch ein
Wendegeschehen bewirkt werden könnte. Die Meditation der Gegenwende
erreicht ihre abgeklärteste Gestalt im Spätwerk, wo die Existenz
nichts anderes mehr wollen soll als ihre gelassene Übereignung an
das »Ereignis«. Der Ausdruck Gelassenheit steht jetzt für
eine geführte und angehörige Freiheit, die der Beliebigkeit
entgeht. Sie wäre jene Freiheit, die nicht in ironischer Unterergriffenheit
und hohler Selbstreferenz neben oder über allem verharrt, sondern
sich vom Umgreifend-Verbindlichen gesagt sein läßt, was zu
tun ist. Daher kann nun behauptet werden, das eigentliche Denken sei auf
dem »Weg in das Unterwegs« (vgl. »Unterwegs
zur Sprache«, in: GA, Band 12, S. 45). Zuweilen redet Heidegger
so, als sei ihm in eigener Sache die »Einkehr in die eigentliche
Bewegung« geglückt (vgl. ebd., S. 209). Auf dieser Stufe ist
auch die Philosophie als solche überwunden - sofern sie immer noch
im Betrieb des Willens, Gründe aufzuweisen, gefangen bleibt. Die
Wende zur Kinetik als »Erster Theorie« - im Werk des Denkers
von Anfang an latent - ist explizit vollzogen. Diese zeigt auf oder sagt
an, wie der Mensch mit seinem gesamten Befund einem Spiel angehört,
das gibt und nimmt, zerstreut und sammelt, lichtet und verbirgt. (Von
diesem Angehören wird später Levinas eine ethisch betonte Version
vorstellen, die vor allem die »Zugehörigkeit« zum Appell
des Fremden in Not herauskehrt.) Wenn der durch Heidegger selbst gepflegte
und durch Exegeten wie Texthistoriker nachgesprochene Mythos von seinem
»Denkweg« doch einen gewissen Anhalt im Werkprozeß besitzt,
dann in der progressiven Preisgabe des Willens als Agens der Umwendung
- beginnend mit der anfangs geforderten heroischen Selbstergreifung, vermittelt
durch den »Sprung« in die »Zugehörigkeit in das
Ereignis«, zugespitzt durch den Willen zum Nichtwollen, endend bei
der Eingefügtheit in das sich eigengesetzlich hin und her wendende
Spiel des »Gevierts« und in die sammelnde Kraft der »Gegend«.
Wo zunächst die Umwendung durch eine entschiedene Selbstverwendung
für die revolutionäre Eigentlichkeit erzwingbar schien, wird
später zunehmend nachdrücklich herausgestellt, daß nie
der Mensch als Täter der Umwendung in Frage kommt. Denn wenn der
Täter am Ruder wäre, bliebe die Ironie an der Macht als die
eigentliche Herrin, die sich ihren »gesetzten« Aufgaben zufällig
zuwendet, um sich von ihnen ebenso zufällig abzuwenden. Auch bei
Heidegger sollen schließlich, wie bei dem afrikanischen Kirchenvater,
der menschliche Eigensinn und der Wille abspannen und sich auf ein vom
Sein zugelassenes Lassen umstellen. Heideggers Pastorale hat hier ihren
Ort: Um zum Hirten des Seins zu werden, muß sich der Mensch vor
seiner eigenen Ungelassenheit hüten. Erst nach der Überwindung
der Selbstbehauptung kann er dem Sein, das sich in seine Hut gibt, entsprechen.
Auch bei dem Philosophen geschieht das Rettende - wenn es denn rettet
- wesenhaft verzögert, so daß er eines Tages auf seine dezisionistischen
Jahre zurückblicken wird wie Augustinus auf seine unbekehrte Jugend
- war dies alles nicht nur eine von weit her verfügte praeparatio
philosophica? Wie Augustinus im Drehpunkt der eigenen Lebensgeschichte
den epochalen Übergang vom Heidentum zum Christentum erkennt, so
sieht Heidegger in seinem irrtumsschwangeren und doch erlesenen »Denkweg«
den Angelpunkt der Kehre von der Epoche der Seinsvergessenheit zur Vorbereitung
einer erneuten Seinserinnerung. Was Lebensgeschichte war, wird hier wie
dort in eine heils- oder seinsgeschichtliche Totale versetzt, zum Unbehagen
derer, denen solche Höchststellungen von Sichbescheidengeben vermessen
vorkommen. Immerhin hat Augustinus Heidegger voraus, daß er die
Retraktionen seiner Schriften coram Deo et publico vollzog, während
der letztere eher zur Umdichtung als zur Überprüfung seiner
Ambiguitäten neigte. Gleichwohl, das »Eigene« kann nach
allem, was durchlaufen wurde, nur erreichen, wer zu warten versteht, bis
es »zugeschickt« wird. Allein Ursprünglicheres als der
Mensch, so die zuletzt herausgefilterte Gewißheit, vermag die Gegenbewegung
gegen die schicksalhafte Drift im Menschengemachten zustande zu bringen.
Heideggers Spätstil läßt keinen Zweifel daran zu, daß
er sich selbst als einen Günstling der vom Sein gesandten Umwendung
ansieht. Auch wo er sich hartnäckig als bloßen Vorbereiter
und Sekundanten präsentiert, verrät ihn seine Sprache als einen,
der in eigener Person gefunden hat und gefunden wurde. Aus dem geworfenen
In-der-Welt-Sein ist der Aufenthalt in einem erwählten Reservat geworden.
Und so wie schon Augustinus die christliche Frage beantwortet hatte, in
welcher Weise inmitten der Heimatlosigkeit des Menschen in der Welt doch
etwas wie Heimat möglich sei, indem er am Rande des römischen
Imperiums eine Mönchsgemeinschaft ins Leben rief, die bis heute existiert,
stiftet der späte Heidegger als Wanderer und Meditierer einen besinnlichen
Habitus, der die Ordensregeln des sogenannten Gevierts festlegt - Regeln
eines an geschonter Natur orientierten Ordens, der die »Gegend«
für seinen geheilt-heilenden Aufenthalt in ihr reklamiert. Ginge
es nach dem Gründer, müßten sich auch die Dinge und die
Götter an das Gesetz dieser strengen Idylle halten. Hier kann sich
die Tendenz zu einem reinen Ministrieren erfüllen. Im besinnlichen
Reservat geben die Menschen sich freiwillig so schwach, wie sie vor der
Einführung der großen Technik waren. Die zweite Ohnmacht kommt,
wie ihre Darsteller glauben, der neuen Zuwendung des Seyns entgegen. Nun
läßt sich verstehen, warum es zuletzt doch wieder die katholischen
Theologen sind, die in Heideggers späten Schriften eine Formalisierung
ihres Glaubensmodus finden.
(Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 29-30, 30-31, 32, 35, 36, 39, 41-42, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67,
68, 68-71, 71-72.)
Mein Fazit.
Wenn Sloterdijks Analogie zwischen Platon, Augustinus und Heidegger zutrifft,
trifft dann vielleicht auch z.B. die Analogie zwischen Pythagoras, Paulus
und Nietzsche zu? Oder, anders gefragt, sind nicht Nietzsche und Heidegger
gleichermaßen zu nennen, wenn es um solche Theologen
philosophischer Herkunft geht, die mit dem Apostel Paulus und dem Theologen
und Bischof Augustinus einerseits sowie dem Philosophen, Mathematiker,
Astronom und Religionsstifter (Gründer eines Bundes für sittlich-religiöse
Lebensform) Pythagoras und dem Philosophen und Akademiegründer Platon
andererseits vergleichbar sein sollen?
Jesus verkündet
das Evangelium |
|
War Nietzsche nicht ganz besonders stolz auf seinen Zarathustra,
dessen Botschaft er in der Welt verkündete, so wie Paulus es mit
seinem Jesus getan hatte? Hatte der im Grunde konservative
und dennoch auf eigenartige Weise konservativ gebliebene Nietzsche nicht
der religiös-kulturellen Wertegemeinschaft genauso den Rücken
zugekehrt, wie es seinerzeit Pythagoras mit der seinigen auf eine zumindest
in gewisser Hinsicht ähnliche Weise getan hatte? Ich selber betrachte
Analogien eher gemäß der Spenglerschen Morphologie, lehne aber
deswegen Sloterdijks Platon-Augustinus-Nietzsche-Analogie nicht ab, denn
Analogien findet man viele, und da sie eine Angelegenheit der Relativität
sind, findet man auch häufig, daß sie stimmig (weil eben: relativ
stimmig) sind. Hatte nicht Sloterdijk zufolge Nietzsche seinen Zarathustra
ein fünftes Evangelium verkünden lassen (vgl. Peter Sloterdijk,
Über die Verbesserung der guten Nachricht - Nietsches fünftes
Evangelium, 2000), so wie zuvor Paulus seinen Jesus jenes eigentliche
Evangelium, das anschließend in vier Versionen von den vier Evangelisten
(Matthäus, Markus, Lukas, Johannes) verbreitet werden sollte, verkünden
lassen und es als seine eigene Botschaft gebraucht (mißbraucht?),
so wie eben später Nietzsche dasjenige seines Zarathustra? Und zuletzt
gefragt: Gibt es nicht andersartige, aber dennoch ebenfalls überzeugende
Analogien zwischen Nietzsche, Heidegger und Sloterdijk? **
Wird Nietzsches Zarathustra-Religion (-Übungssystem,
um mit Sloterdijk zu sprechen) zum Übermenschen führen
oder doch nur den letzten Menschen bestätigen? Wird Heideggers
Seyns-Religion (-Übungssystem, um mit Sloterdijk
zu sprechen) zur Eigentlichkeit des Daseins (Menschen) in der geschonten
Welt, zur Wächterschaft des Seyns, zum letzten
Gott und zum Bezug des umgekehrten Verhältnisses zwischen dem
Seyn und dem Seienden führen oder doch nur das immer riesiger werdende
Riesenhafte und die immer mächtiger werdende Machenschaft
der Technik (des Gestells) sowie die damit verbundenen dumpfen Erlebnisse bestätigen? Wird Sloterdijks Zur-Welt-Kommens-Religion
(-Übungssystem, um mit Sloterdijk zu sprechen) zu den
Zur-Welt-Gekommen führen oder doch nur den altbekannten
Trott von Weltflucht und Weltsucht bestätigen? Lauter letzte
Menschen inmitten eines riesenhaften Gestells der Machenschaft
mit Erlebnissen, u.a. dadurch gekennzeichnet, daß Weltflucht
und Weltsucht trotz ihrer exponentiell gewachsenen Ausmaße überhaupt
nicht mehr bemerkt werden? Menschengemachte Entropie?
Anmerkungen.
Zur Kehre:
Eine Anmerkung zur Kehre sei noch erlaubt. Es ist
verlockend, den Begriff Kehre als Legitimation für einen
Heidegger-vor-der-Kehre und einen Heidegger-nach-der-Kehre
- dazwischen nicht zu vergessen: einen Heidegger-in-der-Kehre
- zu unterscheiden. Diese Unterscheidung paßt aber nicht so genau
zu dem Umstand, daß Heideggers Begriff der Kehre sehr
komplex zu verstehen ist, so daß die Unterscheidung im Zusammenhang
mit einer von Heidegger persönlich vollzogenen ,Kehre
nicht ganz richtig sein kann. Kehre im Heideggerschen Sinne
ist eher sachlich als persönlch zu verstehen.
Man mißt Heidegger mit Maßen, die man selbst
gesetzt hat. (
=> 32:25 ff.). Heidegger selbst jedenfalls
hat sich seit der Zeit, als er in die Nähe einer möglichen Bekehrung
gerückt worden war, entschieden gegen solch eine aufgeblähte
Rede von der Kehre ausgesprochen. Auch im Kontext der Nietzsche-Vorlesungen
Heideggers ist der Begriff der Kehre sachlich gemeint, nämlich
als Geschehnis einer Drehung: Die Drehung ist keine
Umkehrung, sie ist: Eindrehen in den anderen Grund als Ab-grund. Die
Grund-losigkeit der Wahrheit des Seins wird geschichtlich zur Seinsverlassenheit,
die darin besteht, daß die Entbergung des Seins als solche ausbleibt.
Dies ergibt die Seinsvergessenheit, sofern wir das Vergessen nur im Sinne
von einem Ausbleiben des Andenkens verstehen. In diesem Bereich ist anfänglich
der Grund für die Ansetzung des Menschen als des bloßen Menschen,
ist der Grund für die Vermenschlichung des Seienden zu suchen.
(In: Nietzsche I, S. 590 **).
Prägnant faßte Heidegger den Begriff der Kehre im
Zusammenhang der Hölderlin-Ausdeutugen auf: Heimkunft ist die
Rückkehr in die Nähe zum Ursprung (in: Erläuterungen
zu Hölderlins Dichtungen, 1936 ff., S. 23 f.). Das Zurückgehen
in den Ursprung ist demnach erforderlich, um zu erfahren, was das
Zu-Suchende sei, um dann als der Suchende erfahrener zurückzukommen
(ebd.). Mit Bezug auf die Seinssuche gesagt: Was Heidegger die Kehre
im Denken nennt, ist weder eine Umkehr Heideggers noch eine Bekehrung,
sonder Ausdruck dessen, daß der Weg zum Sein hin immer schon Weg
vom Sein her ist. (
=> 40:43 ff.). Darin liegt eine Kehre, die sachlich
zu verstehen ist, also keine Kehre in oder an der Person, sondern eine
Kehre im oder am Weg selbst bedeutet. Wenn dieser Weg begangen wird, kann,
aber muß nicht eine persönliche Kehre im Sinne einer persönlichen
Bekehrung, Umkehr oder gar Revolution
geschehen.
Seinsgeschichtlich weist die Kehre auf die innere Wendung im
Seinsereignis selbst hin, das gerade aus der Gefahr und der Not der Notlosigkeit
hervorgeht. In der Gefahr waltet dieses noch nicht bedachte Sichkehren.
Im Wesen der Gefahr verbirgt sich darum die Möglichkeit einer
Kehre, in der die Vergessenheit des Wesens des Seins sich so wendet, daß
mit dieser Kehre die Wahrheit des Wesens des Seins in das Seiende
eigens einkehrt. (In: Identität und Differenz, S. 118
**).
Allerdings vollzieht sich zwischen dem existential-horizontalen
Weg von Sein und Zeit und der Seinsgeschichte auch dadurch
eine Kehre, daß zunächst die Frage nach dem Wesen des Daseins
auf den Horizont der ekstatischen Zeitlichkeit bezogen wird, die Kehre
zum seinsgeschichtlichen Denken besagt. Die Kehre zum seinsgeschichtlichen
Denken besagt dann in einer Umkehrung, daß Sein als Horizont der
Zeitlichkeit des Daseins aufgefaßt werden soll. Hinsichtlich der
Semantik der Kehre ist Heidegger von Parmenides Bahauptung ausgegangen,
daß Hinweg und Rückweg der gleiche Weg seien. Insofern bezeichnet
die Kehre also eine Richtungswendung um 180 Grad, die im Falle des Grundverhältnisses
von Dasein und Sein die Richtung umkehrt und vom Dasein als Ursprung auf
das Sein zurückkommt.
Im seinsgeschichtlichen Zusammenhang bedeutet dies, daß
das Seinsereignis selbst sein innerstes Geschehen und seinen weitesten
Ausgriff in der Kehre hat (vgl. Beiträge zur Philosophie,
S. 407 **).
Genauer gesagt ist dieses Geschehen der Kehre das Seyn als solches
(in: Identität und Differenz, S. 151). In der Struktur der
Kehre komme dabei der Zusammenhang zwischen Sein und Zeit, Zeit und Sein
selbst zur Entfaltung (vgl. ebd.). Die Kehre vollzieht sich seinsgeschichtlich
auch zwischen der äußersten Gefahr der Not der Notlosigkeit
einerseits und dem Rettenden im Seinsdenken andererseits. Gerade in der
äußersten Seinsverlassenheit des Gestells (**|**)
kann die Kehre vollzogen werden. Dabei ist aber bemerkenswert, daß
Heidegger zufolge die Kehre niemals nur als Anzeiger eines Richtungswechsels,
sondern aben auch und besonders als immanentes Geschehen zu verstehen
ist. Das Geschehen des Kehre ist, wie schon gesagt, das Seyn als solches.
Das Seyn als solches läßt sich nur aus der Kehre denken.
Die Kehre ist Heidegger zufolge gar keine besondere Art von Geschehen,
sondern bestimmt sich vielmehr selbst als eine Schwingung im Zwischen,
aus dem, wie ES-Sein, wie ES Zeit gibt (ebd.). Der Heraushebung
einer einzelnen Kehre hat Heidegger dabei widersprochen. Jene Kehre, die
im Ereignis west, sei vielmehr der verborgene Grund aller anderen,
nachgeordneten, in ihrer Herkunft dunkel, ungefragt bleibenden, gern an
sich als »Letztes« genommenen Kehren, Zirkel und Kreise
(in: Beiträge zur Philosophie, S. 407 **).
Die Heideggersche Kehre bezieht sich also nicht auf
die Person Heideggers oder auf andere Personen, sondern auf eine Sache,
die im Ereignis des Seins west und als Seyn geschieht.
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Besucher, die ins Arbeitszimmer
Heideggers geladen waren - was eine besondere Auszeichnung bedeutete
-, mußten eine geschwungene Holztreppe zum ersten Stock hinaufsteigen,
wo sich neben einem riesigen Familienschrank die Tür zum Arbeitszimmer
öffnete. Ein von umlaufenden Bücherregalen verdunkelter
Raum, der durch ein efeuumranktes Fenster Licht empfing. Davor der
Schreibtisch. Von ihm aus sah man auf den Turm der Zähringer
Burgruine. Neben dem Schreibtisch ein Ledersessel, worin Generationen
von Besuchern gesessen hatten. (Rüdiger Safranski,
Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994,
S. 470 [**]).
Turm der Zähringer
Burgruine
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Zähringer Burg
um 1500
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SEIN UND ZEIT war ein Torso. Zwei Teile waren geplant. Noch nicht
einmal der erste wurde fertig, obwohl Heidegger unter Termindruck zuletzt
Tag und Nacht daran arbeitete. Es war wohl das einzige Mal in seinem Leben,
daß er sich tagelang nicht mehr rasierte. Doch er hat alle Themen
der in SEIN UND ZEIT angekündigten, aber nicht aufgeführten
Kapitel nach und nach bearbeitet. Eine Skizze des fehlenden dritten Abschnitts
des ersten Teils zum Thema Zeit und Sein trägt er noch im
Sommer 1927 vor im Rahmen der Vorlesung DIE GRUNDPROBLEME DER PHÄNOMENOLOGIE.
Den noch ausstehenden großen zweiten Teil von SEIN UND ZEIT - vorgesehen
war die Destruktion exemplarischer Ontologien bei Kant, Descartes und
Aristoteles - arbeitet Heidegger in den folgenden Jahre zu Einzelschriften
oder Vorlesungen aus: 1929 erscheint KANT UND DAS PROBLEM DER METAPHYSIK,
1938 wird der WELTBILD-Vortrag gehalten (später
wird dieser unter dem Titel »Die Zeit des Weltbildes« erscheinen;
HB) mit der Kritik des Cartesianismus; die Auseinandersetzung mit
Aristoteles führt er in Vorlesungen weiter. In
diesem Sinne ist SEIN UND ZEIT weitergeführt und auch abgeschlossen
worden. Auch die sogenannte Kehre, von der Heideggerschule
später so mystifiziert, wird noch im Rahmen dieses Projektes anvisiert.
In der LOGIK-Vorlesung vom Sommersemester 1928 (der
genaue Titel: »Metpahysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang
von Leibniz; HB) wird sie zum ersten Mal als Aufgabe genannt: Die
temporale Analytik ist zugleich die Kehre (in: GA, 26, 201 [**]).
Diese Kehre bedeutet: Die Analytik des Daseins »entdeckt«
zuerst die Zeit, kehrt sich dann aber zurück auf das eigene Denken
- unter dem Gesichtspunkt der begriffenen Zeit. Das Denken der Zeit bedenkt
die eigene Zeitlichkeit des Denkens. Dies nun allerdings nicht im Sinne
einer Analyse der historischen Umstände - darin liegt für Heidegger
nicht der Kern der Zeitlichkeit. Die Zeitlichkeit des Daseins vollzieht
sich, wie wir schon wissen, in der Sorge. Sorgend lebt das Dasein
in seinen offenen Zeithorizont hinein, besorgend und versorgend auf der
Suche nach Haltepunkten und Verläßlichkeiten im Fluß
der Zeit. Solche Haltepunkte können sein: Arbeit, Rituale, Institutionen,
Organisationen, Werte. Solche Haltepunkte aber müssen für eine
Philosophie, die sich zum Bewußtsein ihrer eigenen Zeitlichkeit
»gekehrt« hat, alle subtsanzhafte Würde verlieren. Indem
die Philosophie den Strom der Zeit entdeckt, kann sie nicht mehr anders,
als sich selbst als Teil davon zu begreifen. Ihrer universalistischen,
zeitenthobenen Prätentionen beraubt, entdeckt diese »gekehrte«
Philosophie, daß, wenn der Sinn des Seins die Zeit ist, es auch
keine Flucht aus der Zeit in ein verläßliches Sein geben kann.
Die Fluchtwege sind abgeschnitten; Philosophie gibt keine Antworten mehr,
sie kann sich nur noch verstehen als besorgtes Fragen. Philosophie ist
nichts anderes als Sorge in Aktion, Selbstbekümmerung, wie
Heidegger sagt. Philosophie hat wegen ihrer Weisheisprätentionen
eine besonders schwer duchschaubare Art, sich etwas vorzumachen. Philosophierend
will Heidegger der Philosophie auf die Schliche kommen. Was kann sie denn
überhaupt leisten? Heidggers Antwort: Sie kann, indem sie die Zeit
als Sinn entdeckt, die Sinne schärfen für das pochende Herz
der Zeit - für den Augenblick. Die Kehre: nach dem Sein der
Zeit nun also die Zeit des Seins. Die aber balanciert auf der Spitze des
jeweiligen Augenblicks. (Rüdiger Safranski, Ein Meister
aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 197 [**|**]).
Heidegger aber begnügt sich nicht mit der Aussicht,
daß besinnliches Denken die blühenden Bäume da und dort
stehen und sein lassen könnte, daß sich im Denken da und dort
ein anderes In-der-Welt-Sein ereignet, sondern er projiziert die sich
im Denken vollziehende Einstellungsänderung in die Geschichte. Aus
der Kehre im Kopf des Philosophen wird eine Vermutung über eine Kehre
in der Geschichte. Und so findet Heidegger für die Dramaturgie seines
Festvortrages ein gutes Ende, das die Zuhörer mit dem feierlichen
Gefühl entläßt, Ernstes, aber auch irgendwie Erbauliches
gehört zu haben. Heidegger zitiert Hölderlin: »Wo aber
Gefahr ist, wächst das Rettende auch ....« (Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 442 [**]).
Gewiß ist das Denken, das den Verhängniszusammenhang
des Gestells bedenkt, eben dadurch schon einen Schritt darüber hinaus,
es eröffnet einen Spielraum, in dem überhaupt erst zu sehen
ist, was gespielt wird. Insofern steckt im Denken tatsächlich schon
eine »Kehre«. Es ist die Haltung der Gelassenheit, die Heidegger
bei einem Vortrag in Meßkirch 1955 einmal so beschrieben hat: Wir
lassen die technischen Gegenstände in unsere tägliche Welt herein
und lassen sie zugleich draußen, d. h. auf sich beruhen als Dinge,
die nichts Absolutes sind, sondern selbst auf Höheres angewiesen
bleiben. Ich möchte diese Haltung des gleichzeitigen Ja und Nein
zur technischen Welt mit einem alten Wort nennen: die Gelassenheit
zu den Dingen. (G, 23). Aber diese Gelassenheit zu den Dingen, verstanden
als Kehre des Denkens, macht die Vermutung einer realgeschichtlichen Kehre
nicht plausibel. (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland
- Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 442 [**]).
Auf den Vorwurf mangelnder Plausibilität würde
Heidegger erwidern, daß »Plausibilität« eine Kategorie
des technisch-berechnenden Denkens sei; wer in »Plausibilitäten«
denke, bleibe im Gestell - auch beim Versuch, aus ihm herauszufinden.
Es gibt für Heidegger ganz einfach keine »machbare« Lösung
des Problems der Technik. Kein menschliches Rechnen und Machen kann
von sich aus und durch sich allein eine Wende des gegenwärtigen Weltzustandes
bringen; schon deshalb nicht, weil die menschliche Machenschaft von diesem
Weltzustand geprägt und ihm verfallen ist. Wie soll sie dann je noch
seiner Herr werden? (24. 12. 1963, BwHK, 59). Die Wende wird als ein
Ereignis des Geschicks geschehen, oder sie wird gar nicht geschehen.
Dieses Ereignis aber wirft seine Schatten voraus - ins besinnliche Denken.
Von der eigentlichen Kehre gilt, was Paulus über die Wiederkehr
Christi gesagt hat: sie kommt wie ein Dieb in der Nacht. Die Kehre
der Gefahr ereignet sich jäh. In der Kehre lichtet sich jäh
die Lichtung des Wesens des Seins. Das jähe Sichlichten ist das Blitzen.
(TK, 43). (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland
- Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 442-443 [**]).
Zur Unbrauchbarkeit und Unverwertbarkeit des Denkens im Blick auf die Gesellschaft:
Man hat Heideggers Philosophie Unbrauchbarkeit und Unverwertbarkeit
des Denkens im Blick auf die Gesellschaft (
=> 32:07 ff.) vorgeworfen. Den Vorwerfenden
sei hier vorgeworfen, was ich oben im Zuammenhang mit der Kehre
(**),
die von vielen falsch oder gar nicht verstanden worden ist, schon gesagt
habe: Man mißt Heidegger mit Maßen, die man selbst gesetzt
hat. (
=> 32:25 ff.). Die Maße bzw. die Werte,
die man - fast immer in Äbhängigkeit vom Man
- gesetzt hat, sind zumeist materialistische, jedenfalls aber solche der
Brauchbarkeit, der Verwertbarkeit und also der Zweckdienlichkeit (Finalität).
Das wundert nicht angesichts der Tatsache, daß diese Maße
bzw. Werte im Zeitalter der im Abendland schon seit Ende des 18. Jahrhunderts
immer mehr (erst langsam, danach schneller [exponentiell eben]) zunehmenden
Entwertung der höchsten Werte diese immer mehr verdrängen, um
selbst die höchsten zu werden sowie da und bei denen, wo sie es schon
sind, zu verteidigen und zu erweitern und möglichst noch weiter zu
erhöhen. Konservative oder gar reaktionäre Philosophen
bzw. Denker sind in solchen Zeiten nicht gefragt, werden in die Ecke abgedrängt,
verspottet, beschimpft, diskriminiert, verfolgt. Heidegger z.B. wurde
als Denkwebel und alemannische Zipfelmütze
(
=> 32:01 ff.) sowie schwäbischer
Taoist (**)
verspottet, Sloterdijk Geschwurbel und Geschwafel
vorgeworfen und Sloterdijk-Debatten
zur Last gelegt. Ist nicht gerade dann, wenn konservative oder
gar reaktionäre Philosophen bzw. Denker mundtot gemacht
werden sollen, das Werk der wahren Reaktionäre im Gange? Ist nicht
die Revolution geschichtlich so alt, daß die durch sie
Profitierenden längst ein riesiges Interesse an der Reaktion haben
müssen? Ist es nicht eine historische Tatsache, daß
alle bisherigen sogenannten Revolutionäre nach sehr kurzer
Zeit selbst zu Reaktionären geworden sind, wenn sie es nicht schon
vorher waren, daß ihre revolutionären Masken ihnen
geholfen haben, sich und die von ihnen angeblich Vertretenen
als Opfer darstellen zu können und dadurch an die Macht
zu kommen und diese anschließend noch schlimmer zu mißbrauchen,
als alle anderen Mächtigen vor ihnen? Nannte nicht in der Endphase
der kommunistischen Sowjetunion das Volk seine angeblich revolutionären
Herrscher reaktionäre Betonköpfe, wenn auch nur
hinter vorgehaltener Hand, weil die Angst vor dem Tod, den Konzentrationslagern
und anderen Maßnahmen ebenfalls regierte, mächtig
real existierte?
Noch zu Lebzeiten Heideggers sagte Richard Wisser: Heidegger macht
niemandem das Geschäft streitig; man sollte seinen Beruf nicht unterschätzen
(
=> 32:29 ff.). Fast alle Herrschenden sehen
aber ihre mächtigen Geschäfte auch dann in Gefahr,
wenn ein Philosoph bzw. Denker nicht genau die Gedanken verkündet,
die er dem Willen der Herrschenden zufolge verkünden soll.
  
Wenn die Rätsel einander drängten und
kein Ausweg sich bot, half der Feldweg. **

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