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Das Mesmerhaus in Meßkirch, in dem Martin Heidegger aufwuchs.
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Blick auf Martin Heideggers Hütte oberhalb von Rütte, Todtnauberg.
Hier schrieb Martin Heidegger den größten Teil von Sein
und Zeit.
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Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug.
Man kennt das Handeln nur als das Bewirken einer Wirkung. Deren Wirklichkeit
wird nach ihrem Nutzen geschätzt. Aber das Wesen des Handelns ist
das Vollbringen. Vollbringen heißt: etwas in die Fülle seines
Wesens entfalten, in diese hervorgeleiten, producere. Vollbringbar ist
deshalb eigentlich nur das, was schon ist. Was jedoch vor allem »ist«,
ist das Sein. Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des
Menschen. Es macht und bewirkt diesen. Bezug nicht. Das Denken bringt
ihn nur als das, was ihm selbst vom Sein übergeben ist, dem Sein
dar. Dieses Darbringen besteht darin, daß im Denken das Sein zur
Sprache kommt. Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung
wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser
Behausung. Ihr Wachen ist das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins,
insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache
aufbewahren. Das Denken wird nicht erst dadurch zur Aktion, daß
von ihm eine Wirkung ausgeht oder daß es angewendet wird. Das Denken
handelt, indem es denkt. Dieses Handeln ist vermutlich das einfachste
und zugleich das höchste, weil es den Bezug des Seins zum Menschen
angeht. Alles Wirken aber beruht im Sein und geht auf das Seiende aus.
Das Denken dagegen läßt sich vom Sein in den Anspruch nehmen,
um die Wahrheit des Seins zu sagen. Das Denken vollbringt dieses Lassen.
Denken ist l'engagement par l'Être pour l'Être. Ich weiß
nicht, ob es sprachlich möglich ist, dieses beides (»par«
et »pour«) in einem zu sagen, nämlich durch: penser,
c'est l'engagement de 1'Être. Hier soll die Form des Genitiv »de
l' ...« ausdrücken, daß der Genitiv zugleich ein gen.
subiectivus und obiectivus ist. Dabei sind »Subjekt« und »Objekt«
ungemäße Titel der Metaphysik, die sich in der Gestalt der
abendländischen »Logik« und »Grammatik« frühzeitig
der Interpretation der Sprache bemächtigt hat. Was sich in diesem
Vorgang verbirgt, vermögen wir heute nur erst zu ahnen. Die Befreiung
der Sprache aus der Grammatik in ein ursprünglicheres Wesensgefüge
ist dem Denken und Dichten aufbehalten. Das Denken ist nicht nur l'engagement
dans l'action für und durch das Seiende im Sinne des Wirklichen der
gegenwärtigen Situation. Das Denken ist I'engagement durch und für
die Wahrheit des Seins. Dessen Geschichte ist nie vergangen, sie steht
immer bevor. Die Geschichte des Seins trägt und bestimmt jede condition
et situation humaine. Damit wir erst lernen, das genannte Wesen des Denkens
rein zu erfahren und das heißt zugleich zu vollziehen, müssen
wir uns frei machen von der technischen Interpretation des Denkens. Deren
Anfänge reichen bis zu Plato und Aristoteles zurück. Das Denken
selbst gilt dort als eine tecbnh, das
Verfahren des Überlegens im Dienste des Tuns und Machens. Das Überlegen
aber wird hier schon aus dem Hinblick auf praxiV;
und poihsiV gesehen. Deshalb ist das
Denken, wenn es für sich genommen wird, nicht »praktisch«.
Die Kennzeichnung des Denkens als qeoria
und die Bestimmung des Erkennens als des »theoretischen« Verhaltens
geschieht schon innerhalb der »technischen« Auslegung des
Denkens. Sie ist ein reaktiver Versuch, auch das Denken noch in eine Eigenständigkeit
gegenüber dem Handeln und Tun zu retten. Seitdem ist die »Philosophie«
in der ständigen Notlage, vor den »Wissenschaften« ihre
Existenz zu rechtfertigen. Sie meint, dies geschehe am sichersten dadurch,
daß sie sich selbst zum Range einer Wissenschaft erhebt. Dieses
Bemühen aber ist die Preisgabe des Wesens des Denkens. Die Philosophie
wird von der Furcht gejagt, an Ansehen und Geltung zu verlieren, wenn
sie nicht Wissenschaft sei. Dies gilt als ein Mangel, der mit Unwissenschaftlichkeit
gleichgesetzt wird. Das Sein als das Element des Denkens ist in der technischen
Auslegung des Denkens preisgegeben. Die »Logik« ist die seit
der Sophistik und Plato beginnende Sanktion dieser Auslegung. Man beurteilt
das Denken nach einem ihm unangemessenen Maß. Diese Beurteilung
gleicht dem Verfahren, das versucht, das Wesen und Vermögen des Fisches
danach abzuschätzen, wieweit er imstande ist, auf dem Trockenen des
Landes zu leben. Schon lange, allzu lang sitzt das Denken auf dem Trockenen.
Kann man nun das Bemühen, das Denken wieder in sein Element zu bringen,
»Irrationalismus« nennen? (Martin Heidegger, Brief
über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders.,
Wegmarken, S. 313-315).
Diese Fragen Ihres Briefes ließen sich wohl im unmittelbaren
Gespräch eher klären. Im Schriftlichen büßt das Denken
leicht seine Beweglichkeit ein. Vor allem aber kann es da nur schwer die
ihm eigene Mehrdimensionalität seines Bereiches innehalten. Die Strenge
des Denkens b besteht im Unterschied zu den Wissenschaften nicht bloß
in der künstlichen, das heißt technisch-theoretischen Exaktheit
der Begriffe. Sie beruht darin, daß das Sagen rein im Element der
Wahrheit des Seins bleibt und das Einfache seiner mannigfaltigen Dimensionen
walten läßt. Aber das Schriftliche bietet andererseits den
heilsamen Zwang zur bedachtsamen sprachlichen Fassung. Für heute
möchte ich nur eine Ihrer Fragen herausgreifen. Deren Erörterung
wirft vielleicht auch auf die anderen ein Licht. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 315).
Sie fragen: Comment redonner un sens au mot »Humanisme«?
Diese Frage kommt aus der Absicht, das Wort »Humanismus« festzuhalten.
Ich frage mich, ob das nötig sei. Oder ist das Unheil, das alle Titel
dieser Art anrichten, noch nicht offenkundig genug? Man mißtraut
zwar schon lange den »-ismen«. Aber der Markt des öffentlichen
Meinens verlangt stets neue. Man ist immer wieder bereit, diesen Bedarf
zu decken. Auch die Namen wie »Logik«, »Ethik«,
»Physik« kommen erst auf, sobald das ursprüngliche Denken
zu Ende geht. Die Griechen haben in ihrer großen Zeit ohne solche
Titel gedacht. Nicht einmal »Philosophie« nannten sie das
Denken. Dieses geht zu Ende, wenn es aus seinem Element weicht. Das Element
ist das, aus dem her das Denken vermag, ein Denken zu sein. Das Element
ist das eigentlich Vermögende: das Vermögen. Es nimmt sich des
Denkens an und bringt es so in dessen Wesen. Das Denken, schlicht gesagt,
ist das Denken des Seins. Der Genitiv sagt ein Zwiefaches. Das Denken
ist des Seins, insofern das Denken, vom Sein ereignet (»Ereignis«
seit 1936 das Leitwort meines Denkens), dem Sein gehört. Das Denken
ist zugleich Denken des Seins, insofern das Denken, dem Sein gehörend,
auf das Sein hört. Als das hörend dem Sein Gehörende ist
das Denken, was es nach seiner Wesensherkunft ist. Das Denken ist - dies
sagt: das Sein hat sich je geschicklich seines Wesens angenommen. Sich
einer »Sache« oder einer »Person« in ihrem Wesen
annehmen, das heißt: sie lieben: sie mögen. Dieses Mögen
bedeutet, ursprünglicher gedacht: das Wesen schenken. Solches Mögen
ist das eigentliche Wesen des Vermögens, das nicht nur dieses oder
jenes leisten, sondern etwas in seiner Her-kunft »wesen«,
das heißt sein lassen kann. Das Vermögen des Mögens ist
es, »kraft« dessen etwas eigentlich zu sein vermag. Dieses
Vermögen ist das eigentlich »Mögliche«, jenes, dessen
Wesen im Mögen beruht. Aus diesem Mögen vermag das Sein das
Denken. Jenes ermöglicht dieses. Das Sein als das Vermögend-Mögende
ist das »Mög-liche«. Das Sein als das Element ist die
»stille Kraft« des mögenden Vermögens, das heißt
des Möglichen. Unsere Wörter »möglich« und
»Möglichkeit« werden freilich unter der Herrschaft der
»Logik« und »Metaphysik« nur gedacht im Unterschied
zu »Wirklichkeit«, das heißt aus einer bestimmten -
der metaphysischen - Interpretation des Seins als actus und potentia,
welche Unterscheidung mit der von existentia und essentia identifiziert
wird. Wenn ich von der »stillen Kraft des Möglichen«
spreche, meine ich nicht das possibile einer nur vorgestellten possibilitas,
nicht die potentia als essentia eines actus der existentia, sondern das
Sein selbst, das mögend über das Denken und so über das
Wesen des Menschen und das heißt über dessen Bezug zum Sein
vermag. Etwas vermögen bedeutet hier: es in seinem Wesen wahren,
in seinem Element einbehalten. (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 315-317).
Wenn das Denken zu Ende geht, indem es aus seinem Element weicht,
ersetzt es diesen Verlust dadurch, daß es sich als tecbnh,
als Instrument der Ausbildung und darum als Schulbetrieb und später
als Kulturbetrieb eine Geltung verschafft. Die Philosophie wird allgemach
zu einer Technik des Erklärens aus obersten Ursachen. Man denkt nicht
mehr, sondern man beschäftigt sich mit der »Philosophie«.
Im Wettbewerb solcher Beschäftigungen bieten sich diese dann öffentlich
als ein ...ismus an und versuchen, sich zu überbieten. Die Herrschaft
solcher Titel ist nicht zufällig. Sie beruht, und das vor allem in
der Neuzeit, auf der eigentümlichen Diktatur der Offentlichkeit.
Die sogenannte »private Existenz« ist jedoch nicht schon das
wesenhafte, nämlich freie Menschsein. Sie versteift sich lediglich
zu einer Verneinung des Offentlichen. Sie bleibt der von ihm abhängige
Ableger und nährt sich vom bloßen Rückzug aus dem Offentlichen.
Sie bezeugt so wider den eigenen Willen die Verknechtung an die Offentlichkeit.
Diese selbst ist aber die metaphysisch bedingte, weil aus der Herrschaft
der Subjektivität stammende Einrichtung und Ermächtigung der
Offenheit des Seienden in die unbedingte Vergegenständlichung von
allem. Darum gerät die Sprache in den Dienst des Vermittelns der
Verkehrswege, auf denen sich die Vergegenständlichung als die gleichförmige
Zugänglichkeit von Allem für Alle unter Mißachtung jeder
Grenze ausbreitet. So kommt die Sprache unter die Diktatur der Offentlichkeit.
Diese entscheidet im voraus, was verständlich ist und was als unverständlich
verworfen werden muß. Was in »Sein und Zeit« (1927),
§§ 27 und 35 über das »man« gesagt ist, soll
keineswegs nur einen beiläufigen Beitrag zur Soziologie liefern.
Gleichwenig meint das »man« nur das ethisch-existentiell verstandene
Gegenbild zum Selbstsein der Person. Das Gesagte enthält vielmehr
den aus der Frage nach der Wahrheit des Seins gedachten Hinweis auf die
anfängliche Zugehörigkeit des Wortes zum Sein. Dieses Verhältnis
bleibt unter der Herrschaft der Subjektivität, die sich als die Offentlichkeit
darstellt, verborgen. Wenn jedoch die Wahrheit des Seins dem Denken denk-würdig
geworden ist, muß auch die Besinnung auf das Wesen der Sprache einen
anderen Rang erlangen. Sie kann nicht mehr bloße Sprachphilosophie
sein. Nur darum enthält »Sein und Zeit« (§ 34) einen
Hinweis auf die Wesensdimension der Sprache und rührt an die einfache
Frage, in welcher Weise des Seins denn die Sprache als Sprache jeweils
ist. Die überall und rasch fortwuchernde Verödung der Sprache
zehrt nicht nur an der ästhetischen und moralischen Verantwortung
in allem Sprachgebrauch. Sie kommt aus einer Gefährdung des Wesens
des Menschen. Ein bloß gepflegter Sprachgebrauch beweist noch nicht,
daß wir dieser Wesensgefahr schon entgangen sind. Er könnte
heute sogar eher dafür sprechen, daß wir die Gefahr noch gar
nicht sehen und nicht sehen können, weil wir uns ihrem Blick noch
nie gestellt haben. Der neuerdings viel und reichlich spät beredete
Sprachverfall ist jedoch nicht der Grund, sondern bereits eine Folge des
Vorgangs, daß die Sprache unter der Herrschaft der neuzeitlichen
Metaphysik der Subjektivität fast unaufhaltsam aus ihrem Element
herausfällt. Die Sprache verweigert uns noch ihr Wesen: daß
sie das Haus der Wahrheit des Seins ist. Die Sprache überläßt
sich vielmehr unserem bloßen Wollen und Betreiben als ein Instrument
der Herrschaft über das Seiende. Dieses selbst erscheint als das
Wirkliche im Gewirk von Ursache und Wirkung. Dem Seienden als dem Wirklichen
begegnen wir rechnend-handelnd, aber auch wissenschaftlich und philosophierend
mit Erklärungen und BegrÜndungen. Zu diesen gehört auch
die Versicherung, etwas sei unerklärlich. Mit solchen Aussagen meinen
wir vor dem Geheimnis zu stehen. Als ob es denn so ausgemacht sei, daß
die Wahrheit des Seins sich überhaupt auf Ursachen und Erklärungsgründe
oder, was dasselbe ist, auf deren Unfaßlichkeit stellen lasse.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 317-319).
Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden,
dann muß er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren. Er muß
in gleicher Weise sowohl die Verführung durch die Offentlichkeit
als auch die Ohnmacht des Privaten erkennen. Der Mensch muß, bevor
er spricht, erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen auf die Gefahr,
daß er unter diesem Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat.
Nur so wird dem Wort die Kostbarkeit seines Wesens, dem Menschen aber
die Behausung für das Wohnen in der Wahrheit des Seins wiedergeschenkt.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 319).
Liegt nun aber nicht in diesem Anspruch an den Menschen, liegt
nicht in dem Versuch, den Menschen für diesen Anspruch bereit zu
machen, eine Bemühung um den Menschen? Wohin anders geht »die
Sorge« als in die Richtung, den Menschen wieder in sein Wesen zurückzubringen?
Was bedeutet dies anderes, als daß der Mensch (homo) menschlich
(humanus) werde? So bleibt doch die Humanitas das Anliegen eines solchen
Denkens; denn das ist Humanismus: Sinnen und Sorgen, daß der Mensch
menschlich sei und nicht un-menschlich, »inhuman«, das heißt
außerhalb seines Wesens. Doch worin besteht die Menschlichkeit des
Menschen? Sie ruht in seinem Wesen. (Martin Heidegger, Brief
über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders.,
Wegmarken, S. 319).
Aber woher und wie bestimmt sich das Wesen des Menschen? Marx
fordert, daß der »menschliche Mensch« erkannt und anerkannt
werde. Er findet diesen in der »Gesellschaft«. Der »gesellschaftliche«
Mensch ist ihm der »natürliche« Mensch. In der »Gesellschaft«
wird die »Natur« des Menschen, das heißt das Ganze der
»natürlichen Bedürfnisse« (Nahrung, Kleidung, Fortpflanzung,
wirtschaftlichesAuskommen), gleichmäßig gesichert. Der Christ
sieht die Menschlichkeit des Menschen, die Humanitas des homo, aus der
Abgrenzung gegen die Deitas. Er ist heilsgeschichtlich Mensch als »Kind
Gottes«, das den Anspruch des Vaters in Christus vernimmt und übernimmt.
Der Mensch ist nicht von dieser Welt, insofern die »Welt«,
theoretisch-platonisch gedacht, nur ein vorübergehender Durchgang
zum Jenseits bleibt. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 319-320).
Ausdrücklich unter ihrem Namen wird die Humanitas zum erstenmal
bedacht und erstrebt in der Zeit der römischen Republik. Der homo
humanus setzt sich dem homo barbarus entgegen. Der homo humanus ist hier
der Römer, der die römische virtus erhöht und sie veredelt
durch die »Einverleibung« der von den Griechen übernommenen
paideia. Die Griechen sind die Griechen
des Spätgriechentums, deren Bildung in den Philosophenschulen gelehrt
wurde. Sie betrifft die eruditio et institutio in bonas artes. Die so
verstandene paideia wird durch »humanitas«
übersetzt. Die eigentliche romanitas des homo romanus besteht in
solcher humanitas. In Rom begegnen wir dem ersten Humanismus. Er bleibt
daher im Wesen eine spezifisch römische Erscheinung, die aus der
Begegnung des Römertums mit der Bildung des späten Griechentums
entspringt. Die sogenannte Renaissance des 14. und 15. Jahrhunderts in
Italien ist eine renascentia romanitatis. Weil es auf die romanitas ankommt,
geht es um die humanitas und deshalb um die griechische paideia.
Das Griechentum wird aber stets in seiner späten Gestalt und diese
selbst römisch gesehen. Auch der homo romanus der Renaissance steht
in einem Gegensatz zum homo barbarus. Aber das In-humane ist jetzt die
vermeintliche Barbarei der gotischen Scholastik des Mittelalters. Zum
historisch verstandenen Humanismus gehört deshalb stets ein studium
humanitatis, das in einer bestimmten Weise auf das Altertum zurückgreift
und so jeweils auch zu einer Wiederbelebung des Griechentums wird. Das
zeigt sich im Humanismus des 18. Jahrhunderts bei uns, der durch Winckelmann,
Goethe und Schiller getragen ist. Hölderlin dagegen gehört nicht
in den »Humanismus«, und zwar deshalb, weil er das Geschick
des Wesens des Menschen anfänglicher denkt, als dieser »Humanismus«
es vermag. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 320).
Versteht man aber unter Humanismus allgemein die Bemühung
darum, daß der Mensch frei werde für seine Menschlichkeit und
darin seine Würde finde, dann ist je nach der Auffassung der »Freiheit«
und der »Natur« des Menschen der Humanismus verschieden. Insgleichen
unterscheiden sich die Wege zu seiner Verwirklichung. Der Humanismus von
Marx bedarf keines Rückgangs zur Antike, ebensowenig der Humanismus,
als welchen Sartre den Existenzialismus begreift. In dem genannten weiten
Sinne ist auch das Christentum ein Humanismus, insofern nach seiner Lehre
alles auf das Seelenheil (salus aeterna) des Menschen ankommt und die
Geschichte der Menschheit im Rahmen der Heilsgeschichte erscheint. So
verschieden diese Arten des Humanismus nach Ziel und Grund, nach der Art
und den Mitteln der jeweiligen Verwirklichung, nach der Form seiner Lehre
sein mögen, sie kommen doch darin überein, daß die humanitas
des homo humanus aus dem Hinblick auf eine schon feststehende Auslegung
der Natur, der Geschichte, der Welt, des Weltgrundes, das heißt
des Seienden im Ganzen bestimmt wird. (Martin Heidegger, Brief
über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders.,
Wegmarken, S. 321).
Jeder Humanismus gründet entweder in einer Metaphysik oder
er macht sich selbst zum Grund einer solchen. Jede Bestimmung des Wesens
des Menschen, die schon die Auslegung des Seienden ohne die Frage der
Wahrheit des Seins voraussetzt, sei es mit Wissen, sei es ohne Wissen,
ist metaphysisch. Darum zeigt sich, und zwar im Hinblick auf die Art,
wie das Wesen des Menschen bestimmt wird, das Eigentümliche aller
Metaphysik darin, daß sie »humanistisch« ist. Demgemäß
bleibt jeder Humanismus metaphysisch. Der Humanismus fragt bei der Bestimmung
der Menschlichkeit des Menschen nicht nur nicht nach dem Bezug des Seins
zum Menschenwesen. Der Humanismus verhindert sogar diese Frage, da er
sie auf Grund seiner Herkunft aus der Metaphysik weder kennt noch versteht.
Umgekehrt kann die Notwendigkeit und die eigene Art der in der Metaphysik
und durch sie vergessenen Frage nach der Wahrheit des Seins nur so ans
Licht kommen, daß inmitten der Herrschaft der Metaphysik die Frage
gestellt wird: »Was ist Metaphysik?« Zunächst sogar muß
sich jedes Fragen nach dem »Sein«, auch dasjenige nach der
Wahrheit des Seins, als ein »metaphysisches« einführen.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 321-322).
Der erste Humanismus, nämlich der römische, und alle
Arten des Humanismus, die seitdem bis in die Gegenwart aufgekommen sind,
setzen das allgemeinste »Wesen« des Menschen als selbstverständlich
voraus. Der Mensch gilt als das animal rationale. Diese Bestimmung ist
nicht nur die lateinische Übersetzung des griechischen zwon
logon econ, sondern eine metaphysische Auslegung. Diese Wesensbestimmung
des Menschen ist nicht falsch. Aber sie ist durch die Metaphysik bedingt.
Deren Wesensherkunft und nicht nur deren Grenze ist jedoch in »Sein
und Zeit« frag-würdig geworden. Das Frag-würdige ist allererst
dem Denken als sein zu Denkendes anheimgegeben, keineswegs aber in den
Verzehr einer leeren Zweifelsudit verstoßen. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 322).
Die Metaphysik stellt zwar das Seiende in seinem Sein vor und
denkt so auch das Sein des Seienden. Aber sie denkt nicht das Sein als
soldies, denkt nicht den Unterschied beider (vgl. »Vom Wesen des
Grundes« 1929. S. 8, außerdem »Kant und das Problem
der Metaphysik« 1929, S. 225, ferner »Sein und Zeit«
S. 230). Die Metaphysik fragt nicht nach der Wahrheit des Seins selbst.
Sie fragt daher auch nie, in welcher Weise das Wesen des Menschen zur
Wahrheit des Seins gehört. Diese Frage hat die Metaphysik nicht nur
bisher nicht gestellt. Diese Frage ist der Metaphysik als Metaphysik unzugänglich.
Noch wartet das Sein, daß Es selbst dem Menschen denkwürdig
werde. Wie immer man im Hinblick auf die Wesensbestimmung des Menschen
die ratio des animal und die Vernunft des Lebewesens bestimmen mag, ob
als » Vermögen der Prinzipien«, ob als »Vermögen
der Kategorien« oder anders, überall und jedesmal gründet
das Wesen der Vernunft darin, daß für jedes Vernehmen des Seienden
in seinem Sein je Sein schon gelichtet ist, daß es in seiner Wahrheit
sich ereignet. Insgleichen ist mit »animal«, zwon,
bereits eine Auslegung des »Lebens« gesetzt, die notwendig
auf einer Auslegung des Seienden als zwon
und fusiV beruht, innerhalb deren das
Lebendige erscheint. Außerdem aber und vor allem anderen bleibt
endlich einmal zu fragen, ob überhaupt das Wesen des Menschen, anfänglich
und alles voraus entscheidend, in der Dimension der Animalitas liegt.
Sind wir überhaupt auf dem rechten Wege zum Wesen des Menschen, wenn
wir den Menschen und solange wir den Menschen als ein Lebewesen unter
anderen gegen Pflanze, Tier und Gott abgrenzen? Man kann so vorgehen,
man kann in solcher Weise den Menschen innerhalb des Seienden als ein
Seiendes unter anderen ansetzen. Man wird dabei stets Richtiges über
den Menschen aussagen können. Aber man muß sich auch darüber
klar sein, daß der Mensch dadurch endgültig in den Wesensbereich
der Animalitas verstoßen bleibt, auch dann, wenn man ihn nicht dem
Tier gleichsetzt, sondern ihm eine spezifische Differenz zuspricht. Man
denkt im Prinzip stets den homo animalis, selbst wenn anima als animus
sive mens und diese später als Subjekt, als Person, als Geist gesetzt
werden. Solches Setzen ist die Art der Metaphysik. Aber dadurch wird das
Wesen des Menschen zu gering geachtet und nicht seiner Herkunft gedacht,
welche Wesensherkunft für das geschichtliche Menschentum stets die
Wesenszukunft bleibt. Die Metaphysik denkt den Menschen von der animalitas
her und denkt nicht zu seiner humanitas hin. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 322-323).
Die Metaphysik verschließt sich dem einfachen Wesensbestand,
daß der Mensch nur in seinem Wesen west, indem er vom Sein angesprochen
wird. Nur aus diesem Anspruch »hat« er das gefunden, worin
sein Wesen wohnt. Nur aus diesem Wohnen »hat« er »Sprache«
als die Behausung, die seinem Wesen das Ekstatische wahrt. Das Stehen
in der Lichtung des Seins nenne ich die Ek-sistenz des Menschen. Nur dem
Menschen eignet diese Art zu sein. Die so verstandene Ek-sistenz ist nicht
nur der Grund der Möglichkeit der Vernunft, ratio, sondern die Eksistenz
ist das, worin das Wesen des Menschen die Herkunft seiner Bestimmung wahrt.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 323-324).
Die Ek-sistenz läßt sich nur vom Wesen des Menschen,
das heißt, nur von der menschlichen Weise zu »sein«
sagen; denn der Mensch allein ist, soweit wir erfahren, in das Geschick
der Ek-sistenz eingelassen. Deshalb kann die Ek-sistenz auch nie als eine
spezifische Art unter anderen Arten von Lebewesen gedacht werden, gesetzt
daß es dem Menschen geschickt ist, das Wesen seines Seins zu denken
und nicht nur Natur- und Geschichtshistorien über seine Beschaffenheit
und seinen Umtrieb zu berichten. So gründet auch das, was wir aus
dem Vergleich mit dem »Tier« dem Menschen als animalitas zusprechen,
selbst im Wesen der Ek-sistenz. Der Leib des Menschen ist etwas wesentlich
anderes als ein tierischer Organismus. Die Verirrung des Biologismus ist
dadurch noch nicht überwunden, daß man dem Leiblichen des Menschen
die Seele und der Seele den Geist und dem Geist das Existentielle aufstockt
und lauter als bisher die Hochschätzung des Geistes predigt, um dann
doch alles in das Erleben des Lebens zurückfallen zu lassen, mit
der warnenden Versicherung, das Denken zerstöre durch seine starren
Begriffe den Lebensstrom und das Denken des Seins verunstalte die Existenz.
Daß die Physiologie und die physiologische Chemie den Menschen als
Organismus naturwissenschaftlich untersuchen kann, ist kein Beweis dafür,
daß in diesem »Organischen«, das heißt in dem
wissenschaftlich erklärten Leib, das Wesen des Menschen beruht. Dies
gilt so wenig wie die Meinung, in der Atomenergie sei das Wesen der Natur
beschlossen. Es könnte doch sein, daß die Natur in der Seite,
die sie der technischen Bemächtigung durch den Menschen zukehrt,
ihr Wesen gerade verbirgt. So wenig das Wesen des Menschen darin besteht,
ein animalischer Organismus zu sein, so wenig läßt sich diese
unzureichende Wesensbestimmung des Menschen dadurch beseitigen und ausgleichen,
daß der Mensch mit einer unsterblichen Seele oder mit dem Vernunftvermögen
oder mit dem Personcharakter ausgestattet wird. Jedesmal ist das Wesen,
und zwar auf dem Grunde desselben metaphysischen Entwurfs, übergangen.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 324-325).
Das, was der Mensch ist, das heißt in der überlieferten
Sprache der Metaphysik das »Wesen« des Menschen, beruht in
seiner Ek-sistenz. Aber die so gedachte Ek-sistenz ist nicht identisch
mit dem überlieferten Begriff der existentia, was Wirklichkeit bedeutet
im Unterschied zu essentia als der Möglichkeit. In »Sein und
Zeit« (S. 42) steht gesperrt der Satz: »Das Wesen
des Daseins liegt in seiner Existenz.« Hier handelt es sich aber
nicht um eine Entgegensetzung von existentia und essentia, weil diese
beiden metaphysischen Bestimmungen des Seins überhaupt noch nicht,
geschweige denn ihr Verhältnis, in Fragestehen. Der Satz enthält
noch weniger eine allgemeine Aussage über das Dasein, insofern diese
im 18. Jahrhundert für das Wort »Gegenstand« aufgekommene
Benennung den metaphysischen Begriff der Wirklichkeit des Wirklichen ausdrücken
soll. Vielmehr sagt der Satz dieses: der Mensch west so, daß er
das »Da«, das heißt die Lichtung des Seins, ist. Dieses
»Sein« des Da, und nur dieses, hat den Grundzug der Ek-istenz,
das heißt des ekstatischen Innestehens in der Wahrheit des Seins.
Das ekstatische Wesen des Menschen beruht in der Ek-sistenz, die von der
metaphysisch gedachten existentia verschieden bleibt. Diese begreift die
mittelalterliche Philosophie als actualitas. Kant stellt die existentia
als die Wirklichkeit vor im Sinne der Objektivität der Erfahrung.
Hegel bestimmt die existentia als die sich selbst wissende Idee der absoluten
Subjektivität. Nietzsche erfaßt die existentia als die ewige
Wiederkehr des Gleichen. Ob freilich durch die existentia in ihren nur
dem nächsten Anschein nach verschiedenen Auslegungen als Wirklichkeit
schon das Sein des Steines oder gar das Leben als das Sein der Gewächse
und des Getiers zureichend gedacht ist, bleibe hier als Frage offen. In
jedem Falle sind die Lebewesen, wie sie sind, ohne daß sie aus ihrem
Sein als solchem her in der Wahrheit des Seins stehen und in solchem Stehen
das Wesende ihres Seins verwahren. Vermutlich ist für uns von allem
Seienden, das ist, das Lebe-Wesen am schwersten zu denken, weil es uns
einerseits in gewisser Weise am nächsten verwandt und andererseits
doch zugleich durch einen Abgrund von unserem ek-sistenten Wesen geschieden
ist. Dagegen möchte es scheinen, als sei das Wesen des Göttlichen
uns näher als das Befremdende der Lebe-Wesen, näher nämlich
in einer Wesensferne, die als Ferne unserem eksistenten Wesen gleichwohl
vertrauter ist als die kaum auszudenkende abgründige leibliche Verwandtschaft
mit dem Tier. Solche Überlegungen werfen auf die geläufige und
daher immer noch voreilige Kennzeichnung des Menschen als animal rationale
ein seltsames Licht. Weil Gewächs und Getier zwar je in ihre Umgebung
verspannt, aber niemals in die Lichtung des Seins, und nur sie ist »Welt«,
frei gestellt sind, deshalb fehlt ihnen die Sprache. Nicht aber hängen
sie darum, weil ihnen die Sprache versagt bleibt, weltlos in ihrer Umgebung.
Doch in diesem Wort »Umgebung« drängt sich alles Rätselhafte
des Lebe-Wesens zusammen. Die Sprache ist in ihrem Wesen nicht Äußerung
eines Organismus, auch nicht Ausdruck eines Lebewesens. Sie läßt
sich daher auch nie vom Zeichencharakter her, vielleicht nicht einmal
aus dem Bedeutungscharakter wesensgerecht denken. Sprache ist lichtend-verbergende
Ankunft des Seins selbst. (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 325-326).
Die Ek-sistenz, ekstatisch gedamt, deckt sich weder inhaltlich
noch der Form nach mit der existentia. Ek-sistenz bedeutet inhaltlid!
Hin-aus-stehen a in die Wahrheit des Seins. Existentia (existence) meint
dagegen actualitas, Wirklichkeit im Unterschied zur bloßen Möglichkeit
als Idee. Ek-sistenz nennt die Bestimmung dessen, was der Mensch im Geschick
der Wahrheit ist. Existentia bleibt der Name für die Verwirklichung
dessen, was etwas, in seiner Idee erscheinend, ist. Der Satz: ))Der Mensch
ek-sistiert«, antwortet nicht auf die Frage, ob der Mensch wirklich
sei oder nicht, sondern antwortet auf die Frage nach dem »Wesen«
des Menschen. Diese Frage pflegen wir gleich ungemäß zu stellen,
ob wir fragen, was der Mensch sei, oder ob wir fragen, wer der Mensch
sei. Denn im Wer? oder Was? halten wir schon nach einem Personhaften oder
nach einem Gegenstand Ausschau. Allein das Personhafte verfehlt und verbaut
zugleich das Wesende der seinsgeschichtlichen Ek-sistenz nicht weniger
als das Gegenständliche. Mit Bedacht schreibt daher der angeführte
Satz in »Sein und Zeit« (S. 42) das Wort » Wesen«
in Anführungszeichen. Das deutet an, daß sich jetzt das »Wesen«
weder aus dem esse essentiae noch aus dem esse existentiae, sondern aus
dem Ek-statischen des Daseins bestimmt. Als der Ek-sistierende steht der
Mensch das Da-sein aus, indem er das Da als Lichtung des Seins in »die
Sorge« nimmt. Das Da-sein selbst aber west als das »geworfene«.
Es west im Wurf des Seins als des schickend Geschicklichen. (Martin
Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret],
1946, in: Ders., Wegmarken, S. 326-327).
Die letzte Verirrung wäre es jedoch, wollte man den Satz
über das eksistente Wesen des Menschen so erklären, als sei
er die säkularisierte Übertragung eines von der christlichen
Theologie über Gott ausgesagten Gedankens (Deus est ipsum esse) auf
den Menschen; denn die Ek-sistenz ist weder die Verwirklichung einer Essenz,
noch bewirkt und setzt die Ek-sistenz gar selbst das Essentielle. Versteht
man den in »Sein und Zeit« genannten »Entwurf«
als ein vorstellendes Setzen, dann nimmt man ihn als Leistung der Subjektivität
und denkt ihn nicht so, wie »das Seinsverständnis« im
Bereich der »existentialen Analytik« des »In-der-WeIt-Seins«
allein gedacht werden kann, nämlich als der ekstatische Bezug zur
Lichtung des Seins. Der zureichende Nach- und Mit-vollzug dieses anderen,
die Subjektivität verlassenden Denkens ist allerdings dadurch erschwert,
daß bei der Veröffentlichung von »Sein und Zeit«
der dritte Abschnitt des ersten Teiles, »Zeit und Sein« zurückgehalten
wurde (vgl. »Sein und Zeit« S. 39 **).
Hier kehrt sich das Ganze um. Der fragliche Abschnitt wurde zurückgehalten,
weil das Denken im zureichenden Sagen dieser Kehre versagte und so mit
Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam. Der Vortrag »Vom
Wesen der Wahrheit«, der 1930 gedacht und mitgeteilt, aber erst
1943 gedruckt wurde, gibt einen gewissen Einblick in das Denken der Kehre
von »Sein und Zeit« zu »Zeit und Sein«. Diese
Kehre ist nicht eine Änderung des Standpunktes von »Sein und
Zeit«, sondern in ihr gelangt das versuchte Denken erst in die Ortschaft
der Dimension, aus der »Sein und Zeit« erfahren ist, und zwar
erfahren in der Grunderfahrung der Seinsvergessenheit. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 327-328).
Sartre spricht dagegen den Grundsatz des Existentialismus so aus:
die Existenz geht der Essenz voran. Er nimmt dabei existentia und essentia
im Sinne der Metaphysik, die seit Plato sagt: die essentia geht der existentia
voraus. Sartre kehrt diesen Satz um. Aber die Umkehrung eines metaphysischen
Satzes bleibt ein metaphysischer Satz. Als dieser Satz verharrt er mit
der Metaphysik in der Vergessenheit der Wahrheit des Seins. Denn mag auch
die Philosophie das Verhältnis von essentia und existentia im Sinne
der Kontroversen des Mittelalters oder im Sinne von Leibniz oder anders
bestimmen, vor all dem bleibt doch erst zu fragen, aus welchem Seinsgeschick
diese Unterscheidunge im Sein als ese essentiae und esse existentiae vor
das Denken gelangt. Zu bedenken bleibt, weshalb die Frage nach diesem
Seinsgeschick niemals gefragt wurde und weshalb sie nie gedacht werden
konnte. Oder ist dies, daß es so mit der Unterscheidung von essentia
und existentia steht, kein Zeichen der Vergessenheit des Seins? Wir dürfen
vermuten, daß dieses Geschick nicht auf einem bloßen Versäumnis
des menschlichen Denkens beruht, geschweige denn auf einer geringeren
Fähigkeit des frühen abendländischen Denkens. Die in ihrer
Wesensherkunft verborgene Unterscheidung von essentia (Wesenheit) und
existentia (Wirklichkeit) durchherrscht das Geschick der abendländischen
und der gesamten europäisch bestimmten Geschichte. (Martin
Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret],
1946, in: Ders., Wegmarken, S. 328-329).
Der Hauptsatz von Sartre über den Vorrang der existentia
vor der essentia rechtfertigt indessen den Namen »Existentialismus«
als einen dieser Philosophie gemäßen Titel. Aber der Hauptsatz
des »Existentialismus« hat mit jenem Satz in »Sein und
Zeit« nicht das geringste gemeinsam; abgesehen davon, daß
in »Sein und Zeit« ein Satz über das Verhältnis
von essentia und existentia no m gar nicht ausgesprochen werden kann,
denn es gilt dort, ein Vor-läufiges vorzubereiten. Dies geschieht
nach dem Gesagten unbeholfen genug. Das auch heute erst noch zu Sagende
könnte vielleicht ein Anstoß werden, das Wesen des Menschen
dahin zu geleiten, daß es denkend auf die es durchwaltende Dimension
der Wahrheit des Seins achtet. Doch auch dies könnte jeweils nur
dem Sein zur Würde und dem Da-sein zugunsten geschehen, das der Mensch
eksistierend aussteht, nicht aber des Menschen wegen, damit sich durch
sein Schaffen Zivilisation und Kultur geltend machen. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 329).
Damit wir Heutigen jedoch in die Dimension
der Wahrheit des Seins gelangen, um sie bedenken zu können, sind
wir daran gehalten, erst einmal deutlich zu machen, wie das Sein den Menschen
angeht und wie es ihn in den Anspruch nimmt. Solche Wesenserfahrung geschieht
uns, wenn uns aufgeht, daß der Mensch ist, indem er eksistiert.
Sagen wir dies zunächst in der Sprache der Überlieferung, dann
heißt das: die Ek-sistenz des Menschen ist seine Substanz. Deshalb
kehrt in »Sein und Zeit« öfters der Satz wieder: »Die
Substanz« des Menschen ist die Existenz« (S. 117 [**],
212, 314). Allein, »Substanz« ist, seinsgeschichtlich gedacht,
bereits die verdeckende Übersetzung von ousia,
welches Wort die Anwesenheit des Anwesenden nennt und meistens zugleich
aus einer rätselhaften Zweideutigkeit das Anwesende selbst meint.
Denken wir den metaphysischen Namen »Substanz« in diesem Sinne,
der in »Sein und Zeit« der dort vollzogenen »phänomenologischen
Destruktion« gemäß schon vorschwebt (vgl. S. 25), dann
sagt der Satz »die Substanz des Menschen ist die Ek-sistenz«
nichts anderes als: die Weise, wie der Mensch in seinem eigenen Wesen
zum Sein anwest, ist das ekstatische Innestehen in der Wahrheit des Seins.
Durch diese Wesensbestimmung des Menschen werden die humanistischen Auslegungen
des Menschen als animal rationale, als »Person«, als geistig-seelisch-leibliches
Wesen nicht für falsch erklärt und nicht verworfen. Vielmehr
ist der einzige Gedanke der, daß die höchsten humanistischen
Bestimmungen des Wesens des Menschen die eigentliche Würde des Menschen
noch nicht erfahren. Insofern ist das Denken in »Sein und Zeit«
gegen den Humanismus. Aber dieser Gegensatz bedeutet nicht, daß
sich solches Denken auf die Gegenseite des Humanen schlüge und das
Inhumane befürworte, die Unmenschlichkeit verteidige und die Würde
des Menschen herabsetze. Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die
Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt. Freilich beruht die Wesenshoheit
des Menschen nicht darin, daß er die Substanz des Seienden als dessen
»Subjekt« ist, um als der Machthaber des Seins das Seiendsein
des Seienden in der allzu laut gerühmten »Objektivität«
zergehen zu lassen. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 329-330).
Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in
die Wahrheit des Seins »geworfen«, daß er, dergestalt
ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins
das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. Ob es und wie es erscheint,
ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur
in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht
der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des Seins. Für
den Menschen aber bleibt die Frage, ob er in das Schickliche seines Wesens
findet, das diesem Geschick entspricht; denn diesem gemäß hat
er als der Ek-sistierende die Wahrheit des Seins zu hüten. Der Mensch
ist der Hirt des Seins. Darauf allein denkt »Sein und Zeit«
hinaus, wenn die ekstatische Existenz als »die Sorge« erfahren
ist (vgl. §44a, S.226ff.). (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 330-331).
Doch das Sein - was ist das Sein? Es »ist«
Es selbst. Dies zu erfahren und zu sagen, muß das künftige
Denken lernen. Das »Sein« - das ist nicht Gott und nicht ein
Weltgrund. Das Sein ist wesenhaft weiter denn alles Seiende und ist gleichwohl
dem Menschen näher als jedes Seiende, sei dies ein Fels, ein Tier,
ein Kunstwerk, eine Maschine, sei es ein Engel oder Gott. Das Sein ist
das Nächste. Doch die Nähe bleibt dem Menschen am fernsten.
Der Mensch hält sich zunächst immer schon und nur an das Seiende.
Wenn aber das Denken das Seiende als das Seiende vorstellt, bezieht es
sich zwar auf das Sein. Doch es denkt in Wahrheit stets nur das Seiende
als solches und gerade nicht und nie das Sein als solches. Die »Seinsfrage«
bleibt immer die Frage nach dem Seienden. Die Seinsfrage ist noch gar
nicht das, was dieser verfängliche Titel bezeichnet: die Frage nach
dem Sein. Die Philosophie folgt auch dort, wo sie wie bei Descartes und
Kant »kritisch« wird, stets dem Zug des metaphysischen Vorstellens.
Sie denkt vom Seienden aus auf dieses zu, im Durchgang durch einen Hinblick
auf das Sein. Denn im Lichte des Seins steht schon jeder Ausgang vom Seienden
und jede Rückkehr zu ihm. (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 331).
Aber die Metaphysik kennt die Lichtung des Seins entweder nur
als den Herblick des Anwesenden im »Aussehen« (idea)
oder kritisch als das Gesichtete der Hin-sicht des kategorialen Vorstellens
von seiten der Subjektivität. Das sagt: die Wahrheit des Seins als
die Lichtung selber bleibt der Metaphysik verborgen. Diese Verborgenheit
ist jedoch nicht ein Mangel der Metaphysik, sondern der ihr selbst vorenthaltene
und doch vorgehaltene Schatz ihres eigenen Reichtums. Die Lichtung selber
aber ist das Sein. Sie gewährt innerhalb des Seinsgeschickes der
Metaphysik erst Anblick, aus welchem her Anwesendes den zu ihm an-wesenden
Menschen be-rührt, so daß der Mensch selber erst im Vernehmen
(noein) an das Sein rühren kann
(qigein, Aristoteles, Met., Q,
10). Anblick erst zieht Hin-sicht auf sich. Er überläßt
sich dieser, wenn das Vernehmen zum Vor-sich-Herstellen geworden ist in
der perceptio der res cogitans als des subiectum der certitudo.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 331-332).
Wie verhält sich jedoch, gesetzt daß wir überhaupt
geradehin so fragen dürfen, das Sein zur Ek-sistenz? Das Sein selber
ist das Verhältnis a, insofern Es die Ek-sistenz in ihrem existenzialen,
das heißt ekstatischen Wesen. an sich hält und zu sich versammelt
als die Ortschaft der Wahrheit des Seins inmitten des Seienden. Weil der
Mensch als der Eksistierende in dieses Verhältnis, als welches das
Sein sich selbst schickt, zu stehen kommt, indem er es ekstatisch aussteht,
das heißt sorgend übernimmt, verkennt er zunächst das
Nächste und hält sich an das Übernächste. Er meint
sogar, dieses sei das Nächste. Doch näher als das Nächste,
das Seiende, und zugleich für das gewöhnliche Denken ferner
als sein Fernstes ist die Nähe selbst: die Wahrheit des Seins.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 332).
Das Vergessen der Wahrheit des Seins zugunsten des Andrangs des
im Wesen unbedachten Seienden ist der Sinn des in »S. u. Z.«
genannten »Verfallens«. Das Wort meint nicht einen »moralphilosophisch«
verstandenen und zugleich säkularisierten Sündenfall des Menschen,
sondern nennt ein wesenhaftes Verhältnis des Menschen zum Sein innerhalb
des Bezugs des Seins zum Menschenwesen. Demgemäß bedeuten die
präludierend gebrauchten Titel »Eigentlichkeit« und »Uneigentlichkeit«
nicht einen moralisch-existenziellen, nicht einen »anthropologischen«
Unterschied, sondern den allererst einmal zu denkenden, weil der Philosophie
bisher verborgenen, »ekstatischen« Bezug des Menschenwesens
zur Wahrheit des Seins. Aber dieser Bezug ist so, wie er ist, nicht auf
Grund der Ek-sistenz, sondern das Wesen der Ek-sistenz ist geschicklich
existenzial-ekstatisch aus dem Wesen der Wahrheit des Seins. (Martin
Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret],
1946, in: Ders., Wegmarken, S. 332-333).
Das Einzige, was das Denken, das sich in »S.
u. Z.« zum erstenmal auszusprechen versucht, erlangen möchte,
ist etwas Einfaches. Als dieses bleibt das Sein geheimnisvoll, die schlichte
Nähe eines unaufdringlichen Waltens. Diese Nähe west als die
Sprache selbst. Allein die Sprache ist nicht bloß Sprache, insofern
wir diese, wenn es hochkommt, als die Einheit von Lautgestalt (Schriftbild),
Melodie und Rhythmus und Bedeutung (Sinn) vorstellen. Wir denken Lautgestalt
und Schriftbild als den Wortleib, Melodie und Rhythmus als die Seele und
das Bedeutungsmäßige als den Geist der Sprache. Wir denken
die Sprache gewöhnlich aus der Entsprechung zum Wesen des Menschen,
insofern dieses als animal rationale, das heißt als die Einheit
von Leib-Seele-Geist vorgestellt wird. Doch wie in der Humanitas des homo
animalis die Ek-sistenz und durch diese der Bezug der Wahrheit des Seins
zum Menschen verhüllt bleibt, so verdeckt die metaphysisch-animalische
Auslegung der Sprache deren seinsgeschichtliches Wesen. Diesem gemäß
ist die Sprache das vom Sein ereignete und aus ihm durchfügte Haus
des Seins. Daher gilt es, das Wesen der Sprache aus der Entsprechung zum
Sein, und zwar als diese Entsprechung, das ist als Behausung des Menschenwesens
zu denken. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 333).
Der Mensch aber ist nicht nur ein Lebewesen,
das neben anderen Fähigkeiten auch die Sprache besitzt. Vielmehr
ist die Sprache das Haus des Seins, darin wohnend der Mensch eksistiert,
indem er der Wahrheit des Seins, sie hütend, gehört. (Martin
Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret],
1946, in: Ders., Wegmarken, S. 333).
So kommt es denn bei der Bestimmung der Menschlichkeit
des Menschen als der Ek-sistenz darauf an, daß nicht der Mensch
das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen
der Ek-sistenz. Die Dimension jedoch ist nicht das bekannte Räumliche.
Vielmehr west alles Räumliche und aller Zeit-Raum im Dimensionalen,
als welches das Sein selbst ist. (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 333-334).
Das Denken achtet auf diese einfachen Bezüge.
Ihnen sucht es das gemäße Wort inmitten der langher überlieferten
Spradte der Metaphysik und ihrer Grammatik. Ob dieses Denken, gesetzt
daß an einem Tltel überhaupt etwas liegt, sich noch als Humanismus
bezeichnen läßt? Gewiß nicht, insofern der Humanismus
metaphysisch denkt. Gewiß nicht, wenn er Existentialismus ist und
den Satz vertritt, den Sartre ausspricht: precisement nous sommes sur
un plan ou il y a seulement des hommes (L'Existentialisme est un humanisme,
p. 36). Statt dessen wäre, von »S. u. Z.« her gedacht,
zu sagen: precisement nous sommes sur un plan ou il y a principalement
l'Être. Woher aber kommt und was ist le plan? L'Être et le
plan sind dasselbe. In »S. u. Z.« (S. 212) ist mit Absicht
und Vorsicht gesagt: »es gibt« das Sein: il y a l'Être.
Das il y a übersetzt das »es gibt« ungenau. Denn das
»es«, was hier »gibt«, ist das Sein selbst. Das
»gibt« nennt jedoch das gebende, seine Wahrheit gewährende
Wesen des Seins. Das Sichgeben ins Offene mit diesem selbst ist das Sein
selber. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 334).
Zugleich wird das »es gibt« gebraucht, um vorläufig
die Redewendung zu vermeiden: »das Sein ist«; denn gewöhnlich
wird das »ist« gesagt von solchem, was ist. Solches nennen
wir das Seiende. Das Sein »ist« aber gerade nicht »das
Seiende«. Wird das »ist« ohne nähere Auslegung
vom Sein gesagt, dann wird das Sein allzuleicht als ein »Seiendes«
vorgestellt nadt der Art des bekannten Seienden, das als Ursache wirkt
und als Wirkung gewirkt ist. Gleichwohl sagt schon Parmenides in der Frühzeit
des Denkens: esti gar einai: »es
ist nämlich Sein«. In diesem Wort verbirgt sich das anfängliche
Geheimnis für alles Denken. Vielleicht kann das »ist«
in der gemäßen Weise nur vom Sein gesagt werden, so daß
alles Seiende nicht und nie eigentlich »ist«. Aber weil das
Denken dahin erst gelangen soll, das Sein in seiner Wahrheit zu sagen,
statt es wie ein Seiendes aus Seiendem zu erklären, muß für
die Sorgfalt des Denkens offenbleiben, ob und wie das Sein ist.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 334-335).
Das estui gar einai des Parmenides
ist heute noch ungedacht. Daran läßt sich ermessen, wie es
mit dem Fortschritt der Philosophie steht. Sie schreitet, wenn sie ihr
Wesen achtet, überhaupt nicht fort. Sie tritt auf der Stelle, um
stets dasselbe zu denken. Das Fortschreiten, nämlich fort von dieser
Stelle, ist ein Irrtum, der dem Denken folgt als der Schatten, den es
selbst wirft. Weil das Sein noch ungedacht ist, deshalb wird auch in »S.
u. Z.« vom Sein gesagt: »es gibt«. Doch über dieses
il y a kann man nicht geradezu und ohne Anhalt spekulieren. Dieses »es
gibt« waltet als das Geschick des Seins. Dessen Geschichte kommt
im Wort der wesentlichen Denker zur Sprache. Darum ist das Denken, das
in die Wahrheit des Seins denkt, als Denken geschichtlich. Es gibt nicht
ein »systematisches« Denken und daneben zur Illustration eine
Historie der vergangenen Meinungen. Es gibt aber auch nicht nur, wie Hegel
meint, eine Systematik, die das Gesetz ihres Denkens zum Gesetz der Geschichte
machen und diese zugleich in das System aufheben könnte. Es gibt,
anfänglicher gedacht, die Geschichte des Seins, in die das Denken
als Andenken dieser Geschichte, von ihr selbst ereignet, gehört.
Das Andenken unterscheidet sich wesentlich von dem nachträglichen
Vergegenwärtigen der Geschichte im Sinne des vergangenen Vergehens.
Die Geschichte geschieht nicht zuerst als Geschehen. Und dieses ist nicht
Vergehen. Das Geschehen der Geschichte west als das Geschick der Wahrheit
des Seins aus diesem (vgl. den Vortrag über Hölderlins Hymne
»Wie wenn am Feiertage ...«, S.31). Zum Geschick kommt das
Sein, indem Es, das Sein, sich gibt. Das aber sagt, geschickhaft gedacht:
Es gibt sich und versagt sich zumal. Gleichwohl ist Hegels Bestimmung
der Geschichte als der Entwicklung des »Geistes« nicht unwahr.
Sie ist auch nicht teils richtig, teils falsch. Sie ist so wahr, wie die
Metaphysik wahr ist, die im System zum erstenmal durch Hegel ihr absolut
gedachtes Wesen zur Sprache bringt. Die absolute Metaphysik gehört
mit ihren Umkehrungen durch Marx und Nietzsche in die Geschichte der Wahrheit
des Seins. Was aus ihr stammt, läßt sich nicht durch Widerlegungen
treffen oder gar beseitigen. Es läßt sich nur aufnehmen, indem
seine Wahrheit anfänglicher in das Sein selbst zurückgeborgen
und dem Bezirk einer bloß menschlichen Meinung entzogen wird. Alles
Widerlegen im Felde des wesentlichen Denkens ist töricht. Der Streit
zwischen den Denkern ist der »liebende Streit« der Sache selbst.
Er verhilft ihnen wechselweise in die einfache Zugehörigkeit zum
SeIben, aus dem sie das Schickliche finden im Geschick des Seins.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 335-336).
Gesetzt daß der Mensch inskünftig die Wahrheit des
Seins zu denken vermag, dann denkt er aus der Ek-sistenz. Ek-sistierend
steht er im Geschick des Seins. Die Ek-sistenz des Menschen ist als Ek-sistenz
geschichtlich, nicht aber erst deshalb, oder gar nur deshalb, weil mit
dem Menschen und den menschlichen Dingen mancherlei im Verlauf der Zeit
geschieht. Weil es gilt, die Ek-sistenz des Da-seins zu denken, deshalb
liegt dem Denken in »S. u. Z.« so wesentlich daran, daß
die Geschichtlichkeit des Daseins erfahren wird. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 336).
Aber ist nicht in »S. u. Z.« (S. 212), wo das »es
gibt« zur Sprache kommt, gesagt: »Nur solange Dasein ist,
gibt es Sein«? Allerdings. Das bedeutet: nur solange die Lichtung
des Seins sich ereignet, übereignet sich Sein dem Menschen. Daß
aber das Da, die Lichtung als Wahrheit des Seins selbst, sich ereignet,
ist die Schickung des Seins selbst. Dieses ist das Geschick der Lichtung.
Der Satz bedeutet aber nicht: das Dasein des Menschen im überlieferten
Sinne von existentia, und neuzeitlich gedacht als die Wirklichkeit des
ego cogito, sei dasjenige Seiende, wodurch das Sein erst geschaffen werde.
Der Satz sagt nicht, das Sein sei ein Produkt des Menschen. In der Einleitung
zu »S. u. Z.« (S.38) steht einfach und klar und sogar im Sperrdruck:
»Sein ist das transcendens schlechthin.« So wie die Offenheit
der räumlichen Nähe jedes nahe und ferne Ding, von diesem her
gesehen, übersteigt, so ist das Sein wesenhaft weiter als alles Seiende,
weil es die Lichtung selbst ist. Dabei wird gemäß dem zunächst
unvermeidlichen Ansatz in der noch herrschenden Metaphysik das Sein vom
Seienden her gedacht. Nur aus solcher Hinsicht zeigt sich das Sein in
einem Obersteigen und als dieses. (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 336-337).
Die einleitende Bestimmung »Sein ist das transcendens schlechthin«
nimmt die Weise, wie sich das Wesen des Seins bisher dem Menschen lichtete,
in einen einfachen Satz zusammenDiese rückblickende Bestimmung des
Wesens des Seins des Seienden aus der Lichtung des Seienden als solchen
bleibt für den vordenkenden Ansatz der Frage nach der Wahrheit des
Seins unumgänglich. So bezeugt das Denken sein geschickliches Wesen.
Ihm liegt die Anmaßung fern, von vorne anfangen zu wollen und alle
vorausgegangene Philosophie für falsch zu erklären. Ob jedoch
die Bestimmung des Seins als des schlichten transcendens schon das einfache
Wesen der Wahrheit des Seins nennt, das und das allein ist doch allererst
die Frage für ein Denken, das versucht, die Wahrheit des Seins zu
denken. Darum heißt es auch S. 230, daß erst aus dem »Sinn«,
das heißt aus der Wahrheit des Seins, zu verstehen sei, wie Sein
ist. Sein lichtet sich dem Menschen im ekstatischen Entwurf. Doch dieser
Entwurf schafft nicht das Sein. (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 337).
Überdies aber ist der Entwurf wesenhaft
ein geworfener. Das Werfende im Entwerfen ist nicht der Mensch, sondern
das Sein selbst, das den Menschen in die Ek-sistenz des Da-seins als sein
Wesen schickt. Dieses Geschick ereignet sich als die Lichtung des Seins,
als welche es ist. Sie gewährt die Nähe zum Sein. In dieser
Nähe, in der Lichtung des »Da«, wohnt der Mensch als
der Ek-sistierende, ohne daß er es heute schon vermag, dieses Wohnen
eigens zu erfahren und zu übernehmen. Die Nähe »des«
Seins, als welche das »Da« des Daseins ist, wird in der Rede
über Hölderlins Elegie »Heimkunft« von »Sein
und Zeit« her gedacht, aus dem Gedicht des Sängers gesagter
vernommen und aus der Erfahrung der Seinsvergessenheit die »Heimat«
genannt. Dieses Wort wird hier in einem wesentlichen Sinne gedacht, nicht
patriotisch, nicht nationalistisch, sondem seinsgeschichtlich. Das Wesen
der Heimat ist aber zugleich in der Absicht genannt, die Heimatlosigkeit
des neuzeitlichen Menschen aus dem Wesen der Geschichte des Seins her
zu denken. Zuletzt hat Nietzsche diese Heimatlosigkeit erfahren. Er vermochte
aus ihr innerhalb der Metaphysik keinen anderen Ausweg zu finden als die
Umkehrung der Metaphysik. Das aber ist die Vollendung der Ausweglosigkeit.
Hölderlin jedoch ist, wenn er die »Heimkunft« dichtet,
darum besorgt, daß seine »Landesleute« in ihr Wesen
fmden. Dieses sucht er keineswegs in einem Egoismus seines Volkes. Er
sieht es vielmehr aus der Zugehörigkeit in das Geschick des Abendlandes.
Allein auch das Abendland ist nicht regional als Occident im Unterschied
zum Orient gedacht, nicht bloß als Europa, sondern weltgeschichtlich
aus der Nähe zum Ursprung. Wir haben noch kaum begonnen, die geheimnisvollen
Bezüge zum Osten zu denken, die in Höldeliins Dichtung Wort
geworden sind (vgl. »Der Ister«, ferner »Die Wanderung«
3. Strophe u. ff.). Das »Deutsche« ist nicht der Welt gesagt,
damit sie am deutschen Wesen genese, sondern es ist den Deutschen gesagt,
damit sie aus der geschickhaften Zugehörigkeit zu den Völkern
mit diesen weltgeschichtlich werden (vgl. zu Hölderlins Gedicht »Andenken«.
Tribinger Gedenkschrift 1943 S. 322). Die Heimat dieses geschichtlichen
Wohnens ist die Nähe zum Sein. (Martin Heidegger, Brief
über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders.,
Wegmarken, S. 337-338).
In dieser Nähe vollzieht sich, wenn überhaupt, die Entscheidung,
ob und wie der Gott und die Götter sich versagen und die Nacht bleibt,
ob und wie der Tag des Heiligen dämmert, ob und wie im Aufgang des
Heiligen ein Erscheinen des Gottes und der Götter neu beginnen kann.
Das Heilige aber, das nur erst der Wesensraum der Gottheit ist, die selbst
wiederum nur die Dimension für die Götter und den Gott gewährt,
kommt dann allein ins Scheinen, wenn zuvor und in langer Vorbereitung
das Sein selbst sich gelichtet hat und in seiner Wahrheit erfahren ist.
Nur so beginnt aus dem Sein die Überwindung der Reimatlosigkeit,
in der nicht nur die Menschen, sondern das Wesen des Menschen umherirrt.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 333-339).
Die so zu denkende Heimatlosigkeit beruht in der Seinsverlassenheit
des Seienden. Sie ist das Zeichen der Seinsvergessenheit. Dieser zufolge
bleibt die Wahrheit des Seins ungedacht. Die Seinsvergessenheit bekundet
sich mittelbar darin, daß der Mensch immer nur das Seiende betrachtet
und bearbeitet. Weil er dabei nicht umhin kann, das Sein in der Vorstellung
zu haben, wird auch das Sein nur als das »Generellste« und
danun Umfassende des Seienden oder als eine Schöpfung des unendlichen
Seienden oder als das Gemächte eines endlichen Subjekts erklärt.
Zugleich steht von altersher »das Sein« für »das
Seiende« und umgekehrt dieses für jenes, beide wie umgetrieben
in einer seltsamen und noch unbedachten Verwechslung. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 339).
Das Sein als das Geschick, das Wahrheit schickt, bleibt verborgen.
Aber das Weltgeschick kündigt sich in der Dichtung an, ohne daß
es schon als Geschichte des Seins offenbar wird. Das weltgeschichtliche
Denken Hölderlins, das im Gedicht »Andenken« zum Wort
kommt, ist darum wesentlich anfänglicher und deshalb zukünftiger
als das bloße Weltbürgertum Goethes. Aus demselben Grunde ist
der Bezug Hölderlins zum Griechentum etwas wesentlich anderes als
Humanismus. Darum haben die jungen Deutschen, die von Hölderlin wußten,
angesichts des Todes Anderes gedacht und gelebt als das, was die Offentlichkeit
als deutsche Meinung ausgab. (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 339).
Die Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal. Darum ist es nötig,
dieses Geschick seinsgeschichtlich zu denken. Was Marx in einem wesentlichen
und bedeutenden Sinne von Hegel her als die Entfremdung des Menschen erkannt
hat, reicht mit seinen Wurzeln in die Heimatlosigkeit des neuzeitlichen
Menschen zurück. Diese wird, und zwar aus dem Geschick des Seins
in der Gestalt der Metaphysik hervorgerufen, durch sie verfestigt und
zugleich von ihr als Heimatlosigkeit verdeckt. Weil Marx, indem er die
Entfremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte
hineinreicht, deshalb ist die marxistische Anschauung von der Geschichte
der übrigen Historie überlegen. Weil aber weder Husserl noch,
soweit ich bisher sehe, Sartre die Wesentlichkeit des Geschichtlichen
im Sein erkennen, deshalb kommt weder die Phänomenologie noch der
Existentialismus in diejenige Dimension, innerhalb deren erst ein produktives
Gespräch mit dem Marxismus möglich wird. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 339-340).
Hierzu ist freilich auch nötig, daß
man sich von den naiven Vorstellungen über den Materialismus und
von den billigen Widerlegungen, die ihn treffen sollen, freimacht. Das
Wesen des Materialismus besteht nicht in der Behauptung, alles sei nur
Stoff, vielmehr in einer metaphysischen Bestimmung, der gemäß
alles Seiende als das Material der Arbeit erscheint. Das neuzeitlich-metaphysische
Wesen der Arbeit ist in Hegels »Phänomenologie des Geistes«
vorgedacht als der sich selbst einrichtende Vorgang der unbedingten Herstellung,
das ist Vergegenständlichung des Wirklichen durch den als Subjektivität
erfahrenen Menschen. Das Wesen des Materialismus verbirgt sich im Wesen
der Technik, über die zwar viel geschrieben, aber wenig gedacht wird.
Die Technik ist in ihrem Wesen ein seinsgeschichtliches Geschick der in
der Vergessenheit ruhenden Wahrheit des Seins. Sie geht nämlich nicht
nur im Namen auf die tecnh der Griechen
zurück, sondern sie stammt wesensgeschichtlich aus der tecnh
als einer Weise des alhqenein, das heißt
des Offenbarmachens des Seienden. Als eine Gestalt der Wahrheit gründet
die Technik in der Geschichte der Metaphysik. Diese selbst ist eine ausgezeichnete
und die bisher allein übersehbare Phase der Geschichte des Seins.
Man mag zu den Lehren des Kommunismus und zu deren Begründung in
verschiedener Weise Stellung nehmen, seinsgeschichtlich steht fest, daß
sich in ihm eine elementare Erfahrung dessen ausspricht, was weltgeschichtlich
ist. Wer den »Kommunismus« nur als »Partei« oder
als »Weltanschauung« nimmt, denkt in der gleichen Weise zu
kurz wie diejenigen, die beim Titel »Amerikanismus« nur und
dazu noch abschätzig einen besonderen Lebensstil meinen. Die Gefahr,
in die das bisherige Europa immer deutlicher gedrängt wird, besteht
vermutlich darin, daß allem zuvor sein Denken - einst seine Größe
- hinter dem Wesensgang des anbrechenden Weltgeschickes zurückfällt,
das gleichwohl in den Grundzügen seiner Wesensherkunft europäisch
bestimmt bleibt. (Die Gefahr ist inzwischen deutlicher
ans Licht gekommen. Der Rückfall des Denkens in die Metaphysik nimmt
eine neue Form an: Es ist das Ende der Philosophie im Sinne der vollständigen
Auflösung in die Wissenschaften, deren Einheit sich gleichfalls neu
in der Kybernetik entfaltet. Die Macht der Wissenschaft läßt
sich nicht durch einen irgendwie gearteten Eingriff und Angriff stoppen,
weil »die Wissenschaft« in das Ge-stell gehört, das noch
das Ereignis verstellt.) Keine Metaphysik, sie sei idealistisch,
sie sei materialistisch, sie sei christlich, kann ihrem Wesen nach, und
keineswegs nur in den versuchten Anstrengungen, sich zu entfalten, das
Geschick noch ein-holen, dies meint: denkend erreichen und versammeln,
was in einem erfüllten Sinn von Sein jetzt ist. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 340-341).
Angesichts der wesenhaften Heimatlosigkeit des Menschen zeigt
sich dem seinsgeschichtlichen Denken das künftige Geschick des Menschen
darin, daß er in die Wahrheit des Seins findet und sich zu diesem
Finden auf den Weg macht. Jeder Nationalismus ist metaphysisch ein Anthropologismus
und als solcher Subjektivismus. Der Nationalismus wird durch den bloßen
Internationalismus nicht überwunden, sondern nur erweitert und zum
System erhoben. Der Nationalismus wird dadurch so wenig zur Humanitas
gebracht und aufgehoben, wie der Individualismus durch den geschichtslosen
Kollektivismus. Dieser ist die Subjektivität des Menschen in der
Totalität. (* Die Industriegesellschaft als
das maßgebende Subjekt - und das Denken als »Politik«.)
Er vollzieht ihre unbedingte Selbstbehauptung. Diese läßt sich
nicht rückgängig machen. Sie läßt sich durch ein
halbseitig vermittelndes Denken nicht einmal zureichend erfahren. Überall
kreist der Mensch, ausgestoßen aus der Wahrheit des Seins, um sich
selbst als das animal rationale. (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 341-342).
Das Wesen des Menschen besteht aber darin, daß er mehr ist
als der bloße Mensch, insofern dieser als das vernünftige Lebewesen
vorgestellt wird. »Mehr« darf hier nicht additiv verstanden
werden, als sollte die überlieferte Definition des Menschen zwar
die Grundbestimmung bleiben, um dann nur durch einen Zusatz des Existenziellen
eine Erweiterung zu erfahren. Das »mehr« bedeutet: ursprünglicher
und darum im Wesen wesentlicher. Aber hier zeigt sich das Rätselhafte:
der Mensch ist in der Geworfenheit. Das sagt: der Mensch ist als der ek-sistierende
Gegenwurf des Seins insofern mehr denn das animal rationale, als er gerade
weniger ist im Verhältnis zum Menschen, der sich aus der Subjektivität
begreift. Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der
Hirt des Seins. In diesem »weniger« büßt der Mensch
nichts ein, sondern er gewinnt, indem er in die Wahrheit des Seins gelangt.
Er gewinnt die wesenhafte Armut des Hirten, dessen Würde darin beruht,
vom Sein selbst in die Wahrnis seiner Wahrheit gerufen zu sein. Dieser
Ruf kommt als der Wurf, dem die Geworfenheit des Daseins entstammt. Der
Mensch ist in seinem seinsgeschichtlichen Wesen das Seiende, dessen Sein
als Ek-sistenz darin besteht, daß es in der Nähe des Seins
wohnt. Der Mensch ist der Nachbar des Seins. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 342).
Aber, so werden Sie mir schon längst entgegnen wollen, denkt
solches Denken nicht gerade die Humanitas des homo humanus? Denkt es diese
Humanitas nicht in einer so entscheidenden Bedeutung, wie sie keine Metaphysik
gedacht hat und je denken kann? Ist das nicht »Humanismus«
im äußersten Sinn? Gewiß. Es ist der Humanismus, der
die Menschheit des Menschen aus der Nähe zum Sein denkt. Aber es
ist zugleich der Humanismus, bei dem nicht der Mensch, sondern das geschichtliche
Wesen des Menschen in seiner Herkunft aus der Wahrheit des Seins auf dem
Spiel steht. Aber steht und fällt in diesem Spiel dann nicht zugleich
die Ek-sistenz des Menschen? So ist es. (Martin Heidegger, Brief
über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders.,
Wegmarken, S. 342-343).
In »S. u. Z.« wird (S. 38) gesagt, daß alles
Fragen der Philosophie »in die Existenz zurückschlägt«.
Aber die Existenz ist hier nicht die Wirklichkeit des ego cogito. Sie
ist auch nicht nur die Wirklichkeit der mit- und für-einander wirkenden
und so zu sich selbst kommenden Subjekte. »Ek-sistenz« ist
im fundamentalen Unterschied zu aller existentia und »existence«
das ek-statische Wohnen in der Nähe des Seins. Sie ist die Wächterschaft,
das heißt die Sorge für das Sein. Weil in diesem Denken etwas
Einfaches zu denken ist, deshalb fällt es dem als Philosophie überlieferten
Vorstellen so schwer. Allein das Schwierige besteht nicht darin, einem
besonderen Tiefsinn nachzuhängen und verwickelte Begriffe zu bilden,
sondern es verbirgt sich in dem Schritt-zurück, der das Denken in
ein erfahrendes Fragen eingehen und das gewohnte Meinen der Philosophie
fallen läßt. (Martin Heidegger, Brief über den
Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 343).
Man meint allenthalben, der Versuch in »Sein und Zeit«
sei in eine Sackgasse geraten. Lassen wir diese Meinung auf sich beruhen.
Über »Sein und Zeit« ist das Denken, das in der so betitelten
Abhandlung einige Schritte versucht, auch heute nicht hinausgekommen.
Vielleicht ist es aber inzwischen um einiges eher in seine Sache hineingekommen.
Solange die Philosophie jedoch sich nur damit beschäftigt, ständig
die Möglichkeit zu verbauen, sich erst auf die Sache des Denkens,
nämlich die Wahrheit des Seins, einzulassen, steht sie gesichert
außerhalb der Gefahr, jemals an der Härte ihrer Sache zu zerbrechen.
Darum ist das »Philosophieren« über das Scheitern durch
eine Kluft getrennt von einem scheiternden Denken. Wenn dieses einem Menschen
glücken dürfte, geschähe kein Unglück. Ihm würde
das einzige Geschenk, das dem Denken aus dem Sein zukommen könnte.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 343).
Allein auch dies gilt: die Sache des Denkens ist nicht dadurch
erreicht, daß nun ein Gerede über »die Wahrheit des Seins«
und über die »Seinsgeschichte« auf die Bahn gebracht
wird. Alles liegt einzig daran, daß die Wahrheit des Seins zur Sprache
komme und daß das Denken in diese Sprache gelange. Vielleicht verlangt
dann die Sprache weit weniger das überstürzte Aussprechen als
vielmehr das rechte Schweigen. Doch wer von uns Heutigen möchte sich
einbilden, seine Versuche zu denken seien auf dem Pfad des Schweigens
heimisch? Wenn es weit geht, könnte unser Denken vielleicht auf die
Wahrheit des Seins hinweisen, und zwar auf sie als das zu Denkende. Sie
wäre damit eher dem bloßen Ahnen und Meinen entzogen und dem
rar gewordenen Hand-werk der Schrift zugewiesen. Die Sachen, an denen
etwas ist, kommen, auch wenn sie nicht für die Ewigkeit bestimmt
sind, selbst in spätester Zeit noch rechtzeitig. Ob der Bereich der
Wahrheit des Seins eine Sackgasse oder ob er das Freie ist, worin die
Freiheit ihr Wesen spart, möge jeder beurteilen, nachdem er selbst
versucht hat, den gewiesenen Weg zu gehen oder, was noch besser ist, einen
besseren, das heißt einen der Frage gemäßen Weg zu bahnen.
Auf der vorletzten Seite von »S. u. Z.« (S. 437) stehen die
Sätze: »der Streit bezüglich der Interpretation des Seins
(das heißt also nicht des Seienden, auch nicht des Seins des Menschen)
kann nicht geschlichtet werden, weil er noch nicht einmal entfacht ist.
Und am Ende läßt er sich nicht »vom Zaun brechen«,
sondern das Entfachen des Streites bedarf schon einer Zurüstung.
Hierzu allein ist die vorliegende Untersuchung unterwegs.« Diese
Sätze gelten heute noch nach zwei Jahrzehnten. Bleiben wir auch in
den kommenden Tagen auf dem Weg als Wanderer in die Nachbarschaft des
Seins. Die Frage, die Sie stellen, hilft, den Weg zu verdeutlichen.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 344).
Sie fragen: Comment redonner un sens au mot »Humanisme«?
»Auf welche Weise läßt sich dem Wort Humanismus ein Sinn
zurückgeben?« Ihre Frage setzt nicht nur voraus, daß
Sie das Wort »Humanismus« festhalten wollen, sondern sie enthält
auch das Zugeständnis, daß dieses Wort seinen Sinn verloren
hat. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief
an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 344-345).
Es hat ihn verloren durch die Einsicht, daß das Wesen des
Humanismus metaphysisch ist und das heißt jetzt, daß die Metaphysik
die Frage nach der Wahrheit des Seins nicht nur nicht stellt, sondern
verbaut, insofern die Metaphysik in der Seinsvergessenheit verharrt. Allein
eben das Denken, das zu dieser Einsicht in das fragwürdige Wesen
des Humanismus führt, hat uns zugleich dahin gebracht, das Wesen
des Menschen anfänglicher zu denken. Im Hinblick auf diese wesentlichere
Humanitas des homo humanus ergibt sich die Möglichkeit, dem Wort
Humanismus einen geschichtlichen Sinn zurückzugeben, der älter
ist als sein historisch gerechnet ältester. Dieses Zurückgeben
ist nicht so zu verstehen, als sei das Wort »Humanismus« überhaupt
ohne Sinn und ein bloßer flatus vocis. Das »humanum«
deutet im Wort auf die humanitas, das Wesen des Menschen. Der »-ismus«
deutet darauf, daß das Wesen des Menschen als wesentlich genommen
sein möchte. Diesen Sinn hat das Wort »Humanismus« als
Wort. Ihm einen Sinn zurückgeben, kann nur heißen: den Sinn
des Wortes wiederbestimmen. Das verlangt einmal, das Wesen des Menschen
anfänglicher zu erfahren; zum anderen aber zu zeigen, inwiefern dieses
Wesen in seiner Weise geschicklich wird. Das Wesen des Menschen beruht
in der Ek-sistenz. Auf diese kommt es wesentlich, das heißt vom
Sein selber her, an, insofern das Sein den Menschen als den ek-sistierenden
zur Wächterschaft für die Wahrheit des Seins in diese selbst
ereignet. »Humanismus« bedeutet jetzt, falls wir uns entschließen,
das Wort festzuhalten: das Wesen des Menschen ist für die Wahrheit
des Seins wesentlich, so zwar, daß es demzufolge gerade nicht auf
den Menschen, lediglich als solchen, ankommt. Wir denken so einen »Humanismus«
seltsamer Art. Das Wort ergibt einen Titel, der ein »lucus a non
lucendo« ist. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 345).
Soll man diesen »Humanismus«, der gegen allen bisherigen
Humanismus spricht, aber gleichwohl sich ganz und gar nicht zum Fürsprecher
des Inhumanen macht, noch »Humanismus« nennen? Und das nur,
um vielleicht durch die Teilnahme am Gebrauch des Titels in den herrschenden
Strömungen, die im metaphysisdien Subjektivismus erstickn und in
der Seinsvergessenheit versunken sind, mitzuschwimmen? Oder soll das Denken
versuchen, durch einen offenen Widerstand gegen den »Humanismus«
einen Anstoß zu wagen, der veranlassen könnte, erst einmal
über die Humanitas des homo humanus und ihre Begründung stutzig
zu werden? So könnte doch, wenn nicht der weltgeschichtliche Augenblick
schon selbst dahin drängt, eine Besinnung erwachen, die nicht nur
auf den Menschen, sondern auf die »Natur« des Menschen, nicht
nur auf die Natur, sondern anfänglicher noch auf die Dimension denkt,
in der das Wesen des Menschen, vom Sein selbst her bestimmt, heimisch
ist. Sollten wir nicht eher für einige Zeit noch die unumgänglichen
Mißdeutungen ertragen und sie sich langsam abnutzen lassen, denen
der Weg des Denkens im Element von Sein und Zeit bisher ausgesetzt ist?
Diese Mißdeutungen sind die natürliche Rückdeutung des
Gelesenen oder nur Nachgemeinten in das, was man vor dem Lesen schon zu
wissen meint. Sie zeigen alle denselben Bau und denselben Grund.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 345-346).
Weil gegen den »Humanismus« gesprochen wird, befürchtet
man eine Verteidigung des In-humanen und eine Verherrlichung der barbarischen
Brutalität. Denn was ist »logischer« als dies, daß
dem, der den Humanismus verneint, nur die Bejahung der Unmenschlidikeit
bleibt? (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 346).
Weil gegen die »Logik« gesprochen wird, meint man,
die Forderung sei erhoben, daß der Strenge des Denkens abgesagtstatt
ihrer die Willkür der Triebe und Gefühle zur Herrschaft gebradit
und so der »Irrationalismus« als das Wahre ausgerufen werde.
Denn was ist »logischer« als dies, daß, wer gegen das
Logische spricht, das Alogische verteidigt? (Martin Heidegger, Brief
über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders.,
Wegmarken, S. 346).
Weil gegen die »Werte« gesprochen wird, entsetzt man
sich über eine Philosophie, die es angeblich wagt, die höchsten
Güter der Menschheit der Mißachtung preiszugeben. Denn was
ist »logischer« als dies, daß ein Denken, das die Werte
leugnet, notwendig alles für wertlos ausgeben muß? (Martin
Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret],
1946, in: Ders., Wegmarken, S. 346-347).
Weil gesagt wird, das Sein des Menschen bestehe im »In-derWelt-sein«,
findet man, der Mensch sei zu einem bloß diesseitigen Wesen herabgesetzt,
wodurch die Philosophie im Positivismus versinkt. Denn was ist »logischer«
als dies, daß, wer die Weltlichkeit des Menschseins behauptet, nur
das Diesseitige gelten läßt und das Jenseitige leugnet und
aller »Transzendenz« absagt? (Martin Heidegger, Brief
über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders.,
Wegmarken, S. 347).
Weil auf Nietzsches Wort vom »Tod Gottes« hingewiesen
wird, erklärt man ein solches Tun für Atheismus. Denn was ist
»logischer« als dies, daß derjenige, der den »Tod
Gottes« erfahren hat, ein Gott-loser ist? (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 347).
Weil in all dem Genannten überall gegen das gesprochen wird,
was der Menschheit als hoch und heilig gilt, lehrt diese Philosophie einen
verantwortungslosen und zerstörerischen »Nihilismus«.
Denn was ist »logischer« als dies, daß, wer so überall
das wahrhaft Seiende leugnet, sich auf die Seite des Nichtseienden stellt
und damit das bloße Nichts als den Sinn der Wirklichkeit predigt?
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 347).
Was geht hier vor? Man hört sagen von »Humanismus«,
von »Logik«, von den »Werten«, von »Welt«,
von »Gott«. Man hört sagen von einem Gegensatz dazu.
Man kennt und nimmt das Genannte als das Positive. Was in einer beim Hörensagen
jedoch nicht genau bedachten Weise gegen das Genannte spricht, nimmt man
sogleich als dessen Verneinung und diese als das »Negative«
im Sinne des Destruktiven. In »S. u. Z.« ist doch irgendwo
ausdrücklich von »der phänomenologischen Destruktion«
die Rede. Man meint mit Hilfe der viel berufenen Logik und Ratio, was
nicht positiv ist, sei negativ und betreibe so die Verwerfung der Vernunft
und verdiene deshalb, als eine Verworfenheit gebrandmarkt zu werden. Man
ist so erfüllt von »Logik«, daß alles sogleich
als verwerfliches Gegenteil verrechnet wird, was der gewohnten Schläfrigkeit
des Meinens zuwider ist. Man wirft alles, was nicht bei dem bekannten
und beliebten Positiven stehenbleibt, in die zuvor angelegte Grube der
bloßen Negation, die alles verneint, dadurch im Nichts endet und
so den Nihilismus vollendet. Man läßt auf diesem logischen
Weg alles in einem Nihilismus untergehen, den man sich mit Hilfe der Logik
erfunden hat. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 347-348).
Aber weist denn das »Gegen«, das ein Denken gegenüber
dem gewöhnlich Gemeinten vorbringt, notwendig in die bloße
Negation und in das Negative? Das geschieht nur dann und dann allerdings
unvermeidlich und endgültig, das heißt ohne einen freien Ausblick
auf anderes, wenn man das Gemeinte zuvor als »das Positive«
ansetzt und von diesem her über den Bezirk der möglichen Entgegensetzungen
zu ihm absolut und zugleichnegativentscheidet. Insolchem Verfahren verbirgt
sich die Weigerung, das vorgemeinte »Positive« samt der Position
und der Opposition, in die es sich gerettet glaubt, einer Besinnung auszusetzen.
Man erweckt mit der ständigen Berufung auf das Logische den Anschein,
als lasse man sich gerade auf das Denken ein, während man dem Denken
abgeschworen hat. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 348).
Daß der Gegensatz zum »Humanismus« keineswegs
die Verteidigung des Inhumanen einschließt, sondern andere Ausblicke
öffnet, dürfte in einigem deutlicher geworden sein. (Martin
Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret],
1946, in: Ders., Wegmarken, S. 348).
Die »Logik« versteht das Denken als das Vorstellen
von Seiendem in seinem Sein, das sich das Vorstellen im Generellen des
Begriffes zustellt. Aber wie steht es mit der Besinnung auf das Sein selbst
und das heißt mit dem Denken, das die Wahrheit des Seins denkt?
Dieses Denken trifft erst das anfängliche Wesen des logoV,
das bei Plato und Aristoteles, dem Begründer der »Logik«,
schon verschüttet und verlorengegangen ist. Gegen »die Logik«
denken, das bedeutet nicht, für das Unlogische eine Lanze brechen,
sondern heißt nur: dem logoV und
seinem in der Frühzeit des Denkens erschienenen Wesen nachdenken,
heißt: sich erst einmal um die Vorbereitung eines solchen Nachdenkens
bemühen. Was sollen uns alle noch so weitläufigen Systeme der
Logik, wenn sie sich und sogar ohne zu wissen, was sie tun, zuvor der
Aufgabe entschlagen, nach dem Wesen des logoV
auch nur erst zu fragen? Wollte man Einwände zurückgeben, was
freilich unfruchtbar ist, dann könnte man mit größerem
Recht sagen: der Irrationalismus als Absage an die ratio herrscht unerkannt
und unbestritten in der Verteidigung der »Logik«, die glaubt,
einer Besinnung auf den logoV und auf
das in ihm gründende Wesen der ratio ausweichen zu können.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 348-349).
Das Denken gegen »die Werte« behauptet nicht, daß
alles, was man als »Werte« erklärt - die »Kultur«,
die »Kunst«, die »Wissenschaft«, die »Menschenwürde«,
»Welt« und »Gott« - wertlos sei. Vielmehr gilt
es endlich einzusehen, daß eben durch die Kennzeichnung von etwas
als »Wert« das so Gewertete seiner Würde beraubt wird.
Das besagt: durch die Einschätzung von etwas als Wert wird das Gewertete
nur als Gegenstand für die Schätzung des Menschen zugelassen.
Aber das, was etwas in seinem Sein ist, erschöpft sich nicht in seiner
Gegenständlichkeit, vollends dann nicht, wenn die Gegenständlichkeit
den Charakter des Wertes hat. Alles Werten ist, auch wo es positiv wertet,
eine Subjektivierung. Es läßt das Seiende nicht: sein, sondern
das Werten läßt das Seiende lediglich als das Objekt seines
Tuns - gelten. Die absonderliche Bemühung, die Objektivität
der Werte zu beweisen, weiß nicht, was sie tut. Wenn man vollends
»Gott« als »den höchsten Wert« verkündet,
so ist das eine Herabsetzung des Wesens Gottes. Das Denken in Werten ist
hier und sonst die größte Blasphemie, die sich dem Sein gegenüber
denken läßt. Gegen die Werte denken, heißt daher nicht,
für die Wertlosigkeit und Nichtigkeit des Seienden die Trommel rühren,
sondern bedeutet: gegen die Subjektivierung des Seienden zum bloßen
Objekt die Lichtung der Wahrheit des Seins vor das Denken bringen.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 349).
Der Hinweis auf das »In-der-Welt-sein« als den Grundzug
der Humanitas des homo humanus behauptet nicht, der Mensch sei lediglich
ein »weltliches« Wesen im christlich verstandenen Sinne, also
abgekehrt von Gott und gar losgebunden von der »Transzendenz«.
Man meint mit diesem Wort das, was deutlicher das Transcendente genannt
würde. Das Transcendente ist das übersinnlich Seiende. Dieses
gilt als das höchste Seiende im Sinne der ersten Ursache von allem
Seienden. Als diese erste Ursache wird Gott gedacht. »Welt«
bedeutet jedoch in dem Namen »In-der-Welt-sein« keineswegs
das irdisch Seiende im Unterschied zum Himmlischen, auch nicht das »Weltliche«
im Unterschied zum »Geistlichen«. »Welt« bedeutet
in jener Bestimmung überhaupt nicht ein Seiendes und keinen Bereich
von Seiendem, sondern die Offenheit des Seins. Der Mensch ist und ist
Mensch, insofern er der Ek-sistierende ist. Er steht in die Offenheit
des Seins hinaus, als welche das Sein selber ist, das als der Wurf sich
das Wesen des Menschen in »die Sorge« erworfen hat. Dergestalt
geworfen steht der Mensch »in« der Offenheit des Seins. »Welt«
ist die Lichtung des Seins, in die der Mensch aus seinem geworfenen Wesen
her heraussteht. Das »In-derWelt-sein« nennt das Wesen der
Ek-sistenz im Hinblick auf die gelichtete Dimension, aus der das »Ek-«
der Ek-sistenz west. Von der Ek-sistenz her gedacht, ist »Welt«
in gewisser Weise gerade das Jenseitige innerhalb der und für die
Eksistenz. Der Mensch ist nie zunächst diesseits der Welt Mensch
als ein »Subjekt«, sei dies als »Ich« oder als
»Wir« gemeint. Er ist auch nie erst nur Subjekt, das sich
zwar immer zugleich auch auf Objekte bezieht, so daß sein Wesen
in der Subjekt-Objekt-Beziehung läge. Vielmehr ist der Mensch zuvor
in seinem Wesen ek-sistent in die Offenheit des Seins, welches Offene
erst das »Zwischen« lichtet, innerhalb dessen eine »Beziehung«
vom Subjekt zum Objekt »sein« kann. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 349-350).
Der Satz: das Wesen des Menschen beruht auf dem In-derWelt-sein,
enthält auch keine Entscheidung darüber, ob der Mensch im theologisch-metaphysischen
Sinne ein nur diesseitiges oder ob er ein jenseitiges Wesen sei.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 350).
Mit der existenzialen Bestimmung des Wesens des Menschen ist deshalb
noch nichts über das »Dasein Gottes« oder sein »Nicht-sein«,
ebensowenig über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von
Göttern entschieden. Es ist daher nicht nur übereilt, sondern
schon im Vorl!.ehen irril!.. wenn man behauptet, die Auslegung des Wesens
des Menschen aus dem Bezug dieses Wesens zur Wahrheit des Seins sei Atheismus.
Diese willkürliche Einordnung läßt es aber außerdem
noch an der Sorgfalt des Lesens fehlen. Man kümmert sich nicht darum,
daß seit 1929 in der Schrift »Vom Wesen des Grundes«
(S. 28, Anm. 1) folgendes steht: »Durch die ontologische Interpretation
des Daseins als In-der-Welt-sein ist weder positiv noch negativ über
ein mögliches Sein zu Gott entschieden. Wohl aber wird durch die
Erhellung der Transzendenz allererst ein zureichender Begriff des Daseins
gewonnen, mit Rücksicht auf welchen nunmehr gefragt werden kann,
wie es mit dem Gottesverhältnis des Daseins ontologisch bestellt
ist.« Wenn man nun auch noch diese Bemerkung in der üblichen
Weise zu kurz denkt, wird man erklären: diese Philosophie entscheidet
sich weder für noch gegen das Dasein Gottes. Sie bleibt in der Indifferenz
stehen. Also ist ihr die religiöse Frage gleichgültig. Ein solcher
Indifferentismus verfällt doch dem Nihilismus. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 350-351).
Aber lehrt die angeführte Bemerkung den Indifferentismus?
Weshalb sind denn einzelne Wörter und nicht beliebige in der Anmerkung
gesperrt gedruckt? Doch nur, um anzudeuten, daß das Denken, das
aus der Frage nach der Wahrheit des Seins denkt, anfänglicher fragt,
als die Metaphysik fragen kann. Erst aus der Wahrheit des Seins läßt
sich das Wesen des Heiligen denken. Erst aus dem Wesen des Heiligen ist
das Wesen von Gottheit zu denken. Erst im Lichte des Wesens von Gottheit
kann gedacht und gesagt werden, was das Wort »Gott« nennen
soll. Oder müssen wir nicht erst diese Worte alle sorgsam verstehen
und hören können, wenn wir als Menschen, das heißt als
eksistente Wesen, einen Bezug des Gottes zum Menschen sollen erfahren
dürfen? Wie soll denn der Mensch der gegenwärtigen Weltgeschichte
auch nur ernst und streng fragen können, ob der Gott sich nahe oder
entziehe, wenn der Mensch es unterläßt, allererst in die Dimension
hineinzudenken, in der jene Frage allein gefragt werden kann? Das aber
ist die Dimension des Heiligen, die sogar schon als Dimension verschlossen
bleibt, wenn nicht das Offene des Seins gelichtet und in seiner Lichtung
dem Menschen nahe ist. Vielleicht besteht das Auszeichnende dieses Weltalters
in der Verschlossenheit der Dimension des Heilen. Vielleicht ist dies
das einzige Unheil. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 351-352).
Doch mit diesem Hinweis möchte sich das Denken, das in die
Wahrheit des Seins als das zu Denkende vorweist, keineswegs für den
Theismus entschieden haben. Theistisch kann es so wenig sein wie atheistisch.
Dies aber nicht auf Grund einer gleichgültigen Haltung, sondern aus
der Achtung der Grenzen, die dem Denken als Denken gesetzt sind, und zwar
durch das, was sich ihm als das Zu-denkende gibt, durch die Wahrheit des
Seins. Insofern das Denken sich in seine Aufgabe bescheidet, gibt es im
Augenblick des jetzigen Weltgeschicks dem Menschen eine Weisung in die
anfängliche Dimension seines geschichtlichen Aufenthaltes. Indem
das Denken dergestalt die Wahrheit des Seins sagt, hat es sich dem anvertraut,
was wesentlicher ist als alle Werte und jegliches Seiende. Das Denken
überwindet die Metaphysik nicht, indem es sie, noch höher hinaufsteigend
übersteigt und irgendwohin aufhebt, sondern indem es zurücksteigt
in die Nähe des Nächsten. Der Abstieg ist, zumal dort, wo der
Mensch sich in die Subjektivität verstiegen hat, schwieriger und
gefährlicher als der Aufstieg. Der Abstieg führt in die Armut
der Ek-sistenz des homo humanus. In der Ek-sistenz wird der Bezirk des
homo animalis der Metaphysik verlassen. Die Herrschaft dieses Bezirkes
ist der mittelbare und weitzurückreimende Grund für die Verblendung
und Willkür dessen, was man als Biologismus bezeichnet, aber auch
dessen, was man unter dem Titel Pragmatismus kennt. Die Wahrheit des Seins
denken, heißt zugleich: die humanitas des homo humanus denken. Es
gilt die Humanitas zu diensten der Wahrheit des Seins, aber ohne den Humanismus
im metaphysischen Sinne. Wenn aber die Humanitas so wesenhaft für
das Denken des Seins im Blick steht, muß dann die »Ontologie«
nicht ergänzt werden durch die »Ethik«? Ist dann nicht
Ihr Bemühen ganz wesentlich, das Sie in dem Satz aussprechen: »Ce
que je cherche a faire, depuis longtemps dejil, c'est preciser le rapport
de l'ontologie avec une ethique possible«? (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 352).
Bald nachdem »S. u. Z.« erschienen war, frug mich
ein junger Freund: »Wann schreiben Sie eine Ethik«? Wo das
Wesen des Menschen so wesentlich, nämlich einzig aus der Frage nach
der Wahrheit des Seins gedacht wird, wobei aber der Mensch dennoch nicht
zum Zentrum des Seienden erhoben ist, muß das Verlangen nach einer
verbindlichen Anweisung erwachen und nach Regeln, die sagen, wie der aus
der Ek-sistenz zum Sein erfahrene Mensch geschicklich leben soll. Der
Wunsch nach einer Ethik drängt um so eifriger nach Erfüllung,
als die offenkundige Ratlosigkeit des Menschen nicht weniger als die verhehlte
sich ins Unmeßbare steigert. Der Bindung durch die Ethik muß
alle Sorge gewidmet sein, wo der in das Massenwesen ausgelieferte Mensch
der Technik nur durch eine der Technik entsprechende Sammlung und Ordnung
seines Planens und Handelns im ganzen noch zu einer verläßlichen
Beständigkeit gebracht werden kann. (Martin Heidegger, Brief
über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders.,
Wegmarken, S. 352-353).
Wer dürfte diese Notlage übersehen? Sollen wir nicht
die bestehenden Bindungen, auch wenn sie das Menschenwesen noch so notdürftig
und im bloß Heutigen zusammenhalten, schonen und sichern? Gewiß.
Aber entbindet diese Not je das Denken davon, daß es dessen gedenkt,
was zumal das Zu-denkende bleibt und als das Sein allem Seienden zuvor
die Gewähr und Wahrheit? Kann sich das Denken noch fernerhin dessen
entschlagen, das Sein zu denken, nachdem dieses in langer Vergessenheit
verborgen gelegen und zugleich im jetzigen Weltaugenblick sich durch die
Erschütterung alles Seienden ankündigt? (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 353).
Bevor wir versuchen, die Beziehung zwischen »der Ontologie«
und »der Ethik« genauer zu bestimmen, müssen wir fragen,
was »die Ontologie« und »die Ethik« selbst sind.
Es wird nötig, zu bedenken, ob das, was in den beiden Titeln genannt
sein kann, noch dem gemäß und nahe bleibt, was dem Denken aufgegeben
ist, das als Denken allem zuvor die Wahrheit des Seins zu denken hat.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 353-354).
Sollten freilich sowohl »die Ontologie« als auch die
»Ethik« samt allem Denken aus Disciplinen hinfällig und
dadurch unser Denken disciplinierter werden, wie steht es dann mit der
Frage nach der Beziehung zwischen den beiden genannten Disciplinen der
Philosophie? (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 354).
Die »Ethik« kommt mit der »Logik« und
der »Physik« zum erstenmal in der Schule Platons auf. Diese
Disciplinen entstehen zu der Zeit, die das Denken zur »Philosophie«,
die Philosophie aber zur episthmh (Wissenschaft)
und die Wissenschaft selbst zu einer Sache der Schule und des Schulbetriebes
werden läßt. Im Durchgang durch die so verstandene Philosophie
entsteht die Wissenschaft, vergeht das Denken. Die Denker vor dieser Zeit
kennen weder eine »Logik«, noch eine »Ethik«,
noch die »Physik«. Dennoch ist ihr Denken weder unlogisch
noch un moralisch. Die fusiV aber dachten
sie in einer Tiefe und Weite, die alle spätere »Physik«
nie mehr zu erreichen vermochte. Die Tragödien des Sophokles bergen,
falls überhaupt ein solcher Vergleich erlaubt ist, in ihrem Sagen
das hqoV, anfänglicher als die
Vorlesungen des Aristoteles über »Ethik«. Ein Spruch
des Heraklit, der nur aus drei Wörtern besteht, sagt so Einfaches,
daß aus ihm das Wesen des Ethos unmittelbar ans Licht kommt.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 354).
Der Spruch des Heraklit lautet (Frgm. 119):hqoV
anqrwpw daimon. Man pflegt allgemein zu übersetzen: »Seine
Eigenart ist dem Menschen sein Dämon.« Diese Übersetzung
denkt modern, aber nicht griechisch. HqoV,
bedeutet Aufenthalt, Ort des Wohnens. Das Wort nennt den offenen Bezirk,
worin der Mensch wohnt. Das Offene seines Aufenthaltes läßt
das erscheinen, was auf das Wesen des Menschen zukommt und also ankommend
in , seiner Nähe sich aufhält. Der Aufenthalt des Menschen enthält
und bewahrt die Ankunft dessen, dem der Mensch in seinem Wesen gehört.
Das ist nach dem Wort des Heraklit daimon,
der Gott. Der Spruch sagt: der Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in
der Nähe Gottes. Mit diesem Spruch des Heraklit stimmt eine Geschichte
zusammen, die Aristoteles (de part. anim., A 5, 645a, 17) berichtet. Sie
lautet: HerakleitoV legetai proV xenouV eipein
touV boulomenousV entucein autw, oiepeidh prosionteV eidon auton qeromenon
proV tw ipnw evthsan, akeleue gar autouV eisienai qarrountaV einai gar
kai entaauta qeouV ... (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 354-355).
»Von Heraklit erzählt man ein Wort, das er zu den Fremden
gesagt habe, die zu ihm vorgelangen wollten. Herzukommend sahen sie ihn,
wie er sich an einem Backofen wärmte. Sie blieben überrascht
stehen und dies vor allem deshalb, weil er ihnen, den Zaudemden, auch
noch Mut zusprach und sie hereinkommen hieß mit den Worten: »Auch
hier nämlich wesen Götter an.« (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 355).
Die Erzählung spricht zwar für sich, doch sei einiges
hervorgehoben. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 355).
Die Menge der fremden Besucher ist in ihrer neugierigen Zudringlichkeit
zum Denker beim ersten Anblick seines Aufenthaltes enttäuscht und
ratlos. Sie glaubt, den Denker in Verhältnissen antreffen zu müssen,
die gegen das übliche Dahinleben der Menschen überall die Züge
der Ausnahme und des Seltenen und darum Aufregenden tragen. Die Menge
hofft, durch ihren Besuch bei dem Denker Sachen zu finden, die - wenigstens
für eine gewisse Zeit - den Stoff zu einem unterhaltsamen Gerede
liefern. Die Fremden, die den Denker besuchen wollen, erwarten, ihn vielleicht
gerade in dem Augenblick zu sehen, da er, in den Tiefsinn versunken, denkt.
Die Besucher wollen dies »erleben«, nicht etwa um vom Denken
betroffen zu werden, sondern lediglich deshalb, damit sie sagen können,
einen gesehen und gehört zu haben, von dem man wiederum nur sagt,
daß er ein Denker sei. (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 355).
Statt dessen finden die Neugierigen Heraklit bei einem Backofen.
Das ist ein recht alltäglicher und unscheinbarer Ort. Allerdings
wird hier das Brot gebacken. Aber Heraklit ist am Backofen nicht einmal
mit dem Backen beschäftigt. Er hält sich hier nur auf, um sich
zu wärmen. So verrät er an diesem ohnehin alltäglichen
Ort die ganze Dürftigkeit seines Lebens. Der Anblick eines frierenden
Denkers bietet wenig des Interessanten. Die Neugierigen verlieren denn
auch bei diesem enttäuschenden Anblick sogleich die Lust, noch näher
zu treten. Was sollen sie hier? Dieses alltägliche und reizlose Vorkommnis,
daß einer friert und am Ofen steht, kann jedermann jederzeit bei
sich zu Hause finden. Wozu sollen sie also einen Denker aufsuchen? Die
Besucher schicken sich an, wieder wegzugehen. Heraklit liest die enttäuschte
Neugier in ihren Gesichtern. Er erkennt, daß bei der Menge schon
das Ausbleiben einer erwarteten Sensation hinreicht, um die soeben Angekommenen
sogleich wieder zur Umkehr zu drängen. Deshalb spricht er ihnen Mut
zu. Er fordert sie eigens auf, doch einzutreten, mit den Worten: einai
gar kai entauqa qeouV, »Götter wesen auch hier
an«. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 355-356).
Dieses Wort stellt den Aufenthalt (hqoV,)
des Denkers und sein Tun in ein anderes Licht. Ob die Besucher sogleich
und ob sie dieses Wort überhaupt verstanden und dann alles in diesem
anderen Licht anders gesehen haben, sagt die Erzählung nicht. Aber
daß diese Geschichte erzählt worden und noch uns Heutigen überliefert
ist, beruht darauf, daß das, was sie berichtet, aus der Atmosphäre
dieses Denkers stammt und sie kennzeichnet. Kai
entauqa, »auch hier«, am Backofen, an diesem gewöhnlichen
Ort, wo jeglich Ding und jeder Umstand, jedes Tun und Denken vertraut
und geläufig, das heißt geheuer ist, »auch da nämlich«
im Umkreis des Geheuren einai qeouV,
ist es so, »daß Götter anwesen«. (Martin
Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret],
1946, in: Ders., Wegmarken, S. 356).
hqoV anqrwpw daimoon, sagt Heraklit
selbst: »Der (geheure) Aufenthalt ist dem Menschen das Offene für
die Anwesung des Gottes (des Un-geheuren).« (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 356).
Soll nun gemäß der Grundbedeutung des Wortes hqoV,
der Name Ethik dies sagen, daß sie den Aufenthalt des Menschen bedenkt,
dann ist dasjenige Denken, das die Wahrheit des Seins als das anfängliche
Element des Menschen als eines eksistierenden denkt, in sich schon die
ursprüngliche Ethik. Dieses Denken ist aber dann auch nicht erst
Ethik, weil es Ontologie ist. Denn die Ontologie denkt immer nur das Seiende
(on) in seinem Sein. Solange jedoch
die Wahrheit des Seins nicht gedacht ist, bleibt alle Ontologie ohne ihr
Fundament. Deshalb bezeichnete sich das Denken, das mit »S. u. Z.«
in die Wahrheit des Seins vorzudenken versuchte, als Fundamentalontologie.
Diese trachtet in den Wesensgrund zurück, aus dem das Denken der
Wahrheit des Seins herkommt. Schon durch den Ansatz des anderen Fragens
ist dieses Denken aus der »Ontologie« der Metaphysik (auch
derjenigen Kants) herausgenommen. »Die Ontologie« aber, sei
sie transcendentale oder vorkritische, unterliegt der Kritik nicht deshalb,
weil sie das Sein des Seienden denkt und dabei das Sein in den Begriff
zwängt, sondern weil sie die Wahrheit des Seins nicht denkt und so
verkennt, daß es ein Denken gibt, das strenger ist als das begriffliche.
Das Denken, das in die Wahrheit des Seins vorzudenken versucht, bringt
in der Not des ersten Durchkommens nur ein Geringes der ganz anderen Dimension
zur Sprache. Diese verfälscht sich noch selbst, insofern es ihr noch
nicht glückt, zwar die wesentliche Hilfe des phänomenologischen
Sehens festzuhalten und gleichwohl die ungemäße Absicht auf
»Wissenschaft« und »Forschung« fallen zu lassen.
Um jedoch diesen Versuch des Denkens innerhalb der bestehenden Philosophie
kenntlich und zugleich verständlich zu machen, konnte zunächst
nur aus dem Horizont des Bestehenden und aus dem Gebrauch seiner ihm geläufigen
Titel gesprochen werden. (Martin Heidegger, Brief über den
Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 356-357).
Inzwischen habe ich einsehen gelernt, daß eben diese Titel
unmittelbar und unvermeidlich in die Irre führen mußten. Denn
die Titel und die ihnen zugeordnete Begriffssprache wurden von den Lesern
nicht aus der erst zu denkenden Sache wieder-gedacht, sondern diese Sache
wurde aus den in ihrer gewohnten Bedeutung festgehaltenen Titeln vorgestellt.
Das Denken, das nach der Wahrheit des Seins fragt und dabei den Wesensaufenthalt
des Menschen vom Sein her und auf dieses hin bestimmt, ist weder Ethik
noch Ontologie. Darum hat die Frage nach der Beziehung beider zueinander
In diesem Bereich keinen Boden mehr. Dennoch behält Ihre Frage, ursprünglicher
gedacht, einen Sinn und ein wesentliches Gewicht. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 357-358).
Es muß nämlich gefragt werden: wenn das Denken, die
Wahrheit des Seins bedenkend, das Wesen der Humanitas als Ek-sistenz aus
deren Zugehörigkeit zum Sein bestimmt, bleibt dann dieses Denken
nur ein theoretisches Vorstellen vom Sein und vom Menschen, oder lassen
sich aus solcher Erkenntnis zugleich Anweisungen für das tätige
Leben entnehmen und diesem an die Hand geben? (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 358).
Die Antwort lautet: dieses Denken ist weder theoretisch noch praktisch.
Es ereignet sich vor dieser Unterscheidung. Dieses Denken ist, insofern
es ist, das Andenken an das Sein und nichts außerdem. Zum Sein gehörig,
weil vom Sein in die Wahrnis seiner Wahrheit geworfen und für sie
in den Anspruch genommen, denkt es das Sein. Solches Denken hat kein Ergebnis.
Es hat keine Wirkung. Es genügt seinem Wesen, indem es ist. Aber
es ist, indem es seine Sache sagt. Der Sache des Denkens gehört je
geschichtlich nur eine, die ihrer Sachheit gemäße Sage. Deren
sachhaltige Verbindlichkeit ist wesentlich höher als die Gültigkeit
der Wissenschaften, weil sie freier ist. Denn sie läßt das
Sein - sein. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 358).
Das Denken baut am Haus des Seins, als welches die Fuge des Seins
je geschickhaft das Wesen des Menschen in das Wohnen in der Wahrheit des
Seins verfügt. Dieses Wohnen ist das Wesen des »In-der-Welt-seins«
(vgl. »S. u. Z.«, S. 54). Der dortige Hinweis auf das »In-Sein«
als »Wohnen« ist keine etymologische Spielerei. Der Hinweis
in dem Vortrag von 1936 auf Hölderlins Wort »Voll Verdienst,
doch dichterisch wohnet / der Mensch auf dieser Erde« ist keine
Ausschmückung eines Denkens, das sich aus der Wissenschaft in die
Poesie rettet. Die Rede vom Haus des Seins ist keine Übertragung
des Bildes vom »Haus« auf das Sein, sondern aus dem sachgemäß
gedachten Wesen des Seins werden wir eines Tages eher denken können,
was »Haus« und »wohnen« sind. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 358).
Gleichwohl schafft das Denken nie das Haus des Seins. Das Denken
geleitet die geschichtliche Eksistenz, das heißt die humanitas des
homo humanus, in den Bereich des Aufgangs des Heilen. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 359).
Mit dem Heilen zumal erscheint in der Lichtung des Seins das Böse.
Dessen Wesen besteht nicht in der bloßen Schlemtigkeit des menschlichen
Handelns, sondern es beruht im Bösartigen des Grimmes. Beide, das
Heile und das Grimmige, können jedoch im Sein nur wesen, insofern
das Sein selber das Strittige ist. In ihm verbirgt sich die Wesensherkunft
des Nichtens. Was nichtet, lichtet sich als das Nichthafte. Dieses kann
im »Nein« angesprochen werden. Das »Nicht« entspringt
keinesfalls aus dem Nein-sagen der Negation. Jedes »Nein«,
das sich nicht als eigenwilliges Pochen auf die Setzungskraft der Subjektivität
mißdeutet, sondern ein sein-lassendes der Ek-sistenz bleibt, antwortet
auf den Anspruch des gelichteten Nichtens. Alles Nein ist nur die Bejahung
des Nicht. Jede Bejahung beruht im Anerkennen. Dieses läßt
das, worauf es geht, auf sich zukommen. Man meint, das Nichten sei im
Seienden selber nirgends zu finden. Das trifft zu, solange man das Nichten
als etwas Seiendes, als eine seiende Beschaffenheit am Seienden sumt.
Aber so suchend, sucht man nicht das Nichten. Auch das Sein ist keine
seiende Beschaffenheit, die sich am Seienden feststellen läßt.
Gleichwohl ist das Sein seiender. als jegliches Seiende. Weil das Nichten
im Sein selbst west, deshalb können wir es nie als etwas Seiendes
am Seienden gewahren. Vollends beweist der Hinweis auf diese Unmöglichkeit
niemals die Herkunft des Nicht aus dem Nein-Sagen. Dieser Beweis scheint
nur dann zu tragen, wenn man das Seiende als das Objektive der Subjektivität
ansetzt. Man folgert dann aus der Alternative, daß jedes Nicht,
weil es nie als etwas Objektives erscheint, unweigerlich das Produkt eines
Subjektaktes sein müsse. Ob jedoch erst das Neinsagen das Nicht setzt
als ein bloß Gedachtes, oder ob das Nichten erst das »Nein«
beansprucht als das zu Sagende im Seinlassen von Seiendem, dies kann allerdings
niemals aus der subjektiven Reflexion auf das bereits als Subjektivität
angesetzte Denken entschieden werden. In solcher Reflexion ist die Dimension
für die sachgerechte Fragestellung noch gar nicht erreicht. Zu fragen
bleibt, ob denn nicht, gesetzt daß das Denken zur Ek-sistenz gehört,
alles »Ja« und »Nein« schon eksistent ist in die
Wahrheit des Seins. Ist es dies, dann sind »Ja« und »Nein«a
in sich schon hörig auf das Sein. Als diese Hörigen können
sie niemals dasjenige erst setzen, dem sie selber gehören.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 359-360).
Das Nichten west im Sein selbst und keineswegs im Dasein des Menschen,
insofern dieses als Subjektivität des ego cogito gedamt wird. Das
Dasein nichtet keineswegs, insofern der Mensch als Subjekt die Nichtung
im Sinne der Abweisung vonzieht, sondern das Da-sein nichtet, insofern
es als das Wesen, worin der Mensch ek-sistiert, selbst zum Wesen des Seins
gehört. Das Sein nichtet -als das Sein. Deshalb erscheint im absoluten
Idealismus bei Hegel und Schelling das Nicht als die Negativität
der Negation im Wesen des Seins. Dieses aber ist dort im Sinne der absoluten
Wirklichkeit als der unbedingte Wille gedacht, der sich selbst will, und
zwar als der Wille des Wissens und der Liebe. In diesem Willen verbirgt
sich noch das Sein als der Wille zur Macht. Weshalb jedoch die Negativität
der absoluten Subjektivität die »dialektische« ist und
weshalb durch die Dialektik das Nichten zwar zum Vorschein kommt, aber
zugleim im Wesen verhüllt wird, kann hier nicht erörtert werden.
Das Nichtende im Sein ist das Wesen dessen, was ich das Nichts nenne.
Darum, weil es das Sein denkt, denkt das Denken das Nichts. (Martin
Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret],
1946, in: Ders., Wegmarken, S. 360).
Sein erst gewährt dem Heilen Aufgang in Huld und Andrang
zu Unheil dem Grimm. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 360).
Nur sofern der Mensch, in die Wahrheit des Seins ek-sistierend,
diesem gehört, kann aus dem Sein selbst die Zuweisung derjenigen
Weisungen kommen, die für den Menschen Gesetz und Regel werden müssen.
Zuweisen heißt griechisch nemein.
Der nomoV ist nicht nur Gesetz, sondern
ursprünglicher die in der Schickung des Seins geborgene Zuweisung.
Nur diese vermag es, den Menschen in das Sein zu verfügen. Nur solche
Fügung vermag zu tragen und zu binden. Anders bleibt alles Gesetz
nur das Gemächte menschlicher Vernunft. Wesentlicher als alle Aufstellung
von Regeln ist, daß der Mensch zum Aufenthalt in die Wahrheit des
Seins findet. Erst dieser Aufenthalt gewährt die Erfahrung des Haltbaren.
Den Halt für alles Verhalten verschenkt die Wahrheit des Seins. »Halt«
bedeutet in unserer Sprache die »Hut«. Das Sein ist die Hut,
die den Menschen in seinem ek-sistenten Wesen dergestalt zu ihrer Wahrheit
behütet, daß sie die Ek-sistenz in der Sprache behaust. Darum
ist die Sprache zumal das Haus des Seins und die Behausung des Menschenwesens.
Nur weil die Sprache die Behausung des Wesens des Menschen ist, können
die geschichtlichen Menschentümer und Menschen in ihrer Sprache nicht
zu Hause sein, so daß sie ihnen zum Gehäuse ihrer Machenschaften
wird. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief
an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 360-361).
In welcher Beziehung steht nun aber das Denken des Seins zum theoretischen
und praktischen Verhalten? Es übertrifft alles Betrachten, weil es
sich um das Licht sorgt, in dem erst ein Sehen als Theoria sich aufhalten
und bewegen kann. Das Denken achtet auf die Lichtung des Seins, indem
es sein Sagen vom Sein in die Sprache als der Behausung der Eksistenz
einlegt. So ist das Denken ein Tun. Aber ein Tun, das zugleich alle Praxis
übertrifft. Das Denken durchragt das Handeln und Herstellen nicht
durch die Größe eines Leistens und nicht durch die Folgen eines
Wirkens, sondern durch das Geringe seines erfolglosen Vollbringens.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 361).
Das Denken bringt nämlich in seinem Sagen nur das ungesprochene
Wort des Seins zur Sprache. (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 361).
Die hier gebrauchte Wendung »zur Sprache bringen«
ist jetzt ganz wörtlich zu nehmen. Das Sein kommt, sich lichtend,
zur Sprache. Es ist stets unterwegs zu ihr. Dieses Ankommende bringt das
ek-sistierende Denken seinerseits in seinem Sagen zur Sprache. Diese wird
so selbst in die Lichtung des Seins geloben. Erst so ist die Sprache in
jener geheimnisvollen und uns doch stets durchwaltenden Weise. Indem die
also voll ins Wesen gebrachte Sprache geschirotlich ist, ist das Sein
in das Andenken verwahrt. Die Ek-sistenz bewohnt denkend das Haus des
Seins. In all dem ist es so, als sei durro das denkende Sagen gar nichts
geschehen. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 361-362).
Soeben hat sich uns jedoch ein Beispiel für dieses unscheinbare
Tun des Denkens gezeigt. Indem wir nämlich die der Sprache zugeschickte
Wendung »zur Sprache bringen« eigens lenken, nur dies und
nichts weiter, indem wir dies Gedachte als künftig stets zu Denkendes
in der Acht des Sagens behalten, haben wir etwas Wesendes des Seins selbst
zur Sprache gebracht. (Martin Heidegger, Brief über den
Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 362).
Das Befremdliche an diesem Denken des Seins ist das Einfache.
Gerade dieses hält uns von ihm ab. Denn wir suchen das Denken, das
unter dem Namen »Philosophie« sein weltgeschichtliches Ansehen
hat, in der Gestalt des Ungewöhnlichen, das nur Eingeweihten zugänglich
ist. Wir stellen uns das Denk.en zugleich nach der Art des wissenschaftlichen
Erkennens und seiner Forschungsunternehmen vor. Wir messen das Tun an
den eindrucksvollen und erfolgreichen Leistungen der Praxis. Aber das
Tun des Denkens ist weder theoretisch noch praktisch, noro ist es die
Verkoppelung beider Verhaltungsweisen. (Martin Heidegger, Brief
über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders.,
Wegmarken, S. 362).
Durch sein einfaches Wesen macht sich das Denken des Seins für
uns unkenntlich. Wenn wir uns jedoch mit dem Ungewohnten des Einfachen
befreunden, dann befällt uns sogleich eine andere Bedrängnis.
Der Verdacht steigt auf, dieses Denken des Seins verfalle der Willkür;
denn es kann sich nirot an das Seiende halten. Woher nimmt das Denken
sein Maß? Welches ist das Gesetz seines Tuns? (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 362).
Hier muß die dritte Frage Ihres Briefes gehört werden:
comment sauver l'element d'aventure que comporte toute recherche sans
faire de la philosophie une simple aventuriere? Nur im Vorbeigehen sei
jetzt die Dichtung genannt. Sie steht derselben Frage in derselben Weise
gegenüber wie das Denken. Aber immer noch gilt das kaum bedachte
Wort des Aristoteles in seiner Poetik, daß das Dichten wahrer sei
als das Erkunden von Seiendem. (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 362-363).
Allein das Denken ist nicht nur als Suchen und Hinausfragen in
das Ungedachte une aventure. Das Denken ist in seinem Wesen als Denken
des Seins von diesem in den Anspruch genommen. Das Denken ist auf das
Sein als das Ankommende (l'avenant) bezogen. Das Denken ist als Denken
in die Ankunft des Seins, in das Sein als die Ankunft gebunden. Das Sein
hat sich dem Denken schon zugeschickt. Das Sein ist als das Geschick des
Denkens. Das Geschick aber ist in sich geschichtlich. Seine Geschichte
ist schon im Sagen der Denker zur Sprache gekommen. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 363).
Diese bleibende und in ihrem Bleiben auf den Menschen wartende
Ankunft des Seins je und je zur Sprache zu bringen, ist die einzige Sache
des Denkens. Darum sagen die wesentlichen Denker stets das Selbe. Das
heißt aber nicht: das Gleiche. Freilich sagen sie dies nur dem,
der sich darauf einläßt, ihnen nachzudenken. Indem das Denken,
geschichtlich andenkend, auf das Geschick des Seins achtet, hat es sich
schon an das Schickliche gebunden, das dem Geschick gemäß ist.
In das Gleiche flüchten ist ungefährlich. Sich in die Zwietracht
wagen, um das Selbe zu sagen, ist die Gefahr. Die Zweideutigkeit droht
und der bloße Zwist. (Martin Heidegger, Brief über
den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken,
S. 363).
Die Schicklichkeit des Sagens vom Sein als dem Geschick der Wahrheit
ist das erste Gesetz des Denkens, nicht die Regeln der Logik, die erst
aus dem Gesetz des Seins zu Regeln werden können. Auf das Schickliche
des denkenden Sagens achten, schließt aber nicht nur dies ein, daß
wir uns jedesmal auf das besinnen, was vom Sein zu sagen und wie es zu
sagen ist. Gleich wesentlich bleibt zu bedenken, ob das zu Denkende, inwieweit
es, in welchem Augenblick der Seinsgeschichte, in welcher Zwiesprache
mit dieser und aus welchem Anspruch es gesagt werden darf. Jenes Dreifache,
das ein früherer Brief erwähnte, ist in seiner Zusammengehörigkeit
aus dem Gesetz der Schicklichkeit des seinsgeschichtlichen Denkens bestimmt:
die Strenge der Besinnung, die Sorgfalt des Sagens, die Sparsamkeit des
Wortes. (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
[Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 363-364).
Es ist an der Zeit, daß man sich dessen entwöhnt, die
Philosophie zu überschätzen und sie deshalb zu überfordern.
Nötig ist in der jetzigen Weltnot: weniger Philosophie, aber mehr
Achtsamkeit des Denkens; weniger Literatur, aber mehr Pflege des Buchstabens.
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean
Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 364).
Das künftige Denken ist nicht mehr Philosophie, weil es ursprünglicher
denkt als die Metaphysik, welcher Name das gleiche sagt. Das künftige
Denken kann aber auch nicht mehr, wie Hegel verlangte, den Namen der »Liebe
zur Weisheit« ablegen und die Weisheit selbst in der Gestalt des
absoluten Wissens geworden sein. Das Denken ist auf dem Abstieg in die
Armut seines vorläufigen Wesens. Das Denken sammelt die Sprache in
das einfache Sagen. Die Sprache ist so die Sprache des Seins, wie die
Wolken die Wolken des Himmels sind. Das Denken legt mit seinem Sagen unscheinbare
Furchen in die Sprache. Sie sind noch unscheinbarer als die Furchen, die
der Landmann langsamen Schrittes durch das Feld zieht. (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 364).
Anmerkung:
Das hier Gesagte ist nicht erst zur Zeit der Niederschrift ausgedacht,
sondern beruht auf dem Gang eines Weges, der 1936 begonnen wurde, im »Augenblick
eines Versuches, die Wahrheit des Seins einfach zu sagen. - Der Brief
spricht immer noch in der Sprache der Metaphysik, und zwar wissentlich.
Die andere Sprache bleibt im Hintergrund. (Martin Heidegger, Brief
über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders.,
Wegmarken, S. 313).


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